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German Pages 404 [406] Year 2019
Jakob R. Müller Die Entstehung der Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft
Jakob R. Müller Die Entstehung der Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft
Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Energiegenossenschaften in Deutschland
Zugleich Dissertation Universität Erfurt, 2018
ISBN 978-3-11-061329-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061115-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061356-8 Library of Congress Control Number: 2019947136 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: jayk7 / Moment / Getty Images Autorenfoto: Michael Fröhlich Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Ich habe dieses Buch meiner Mutter gewidmet.
Geleitwort In der vorgelegten Schrift wird die Frage untersucht, wie die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft entsteht. Governance wird dabei als ein Rahmen- und Regelsystem verstanden, das erwartungsstabilisierende Mechanismen zur Ermöglichung von Kooperation auf der Ebene der Organisation umfasst, deren Geltungsbereich sich auf die Organisationsmitglieder und Interaktionspartner erstreckt. Im Zentrum der Analyse steht die Frage, ob für die Ausgestaltung dieser Governance im Prozess der Organisationsentstehung eine mehr oder weniger enge Bindung der Organisationsmitglieder eingerichtet wird. Diese theoretisch sehr anspruchsvolle und innovative Themenstellung wird an dem praktisch überaus relevanten Beispiel deutscher Energiegenossenschaften empirisch untersucht. Die Arbeit verwendet ein aufwendiges, zweistufiges methodisches Vorgehen. Ausgehend von einer erweiterten transaktionskostentheoretischen Sichtweise werden zunächst wesentliche Einflussfaktoren mittels einer qualitativen Erhebung erschlossen und darauf aufsetzend Hypothesen über die Determinanten der Mitgliederbindung hergeleitet und begründet, die auf Basis einer großzahligen Stichprobe einer quantitativen Prüfung unterzogen werden. Die Dissertation von Herrn Dr. Jakob Robert Müller zeigt, dass die Entstehung der Governance deutscher Energiegenossenschaften als ein Prozess der Neukontextualisierung zu verstehen ist, in dem eine Governance-Struktur gewählt und in der Weise geformt wird, dass sie den (potenziellen) Kooperationspartnern ausreichend Handlungssicherheit gibt und keine (Governance-)Kosten verursacht, die den Nutzen der (angestrebten) Transaktion übersteigen. Darüber hinaus gelingt es, wesentliche Determinanten der Mitgliederbindung – als zentrales Attribut der Ausgestaltung dieser Governance – zu ermitteln und gegenstandstheoretisch einzuordnen sowie theoriegeleitet Hypothesen über den Einfluss und die Wirkungsrichtung dieser Determinanten zu begründen und deren Geltung empirisch zu untermauern. Mit dem Prozess der Governance-Entstehung richtet Herr Dr. Müller den Blick auf ein Element der Unternehmensgenese, das nachhaltige Konsequenzen entfaltet, bislang aber nur äußerst rudimentär betrachtet worden ist. Die Arbeit besticht indes nicht nur durch die Originalität ihres Gegenstands. Hervorzuheben sind weiterhin der Aufwand und die Akribie von Konzeption und Umsetzung des zweistufigen empirischen Designs sowie die auch in Details reichende Sorgfalt bei der Herleitung und Fundierung von Hypothesen und Schlussfolgerungen. Die gewonnenen Erkenntnisse haben erhebliche Implikationen für die Theorie und Praxis der Organisationsgovernance – konkret, aber nicht ausschließlich für die Form der Genossenschaft, die gegenwärtig als Organisationsalternative zu herkömmlichen und primär erwerbswirtschaftlich orientierten Strukturen wachsende Aufmerksamkeit https://doi.org/10.1515/9783110611151-202
VIII
Geleitwort
erfährt. Ich wünsche der ausgezeichneten Untersuchung daher die verdiente positive Resonanz in Wissenschaft und Praxis. Prof. Dr. Till Talaulicar Erfurt, Mai 2019
Vorwort und Danksagung Meine Beschäftigung mit der Energiewende in Studium und Beruf ließ mich im Jahr 2009 auf Energiegenossenschaften aufmerksam werden. Das Phänomen interessierte mich, weil ich damals den Eindruck gewann, dass die Energiewende mehr als ein technologischer Wandel der Energieerzeugungsformen sein würde. Mich beschäftigte die Frage, wie man das gesamtgesellschaftliche Transformationsprojekt Energiewende organisieren sollte und welche Alternativen es zu den vorwiegend staatlichen Stadtwerken und den Investor-orientierten Energieversorgern gab. Diese Fragestellung war für mich der Einstieg in ein tieferes Studium der Transaktionskostentheorie. Die Transaktionskostentheorie bietet faszinierende Erklärungen für die Existenz von zahlreichen Organisationsformen und differenziert diese anhand ihrer Governance. So kann man mit ihr die Nützlichkeit von genossenschaftlicher Governance auf dem sich wandelnden Energiemarkt begründen. Allerdings bietet die Transaktionskostentheorie wenig Einblick in den konkreten Entstehungsprozess von Governance, insbesondere bei Genossenschaften. Dieser Entstehungsprozess schien mir jedoch sehr interessant, da sich bei näherer Betrachtung der neu entstandenen Energiegenossenschaften zeigte, dass diese eine große Heterogenität ihrer Governance aufwiesen. So formulierte ich die Forschungsfrage: Wie entsteht die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft? Ein tieferes Verständnis der Entstehung genossenschaftlicher Governance und der Ursachen ihrer vielfältigen Erscheinungsformen würde dazu beitragen, die Funktionsweise und Verbreitung von Genossenschaften besser erklären zu können. Mit der an die Forschungsfrage anknüpfenden Dissertation verfolgte ich daher drei Ziele: 1. den Governance-Entstehungsprozess von Genossenschaften besser zu verstehen, 2. die Genossenschaft hinsichtlich ihrer Governance zu differenzieren und 3. Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung der genossenschaftlichen Governance beeinflussen. Die Beantwortung der Forschungsfrage erschien mir zudem umso gewichtiger, als Genossenschaften für die Koordination von Transaktionen weltweit große Bedeutung besitzen. Darüber hinaus weisen Genossenschaften einzigartige Merkmale auf wie die Identität von Nutzer und Eigentümer oder das Pro-Kopf-Stimmrecht, die ihnen gegenwärtig neue Popularität in der gesellschaftlichen Debatte über alternative Wirtschaftsformen verschaffen. Meine persönliche Auseinandersetzung mit Energiegenossenschaften mündete nicht ausschließlich in der vorliegenden Doktorarbeit. Über das Untersuchungsobjekt Energiegenossenschaft entstanden Kontakte zu anderen Wissenschaftlern, von denen ich hier insbesondere Lars Holstenkamp, Julian Sagebiel und Jens Rommel nennen und danken möchte. Mit ihnen und weiteren gründete ich das Forschungsnetzwerk „Genossenschaften in der Energiewende“ und es entstanden mehrere gemeinsame Veröffentlichungen – alle mit Bezug zu Energiegenossenschaften. Aber https://doi.org/10.1515/9783110611151-203
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Vorwort und Danksagung
auch meine berufliche Tätigkeit orientierte ich in den letzten Jahren an der Fragestellung, wie eine organisationale Transformation des Energiemarktes gelingen könnte, und so arbeitete ich für die Beteiligungsgesellschaft der GLS Gemeinschaftsbank eG an Konzepten zur Risikokapitalfinanzierung von Energiegenossenschaften und engagierte mich ehrenamtlich im Bündnis Bürgerenergie e. V. Eine ganze Reihe besonderer Menschen begleitete mich während dieser Zeit, denen ich hier danken will. Zuvorderst möchte ich meinem Doktorvater Professor Dr. Till Talaulicar für seine hervorragende Unterstützung in den vergangenen Jahren danken. Sein forderndes Interesse, sein kritischer Blick und sein fundierter Rat waren für mich Haltepunkte, an denen ich meine Arbeit auf- und ausrichten konnte. Mit tiefer Bewunderung für sein Können und größtem Respekt möchte ich ihm hier dafür danken, dass er mir als Doktorvater zur Seite stand. Ebenso möchte ich Professor Dr. Markus Hanisch für seine fachliche Begleitung und seinen Rat in den vergangenen Jahren danken. Die genossenschaftswissenschaftliche Plattform, die er an der Humboldt-Universität zu Berlin geschaffen hat, war für mich das Eingangstor in eine Gemeinschaft aus Genossenschafts-Forschern. Zum Gelingen dieses Forschungsvorhabens hat auch die finanzielle Unterstützung der „Stiftung Neue Energie“ und der „Daniela und Jürgen Westphal-Stiftung“ beigetragen. Beiden gilt mein herzlicher Dank. Auch meinem privaten Umfeld möchte ich herzlich danken, ohne hier alle einzeln erwähnen zu können. Ich danke meiner Familie und insbesondere meinen Eltern für all ihre Unterstützung. Zudem bin ich meinem Freund Mario Clemens in tiefer Dankbarkeit für den persönlichen und fachlichen Austausch in den vergangenen Jahren verbunden. Ganz besonders gilt mein Dank aber meiner geliebten Frau Kristine für ihre Ermutigungen in Momenten des Zweifels, ihre ausdauernde Geduld und ihren wertvollen Rat. Jakob R. Müller Bochum, Mai 2019
Inhaltsverzeichnis Geleitwort
VII
Vorwort und Danksagung Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
IX XV
XVI XVII
Einleitung 1 Problemstellung und Relevanz der Untersuchung Zielsetzung der Arbeit 4 Gang der Untersuchung 7
2 Theoretische Grundlagen 9 2.1 Wesentliche Konzepte 9 2.1.1 Grundbegriffe 9 2.1.1.1 Akteur 9 2.1.1.2 Unsicherheit 11 2.1.1.3 Transaktion 12 2.1.1.4 Kooperation 13 2.1.1.5 Transaktionskosten 15 2.1.2 Erwartungsstabilisierende Mechanismen 16 2.1.2.1 Definition und Differenzierung 16 2.1.2.2 Sozialkapital 19 2.1.2.3 Rechtsstaat 22 2.1.2.4 Governance 23 2.1.3 Hybride Organisationsformen 27 2.1.3.1 Organisation als Governance-Struktur 27 2.1.3.2 Entstehung des Hybrid-Begriffs 29 2.1.3.3 Eigenschaften hybrider Organisationsformen 31 2.1.4 Governance-Struktur Genossenschaft 36 2.1.4.1 Genossenschaften 36 2.1.4.2 Governance der Genossenschaft 44 2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung 52 2.2.1 Klassische Transaktionskostentheorie 54 2.2.1.1 Akteur 54 2.2.1.2 Transaktion 56 2.2.1.3 Kontext 59
1
XII
2.2.1.4 2.2.1.5 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2
Inhaltsverzeichnis
Prozess 60 Kritische Würdigung 61 Empirische Befunde und Weiterentwicklungen der klassischen Transaktionskostentheorie 64 Akteur 64 Transaktion 71 Kontext 81 Prozess 90 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage 93 Genossenschaftsspezifischer Erweiterungsbedarf der Transaktionskostentheorie 94 Weitere Fokussierung im Forschungsprozess 99
3 Modellentwicklung und Prüfung 101 3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung 101 3.1.1 Grounded-Theory-Methode 103 3.1.1.1 Methode und Forschungsparadigma 103 3.1.1.2 Prozess der Theoriegenese 105 3.1.1.3 Kodieren und Memos 107 3.1.1.4 Gütekriterien 109 3.1.2 Untersuchungsobjekt und Vorgehensweise 110 3.1.2.1 Energiegenossenschaften 110 3.1.2.2 Untersuchungsmaterial 122 3.1.2.3 Abduktion 126 3.1.3 Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance einer Energiegenossenschaft 127 3.1.3.1 Prozess der Neukontextualisierung 127 3.1.3.2 Axiale Kodes 132 3.1.3.3 Zwischenresümee 178 3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung 179 3.2.1 Wirkzusammenhang 181 3.2.2 Abhängige Variable 183 3.2.3 Wesentliche Einflussfaktoren 186 3.2.3.1 Art der Transaktion 186 3.2.3.2 Gründungskontext 191 3.2.3.3 Gestaltende Akteure 209 3.2.4 Zusammenfassung 218 3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung 220 3.3.1 Datengrundlage 222 3.3.1.1 Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ 222 3.3.1.2 Untersuchungsgesamtheit 224 3.3.2 Operationalisierung 227
Inhaltsverzeichnis
3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 4 4.1 4.1.1
Mitgliederbindung 227 Transaktionsdimensionen 240 Sozio-Geografie 248 Genossenschaftspopulation 257 Gestaltende Akteure 258 Kontrollvariablen 266 Regressionsmodell 271 Hierarchische Regression 271 Spezifikation der Regressionsmodelle 277 Anwendungsvoraussetzungen der linearen Regression Beurteilung der Regressionsanalyse 282 Ergebnisse 285 Deskriptive Statistik 285 Regressionsanalyse 292
279
4.2.3 4.3
Diskussion 301 Modellbezogene Nachbetrachtung und Einordnung 301 Zweckmäßigkeit der Mitgliederbindung als GovernanceAttribut 301 Einflussfaktoren bei der Entstehung von Governance 304 Kontrollvariablen 304 Art der Transaktion 308 Gründungskontext 311 Gestaltende Akteure 328 Weiterentwicklung des Modells der Governance-Entstehung Implikationen für die Theorie 338 Bedeutung des Governance-Entstehungsprozesses in der Ex-ante-Phase der Transaktion 339 Begründung der Governance-Entstehung durch Handlungssicherheit und Governance-Kosten 341 Implikationen aus der Untersuchung von Genossenschaften Limitationen 349
5 5.1 5.2
Fazit 353 Implikationen für die Praxis 353 Zusammenfassung und Ausblick 355
4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2
Verzeichnisse 359 Literaturverzeichnis 359 Rechtsquellenverzeichnis 385 Materialverzeichnis 385
XIII
335
346
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1
Verortung der Cooperative Governance in den Ebenen 46
erwartungsstabilisierender Mechanismen Abbildung 2
Grundmodell der klassischen Transaktionskostentheorie
Abbildung 3
Modell der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie
Abbildung 4
Verortung der Forschungsfragen im Modell der weiterentwickelten
Abbildung 5
Systematisierung der Energiegenossenschaften
Abbildung 6
Kodierschema Neukontextualisierung
Abbildung 7
Prozess der Governance-Entstehung einer Energiegenossenschaft als
Abbildung 8
Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenübersicht
Abbildung 9
Histogramm Grad der Mitgliederbindung
Abbildung 10
Histogramm Transaktionsvolumen
Abbildung 11
Histogramme soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen
95
100
Transaktionskostentheorie
Neukontextualisierung
62
118
128
132 182
239
248
251
Abbildung 12
Histogramm Ländlichkeit
Abbildung 13
Histogramm Bevölkerungsstabilität
253 255
Abbildung 14
Histogramm Umweltorientierung
Abbildung 15
Diagramm Populationsgröße der Energiegenossenschaften
256
Abbildung 16
Histogramm Populationskonzentration
Abbildung 17
Histogramm Einkommen
258
259
270
Abbildung 18
Interaktionseffekt zwischen Verfasstheit und Reziprozitätsnormen
Abbildung 19
Interaktionseffekt zwischen Verfasstheit und Ländlichkeit
Abbildung 20
Interaktionseffekt zwischen Verfasstheit und Umweltorientierung
Abbildung 21
Nachträglich angepasstes Modell der Governance-Entstehung
https://doi.org/10.1515/9783110611151-205
299
299 300 337
Tabellenverzeichnis Tabelle 1
Ausgewählte Governance-Attribute und Governance-Mechanismen
Tabelle 2
Normen im Genossenschaftsgesetz und zugehörige Abschnitte in der 52
Mustersatzung des RWGV Tabelle 3
Kriterien zur Beurteilung der Grounded Theory
Tabelle 4
Theoretisches Sampling – untersuchte Fälle
111 119
Tabelle 5
Theoretisches Sampling – Untersuchungsphasen
Tabelle 6
Interviews mit Initiatoren von Energiegenossenschaften
Tabelle 7
Verfasstheit Initiatoren
Tabelle 8
Ausprägungsspektrum der Governance-Mechanismen der Mitgliederbindung
34
121 122
141 174
Tabelle 9
Übersicht der zu prüfenden Hypothesen
Tabelle 10
Untersuchungsgesamtheit
Tabelle 11
Standardbilanz und Beispiel zur Normierung von Mindestkapital und
Tabelle 12
Deskriptive Statistik der Variablen zu den Governance-Mechanismen der
maximaler gesetzlicher Rücklage Mitgliederbindung Tabelle 13
219
226 234
236
Phasen der Projektentwicklung und Humankapital-Spezifität
Tabelle 14
Operationalisierung der Faktorspezifität
Tabelle 15
Kodierung der Verfasstheit
243
245
261
Tabelle 16
Erfahrung der Genossenschaftsverbände mit Energiegenossenschaften
Tabelle 17
EEG Novellierungen im Untersuchungszeitraum
Tabelle 18
Untersuchungsvariablen
Tabelle 19
Erwartete Ergebnisse
271
273 276
Tabelle 20
Deskriptive Statistik und Korrelationen A
286
Tabelle 21
Deskriptive Statistik und Korrelationen B
288
Tabelle 22
Deskriptive Statistik und Korrelationen C
290
Tabelle 23
Standardisierte Betakoeffizienten für die abhängige Variable Mitgliederbindung
https://doi.org/10.1515/9783110611151-206
293
263
Abkürzungsverzeichnis Abs. AfA AktG ARGE Aufl. BImSchG
BGV BGBl BStBl BGB BWGV c. p. EEG eG erw. Vorz. e. V. ff. GenG GV GVWE HGB Hg. ICA IOF J. M. Kontr.-Var. korr. Mio. Mrd. Nr. o. J. o. V. OLS PV Rn RWGV S. SOEP St.-abw. u. a. v. vgl. VIF zit.
Absatz Absetzung für Abnutzung Aktiengesetz Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften Auflage Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz) Bayrischer Genossenschaftsverband e. V. Bundesgesetzblatt Bundessteuerblatt Bürgerliches Gesetzbuch Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e. V. ceteris paribus Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz) eingetragene Genossenschaft erwartetes Vorzeichen eingetragener Verein die folgenden Gesetz betreffend die Erwerbs und Wirtschaftsgenossenschaften (Genossenschaftsgesetz) Genossenschaftsverband e. V. Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V. Handelsgesetzbuch Herausgeber International Co-operative Alliance Investor-orientierte Firma Jakob Müller Kontrollvariablen korrigiertes Millionen Milliarden Nummer ohne Jahr ohne Verfasser ordinary-least-square (Methode der kleinsten Quadrate) Fotovoltaik Randnummer Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V. Seite Sozio-Ökonomisches-Panel Standardabweichung und andere von vergleiche Varianz-Inflations-Faktor zitiert
https://doi.org/10.1515/9783110611151-207
1 Einleitung 1.1 Problemstellung und Relevanz der Untersuchung „Lenken wir unseren Blick auf [die, J. M.] [. . .] ‚Genossenschaft‘, so zeigen sich bereits bei oberflächlicher Betrachtung viele Unterschiedlichkeiten [. . .] Es ist wohl verständlich, dass dieser Fülle der Erscheinungsformen nicht mit Definitionen beizukommen ist“1, konstatiert Draheim in seiner wegweisenden Schrift zur Genossenschaft2 als Unternehmungstyp bereits 1952. Die Vielfalt der Genossenschaften ist ebenso bemerkenswert3 wie ihre herausragende wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung.4 Wie die International Co-operatives Alliance (ICA) schreibt, sind 10 % der Arbeitnehmer weltweit bei Genossenschaften angestellt und alleine die 300 größten Genossenschaften erwirtschaften einen kumulierten Umsatz von circa 2,2 Billionen Dollar.5 Genossenschaften sind ein kulturübergreifendes Phänomen, das sich auf alle Kontinente erstreckt und oft breite Teile der nationalen Gesellschaften als Mitglieder organisiert.6 Auch in Deutschland kommt der Genossenschaft in der Wirtschaft eine wichtige Rolle zu. Mehr als 21,4 Mio. Bundesbürger sind Mitglieder7 in 8861 Genossenschaften8. Die große Bedeutung von Genossenschaften wird vor dem Hintergrund des mit ihnen verbundenen Zwecks noch deutlicher: Genossenschaften dienten Menschen retrospektiv als Organisationsform zur Selbsthilfe und Bewältigung elementarer Herausforderungen der Daseinsvorsorge, wie beispielsweise der gemeinschaftlichen Nahrungsmittelproduktion,9 der Etablierung eines Bankwesens10 oder der Elektrifizierung des ländlichen Raums11. In jüngster Zeit ist eine Renaissance der Organisationsform Genossenschaft zu beobachten.12 In Deutschland zeigt sich insbesondere im Bereich der Energiewirtschaft eine
1 Draheim 1952, S. 14 und S. 16. 2 Genossenschaften sind „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern“ (§ 1 Abs. 1 GenG). Siehe auch Abschnitt 2.1.4.1.1. 3 Vgl. Chaddad 2012, S. 457. 4 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission e. V. 2014, S. 39. 5 Vgl. International Co-operatives Alliance 2018. 6 Vgl. International Co-operatives Alliance 2018. 7 Vgl. Stappel 2013, S. 8. 8 Vgl. Müller und Holstenkamp 2015, S. 9. 9 Vgl. Müller 1976, S. 44–46. 10 Vgl. Müller 1976, S. 39–42. 11 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 36–39. 12 Vgl. Wilson et al. 2013, S. 271–272, und Cheney et al. 2014, S. 592. https://doi.org/10.1515/9783110611151-001
2
1 Einleitung
beachtliche Dynamik. Die Anzahl der Energiegenossenschaften13 ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen14 und sie gelten mittlerweile als ideales Modell zur Bürgerbeteiligung15 am gesamtgesellschaftlichen Transformationsprojekt16 Energiewende. Ein Schlüssel zum großen Erfolg der Genossenschaft ist ihre Governance. Mit dem Governance-Konzept ist übergeordnet das Zusammenwirken handlungsleitender Mechanismen – sogenannter Governance-Mechanismen – gemeint, die dafür sorgen, dass die notwendige Kooperation17 zwischen den beteiligten Akteuren18 wahrscheinlich wird.19 Die Genossenschaft wird vor diesem Hintergrund als Governance-Struktur20 aufgefasst, die unterschiedliche Governance-Mechanismen zur Regelung von Transaktionen bereithält. Die richtige Konfiguration einzelner Governance-Mechanismen ist folglich eine Voraussetzung dafür, dass die beabsichtigte Transaktion21 umgesetzt wird. Wie also entsteht die Governance der Genossenschaft? Einschlägige wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher bieten keine Antwort auf diese Frage.22 Eine mangelnde Beachtung von Genossenschaften gilt auch für die anerkannte Transaktionskostentheorie,23 deren Kernanliegen es ist, die Vielfalt an unterschiedlich ausgestalteten Governance-Strukturen zu erklären.24 Genossenschaften
13 Genossenschaften mit primärem Geschäftsbetrieb im Bereich der Energiewirtschaft (vgl. Abschnitt 3.1.2.1.1). 14 Vgl. Holstenkamp und Müller 2013, S. 2, Müller und Holstenkamp 2015, S. 2, und Kahla et al. 2017, S. 25–27. 15 Vgl. Holstenkamp und Degenhart 2013, S. 35, Müller et al. 2015a, S. 98, und Brummer 2018, S. 111–112. Zum Begriff Bürgerbeteiligung siehe Fußnote 876. 16 Energiewende-Projekte finden weltweit statt (vgl. Renewable Energy Policy Network for the 21st Century 2017, S. 28–41) mit der Konsequenz eines nicht ausschließlich technologischen Wandels. Energiewende bedeutet auch gesellschaftliche Transformation insbesondere aufgrund der Dezentralität von Energieerzeugungsanlagen (vgl. Yildiz et al. 2015, S. 60–61), eines Akteurswechsels auf dem Energiemarkt (vgl. Sagebiel et al. 2014, S. 99, Müller und Sagebiel 2015, S. 226, und Rommel et al. 2016, S. 106) und der erwarteten Etablierung von Erzeuger-Verbrauchergemeinschaften (vgl. Müller et al. 2015a, S. 100, und Szulecki 2017). 17 Kooperation bezeichnet hier die Zusammenarbeit der Transaktionspartner (vgl. Abschnitt 2.1.1.4). 18 Als Akteur werden in dieser Arbeit entweder das handelnde Einzelindividuum oder gemeinsam agierende Individuen, zum Beispiel in einer Genossenschaft, verstanden (vgl. Abschnitt 2.1.1.1). 19 Williamson definiert Governance im Rahmen der Transaktionskostentheorie folgendermaßen: „[. . .] governance is the means by which to infuse order, thereby to mitigate conflict and realize mutual gain“ (Williamson 2010, S. 674). Eine eingehende Einordnung des Governance-Konzepts erfolgt in den Abschnitten 2.1.2.1 und 2.1.2.4. 20 Vgl. Abschnitt 2.1.2.4. 21 Eine Transaktion ist die Übertragung von einem „Gut oder eine Leistung über eine technisch trennbare Schnittstelle hinweg“ (Williamson 1990, S. 1). Siehe auch Abschnitt 2.1.1.3. 22 Genossenschaften werden in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern als Organisationsform vernachlässigt (vgl. Hill 2000 und Kalmi 2006, S. 625). 23 Vgl. Ménard 2004, S. 350. 24 Seit 1975 sind zahlreiche Publikationen zur Transaktionskostentheorie erschienen (vgl. Williamson 1975, Williamson 1990, Williamson 1991, Shelanski und Klein 1995, Rindfleisch und Heide 1997,
1.1 Problemstellung und Relevanz der Untersuchung
3
werden in der Transaktionskostentheorie zwar als hybride Organisationsform25 eingeordnet,26 ohne dass der Variation ihrer Governance jedoch hinreichend Rechnung getragen wird.27 Denn die im Eingangszitat von Draheim problematisierte Heterogenität der Genossenschaft gilt nicht bloß hinsichtlich der organisierten Geschäftsmodelle, ihrer Größenunterschiede oder basaler Gründungsmotive, sondern insbesondere auch für die Governance dieser Organisationsform.28 Die Transaktionskostentheorie wird diesem Umstand bislang nicht gerecht und großzahlige empirische Untersuchungen zu den Ursachen unterschiedlich ausgestalteter genossenschaftlicher Governance fehlen weitgehend.29 Dabei sprechen neben der oben skizzierten wirtschaftlichen Relevanz der Genossenschaft weitere Gründe für eine transaktionskostentheoretische Auseinandersetzung mit ihrer Governance: Ein tieferes Verständnis der genossenschaftlichen Governance und der Ursachen für ihre Vielfalt würde dazu beitragen, die Funktionsweise und Verbreitung von Genossenschaften besser erklären zu können. Die langfristige Parallelexistenz von Genossenschaften, Investor-orientierten Firmen (IOF)30 und Unternehmen aus dem öffentlich-rechtlichen Sektor fordert die Transaktionskostentheorie heraus,31 die davon ausgeht, dass sich eine transaktionskostenoptimale Governance-Struktur
David und Han 2004, Geyskens et al. 2006, Macher und Richman 2008 oder Crook et al. 2012), die heute als eine bedeutende wirtschaftswissenschaftliche Theorie gilt (vgl. Cornelissen und Durand 2014, S. 1012) und ihren Ursprung bereits in den 1930er-Jahren hatte (vgl. Coase 1937). Eine eingehende Vorstellung der Transaktionskostentheorie findet sich in Kapitel 2.2. 25 Mit dem Begriff hybride Organisationsform sind Governance-Strukturen gemeint, die auf einem Kontinuum zwischen marktähnlichen Governance-Strukturen und unternehmensähnlichen Governance-Strukturen einzuordnen sind (vgl. Abschnitt 2.1.3 zur Definition hybrider Organisationsformen und Abschnitt 2.1.4.1.2 zur Klassifizierung der Genossenschaft als hybride Organisationsform). 26 Vgl. Bonus 1986, Staatz 1987a, Hansmann 1996, Hendrikse und Veerman 2001b, Chaddad und Cook 2004 oder Yildiz 2013. 27 Vgl. Chaddad 2012, S. 457–458, Yildiz 2013, S. 185, und Abschnitt 2.1.4.1.4. 28 Vgl. Cook und Iliopoulos 2000, Chaddad und Cook 2004, S. 352, Cook und Chaddad 2004, S. 1250, James, Jr. und Sykuta 2005, Ménard 2007, S. 11–12, Chaddad 2012, S. 457–458, Brummer 2018 oder Abschnitt 2.1.4.1.4. 29 Vgl. Hernandez-Espallardo et al. 2013, S. 240–241. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Bijman et al. (2014), die Änderungen der Governance von Agrargenossenschaften im europäischen Kontext auf zunehmende Wettbewerbsintensität zurückführen. 30 Im Gegensatz zu den Investoren in einer IOF, die meist als reine Kapitalgeber fungieren, stehen die Mitglieder ihrer Genossenschaft in mehreren Rollen gegenüber, beispielsweise als Investoren sowie als Lieferanten oder Kunden (vgl. Fußnote 33), weshalb die Genossenschaft auch als „patron owned“ bezeichnet wird (vgl. Hansmann 1996, S. 12, und Abschnitt 2.1.4.1.1). 31 Genossenschaften existieren beispielsweise in der Lebensmittelbranche, dem Bankensektor oder der Immobilienwirtschaft dauerhaft parallel neben IOF oder – die Lebensmittelbranche ausgenommen – auch neben Unternehmen aus dem öffentlich-rechtlichen Sektor. Die dauerhafte Koexistenz unterschiedlicher Governance-Strukturen für dieselben Transaktionen wird in der Literatur als Ausgangspunkt für weitere Forschung zur Transaktionskostentheorie betrachtet (vgl. Ménard 2004, S. 369–370).
4
1 Einleitung
durchsetzt.32 Das für Genossenschaften charakteristische Merkmal der Identität von Nutzer und Eigentümer33 und ein einzigartiges Governance-Regime34 verschaffen ihr eine singuläre Stellung unter den hybriden Organisationsformen und sprechen gleichermaßen für ihre wissenschaftliche Evaluation. Das steuernde Zusammenwirken von genossenschaftlichen Prinzipien, einem Genossenschaftsgesetz (GenG)35 sowie den Genossenschaftsverbänden ist ebenso einmalig wie das prägende ProKopf-Stimmrecht36 oder die typische Mitgliederförderung.37 Die Untersuchung der Ursachen für die Heterogenität der genossenschaftlichen Governance würde die Transaktionskostentheorie daher in einem besonderen und bislang weitgehend unbeachteten Bereich erweitern. Vor dem Hintergrund der ausgeführten Relevanz der Genossenschaft, den skizzierten Forschungsdesideraten und den angedeuteten Lücken in der Transaktionskostentheorie soll mit dieser Arbeit ein Beitrag zum besseren Verständnis genossenschaftlicher Governance geleistet werden. Diese Arbeit zielt daher auf die Beantwortung der Hauptforschungsfrage ab: Wie entsteht die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft?
1.2 Zielsetzung der Arbeit Aus der Hauptforschungsfrage ergibt sich als primäre Zielsetzung dieser Arbeit, einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie zu leisten. Die Entstehung der Governance der Genossenschaft bildet dabei den Untersuchungsgegenstand. Die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand ermöglicht es, die Ursachen für die spezielle Konfiguration einzelner Governance-Mechanismen der Genossenschaft zu verstehen und die Forschungsfrage zu beantworten. Drei Subziele werden in Bezug auf die Theorieentwicklung differenziert: Das erste Ziel besteht darin, den Prozess der Governance-Entstehung von Genossenschaften zu untersuchen. Dieser Fokus ist zum einen sinnvoll, weil zum Verständnis der Governance hybrider Organisationsformen dem Entstehungsprozess in der Literatur eine hohe Bedeutung beigemessen wird.38 Zum anderen ist eine
32 Vgl. Williamson 1990, S. 26. 33 Vgl. Dunn 1988, S. 85. Die Personalunion aus Eigentümer und Nutzer in Gestalt des Genossenschaftsmitglieds wird als Identitätsprinzip bezeichnet (vgl. Dülfer 1994, S. 854, und Valentinov 2009). 34 Vgl. Abschnitt 2.1.2.4. 35 Der amtliche Titel des Gesetztes lautet: Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (Genossenschaftsgesetz – GenG). 36 Vgl. Fußnote 290. 37 Vgl. Abschnitt 2.1.4. 38 Vgl. Ring und van de Ven 1994, S. 90.
1.2 Zielsetzung der Arbeit
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Prozessperspektive auf die Governance-Entstehung in der Transaktionskostentheorie bislang eher ein Randthema.39 Die Transaktionskostentheorie versucht in der Regel post hoc die Existenz der vorzufindenden unterschiedlichen Governance-Strukturen zu erklären.40 Die Analyse des Prozesses der Governance-Entstehung bei Genossenschaften verspricht damit, sowohl ein tieferes Verständnis über die Ursachen ihrer Ausgestaltung zu gewinnen als auch einen bislang in der Transaktionskostentheorie unterbelichteten Aspekt auszuleuchten. Das zweite Ziel besteht darin, die Governance der Genossenschaft – insbesondere in Form ihrer Satzung – besser zu verstehen. Dabei geht es nicht um einen Vergleich der Governance von Genossenschaften mit jener von Markt oder Unternehmen,41 sondern darum, die Variation der Satzungsausgestaltung bei Genossenschaften zu ergründen.42 Der Vergleich diskreter Governance-Strukturalternativen in Form von Markt, Genossenschaft und Unternehmen würde zu kurz greifen, um die interne Heterogenität der genossenschaftlichen Governance erklären zu können.43 Daher befasst sich diese Arbeit in ihrem empirischen Teil ausschließlich mit dem Vergleich von Genossenschaften, insbesondere mit Unterschieden in ihren Satzungen. Ein solcher Fokus ist auch deshalb interessant, weil die empirische Untersuchung von Genossenschaftssatzungen im Rahmen der Transaktionskostentheorie in der Literatur bislang nicht zu finden ist. Zur Beantwortung der Hauptforschungsfrage ist es außerdem erforderlich, die im Zusammenhang mit der Entstehung der genossenschaftlichen Governance relevanten Einflussfaktoren zu identifizieren, woraus sich ein drittes Ziel dieser Arbeit ergibt. Es sollen Faktoren ermittelt werden, die die Heterogenität in den Genossenschaftssatzungen erklären. Obwohl die Transaktionskostentheorie hier mit den Transaktionsdimensionen Einflussfaktoren nennt,44 gilt es in dieser Arbeit, speziell für Genossenschaften gültige Governance-Determinanten zu entdecken.
39 Vgl. Abschnitt 2.2.2.4. 40 Vgl. Borys und Jemison 1989, S. 240, und Zajac und Olsen 1993, S. 131. 41 Ein solcher Vergleich diskreter Governance-Strukturen ist der typische empirische Forschungsansatz der klassischen Transaktionskostentheorie (vgl. Abschnitt 2.2), die dazu die generischen Governance-Strukturen Markt, hybride Organisation und Unternehmen differenziert (vgl. Williamson 1991, S. 269, und Macher und Richman 2008, S. 5). 42 Zwar wendete sich die Transaktionskostentheorie im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend auch Governance-Attributen zu (damit ist das Zusammenwirken mehrerer, aber nicht aller GovernanceMechanismen einer Governance-Struktur gemeint (vgl. Abschnitt 2.1.2.4)), die ein kontinuierliches Maß zur Differenzierung von Governance-Strukturen sind (vgl. Joskow 1988, S. 101, oder Shelanski und Klein 1995, S. 338, und Abschnitt 2.1.3.3.3), dennoch steht der Vergleich von generischen Governance-Strukturalternativen bis heute im Mittelpunkt der empirischen Forschung (vgl. Macher und Richman 2008, S. 5). 43 Siehe hierzu beispielhaft die Arbeit von Chaddad (2012, S. 457–458) für Genossenschaften oder von Pisano (1989, S. 109) für Allianzen. 44 Vgl. Abschnitt 2.2.1.2.
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1 Einleitung
Zur Differenzierung der Einflussfaktoren werden in einem späteren Abschnitt TeilForschungsfragen formuliert, die auch zur Abgrenzung jener Faktoren dienen.45 Eine erfolgreiche Bearbeitung der mit den drei vorgenannten Zielen verbundenen Aufgaben ermöglicht es, ein Modell der Entstehung von Governance in Energiegenossenschaften46 zu entwerfen, das dann in einem zweiten Schritt mithilfe quantitativer Methodik empirisch getestet wird. Insgesamt kann damit die Transaktionskostentheorie in Bezug auf Genossenschaften erweitert werden, was zugleich Schlussfolgerungen erlaubt, die auch für andere Governance-Strukturen – insbesondere für hybride Organisationsformen – von Bedeutung sind.47 Neben der Theorieentwicklung kann durch die Beantwortung der oben genannten Forschungsfrage zudem ein praktischer Nutzen für diejenigen erbracht werden, die beabsichtigen, mittels der genossenschaftlichen Organisationsform Kooperationsprobleme48 zu lösen. Initiatoren von Genossenschaften können von den hier unternommenen Untersuchungen profitieren, da die angestrebten Forschungsergebnisse zu einem besseren Verständnis der Entstehung der Governance einer Genossenschaft beitragen. Eine kollektive Unternehmensgründung birgt Herausforderungen, und ein besseres Verständnis von der Entstehung ihrer Governance kann dabei helfen, das Kooperationsergebnis zu verbessern.49 Die Ergebnisse dieser Arbeit machen auch die Risiken einer Genossenschaftsgründung transparenter, weil die Bedingungen für einen positiven Gründungsverlauf thematisiert werden. Weiterhin ist die beabsichtigte Untersuchung für alle professionell im Rahmen der Gründung von Genossenschaften arbeitenden Akteure hilfreich, wie beispielsweise die Genossenschaftsverbände, die direkt mit der Gründung von Genossenschaften betraut sind. Sie profitieren von den empirischen Ergebnissen, die erstmals anhand einer großen Untersuchungsgesamtheit50 Einblicke in die Satzungsausgestaltung bei Genossenschaften geben. Dies gilt auch für den Gesetzgeber, der durch ein besseres Verständnis der Entstehung genossenschaftlicher Governance Rahmenbedingungen schaffen kann, die zweckdienlich für die genossenschaftliche Organisationsform sind.
45 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 46 Im Weiteren auch als Modell der Governance-Entstehung oder vereinfachend als Modell bezeichnet. 47 Vgl. Ménard 2004, S. 350 und S. 369–370, Bell et al. 2006, S. 1609–1611, und Jolink und Niesten 2012, S. 158. 48 Vgl. Abschnitt 2.1.1.4. 49 Vgl. Cook 1995, S. 1156–1157, und Spear et al. 2009, S. 261–265. 50 Mit der Untersuchungsgesamtheit ist in dieser Arbeit eine Sub-Population der Energiegenossenschaften in Deutschland gemeint, die Gegenstand der quantitativ-empirischen Modellprüfung ist und in Abschnitt 3.3.1.2 näher spezifiziert wird.
1.3 Gang der Untersuchung
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1.3 Gang der Untersuchung Ausgehend von den vorgenannten Zielsetzungen ist die Arbeit in folgende Oberkapitel gegliedert: In Oberkapitel 2 werden zunächst die theoretischen Grundlagen für die Untersuchung gelegt. Dazu erfolgt eine Auseinandersetzung mit wesentlichen Konzepten und die Erörterung der genossenschaftlichen Governance, die im Weiteren die abhängige Variable bildet. Daran schließt sich eine Darstellung des Forschungsstands zur Governance-Entstehung an, wodurch die Forschungslücken aufgezeigt werden, aus denen sich die Forschungsfrage dieser Arbeit und ihre Teil-Forschungsfragen herleiten. In Oberkapitel 3 wird die empirische Untersuchung der Entstehung von Governance im Gründungsprozess von Energiegenossenschaften vorgestellt. Dieses Oberkapitel gliedert sich gemäß des hier zugrunde liegenden Verständnisses von Erkenntnis produzierender Wissenschaft in drei Teilbereiche.51 Im ersten Teil erfolgt die Entwicklung einer Gegenstandstheorie52 zur Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften. Hierzu kommt die qualitative Grounded-Theory-Methode zum Einsatz. Es werden dazu Energiegenossenschaften im Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte und ihre Satzungen untersucht. Die Gegenstandstheorie ist in ihrem Wesen ein Prozessmodell und wird im zweiten Teil von Oberkapitel 3 mit der Literatur zur Transaktionskostentheorie und Governance-Forschung verknüpft und in Hypothesen überführt. Durch diesen Zwischenschritt wird ein aus Hypothesen bestehendes Modell zur Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften begründet. Im dritten Teil von Oberkapitel 3 ist die quantitativ-empirische Überprüfung des Modells dargelegt. Zum Test der Hypothesen wurde eine Datenbank aller Energiegenossenschaften in Deutschland erstellt,53 aus der eine relevante Gruppe von Genossenschaften ausgewählt wird, deren Satzungen zur quantitativen Modellprüfung herangezogen werden. Die Ergebnisse des Falsifikationstests der entwickelten Hypothesen schließen den empirischen Teil dieser Arbeit ab und bilden den Ausgangspunkt für die Diskussion. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt in Oberkapitel 4.54 Sie beginnt mit einer Nachbetrachtung der Ergebnisse, um Anpassungsbedarf hinsichtlich des entwickelten
51 Siehe zur wissenschaftstheoretischen Einschätzung einer solchen Vorgehensweise Blaug (1992, S. 14–17 und S. 27–28). 52 Als eine Gegenstandstheorie wird hier eine Theorie mit engem Bezug zum Untersuchungsgegenstand verstanden. Das Konzept ist der Grounded-Theory-Methode entlehnt und wird in Abschnitt 3.1.1.1 vorgestellt. 53 Die Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ wurde vom Autor dieser Arbeit in Kooperation mit Lars Holstenkamp und Heinrich Degenhart entwickelt (vgl. Abschnitt 3.3.1.1). 54 Aufgrund des hier zugrunde liegenden Verständnisses von wissenschaftlichem Arbeiten wird nicht davon ausgegangen, dass Hypothesen durch die empirische Feststellung von erwarteten
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1 Einleitung
Modells der Governance-Entstehung zu erörtern. Darauf folgend werden die Implikationen der Gesamtergebnisse für die Transaktionskostentheorie diskutiert und es wird auf wesentliche Limitationen eingegangen. Die Arbeit endet in Oberkapitel 5 mit einem Fazit, in dem Schlussfolgerungen für die Praxis herausgestellt werden, eine Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt und ein Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf gegeben wird.
Ergebnissen grundlegend bestätigt sind, sie stellen vielmehr den Ausgangspunkt für zukünftige Versuche der Falsifizierung dar (vgl. Blaug 1992, S. 13–14).
2 Theoretische Grundlagen 2.1 Wesentliche Konzepte Das Kapitel 2.1 hat zum Ziel, die Governance der Genossenschaft vorzustellen und einzuordnen. Zur Annäherung an dieses Ziel werden zunächst Grundbegriffe und das Kooperationsproblem erklärt, vor deren Hintergrund anschließend das Konzept der erwartungsstabilisierenden Mechanismen55 thematisiert wird. Die Differenzierung von erwartungsstabilisierenden Mechanismen im zweiten Abschnitt dieses Kapitels ermöglicht es, das Governance-Konzept allgemein zu anderen erwartungsstabilisierenden Mechanismen zu verorten und begrifflich zu definieren. Darauf aufbauend stehen hybride Organisationsformen im Mittelpunkt, anhand derer das bis dahin abstrakte Governance-Konzept konkretisiert wird. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels geht es schließlich um die Genossenschaft als hybride Organisationsform und besondere Governance-Struktur. Neben der Definition der Genossenschaft, ihrer Einordnung als hybride Organisationsform, der Vorstellung besonderer Kooperationsherausforderungen in der Genossenschaft und der Abgrenzung unterschiedlicher Genossenschaftstypen wird das Konzept der Cooperative Governance erläutert. Im Ergebnis ist damit die abhängige Variable dieser Arbeit – die Governance der Genossenschaft – eingeführt und durch das zuvor erörterte begriffliche Instrumentarium vor einem theoretischen Hintergrund positioniert.56
2.1.1 Grundbegriffe 2.1.1.1 Akteur Der eingangs beschriebene theoretische Hintergrund dieser Arbeit ist die Transaktionskostentheorie als Teil der Neuen Institutionenökonomik. Im Folgenden wird eine Reihe von Grundbegriffen aus diesem theoretischen Hintergrund – namentlich Akteur, Unsicherheit, Transaktion, Kooperation und Transaktionskosten – eingeführt. Mit den
55 Es wurde bewusst darauf verzichtet, an dieser Stelle den Institutionenbegriff übergeordnet zu verwenden. Gleichwohl ist das Konzept des erwartungsstabilisierenden Mechanismus als Synonym für Institutionen auf unterschiedlichen Wirkungsebenen zu verstehen. Der Begriff des erwartungsstabilisierenden Mechanismus steht hier übergeordnet für die unterschiedlichen Mechanismen, die dafür sorgen sollen, dass das Verhalten von Akteuren erwartbar ist. Der Institutionenbegriff wird im weiteren Verlauf zur Bezeichnung einzelner spezifischer Institutionen verwendet. Eine Begründung und Erläuterung dieser Vorgehensweise findet sich in Abschnitt 2.1.2.1. 56 Die Ursachen für die unterschiedliche Ausgestaltung von Governance werden allerdings erst in Abschnitt 2.2 erläutert. Erst die Zusammenschau von Abschnitt 2.1 und Abschnitt 2.2 vermittelt einen vollständigen Überblick über die Transaktionskostentheorie, an welche diese Arbeit anschließt. https://doi.org/10.1515/9783110611151-002
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2 Theoretische Grundlagen
Grundbegriffen wird im weiteren Verlauf der Arbeit operiert, und ihr Verständnis trägt zu einem erweiterten Überblick über die Problemstellung bei. Zwei Sichtweisen stehen sich bei der Konzeption des Handelnden typischerweise in den Sozialwissenschaften gegenüber: der methodologische Individualismus und der methodologische Kollektivismus.57 Ersterer beschränkt das Konzept des Handelnden auf das Einzelindividuum, das als kleinste Einheit sozialer Struktur die Ursache der beobachtbaren sozialen Phänomene ist.58 Der methodologische Kollektivismus hingegen ordnet dem Kollektiv aus Individuen ebenso Eigenschaften zu, die sich nicht aus der Summe der Eigenschaften der Individuen ergeben.59 Der Unterschied beider Sichtweisen besteht folglich in der konzeptionellen Begrenzung des Handelnden. Zwei Gründe sprechen für die Verwendung des methodologischen Individualismus in dieser Arbeit: Einerseits erscheint die Rückführung von organisationalem Handeln auf das Verhalten von Individuen schlüssiger, da ansonsten die Verantwortung des Einzelnen infrage gestellt wäre und auch die Möglichkeit der bewussten Gestaltbarkeit von Organisationen durch das Individuum in Zweifel gezogen werden müsste. Letzteres stünde im Widerspruch zur Auffassung in dieser Arbeit, die davon ausgeht, dass die Untersuchung individuellen Verhaltens darüber Aufschluss gibt, wie Governance entsteht. Die Governance-Entstehung wird nicht als das Ergebnis von Emergenz aufgefasst, sondern soll durch die Deutung des Verhaltens von Individuen60 erklärt werden. Andererseits wurde der methodologische Individualismus in zahlreichen Untersuchungen im Bereich der Neuen Institutionenökonomik verwendet, was ebenfalls dafür spricht, diese Sichtweise hier einzunehmen.61 Da Individuen offenkundig ebenfalls in Gruppen handeln und der Begriff des Handelns auch für gemeinsam in einer Gruppe handelnde Individuen genutzt werden soll,62 wird anstelle des Begriffs des Individuums das Konzept des Akteurs verwendet. Akteure sind demnach entweder Einzelindividuen oder bezeichnen gemeinsam agierende Individuen zum Beispiel in einer Genossenschaft.63
57 Vgl. Heath 2015. 58 Vgl. Weber 1922, S. 6–7. 59 Vgl. Heath 2015. Der wesentliche Unterschied liegt also in der Interpretation der Ursache von beobachteten sozialen Phänomenen. Entweder wird die Ursache im Handeln von einzelnen Individuen gesehen oder sie wird auf das Handeln von Kollektiven zurückgeführt. Für den methodologischen Kollektivismus ist beispielsweise die Gruppe oder das Unternehmen das handelnde Subjekt. Auf der anderen Seite meint der methodologische Individualismus aber nicht die ausschließliche Betrachtung individuellen Verhaltens: Auch Unternehmen oder Organisationen können als Akteure untersucht werden (vgl. Heath 2015). Lediglich die Erklärung der Handlungen geht im methodologischen Individualismus auf das einzelne Individuum zurück (vgl. Heath 2015). 60 Vgl. Weber 1922, S. 5–6. 61 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 3–4. 62 Vgl. Weber 1922, S. 6–7. 63 Vgl. Fußnote 59.
2.1 Wesentliche Konzepte
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Auch das, was analytisch sinnvoll als Handlung einer Genossenschaft verstanden werden kann, lässt sich letztlich immer auf die Handlungen der Individuen zurückzuführen, die sich in einer Genossenschaft vereinigen. Akteure, die an einer Transaktion beteiligt sind, werden im Folgenden auch als Transaktionspartner bezeichnet.64 Eine Beschreibung der Verhaltensannahmen über den Akteur in der Transaktionskostentheorie erfolgt in Abschnitt 2.2.1.1. Die Verhaltensannahmen stellen einen wichtigen Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie dar, weshalb eine unkritische Festlegung an dieser Stelle nicht erfolgen soll.65 2.1.1.2 Unsicherheit Die Akteure handeln unter Unsicherheit. Unsicherheit bezeichnet dabei die Tatsache, dass die Akteure die Zukunft nicht voraussehen können, oder anders formuliert, „Unsicherheit [. . .] ist mit einem Mangel an Informationen über die Zukunft gleichzusetzen“66. Die bestehende Unsicherheit kann in Ungewissheit und Risiko differenziert werden, wobei das Risiko berechenbar und die Ungewissheit nicht berechenbar ist.67 Insbesondere die Ungewissheit ist ein Problem in jeder Entscheidungssituation, denn die intendierten Folgen einer Handlung treten nicht zwangsläufig ein und auch ihre Eintrittswahrscheinlichkeit lässt sich nicht vorhersagen. In der folgenden Arbeit nimmt der Unsicherheitsbegriff eine zentrale Stellung ein und wird in einem späteren Abschnitt zum Antonym Handlungssicherheit abgegrenzt.68
64 Der hier allgemein gehaltene Akteursbegriff wird in der späteren Arbeit weiter differenziert. Die später eingeführten Bezeichnungen „gestaltender Akteur“, „Initiator“, „Genossenschaftsverband“ oder „potenzielles Mitglied“ werden dann in der Argumentation genutzt, um Besonderheiten des Akteurskonzepts zu betonen (vgl. Abschnitt 3.1.3). 65 Die Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie hat zu anhaltender Kritik an den Verhaltensannahmen geführt, worauf noch eingegangen werden wird (vgl. Abschnitt 2.2.2.1.1). Auch im empirischen Teil dieser Arbeit wird daher auf ein Voranstellen von Verhaltensannahmen begründeterweise verzichtet. Die qualitativ-explorative Untersuchung (vgl. Abschnitt 3.1.3) verfolgt das Ziel, ein Modell der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften zu entwickeln. Folglich ist ein rein deduktiver Test der Transaktionskostentheorie, der ein Voranstellen der Verhaltensannahmen erforderlich machen würde, nicht angestrebt. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass sich diese Arbeit außerhalb der Transaktionskostentheorie bewegt (vgl. Tsang 2006). Vielmehr hat sich – wie später gezeigt werden wird – die Kritik und Modifikation des Menschenbilds der Transaktionskostentheorie als ein fruchtbares Feld für ihre Weiterentwicklung erwiesen (vgl. Abschnitt 2.2.2.1.1). Ferner schließt die Fragestellung dieser Arbeit an Forschungslücken der Transaktionskostentheorie an und der Untersuchungsgegenstand ist mit der genossenschaftlichen Governance analog zu dem der Transaktionskostentheorie in anderen Untersuchungszusammenhängen. Aus den genannten Gründen bleibt die Vorstellung des Menschenbilds der Transaktionskostentheorie Abschnitt 2.2.1.1 vorbehalten. 66 Neus 2007, S. 1771. 67 Vgl. Neus 2007, S. 1771. 68 Vgl. Abschnitt 3.1.3.1.
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2 Theoretische Grundlagen
Die Ursachen für Unsicherheit sind vielfältig. Die Transaktionskostentheorie unterscheidet neben allgemeinen Ursachen solche, die auf das Verhalten der Akteure zurückzuführen sind.69 Die allgemeine Unsicherheit, die sich schlicht aus dem Nichtwissen über die Veränderungen der Umwelt in der Zukunft ableiten lässt, kann von solcher Unsicherheit unterschieden werden, die aus der Unwissenheit in Bezug auf das Verhalten anderer Akteure resultiert. Hierfür ist unter anderem die Tatsache ursächlich, dass die Einstellungen und Normen, die die Entscheidungen von Akteuren beeinflussen, nicht homogen ausgeprägt sind.70 Sowohl faires als auch opportunistisches Verhalten können beispielsweise nicht mit Gewissheit vorausgesagt werden, was Unsicherheit für jede Handlung bedeutet, die am Handeln anderer orientiert ist. Der Umstand, dass in den meisten Entscheidungssituationen die Informationen asymmetrisch verteilt sind, erhöht die Unsicherheit über das Verhalten anderer Akteure zusätzlich. Die Beurteilung der Asymmetrie vorhandener Informationen geht ebenso mit Unsicherheit einher wie die Sorge, dass Informationsasymmetrien einseitig ausgenutzt werden könnten.71 Ferner ist davon auszugehen, dass auch ungleich verteilte Ressourcen die Verhaltensunsicherheit beeinflussen.72 Akteure, die über besonders umfangreiche Ressourcen verfügen, können den Verlust, der mit einer falschen Entscheidung einhergeht, leichter verkraften, als Akteure, deren Ressourcen stark beschränkt sind. 2.1.1.3 Transaktion Unsicherheit wird im Zusammenhang mit Transaktionen73 zum Problem. „Eine Transaktion findet statt, wenn ein Gut oder eine Leistung über eine technisch trennbare Schnittstelle hinweg übertragen wird.“74 Das bedeutet zugleich, dass mindestens zwei Akteure an einer Transaktion beteiligt sind und somit neben der allgemeinen Unsicherheit die oben skizzierte Verhaltensunsicherheit besteht. Der Transaktionsbegriff entstand in Abgrenzung zu den Begriffen von Produktion und Tausch, wobei als Produktion die Gewinnung von Rohstoffen der Natur und als Tausch der wechselseitige physische Übergang von Gütern zwischen 69 Vgl. Williamson 1990, S. 64–68. Auch in anderen Theorien ist eine solche Unterscheidung der Ursachen für Unsicherheit angelegt (vgl. Ostrom 1990, S. 33–38). Allerdings knüpft die Transaktionskostentheorie diese Unterscheidung an die Verhaltensannahmen über den Akteur. Wie bereits dargelegt, soll ein unkritisches Voranstellen dieser Verhaltensannahmen mit Verweis auf spätere Abschnitte hier unterbleiben (vgl. Abschnitt 3.1.3.1). 70 Vgl. Ostrom 1990, S. 35–38. 71 Vgl. Akerlof 1970 und North 1991, S. 30. 72 Ostrom (1990, S. 34–35) beschreibt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass heterogene Diskontierungsfaktoren bestehen, also die Bedeutung zukünftiger Ereignisse unterschiedlich beurteilt wird. 73 Commons (1931, S. 652) nennt die Transaktion den zentralen Untersuchungsgegenstand der institutionenökonomischen Analyse. 74 Williamson 1990, S. 1.
2.1 Wesentliche Konzepte
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Akteuren verstanden wird.75 Das Konzept der Transaktion umfasst im Gegensatz zum Tausch schon die Absicht der Akteure, Güter oder Leistungen zu übertragen und setzt noch vor dem physischen Übergang der Güter an.76 Hieraus ist die zentrale Bedeutung des Vertrags für die Analyse von Transaktionen erkennbar, da sich in Verträgen die Beschreibung der Transaktion und die Vollzugsabsicht der Akteure wiederfinden. Der Vertrag ist somit das zeitpunktbezogene Abbild einer Transaktion.77 Die Untersuchung einer Genossenschaftssatzung, die als Vertrag zwischen der Genossenschaft und ihren Mitgliedern anzusehen ist,78 ermöglicht es beispielsweise die intendierte Transaktion zwischen den Mitgliedern und der Genossenschaft nachzuvollziehen. Zugleich wird durch die Tatsache, dass ein Vertrag lediglich die Absicht der Akteure dokumentiert, die notwendige Kooperationsbereitschaft zur Durchführung der Transaktion ersichtlich, die vor dem Hintergrund der unterstellten Unsicherheit nicht selbstverständlich ist. 2.1.1.4 Kooperation Kooperation – also die Zusammenarbeit der Transaktionspartner79 – stellt eine Voraussetzung für das Gelingen von Transaktionen dar.80 Die zentrale Frage lautet daher: Sind Akteure immer kooperativ?81 Die „nichtkooperative Spieltheorie“ verneint die Frage mit Verweis auf das Gefangenendilemma-Spiel: Das Gefangenendilemma-Spiel steht exemplarisch für eine Situation, in der Kooperation zwischen zwei Akteuren unbedingt notwendig wäre, aber natürlicherweise in einem einmaligen Spiel nicht zu erwarten ist.82 Die Ursache
75 Vgl. Commons 1931, S. 651–652. 76 Der Transaktionsbegriff bezeichnet neben der Übertragung von physischen Gütern auch die Übertragung von Verfügungsrechten (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 85). 77 Vgl. Macneil 1973, S. 693. Wie Commons (1931, S. 648) formuliert: „Transactions determine legal control, while the classical and hedonic economics was concerned with physical control. Legal control is future physical control.“ 78 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3. 79 Zentes (2007, S. 1821) bezeichnet im Kontext von Unternehmenskooperationen „Kooperation als unternehmerische Zusammenarbeit [. . .] mit dem Kennzeichen der Harmonisierung oder gemeinsamen Erfüllung von betrieblichen Aufgaben“. 80 Vor diesem Hintergrund bezeichnet Axelrod (2005, S. 3) Kooperation verständlicherweise als die „Grundlage unserer Zivilisation“. 81 Vgl. North 1991, S. 18. 82 Das Gefangenendilemma beschreibt eine Situation, in der zwei Verdächtige dazu angehalten werden, über ein Verbrechen auszusagen, das ihnen angelastet wird. Sie haben jeweils die Möglichkeit, das Verbrechen zu gestehen und damit jeweils den anderen zu beschuldigen (Defektieren) oder zu schweigen (Kooperation). Der Nutzen, der sich aus beiden Strategien ableiten lässt, hängt jeweils davon ab, wie der andere Verdächtige handelt. Sagt ein Verdächtiger aus und der andere Verdächtige schweigt (einseitige Kooperation), so erhält der geständige Verdächtige eine Strafmilderung und der nicht geständige Verdächtige eine hohe Strafe. Gestehen beide (beidseitiges Defektieren), so werden beide bestraft, aber weniger stark als der nicht Geständige im Fall einseitiger
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2 Theoretische Grundlagen
dafür wird in den wechselseitigen Annahmen der Spieler gesehen: Defektion stellt bei der gegenseitigen Annahme rationalen und nutzenmaximierenden Verhaltens die dominante Strategie für jeden der Spieler dar.83 Diese Erkenntnis wird noch eklatanter, wenn mehr als zwei Akteure an der Transaktion beteiligt sind,84 wie es bei Genossenschaften der Fall ist. Anhand der Beobachtung von Gruppen hat Olson die „zero contribution thesis“85 entwickelt, die eine Differenz zwischen individuell rationalem Verhalten und gemeinsam rationalem Verhalten postuliert: Auch wenn alle Mitglieder einer Gruppe das gleiche Interesse haben, so ist es aus Sicht eines einzelnen Mitglieds dieser Gruppe rational, nicht zur Erreichung des Ziels beizutragen und sich auf den Einsatz der anderen Gruppenmitglieder zu verlassen.86 Die Ursache für das Scheitern von Kooperation in der Gruppe wird mit dem Trittbrettfahrerverhalten begründet, dass die Nutzung eines gemeinsamen Gutes bezeichnet, ohne etwas zu dessen Herstellung beizutragen.87 Die im Gefangenendilemma exemplarisch dargestellte duale Kooperationsproblematik wird also durch weitere Akteure verschärft und hat zur Folge, dass eine pauschale Kooperationsbereitschaft bei der Annahme rationalen und nutzenmaximierenden Verhaltens noch unwahrscheinlicher ist.88 Wenngleich die nichtkooperative Spieltheorie eine konstruierte, auf eine überschaubare Anzahl an Einflussgrößen beschränkte Situation beschreibt89 und auch die Entwicklung von Kooperation durch mehrmaliges Spielen sowohl im Experiment90 als auch empirisch91 zu beobachten ist, so wird hieran das
Kooperation. Schweigen beide Verdächtige, so erhalten beide eine geringe Strafe, da ihnen die Straftat nicht nachgewiesen werden kann (beidseitige Kooperation). Wie Axelrod (2005, S. 22) schreibt, wurde das „Gefangenendilemma [..] ungefähr 1950 von Merrill Flood und Melvin Dresher erfunden und kurz darauf von A. W. Tucker formalisiert“. 83 Vgl. Axelrod 2005, S. 11. „Das Dilemma liegt darin, daß es für jeden Spieler, unabhängig vom Verhalten des anderen, vorteilhafter ist, zu defektieren, daß jedoch beiderseitige Defektion für jeden Spieler ungünstiger ist als wechselseitige Kooperation“ (Axelrod 2005, S. 7). 84 Vgl. Olson 1998, S. 1–3. 85 Ostrom 2000, S. 137. 86 Vgl. Olson 1998, S. 2. 87 Vgl. Ostrom 1990, S. 6. 88 Vgl. Hardin 1971, S. 472. 89 Vgl. North 1991, S. 12–13. 90 Axelrod (2005, S. 13) hat in seinem wegweisenden Buch zur Evolution der Kooperation gezeigt, dass sich bei mehrmaligem Spielen Kooperation zwischen den Spielern entwickeln kann, was jedoch davon abhängig ist, „ob die Strategie des Gegenspielers Gelegenheit für die Entwicklung wechselseitiger Kooperation gibt“. 91 Auch empirische Untersuchungen von Stammesgesellschaften geben Aufschluss über die Lösung des Kooperationsproblems. In Stammesgesellschaften entwickelt sich eine komplexe Struktur von informellen Regeln, um antikooperatives Verhalten wie im Gefangenendilemma zu vermeiden. Ein Naturzustand, wie er von Hobbes beschrieben wird (vgl. Fußnote 92), existiert in diesen Gesellschaften nicht (vgl. North 1991, S. 37–39).
2.1 Wesentliche Konzepte
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„Kooperationsproblem“92 exemplarisch deutlich. Kooperation ist nicht selbstverständlich, weshalb das Gelingen von Transaktionen gefährdet ist. 2.1.1.5 Transaktionskosten Aufgrund der Tatsache, dass Akteure sich nicht auf kooperatives Verhalten seitens ihrer Transaktionspartner verlassen können, ist davon auszugehen, dass Transaktionen mit Kosten verbunden sind.93 Für das Verständnis von Transaktionskosten94 ist ihre Abgrenzung zu Produktionskosten zentral.95 North differenziert Transformationskosten der Produktion von Transaktionskosten der Übertragung.96 Produktionskosten sind demnach Kosten, die durch den Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital sowie ihre Transformation entstehen und die von Transaktionskosten, welche aus der Bestimmung, dem Schutz und der Durchsetzung von Eigentumsrechten erwachsen, abzugrenzen sind.97 Richter und Furubotn bezeichnen Transaktionskosten deshalb als „,Betriebskosten‘ einer Wirtschaft“98. Wie Richter und Furubotn schreiben, können die Transaktionskosten in Transaktionskosten des Marktes, Transaktionskosten des Unternehmens und politische Transaktionskosten differenziert werden.99 Zudem lassen sich fixe und variable Transaktionskosten unterscheiden: Erstere beziehen sich auf die Errichtung von erwartungsstabilisierenden Mechanismen, Letztere stehen mit der Durchführung von Transaktionen in Zusammenhang.100 Transaktionskosten entstehen vor Vertragsschluss zum Beispiel durch Such-, Entwurfs-, Verhandlungs- und Absicherungskosten101 und nach Vertragsschluss beispielsweise
92 Vgl. North 1991, S. 11–16, und Axelrod 2005, S. 3. Das Kooperationsproblem wird auch in älteren Quellen thematisiert, wie beispielsweise im hobbesschen „Naturzustand“ (vgl. Hobbes 1651, S. 109–110). Hobbes geht davon aus, dass „im Naturzustand, vor der Existenz einer Regierungsgewalt, [. . .] eine derart rücksichtslose Konkurrenz unter den egoistischen Individuen herrschen [würde, J. M.], dass das Leben ‚einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz‘ wäre“ (Axelrod 2005, S. 3; vgl. als Originalquelle auch Hobbes 1651, S. 109–110). 93 Die Entdeckung von Transaktionskosten geht auf Coase (1937) zurück. 94 Coase (1937, S. 388–389) entwickelte das Konzept der Transaktionskosten anhand der Beobachtung, dass es neben der Steuerung von Transaktionen durch den Preismechanismus auf Märkten auch Unternehmen gibt, in denen der emergente Preismechanismus durch die bewusste Entscheidung des Unternehmers – Hierarchie – ersetzt wird (vgl. Abschnitt 2.1.3.1). Als Ursache für die Verlagerung von Transaktionen aus dem Markt in Unternehmen vermutete Coase (1937, S. 394–398) Unterschiede in den Transaktionskosten zwischen beiden. Die Kosten, die durch den Preismechanismus auf Märkten induziert sind (vgl. Coase 1937, S. 390), können günstiger sein als Kosten des Managements in Unternehmen und umgekehrt (vgl. Coase 1937, S. 395, siehe auch Abschnitt 2.1.3.1). 95 Vgl. Williamson 1990, S. 21. 96 Vgl. North 1991, S. 28. 97 Vgl. North 1991, S. 28. 98 Richter und Furubotn 2003, S. 53. 99 Vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 58. 100 Vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 58. 101 Vgl. Williamson 1990, S. 22–23.
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durch die Errichtung von Kontrollsystemen, Überwachungskosten, Kosten zur Beilegung von Streitigkeiten, Kosten der Fehlanpassung und Kosten des Feilschens.102 North grenzt zudem Transaktionskosten, die aus Messproblemen103 resultieren, von Transaktionskosten ab, die durch Kontroll- und Durchsetzungsprobleme hervorgerufen sind.104 Hier zeigt sich, dass Transaktionskosten eine Oberkategorie von Kosten sind, die weiter differenziert werden kann. In dieser Arbeit sollen insbesondere GovernanceKosten unterschieden werden, mit denen fixe und variable Transaktionskosten gemeint sind, die mit der Errichtung und Aufrechterhaltung von Governance-Strukturen einhergehen. Beispielsweise verursacht die Gründung einer Genossenschaft Kosten durch ein notwendiges Gründungsgutachten105 und auch die fortlaufenden Verpflichtungen eines Genossenschaftsmitglieds in den Gremien der Genossenschaft stellen Governance-Kosten dar.
2.1.2 Erwartungsstabilisierende Mechanismen 2.1.2.1 Definition und Differenzierung Vor dem Hintergrund des oben geschilderten Problems der Unsicherheit hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft von Transaktionspartnern gilt es zu fragen, welche Lösungsstrategien sich den Akteuren bieten, um das Kooperationsproblem zu überwinden und nutzenstiftende Transaktionen zu realisieren. Die Literatur zur Neuen Institutionenökonomik und Transaktionskostentheorie thematisiert in diesem Zusammenhang Institutionen,106 die nun vorgestellt und anhand ordnender Ebenen differenziert werden. Funktional betrachtet, sorgen Institutionen dafür, dass die Handlungsmöglichkeiten der Akteure beschränkt werden, was dazu führt, dass das Verhalten der Transaktionspartner wechselseitig in einem höheren Maße vorhersehbar ist.107 Diese Funktion von Institutionen hervorhebend, definiert North Institutionen mit den folgenden Worten: „Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic.“108 Da Unsicherheit, wie oben beschrieben,
102 103 104 105 106 107 108
Vgl. Williamson 1990, S. 325. North (1991, S. 30) bezieht sich dabei auf Akerlof (1970). Vgl. North 1991, S. 28. Vgl. § 11 Abs. 2 Nr. 3 GenG. Vgl. Commons 1931, S. 649, oder North 1991, S. 25. Vgl. North 1991, S. 25–26. North 1991, S. 3.
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eines der Haupthindernisse für gelingende Kooperation darstellt, und Institutionen Erwartungssicherheit herstellen können, dienen sie den Akteuren als Mechanismus zur Herstellung von Kooperation.109 Die Herausforderung der Institutionenanalyse besteht darin, dass Institutionen äußerst vielfältige Erscheinungsformen haben und der Institutionenbegriff zur Bezeichnung unterschiedlicher Phänomene verwendet wird. Ein sehr weiter Institutionenbegriff umfasst beispielsweise Sprache, Geld, Gesetze, Gewichte, Tischmanieren und auch Organisationen als Institutionen.110 Einer solchen, sehr weiten Auffassung des Institutionenbegriffs soll in dieser Arbeit nicht gefolgt werden, wenngleich auch hier durch die synonyme Bezeichnung als erwartungsstabilisierender Mechanismus ein eher breites Verständnis des Institutionenkonzepts zugrunde gelegt wird. Der Begriff des erwartungsstabilisierenden Mechanismus hat den Vorteil, dass unterschiedliche Ebenen von Institutionen dadurch erfasst werden können. In der weiteren Arbeit wird der Begriff des erwartungsstabilisierenden Mechanismus als Oberkategorie für Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Reichweiten verwendet. Der Institutionenbegriff wird jeweils spezifiziert verwendet, um einzelne Institutionen zu bezeichnen. Was damit konkret gemeint ist, wird an der Einteilung von erwartungsstabilisierenden Mechanismen bei Williamson deutlich, der hier gefolgt werden soll: Williamson unterscheidet vier Ebenen und bezeichnet diese mit den Begriffen „Embeddedness“, „Institutional Environment“, „Governance“ und „Resource Allocation and Employment“.111 Mit „Embeddedness“ auf erster Ebene fasst Williamson informelle Institutionen, Traditionen, Normen, Religion und Bräuche zusammen.112 Die Frequenz, mit welcher sich erwartungsstabilisierende Mechanismen auf dieser Ebene verändern, gibt er mit 100–1000 Jahren an.113 Erwartungsstabilisierende Mechanismen auf dieser Ebene entstehen vor allem spontan, im Gegensatz zu denjenigen auf niedrigeren Ebenen.114 Die zweite Ebene „Institutional Environment“ besteht aus formalen Regeln wie dem Rechtssystem und der damit zusammenhängenden Verwaltung, welche Williamson ebenfalls als sehr träge in Bezug auf Veränderungen charakterisiert, da sie sich über Zeiträume von 10–100 Jahren ändert.115 Die zweite Ebene hat mit der ersten gemeinsam, dass ihre Gültigkeit sich auf viele Akteure in einer Gesellschaft erstreckt. Sie unterscheidet sich von der ersten Ebene durch die Möglichkeit der absichtsvollen Änderung durch die Akteure, beispielsweise durch
109 Vgl. North 1991, S. 12. Mantzavinos (2001, S. 83) bezeichnet sie treffend als Konfliktlösungsplattform. 110 Vgl. Hodgson 2006, S. 2. 111 Vgl. Williamson 2000, S. 596–600. 112 Vgl. Williamson 2000, S. 596. 113 Vgl. Williamson 2000, S. 597. 114 Vgl. Williamson 2000, S. 596–598. 115 Vgl. Williamson 2000, S. 597.
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Gesetzgebungsprozesse. Auf der dritten Ebene ordnet Williamson „Governance“ ein, deren Besonderheit darin besteht, dass ihr Wirkungsbereich auf die direkt an einer Transaktion beteiligten Transaktionspartner beschränkt bleibt, die sich ihrer Wirkung freiwillig unterwerfen.116 Auch diese Ebene von erwartungsstabilisierenden Mechanismen unterliegt, wie die zweite Ebene, der bewussten und willentlichen Gestaltung der Akteure. Allerdings besteht hier eine höhere Änderungsfrequenz, da grundlegende Veränderungen in kürzeren Zeiträumen (1–10 Jahre) zu beobachten sind.117 Die erwartungsstabilisierenden Mechanismen der vierten Ebene werden von Williamson als „Resource Allocation and Employment“ zusammengefasst, womit er die Regelsetzung im Sinne der Koordination von Warenströmen oder Arbeitskräften meint.118 Den Veränderungsprozess auf dieser Ebene beschreibt er als kontinuierlich und ebenfalls bewusst durch die Akteure gesteuert, wobei auch diese erwartungsstabilisierenden Mechanismen nur für die direkt beteiligten Akteure gelten.119 Angelehnt an die von Williamson vorgenommene Ordnung erwartungsstabilisierender Mechanismen in Ebenen und mit Bezug auf weitere Literatur lassen sich die folgenden Unterscheidungsmerkmale erwartungsstabilisierender Mechanismen abstrahieren: 1. Erwartungsstabilisierende Mechanismen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Trägheit und Änderungsfrequenz.120 2. Erwartungsstabilisierende Mechanismen können sowohl spontan entstehen als auch bewusst entwickelt werden.121 3. Erwartungsstabilisierende Mechanismen variieren hinsichtlich des Formalisierungsgrads. Mit dem Formalisierungsgrad ist die Kodifizierung von erwartungsstabilisierenden Mechanismen gemeint. Je nach Grad der Formalisierung eines erwartungsstabilisierenden Mechanismus kann dieser als formal oder informell charakterisiert werden.122 Informelle erwartungsstabilisierende Mechanismen existieren lediglich in Form von geteilten Erwartungen,123 wohingegen formalisierte schriftlich festgehalten sind.124 4. Erwartungsstabilisierende Mechanismen unterscheiden sich darüber hinaus anhand der Instrumente, mit denen sie durchgesetzt werden: Formale erwartungsstabilisierende Mechanismen werden mithilfe der Gerichtsbarkeit
116 Vgl. Williamson 2000, S. 599. 117 Vgl. Williamson 2000, S. 597. 118 Vgl. Williamson 2000, S. 600. 119 Vgl. Williamson 2000, S. 597. 120 Vgl. Williamson 2000, S. 597. 121 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 90. 122 Vgl. North 1991, S. 36. 123 Vgl. North 1991, S. 46. 124 Vgl. North 1991, S. 46.
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garantiert, wohingegen informelle Institutionen mithilfe sozialer Strukturen125 durchgesetzt werden.126 Erwartungsstabilisierende Mechanismen unterscheiden sich ferner hinsichtlich ihrer Wirkungsreichweite, je nachdem ob sie für Kulturräume, Nationalstaaten, Organisationen oder eine Interaktionssituation Gültigkeit haben. Erwartungsstabilisierende Mechanismen, die lediglich innerhalb einer Organisation wirken, werden als Governance bezeichnet.127
Von diesen Unterscheidungsmerkmalen erwartungsstabilisierender Mechanismen ausgehend und vor dem Hintergrund der Ebeneneinteilung bei Williamson werden nun die Begriffe Sozialkapital, Rechtsstaat und Governance als Bezeichnungen für die ersten drei genannten Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen erläutert.128 Diese werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit von besonderer Bedeutung sein. 2.1.2.2 Sozialkapital Die erste Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen wird in dieser Arbeit als Sozialkapital bezeichnet. Coleman definiert Sozialkapital129 anhand seiner handlungsleitenden Funktion für das Verhalten von Akteuren: „It is not a single entity but a variety of different entities, with two elements in common: they all consist of some aspect of social structures, and they facilitate certain actions of actors – whether persons or corporate actors – within the structure.“130 Die im Zitat von Coleman benannte Wirkung von Sozialkapital bringt Paldam mit dem eingangs geschilderten Kooperationsproblem zusammen: „In the language of game theory, social capital is the excess propensity to play cooperative solutions in prisoners’ dilemma games.“131
125 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2. 126 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 84–85. 127 Vgl. North 1991, S. 5, Williamson 1991, S. 287, Mantzavinos 2001, S. 83–84, und Abschnitt 2.1.2.4. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls anzumerken, dass in dieser Arbeit Institutionen von Organisationen unterschieden werden. Eine synonyme Verwendung ist in der Literatur teilweise gebräuchlich, aber irreführend, wie Mantzavinos (2001, S. 83–84) konstatiert: „In both the economic and sociological literatures, the term ‚institution‘ is often used to designate organizations of every kind. To avoid confusion, it is useful to distinguish sharply between institutions constituting the rules of the game and organizations as corporate actors, that is, as groups of individuals bound by some rules designed to achieve a common objective (or to solve a common problem).“ 128 Auf eine eingehende Vorstellung der vierten Ebene wird hier verzichtet, da sie im Rahmen dieser Untersuchung eine untergeordnete Rolle spielt. 129 Auch wenn die Ursprünge des Sozialkapitalbegriffs bei verschiedenen Autoren angelegt waren, so wurde der Begriff maßgeblich durch Coleman (1988, S. 97) geprägt und durch die Operationalisierung von Putnam (1995) auch in seiner Nützlichkeit zur Erklärung regionaler sozialer Phänomene bestätigt (vgl. Bjørnskov 2006, S. 22). 130 Coleman 1988, S. 98. 131 Paldam 2000, S. 629.
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Wenngleich die Definition von Sozialkapital in der Literatur nicht einheitlich ist,132 so ist dieser zu entnehmen, dass Sozialkapital als Zusammenwirken von sozialer Struktur,133 informellen Institutionen134 und Vertrauen135 aufgefasst wird.136 Soziale Struktur – hier verstanden als die Ausprägung zwischenmenschlicher Beziehungen – umgibt sämtliche Transaktionen.137 Granovetter skizziert die Einbettung der Akteure in eine soziale Struktur folgendermaßen: „Actors do not behave or decide as atoms outside a social context, nor do they adhere slavishly to a script written for them by the particular intersection of social categories that they happen to occupy. Their attempts at purposive action are instead embedded in concrete, ongoing systems of social relations.“138 Die soziale Struktur kann unterschiedlichen Ursprungs sein und beispielsweise durch Verwandtschaft, Herkunft, Mitgliedschaft in Gruppen, Bewohnen geografischer Räume oder die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk entstehen.139 Soziale Struktur erzeugt Druck auf die Akteure, soziale Normen einzuhalten oder sich moralisch zu verhalten, sofern sie Teil der sozialen Struktur sein möchten.140 Die Sanktionsmöglichkeiten, die eine soziale Struktur bereithält, sind vielfältig und reichen von leichten Bestrafungen, wie beispielsweise Diffamierung141, über Reputationsverlust142 bis hin zum Ausschluss oder zur Isolation143 innerhalb der sozialen Struktur. Informelle Institutionen können in drei Sub-Formen differenziert werden: Als Konventionen werden solche informellen Institutionen bezeichnet, bei denen keiner der beteiligten Akteure einen Vorteil durch eine Missachtung der Konvention erlangt.144 Die Durchsetzung von Konventionen erfolgt üblicherweise durch den Akteur selbst.145 Als Beispiel für Konventionen lassen sich Verkehrsregeln ansehen. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Moral um informelle Institutionen, deren Befolgung
132 Vgl. Putnam 2001, van Deth 2003, S. 83, Bjørnskov 2006, S. 23, und Andriani und Karyampas 2009, S. 12–13. 133 Vgl. Coleman 1988, S. 105. 134 Vgl. Coleman 1988, S. 104. 135 Vgl. van Deth 2003, S. 83, und Freitag und Traunmüller 2008, S. 225–226. 136 Vgl. Putnam 1993, S. 167. Die drei genannten Konzepte werden zudem in eine strukturelle Komponente (soziale Struktur) und in eine kulturelle Komponente (Vertrauen und informelle Institutionen) differenziert (vgl. van Deth 2003, S. 83). 137 Vgl. Granovetter 1985, S. 481–482. 138 Granovetter 1985, S. 487. 139 Vgl. Coleman 1988, S. 98–100. 140 Vgl. Coleman 1988, S. 102. Insbesondere Moral und soziale Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu ihrer Durchsetzung eine soziale Struktur benötigen, die Zwang erzeugt und somit ihre Einhaltung wahrscheinlich machen (vgl. North 1991, S. 39, und Mantzavinos 2001, S. 125). 141 Vgl. Coleman 1988, S. 106. 142 Vgl. Granovetter 1985, S. 490. 143 Vgl. Eisenberger et al. 2003. 144 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 85. 145 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 101.
2.1 Wesentliche Konzepte
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zwar für die gesamte Gesellschaft nützlich ist, die dabei aber möglicherweise im Widerspruch zum Nutzenmaximierungsinteresse des Akteurs stehen.146 Beispiele hierfür sind die Achtung von fremdem Eigentum oder die Regel, nicht die Unwahrheit zu sagen. Soziale Normen sind Regeln, die das soziale Miteinander fördern und somit nützlich für die Gemeinschaft sind.147 Beispielsweise handelt es sich bei Reziprozität148 um eine soziale Norm.149 Vertrauen ist ebenfalls Teil des Sozialkapitalkonzepts.150 Rousseau et al. bezeichnen Vertrauen als psychologischen Zustand eines Akteurs und definieren dieses folgendermaßen: „Trust is a psychological state comprising the intention to accept vulnerability based upon positive expectations of the intentions or behavior of another.“151 In der Literatur werden mehrere Dimensionen von Vertrauen differenziert.152 Rousseau et al. unterscheiden drei Formen von Vertrauen: 1. Kalkülbasiertes Vertrauen, das zweckgerichtet zwischen Akteuren existiert und in der Erwartung besteht, eine nutzenstiftende Handlung des Gegenübers zu erwirken.153 2. Vertrauen, das sich aus Beziehungen ergibt und nicht aus einem Kalkül erwächst.154 Sowohl Kalkül-basiertes Vertrauen als auch Vertrauen als Resultat einer Beziehung unterliegen eher einer dynamischen Entwicklung und beziehen sich auf das individuelle Verhältnis zwischen zwei Akteuren,155 weshalb diese Formen des Vertrauens hier als „individuelles Vertrauen“ bezeichnet werden. 3. unterscheiden Rousseau et al. institutionelles Vertrauen, das verglichen mit den zwei erstgenannten Typen eher stabil ist und als Resultat von sozialer Interaktion in einem Kontext erwartungsstabilisierender Mechanismen entsteht.156 Institutionalisiertes Vertrauen
146 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 106. 147 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 118. 148 Reziprozität beschreibt die gegenseitige Erwiderung von freundlichen wie auch feindlichen Handlungen (vgl. Fehr und Gächter 2000, S. 160–163). Allgemein formuliert besagt „die Norm der Reziprozität, dass man denjenigen helfen soll, die einem selbst einmal geholfen haben“ (Freitag und Traunmüller 2008, S. 226). 149 Vgl. Axelrod 1986 und Axelrod 2005. 150 Die Zuordnung von Vertrauen zum Sozialkapitalkonzept wird damit begründet, dass soziale Interaktion und Vertrauen eng verbundene Konzepte sind (vgl. van Deth 2003, S. 82–83). Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen erscheinen erwartungsstabilisierende Mechanismen in ihrer Funktion zumindest geschwächt. Im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik wird Vertrauen daher eine hohe Bedeutung für sämtliche soziale Interaktion attestiert (vgl. Arrow 1969, S. 62). Zudem lässt sich Vertrauen empirisch als Dimension des Sozialkapitals differenzieren (vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 221). 151 Rousseau et al. 1998, S. 395. 152 Vgl. Jeffries und Reed 2000, S. 873–874. 153 Vgl. Rousseau et al. 1998, S. 399. 154 Vgl. Rousseau et al. 1998, S. 399. 155 Vgl. Rousseau et al. 1998, S. 399–401. 156 Vgl. Rousseau et al. 1998, S. 400–401. Siehe auch Grandori und Soda 1995, S. 198, und Dasgupta 2000, S. 59.
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2 Theoretische Grundlagen
steht im Rahmen dieser Arbeit im Mittelpunkt und wird zur besseren Abgrenzung von individuellem Vertrauen im Weiteren als „soziales Vertrauen“ bezeichnet.157 Die vorgebrachte Charakterisierung des Sozialkapitalbegriffs kommt der oben skizzierten ersten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen sehr nahe, wobei eine trennscharfe Einteilung anhand der genannten Kriterien schwerfällt. Anhand dieser Einteilung ist Sozialkapital eher über lange Zeiträume stabil,158 entsteht spontan, ist nicht kodifiziert, wird durch soziale Struktur durchgesetzt und wirkt meist in sozialen Aggregaten wie Kulturräumen unterschiedlicher Größe. 2.1.2.3 Rechtsstaat Aufgrund der eingeschränkten Reichweite des Durchsetzungsmechanismus sozialer Struktur kann Sozialkapital insbesondere für kleine Gruppen das Kooperationsproblem lösen, jedoch nicht für ganze Gesellschaften.159 Hierzu bedarf es formaler erwartungsstabilisierender Mechanismen großer Reichweite sowie des Staates als Instanz zu ihrer Durchsetzung.160 Die zweite Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen wird in dieser Arbeit als Rechtsstaat bezeichnet. Wie in Abschnitt 2.1.2.1 bereits erläutert, sind formale erwartungsstabilisierende Mechanismen Regeln, die verschriftlicht wurden. Diese werden von North in politische Regeln, Eigentumsrechte und Verträge differenziert,161 die wiederum interdependent miteinander zusammenhängen und sich in einer Kaskade aufeinander beziehen.162 „Formal rules include political (and judicial) rules, economic rules, and contracts. The hierarchy of such rules, from constitutions, to statute and common laws, to specific bylaws, and finally to individual contracts defines constraints, from general rules to particular specifications.“163 In dem Zitat klingt die Vielfalt formaler erwartungsstabilisierender Mechanismen an und die Möglichkeit, diese ebenfalls hinsichtlich ihrer Reichweite zu differenzieren. Während politische Regeln und Eigentumsrechte Gültigkeit für alle Akteure der Gesellschaft beanspruchen, gilt dies für die meisten Verträge nicht. Diese sind oft bilateral oder multilateral bindend, jedoch nicht für die ganze Gesellschaft. Eine Abgrenzung des Rechtsstaats anhand seiner Reichweite bietet sich somit an. In dieser Arbeit sollen
157 Wenn in der weiteren Arbeit lediglich von „Vertrauen“ gesprochen wird, ist die Differenzierung zwischen individuellem Vertrauen und sozialem Vertrauen nicht maßgeblich. 158 North (1991, S. 37) subsummiert informelle Institutionen als Kultur: „[. . .] informal constraints [. . .] come from socially transmitted information and are a part of the heritage that we call culture.“ Die Stabilität der Kultur über lange Zeiträume zeigt, wie kontinuierlich informelle Institutionen wirken (vgl. North 1991, S. 37). 159 Vgl. Olson 1998, S. 2. 160 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 131–143. 161 Vgl. North 1991, S. 48. 162 Vgl. North 1991, S. 52. 163 North 1991, S. 47.
2.1 Wesentliche Konzepte
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insbesondere solche formalen erwartungsstabilisierenden Mechanismen dem Rechtsstaat zugeordnet werden, die für ganze Gesellschaften gelten.164 Als Beispiel hierfür kann die nationale Gesetzgebung angesehen werden. Diese weist ebenfalls zwei maßgebliche Kriterienausprägungen auf, die eine Verortung auf der zweiten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen nahelegen: Die Gesetzgebung kann bewusst gestaltet werden und ist als eher träge hinsichtlich ihrer Änderungsfrequenz zu beurteilen. Die Durchsetzung formaler erwartungsstabilisierender Mechanismen ist auf das Gewaltmonopol des Staates und ein funktionierendes Justizsystem angewiesen.165 Die Möglichkeit eines Akteurs, kooperatives Verhalten eines Transaktionspartners gerichtlich erzwingen zu lassen, ist unbedingt notwendig, um formalen erwartungsstabilisierenden Mechanismen die notwendige handlungsleitende Wirkung zu verleihen. Doch die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung allein genügt meist nicht. Rechtssysteme unterscheiden sich vor allem dahingehend, zu welchen Kosten ein Recht durchgesetzt werden kann.166 2.1.2.4 Governance Das Governance-Konzept umfasst erwartungsstabilisierende Mechanismen auf der Ebene unterhalb dessen, was hier als Rechtsstaat bezeichnet wurde. Die Regeln und Mechanismen, die als Governance zusammenwirken, zeichnen sich durch eine selektive Gültigkeit für wenige Akteure aus. Aufgrund der zentralen Stellung von Governance in dieser Arbeit wird im folgenden Abschnitt zunächst auf die sprachliche Bedeutung des Konzepts eingegangen. In einem zweiten Schritt wird der Begriff dann zu erwartungsstabilisierenden Mechanismen höherer Ordnung positioniert und schließlich wird eine inhaltliche Differenzierung vorgenommen. Der Governance-Begriff wird sehr unterschiedlich verwendet, und bis heute gibt es im deutschen Sprachraum keinen anerkannten Lehrbuchbegriff der Governance.167 Benz fasst den Wortsinn als Regieren, Steuern und Koordinieren zusammen.168 Im Bemühen der damit noch recht weit gefassten Definition mehr Präzision zu geben, macht Benz einen inhaltlichen Kern aus und konstatiert, dass Governance meistens „als institutionalisierte Form kollektiven Handelns oder politischer Steuerung und Koordination“169 verstanden wird. Benz betont zudem, dass der Begriff
164 Formelle Institutionen mit geringer Reichweite (also beispielsweise mit Gültigkeit zwischen zwei Transaktionspartnern) werden in Abschnitt 2.1.2.4 als Teil des Governance-Konzepts vorgestellt. 165 Vgl. Mantzavinos 2001, S. 131–143. 166 Vgl. Hadfield 2008, S. 181 und S. 200. 167 Vgl. Benz und Dose 2010a, S. 11. 168 Vgl. Benz und Dose 2010a, S. 25. 169 Benz und Dose 2010b, S. 252.
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jeweils „kontextbezogen zu präzisieren“170 sei, da er in Verbindung mit unterschiedlichen Theorien, Methoden und empirischen Forschungsprogrammen genutzt würde und aus diesen Kontexten erst seine spezifische Bedeutung erlange.171 Es gibt heute keine Theorie der Governance,172 „sondern nur Theorien über die Funktionsbedingungen, Funktionsweisen und Ergebnisse konkreter Governance-Regime“173. Neben der analytischen Konzeption des Governance-Begriffs wird auch eine normative Komponente beschrieben. Governance wird dazu genutzt, die „richtige“ Steuerung einer Organisation zu bezeichnen. Der Wortsinn hat dann eine normative Färbung, die beispielsweise im Begriff der „Good Governance“174 besonders plakativ zum Ausdruck kommt.175 Die immanente Vielschichtigkeit sowie die heterogene Verwendung von Governance machen es erforderlich, das Konzept für die Zwecke dieser Arbeit inhaltlich zu begrenzen und durch die Einbettung in einen theoretischen Kontext weiter zu präzisieren. Das Governance-Konzept hat seinen Ursprung in der Neuen Institutionenökonomik und der Transaktionskostentheorie,176 welche auch in dieser Arbeit den theoretischen Bezugsrahmen für Governance bilden. Wie Williamson passend ausdrückt, sind bilaterale Verträge zur Durchführung von Transaktionen, also mit dem Ziel der Herstellung von Kooperation zwischen Akteuren, als Governance zu bezeichnen.177 Williamson definiert Governance folgendermaßen: „[. . .] governance is the means by
170 Benz und Dose 2010a, S. 33. 171 Die Verwendung des Begriffs ist auch in den Wirtschaftswissenschaften sehr uneinheitlich, da das Governance-Konzept zur Bezeichnung zahlreicher Phänomene genutzt wird: So werden neben Unternehmen und ihren Austauschbeziehungen beispielsweise auch „regionale Produktionscluster, branchenspezifische, aber auch [die, J. M.] branchenübergreifende Zusammenarbeit von Unternehmen oder nationale Konfigurationen einer Marktwirtschaft“ (Lütz 2010, S. 137) mit dem Governance-Konzept bezeichnet. 172 In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass es sich beim Governance-Begriff mittlerweile um einen Modebegriff handelt, der für zahlreiche Phänomene verwendet wird und damit an Trennschärfe eingebüßt hat (vgl. Benz und Dose 2010a, S. 13). 173 Benz und Dose 2010b, S. 252. 174 Vgl. Benz und Dose 2010b, S. 251. 175 In diesem Zusammenhang ist auch der Deutsche Corporate Governance Kodex zu sehen, der international anerkannte Corporate Governance Standards zusammenfasst und für dessen Empfehlungen börsennotierte Unternehmen gemäß § 161 AktG verpflichtet sind, eine Entsprechungserklärung abzugeben. Ziel dieser Transparenzmaßnahme ist es, die Qualität der Corporate Governance börsennotierter Unternehmen in Deutschland weiter zu erhöhen (vgl. Talaulicar und von Werder 2008, S. 256). 176 Vgl. Benz und Dose 2010a, S. 17. Williamson (1975) nutzte anstelle des Governance-Begriffs zunächst den Organisationsbegriff. Der Governance-Begriff setzt sich in Williamsons Terminologie erst später durch und wird aus seinem Werk „The Economic Institutions of Capitalism“ als „Beherrschungs- und Überwachungssysteme“ (Williamson 1990, S. 2) von Streissler ins Deutsche übersetzt, wobei damit Governance-Strukturen gemeint sind. 177 Vgl. Williamson 1979, S. 234–235.
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which to infuse order, thereby to mitigate conflict and realize mutual gain.“178 Im Vergleich zu den oben eingeführten Begriffen Sozialkapital und Rechtsstaat handelt es sich bei Governance um erwartungsstabilisierende Mechanismen mit einer geringeren Reichweite. Governance wird deshalb als „private ordering“179 bezeichnet, weil der Geltungsbereich auf die Akteure beschränkt ist, die die Governance für ihre Transaktion festlegen. Gleichwohl ist Governance immer in erwartungsstabilisierende Mechanismen höherer Ordnung eingebettet: Insbesondere im Rahmen der Durchsetzung von Governance ist das Zusammenwirken mit höheren Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen von besonderer Wichtigkeit.180 Die Wirkung von Governance ist zweigeteilt: Zum einen stellt Governance eine Anreizkontrolle dar, mit der gewünschtes Verhalten belohnt und damit wahrscheinlicher wird.181 Zum anderen ist Governance eine „direkte Verhaltenskontrolle“182, indem das erwünschte Verhalten der Akteure vereinbart und überwacht wird und somit ebenfalls eher erwartbar ist. Governance umfasst sowohl formale Aspekte in Form von verschriftlichten Verträgen als auch informelle Aspekte,183 die ähnlich einzuordnen sind wie informelle Institutionen, jedoch ebenfalls eine begrenzte Reichweite haben und lediglich zwischen Akteuren gelten, die diese für sich festlegen. Auf dem Vorgenannten aufbauend, wird Governance in dieser Arbeit als das Zusammenwirken von Regeln verstanden, welche die Transaktionspartner in Verträgen oder informellen Übereinkünften festlegen und deren Zweck es ist, das wechselseitige Verhalten zu steuern und Kooperation zur erfolgreichen Umsetzung einer Transaktion herzustellen. Das Governance-Konzept wird genutzt, um unterschiedliche Aggregationsstufen von Steuerungsmechanismen zwischen Akteuren oder Akteursgruppen zu erfassen. Eine Differenzierung soll nun in Anlehnung an die Begrifflichkeit bei Benz und Dose erfolgen, um den Begriff inhaltlich weiter zu präzisieren. Ihr Schema gliedert sich in drei Analyseebenen: Governance-Mechanismen, Governance-Formen und Governance-Regime.184 Die Differenzierung von Benz und Dose wird in dieser Arbeit in Anlehnung an die Transaktionskostentheorie um Governance-Attribute erweitert,185 und mit der Absicht einer einheitlichen Terminologie werden GovernanceFormen als Governance-Strukturen186 bezeichnet. 178 Williamson 2010, S. 674. 179 Williamson 2005, S. 1. 180 Vgl. Williamson 1991, S. 286–292. 181 Vgl. Williamson 2000, S. 599, und Kieser und Ebers 2006, S. 285–286. 182 Kieser und Ebers 2006, S. 286. 183 Vgl. Williamson 1979, S. 236–238. 184 Vgl. Benz und Dose 2010a, S. 24–25. 185 Vgl. Joskow 1988, S. 101, Williamson 1991, S. 277 und S. 281, David und Han 2004, S. 46, und Chaddad 2012, S. 447. 186 Vgl. Williamson 1979, S. 234–235, und Williamson 1990, S. 1–2.
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Einzeln abzugrenzende Regeln begrenzter Reichweite werden hier als GovernanceMechanismen verstanden. Dabei kann es sich beispielsweise um ein garantiertes Recht in der Satzung einer Genossenschaft handeln, eine Mitgliedschaft nach einer bestimmten Zeitspanne kündigen zu können. Eine Vielzahl interagierender GovernanceMechanismen bilden eine Governance-Struktur.187 Wie bereits erwähnt, unterscheidet Williamson die generischen Governance-Strukturalternativen Markt, Unternehmen und hybride Organisationsform.188 Neben klassischen Kaufverträgen werden auch die im Gesellschaftsrecht unterschiedenen Rechtsformen, wie beispielsweise die Genossenschaft oder Aktiengesellschaft, hier als Governance-Strukturen verstanden, da sie zahlreiche Governance-Mechanismen bereithalten, mit denen Transaktionen organisiert werden können. Governance-Strukturen können wiederum durch Attribute charakterisiert werden,189 die nicht mit den Mechanismen der Governance-Struktur gleichzusetzen sind, da Governance-Attribute die Summe der Wirkung einer spezifischen Auswahl an Governance-Mechanismen zusammenfassen. Als Attribut einer Governance-Struktur ist beispielsweise die Anreizintensität zu nennen.190 Diese kann innerhalb einer Governance-Struktur besonders stark oder schwach ausgestaltet sein, je nachdem, wie stark einzelne Governance-Mechanismen zu einer Anreizwirkung beitragen.191 Als umfassendste Dimension der Governance werden bei Benz und Dose Governance-Regime genannt.192 Mit solchen ist hier das Zusammenwirken der Governance mit anderen Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen gemeint. Als Governance-Regime kann beispielsweise das Konzept der Cooperative Governance193 verstanden werden. Cooperative Governance meint hier das Zusammenwirken der Governance-Struktur Genossenschaft mit erwartungsstabilisierenden Mechanismen höherer Ebenen wie dem GenG und den genossenschaftlichen Prinzipien. Im Folgenden wird der Governance-Begriff teilweise als Oberkategorie verwendet, um die Ausgestaltung von Governance-Mechanismen einer Governance-Struktur sprachlich zu fassen.194 Ist beispielsweise von der „Governance der Genossenschaft“ die Rede, so
187 Vgl. Williamson 1991, S. 269. 188 Vgl. Williamson 1991. Eine Differenzierung hybrider Organisationsformen erfolgt in Abschnitt 2.1.3. 189 Vgl. Joskow 1988, S. 101, und Williamson 1991, S. 277 und S. 281. 190 Vgl. Abschnitt 2.1.3.3.3. 191 Vgl. Williamson 1991, S. 277. 192 Vgl. Benz und Dose 2010b, S. 252. 193 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2. 194 Governance steht in dieser Arbeit nicht als Synonym für „Unternehmen“ in Abgrenzung zum „Markt“. Sowohl das Unternehmen als auch der Markt sind im Sinne dieser Arbeit als GovernanceStrukturen einzuordnen, in denen eine Vielzahl von speziell konfigurierten Governance-Mechanismen dafür sorgen, dass eine beabsichtigte Transaktion erfolgreich umgesetzt wird. Zum Verständnis des Konzepts Markt im transaktionskostentheoretischen Sinne ist nach Ménard (1995, S. 170) eine Abgrenzung vom allgemeinen Marktbegriff in der Ökonomie notwendig: Nicht all das außerhalb von Unternehmen Liegende kann als Markt bezeichnet werden. Auch bei Märkten handelt es sich um eine spezielle Konfiguration von Governance-Mechanismen, die eine einfache Übertragung von
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ist die spezifische Konfiguration der Governance-Mechanismen195 einer Genossenschaft gemeint. Sobald von einzelnen Governance-Mechanismen, GovernanceAttributen oder Governance-Regimen die Rede sein wird, werden diese auch als solche benannt.
2.1.3 Hybride Organisationsformen 2.1.3.1 Organisation als Governance-Struktur Die abstrakte Abgrenzung erwartungsstabilisierender Mechanismen aufgreifend, erfolgt in diesem Abschnitt eine Konkretisierung des Governance-Konzepts durch die Einführung hybrider Organisationsformen. Dazu wird der Organisationsbegriff zunächst im Kontext der Governance-Terminologie eingeordnet, was durch eine Erläuterung der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtungsweise von Organisationen sowie durch die Abgrenzung der Governance-Strukturen von Markt und Unternehmen erreicht wird. Anschließend ist die Entstehung des Begriffs der hybriden Organisationsform Gegenstand, welche sodann anhand ihrer charakteristischen Eigenschaften eingehender vorgestellt wird. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, hybride Organisationsformen als Governance-Strukturen zu differenzieren. Organisationen bilden einen zentralen Gegenstand der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung.196 Im Verlauf der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften entstanden zahlreiche Organisationstheorien vor dem Hintergrund jeweils unterschiedlicher Fragestellungen.197 Eine zentrale Fragestellung besteht darin, zu klären, weshalb manche Transaktionen im Unternehmen abgebildet werden, während andere über den Markt organisiert sind.198 Die Fragestellung, die auf die Ursachen organisationaler Vielfalt abzielt, war der Ausgangspunkt
Verfügungsrechten ermöglichen (vgl. Ménard 1995, S. 170). Märkte sind also nicht als fiktives Konstrukt, sondern als realer Mechanismus des Tausches zu verstehen, in dem Koordination durch den Preismechanismus und nicht durch Hierarchie erreicht wird (vgl. Ménard 1995, S. 170). 195 Beispielsweise in der Satzung. 196 Smith (2007, S. 8–14) thematisierte in seinem Hauptwerk das Phänomen der Arbeitsteilung und der daraus resultierenden Produktivitätssteigerung. Die von Smith (2007, S. 8–14) durchgeführte Analyse nimmt dazu eine prozessuale Perspektive ein und beschreibt Organisation – wenngleich diese noch nicht als solche bezeichnet wird – als Zusammenwirken von Personen im Produktionsprozess. Weber (1922, S. 610–611) charakterisierte die Organisation als Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft weniger Personen über eine Vielzahl von Personen. 197 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 19–22. 198 Vgl. Coase 1937 und Ménard 1996b, S. 4.
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2 Theoretische Grundlagen
für die Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik199 und insbesondere der Transaktionskostentheorie.200 Die Transaktionskostentheorie begreift Organisationen als GovernanceStrukturen.201 Die Governance-Strukturen Markt und Unternehmen stellen in diesem Verständnis zwei alternative Ausprägungsformen der Organisation dar, die mit jeweils unterschiedlichen Governance-Mechanismen dazu in der Lage sind, Transaktionen möglichst transaktionskostensparend zu realisieren.202 Beispielsweise wird Koordination in Unternehmen durch eine steuernde Hierarchie erreicht und auf dem Markt durch den Preismechanismus. Das bedeutet, dass in Unternehmen ein Unternehmer entscheidet, ob eine Transaktion durchgeführt wird, wohingegen auf dem Markt das Zustandekommen eines Vertrags mit der Festlegung von Preis und Leistung die Voraussetzung für eine Transaktion ist. Allerdings sind sowohl der Preismechanismus als auch die Hierarchie mit Kosten verbunden.203 Bei der Verlagerung von Transaktionen aus dem Markt in ein Unternehmen werden Transaktionskosten des Marktes gegen solche des Unternehmens eingetauscht, wenngleich die Höhe der Transaktionskosten divergieren kann und somit entweder Unternehmen oder Markt den Transaktionspartnern vorteilhafter erscheinen.204 Williamson hat diese ursprünglich von Coase gemachte Beobachtung205 aufgegriffen206 und in seinen Schriften den Zusammenhang zwischen vertikaler Integration und Transaktionskosten weiter ausgearbeitet.207 Die Entscheidung der Akteure für Unternehmen oder Markt – die sogenannte „make-or-buy“208-Entscheidung – leitet Williamson von der Höhe der jeweiligen Transaktionskosten ab.209 Je besser die Governance-Struktur dazu in der Lage ist, Transaktionskosten einer Transaktion
199 Die Neue Institutionenökonomik thematisiert in drei wesentlichen Strömungen unterschiedliche Aspekte des Unternehmens: Eigentumsrechte in der Property-Rights-Theorie, die AuftraggeberAuftragnehmer-Beziehung in der Prinzipal-Agenten-Theorie und Transaktionskosten in der Transaktionskostentheorie (vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 247–248). 200 Vgl. Coase 1937, S. 388, Williamson 1976b, S. 370, und Ménard 2008, S. 281. 201 Aufgrund der Überschneidungen der Begriffe Governance-Struktur und Organisation wurde die Transaktionskostentheorie auch als „‚economics of governance,‘ the ‚economics of organization,‘ and ‚transaction cost economics‘“ (Williamson 2010, S. 673) bezeichnet. 202 Vgl. Coase 1937. 203 Vgl. Coase 1937. 204 Vgl. Coase 1937. Auch andere Autoren erkannten Besonderheiten des Unternehmens in Abgrenzung zum Markt, wie Ménard (2008, S. 283) schreibt: Insbesondere die Untersuchungen von Barnard (1938) zur Autorität in Unternehmen, Simons (1951) Analyse des Anstellungsverhältnisses und Arrows (1964) Entwicklung des Kontrollkonzepts als Funktion von Hierarchien bildeten wichtige Differenzierungskriterien. 205 Vgl. Coase 1937. 206 Vgl. Williamson 1975, Williamson 1979, Williamson 1990 und Williamson 1991. 207 Vgl. Ménard 2008, S. 283. 208 Williamson 1975, S. 82. 209 Vgl. Williamson 1971, S. 112.
2.1 Wesentliche Konzepte
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zu senken, desto eher fällt die Wahl der Akteure auf die jeweilige GovernanceStruktur.210 Dieser Zusammenhang zwischen Transaktion, Transaktionskosten und Governance-Struktur wird auch als „Discriminating-Alignment-Hypothese“ bezeichnet.211 Die „Discriminating-Alignment-Hypothese“ stellte sich in der Folge der Theorieentwicklung als besonders fruchtbar heraus, da sie ein Modell der reduzierten Form ermöglicht: Ohne die direkte Messung von Transaktionskosten – durch die bloße Beobachtung von Kombinationen aus Transaktion und Governance-Struktur – konnte auf das Vorhandensein unterschiedlicher Transaktionskosten geschlossen werden.212 Die Erklärung der Existenz von Markt und Unternehmen durch Transaktionskosten setzt die Governance-Struktur als abhängige Variable in den Mittelpunkt einer Organisationstheorie und schafft durch ihre Funktion, Transaktionskosten zu reduzieren, außerdem einen Maßstab, Organisationen hinsichtlich ihrer Wirkung beurteilen zu können.213 Governance ist damit eine Betrachtungsdimension der Organisation, für die beispielsweise Markt und Unternehmen zwei Ausprägungsformen sind. Die Dichotomie von Markt und Unternehmen prägte lange Zeit die transaktionskostentheoretische Forschung, die von Williamson deshalb auch als komparative Analyse diskreter Strukturalternativen bezeichnet wurde.214 Die Beobachtung hybrider Organisationsformen und die Beschreibung kontinuierlicher GovernanceStrukturunterschiede215 sorgte in der Folge für eine detailliertere Differenzierung von Organisationen anhand ihrer Governance. 2.1.3.2 Entstehung des Hybrid-Begriffs Trotz des anfänglichen Fokus der Transaktionskostentheorie auf die Dichotomie von Markt und Unternehmen zeigte sich, dass manche Organisationen nicht eindeutig als eine der beiden Formen klassifiziert werden können.216 Diese wurden daraufhin erstmals von Rubin als „Hybrid“217 bezeichnet. In den 1980er-Jahren erhöhte sich das Interesse an hybriden Organisationsformen218 vor dem Hintergrund wachsender Kritik 210 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 277. 211 Vgl. Williamson 1991, S. 277. 212 Vgl. Ménard 2008, S. 285–286. 213 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 296. 214 Vgl. Williamson 1991, S. 269. 215 Vgl. Joskow 1988, S. 101, Shelanski und Klein 1995, S. 338, und David und Han 2004, S. 46. Beispielhaft ist hier die Untersuchung kontinuierlicher Governance-Strukturunterschiede anhand des Formalisierungsgrads von Allianzverträgen zu nennen (vgl. Mayer und Argyres 2004, Argyres et al. 2007, oder Ryall und Sampson 2009). 216 Vgl. Richardson 1972. 217 Vgl. Rubin 1978, S. 223. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden hybride Organisationsformen auch als „Hybride“ bezeichnet. 218 Vgl. Ménard 2008, S. 295.
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2 Theoretische Grundlagen
aus Kreisen der ökonomischen Soziologie219 an der Transaktionskostentheorie. Die Differenzierung in Markt und Unternehmen als generische Governance-Strukturen wurde als gänzlich unzureichend kritisiert, um die Vielfalt an Organisationsformen zu erfassen.220 Zunächst erweiterte Williamson daher seine abhängige Variable um bilaterale und trilaterale Governance-Strukturen und damit um Zwischenformen von Markt und Unternehmen.221 Später fasste er solche Zwischenformen mit dem HybridKonzept als dritte generische Governance-Struktur zusammen.222 Hybride Organisationsformen werden in Situationen gewählt, in denen voneinander unabhängige Akteure mehr Koordination für interdependente Investitionen benötigen, jedoch auf eine vollständige Integration verzichten können.223 Es ist charakteristisch für hybride Formen der Organisation, dass die Autonomie der kooperierenden Akteure durch eine zumindest teilweise Trennung von Eigentumsrechten gewahrt bleibt, wobei die Akteure eine starke ökonomische Interdependenz entwickeln, Ressourcen bündeln und Entscheidungsbefugnisse teilweise an eine übergeordnete Stelle übertragen.224 Der Hybridbegriff hat insofern seine Berechtigung, als er das simultane Vorhandensein von Elementen sowohl unternehmenstypischer als auch markttypischer Governance-Mechanismen betont.225 Als hybride Organisationsformen werden Subcontracting, Unternehmensnetzwerke, Franchising, gemeinsame Handelsmarken, Partnerschaften, Allianzen, Joint Ventures, virtuelle Unternehmen und Genossenschaften bezeichnet.226 Die Diversität hybrider Organisationsformen und deren Untersuchung in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen führten zu einer Reihe synonymer Bezeichnungen.227 Die Begriffe
219 Vgl. Granovetter 1985. 220 Vgl. Powell 1990. 221 Vgl. Williamson 1979, S. 253. 222 Vgl. Williamson 1991, S. 277–282. Allerdings hat die vielfältige Verwendung des Konzepts auch zu Kritik am Hybrid-Begriff geführt: Beispielsweise wird die Betrachtung von Markt und Unternehmen als die jeweiligen Enden eines Kontinuums kritisiert, da diese zwar die Beschreibung von Mischformen erlaube, jedoch verkennen würde, dass es sich bei hybriden Organisationsformen um eine Governance-Struktur jenseits des Kontinuums von Markt und Unternehmen handelt (vgl. Hodgson 2002, S. 45, und Bruce und Jordan 2007, S. 13–14). 223 Vgl. Ménard 2004, S. 357. Auch zahlreiche andere Begründungen für die Entstehung von hybriden Organisationsformen lassen sich anführen: Im Gegensatz zu Markttransaktionen erleichtern hybride Organisationen beispielsweise den Austausch von Gütern, die nur unzureichend gepreist werden können (vgl. Lütz 2010, S. 139). 224 Vgl. Williamson 1991, S. 271, und Ménard 2004, S. 357. 225 Vgl. Ménard 2007, S. 4–5. 226 Vgl. Ménard 2004, S. 347–350. 227 Die Beschreibung hybrider Organisationsformen in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. Jolink und Niesten 2012, S. 150–152) kann indes als Beleg für die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung der Organisationsformen angesehen werden. Allerdings birgt die unterschiedliche Verwendung des Begriffs die Gefahr der Unschärfe. So wird das Konzept der hybriden Organisation auch genutzt, um Organisationen vor dem Hintergrund von pluralen institutionellen Logiken zu
2.1 Wesentliche Konzepte
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Quasi-Firm,228 Network,229 Cluster,230 symbiotisches Arrangement,231 Chain System232 und Hybrid233 legen jeweils einen anderen Schwerpunkt auf Aspekte des Gegenstands.234 Im nächsten Abschnitt wird deshalb auf Unterscheidungsmerkmale von Governance-Strukturen eingegangen und die hybride Organisationsform näher charakterisiert. Dazu werden zentrale Steuerungsmechanismen, Vertragstypologien sowie Governance-Attribute und Governance-Mechanismen vorgestellt. 2.1.3.3 Eigenschaften hybrider Organisationsformen 2.1.3.3.1 Übergeordneter Steuerungsmechanismus Den Governance-Strukturen Markt und Unternehmen wurden im Zuge ihrer begrifflichen Bestimmung die übergeordneten Steuerungsmechanismen Hierarchie und Preis zugeordnet.235 Auch für hybride Organisationsformen gab es den Versuch der Zuordnung von zentralen Steuerungsmechanismen. Hierzu zählen beispielsweise die Konzepte „Vertrauen“236 oder „Gemeinschaft“237. Eine sehr feingliedrige Betrachtung unterschiedlicher hybrider Organisationsformen nennt zur Abgrenzung die übergeordneten Steuerungsmechanismen Vertrauen, Beziehungen, Leadership und formale Governance, die zugleich als Systematik zur Klassifizierung von hybriden Organisationsformen anzuwenden seien.238 Trotz der Abstufung von übergeordneten Steuerungsmechanismen erscheint eine solche Klassifizierung aufgrund der zahlreichen Typen hybrider Organisationsformen jedoch nicht passgenau.
untergliedern und damit multiple Akteursidentitäten zu beschreiben (vgl. Skelcher und Smith 2014, S. 443–444, und Quélin et al. 2017). Ein solcher Ansatz findet sich beispielsweise in der Diskussion zur Klassifizierung von Sozialunternehmen (vgl. Doherty et al. 2014, S. 418), die sowohl der Logik einer Marktwirtschaft und den dieser zugehörigen erwartungsstabilisierenden Mechanismen unterliegen als auch auf dem Konzept des Altruismus basieren (vgl. Pache und Santos 2013, Haigh und Hoffman 2014). In dieser Arbeit wird der Begriff hybride Organisationsform ausschließlich aus einer transaktionskostentheoretischen Sicht genutzt. 228 Vgl. Eccles 1981, S. 336. 229 Vgl. Thorelli 1986, S. 37. 230 Vgl. Ménard 2008, S. 295. 231 Vgl. Ménard 2008, S. 295. 232 Vgl. Ménard 2008, S. 295. 233 Vgl. Williamson 1991, S. 269. 234 Die begriffliche Vielfalt lässt sich teilweise vor dem Hintergrund erklären, dass die Autoren Anschluss an eine bereits existierende Theorie suchen. In der Transaktionskostentheorie ist beispielsweise der Hybridbegriff entstanden, um eine Zwischenform auf dem Kontinuum zwischen Markt und Unternehmen zu bezeichnen. 235 Vgl. Abschnitt 2.1.3.1. 236 Vgl. Bradach und Eccles 1989, S. 97. 237 Vgl. Adler 2001, S. 215. 238 Vgl. Ménard 2004, S. 369, und Ménard 2006, S. 35–36.
32
2 Theoretische Grundlagen
Zudem steht die Benennung eines individuellen und übergeordneten Steuerungsmechanismus dem Gedanken eines Kontinuums entgegen, also der Einordnung von hybriden Organisationsformen zwischen Markt und Unternehmen. Wenngleich übergeordnete Steuerungsmechanismen dazu beitragen Markt, hybride Organisationsform und Unternehmen zu differenzieren, so sind sie lediglich als charakteristisches Merkmal für diese generischen Governance-Strukturalternativen zu nennen, die zusätzlich auf zahlreichen weiteren Governance-Mechanismen beruhen. 2.1.3.3.2 Vertragstypologie Ein weiteres, ebenfalls sehr allgemeines, Differenzierungsmerkmal ist die Vertragsform, die einer Governance-Struktur zugrunde liegt. Vertragsformen spielen bei der Unterscheidung von generischen Governance-Strukturen durch Williamson eine zentrale Rolle239 und gehen auf eine Klassifizierung von Macneil zurück.240 Macneil unterscheidet klassisches, relationales und neoklassisches Vertragsrecht.241 Wie Macneil schreibt, ist klassisches Vertragsrecht dadurch gekennzeichnet, dass es sich besonders zur Abbildung diskreter Transaktionen eignet.242 Diskrete Transaktionen zeichnen sich durch die Isoliertheit von ihrer Umwelt und von Folgeverträgen aus.243 Spätere Anpassungen von klassischen Verträgen sind nahezu ausgeschlossen.244 Deshalb versuchen die Akteure, alle möglichen Zukunftsszenarien in der Gegenwart zu berücksichtigen.245 Williamson bezeichnet klassische Verträge als typisch für die Governance-Struktur Markt.246 Relationales Vertragsrecht lässt sich dadurch charakterisieren, dass die Beziehung der Transaktionspartner im Mittelpunkt steht247 und formale Verträge lediglich
239 Der Vertragsform misst Williamson (1991, S. 271–276) besondere Bedeutung bei, da jeder Transaktion ein impliziter oder expliziter Vertrag zugrunde liegt (vgl. Abschnitt 2.1.1.3) und seine Analyse Aufschluss über die Governance gibt. 240 Vgl. Williamson 1979, S. 236. 241 Vgl. Macneil 1977. 242 Vgl. Macneil 1977, S. 862–865. 243 Vgl. Macneil 1977, S. 856. 244 Nachdem alle Klauseln eines klassischen Vertrags spezifiziert sind, spielt Vertrauen eine untergeordnete Rolle, da alle möglichen Verhaltensweisen weitgehend im Vertrag festgelegt sind (vgl. Macneil 1977, S. 858 und S. 862–865). 245 Vgl. Macneil 1973, S. 800. 246 Vgl. Williamson 1979, S. 236–237, und Williamson 1991, S. 271. 247 Die Entwicklung von relationalem Vertragsrecht geht auf Untersuchungen von Macaulay (1963) zurück. Auf Grundlage der Ergebnisse einer qualitativen Analyse hebt dieser die Bedeutung der sozialen Beziehung zwischen den Akteuren für den Abschluss und die Ausführung von Verträgen hervor. Macaulay (1963) ist damit einer der Ersten, die die Einbettung von Transaktionen in einen sozialen Kontext beschreiben, die in der Folge durch verschiedene Autoren weiter konkretisiert und ausgeführt wurde (vgl. Smith und King 2009, S. 7–12). Siehe hierzu auch Abschnitt 2.2.2.3.1.1.
2.1 Wesentliche Konzepte
33
einen auszulegenden Handlungsrahmen für die Akteure beschreiben.248 Satzungen sind ein Beispiel für relationale Verträge, da sie eine Struktur für legislative und administrative Prozesse zur Verfügung stellen.249 Williamson ordnet relationale Verträge hierarchischen Steuerungsformen zu: Diese basieren auf einem impliziten Vertrag über die Duldung einer „vertragsfreien Zone“, in der die Akteure ihre Eigentumsrechte und Autonomie zugunsten einer steuernden Hierarchie aufgeben.250 Als weiterer Vertragstypus wird neoklassisches Vertragsrecht abgegrenzt.251 Neoklassische Verträge enthalten bewusst Lücken und machen Auslegungen erforderlich, was eine vereinfachte Anpassung an veränderte zukünftige Umweltbedingungen ermöglicht.252 Beispielsweise wird in Verträgen auf die Qualifizierung einer Leistungspflicht verzichtet, indem auf einen außervertraglichen Standard verwiesen wird.253 Für die Beilegung von Disputen spielen Gerichte trotz der Regelungslücken eine untergeordnete Rolle, da häufig Streitschlichtungsverfahren außerhalb des Gerichtsweges vertraglich festgelegt werden.254 Der neoklassische Vertrag gilt als Grundlage für hybride Organisationsformen,255 da er die Autonomie der kooperierenden Akteure wahrt und zugleich ihre Beziehung in den Mittelpunkt rückt.256 Allerdings weisen hybride Organisationsformen eine große Varianz auf257 und so werden mitunter auch relationale Verträge als typisch für hybride Organisationen genannt.258 Williamson selbst spricht teilweise von „Relational Contracting“259 und teilweise von neoklassischem Vertragsrecht bei der Charakterisierung der vertraglichen Grundlage von hybriden Organisationsformen.260 Insbesondere solche hybride Organisationsformen, bei denen ein gemeinsames Unternehmen besteht (zum Beispiel Joint Venture oder Genossenschaft), zeigen eher Charakteristika eines relationalen Vertrags. Die Übergänge zwischen neoklassischem und relationalem Vertragsrecht sind folglich fließend und die Unterscheidung von GovernanceStrukturen sollte anhand zusätzlicher Kriterien neben dem Vertragsrecht erfolgen.261
248 Vgl. Macneil 1977, S. 890–891. 249 Vgl. Macneil 1977, S. 894. 250 Vgl. Williamson 1979, S. 238, und Williamson 1991, S. 274. 251 Die Beschreibung von neoklassischem Vertragsrecht wird den beiden Vertragstheoretikern Corbin und Llewellyn zugeordnet (vgl. Smith und King 2009, S. 6). 252 Vgl. Macneil 1977, S. 865–868. 253 Vgl. Macneil 1977, S. 865–870. 254 Vgl. Macneil 1977, S. 873–875. 255 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 284–285. 256 Vgl. Williamson 1979, S. 237–238. 257 Vgl. Abschnitt 2.1.3.2. 258 Vgl. Ménard 2008, S. 295. 259 Vgl. Williamson 1985. „Relational Contracting“ im Untertitel des Standardwerks „The economic intstitutions of capitalism“ wird von Streissler mit „Kooperationen“ ins Deutsche übersetzt (vgl. Williamson 1990). 260 Vgl. Williamson 1979, S. 237–238, und Williamson 1991, S. 271. 261 Vgl. Campbell 2001.
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2 Theoretische Grundlagen
2.1.3.3.3 Governance-Attribute und Governance-Mechanismen Sowohl die Steuerungsmechanismen als auch das Vertragsrecht eignen sich zur groben Differenzierung generischer Governance-Strukturalternativen wie Markt, hybride Organisationsform und Unternehmen. Eine weitaus feinere Unterscheidung wird durch Governance-Attribute und Governance-Mechanismen ermöglicht.262 Sie erlauben eine graduelle Abgrenzung von Governance-Strukturen und verbessern damit auch die empirische Überprüfbarkeit der Transaktionskostentheorie, da eine genauere Messung in empirischen Untersuchungen möglich wird.263 In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Governance-Attribute und Governance-Mechanismen im Rahmen der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie untersucht. Die nun folgende Aufzählung, die in Tabelle 1 zusammengefasst wird, ist deshalb keineswegs vollständig, sondern zeigt besonders häufig genutzte Governance-Attribute und zugehörige Governance-Mechanismen.
Tabelle 1: Ausgewählte Governance-Attribute und Governance-Mechanismen. Governance-Attribut
Governance-Mechanismen
Ausprägung Markt
Hybrid
Unternehmen
Vertragsumfang
Anzahl Vertragsklauseln, Detaillierung Vertragsklauseln
hoch
mittel
gering
Integration
Überkreuz-Eigenkapitalbeteiligung, Vertragsdauer
gering
mittel
hoch
Anreizintensität
Erfolgsabhängige Vergütung
hoch
mittel
gering
Administrative Kontrolle
Planung, Informationsaustausch, Monitoring
gering
mittel
hoch
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Williamson (1991, S. 281) und Chaddad (2012, S. 450).
Ein wichtiges Governance-Attribut zur Unterscheidung von Governance-Strukturen ist der Vertragsumfang.264 Hiermit ist einerseits der Detaillierungsgrad in Verträgen gemeint;265 andererseits wird mit dem Vertragsumfang auch der quantitative
262 Vgl. Williamson 1991, S. 281, Ménard 2004, S. 360–363, Ménard 2006, S. 34, Ménard 2008, S. 299–300, und Chaddad 2012, S. 450. 263 Vgl. Joskow 1988, S. 101. 264 Vgl. Chaddad 2012, S. 450. 265 Vgl. Chen und Bharadwaj 2009, S. 495.
2.1 Wesentliche Konzepte
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Umfang von Regelungen bezeichnet.266 Die Ausprägung des Governance-Attributs Vertragsumfang ergibt sich also aus der Summe und dem Detaillierungsgrad von Governance-Mechanismen, die vertraglich festgelegt werden. Da klassische Verträge nach Vertragsschluss nicht angepasst werden können, sind diese weitgehend spezifiziert und werden strikt anhand der meist formalisierten Klauseln ausgelegt.267 Hingegen wird in relationalen Verträgen vergleichsweise wenig formal festgelegt, da die interne Hierarchie den Gerichtsweg im Fall von vertraglichen Regelungslücken ersetzt.268 Neoklassische Verträge, die typisch für hybride Organisationsformen sind, weisen einen mittleren Vertragsumfang und einen mittleren Detaillierungsgrad auf.269 Ein ebenfalls zentrales Governance-Attribut ist die Integration der Transaktionspartner. Wenngleich dieses Governance-Attribut zunächst von Williamson als die Alternative „make-or-buy“ vorgestellt wurde,270 so wird die Integration der Transaktionspartner mittlerweile auch im Sinne einer Abstufung mit weiteren Zwischenschritten und damit als feines Differenzierungsmerkmal für Governance-Strukturen angesehen.271 Zahlreiche Governance-Mechanismen können dem GovernanceAttribut Integration zugerechnet werden. Besondere Aufmerksamkeit erhielten in der Literatur unter anderem die gegenseitige Eigenkapitalbeteiligung272 und die Vertragsdauer273. Hybride Organisationsformen zeichnen sich dadurch aus, dass die Akteure zwar Entscheidungen an eine übergeordnete Instanz abgeben, ihre rechtliche Eigenständigkeit aber weiter bewahren.274 Der Grad der Integration solcher Akteure ist dann als Zwischenform der Governance-Strukturen Markt und Unternehmen anzusehen. Die Anreizintensität wird ebenfalls als Governance-Attribut in der Literatur angeführt.275 Die Anreizintensität beschreibt den Grad, zu dem die Handlungen der
266 Vgl. Crocker und Reynolds 1993, S. 132 und S. 143–145, und Poppo und Zenger 2002, S. 717. 267 Vgl. Williamson 1991, S. 271. 268 Vgl. Williamson 1991, S. 274. 269 Vgl. Williamson 1991, S. 272. 270 Vgl. Abschnitt 2.1.3.1. 271 Vgl. Crook et al. 2012, S. 66. 272 Vgl. Pisano 1989 oder Oxley 1999. Entsteht beispielsweise ein gemeinsames Unternehmen, an dem die Transaktionspartner beteiligt sind, oder findet eine Überkreuz-Eigenkapitalbeteiligung zwischen den Transaktionspartnern statt, so kann eine solche hybride Organisationsform auf dem Kontinuum zwischen Markt und Unternehmen eher als unternehmensähnlich eingeordnet werden (vgl. Pisano 1989, S. 109–110). 273 Vgl. Joskow 1987, S. 168–169. Eine Verlängerung der Dauer eines Kontraktes führt zu eher relationalen Verträgen (vgl. Macneil 1973, S. 749) und ebenso ergibt sich ein eher relationaler Vertrag, je weniger eindeutig Start- und Endpunkt des Vertrags sind (vgl. Macneil 1973, S. 751). 274 Vgl. Williamson 1991, S. 271, und Ménard 2004, S. 357. 275 Vgl. Williamson 1991, S. 281, Holmström und Milgrom 1994, Grandori und Soda 1995, S. 196, und Makadok und Coff 2009.
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2 Theoretische Grundlagen
Akteure durch Anreize determiniert werden.276 Als Governance-Mechanismus, der diesem Governance-Attribut zuzuordnen ist, gilt beispielsweise die Festlegung einer erfolgsabhängigen Kompensation in Geschäftsführerverträgen.277 Im Fall von eher marktähnlich ausgerichteten hybriden Organisationsformen ist die Anreizintensität stärker ausgeprägt.278 Umgekehrt ist sie im Fall von unternehmensähnlich ausgerichteten hybriden Organisationsforen nur schwach ausgeprägt.279 Entgegengesetzt verhält es sich mit der administrativen Kontrolle, die in Unternehmen deutlich stärker ist als in hybriden Organisationen.280 Mit der administrativen Kontrolle ist die Unterordnung der Transaktionspartner unter eine koordinierende Instanz gemeint.281 Als für dieses Governance-Attribut relevante Governance-Mechanismen gelten beispielsweise die Ausprägung der gemeinsamen Planung, des Informationsaustauschs und des Monitorings.282 So nutzen unternehmensähnliche hybride Organisationen zentrale Koordinationsstellen, um das Verhalten der Transaktionspartner weitgehend zu steuern.283
2.1.4 Governance-Struktur Genossenschaft 2.1.4.1 Genossenschaften 2.1.4.1.1 Definition Die im vorangegangenen Abschnitt vorgenommene Präzisierung des GovernanceKonzepts durch die Unterscheidung generischer Governance-Strukturalternativen erfährt in diesem Abschnitt eine weitere Konkretisierung durch die Vorstellung der Genossenschaft als hybrider Organisationsform und Governance-Struktur. Dazu wird die Genossenschaft zunächst definiert. Anschließend findet anhand des oben vorgestellten begrifflichen Instrumentariums ihre Einordnung als hybride Organisationsform statt, es wird auf besondere Kooperationsprobleme in Genossenschaften eingegangen und es werden Typen von Genossenschaften abgegrenzt. Im letzten Teil des Abschnitts steht das Governance-Regime der Cooperative Governance im Mittelpunkt.
276 In Williamsons (1991, S. 279) Worten: „[. . .] when consequences are tightly linked to action [. . .].“ 277 Vgl. Shirley und Xu 1998, S. 367–368. 278 Vgl. Williamson 1991, S. 281. 279 Vgl. Williamson 1991, S. 281. 280 Vgl. Williamson 1991, S. 281. 281 In Williamsons (1991, S. 280) Worten: „[. . .] monitoring and career rewards and penalties [. . .].“ 282 Vgl. Chaddad 2012, S. 450. 283 Vgl. Ménard 2004, S. 367–368.
2.1 Wesentliche Konzepte
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Eine Definition der Genossenschaften wird grundsätzlich durch ihre Heterogenität erschwert.284 Eine besonders aktuelle und weitverbreitete Definition stammt von der ICA: „A co-operative is an autonomous association of persons united voluntarily to meet their common economic, social, and cultural needs and aspirations through a jointly owned and democratically-controlled enterprise.“285 In dieser Definition klingt die Absicht an, eine Abgrenzung zur IOF286 herzustellen, die als Gegenpol der Genossenschaft als sogenannte „kapitalistische Unternehmung“287 eingeordnet wird.288 Tatsächlich ist eine solche Unterscheidung für das Verständnis von Genossenschaften zentral. Die Unterschiede zwischen IOF und Genossenschaft werden anhand von drei charakteristischen Wesensmerkmalen besonders prägnant, die Dunn für die Genossenschaft herausstellt:289 Demnach zeichnen sich Genossenschaften 1. durch die Identität von Nutzer und Eigentümer aus, was bedeutet, dass diejenigen, die die Genossenschaft finanzieren und besitzen, auch diejenigen sind, die die Leistungen der Genossenschaft nachfragen. Genossenschaften weisen 2. eine Identität von Nutzer und Kontrollberechtigtem auf, womit die nutzerorientierte Kontrolle gemeint ist, die beispielsweise durch das Pro-Kopf-Stimmrecht der Mitglieder290 umgesetzt wird. Ferner sind Genossenschaften 3. durch die Identität von Nutzer und Begünstigtem gekennzeichnet, was verdeutlichen soll, dass Genossenschaften ausschließlich ihren Mitgliedern auf Basis der Nutzung des genossenschaftlichen Geschäftsbetriebs dienen sollen.291 Dunn leitet aus dieser Beschreibung des Wesens der Genossenschaft eine prägnante Definition ab: „A cooperative is a user-owned and controlled business from which benefits are derived and distributed on the basis of use.“292 Die Identität zwischen dem Nutzer und Eigentümer in der Genossenschaft steht im Kontrast zur IOF. Die IOF zeichnet sich insbesondere durch eine eindimensionale Beziehung mit ihren Investoren aus, welche ausschließlich Kapital zur Verfügung stellen und im Gegenzug Kontroll- und Residualrechte erhalten.293
284 Vgl. Draheim 1952, S. 14–16. 285 International Co-operatives Alliance 2014. 286 Im Englischen als „Investor Oriented Firm“ bezeichnet. Teilweise ist mit der gängigen Abkürzung „IOF“ in der Literatur auch „investor owned firm“ gemeint (vgl. Hansmann 1996, S. 1). 287 Vgl. Hansmann 1996, S. 1. 288 Vgl. Fußnote 30. Auch die genossenschaftlichen Prinzipien, auf die später noch gesondert eingegangen wird (vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.1), sind eine Möglichkeit zur Differenzierung der Genossenschaft von der IOF (vgl. Engelhardt 1994b, S. 135, und Engelhardt 1994a, S. 101). 289 Vgl. Dunn 1988, S. 85. 290 Dies wird auch als Demokratieprinzip in Genossenschaften bezeichnet (vgl. Valentinov 2009, S. 927). Das Demokratieprinzip wird auch „one-person, one-vote rule“ (Ménard 2007, S. 10) genannt. 291 Vgl. Dunn 1988, S. 85. 292 Dunn 1988, S. 85. 293 Vgl. Hansmann 1996, S. 11. Siehe hierzu auch die Analyse zur Aufteilung von Residual- und Kontrollrechten von Fama und Meckling (1983).
38
2 Theoretische Grundlagen
Genossenschaften werden deshalb in Abgrenzung zur IOF auch als „patron owned“294 bezeichnet. Die Förderung der Mitglieder in Genossenschaften kann gleichwohl auf vielfältige Art und Weise erfolgen. In der jüngeren Vergangenheit sind zahlreiche Genossenschaften entstanden, die ihre Mitglieder durch die Verwirklichung von kulturellen und sozialen Zielen fördern.295 Dieser Entwicklung wurde durch die Novelle des GenG 2006 Rechnung getragen, indem nunmehr auch soziale und kulturelle Mitgliederförderung als Gesellschaftszweck definiert werden dürfen. Eine solche Ausrichtung der Genossenschaft hat häufig positive externe Effekte und weist damit eine Nähe zu Sozialunternehmen auf.296 Die besondere Bedeutung der Mitglieder, die in mehreren Beziehungen zur Genossenschaft stehen, war Anlass für Draheim ein weiteres Wesensmerkmal von Genossenschaften herauszustellen – ihre doppelte Natur.297 Damit ist konkret gemeint, dass in einer Genossenschaft gewissermaßen zwei Organisationen vereint sind: auf der einen Seite eine Gruppe meist natürlicher Personen, die einen Verein bilden, und auf der anderen Seite ein genossenschaftlicher Wirtschaftsbetrieb.298 Neben der Tatsache, dass der Verein und der Wirtschaftsbetrieb divergierende Interessen haben können,299 wird mit der Feststellung von Draheim auf einen weiteren Umstand hingewiesen: Die Mitglieder der Genossenschaft bilden einen Verein und sind dadurch, anders als Investoren einer IOF, stärker aufeinander bezogen und pflegen für gewöhnlich einen über den Geschäftsbetrieb hinausgehenden persönlichen Austausch.300 Neben einer Orientierung der Definition an Wesensmerkmalen bietet der länderspezifische Rechtsrahmen die Möglichkeit zur Abgrenzung von anderen Gesellschaftsformen.301 Im Wortlaut des § 1 GenG zum Wesen der Genossenschaft ist die genossenschaftliche Organisation als Rechtsform folgendermaßen gefasst: „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle
294 Hansmann 1996, S. 12. 295 Vgl. Borzaga und Santuari 2005 und Huybrechts und Mertens 2014, S. 197. 296 Vgl. Huybrechts und Mertens 2014, S. 204–205. In einer solchen Hinsicht wäre für Genossenschaften auch ihr hybrider Charakter hinsichtlich anderer institutioneller Logiken zu diskutieren (vgl. Fußnote 227). 297 Vgl. Draheim 1952. 298 Vgl. Engelhardt 1994a, S. 101. 299 Vgl. Hanel 1994. 300 Vgl. Draheim 1952, S. 16–17. 301 Beuthien (1994, S. 553) stützt seine Definition der Genossenschaft beispielsweise auf den rechtsstaatlichen Rahmen: „[. . .] one can classify the eG [eingetragene Genossenschaft, J. M.] as a specially regulated, legal association of persons for economic promotion that does not strive for profit on its own behalf but which rather endeavors to provide its members with direct and useful promotional outputs and/or services.“
2.1 Wesentliche Konzepte
39
Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern (Genossenschaften), erwerben die Rechte einer ‚eingetragenen Genossenschaft‘ nach Maßgabe dieses Gesetzes.“302 In dieser Arbeit soll insbesondere die rechtliche Definition der Genossenschaften forschungsleitend sein, da sie die zuvor genannten Definitionen anhand genossenschaftlicher Wesensmerkmale umfasst und zudem eine leicht nachvollziehbare Abgrenzung zu anderen Governance-Strukturen erlaubt. Weiterhin ist es durch die Verwendung der rechtlichen Definition möglich, Genossenschaften – die nach dem Wortlaut des GenG eingetragen sein müssen – besser zu identifizieren. 2.1.4.1.2 Genossenschaft als hybride Organisationsform Die Existenz von Genossenschaften wurde in der Literatur von mehreren Autoren aus transaktionskostentheoretischer Perspektive begründet.303 Einer transaktionskostentheoretischen Betrachtung von Genossenschaften folgend, hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Genossenschaften als hybride Organisationsformen einzuordnen sind.304 Das vorgestellte begriffliche Instrumentarium der Transaktionskostentheorie dient damit zur Abgrenzung von anderen GovernanceStrukturen.305 In einem wegweisenden Aufsatz klassifiziert Bonus die Genossenschaft im Sinne der Transaktionskostentheorie erstmals als hybride Organisationsform.306 Genossenschaften, so Bonus, helfen ihren Mitgliedern dabei, Quasi-Renten aus spezifischen Investitionen zu schützen, ohne dass die Mitglieder ihre Selbstständigkeit durch Integration in einer übergeordneten Struktur aufgeben müssen.307 In weiteren
302 § 1 Abs. 1 GenG. 303 Vgl. Bonus 1986, Staatz 1987a, Hansmann 1996, Hendrikse und Veerman 2001b, Chaddad und Cook 2004 oder Yildiz 2013. 304 Vgl. Ménard 2007, S. 10. Es gibt in der Literatur jedoch auch die Auffassung, Genossenschaften nicht als hybride Organisationsform einzustufen: Valentinov (2009, S. 927) argumentiert beispielsweise, dass das Demokratieprinzip (vgl. Fußnote 290) der Genossenschaft sich nicht auf einem Kontinuum zwischen Markt und Unternehmen wiederfindet und Genossenschaften deshalb als distinkte Governance-Struktur jenseits von Markt und Unternehmen anzusehen seien. Einer solchen Argumentation soll in dieser Arbeit jedoch nicht gefolgt werden, da als Gegenargument einzuwenden ist, dass die demokratische Mitbestimmung der Mitglieder einen Governance-Mechanismus darstellt, der in anderen Governance-Strukturen lediglich anders ausgeprägt ist. 305 Andere Ansätze und vor allem der Fokus auf einzelne Aspekte der Genossenschaft (vgl. Feng und Hendrikse 2008) haben andere Ordnungsschemata hervorgebracht, wie beispielsweise eine Klassifizierung vor dem Hintergrund der Property-Rights-Theory (vgl. Valentinov und Fritzsch 2007) oder eine Betonung des Identitätsprinzips (vgl. Valentinov 2009), die aber in dieser Arbeit aufgrund des transaktionskostentheoretischen Hintergrunds nicht näher betrachtet werden sollen. 306 Vgl. Bonus 1986. Bonus lehnt seine Arbeit dabei an die Charakterisierung der Genossenschaft als doppelte Natur durch Draheim (1952) an. 307 Vgl. Bonus 1986, S. 333–334.
40
2 Theoretische Grundlagen
Arbeiten wird Genossenschaften zudem ein zugrunde liegender relationaler Vertrag zugeschrieben308 und sie werden anhand des zentralen Steuerungsmechanismus der demokratischen Kontrolle durch ihre Mitglieder von den Governance-Strukturen Markt und Unternehmen unterschieden.309 Chaddad ordnet Genossenschaften darüber hinaus aufgrund einer mittleren Ausprägung verschiedener Governance-Attribute als hybride Organisationsform ein.310 Genossenschaften sind Chaddads Auffassung nach zudem als Hybride einzustufen, da sie sowohl Governance-Attribute mit eher marktlicher Ausprägung aufweisen als auch gleichzeitig Governance-Attribute mit eher unternehmensähnlicher Ausprägung.311 Die Genossenschaft ist somit eine Governance-Struktur, die von Akteuren gewählt wird, die keine vollständig marktliche oder unternehmensähnliche Steuerung ihrer Transaktion wünschen. Neben einer transaktionskostentheoretischen Begründung für die Existenz der Genossenschaft finden sich weitere Theorien die erklären, warum Genossenschaften existieren.312 Trotz der Tatsache, dass diese aufgrund der transaktionskostentheoretischen Ausrichtung dieser Arbeit hier nicht im Fokus stehen, sei die Industrieökonomik als bedeutender alternativer Erklärungsansatz erwähnt.313 Diesem Ansatz zufolge übernehmen Genossenschaften in Märkten die Funktion, Marktineffizienzen aufgrund oligopolistischer Strukturen entgegenzuwirken.314 Genossenschaften helfen ihren Mitgliedern dabei, adäquate Marktpreise durchzusetzen, was in Märkten mit genossenschaftlicher Präsenz dazu führt, dass sich die Preise insgesamt einem effizienten Niveau annähern und es zu einer ausgewogeneren Verteilung von Margen kommt.315 2.1.4.1.3 Genossenschaftsspezifische Kooperationsprobleme Neben der Tatsache, dass die Genossenschaft dazu in der Lage ist, das Kooperationsproblem als hybride Organisationsform zu lösen, bringt auch die GovernanceStruktur selbst spezifische zusätzliche Kooperationsprobleme mit sich. In der genossenschaftswissenschaftlichen Literatur werden sechs besonders relevante genossenschaftstypische Ursachen für eine Gefährdung der Kooperation hervorgehoben:316
308 Vgl. Shaffer 1987. 309 Vgl. Valentinov 2009, S. 927. 310 Vgl. Chaddad 2012, S. 450. 311 Vgl. Chaddad 2012, S. 450. 312 Vgl. Cook 1995, S. 1155. 313 Vgl. Cotterill 1987, Nourse 1992 und Hanisch et al. 2013. 314 Vgl. Cotterill 1987, S. 182, Staatz 1987a, S. 89, und Nourse 1992, S. 107. 315 Vgl. Hanisch et al. 2013. 316 Vgl. Cook 1995, S. 1156–1157.
2.1 Wesentliche Konzepte
41
1.
Ein Kernproblem von Genossenschaften besteht im Trittbrettfahrerproblem, also der Gefahr, dass einzelne Mitglieder zum Schaden der anderen Mitglieder die Genossenschaft ausnutzen.317 2. Die Heterogenität der Mitglieder ist ebenfalls ein spezifisches Problem der Genossenschaft, dass sich beispielsweise an divergierenden persönlichen Planungszeiträumen der Mitglieder,318 Unterschieden in Bezug auf die Dauer, die Personen beabsichtigen, Mitglied einer Genossenschaft zu bleiben,319 oder in Bezug auf individuelle Risikopräferenzen zeigt.320 3. Die Machtfülle des Managements ist ein weiteres Problem in vielen Genossenschaften, die aufgrund zerstreuter Eigentümerverhältnisse und eines geringen Kapitalmarktdrucks entsteht.321 Der Einfluss der Mitglieder auf das Management ist mit erhöhten Kosten verbunden322 und Kapitalmarktdruck durch drohende feindliche Übernahmen ist kaum existent.323 4. Zu den Herausforderungen der meisten Genossenschaften gehört auch eine Eigenkapitalschwäche,324 die durch die geringe Innenfinanzierungskraft325 und die beschränkten Zugänge zum Kapitalmarkt begründet ist.326 5. Die Kontrolle des Vorstands wird in Genossenschaften dadurch erschwert, dass das Selbstorganschaftsprinzip Qualifikationsdefizite im Aufsichtsrat befördern kann und die Qualität der Aufsicht durch eine Begrenzung des Haftungsrisikos von Aufsichtsräten in Genossenschaften gefährdet ist.327
317 Vgl. Cook 1995, S. 1156. 318 Vgl. Cook 1995, S. 1156–1157, und Bijman et al. 2013, S. 206–207. 319 Vgl. Vitaliano 1983, S. 1082. 320 Anders als ein Investor in einer IOF kann das Mitglied einer Genossenschaft sein Risiko nicht ohne Weiteres durch die Investition in ein Portfolio an Genossenschaften diversifizieren, weil seine Mitgliedschaft auch eine Förderbeziehung umfasst, die unter Umständen nur mit einer bestimmten Genossenschaft zu realisieren ist (vgl. Vitaliano 1983, S. 1082). 321 Vgl. Spear 2004, S. 42–43. 322 Vgl. Cook 1995, S. 1157, oder Iliopoulos und Hendrikse 2009. 323 Vgl. Spear 2004, S. 47. 324 Vgl. Cook und Iliopoulos 2000, S. 335. 325 Die eingeschränkte Innenfinanzierungskraft ist durch die Tatsache bedingt, dass Genossenschaften einen Förderzweck verfolgen und Gewinnerzielungsabsichten nicht im Vordergrund stehen (vgl. Algner 2006, S. 186) und darüber hinaus Governance-Mechanismen wie die genossenschaftliche Rückvergütung (nachträgliche Anpassung der Konditionen einer Transaktion zwischen Mitglied und Genossenschaft zugunsten des Mitglieds) die Innenfinanzierungskraft schwächen. 326 Vgl. Bacchiega und Fraja 2004. Eine experimentelle Untersuchung der Investitionsbereitschaft potenzieller Mitglieder von Energiegenossenschaften zeigte, dass die Variation einzelner GovernanceMechanismen, die die Mitgliederförderung betreffen, die Investitionsbereitschaft der Mitglieder nur marginal beeinflusst (vgl. Höfer und Rommel 2015). 327 Vgl. Zieger 2008, S. 295–296.
42
2 Theoretische Grundlagen
6. Ein weiteres zentrales Problem in Genossenschaften ist die Gleichzeitigkeit von zentrifugalen und zentripetalen Kräften der Mitglieder, die Genossenschaften dauerhaft destabilisieren können.328 Die Bindung der Mitglieder an die Genossenschaft ist folglich eine ihrer zentralen Herausforderungen.329 Neben der Lösung des mit einer Transaktion verbundenen Kooperationsproblems hat die Genossenschaft durch die Ausgestaltung ihrer Governance auch die vorgenannten zusätzlichen genossenschaftstypischen Probleme zu adressieren. Vor diesem Hintergrund bieten die zahlreichen Typen von Genossenschaften sowohl Mechanismen die der konkreten Organisation einer Transaktion dienen als auch Mechanismen zur Lösung inhärenter Probleme der Genossenschaft. 2.1.4.1.4 Typen Die bereits thematisierte Heterogenität der Genossenschaften hat Klassifizierungsversuche und Typenbildungen befördert. Die zahlreichen Typenbildungen verdeutlichen die Vielfalt der genossenschaftlichen Organisation und sind als Beleg dafür zu werten, dass die Einordnung der Genossenschaft als intern homogene generische Governance-Struktur zu kurz greift. Ein Ansatzpunkt zur Typenbildung bieten unterschiedliche Perspektiven, aus denen die Genossenschaft betrachtet werden kann. Engelhardt unterscheidet Genossenschaften dabei anhand von Sinngehalten,330 anhand empirisch beobachtbarer Formen der Kooperation,331 anhand unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen332 und anhand von betriebswirtschaftlichen Merkmalen.333 Eine weitere Perspektive zur
328 Vgl. Bonus 1986, S. 311–312, in Anlehnung an Draheim 1952. 329 Vgl. Bonus 1986, S. 311–312. 330 Genossenschaften, die dem Gemeinwohl dienen, stiftungsähnliche Genossenschaften, Genossenschaften einer Gruppenökonomie, Genossenschaften, die Mitgliederinteressen vertreten, Genossenschaften, die für ihre Mitglieder Profit maximieren, und Genossenschaften, die einer zentralistischen Ökonomie dienen (vgl. Engelhardt 1994a, S. 101–102). 331 Genossenschaften im rechtlichen Sinne, Genossenschaften in einem ökonomischen Sinne, andere kooperative Formen der Kooperation (beispielsweise Vereine ohne Wirtschaftsbetrieb) und nicht kooperative Formen der Kooperation (beispielsweise Kartelle oder Syndikate) (vgl. Engelhardt 1994a, S. 102–103). 332 Genossenschaften aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive, Genossenschaften aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive, Genossenschaften aus einer soziologischen Perspektive, Genossenschaften aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive und Genossenschaften aus einer ökonomischen Perspektive (vgl. Engelhardt 1994a, S. 103–104). 333 Im betriebswirtschaftlichen Sinn können Genossenschaften nach ihrer Mitgliederart in Erwerbsgenossenschaften (Unternehmergenossenschaften) und Wirtschaftsgenossenschaften (Haushaltsgenossenschaften), hinsichtlich ihrer hauptsächlichen Aktivität in Handelsgenossenschaften, Kreditgenossenschaften, Arbeitergenossenschaften oder Dienstleistungsgenossenschaften, hinsichtlich der Anzahl ihrer Geschäftsaktivitäten in Einzweck-, Mehrzweck- oder
2.1 Wesentliche Konzepte
43
Typisierung von Genossenschaften bieten die zahlreichen Gründungsmotive, vor deren Hintergrund Genossenschaften in der Vergangenheit entstanden sind.334 Ein anderer, in dieser Arbeit besonders relevanter Ansatzpunkt zur Unterscheidung von Genossenschaften ist ihre Struktur. Ein Literaturbeitrag differenziert Genossenschaften anhand der Beziehung zwischen Mitglied und Genossenschaft in „traditional co-operatives“, welche sich ausschließlich durch die Mitgliederförderung auszeichnen, in „market co-operatives“, welche über die Mitgliederförderung hinaus auch Nichtmitglieder als Kundengruppen adressieren, und in „integrated co-operatives“, welche wesentliche Entscheidungsbefugnisse ihrer Mitglieder übernommen haben und als Zentralorgan für ihre Mitglieder fungieren.335 Weitere in der Literatur benannte Strukturmerkmale beziehen sich auf die Konfiguration der Partizipation der Mitglieder, die Mitgliedercharakteristika, die Intensität der Kooperation, die Allokation von Entscheidungsrechten, die Formalisierung der Kooperation und die Stabilität der Kooperation.336 Insbesondere die von Dunn angeführten Wesensmerkmale der Genossenschaft, die die Identität von Nutzer, Eigentümer, Kontrolleur und Begünstigtem beschreiben, bieten einen Ausgangspunkt, um Genossenschaften strukturell zu unterscheiden.337 Je nachdem ob und in welchem Umfang die Mitglieder Inhaber der genannten Rollen sind, kann die Genossenschaft als IOF-ähnlich oder als traditionelle Genossenschaft eingeordnet werden.338 Eine Genossenschaft wandelt sich beispielsweise in eine IOF, wenn die Förderbeziehung zwischen Mitglied und Genossenschaft erodiert und das Mitglied den genossenschaftlichen Geschäftsbetrieb nicht mehr nutzt.339 Die Kombination der Rollen Nutzer, Eigentümer, Kontrolleur und des Begünstigten erlauben die strukturelle Differenzierung von Genossenschaften und eine Verortung auf einem Kontinuum zwischen IOF und traditioneller Genossenschaft.340 Die Analyse der Beziehung zwischen Mitglied und Genossenschaft bietet damit einen Ausgangspunkt
Universalgenossenschaften sowie hinsichtlich ihrer Geschäftsfunktion in Einkaufsgenossenschaften oder Marketinggenossenschaften gegliedert werden (vgl. Engelhardt 1994a, S. 104). 334 In der Literatur werden als Gründungsmotive für Genossenschaften unter anderen der Wandel des ökonomischen Umfelds (vgl. Aldrich und Stern 1983, S. 371–372), ökonomische Krisen (vgl. Staber 1992, S. 1200–1201), der Mangel an politischer Ordnung (vgl. Ingram und Simons 2000, S. 25), Marktversagen und Marktmacht konkurrierender Akteure (vgl. Cook 1993, S. 159), die Erbringung einer fehlenden Dienstleistung für eine unterversorgte Akteursgruppe (vgl. Cook 1993, S. 160) und ideelle Motive, beispielsweise vor einem religiösen Hintergrund (vgl. Ellerman 1984, S. 275–276), genannt. 335 Vgl. Dülfer 1994, S. 854–855. 336 Vgl. Dülfer 1994, S. 856–858. 337 Vgl. Dunn 1988 und Abschnitt 2.1.4.1.1. 338 Vgl. Cook und Chaddad 2004, S. 1250–1251. 339 Vgl. Hansmann 1996, S. 11–12. 340 Vgl. Chaddad und Cook 2004, S. 352, und Cook und Chaddad 2004, S. 1250.
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2 Theoretische Grundlagen
für den Vergleich der Governance von Genossenschaften.341 Die Betrachtung der Genossenschaft als homogene Organisationsform auf dem Kontinuum zwischen Markt und Unternehmen greift dagegen zu kurz und eine eingehendere Differenzierung der Genossenschaft anhand ihrer Governance ist angezeigt. 2.1.4.2 Governance der Genossenschaft 2.1.4.2.1 Cooperative Governance Die Vielfalt der Genossenschaften deutet bereits auf ein flexibles Gerüst aus Governance-Mechanismen hin, deren Zusammenwirken mit übergeordneten erwartungsstabilisierenden Mechanismen in diesem Abschnitt als Cooperative Governance 342 Gegenstand ist. Das Konzept der Cooperative Governance entwickelte sich etwas nachgelagert mit der Anfang der 1990er-Jahre aufkommenden Debatte zur Corporate Governance, 343 wobei die Forschung zur Cooperative Governance auch bis heute deutlich weniger umfangreich ist. 344 Sowohl das Konzept der Corporate Governance als auch das Konzept der Cooperative Governance werden hier als Governance-Regime verstanden. 345 Die Corporate Governance bezieht sich auf die IOF: „Corporate Governance bezeichnet den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen für das Zusammenwirken von Verwaltungsorganen (Leitungsgremien und Überwachungsorganen) und Interessengruppen (insbesondere Anteilseignern) des Unternehmens.“346 Die Forschung zu Cooperative Governance hat hingegen die Genossenschaft im Fokus347 und geht deshalb zusätzlich auf Besonderheiten dieser Governance-Struktur ein, indem beispielsweise Kooperation, Fairness und Transparenz betont werden.348 Insbesondere der Umgang mit der Identität aus Nutzer und Eigentümer ist ein zentrales Thema der Cooperative Governance wie Bijman et al. ausführen: „The function of internal governance in cooperatives is to regulate effective control by patrons (users/members/owners) over the core decisions of the cooperative, at the same time providing sufficient managerial discretion to run the cooperative firm as well as complementary mechanisms of internal and external monitoring.“349 Folglich wird mit der Cooperative Governance der Zweck verfolgt, für eine angemessene
341 342 343 344 345 346 347 348 349
Vgl. Cook und Chaddad 2004, S. 1253. Vgl. Hansmann 1999, S. 396–398, Theurl 2005 und Zieger 2008, S. 290. Vgl. Durisin und Puzone 2009. Vgl. Theurl und Kring 2002, S. 5, und Cornforth 2004, S. 12. Vgl. Abschnitt 2.1.2.4. Talaulicar 2011, S. 269. Vgl. Leuschner 2005, S. 5. Vgl. Hofinger 2004, S. 42. Bijman et al. 2014, S. 656.
2.1 Wesentliche Konzepte
45
Steuerung des genossenschaftlichen Unternehmens zu sorgen, um eine optimale Mitgliederförderung zu erwirken. Die Mitgliederförderung geht über die Steigerung des Eigenkapitalwertes der Genossenschaft hinaus, denn das Mitglied vereint die Eigenschaften des Eigentümers und Nutzers in einer Person.350 Ein Kernziel besteht folglich in der optimalen Nutzung des genossenschaftlichen Geschäftsbetriebes durch die Einzelwirtschaften der Mitglieder.351 Analog zur Debatte um ein Oberziel der Corporate Governance,352 das in der Literatur teilweise in der Steigerung des Shareholder Value353 gesehen wurde,354 entwickelte sich die Idee der Maximierung des „Member Value“355. Cooperative Governance könnte folglich danach beurteilt werden, inwiefern sie dazu in der Lage ist, den Member Value zu steigern,356 was ihr insbesondere dann gelingt, wenn sie die genossenschaftstypischen Kooperationsprobleme überwindet. Die Genossenschaft als hybride Organisationsform schließt als GovernanceStruktur an andere erwartungsstabilisierende Mechanismen höherer Ordnung an. Wie bereits eingeführt, können verschiedene Ebenen unterschieden werden, die als Sozialkapital, Rechtsstaat und Governance bezeichnet wurden.357 Um das GovernanceRegime Cooperative Governance eingehender vorzustellen, werden in den folgenden Abschnitten die drei Elemente genossenschaftliche Prinzipien, Genossenschaftsgesetz und Satzung erläutert, die auf den vorgenannten Ebenen verortet werden können.358 Somit soll eine Einordnung der erwartungsstabilisierenden Mechanismen rund um die Genossenschaft in das bereits eingeführte begriffliche Instrumentarium erfolgen, wie in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist.359
350 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.1. 351 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.1. 352 Vgl. Grundei und Talaulicar 2015, S. 98–103. 353 Vgl. Rappaport 1986. 354 Vgl. Grundei und Talaulicar 2015, S. 100–101. 355 Vgl. Theurl 2001. 356 Vgl. Theurl 2005, S. 22. Wenngleich durch diese plakative Abgrenzung der Zielsetzungen von Corporate Governance und Cooperative Governance auf wesentliche Unterschiede der beiden Governance-Regime hingewiesen wird, ist eine solche Fokussierung auf ein „monovariables Oberziel“ (Grundei und Talaulicar 2015, S. 100) als unzureichend einzustufen (vgl. Grundei und Talaulicar 2015, S. 100–103). Grundsätzlich existieren zahlreiche legitime Anspruchsinhaber gegenüber Unternehmen, deren Schutz die Zielsetzung der Corporate Governance sein sollte (vgl. Grundei und Talaulicar 2015, S. 100–103). Auch auf das Konzept des Member Value als Zielvariable der Cooperative Governance wäre diese Kritik auszudehnen. 357 Vgl. Abschnitt 2.1.2. 358 Eine ähnliche Einordnung wird bei Sacchetti und Toria (2016, S. 98) vorgenommen. 359 Als Vorbemerkung zum nächsten Abschnitt sei jedoch angemerkt, dass die drei Ebenen der Cooperative Governance genossenschaftliche Prinzipien, Genossenschaftsgesetz und die Genossenschaftssatzung nur einen Teil des Governance-Regimes der Cooperative Governance erfassen, wenngleich dieser hier als besonders bedeutend erachtet wird. Weitere Aspekte wie beispielsweise informelle Regelungen auf Ebene der Genossenschaft sind ebenfalls als Teil der Governance zu
46
2 Theoretische Grundlagen
Governance-Regime 1. Ebene Sozialkapital
Genossenschaftliche Prinzipien
2. Ebene Rechtsstaat
Genossenschaftsgesetz
3. Ebene Governance
Genossenschaft Kündigungsfrist
Governance-Attribut GovernanceStruktur
Anzahl Sitzungen Aufsichtsrat
GovernanceMechanismen
Haftsumme
…
Abbildung 1: Verortung der Cooperative Governance in den Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Williamson (2000, S. 597).
2.1.4.2.2 Ebenen der Cooperative Governance 2.1.4.2.2.1 Genossenschaftliche Prinzipien Die ICA nennt sieben genossenschaftliche Prinzipien: Hierzu gehören 1. die Freiwillige und offene Mitgliedschaft, 2. die demokratische Mitgliederkontrolle, 3. die Förderung der Mitglieder, 4. die Autonomie und Unabhängigkeit der Genossenschaft, 5. die Vermittlung von Bildung, Training und Information für die Mitglieder, 6. die Kooperation unter den Genossenschaften und 7. die nachhaltige Stärkung des lokalen Umfelds der Genossenschaften.360 Engelhardt bezeichnet
verstehen (vgl. Abschnitt 2.1.2.4). Zudem ist die Zuordnung der Cooperative Governance zu den Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen nicht in allen Belangen widerspruchsfrei, wie im folgenden Abschnitt ebenfalls erläutert wird. 360 Vgl. International Co-operatives Alliance 2014.
2.1 Wesentliche Konzepte
47
die Prinzipien der Genossenschaft als einen Ausdruck von Ideen und Utopien über kooperative Wirtschaftsformen.361 Die genossenschaftlichen Prinzipien wirken auf die nachgelagerten Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen.362 So bilden sie den Ideenraum,363 in dem das GenG zur Regelung der Rechtsform Genossenschaft in Deutschland entstanden ist,364 und sind auch ein ideeller Hintergrund für die in Genossenschaften agierenden Akteure.365 In Ländern, in denen sich keine Genossenschaftsgesetze entwickelt haben, sind die genossenschaftlichen Prinzipien meist leitend bei der Entwicklung von Genossenschaftssatzungen.366 Die genossenschaftlichen Prinzipien werden an dieser Stelle auf der ersten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen eingeordnet, die in Abschnitt 2.1.2.2 als Sozialkapital bezeichnet wurde. Die Einordnung erfolgt auf dieser Ebene, weil die Prinzipien sich mit wenigen Abwandlungen über lange Zeiträume als stabiles Konzept um den Ideenkern der Mitgliederförderung entwickelt haben.367 Zudem zeigt sich, dass die Prinzipien der Genossenschaft international zur Anwendung kommen368 und sie durch einzelne Akteure nur indirekt beeinflusst und gestaltet werden können.369 Auch die Durchsetzung der genossenschaftlichen Prinzipien beschränkt sich auf das weltweite Netzwerk aus Akteuren,370 die sich der genossenschaftlichen Idee verschrieben haben. Dies ist ein weiteres Argument zur Verortung auf der ersten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen.
361 Vgl. Engelhardt 1994b, S. 135. 362 Beuthien (1994, S. 556) beschreibt den Zusammenhang zwischen den Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen anschaulich: „The more co-operative ‚thought‘ in the sense of the traditional co-operative principles binds the eG to its special legal form in company law, the more ‚co-operative‘ the eG is.“ 363 Vgl. Engelhardt 1994b und Laurinkari 1994. 364 Vgl. Engelhardt 1994b, S. 139, und Münkner 1995, S. 14. 365 Vgl. Theurl und Kring 2002, S. 12–15. 366 Vgl. Münkner 1994, S. 545. 367 Vgl. Laurinkari 1994, S. 708–709. 368 Die oben von der ICA zusammengefassten genossenschaftlichen Prinzipien finden weltweit Anwendung und sind eine Referenz für sämtliche Genossenschaften (vgl. International Co-operatives Alliance 2014). Der Formalisierungsgrad, den die genossenschaftlichen Prinzipien mittlerweile erreicht haben, könnte als Argument gegen eine Einordnung auf erster Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen sprechen. Allerdings handelt es sich bei der Verschriftlichung um einen Prozess, der durch Wissenschaftler oder Organisationen oft mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung vorangebracht wurde (vgl. Laurinkari 1994, S. 708–709) und hier nicht als Kodifizierung im Sinne eines formalen erwartungsstabilisierenden Mechanismus, sondern als Abbild eines übergeordneten Verständnisses der Genossenschaftsidee angesehen wird. 369 Die bewusste Festlegung von weithin anerkannten genossenschaftlichen Prinzipien durch einzelne Akteure ist nicht zu erwarten. 370 Das genossenschaftliche Netzwerk kann als soziale Struktur klassifiziert werden (vgl. Abschnitt 2.1.2.2).
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2 Theoretische Grundlagen
2.1.4.2.2.2 Genossenschaftsgesetz Das GenG bildet die zweite Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen des Governance-Regimes Cooperative Governance. Es ist durch die Akteure in einem definierten Gesetzgebungsprozess gestaltbar und kann mithilfe der Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden.371 Zudem wird es in kürzeren Zeiträumen geändert, was an den zahlreichen Gesetzesänderungen, aber auch an den wiederkehrenden grundlegenden Novellierungen zu erkennen ist.372 Für die Einordnung des GenG auf der zweiten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen spricht zudem, dass es auf Genossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist.373 Weiterhin dient auch der hohe Formalisierungsgrad als Gesetzestext als Argument für eine Einordnung auf der Ebene, die hier als Rechtsstaat eingeführt wurde. Überall dort, wo Genossenschaftsgesetze entstanden sind, beobachtet Münkner, dass sich relativ einheitliche Inhalte durchgesetzt haben, die auf die genossenschaftlichen Prinzipien zurückzuführen sind.374 Zu den gemeinsamen Inhalten zählen Normen zur Gründung der Genossenschaften, zum rechtlichen Status der Mitglieder, zur Organisationsweise, zum Management der Genossenschaft, zum Eigentum und zur Finanzierung der Genossenschaft, zur Prüfung der Genossenschaft, zu sekundären oder tertiären genossenschaftlichen Organisationen wie Verbänden und zum Verhältnis zwischen der Genossenschaft und dem Staat.375 Auch in der Ordnung des GenG lassen sich diese Inhalte wiederfinden.376 Durch die im GenG dargelegten Ausgestaltungsmöglichkeiten der genossenschaftlichen Satzung wird die Vertragsebene zwischen den Akteuren gerahmt und an ein höheres Niveau erwartungsstabilisierender Mechanismen angeschlossen.377
371 Das Genossenschaftsgesetz entstand im Jahr 1889 als Reichsgesetz und knüpfte damit an ein preußisches Vorläufergesetz aus dem Jahr 1867 an (vgl. Beuthien et al. 2011, Einleitung Rn 1–3). Die Entstehung eines Genossenschaftsgesetzes in Deutschland ist damit zu erklären, dass die Genossenschaftsbewegung hierzulande im 19. Jahrhundert einen Aufschwung erlebte und sie zudem einen starken Organisationsgrad hatte, mithilfe dessen die Forderung nach einem gesetzlichen Ordnungsrahmen leicht durchgesetzt werden konnte (vgl. Müller 1976, S. 41–42). 372 Vgl. GenG 1973, GenG und Gesetz zum Bürokratieabbau und zur Förderung der Transparenz bei Genossenschaften. 373 Vgl. § 1 GenG. 374 Vgl. Münkner 1994, S. 547–550. 375 Vgl. Münkner 1994, S. 547–550. 376 Das GenG ist in folgende Abschnitte gegliedert: Abschnitt 1 die „Errichtung der Genossenschaft“, Abschnitt 2 die „Rechtsverhältnisse der Genossenschaft und ihrer Mitglieder“, Abschnitt 3 die „Verfassung der Genossenschaft“, Abschnitt 4 die „Prüfung und Prüfungsverbände“, Abschnitt 5 die „Beendigung der Mitgliedschaft“, Abschnitt 6 die „Auflösung und Nichtigkeit der Genossenschaft“, Abschnitt 7 „Insolvenzverfahren; Nachschusspflicht der Mitglieder“, Abschnitt 8 die „Haftsumme“, Abschnitt 9 die „Straf- und Bußgeldvorschriften“ sowie Abschnitt 10 die „Schlussvorschriften“ (vgl. GenG). 377 Vgl. Abschnitt 2.1.2.1.
2.1 Wesentliche Konzepte
49
2.1.4.2.2.3 Genossenschaftssatzung Die Satzung der Genossenschaft ist auf der dritten Ebene erwartungsstabilisierender Mechanismen zu verorten und lässt sich als formaler Teil378 der Governance einer Genossenschaft klassifizieren. Sie kann durch die Mitglieder der Genossenschaft direkt gestaltet werden und wird mittels der Organe der Genossenschaft nötigenfalls unter Hinzunahme rechtsstaatlicher Mechanismen durchgesetzt. Die Satzung ist der Vertrag zwischen den Genossenschaftsmitgliedern, welcher die Transaktion zwischen diesen begründet, die Errichtung der genossenschaftlichen Organisation regelt und zudem die Verfassung für das genossenschaftliche Unternehmen ist.379 Durch die Satzung werden die Beziehungen zwischen den Mitgliedern und der Genossenschaft definiert.380 Dabei ist die Satzung objektiv auszulegen, da sie auch für Mitglieder Gültigkeit hat, die erst nach der Gründung beitreten, und zudem Dritten gegenüber in Rechtsbeziehungen gilt.381 Die Satzung der Genossenschaft schließt an höhere Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen an, insbesondere an das GenG. Dies zusammengenommen spricht für die Verortung der Genossenschaftssatzung auf der Governance-Ebene.382 Zur Gründung einer Genossenschaft muss die datierte Satzungsurkunde von den Gründungsmitgliedern und auch weiteren vor der Eintragung in das Genossenschaftsregister hinzukommenden Mitgliedern unterschrieben werden.383 Wenn mindestens drei Personen die Satzung unterzeichnen, die ordentliche Mitglieder der eingetragenen Genossenschaft werden können, „liegt eine Vorgenossenschaft vor“384, für die die Normen des GenG bereits gelten. Durch die Unterschrift werden die Gründungsmitglieder „Mitglieder der Vor-eG“385 und nach Eintragung der Genossenschaft in das Genossenschaftsregister automatisch zu Mitgliedern der eingetragenen Genossenschaft (eG).386 Die Mitglieder gestalten die Satzung. Dabei müssen Mindestanforderungen an den Inhalt der Satzung berücksichtigt werden.387 Darüber hinaus lässt das GenG
378 Für die Satzung der Genossenschaft gilt die Schriftform (vgl. § 5 GenG). Die Satzung wird zumindest teilweise im Genossenschaftsregister veröffentlicht (vgl. § 12 Abs. 1 GenG und Henssler und Strohn 2014, GenG § 5 Rn 1). 379 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 5 Rn 1. 380 Vgl. § 18 GenG. 381 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 5 Rn 1. 382 Vgl. Abschnitt 2.1.2.4. 383 Vgl. Henssler und Strohn 2014, GenG § 5 Rn 2. 384 Pöhlmann et al. 2012, GenG § 5 Rn 2–4. 385 Henssler und Strohn 2014, GenG § 5 Rn 2. 386 Vgl. Henssler und Strohn 2014, GenG § 5 Rn 2. 387 Vgl. Henssler und Strohn 2014, GenG § 5 Rn 1. Die §§ 6–8a GenG regeln den Mindestumfang der Satzung: Der § 6 GenG bestimmt die Pflichtinhalte Firma und Sitz, Gegenstand des Unternehmens, Bestimmungen über die Nachschusspflicht, Bestimmungen über die Formalien der Generalversammlung und Bekanntmachungen. Durch diese Pflichtinhalte der Satzung ist gewährleistet, dass die
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2 Theoretische Grundlagen
Gestaltungsmöglichkeiten zu,388 wobei der Grundsatz der Satzungsstrenge gilt.389 Sollte ein Pflichtinhalt nicht in der Satzung enthalten oder unwirksam sein, so ist die Satzung nichtig und die Genossenschaft darf nicht eingetragen werden.390 Die Gestaltungsmöglichkeiten in der Satzung können in „Pflichtinhalte (§§ 6, 7, 36 Abs 1 S 1, bei Bestehen einer Vertreterversammlung auch § 43a Abs 4 S 5) und Kannbestimmungen (zB § 7a, 8, 8a, 43a)“391 differenziert werden.392
Genossenschaft ihren Sitz in einer Gemeinde in Deutschland hat, der Gegenstand des Unternehmens bezeichnet ist und die Möglichkeit besteht, nicht erlaubte Abweichungen zwischen Geschäftsaktivitäten und Unternehmensgegenstand festzustellen (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 6–7). Ferner ist hierdurch bestimmt, dass eine Regelung zur Nachschusspflicht der Mitglieder existiert (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 8–10), Formalien über die Generalversammlung bekannt sind (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 11–14) und eindeutig ist, wo Bekanntmachungen der Genossenschaft zu finden sind (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 15). Weitere zwingende Satzungsinhalte werden durch den § 7 GenG vorgegeben, der Regelungen zur Beteiligung der Mitglieder an der Genossenschaft umfasst. Der Geschäftsanteil ist der Betrag, mit dem sich ein Mitglied durch Einlagen an der Genossenschaft beteiligen kann (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 2). Die Satzung muss Regelungen zur Pflichteinzahlung von mindestens einem Zehntel des Geschäftsanteils beinhalten, der auch als „Mindestanteil“ bezeichnet wird (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 8). Vom Geschäftsanteil zu unterscheiden ist das Geschäftsguthaben, das „als veränderliche Rechengröße die tatsächliche Höhe der finanziellen Beteiligung des Mitglieds an der eG“ (Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 5) wiedergibt. Das Geschäftsguthaben umfasst die Einzahlung auf den Geschäftsanteil zuzüglich Gewinnzuweisungen und abzüglich Verlustzuweisungen. Zudem sind als zwingender Satzungsinhalt Regelungen über die gesetzliche und andere Rücklage aufzuführen, die beide zum genossenschaftlichen Eigenkapital gezählt werden (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 13). Die gesetzliche Rücklage ist zur Deckung von Bilanzverlusten vorgesehen und über die Verwendung der anderen Rücklage entscheidet die Generalversammlung (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 15–16). Der § 7a GenG macht Vorgaben für die satzungsgemäße Gestaltung hinsichtlich der Beteiligung von Mitgliedern mit mehreren Geschäftsanteilen sowie Sacheinlagen (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7a Rn 1–4). Es können auch mehrere Geschäftsanteile verpflichtend zur Übernahme durch ein Mitglied festgeschrieben werden (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7a Rn 5–8). Zudem erlaubt diese Regelung, dass Mitglieder sich durch die Einlage von Sachen an der Genossenschaft beteiligen können. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch die Möglichkeit der Wertfeststellung der Sacheinlagen durch den Prüfungsverband (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7a Rn 9). Der § 8 GenG enthält Kann-Vorschriften zur Regelung in der Satzung wie beispielsweise der Festschreibung eines Wohnsitzes als Voraussetzung zur Erlangung einer Mitgliedschaft oder die satzungsmäßige Zulassung von investierenden Mitgliedern, also solchen Mitgliedern, die die Förderleistung der Genossenschaft nicht in Anspruch nehmen können (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 8 Rn 1). Der § 8a GenG stellt ebenfalls eine Kann-Vorschrift dar und thematisiert die Einführung eines Mindestkapitals in der Satzung, das durch Kündigung von Geschäftsanteilen und Auseinandersetzung mit den Mitgliedern nicht unterschritten werden darf (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 8a Rn 1–2). 388 Vgl. § 18 GenG. 389 Vgl. Henssler und Strohn 2014, GenG § 18 Rn 19. 390 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 16. 391 Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 1. 392 „Das GenG schreibt an vielen Stellen vor, dass wenn die eG bestimmte Regelungen treffen oder von disponiblen Gesetzesbestimmungen abweichen will, es einer zwingenden Regelung durch die Satzung bedarf und diese insofern der Leitungsmacht von Vorstand und Aufsichtsrat entzogen sind
2.1 Wesentliche Konzepte
51
Die Entwicklung der Genossenschaftssatzung wird durch Mustersatzungen unterstützt, die die Genossenschaftsverbände zur Verfügung stellen. Bei den Mustersatzungen der Genossenschaftsverbände ist ein weitgehend einheitlicher Aufbau festzustellen, der in Tabelle 2 exemplarisch für eine Mustersatzung des Rheinisch-Westfälischen Genossenschaftsverbands e. V. (RWGV) zu sehen ist und den zugehörigen Paragrafen des GenG gegenübersteht. Die Verbindung zwischen Genossenschaftssatzung und GenG verdeutlicht das Zusammenwirken der Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen.393 In der Satzung der Genossenschaft werden neben der Beschreibung der Transaktion zugleich zahlreiche Governance-Mechanismen bestimmt, deren Wirkung darauf zielt, das Kooperationsproblem394 mithilfe der Genossenschaft zu überwinden. Neben allgemeinen Festlegungen wie der Firma oder dem Geschäftszweck werden hier die Mitgliedschaftsbedingungen definiert. Die Mitgliedschaftsbedingungen umfassen sowohl den Eintritt in die Genossenschaft als auch das Ausscheiden eines Mitglieds und legen zudem die Rechte und Pflichten der Mitglieder fest. Darüber hinaus ist die Funktion und Arbeitsweise der Organe der Genossenschaft in der Satzung spezifiziert. Die Organe bestehen aus der Generalversammlung, wahlweise einer Vertreterversammlung,395 dem Aufsichtsrat und dem Vorstand. Neben eher allgemeinen Bestimmungen ihrer Funktion, der Zusammensetzung und Willensbildung werden auch konkrete Aufgaben und Pflichten insbesondere des Aufsichtsrats396 in der Satzung geregelt.397
[. . .]“ (Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 1). Pöhlmann (2012, GenG § 6 Rn 1) listet diesbezüglich die Paragrafen „16 Abs 2 S 2, Abs 3 S 3; 19 Abs 2, 20, 21a Abs 1, 24 Abs 2, 25, 27 Abs 1, 36 Abs 1, 38 Abs 3, 39 Abs 1, Abs 2, 43, 43a Abs 1, 44, 45 Abs 1, 48 Abs 4, 65 Abs 2, 67 S 1, 68, 73 Abs 4, 74 Abs 2, 77 Abs 2, 78 Abs 1 S 2, 79 Abs 1, 79a Abs 1 S 2, 83 Abs 1, 87a Abs 2 S 2, Abs 3, 91 Abs 3, 105 Abs 1 S 2, Abs 2, 117 Abs 2 S 2, 121 S 2)“ auf. 393 Vgl. Abschnitt 2.1.2. 394 Vgl. Abschnitt 2.1.1.4. 395 Vgl. § 43a GenG. 396 Vgl. § 38 Abs. 3 GenG. 397 Gleichwohl sind die Regelungen zu den Organen der Genossenschaft in der Satzung lediglich als Ausgangspunkt für ihre konkrete Arbeitsweise anzusehen. Beispielsweise kann eine empirische Untersuchung zum Einfluss der Amtszeit von Vorständen einer Genossenschaft zeigen, dass eine lange Amtszeit zu einer Reduktion der Überwachung durch den Aufsichtsrat führt (vgl. Cook und Burress 2013, S. 224–225). Eine andere Untersuchung beschreibt, wie Vorstand und Aufsichtsrat je nach dominierendem Kommunikationskontext ihre Entscheidungen auf unterschiedliche Kennzahlen ausrichten (vgl. Michaud 2014, S. 98). Zahlreiche weitere Aspekte sind maßgeblich dafür, ob es gelingt, die Interessen der Mitglieder als Eigentümer und Nutzer abzubilden. Insbesondere die Personalunion unterschiedlicher Rolleninhaber in den Mitgliedern und ihre Repräsentanz im Aufsichtsrat einer Genossenschaft ist ein wichtiger Unterschied zur Corporate Governance einer IOF (vgl. Bijman et al. 2014, S. 644). Daraus können sich beispielsweise auch Probleme hinsichtlich der Qualifikation der Vertreter in genossenschaftlichen Gremien ergeben (vgl. Zieger 2008, S. 294–296).
52
2 Theoretische Grundlagen
Tabelle 2: Normen im Genossenschaftsgesetz und zugehörige Abschnitte in der Mustersatzung des RWGV. Normen des GenG
Abschnitte Mustersatzung RWGV
§ Abs. Nr. –; § Abs. Nr. und
Firma, Sitz, Zweck und Gegenstand des Unternehmens
§ Abs. Nr. , Abs. ; § Abs. , § S. , § , § Abs. , § Abs. , § Abs.
Mitgliedschaft
§ Abs. ; § , § Abs.
Vorstand
§ Abs. ; § Abs. ; § Abs. , Abs.
Aufsichtsrat
§ Abs. Nr. ; § Abs. Nr. ; § Abs. S. , Abs. S. ; Generalversammlung § ; § a Abs. ; § ; § Abs. ; § Abs. § Abs. Nr. ; § ; § a; § a; § a Abs. ; § a Abs. S , Abs. ; § Abs. S. , Abs. ; § S.
Eigenkapital und Haftsumme
§ Abs. Nr. ; § Abs. ; §
Rechnungswesen
§ Abs. S. ; § Abs. ; § a Abs. S. ; § Abs. ; § Abs. ; § Abs. S.
Liquidation
§ Abs. Nr.
Bekanntmachungen Gerichtsstand Mitgliedschaften Übergangsvorschriften
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pöhlmann et al. (2012, GenG § 6 Rn 1) und Theurl und Schweinsberg (2004, S. 256–285).
Zudem regelt die Satzung das Eigenkapital der Genossenschaft und die Haftsumme und bestimmt damit wichtige Parameter für die Transaktion zwischen Mitglied und Genossenschaft. Auch das Rechnungswesen und die Bekanntmachungen der Genossenschaft sind neben weiteren Themen Teil der Mustersatzungen und damit auch Element in den meisten Genossenschaftssatzungen. Zusammengefasst ist die Satzung das zentrale Dokument, das als Grundlage für die Funktionsweise zahlreicher GovernanceMechanismen der Genossenschaft dient. Die Satzung eignet sich daher in besonderer Weise zur Untersuchung der genossenschaftlichen Governance.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung Nachdem im vorangegangenen Kapitel grundlegende Begriffe eingeführt wurden und die Governance als zentraler Gegenstand dieser Arbeit theoretisch verortet und
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
53
begrifflich konkretisiert wurde, wird es in diesem Kapitel um die Frage gehen, wie Governance entsteht. Im Folgenden ist die Vorstellung des Forschungsstands zur Entstehung von Governance Gegenstand, wobei sich diese Vorstellung – entsprechend des in dieser Arbeit gewählten theoretischen Hintergrunds – auf die Transaktionskostentheorie und ihre Weiterentwicklung beschränkt.398 Im Rahmen der Literaturübersicht wird auch auf hybride Organisationsformen und insbesondere Genossenschaften als Untersuchungsobjekte eingegangen. Es ist das Ziel dieses Kapitels, Theorielücken aufzuzeigen, von denen eine Auswahl in Kapitel 2.3 mit Forschungsfragen adressiert wird. Durch das Benennen von Theorielücken wird eine Substanziierung der eingangs bereits benannten Hauptforschungsfrage erreicht, die zusammen mit weiteren Teil-Forschungsfragen diese Arbeit leitet. Im folgenden Kapitel wird die einschlägige Literatur in Beiträge zur klassischen Transaktionskostentheorie und Beiträge zur empirischen Überprüfung und Weiterentwicklung der klassischen Transaktionskostentheorie unterschieden.399 Mit der klassischen Transaktionskostentheorie sind insbesondere die Arbeiten von Williamson gemeint, mit denen dieser die Transaktionskostentheorie in den 1970er-Jahren vorgestellt hat. Die zahlreichen Arbeiten, die diese erste Fassung der Transaktionskostentheorie empirisch prüfen, kritisieren und erweitern, werden hier als Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie behandelt. Auch Williamson selbst war an der Weiterentwicklung beteiligt, indem er auf Kritik teilweise mit Anpassungen seiner Theorie reagierte,400 weshalb Williamsons gesamtes Werk nicht trennscharf als die klassische Transaktionskostentheorie abgegrenzt werden kann. Die Literatur zur Governance-Entstehung behandelt eine Vielzahl von Aspekten und ist daher neben der oben genannten Unterteilung sinnvollerweise in ein weiteres Gliederungsschema zu ordnen.401 Das in dieser Arbeit angewandte zusätzliche
398 Vgl. Abschnitt 2.1.2.4. Solche Theorien, die das Governance-Konzept anders einrahmen oder alternative Erklärungen für die Entstehung von Governance bieten, bleiben hier aufgrund einer notwendigen Fokussierung und angestrebten Anschlussfähigkeit an die Transaktionskostentheorie unberücksichtigt. 399 Diese Differenzierung findet sich auch in der Literatur (vgl. Pirrong 1993, S. 940, und Weber und Mayer 2014, S. 345). 400 Vgl. Williamson 2010. 401 In Literaturübersichten werden beispielsweise Einteilungen in Anwendungskontexte der Theorie und methodische Verfahren der Theorieüberprüfung verwendet (vgl. Rindfleisch und Heide 1997). Zudem orientiert sich eine Literaturzusammenfassung in ihrer Gliederung an der Operationalisierung von Einflussfaktoren in der Literatur, sowie an Kombinationen von abhängigen und unabhängigen Variablen (vgl. David und Han 2004). Weiterhin gibt es Aufteilungen von Forschungsbeiträgen anhand ihrer Zugehörigkeit zu sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen (vgl. Macher und Richman 2008). Die Gliederung in den genannten Literaturübersichten erscheint indes für die vorliegende Arbeit nicht zweckmäßig, da diese spezifische Fragestellungen behandeln, die in dieser Arbeit nicht im Mittelpunkt stehen.
54
2 Theoretische Grundlagen
Ordnungsschema verfolgt die Absicht, die Einflussfaktoren für die Entstehung von Governance übersichtlicher zu gliedern und mit dem bereits im vorangegangenen Kapitel eingeführten Begriffsinstrumentarium zu verknüpfen. Hierzu wird auf eine Unterteilung der Organisationsgründungsforschung zurückgegriffen, welche die Opportunität, den Entrepreneur, die Umwelt und den Prozess unterscheidet.402 Die Organisationsgründungsforschung untersucht solche Ereignisse und Gegebenheiten, die zur Entstehung von neuen Organisationen führen.403 Sie hat dabei einen ganzheitlichen Blick auf die Entstehung von Organisationen, was der hier beabsichtigten Gliederung des Forschungsstands zuträglich ist. Deshalb soll die Taxonomie der Organisationsgründungsforschung für diese Arbeit genutzt werden, wobei sie mit Blick auf die bereits eingeführten Kategorien abgewandelt wird, um eine Einheitlichkeit der Begrifflichkeiten zu erreichen. Anstelle von Opportunität wird die Bezeichnung Transaktion verwendet und es wird anstelle von Entrepreneur das Konzept des Akteurs genutzt. Darüber hinaus wird die Kategorie Umwelt in Anlehnung an den später in der explorativen Untersuchung entwickelten Begriff des Gründungskontexts404 angepasst und hier durch den Kontextbegriff ersetzt. Dieser Vorgriff erlaubt in der weiteren Arbeit eine vereinfachte Bezugnahme zwischen dem Forschungsstand zur Governance-Entstehung und der empirischen Arbeit. Im folgenden Abschnitt findet zunächst eine Vorstellung der klassischen Transaktionskostentheorie statt, die in die Unterabschnitte Akteur, Transaktion, Kontext und Prozess gegliedert ist.
2.2.1 Klassische Transaktionskostentheorie 2.2.1.1 Akteur Die Entstehung von Governance wird in der klassischen Transaktionskostentheorie mit drei zentralen Verhaltensannahmen über den Akteur begründet. Hierbei handelt es sich um seine begrenzte Rationalität, seinen Opportunismus und seine Risikoneutralität.405 In der Festlegung eines Menschenbilds sieht Williamson einen
402 Diese Einteilung ist angelehnt an die Unterteilung bei Gartner (1985, S. 698–701) sowie Shane und Venkataraman (2000, S. 218). 403 Vgl. Katz und Gartner 1988, S. 429, und Carter et al. 1996, S. 152. 404 Mit dem Gründungskontext sind die relevanten gründungsbezogenen Einflussfaktoren gemeint, die nicht den Akteuren, der Transaktion oder dem Prozess zugeordnet werden können (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4). 405 Vgl. Williamson 1990, S. 49–59 und S. 326. Eine weitere Verhaltensannahme, die in Williamsons früher Arbeit genannt wird, soll hier nur am Rand erwähnt sein: Williamson (1973, S. 317) bezeichnete mit dem Konzept „Athmosphere“ den Umstand, dass die Akteure insgesamt heterogene Präferenzen haben, beispielsweise im Hinblick auf Governance-Strukturen. Allerdings wird diese Verhaltensannahme in der weiteren Theorieentwicklung nicht berücksichtigt, da Williamson die UrsacheWirkungszusammenhänge der Transaktionskostentheorie später zuvorderst auf Opportunismus und
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
55
zentralen Baustein seines methodischen Vorgehens.406 Insbesondere die begrenzte Rationalität und der Opportunismus nehmen einen gewichtigen Platz in der Argumentation der klassischen Transaktionskostentheorie ein.407 Die Verhaltensannahme der begrenzten Rationalität besagt, dass die Akteure rational handeln, wenngleich ihre Rationalität durch ihre kognitiven Fähigkeiten beschränkt ist.408 Ihr Verhalten kann folglich als nur begrenzt rational charakterisiert werden.409 Ein Bewusstsein dieser Akteurseigenschaft ist bei der Wahl einer Governance-Struktur von großer Wichtigkeit:410 Die Governance-Struktur muss dazu in der Lage sein, Probleme aus kognitiven Defiziten zu kompensieren, die beispielsweise dadurch entstehen, dass die Transaktionspartner nur eingeschränkt dazu in der Lage sind, alle Zukunftsszenarien und ihre Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.411 Die Verhaltensannahme des Opportunismus bringt zum Ausdruck, dass die Akteure ihr Eigeninteresse verfolgen, wobei ihr nutzenmaximierendes Verhalten durchtrieben sei.412 Allerdings meint Williamson mit Opportunismus nicht ausschließlich extreme Formen wie Betrug oder Diebstahl, sondern vor allem schwächere Formen listigen und eigennützigen Verhaltens sowohl vor Vertragsschluss als auch nach Vertragsschluss.413 Opportunismus konkretisiert Williamson deshalb als „die Verfolgung des Eigeninteresses unter Zuhilfenahme von List“414, welche als besonders ausgeprägte Form der Nutzenmaximierung zu verstehen ist.415 Zum Schutz vor Opportunismus und der daraus resultierenden Verhaltensunsicherheit wird Governance notwendig. Als weit seltener diskutierte Verhaltensannahme findet sich in der klassischen Transaktionskostentheorie die Risikoneutralität, womit die Homogenität der Akteure hinsichtlich ihrer Neigung, Risiken einzugehen, gemeint ist.416 Trotz des offensichtlichen Widerspruchs dieser Annahme zur Realität rechtfertigt Williamson sie damit, dass vorwiegend Handlungen von Unternehmen untersucht werden, die sich
begrenzte Rationalität zurückführt (vgl. Williamson 1990, S. 57, Williamson 1993, S. 458, und Nooteboom et al. 1997, S. 310). Aufgrund ihrer geringen weiteren Bedeutung wird „Athmosphere“ hier nicht gesondert als weitere Verhaltensannahme der klassischen Transaktionskostentheorie erörtert. 406 Vgl. Williamson 2009, S. 150–151. 407 Vgl. Williamson 1973, S. 319, und Williamson 1990, S. 49–59. 408 Vgl. Williamson 1990, S. 50–53, und Simon 1955, S. 99 und S. 114. 409 Vgl. Simon 1955, S. 99. 410 Vgl. Williamson 2000, S. 600, und Rindfleisch und Heide 1997, S. 48. 411 Vgl. Williamson 1990, S. 51–53. 412 Vgl. Williamson 1990, S. 54. 413 Vgl. Williamson 1990, S. 53–57. 414 Williamson 1990, S. 54. 415 Vgl. Williamson 1990, S. 54–55. 416 Williamson (1990, S. 327) sieht in der Verhaltensannahme der Risikoneutralität nur einen Status quo für seine Theorie. Zu späteren Zeitpunkten sollte auch über heterogene Risikoneigungen und ihre Rolle innerhalb der Transaktionskostentheorie nachgedacht werden (vgl. Williamson 1990, S. 327, und Kieser und Ebers 2006, S. 298–299). Auch deshalb hatte schon in der klassischen
56
2 Theoretische Grundlagen
hinsichtlich des Risikos so aufstellen, dass sie der Risikoneigung ihrer Eigentümer entsprechen.417 Das führe dazu, dass die unterschiedlichen Risikopräferenzen der Akteure im Handeln des Unternehmens weniger stark zum Tragen kämen.418 Zudem könnte die Heterogenität in Bezug auf Risikopräferenzen gesondert behandelt werden.419 Williamson rechtfertigt seine Annahme auch damit, dass die Thematisierung heterogener Risikopräferenzen zu konkurrierenden Erklärungen führen könnte und der Zusammenhang zwischen Transaktionsdimensionen420 und der Wahl einer effizienten Governance-Struktur undeutlich würde.421 Die genannten Verhaltensannahmen begründen den organisatorischen Imperativ,422 der der klassischen Transaktionskostentheorie zugrunde liegt: „Taken together, the lessons of bounded rationality and opportunism lead to the following combined result: organize transactions so as to economize on bounded rationality while simultaneously safeguarding them against the hazards of opportunism.“423 Dadurch wird die Ursache für die Auswahl von Markt oder Unternehmen grundsätzlich mit den Verhaltensannahmen begrenzter Rationalität und Opportunismus begründet. 2.2.1.2 Transaktion Aus dem geschilderten Menschenbild leitet Williamson Unsicherheit ab, mit der Folge des Kooperationsproblems und daraus resultierenden Transaktionskosten,424 die jedoch in Abhängigkeit der Eigenschaften der beabsichtigten Transaktion variieren.425 Die Kernhypothese der klassischen Transaktionskostentheorie besagt nun, dass die Transaktion426 die entstehende Governance determiniert. Die GovernanceStruktur wird also vor allem in Abhängigkeit der Eigenschaften der Transaktion
Transaktionskostentheorie die Verhaltensannahme der Risikoneutralität keine prominente Position inne (vgl. Williamson 1990, S. 326–327). 417 Vgl. Williamson 1990, S. 326. 418 Vgl. Williamson 1990, S. 326. 419 Vgl. Williamson 1990, S. 326. 420 Vgl. Abschnitt 2.2.1.2. 421 Vgl. Williamson 1990, S. 326–327. 422 Vgl. Williamson 1990, S. 36. Das Konzept des organisatorischen Imperativs meint hier folglich eine Handlungsmaxime, an welcher sich die Transaktionspartner orientieren sollten. 423 Williamson 1993, S. 459. 424 Das in Abschnitt 2.1.1.4 vorgestellte Kooperationsproblem wird hier auf die Ursachen begrenzte Rationalität und Opportunismus zurückgeführt. 425 Vgl. Williamson 1990. 426 Die klassische Transaktionskostentheorie bezieht sich bei Transaktionen eher auf Zwischenprodukte als auf Endprodukte (vgl. Williamson 1990, S. 326–327). Transaktionen von Endprodukten (vgl. Raz-Yurovich 2014, Müller und Sagebiel 2015 und Rommel et al. 2016) sind eher Gegenstand der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
57
errichtet.427 Die klassische Transaktionskostentheorie postuliert, dass alle anderen Einflussfaktoren, die zur Erklärung der Entstehung von Governance herangezogen werden können, eher zu vagen Aussagen führen, und begreift deshalb die Transaktion als die primäre erklärende Variable.428 Zur Charakterisierung der Transaktion wurden die drei Dimensionen Faktorspezifität, Unsicherheit und Häufigkeit von Williamson eingeführt.429 Wie es zu der Auswahl der Dimensionen kam, kann anhand der Literatur nur teilweise nachvollzogen werden. Williamson begründet die Auswahl der Unsicherheit als Transaktionsdimension damit, dass diese ein weithin anerkanntes Attribut von Transaktionen sei.430 Auch die Begründung für die Häufigkeit als Transaktionsdimension ist bei Williamson mit einem Verweis auf ihre offensichtliche Bedeutung431 eher oberflächlich. Die Transaktionsdimension von größter Wichtigkeit für die Entstehung von Governance ist nach Williamson die Spezifität der Produktionsfaktoren, welche eine starke Abgrenzung zu anderen Theorien der Organisation ermöglicht und auf die Existenz von Quasi-Renten432 zurückgeführt wird.433 Die Faktorspezifität434 bezeichnet den Grad, zu dem die Produktionsfaktoren speziell auf die Transaktion zugeschnitten sind.435 Das bedeutet, dass die Produktionsfaktoren sich im Extremfall nur zur Durchführung einer Transaktion eignen und somit in Williamsons Worten eine „Einzweckinvestition“436 darstellen. Einzweckinvestitionen unterscheiden sich von Mehrzweckinvestitionen dadurch, dass sie für die Transaktion meist passender, also insgesamt günstiger sind, aber ihre Anschaffung gleichzeitig das Risiko birgt, bei einer Transaktionsstörung oder einem Transaktionsabbruch verloren zu sein, weil kein alternatives Verwendungsszenario existiert.437 Mit dem Transaktionsabbruch durch eine Vertragspartei ergibt sich bei
427 Vgl. Williamson 1973, S. 317–318, oder Williamson 1979, S. 261. 428 Vgl. Williamson 2009, S. 151. 429 Vgl. Williamson 1990, S. 59. 430 Vgl. Williamson 1979, S. 239. 431 Vgl. Williamson 1979, S. 239. 432 Mit Quasi-Renten sind Erlöse gemeint, die durch eine spezifische Verwendung von Produktionsfaktoren entstehen und die durch eine alternative Verwendung der Produktionsfaktoren an anderer Stelle (ohne dieselbe spezifische Verwendung) nicht erzielt werden könnten (vgl. Williamson 1990, S. 60). 433 Vgl. Williamson 1990, S. 59–61. 434 Die Transaktionsdimension Faktorspezifität wurde anfänglich unter dem Konzept der kleinen Fallzahlen subsumiert, wobei spezifisches Humankapital bereits als Transaktionsdimension benannt war (vgl. Williamson 1973, S. 318, und Williamson 1975, S. 26–29). Williamson (1979, S. 240) bezeichnet spezifische Investitionen auch als „idiosynkratrische“ Investitionen. 435 Vgl. Williamson 1979, S. 239–240. 436 Vgl. Williamson 1990, S. 61. 437 Vgl. Williamson 1990, S. 61.
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spezifischen Produktionsfaktoren folglich die Gefahr des Kapitalverlusts.438 Um diese Gefahr zu verringern und potenzielle Transaktionskosten durch Nachverhandlungen einzusparen, bietet sich der Zusammenschluss der Transaktionspartner an.439 Die These der klassischen Transaktionskostentheorie ist, dass eine Erhöhung der Faktorspezifität ceteris paribus (c. p.) dazu führt, dass die Akteure eher Unternehmen wählen, um eine Transaktion zu organisieren.440 Die Ausprägung der Faktorspezifität beeinflusst somit die Auswahl geeigneter Governance-Strukturen. Das Unsicherheitskonzept wird von Williamson in allgemeine Unsicherheit und Verhaltensunsicherheit unterteilt. Die allgemeine Unsicherheit beschreibt die Unkalkulierbarkeit der zukünftigen Umwelt.441 Die Verhaltensunsicherheit bezeichnet den Mangel an Erwartbarkeit in Bezug auf das Verhalten der Akteure.442 Das Konzept der Unsicherheit ist bei Williamson eng mit seinen Verhaltensannahmen der begrenzten Rationalität und des Opportunismus verknüpft.443 Durch die begrenzte Rationalität kann der Akteur nicht alle Eventualitäten voraussehen, weshalb allgemeine Unsicherheit besteht.444 Der Opportunismus ist ursächlich für die Unsicherheit bezüglich des Verhaltens von Transaktionspartnern.445 Mit steigender Unsicherheit steigen die Transaktionskosten sowohl vor Vertragsschluss als auch nach Vertragsschluss, was eher Unternehmen als zweckmäßig zur Durchführung von Transaktionen erscheinen lässt.446 Nach Auffassung von Williamson ergibt sich zudem ein Zusammenhang mit der Faktorspezifität von Transaktionen:447 Ohne Unsicherheit wäre die Wirkung der Faktorspezifität zu vernachlässigen, da die Gefahr der Störung der Transaktion und der Verlust von investiertem Kapital unwahrscheinlich wäre.448 Mit der Häufigkeit als Transaktionsdimension meint Williamson die Frequenz von Transaktionen.449 Durch die Häufigkeit einer Transaktion lassen sich besonders
438 Vgl. Williamson 1990, S. 62. 439 Vgl. Williamson 1990, S. 63–64. 440 Vgl. Williamson 1975, S. 28–29, und Williamson 1990, S. 88–89. Es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass hierarchische Governance-Strukturen aufgrund der notwendigen internen Koordination ebenfalls Transaktionskosten in Form von Governance-Kosten (vgl. Abschnitt 2.1.1.5) mit sich bringen. Die Hierarchie im Unternehmen ist keineswegs kostenlos zu haben, jedoch kann sie vergleichsweise günstiger sein als die Transaktionskosten, die mit einer Markttransaktion einhergehen (vgl. Abschnitt 2.1.3.1). 441 Vgl. Williamson 1990, S. 64–65. 442 Vgl. Williamson 1990, S. 65–68. 443 Vgl. Abschnitt 2.2.1.1. 444 Vgl. Williamson 1990, S. 65. 445 Vgl. Williamson 1990, S. 66. 446 Vgl. Williamson 1990, S. 89–91. 447 Vgl. Williamson 1979, S. 253–254, Williamson 1990, S. 89–91, und David und Han 2004, S. 45. 448 Vgl. Williamson 1990, S. 68 und S. 89–91. 449 Vgl. Williamson 1979, S. 239 und S. 246.
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aufwändige Governance-Strukturen wie Unternehmen rechtfertigen, da die Kosten solcher Beherrschungs- und Überwachungssysteme450 auf mehrere Transaktionen aufgeteilt werden können, was die Realisierung von Skaleneffekten erlaubt.451 Folglich sind die Investitionsausgaben für die Errichtung eines Unternehmens bei wiederholten Transaktionen einfacher zu amortisieren als bei einer einzelnen Transaktion.452 Die Häufigkeit, mit der eine Transaktion durchgeführt wird, spielt deshalb ebenso eine Rolle dabei, ob eher ein Unternehmen oder der Markt zur Durchführung von Transaktionen Verwendung findet.453 2.2.1.3 Kontext Die klassische Transaktionskostentheorie beschränkte sich in ihrer Analyse vorwiegend auf den Zusammenhang zwischen Transaktion und Governance-Struktur unter Einbezug der Verhaltensannahmen über den Akteur.454 „Obwohl die Bedingungen der Unsicherheit, der die Transaktionen unterliegen, und die gesellschaftsspezifische Einbettung von Transaktionen (Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, Rechtsinstitutionen) sowohl die ex-ante- wie die ex-post-Kosten des Vertrags beeinflussen, werden diese Merkmale in der Regel als gegeben angenommen.“455 Bis auf wenige Randnotizen456 klammert Williamson Kontextfaktoren aus. Beispielsweise erwähnt er den potenziellen Einfluss von Faktoren, die dem Sozialkapital zugeordnet werden können: Mit Bezugnahme auf Arrow457 vermutet er, dass in einer Region, in der mehr Vertrauen existiert, Unternehmen zur Transaktionsabwicklung unwahrscheinlicher wären.458 Auch implizit finden sich in der klassischen Transaktionskostentheorie Ansätze zur Einbeziehung von Kontextfaktoren: Die Anlehnung an das Vertragsrecht zur Unterscheidung von Governance-Strukturen richtet sich zwar in erster Linie darauf, dieselben voneinander abzugrenzen,459 jedoch wird dadurch zugleich eine Verbindung zu erwartungsstabilisierenden Mechanismen des Rechtsstaats hergestellt. Trotz dieser Verweise muss für die klassische Transaktionskostentheorie insgesamt konstatiert werden, dass diese den Einfluss von Kontextfaktoren weitgehend ignoriert.
450 Vgl. Fußnote 176. 451 Vgl. Williamson 1990, S. 69. 452 Vgl. Williamson 1979, S. 246. 453 Vgl. Williamson 1990, S. 69. 454 Vgl. Williamson 1979, Williamson 2000, S. 599, und Abschnitt 2.2.1. 455 Williamson 1990, S. 325. 456 Vgl. Williamson 1975, S. 39–40. 457 Vgl. Arrow 1969. 458 Vgl. Williamson 1971, S. 122. 459 Vgl. Williamson 1979, S. 235–238 und S. 261.
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2.2.1.4 Prozess Wenngleich sich die klassische Transaktionskostentheorie auf die Erklärung von bestehenden Organisationen konzentriert,460 so bietet sie ebenfalls ein prozessuales Erklärungsmodell zum Ablauf einer Transaktion und damit zur Entstehung von Governance. Zur Analyse trennt Williamson diese in zwei Phasen: eine Phase vor Vertragsschluss (ex ante) und eine Phase nach Vertragsschluss (ex post).461 Der Vertragsschluss markiert den Zeitpunkt, zu dem die Akteure sich durch kongruente Willensäußerungen rechtlich binden und es je nach Art der Transaktion zu einer fundamentalen Transformation kommt.462 Damit wird der Übergang von einer Marktsituation, in der sich Anbieter und Nachfrager frei gegenüberstehen, hin zu einem bilateralen Monopol bezeichnet.463 Der Vertragsschluss markiert den Zeitpunkt, zu dem die Akteure sich verbindlich für eine Governance-Struktur zur Transaktionsabwicklung entschieden haben.464 In beiden Phasen können unterschiedliche Transaktionskosten zum Tragen kommen, welche die Entstehung von Governance determinieren.465 Die klassische Transaktionskostentheorie legt ihren Fokus dabei auf die Phase nach Vertragsschluss, was insbesondere auf die Verhaltensannahmen der Theorie zurückzuführen ist.466 Auch wenn das in der klassischen Transaktionskostentheorie angelegte Prozessmodell nur als grobes Schema dienen kann, ergibt sich aus der skizzierten Unterteilung eine Orientierung für die weitere Untersuchung des Governance-Entstehungsprozesses.
460 Vgl. Zajac und Olsen 1993. 461 Vgl. Williamson 1990, S. 70–72 und S. 331. 462 Vgl. Williamson 1990, S. 70–72. 463 Allerdings ist von einer fundamentalen Transformation nur dann zu sprechen, so Williamson (1990, S. 70–72), wenn die Transaktion mit einer Investition in hinreichend spezifische Produktionsfaktoren verbunden ist. Eine Transaktion, bei der keine spezifischen Produktionsfaktoren notwendig sind, ermöglicht den Vertragspartnern, auch nach Vertragsschluss auf Angebote des Wettbewerbes zu reagieren (vgl. Williamson 1990, S. 70–72). 464 Vgl. Williamson 1990, S. 22, und Kieser und Ebers 2006, S. 284. Bezugnehmend auf Abschnitt 2.1.1.3 kann die Transaktion durch die Untersuchung des Vertrags nachvollzogen werden, da dieser das Ergebnis der Ex-ante-Phase ist und zugleich festlegt, wie ex post – nach Vertragsschluss – zu verfahren ist. 465 Vgl. Williamson 1990, S. 22. 466 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 278–279. Ex-post Abweichungen von getroffenen Vereinbarungen sind beispielsweise durch die Verhaltensannahme des Opportunismus wahrscheinlich, da die Transaktionspartner immer wieder versuchen werden, die getroffenen Vereinbarungen zu ihren Gunsten auszulegen (vgl. Williamson 1990, S. 36). Mit dem Fokus auf der Phase nach Vertragsschluss grenzt sich Williamson auch von der Agency-Theorie ab, die für einmal geschlossene Verträge nur noch die gerichtliche Auseinandersetzung zur Anpassung beschreibt (vgl. Williamson 1990, S. 92).
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2.2.1.5 Kritische Würdigung Das Grundmodell der klassischen Transaktionskostentheorie konzentriert sich auf die Beschreibung des Zusammenhangs zwischen den Verhaltensannahmen, den Transaktionsdimensionen sowie den Governance-Strukturen Markt und Unternehmen. Aufgrund der Verhaltensannahmen sind Transaktionskosten wahrscheinlich, die je nach Ausprägung der Transaktionsdimensionen Faktorspezifität, Unsicherheit und Häufigkeit variieren und durch die Auswahl von entweder Markt oder Unternehmen zur Transaktionsabwicklung begrenzt werden können. Die Auswahl einer Governance-Struktur ist für den Transaktionserfolg entscheidend: Je nach Ausprägung der Transaktionsdimensionen sind Markt oder Unternehmen besser oder schlechter geeignet, transaktionskosteneffizient dafür zu sorgen, dass die Transaktionspartner kooperieren. Mithilfe der Transaktionsdimensionen kann also erklärt werden, warum für manche Transaktionen Preismechanismen zur Steuerung gewählt werden und für andere Transaktionen eine steuernde Hierarchie.467 Die Beobachtung von Coase, dass die Existenz von Märkten und Unternehmen auf Transaktionskosten zurückzuführen ist, wird folglich durch Williamsons klassische Transaktionskostentheorie erklärt, indem die Ursachen benannt werden.468 Die Governance-Entstehung wird als Auswahl einer der diskreten GovernanceStrukturalternativen Markt und Unternehmen vorgestellt. Der Untersuchungsansatz der klassischen Transaktionskostentheorie ist deshalb als komparative Forschung zur Organisation von Transaktionen anzusehen.469 Zusammenfassend kann Abbildung 2 als Grundmodell der klassischen Transaktionskostentheorie verstanden werden. Mit der klassischen Transaktionskostentheorie wurde ein wesentlicher Beitrag zur Erforschung des Kooperationsproblems und seiner Lösung geleistet. Die klassische Transaktionskostentheorie geht zu einem entscheidenden Teil auf die Arbeit von Williamson zurück.470 Es ist an dieser Stelle jedoch zu bemerken, dass Williamson für die klassische Form der Transaktionskostentheorie keineswegs einen Vollständigkeitsanspruch erhoben hat.471 Diese Einschätzung erwies sich als zutreffend, was die überaus starke Thematisierung seiner Theorie in den Wirtschaftswissenschaften zeigt und an den zahlreichen Beiträgen abzulesen ist, die an das Werk von Williamson anknüpfen. Die Kritik an der klassischen Transaktionskostentheorie bezog sich weniger auf die bei Williamson im Zentrum stehenden Transaktionsdimensionen, die in weiteren Arbeiten vor allem empirisch überprüft und durch weitere Subdimensionen
467 Vgl. Abschnitt 2.1.3.1. 468 Vgl. Williamson 2010, S. 673 und Abschnitt 2.1.3.1. 469 Vgl. Williamson 1975, S. 20. 470 Dies war Anlass für die Verleihung des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften an Oliver Williamson zusammen mit Elinor Ostrom im Jahr 2009. 471 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 298.
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2 Theoretische Grundlagen
ex ante
Akteur – Begrenzte Rationalität – Opportunismus – Risikoneutralität
Wirkung
ex post
Unternehmen Entstehung der Governance – Organisatorischer Imperativ Markt Transaktion – Faktorspezifität – Unsicherheit – Häufigkeit
Abbildung 2: Grundmodell der klassischen Transaktionskostentheorie. Quelle: Eigene Darstellung.
ausdifferenziert wurden.472 Viel stärker thematisierte die Kritik die Verhaltensannahmen,473 die Williamson voraussetzte und auf denen er besonders stark beharrt.474 Das Akteurskonzept wurde damit zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung der klassischen Transaktionskostentheorie.475 Dies betraf sowohl die Annahmen über das Verhalten des Akteurs als auch verschiedene weitere Aspekte, wie die als zu einseitig kritisierte Fokussierung auf einen Transaktionspartner in dyadischen Transaktionen.476 Ebenso wurde in der Literatur die mangelnde Beachtung von Kontextfaktoren moniert. Diese Tatsache löste vor allem Kritik in Kreisen der ökonomischen Soziologen477 und der Wirtschaftshistoriker478 aus. Aus beiden Strömungen wurde eingewendet, dass Governance-Strukturen ohne eine Einbettung in ein Geflecht aus sozialen Beziehungen479 und ohne die Wirkung von übergeordneten erwartungsstabilisierenden Mechanismen480 nicht entstehen könnten und die Transaktionskostentheorie durch das Ausklammern des Kontexts unvollständig sei.481 Obgleich
472 Hieran war Williamson selbst maßgeblich beteiligt (vgl. Abschnitt 2.2.2.2). 473 Vgl. Ghoshal und Moran 1996, S. 13. 474 Vgl. Williamson 1993, S. 485–486, und Williamson 2005, S. 7–8. 475 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1.4. 476 Vgl. Zajac und Olsen 1993. 477 Vgl. Granovetter 1985. 478 Vgl. North 1988. 479 Vgl. Granovetter 1985, S. 481–482. 480 Vgl. North 1991, S. 4–5. 481 Vgl. Hill 1995, S. 119.
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auch in der klassischen Transaktionskostentheorie Kontextfaktoren am Rande thematisiert werden,482 ist sie durch diese Vernachlässigung in ihrer Erklärungskraft geschwächt.483 In der klassischen Transaktionskostentheorie ist zwar ein Prozessmodell angelegt, und Williamson erachtet eine Analyse des Vertragsentwicklungsprozesses als wichtig,484 jedoch werden Unterschiede des Governance-Entstehungsprozesses nicht als Ursache für Governance-Strukturunterschiede angesehen.485 Die Entstehung von Governance wird als Wahlentscheidung zwischen generischen Governance-Strukturen aufgefasst.486 Die klassische Transaktionskostentheorie wird damit zu einer Posthoc-Erklärung für die Existenz von Markt und Unternehmen, die allerdings nicht darlegt, wie es beispielsweise zur Entwicklung der Organisationsgrenze kommt.487 Eine Prozessperspektive auf die Entstehung von Governance erscheint jedoch insbesondere für hybride Organisationsformen besonders notwendig.488 Allerdings war die Erklärung von hybriden Organisationsformen nicht Gegenstand der klassischen Transaktionskostentheorie. Genossenschaften wären in der klassischen Transaktionskostentheorie als Unternehmen eingestuft worden und nicht als hybride Organisationsformen.489 Die genossenschaftliche Governance wurde in der klassischen Transaktionskostentheorie nicht untersucht. Eine stärkere Ausdifferenzierung der abhängigen Variable Governance entstand erst mit der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie.490 Generell lässt sich die Kritik an der klassischen Transaktionskostentheorie so zusammenfassen: dass 1. ausreichende empirische Belege fehlten, 2. die Faktoren, die zur Governance-Entstehung beitragen, teils nur rudimentär skizziert waren und sich 3. die klassische Transaktionskostentheorie auf die generischen Governance-Strukturen Markt und Unternehmen beschränkte. Fragen bestanden folglich hinsichtlich der Gültigkeit der Theorie, ihrer Vollständigkeit und ihres Untersuchungsbereichs. Im folgenden Abschnitt wird näher auf diese Fragen eingegangen, indem empirische Befunde vorgestellt und Weiterentwicklungen thematisiert werden.
482 Vgl. Williamson 1990, S. 25–26. 483 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 301–303. Siehe auch Granovetter 1985, Zald 1987 und Martin 1993. 484 Vgl. Williamson 1976a, S. 74, Williamson 1993, S. 485, und Williamson 1996, S. 11. 485 Vgl. Bylund 2015, S. 221–222. 486 Vgl. Williamson 1975, S. 20. 487 Vgl. Borys und Jemison 1989, S. 240. 488 Vgl. Fornell et al. 1990, S. 1246. 489 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.2. 490 Vgl. Abschnitt 2.2.2.
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2.2.2 Empirische Befunde und Weiterentwicklungen der klassischen Transaktionskostentheorie 2.2.2.1 Akteur 2.2.2.1.1 Verhaltensannahmen Die Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie greift die zugespitzte und inhaltlich reduzierte Betrachtungsweise des Akteurs in der klassischen Transaktionskostentheorie durch Kritik, empirische Untersuchungen und konzeptionelle Erweiterungen auf. Die Arbeiten werden zur besseren Übersichtlichkeit in drei Bereiche untergegliedert: Untersuchungen zu den Verhaltensannahmen, Veränderungen im Hinblick auf die Anzahl der an der Transaktion beteiligten Akteure sowie Arbeiten zu weiteren Akteurseigenschaften wie Macht, Reputation und Erfahrung. Die Verhaltensannahmen sind Gegenstand einer fortwährenden kritischen Debatte,491 die sich aus der Argumentation speist, dass die Verhaltensannahmen die tatsächlich beobachtbaren Eigenschaften des Akteurs nicht voll erfassen und teilweise sogar im Widerspruch zu diesen stehen. Simon, der mit seinen Untersuchungen zur begrenzten Rationalität von Akteuren eine zentrale Referenz für Williamsons Verhaltensannahmen ist, kritisiert, dass es sich bei diesen um Ad-hocFestlegungen handle, die zu wenig empirisch fundiert seien.492 In ähnlicher Weise bemängeln Ghoshal und Moran an der klassischen Transaktionskostentheorie, dass auch für empirische Tests der Transaktionskostentheorie häufig nicht klar sei, ob die postulierten Verhaltensannahmen tatsächlich ursächlich für das beobachtbare Verhalten der Akteure sind oder andere Faktoren dieses determinieren.493 Gleichzeitig würde die Transaktionskostentheorie eine starke normative Wirkung entfalten und dazu beitragen, dass Verhaltensannahmen wie der Opportunismus von Akteuren in realen Beziehungen pauschal unterstellt wird.494 Dabei ließe sich die Theorie auch bei Modifikation der zugrunde liegenden Verhaltensannahmen beibehalten, wie für die Einführung von Risikoheterogenität und Vertrauen in das Modell der Transaktionskostentheorie gezeigt werden kann.495 Somit muss hier konstatiert werden, dass zum einen die Annahmen der Transaktionskostentheorie umstritten sind und gleichzeitig die Notwendigkeit der Festlegung von Verhaltensannahmen infrage gestellt wird.
491 Vgl. Ghoshal und Moran 1996, S. 14. 492 Vgl. Simon 1991, S. 27. 493 Vgl. Ghoshal und Moran 1996, S. 40. 494 Vgl. Ghoshal und Moran 1996, S. 13–15 und S. 39. 495 Chiles und McMackin (1996, S. 91) argumentieren, dass die Berücksichtigung von Vertrauen und Risikoheterogenität als Akteurseigenschaften dazu führt, dass die Akteure andere GovernanceStrukturen auswählen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Modell der Transaktionskostentheorie nicht in der Lage wäre, diese Modifikationen abzubilden (vgl. Chiles und McMackin 1996, S. 96).
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Die Verhaltensannahmen sind nicht nur Anlass für Kritik, sondern werden auch zur Weiterentwicklung der Theorie genutzt. Eine empirische Untersuchung verdeutlicht beispielsweise, dass Opportunismus kein statisches Konzept, sondern von Entscheidungssituationen abhängig ist.496 Andere Arbeiten finden unterschiedlich stark ausgeprägten Opportunismus und können zeigen, dass sich die Varianz im Opportunismus der Akteure auf die Vertragsgestaltung auswirkt.497 Zudem kann empirisch ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Opportunismus und der Kultur, in der eine Transaktion stattfindet, nachgewiesen werden, was die universelle Gültigkeit von Opportunismus weiter unterminiert.498 Auch stellt sich heraus, dass die Risikoneigung zwischen Dienstleistungsunternehmen und produzierenden Unternehmen unterschiedlich ist.499 Darüber hinaus sind Governance-Strukturen selbst mit divergierender Unsicherheit verbunden: Die Unsicherheit steigt bei stärker integrierten hybriden Organisationsformen an, da die Transaktionspartner eher dem Opportunismus des anderen Akteurs ausgesetzt sind, ohne gleichzeitig dem Schutz einer steuernden Hierarchie zu unterstehen.500 Damit steigt die Wahrscheinlichkeit an, dass Akteure mit höherer Risikopräferenz eher bereit sind, hybride Organisationsformen auszuwählen.501 Weiterhin gibt es Versuche, der Kritik an den Verhaltensannahmen der Transaktionskostentheorie zu begegnen, indem neue Verhaltensannahmen eingeführt werden, wie beispielsweise das Konzept der „bounded reliability“502 anstelle des Opportunismus. Die vorgenannten Arbeiten verdeutlichen, dass eine unkritische Übernahme der Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie unzureichend ist. Ein Literaturüberblick von Tsang kommt zu einem ähnlichen Fazit, nachdem er den entstandenen Diskurs zu den Verhaltensannahmen nachgezeichnet und als zu theoretisch eingestuft hat.503 Es würden zu selten die Verhaltensannahmen tatsächlich empirisch überprüft.504 In den meisten empirischen Untersuchungen werden die Verhaltensannahmen ohne kritische Würdigung vorangestellt oder gar nicht thematisiert, weshalb Tsang die empirische Transaktionskostentheorieforschung als „Verhaltensannahmen-unbewusst“ kritisiert.505 Zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie im Umgang mit den Verhaltensannahmen schlägt er zwei Wege vor: Entweder
496 Vgl. Steensma und Corley 2001. 497 Vgl. Lumineau und Quélin 2012, S. 55. 498 Vgl. Chen et al. 2002, S. 567. Handley und Angst (2015) zeigen in ihrer Arbeit, dass Opportunismus in verschiedenen Kulturen variiert und Governance-Strukturen – abhängig vom kulturellen Kontext – unterschiedlich effektiv hinsichtlich der Reduktion von Opportunismus sind. 499 Vgl. Brouthers und Brouthers 2003, S. 1179. 500 Vgl. Masters et al. 2004, S. 51–52. 501 Vgl. Masters et al. 2004, S. 53 und S. 61. 502 Verbeke und Greidanus 2009, S. 1471. 503 Vgl. Tsang 2006. 504 Vgl. Tsang 2006, S. 1005–1006. 505 Vgl. Tsang 2006, S. 1005–1006.
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sollten empirische Arbeiten einen Test der postulierten Verhaltensannahmen einschließen oder es sollten – ohne das Voranstellen von Verhaltensannahmen – zunächst die interessierenden Zusammenhänge explorativ untersucht werden, um diese dann in Hypothesen zu überführen und zu testen.506 Die Verhaltensannahmen sind somit ein vielversprechender Ausgangspunkt, von dem aus die Transaktionskostentheorie weiterentwickelt werden kann. Im Rahmen der Forschung zu den Verhaltensannahmen kam es – wie generell bei der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie – auch zu einer Untersuchung von Governance-Strukturen jenseits von Markt und Unternehmen.507 Für die Genossenschaft wird insbesondere die Verhaltensannahme des Opportunismus in der Literatur thematisiert. Opportunismus der Vertragspartner wird als Ursache für die Verlagerung von Markttransaktionen in Genossenschaften angesehen.508 Auch die Umwandlung von IOFs in Genossenschaften gilt als Instrument zur Reduktion des Opportunismus zwischen IOFs und ihren Vertragspartnern.509 Allerdings wird in diesen Arbeiten Opportunismus – analog zur Argumentation der klassischen Transaktionskostentheorie – als Ursache für die Auswahl bestimmter GovernanceStrukturen, in diesem Fall der Genossenschaft, betrachtet. Nur vereinzelt findet eine explizite Diskussion der Verhaltensannahmen statt, indem beispielsweise der innerhalb der Genossenschaft vorherrschende Opportunismus von einem Opportunismus unterschieden wird, der außerhalb der Genossenschaft vorzufinden ist.510 Transaktionskostentheoretische Untersuchungen zu Genossenschaften gehen, bis auf die genannte Ausnahme, mit den Verhaltensannahmen insgesamt eher unkritisch um, indem diese meist pauschal unterstellt werden. 2.2.2.1.2 Anzahl der Akteure Ein weiterer zentraler Kritikpunkt an dem Akteurskonzept der klassischen Transaktionskostentheorie kommt von Zajac und Olsen: Sie kritisieren den Fokus der klassischen Transaktionskostentheorie auf Transaktionen zwischen zwei Akteuren und die dabei meist bestehende Beschränkung auf einen Transaktionspartner.511 Gruppen oder Netzwerke werden in der klassischen Transaktionskostentheorie nicht berücksichtigt, weshalb sich die Frage stellt, ob die klassische Transaktionskostentheorie auf solche Fälle anwendbar ist.512 In empirischen Untersuchungen zeigt sich indes, dass die Erhöhung der Anzahl der beteiligten Akteure an einer Allianz sich auch auf die entstehende 506 Vgl. Tsang 2006, S. 1007–1008. 507 Vgl. Brouthers und Brouthers 2003, oder Lumineau und Quélin 2012. 508 Vgl. Staatz 1987a, S. 88–89, und Cook 1995, S. 1155. 509 Vgl. Hansmann 1996, S. 29, und Müller und Sagebiel 2015. 510 Vgl. Iliopoulos und Valentinov 2012. 511 Vgl. Zajac und Olsen 1993, S. 131. 512 Vgl. Geyskens et al. 2006, S. 520.
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Governance-Struktur auswirkt, indem die Wahrscheinlichkeit für eine stärkere Integration ansteigt.513 Multilaterale Allianzen basieren im Gegensatz zu bilateralen Allianzen eher auf Überkreuz-Eigenkapitalbeteiligungen als auf Verträgen.514 Dieses Ergebnis ist jedoch nicht eindeutig, da andere Autoren keinen signifikanten Effekt durch die Anzahl der an einer Allianz beteiligten Akteure auf die Governance-Strukturentscheidung finden können.515 Dennoch wird vom selben Autor konstatiert, dass insbesondere in der Allianz-Forschung die Beschränkung auf eine Einzelakteursperspektive zu kurz greift.516 Auch weil kein eindeutiges Ergebnis hinsichtlich des Einflusses von mehr als zwei Akteuren festgestellt werden kann, ist eine weitere Untersuchung dieses akteursbezogenen Komplexes notwendig. Ein weiterer Ansatz der Berücksichtigung multipler Akteurskonzepte ist die Betrachtung unterschiedlicher Rolleninhaber bei der Entstehung von Governance. So werden die Rollen unterschiedlicher, am Vertragserstellungsprozess beteiligter Akteure differenziert untersucht.517 Es zeigt sich, dass Manager, Ingenieure und Anwälte sich jeweils mit unterschiedlichen Themen bei der Erstellung von Verträgen befassen.518 Die Transaktionspartner sind folglich in unterschiedliche Rolleninhaber zu differenzieren.519 Auch diese Erkenntnis spricht dafür, das Akteurskonzept in zukünftigen Arbeiten eingehender zu thematisieren. Aufgrund der Eigenschaft der Genossenschaft, Gruppen von Akteuren zu organisieren, kommt ihr im Hinblick auf die Untersuchung einer erhöhten Akteursanzahl eine besondere Stellung zu. Die wesentliche Erkenntnis der einschlägigen genossenschaftswissenschaftlichen Literatur ist, dass mit einer Steigerung der Mitgliederzahl, das Kooperationsproblem verschärft wird.520 Ein dabei in der Literatur häufig behandeltes Thema ist die Heterogenität der Akteure, die insbesondere in großen Gruppen zunimmt521 und zugleich mit erhöhten Entscheidungskosten verbunden ist.522 Allerdings findet sich nicht in allen Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen Mitgliederheterogenität und der entstehenden Governance. Die Ergebnisse einer experimentellen Arbeit können keinen Zusammenhang zwischen erhöhter Mitgliederheterogenität und der Präferenz der Akteure für eine besondere
513 Vgl. Oxley 1997, S. 405–406. 514 Vgl. Li et al. 2012, S. 12. 515 Vgl. Gulati und Singh 1998, S. 803. 516 Vgl. Gulati 1998, S. 304. 517 Vgl. Argyres und Mayer 2007. 518 Vgl. Argyres und Mayer 2007, S. 1060. 519 Vgl. Argyres und Mayer 2007, S. 1060. 520 Vgl. Abschnitt 2.1.1.4, und Zusman 1992. 521 Vgl. Bijman et al. 2014, S. 658. Auch andere Arbeiten stellen diesen Zusammenhang her (vgl. Höhler und Kühl 2017, S. 10). 522 Vgl. Herbst und Prüfer 2016, S. 335.
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Ausgestaltung genossenschaftlicher Governance-Mechanismen feststellen.523 Die Bedeutung der Mitgliederheterogenität für die Entstehung der genossenschaftlichen Governance könnte daher Gegenstand weiterer Forschung sein. Neben der Mitgliederheterogenität sind mehrere der bereits erwähnten spezifischen Herausforderungen der Genossenschaft auf die hohe Anzahl der Transaktionspartner in einer Genossenschaft zurückzuführen.524 Die Untersuchung der Genossenschaft bietet insgesamt die Möglichkeit, die Transaktionskostentheorie im Hinblick auf eine größere Akteursanzahl weiterzuentwickeln. 2.2.2.1.3 Akteurseigenschaften Neben den Verhaltensannahmen und der Anzahl der beteiligten Akteure werden ausgewählte Akteurseigenschaften in ihrer Wirkung für die Governance-Entstehung diskutiert. Hierzu zählen Macht, Reputation und Erfahrung, die das Akteurskonzept der klassischen Transaktionskostentheorie erweitern. Machtunterschiede zwischen den Akteuren beeinflussen die GovernanceEntstehung. In einer Untersuchung wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Machtunterschiede dafür ursächlich sind, welcher der Transaktionspartner spezifische Investitionen tätigt.525 Darüber hinaus zeigt sich, dass die Marktmacht der Akteure den Einfluss der Transaktionsdimensionen bei der GovernanceEntstehung moderiert: Für Akteure mit großer Marktmacht wird eine geringere Wirkung der Transaktionsdimensionen Unsicherheit und Faktorspezifität bei der Ausgestaltung ihrer Governance beobachtet.526 Es handelt sich also um einen Interaktionseffekt zwischen den Akteurseigenschaften sowie anderen unabhängigen Variablen der Transaktionskostentheorie. Die Berücksichtigung von Machtaspekten kann folglich die Erklärungskraft der Transaktionskostentheorie erhöhen.527 Die Reputation stellt sich ebenfalls als wichtige Akteurseigenschaft heraus. Williamson selbst nimmt in der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie für die Reputation eines Transaktionspartners eine Wirkung auf die Transaktionskosten an.528 Reputation würde dazu beitragen, dass Transaktionserfahrungen leichter geteilt werden können.529 Andere Autoren bestärken diese Hypothese, indem sie nachweisen,
523 Vgl. Höfer und Rommel 2015. 524 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.3 und Cook 1995, S. 1156–1157. 525 Vgl. Ebers und Semrau 2015, S. 415. 526 Vgl. Shervani et al. 2007, S. 635. 527 An dieser Stelle sei angemerkt, dass Williamson es ablehnt, Machtunterschiede als Ursache für die Entstehung von Governance anzuerkennen, weil er Macht für ein tautologisches Konzept hält (vgl. Williamson 1995). 528 Williamson (1991, S. 286–292) beschreibt Reputation im Zusammenhang mit seinem „shift parameter framework“, das in Abschnitt 2.2.2.3.2 näher erläutert wird. 529 Vgl. Williamson 1991, S. 290–291.
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dass eine hohe Reputation der Akteure sich in geringerer Formalisierung von Governance niederschlägt530 und zu geringeren Transaktionskosten531 führt. Weiterhin wurde gezeigt, dass Reputation die Auswahl von unterschiedlichen Streitschlichtungsverfahren determiniert.532 Auch zeigt sich in der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie, dass die Erfahrung der Akteure für die Entstehung von Governance bedeutsam ist. So wurde festgestellt, dass Unternehmen vor allem dann Allianzen eingehen, wenn sie bereits Erfahrungen mit dieser Governance-Struktur haben.533 Weiter zeigt sich, dass eine höhere Erfahrung von Managern mit Allianzen bewirkt, dass eine weniger starke Integration der Allianzpartner stattfindet.534 Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die Ausprägung von transaktionsnotwendigen Fähigkeiten eines Akteurs die Ausgestaltung einer durch ihn initiierten Governance-Struktur beeinflussen,535 wobei das Konzept der Fähigkeiten des Akteurs eine große Überschneidung zum Konzept der Erfahrung aufweist.536 Für die transaktionsnotwendigen Fähigkeiten von Akteuren zeigen sich zudem Interaktionseffekte mit den Transaktionsdimensionen.537 Weiter wird in der Literatur auch für Lerneffekte eine Wirkung auf die Governance dokumentiert.538 Lerneffekte lassen sich beispielsweise bei wiederkehrenden Transaktionen zwischen zwei Transaktionspartnern in den ausgehandelten Verträgen nachweisen.539 Für die Genossenschaft sind nur wenige Arbeiten zu finden, die den Einfluss von Akteurseigenschaften auf die Entstehung ihrer Governance thematisieren. Teilweise wird die Entstehung von Genossenschaften mit der Schwäche ihrer Mitglieder540 oder ihrer geringen Reputation541 begründet, was als indirekter Hinweis auf die Bedeutung dieser Akteurseigenschaften bei der Entstehung der genossenschaftlichen Governance gewertet werden kann. Auch sind Macht- und Reputationsgefälle Akteurseigenschaften, für die häufig Mitgliederheterogenität festgestellt werden kann,542 und die somit auf die entstehende Governance wirken.543 Hinsichtlich der
530 Vgl. Allen und Lueck 1992, S. 375. 531 Vgl. Standifird und Weinstein 2007, S. 409. 532 Vgl. Lui et al. 2006, S. 466. 533 Vgl. Gulati 1999, S. 397. 534 Vgl. Teng und Das 2008, S. 736. 535 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 235. Vgl. hierzu auch Kale und Singh 2009, S. 51–54. 536 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 232. 537 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 235. Vgl. hierzu auch Kale und Singh 2009, S. 51–54. 538 Vgl. Poppo und Zenger 2002, S. 707 und S. 722, und Mayer und Argyres 2004, S. 394. 539 Vgl. Argyres et al. 2007, S. 3, und Ryall und Sampson 2009, S. 924. 540 Vgl. Bonus 1986, S. 313, Bijman und Hendrikse 2003, S. 96, und Hernandez-Espallardo et al. 2013, S. 242. 541 Vgl. Bonus 1986, S. 322–323, und Cook 1995, S. 1159. 542 Vgl. Bijman et al. 2014 und Cook 1995. 543 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1.3.
70
2 Theoretische Grundlagen
Akteurseigenschaft Erfahrung sind keine Arbeiten im Bereich der GovernanceForschung zu Genossenschaften bekannt. 2.2.2.1.4 Zwischenresümee Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die klassische Transaktionskostentheorie mit dem Aufstellen der drei oben genannten Verhaltensannahmen einerseits zu kurz greift, da weitere Akteurseigenschaften maßgeblich für die Entstehung von Governance sind, und sich andererseits eine Modifikation der Verhaltensannahmen als unschädlich für die Hypothesen der klassischen Transaktionskostentheorie erweist. Eine auf die Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie reduzierte Betrachtung des Akteurs lässt möglicherweise wesentlichere Einflussfaktoren oder abweichende Verhaltenseigenschaften der Akteure unberücksichtigt. Der Vorschlag von Tsang, die Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie nicht unkritisch zu übernehmen und stattdessen durch explorative Untersuchungen die tatsächlichen Zusammenhänge aufzudecken, erscheint vor diesem Hintergrund als gut begründet.544 Gleichzeitig kann der Einwand entkräftet werden, in diesem Fall außerhalb der Transaktionskostentheorie zu argumentieren: Die oben genannten Weiterentwicklungen der Transaktionskostentheorie zeichnen sich durch eine Modifikation der ursprünglichen Verhaltensannahmen aus und stellen die Anschlussfähigkeit an die Transaktionskostentheorie durch die Untersuchung der gleichen Forschungsgegenstände mit denselben Forschungsfragen her. Zudem werden in diesen Arbeiten Schlüsselkonzepte der Transaktionskostentheorie angewendet und teilweise trotz modifizierter Verhaltensannahmen vorhersagekonforme Ergebnisse erzielt. Indem sich neuere Forschungsansätze von den Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie lösen, entgehen sie der teils vehementen Kritik, die gegen diese Annahmen formuliert wurde. Die Literaturschau hat weiterhin verdeutlicht, dass die Anzahl der Transaktionspartner bei der Entstehung von Governance nicht zu vernachlässigen ist, wobei die empirischen Befunde noch keine eindeutigen Schlüsse in Bezug auf die Wirkrichtung dieses Einflussfaktors zulassen. Es sollte zudem berücksichtigt werden, dass das Akteurskonzept über die direkten Transaktionspartner hinausgeht. Generell ist die Transaktionskostentheorie für multilaterale Akteurskonstellationen unterentwickelt, woraus sich eine besondere Motivation zur Untersuchung der Entstehung der Governance von Genossenschaften ableitet. Die Governance von Genossenschaften bezieht sich grundsätzlich auf Transaktionen, an denen mehr als zwei Akteure beteiligt sind, und muss die daraus resultierenden Probleme kollektiver Handlung545 adressieren. Transaktionen mit einer großen Anzahl von Akteuren sollten Gegenstand weiterer
544 Vgl. Tsang 2006. 545 Vgl. Abschnitt 2.1.1.4.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
71
Untersuchungen sein, um die Transaktionskostentheorie in diesem Untersuchungsbereich zu stärken. Darüber hinaus erweisen sich weitere Eigenschaften der Akteure ebenfalls als maßgeblich für die Entstehung von Governance. Neben Machtaspekten und Reputation wird auch der Einfluss von Erfahrung diskutiert. Durch die Berücksichtigung von weiteren Akteurseigenschaften kann die transaktionskostentheoretische Analyse verbessert werden, auch indem Interaktionseffekte beispielsweise mit den Transaktionsdimensionen modelliert werden. Eine Weiterentwicklung des Akteurskonzepts erscheint deshalb zweckmäßig und notwendig,546 wobei die hier thematisierten Akteurseigenschaften wohl keinesfalls eine vollständige Aufzählung darstellen. Bedeutsame Akteurseigenschaften sind möglicherweise für jede Transaktion individuell zu bestimmen. Insbesondere die Untersuchung hybrider Organisationsformen hat von einer Weiterentwicklung des Akteurskonzepts profitiert. Genossenschaften können dabei ein besonderes Untersuchungsobjekt darstellen, da sie als Governance-Struktur grundsätzlich darauf ausgerichtet sind, Gruppen von Akteuren zu organisieren. Allerdings gibt es bislang kaum empirische Arbeiten im Bereich der genossenschaftswissenschaftlichen Transaktionskostenforschung, die den Einfluss des Akteurs bei der Governance-Entstehung untersuchen oder – falls empirische Untersuchungen durchgeführt wurden – eine abweichende Vorgehensweise zur klassischen Transaktionskostentheorie an den Tag legen. 2.2.2.2 Transaktion 2.2.2.2.1 Faktorspezifität Die Transaktionsdimensionen waren bereits in der klassischen Transaktionskostentheorie der zentrale Ausgangspunkt zur Erklärung der generischen GovernanceStrukturen Markt und Unternehmen. Diese besondere Bedeutung der Transaktionsdimensionen gilt auch für die Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie. Es lassen sich zahlreiche empirische Untersuchungen der Transaktionsdimensionen in der Literatur für die Forschungsobjekte Markt, Unternehmen und hybride Organisationsform finden. Ebenso kam es zur Erweiterung der Transaktionsdimensionen. Im Rahmen der Überprüfung der Transaktionskostentheorie wurde das Konstrukt der Faktorspezifität auf unterschiedliche Weise empirisch operationalisiert und konnte in den meisten Fällen als einflussreiche Variable für die Entstehung von Governance bestätigt werden.547 Die Aussage der klassischen Transaktionskostentheorie,
546 Vgl. Pansiri 2005, S. 1108. 547 Vgl. David und Han 2004, S. 45, Geyskens et al. 2006, S. 528–530, und Crook et al. 2012, S. 69–70.
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2 Theoretische Grundlagen
dass eine Erhöhung der Faktorspezifität eher die Auswahl von Unternehmen zur Folge hat, wurde somit gestärkt. Faktorspezifität ist im Verlauf der Theorieentwicklung in sechs Subdimensionen differenziert worden: Sachkapital-Spezifität, Humankapital-Spezifität, Standort-Spezifität, dedizierte Investitionen,548 spezifische Markeninvestitionen und temporale Spezifität.549 Es wird in der Literatur davon ausgegangen, dass spezifische Produktionsfaktoren positiv korrelieren, was darauf zurückzuführen ist, dass beispielsweise spezifisches Sachkapital auch die Entwicklung von spezifischem Humankapital nach sich zieht.550 Eine Kombination mehrerer Subdimensionen der Faktorspezifität551 erhöht zudem in empirischen Untersuchungen die Wahrscheinlichkeit, dass die Vorhersage der Transaktionskostentheorie zur Auswahl von Governance-Strukturen nachgewiesen werden kann.552 Eine Subdimension der Faktorspezifität, die in zahlreichen empirischen Studien untersucht wurde, ist die Sachkapital-Spezifität. Diese bezeichnet den Grad der Wiederverwertbarkeit von Investitionen, beispielsweise in Ausrüstung553 und Maschinen554; also den Grad, zu dem diese Anlagegegenstände sich für andere Transaktionen nutzen lassen oder nach ihrer Anschaffung noch einen Verschrottungswert555 aufweisen. Die Sachkapital-Spezifität hat sich als stabiler Prädiktor für die Wahl und Ausgestaltung von diversen Governance-Strukturen erwiesen556 und entspricht in ihrer Wirkung der Vorhersage der Transaktionskostentheorie.557 Die Standort-Spezifität bezeichnet den Umstand, dass die Entfernung zwischen Transaktionspartnern558 oder die Ansiedlung in einem zusammenhängenden geografischen Raum559 einen Einfluss auf die Transaktionskosten haben und damit ebenfalls eine Wirkung bei der Entstehung der Governance-Struktur entfalten. Nah beieinander liegende Akteure befinden sich in einer „cheek-by-jowl“560-Situation und kreieren so eine wechselseitige Abhängigkeit, indem ihr Standort jeweils stark auf den Standort des anderen Transaktionspartners ausgerichtet ist. Auch der
548 In der Übersetzung von „The Economic Institutions of Capitalism“ bezeichnet Streissler dedizierte Investitionen als „zweckgebundene Sachwerte“ (Williamson 1990, S. 62). 549 Vgl. Williamson 1983, S. 526, Williamson 1991, S. 281, und Williamson 1996, S. 59–60. 550 Vgl. Spiller 1985, S. 295, und Vita et al. 2011, S. 335–336. 551 Vgl. Klein et al. 1990, S. 201. 552 Vgl. David und Han 2004, S. 49. 553 Vgl. Palay 1984, und Coles und Hesterly 1998a, S. 389. 554 Vgl. Masten 1984, S. 408, Hubbard 2001, S. 372, Nickerson und Silverman 2003, S. 101, und Shelanski 2004, S. 958. 555 Vgl. Dyer 1996, S. 652, und Ulset 1996, S. 74. 556 Vgl. Geyskens et al. 2006, S. 530–531. 557 Vgl. David und Han 2004, S. 49. 558 Vgl. Joskow 1985, S. 77–78, und Joskow 1987. 559 Vgl. Spiller 1985, S. 295. 560 Williamson 1983, S. 526.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
73
Einfluss der Standort-Spezifität konnte entsprechend der Vorhersage der Transaktionskostentheorie bestätigt werden, wenngleich die Ergebnisse nicht in der Weise eindeutig sind wie für die Sachkapital-Spezifität.561 Humankapital-Spezifität bezeichnet die Investitionen in Wissen und Fähigkeiten der Transaktionspartner, die sich ausschließlich in einem Transaktionszusammenhang einsetzen lassen,562 und wurde beispielsweise mithilfe des Ausmaßes von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten563, Kosten der Produktentwicklung564 oder der Intensität der Kommunikation565 operationalisiert und in ihrer Wirkung bestätigt. Vergleiche zur Wirkungsintensität zwischen HumankapitalSpezifität und Sachkapital-Spezifität deuten darauf hin, dass der HumankapitalSpezifität eine höhere Relevanz für die Entstehung von Governance zukommt als der Sachkapital-Spezifität.566 Eine weitere Subdimension der Faktorspezifität sind dedizierte Investitionen. Investitionen in Maschinen und Anlagen, die zwar kein spezifisches Sachkapital sind, aber ausschließlich zur Durchführung einer Transaktion mit einem Akteur errichtet wurden und bei Nichtdurchführung dieser Transaktion Überkapazitäten darstellen, werden als dedizierte Investitionen bezeichnet.567 Die Messung von dedizierten Investitionen erfolgt beispielsweise anhand von Marktkapazitäten568 und Marktvolumina569 und zeigt ebenfalls eine empirische Wirkung entsprechend der Vorhersagen der klassischen Transaktionskostentheorie. Als weitere Dimension von Faktorspezifität werden Investitionen in Marken und Marketing genannt. Bei Marketing-Spezifität handelt es sich beispielsweise um den Aufbau einer gemeinsam genutzten Marke und dem damit einhergehenden Wert für eine vertikale Wertschöpfungskette.570 Ein weiteres Beispiel für Marketing-Spezifität ist in der Entwicklung von exklusiven Vertriebspartnerschaften zu finden.571 Spezifische Investitionen in Marketing beeinflussen die entstehende Governance in der Weise, dass tendenziell die Integration der Transaktionspartner erhöht ist.572 Weiterhin wird die temporale Spezifität als Subdimension der Faktorspezifität abgegrenzt. Die temporale Spezifität beschreibt den Umstand, dass üblicherweise
561 Vgl. David und Han 2004, S. 49. 562 Vgl. Monteverde und Teece 1982, S. 206–207. 563 Vgl. Pisano 1989, S. 124. 564 Vgl. Monteverde und Teece 1982. 565 Vgl. Monteverde 1995. 566 Vgl. Klein 1988, Masten et al. 1989 und David und Han 2004, S. 49. 567 Vgl. Williamson 1983, S. 526. 568 Vgl. Saussier 2000, S. 198, zit. nach Macher und Richman 2008, S. 14. 569 Vgl. Joskow 1987, S. 172–173. 570 Vgl. Klein 1980, S. 361. 571 Vgl. Marvel 1982, S. 23–25, und Regan 1997, S. 57, zit. nach Macher und Richman 2008, S. 14. 572 Vgl. David und Han 2004, S. 49.
74
2 Theoretische Grundlagen
nicht spezifisches Kapital temporär zu spezifischem Kapital wird.573 Beispielsweise ist dies der Fall, wenn durch bewusste Lieferverzögerungen von einem Akteur in der Wertschöpfungskette Druck auf andere Akteure innerhalb der Wertschöpfungskette ausgeübt werden kann.574 Temporale Spezifität kann beispielsweise in der Transportindustrie,575 in der Bauwirtschaft576 oder bei behördlichen Genehmigungsverfahren577 in ihrer Wirkung entsprechend der Vorhersage der klassischen Transaktionskostentheorie bestätigt werden. Die Weiterentwicklung der klassischen Transaktionskostentheorie hatte auch eine Erweiterung der untersuchten Governance-Strukturen zur Folge. Die Faktorspezifität konnte entsprechend der Vorhersage der klassischen Transaktionskostentheorie als Einflussfaktor für die Entstehung der Governance hybrider Organisationsformen empirisch bestätigt werden.578 Für die Genossenschaft lassen sich in der Literatur mehrere Arbeiten finden, die diesen Zusammenhang behandeln. Die Wirkung der Faktorspezifität wird in der Literatur insbesondere als Begründung für die Wahl der Governance-Struktur Genossenschaft als Alternative zur IOF thematisiert.579 Die Untersuchungen gehen besonders auf die Sachkapital-Spezifität,580 spezifische Marketinginvestitionen581 und auf die temporale Faktorspezifität582 ein. Teilweise wird auch die Auswahl einzelner Typen von Genossenschaften583 oder die Veränderung ihrer Governance im Zeitverlauf 584 auf eine durch die Faktorspezifität induzierte Veränderung der Transaktionskosten zurückgeführt. Zudem wird angenommen, dass das vertragliche Design zwischen Mitglied und Genossenschaft mit einem Anstieg der Faktorspezifität an Umfang gewinnt und spezifischer ausfällt.585 Die genannte Literatur, die sich auf die Transaktionskostentheorie bezieht und die Genossenschaft untersucht, ist vor allem durch ein konzeptionelles Vorgehen gekennzeichnet, ohne die angenommenen Zusammenhänge in großzahligen empirischen Tests zu prüfen.586
573 Vgl. Masten et al. 1991, S. 9, und Williamson 1991, S. 281–282. 574 Vgl. Masten et al. 1991, S. 9, zit. nach Macher und Richman 2008, S. 5. 575 Vgl. Pirrong 1993, S. 937, zit. nach Macher und Richman 2008, S. 5. 576 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 235. 577 Vgl. Tan et al. 2012, S. 2277. 578 Vgl. Kogut 1988, S. 320–321, Pirrong 1993, S. 937, Ménard 2004, S. 355–356, und Geyskens et al. 2006, S. 530–531. 579 Vgl. Bonus 1986, S. 328, Staatz 1987a, S. 90, Hendrikse und Bijman 2002, S. 114–115, und Müller und Sagebiel 2015. Siehe auch die Zusammenfassung von Valentinov (2007, S. 57–58). 580 Vgl. Hendrikse und Veerman 2001b, S. 62–64, und Cook et al. 2004, S. 81. 581 Vgl. Müller und Sagebiel 2015, S. 230–232. 582 Vgl. Hendrikse und Veerman 2001a, S. 215–216, zit. nach Cook et al. 2004, S. 81. 583 Vgl. Harris et al. 1996, S. 20–21, Ménard 2007, S. 11–12, und Huang et al. 2016, S. 108–109. 584 Vgl. Cook 1995, S. 1158–1159. 585 Vgl. Sykuta und Cook 2001, S. 1278. 586 Ausnahmen stellen beispielsweise die Arbeiten von Müller und Sagebiel (2015) und Huang et al. (2016) dar.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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2.2.2.2.2 Unsicherheit Unsicherheit ist nach der Faktorspezifität die Transaktionsdimension, die am häufigsten empirisch in ihrer Wirkung auf die Entstehung von Governance untersucht wurde.587 In einer Metaanalyse zeigt sich, dass die Effekte der Unsicherheit und der Faktorspezifität auf die Integrationsentscheidung etwa gleich groß sind.588 Doch die empirischen Befunde sind nicht eindeutig. Zwar kann ein grundlegender Einfluss von Unsicherheit bei der Entstehung von Governance gezeigt werden, allerdings sind die Ergebnisse empirischer Arbeiten nicht einheitlich in Bezug auf die Wirkrichtung der Unsicherheit.589 Drei Erklärungen zeichnen sich dafür in der Literatur ab: 1. das Konstrukt Unsicherheit ist mehrdimensional, 2. die Interaktionen zwischen der Unsicherheit und den Transaktionsdimensionen Faktorspezifität und Häufigkeit führen zu uneinheitlichen Ergebnissen und 3. es bestehen allgemeine Messprobleme, die widersprüchliche empirische Resultate hervorrufen. Die Unsicherheit wird als Transaktionsdimension in die Verhaltensunsicherheit und die allgemeine Unsicherheit differenziert.590 Die Aufgliederung des Konzepts erwies sich für die empirische Überprüfung als hilfreich und insbesondere für die Verhaltensunsicherheit konnte Bestätigung entsprechend der Vorhersage der klassischen Transaktionskostentheorie gefunden werden.591 Dies gilt nicht im gleichen Maße für die allgemeine Unsicherheit. Die allgemeine Unsicherheit wurde in Bezug auf die technologische Entwicklung,592 Unsicherheit in Bezug auf das Marktvolumen,593 Unsicherheit in Bezug auf Umweltkomplexität594 und Unsicherheit in Bezug auf Entwicklungsdynamik595 unterschieden. Die Wirkung der Dimensionen der allgemeinen Unsicherheit deckt sich nicht durchgehend mit der Vorhersage der klassischen Transaktionskostentheorie:596 Unsicherheit in Bezug auf die Komplexität und Volumenschwankungen erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine Integrationsentscheidung, wohingegen Entwicklungsdynamik und technologische Unsicherheit eher den gegenteiligen Effekt zeigen.597 Trotz der Differenzierung der allgemeinen Unsicherheit kann eine Metaanalyse nur für die Verhaltensunsicherheit empirisch
587 Vgl. David und Han 2004, S. 45. 588 Vgl. Geyskens et al. 2006, S. 519. 589 Vgl. Sutcliffe und Zaheer 1998, S. 1. 590 Vgl. Williamson 1973, S. 318, und Williamson 1990, S. 64–68. 591 Vgl. Anderson 1985, S. 251. 592 Vgl. Walker und Weber 1984, S. 373. 593 Vgl. Walker und Weber 1984, S. 373. 594 Vgl. Klein 1989, S. 256. Auch Carson et al. (2006, S. 1058) können diese Unterscheidung empirisch bestätigen. Siehe auch Weber und Mayer (2014, S. 346), die einen Überblick über die Differenzierung der Unsicherheitsdimensionen geben. 595 Vgl. Klein 1989, S. 256, Carson et al. 2006, S. 1058, und Weber und Mayer 2014, S. 346. 596 Vgl. Weber und Mayer 2014, S. 346. Siehe für diese Argumentation auch Rindfleisch und Heide (1997, S. 42) und Macher und Richman (2008, S. 6). 597 Vgl. Walker und Weber 1987, S. 593–595, und Weber und Mayer 2014, S. 346.
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2 Theoretische Grundlagen
eindeutige Ergebnisse in Bezug auf die Integrationsentscheidung der Akteure nachweisen.598 Technologische Unsicherheit und Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklung von Marktvolumen haben in der Metaanalyse keine signifikante Wirkung auf die Integrationsentscheidung der Transaktionspartner.599 Zudem deuten jüngere Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Differenzierung von Subdimensionen der Unsicherheit keinesfalls abgeschlossen ist. So werden die oben genannten Dimensionen der Unsicherheit als informatorische Unsicherheit bezeichnet, von der eine interpretatorische Unsicherheit abzugrenzen ist.600 Interpretatorische Unsicherheit bezeichnet die möglicherweise uneinheitliche Interpretation zukünftiger Ereignisse durch die Akteure, was die Transaktionskosten erhöht und damit auf die Entstehung von Governance wirkt.601 Neben den unterschiedlichen Unsicherheitsdimensionen wird eine weitere Quelle für die uneinheitlichen empirischen Befunde in der Methodik zur Messung von Unsicherheit vermutet. Die Wahrnehmung und Bedeutung von Unsicherheit divergiert beispielsweise in verschiedenen Industrien stark und eine Nichtberücksichtigung dieses Umstands bei industrieübergreifenden Untersuchungen führt zu einer hohen Anfälligkeit für Verzerrungen der Ergebnisse.602 Zudem könnten die Unterschiede in den Messinstrumenten603 für einzelne Unsicherheitsdimensionen die Vergleichbarkeit empirischer Ergebnisse erschweren.604 Ferner kommt hinzu, dass Williamson in einem späteren Stadium der Theorieentwicklung Unsicherheit nicht nur als Transaktionsdimension berücksichtigt, sondern zusätzlich als Kontextdimension einstuft.605 Die Frequenz und Varianz störender Umweltereignisse, die er nicht genauer definiert, würden erhöhte Unsicherheit bewirken, was wiederum die Governance-Kosten der generischen Governance-Strukturalternativen verändert.606 Je nachdem ob und welche Umweltereignisse zur Messung dieses Effektes selektiert
598 Vgl. Crook et al. 2012, S. 69–70. 599 Vgl. Crook et al. 2012, S. 69–70. 600 Vgl. Weber und Mayer 2014, S. 346. 601 Vgl. Weber und Mayer 2014, S. 344. 602 Vgl. Shelanski und Klein 1995, S. 339. Gleiches gilt auch für Messprobleme bei Faktorspezifität und Häufigkeit. 603 Zur Operationalisierung von Unsicherheit werden in empirischen Arbeiten beispielsweise so unterschiedliche Instrumente verwendet wie die Abweichungen zwischen Verkaufsprognose und Ist-Verkaufszahlen (vgl. Anderson und Schmittlein 1984, S. 391) oder die Einstufung der Komplexität von Komponenten oder Aufgaben (vgl. Masten et al. 1991, S. 14) oder mehrdimensionale Skalen anhand denen Probanden die subjektiv wahrgenommene Unsicherheit bewerten (vgl. Klein 1989, S. 257, und Rindfleisch und Heide 1997, S. 42). 604 Vgl. Rindfleisch und Heide 1997, S. 42, und Macher und Richman 2008, S. 6. 605 Die Betrachtung der Unsicherheit als Kontextdimension geht auf das „shift parameter framework“ zurück (vgl. Williamson 1991, S. 286–292). Auf die Einführung des „shift parameter framework“ in die Transaktionskostentheorie wird in Abschnitt 2.2.2.3.2 eingegangen. 606 Vgl. Williamson 1991, S. 291–292.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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werden, können sich Verzerrungen in empirischen Studien zur Transaktionskostentheorie ergeben.607 Als zusätzliche Ursache für die heterogenen Befunde wird die Nichtberücksichtigung der Wechselwirkung zwischen Unsicherheit und Faktorspezifität in vielen empirischen Untersuchungen vermutet.608 Ein Anstieg in der Unsicherheit wirkt demnach erhöhend auf die Transaktionskosten und damit auf den Zusammenhang zwischen Faktorspezifität und Governance. Daraus ergibt sich die Frage, ob Unsicherheit als Moderator einzustufen ist.609 Geyskens et al. zeigen jedoch in ihrer Metaanalyse, dass Interaktionseffekte zwischen den Transaktionsdimensionen nicht signifikant sind, und schließen daraus, dass die vermuteten Interaktionseffekte nicht in der Form existieren, wie sie von Williamson angenommen wurden.610 Auch für die Transaktionsdimension Unsicherheit wurde der Untersuchungsbereich auf hybride Organisationsformen ausgedehnt.611 Dabei wurde die Hypothese entwickelt, dass hybride Organisationsformen sehr empfindlich gegenüber vorhandener Unsicherheit sind: Gesteigerte Unsicherheit würde dazu führen, dass sich die Wahl der Governance-Struktur auf eine „make-or-buy“-Entscheidung einengt und hybride Organisationsformen an Bedeutung verlieren.612 Empirische Überprüfungen dieser Hypothese kommen bislang zu uneinheitlichen Ergebnissen. So zeigt sich einerseits, dass hohe Unsicherheit die Verwendung von hybriden Organisationsformen fördert,613 wohingegen andere Ergebnisse eine gegenteilige Schlussfolgerung nahelegen.614 Für Genossenschaften spielte die Transaktionsdimension Unsicherheit im Rahmen der Erklärung ihrer Existenz eine Rolle. Ein Großteil der Arbeiten stellt fest, dass die Genossenschaft bei erhöhter Unsicherheit Transaktionskostenvorteile gegenüber Markttransaktionen aufweisen müsste.615 Wobei auch hier nur sehr wenige Arbeiten den vermuteten Zusammenhang empirisch untersuchen und dann auch nachweisen können.616 Zudem wird ein Zusammenhang zwischen der durch die Mitglieder
607 Vgl. Williamson 1991, S. 291–292. 608 Vgl. David und Han 2004, S. 45, und Macher und Richman 2008, S. 6. 609 Vgl. Weber und Mayer 2014, S. 346. 610 Vgl. Geyskens et al. 2006, S. 532. 611 Vgl. Anderson 1985, S. 251, und Klein 1989, S. 256. 612 Vgl. Williamson 1991, S. 291–292. 613 Vgl. Dyer 1996, S. 663. 614 In einer Metaanalyse zeigt sich, dass gesteigerte Unsicherheit bewirkt, dass die GovernanceStruktur Markt hybriden Organisationsformen vorgezogen wird (vgl. Geyskens et al. 2006, S. 530–531). Dies spricht für Williamsons (1991, S. 291–292) Hypothese der Einengung der „make-or-buy“Entscheidung bei großer Unsicherheit auf die Governance-Strukturen Markt und Unternehmen. 615 Vgl. Staatz 1987a, S. 94, Bonus 1986, S. 326–327, Cook 1995, S. 1158–1159, und Hansmann 1996, S. 269–270. Siehe auch die Zusammenfassung von Valentinov (2007, S. 57–58). 616 Lijia und Xuexi (2014, S. 247) konnten einen Zusammenhang zwischen Transaktionskostenvorteilen von Genossenschaften bei erhöhter Unsicherheit auch empirisch zeigen. Dies gilt ebenso für die Arbeiten von Sagebiel et al. (2014), Rommel et al. (2016) und Li et al. (2017).
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2 Theoretische Grundlagen
wahrgenommenen Unsicherheit und der Ausgestaltung von Genossenschaftssatzungen hergestellt: Unsicherheit geht mit gesteigerten Transaktionskosten einher, die durch die Satzungsgestaltung wiederum reduziert werden könnten.617 Auch die genossenschaftlichen Prinzipien618 werden als Faktoren angeführt, die Transaktionskosten, resultierend aus der Unsicherheit der Beziehung zwischen den Mitgliedern und in Bezug auf das Geschäftsumfeld, reduzieren können.619 Eine der wenigen Arbeiten, die sich empirisch mit der Veränderung der Governance von Genossenschaften auseinandersetzt, beschreibt einen Zusammenhang zwischen dem Marktumfeld und der genossenschaftlichen Governance.620 Allerdings geht es in dieser Arbeit nur implizit um Unsicherheit, die zudem nicht als Transaktionsdimension modelliert wird. 2.2.2.2.3 Häufigkeit Von den drei genannten Transaktionsdimensionen wurde die Häufigkeit vergleichsweise selten empirisch untersucht,621 weshalb manche Literaturzusammenfassungen diese Transaktionsdimension nicht berücksichtigten.622 Eine Ursache für die geringe Beachtung in empirischen Untersuchungen ist darin zu sehen, dass sich hinter dem Konzept der Häufigkeit zwei Subdimensionen verbergen:623 So werden das Transaktionsvolumen und die Transaktionsfrequenz als zwei Eigenschaften des Konstrukts Häufigkeit differenziert.624 Das Transaktionsvolumen bildet die von Williamson beschriebenen Skaleneffekte ab.625 Die Transaktionsfrequenz misst gleichzeitig Reputationseffekte, da wiederholte Transaktionen einen Beziehungsaufbau zur Folge haben können.626 Darüber hinaus zeigen sich uneinheitliche Ergebnisse in empirischen Untersuchungen zur Häufigkeit. Für die Wirkung der Transaktionsfrequenz auf die Governance-Entstehung gibt es wenige Untersuchungen mit gemischten Ergebnissen in empirischen Tests. Manche Arbeiten bestätigen die Vorhersagen der klassischen Transaktionskostentheorie, indem sie beobachten, dass eine erhöhte Transaktionsfrequenz zu stärkerer Integration führt.627 Beispielswiese kann gezeigt werden, dass sich die erwartete Beschäftigungsdauer auf die Arbeitsvertragsgestaltung auswirkt: Je länger die erwartete
617 Vgl. Zusman 1992, S. 354–355. 618 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.1. 619 Vgl. Nilsson 1996, S. 650. 620 Vgl. Bijman et al. 2014, S. 658. 621 Vgl. David und Han 2004, S. 52, und Geyskens et al. 2006, S. 521. 622 Vgl. Rindfleisch und Heide 1997, S. 31, und Geyskens et al. 2006, S. 532. 623 Vgl. Macher und Richman 2008, S. 7. 624 Vgl. Klein 1989, S. 256–257. 625 Vgl. Williamson 1990, S. 69. 626 Vgl. Macher und Richman 2008, S. 7. 627 Vgl. Klein 1989, S. 257, Heide und Miner 1992, S. 265, und Bucklin und Sengupta 1993, S. 43.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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Beschäftigung ist, desto seltener wird auf Leiharbeiter zurückgegriffen, da die zusätzlichen Transaktionskosten der wiederholten Vertragsaufsetzung die Wirtschaftlichkeit von Leiharbeit verringern.628 Zudem deuten empirische Ergebnisse zur Transaktionsfrequenz auf Interaktionseffekte mit den Transaktionsdimensionen Faktorspezifität und Unsicherheit hin.629 Andere Forscher finden hingegen keine empirische Bestätigung für die Vorhersagen der klassischen Transaktionskostentheorie.630 Für die Subdimension Transaktionsvolumen gibt es ebenfalls nur wenige Untersuchungen, jedoch stellt sich hier ein einheitlicheres Bild in den Ergebnissen dar. So kann in empirischen Untersuchungen bestätigt werden, dass das Transaktionsvolumen für die Entstehung von Governance entsprechend der Vorhersage der klassischen Transaktionskostentheorie wirkt.631 Dies gilt auch bei einem gleichzeitigen Test der Wirkung der Transaktionsdimensionen Faktorspezifität, Unsicherheit und Transaktionsvolumen.632 Wenngleich es gemischte empirische Ergebnisse zur Transaktionsdimension Häufigkeit gibt, die nicht immer in erwarteter Richtung ausfallen, so fand eine Metaanalyse grundsätzlich Bestätigung für die Hypothese der klassischen Transaktionskostentheorie: Häufige Transaktionen führen zu einer Integration der Transaktionspartner.633 Der Untersuchungsbereich der Transaktionskostentheorie wurde auch für die Transaktionsdimension Häufigkeit auf hybride Organisationsformen ausgedehnt.634 Allerdings ist die Anzahl der Arbeiten in diesem Bereich relativ gering. Dies gilt gleichermaßen für die Genossenschaft, für die sich keine empirische Überprüfung der postulierten Hypothese finden ließ. Entsprechend der Transaktionskostentheorie wird allerdings argumentiert, dass eine gesteigerte Häufigkeit von Transaktionen zur Entstehung von Genossenschaften führt, da diese dann Transaktionskostenvorteile gegenüber Markttransaktionen aufweisen würden.635 Zudem wird ein Zusammenhang zwischen einer erhöhten Transaktionsfrequenz und der Veränderung der genossenschaftlichen Governance vermutet.636 2.2.2.2.4 Zwischenresümee Der Zusammenhang zwischen Transaktionsdimensionen und der Auswahl von Governance-Strukturen ist durch die in den vergangenen Jahren entstandenen
628 Vgl. Masters und Miles 2002, S. 439. 629 Vgl. Pilling et al. 1994, S. 246, und Buvik 2002, S. 17. 630 Vgl. Anderson und Schmittlein 1984, S. 394. 631 Vgl. Klein 1989, S. 257, und Klein et al. 1990, S. 203. 632 Vgl. Leffler und Rucker 1991, S. 1081–1085. 633 Vgl. Crook et al. 2012, S. 69–70. 634 Vgl. Parkhe 1993, S. 818. 635 Vgl. Bager 1997, S. 8–9, und Ollila und Nilsson 1997, S. 135. 636 Vgl. Cook 1995, S. 1158–1159.
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empirischen Ergebnisse als gut fundiert zu bezeichnen. Alle in der klassischen Transaktionskostentheorie genannten Dimensionen wurden empirisch überprüft und konnten oft, zum Teil mittels zusätzlich entdeckter Subdimensionen bestätigt werden. Sehr eindeutige Ergebnisse finden sich für die Transaktionsdimension Faktorspezifität und ihre im Verlauf entwickelten Subdimensionen Sachkapital-, Humankapital-, Standort-, Marketing- und temporale Spezifität sowie dedizierte Investitionen. Der herausgehobenen Bedeutung der Faktorspezifität trägt Williamson Rechnung, indem er diese als „Zugpferd“637 der Transaktionskostentheorie deklariert, was in einer Metaanalyse von Geyskens et al. jedoch nicht bestätigt werden konnte.638 Wenngleich die Häufigkeit vergleichsweise selten empirisch überprüft wurde, und sich nicht für beide Subdimensionen dieses Konzepts eindeutige Befunde ergeben, so kann hier lediglich eine kleine Theorielücke identifiziert werden, die in der Diskrepanz zwischen vorhergesagter und beobachteter Wirkung der Transaktionsfrequenz besteht. Trotz des vorgenannten Ansatzpunkts für weitere Forschung stellen sowohl Häufigkeit als auch Faktorspezifität Fundamente der Transaktionskostentheorie dar,639 wobei möglicherweise weitere unentdeckte Subdimensionen von Häufigkeit und Faktorspezifität existieren. Die Transaktionsdimension Unsicherheit hat hinsichtlich ihrer Konzeptualisierung und den Ergebnissen empirischer Überprüfungen bislang die meisten Fragen aufgeworfen.640 Untersuchungen zu den identifizierten Subdimensionen der Unsicherheit führten lediglich für den Bereich der Verhaltensunsicherheit in der Mehrzahl zu den vorhergesagten Ergebnissen. Die Befunde der Subdimensionen der allgemeinen Unsicherheit widersprechen sich teilweise. Insgesamt scheint die Modellierung der Unsicherheit in der Transaktionskostentheorie Fragen aufzuwerfen: Handelt es sich hierbei tatsächlich um eine Transaktionsdimension oder eher um einen Kontextfaktor? Zudem ist die Verhaltensunsicherheit vom Zutreffen der Verhaltensannahmen über den Akteur abhängig, welche allerdings einer starken Kritik ausgesetzt sind.641 Zugleich zeichnet sich eine besondere Relevanz der Unsicherheit für die Entstehung der Governance hybrider Organisationsformen ab,642 weshalb hier offensichtlich weiterer Forschungsbedarf besteht. Die unterschiedlichen empirischen Befunde sprechen zudem für vertiefende qualitativ-explorative Untersuchungen,643 auch um die Dimensionalität des Konstrukts Unsicherheit besser zu verstehen.644
637 Williamson 1990, S. 64. 638 Vgl. Geyskens et al. 2006, S. 532. 639 Vgl. Crook et al. 2012, S. 71–73. 640 Vgl. Crook et al. 2012, S. 70. 641 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1.1. 642 Vgl. Williamson 1991, S. 291–292, und Geyskens et al. 2006, S. 532–533. 643 Vgl. Macher und Richman 2008, S. 41. 644 Vgl. David und Han 2004, S. 54.
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Im Zuge der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie kam es zu einer Differenzierung der abhängigen Variablen. Hybride Organisationsformen gehörten generell und Genossenschaften teilweise ebenfalls zu den Untersuchungsobjekten, deren Existenz mithilfe der Transaktionsdimensionen erklärt wurde. Gleichwohl sind die Arbeiten, die Genossenschaften zum Gegenstand haben, wenig zahlreich und es existieren kaum empirische Untersuchungen zum Einfluss der Transaktionsdimensionen auf die Entstehung der Governance von Genossenschaften. Großzahlige empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen der entstehenden Governance einer Genossenschaft und den Transaktionsdimensionen könnten daher einen Beitrag darstellen, der die Transaktionskostentheorie in diesem Bereich stärkt. 2.2.2.3 Kontext 2.2.2.3.1 Sozialkapital 2.2.2.3.1.1 Soziale Struktur Die Kritik an der Vernachlässigung von Kontextfaktoren in der klassischen Transaktionskostentheorie motivierte zahlreiche Arbeiten zu diesem Themenkomplex. Dem in Abschnitt 2.1.2 vorgestellten Ordnungsschema erwartungsstabilisierender Mechanismen folgend, wird hier eine Einteilung der Literatur in Arbeiten zum Thema Sozialkapital und Arbeiten zum Thema Rechtsstaat vorgenommen. Das Sozialkapitalkonzept wird zudem entsprechend seiner oben vorgestellten Komponenten weiter untergliedert in Arbeiten zur sozialen Struktur, zu informellen Institutionen und zum Vertrauensaspekt.645 Die soziale Struktur wurde in der Literatur durch unterschiedliche Konzepte operationalisiert und wird hier als der Einfluss von sozialen Beziehungen und sozialen Netzwerken auf die Entstehung von Governance erörtert. Die zentrale Hypothese in der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie lautet, dass soziale Netzwerke646 und soziale Beziehungen647 Einfluss auf die entstehende Governance haben. Eine Untersuchung zu Clan-Strukturen648 zeigt dies anschaulich: Eine Vielzahl sozialer Mechanismen reduziert Konflikte zwischen
645 Eine ähnliche Unterteilung wählen Grandori und Soda (1995, S. 190–191) in ihrem Literaturüberblick von Einflussfaktoren der Netzwerkentstehung. 646 Vgl. Granovetter 1985. 647 Vgl. Macaulay 1963. 648 Ouchi (1980, S. 132) grenzt Clan-Strukturen von Märkten und Bürokratien (als Synonym zu Unternehmen zu verstehen) als dritten Steuerungsmechanismus ab und meint damit Organisationsformen, die durch soziale Netzwerke gesteuert werden. Die Clan-Struktur ist als eine Variante hybrider Organisationsformen einzustufen.
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2 Theoretische Grundlagen
Mitgliedern des Clans und wirkt substitutiv zu formaler Governance.649 Die „ahistorische Erklärung“650 der Entstehung von Governance in der klassischen Transaktionskostentheorie greift zu kurz, da insbesondere vormalige Beziehungen die Neuentstehung von Governance-Strukturen determinieren.651 Es wird zudem beobachtet, dass die durch Beziehungen verursachte Eingebundenheit in soziale Struktur die Überlebenswahrscheinlichkeit von Unternehmen erhöht.652 Auch kann gezeigt werden, dass ein negativer Zusammenhang zwischen der Höhe der Transaktionskosten und der Eingebundenheit in eine gemeinsame soziale Struktur existiert: Vormalige Beziehungen und die Mitgliedschaft in einem sozialen Netzwerk erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Transaktion zwischen zwei Unternehmen und senken gleichzeitig ihre Transaktionskosten.653 Andere Autoren bestätigen dieses Ergebnis und bekräftigen dessen Bedeutung für die Governance hybrider Organisationsformen.654 Stärkere Vernetzung und formale Governance-Mechanismen werden demnach von den Transaktionspartnern substitutiv verwendet.655 Zudem deuten die empirischen Ergebnisse an, dass insbesondere die sozialen Beziehungen des Topmanagements auf die Formung und Ausgestaltung von hybriden Organisationsformen Einfluss haben.656 Es wird also ein direkter Zusammenhang zwischen den sozialen Netzwerken der Akteure in einem Unternehmen und den Netzwerken, die die Organisation selbst entwickelt, beobachtet.657 In Summe bestätigen die hier angeführten Arbeiten die Hypothese der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie über den Zusammenhang zwischen sozialer Struktur und der Entstehung von Governance. Für das Untersuchungsobjekt Genossenschaft wird die Bedeutung sozialer Struktur ebenfalls thematisiert.658 Die Gründung von Genossenschaften erfordert enge Beziehungen unter den gründenden Mitgliedern,659 weshalb sozialer Struktur eine steuernde Wirkung im Kontext von Genossenschaften zugemessen wird.660
649 Vgl. Ouchi 1980, S. 134–137. 650 Die Transaktionskostentheorie berücksichtigt nicht die Beziehungshistorie, die zu einer Allianz führt (vgl. Gulati 1998, S. 302–303). 651 Vgl. Gulati 1995b, S. 646. 652 Vgl. Uzzi 1996, S. 674. Allerdings weist Uzzi (1997, S. 35) in einer weiteren Untersuchung darauf hin, dass eine zu starke Einbettung der Transaktionspartner in eine soziale Struktur auch eine negative Wirkung auf den Erfolg einer Organisation haben kann. 653 Vgl. Uzzi 1999, S. 481–482. Siehe zu dieser Argumentation auch Literaturbeiträge im Bereich der Sozialkapitalforschung, wie zum Beispiel von Putnam (vgl. Putnam 1993, S. 173–174). 654 Vgl. Jones et al. 1997, S. 911 und S. 913. 655 Vgl. Robinson und Stuart 2002. 656 Vgl. BarNir und Smith 2002. 657 Vgl. BarNir und Smith 2002. 658 Vgl. Neto 2006, S. 21. 659 Vgl. Hatak et al. 2011, S. 3–5. 660 Vgl. Bonus 1986, S. 321–322, Valentinov 2004, Jussila et al. 2012 und Ruben und Heras 2012.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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Durch eine starke Verwurzelung der Genossenschaft in einem räumlichen Zusammenhang kann die dort vorherrschende soziale Struktur als erwartungsstabilisierender Mechanismus durch die Genossenschaft genutzt werden.661 Insofern ist von einem Zusammenhang zwischen der entstehenden Governance der Genossenschaft und sozialer Struktur auszugehen,662 die aber in weiteren empirischen Untersuchungen überprüft und konkretisiert werden sollte. 2.2.2.3.1.2 Informelle Institutionen Neben sozialer Struktur wurden informelle Institutionen als exogene Variable für die Entstehung von Governance untersucht. Die grundlegende Hypothese dieser Arbeiten besteht darin, dass Governance-Strukturen durch ihre Bezüglichkeit auf informelle Institutionen erklärt werden können. Wie bereits eingeführt, handelt es sich bei informellen Institutionen im Sinne dieser Arbeit um Konventionen, Moral oder soziale Normen.663 Die Literatur zum Einfluss informeller Institutionen bei der Entstehung von Governance bezieht sich einerseits auf unterschiedliche Länderkontexte und andererseits auf kleinräumige oder nicht raumgebundene Wirkungsbereiche informeller Institutionen. Bei der Untersuchung der Wirkung länderspezifischer informeller Institutionen auf die Entstehung von Governance ist an erster Stelle die Beschreibung asiatischer Unternehmen und ihr Vergleich mit Firmen in westlichen Ländern zu nennen.664 Im Mittelpunkt dieser Forschungen steht das japanische Unternehmen, dessen Governance sich stark von der westlicher Unternehmen unterscheidet. Die Ursache dafür wird in der japanischen Kultur und ihren informellen Institutionen gefunden.665 Durch die Kombination informeller Institutionen mit darauf ausgerichteter Governance ergeben sich Transaktionskostenvorteile für japanische Unternehmen, wie eine empirische Analyse befindet.666 In einer Untersuchung von Vertragsstrukturen zwischen Überseehändlern im mittelalterlichen Maghreb wird ferner deutlich, dass gemeinsame soziale Normen hierarchische Governance-Strukturen zur Organisation von Handelsbeziehungen überflüssig machen können.667 Die spezifische 661 Vgl. Filippi 2014, S. 610. 662 Vgl. Jussila et al. 2012, S. 22, und Ruben und Heras 2012. 663 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2. 664 Vgl. Dore 1983, S. 459, und Aoki 1990, S. 23. Siehe auch die vergleichenden Untersuchungen von Unternehmen in Asien, Europa und Nordamerika durch Whitley (1990, S. 69) oder Whitley (1991, S. 1). 665 Vgl. Dore 1983, S. 459, und Aoki 1990, S. 23. 666 Vgl. Dyer 1997, S. 540. Als besondere Handlungsmuster japanischer Unternehmen werden beispielsweise wiederholte Transaktionen mit einer kleinen Zahl von Zulieferern, Regeln zum extensiven Informationsaustausch oder andere nichtvertragliche, sich selbst durchsetzende Mechanismen identifiziert, die als soziale Normen einzustufen sind und dazu beitragen, dass trotz hoher Faktorspezifität nur geringe Transaktionskosten entstehen (vgl. Dyer 1997, S. 543–544). 667 Vgl. Greif 1993, S. 542–543.
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Kombination aus informellen Institutionen und Governance wird folglich als Ursache für Transaktionskostenvorteile angeführt.668 Zudem bestätigt sich der Zusammenhang zwischen informellen Institutionen und Governance auch außerhalb von Länderkontexten. Die Dominanz von organisationalen Designs in einzelnen Regionen eines Nationalstaats kann auf dort vorherrschende informelle Institutionen zurückgeführt werden.669 Die Bedeutung informeller Institutionen wird zudem im Bereich unterschiedlicher Wirtschaftssektoren angeführt: So findet eine Studie heraus, dass der Zusammenhang zwischen Faktorspezifität und hierarchischen Governance-Strukturen für öffentliche Unternehmen nicht in dem Maße gilt wie für private Unternehmen.670 Als Ursache werden unterschiedliche Entscheidungsprämissen in den jeweiligen Sektoren vermutet,671 die ebenfalls als Indiz für die Ausprägung besonderer informeller Institutionen gewertet werden können. Für die Genossenschaft wird gleichsam die Bedeutung von Normen bei ihrer Governance-Entstehung in der Literatur reflektiert. Das Vorhandensein spezifischer Normen prägt die Governance der Genossenschaft, die sich die Steuerungsleistung informeller Institutionen zunutze macht.672 Gemeinsame Normen unter den Mitgliedern sorgen dafür, dass Transaktionskosten eingespart werden können. Ein konkretes Beispiel dafür sind Reziprozitätsnormen, deren Existenz in einer Region sowohl die Entstehung von Genossenschaften fördert als auch eine steuernde Funktion für die Genossenschaft hat.673 Auch wird in der Literatur hervorgehoben, dass die Kenntnis lokaler sozialer Normen ein entscheidender Transaktionskostenvorteil ländlicher Genossenschaftsbanken war, die sich damit gegen nicht regional verwurzelte Geldverleiher durchsetzen konnten.674 Insgesamt gilt hier allerdings, dass der Zusammenhang zwischen informellen Institutionen und der entstehenden Governance einer Genossenschaft stärker empirisch fundiert werden sollte. 2.2.2.3.1.3 Vertrauen Die Diskussion von Vertrauen im Zusammenhang mit der Entstehung von Governance führte zu anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Konzepts bei der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie.
668 Vgl. Bolton et al. 1994, S. 671. 669 Beispielsweise werden organisationale Designs im Silicon Valley auf die dort vorherrschende Kultur zurückgeführt (vgl. Aoki und Takizawa 2002, S. 759 und S. 778). 670 Vgl. Coles und Hesterly 1998a, S. 407. 671 Coles und Hesterly (1998a, S. 407) vermuten, dass in öffentlichen Krankenhäusern Effizienzkriterien einen geringeren Stellenwert haben und politische oder andere nicht ökonomische Faktoren die „make-or-buy“-Entscheidung eher determinieren als Faktorspezifität. 672 Vgl. Jussila et al. 2012, S. 20–22, und Ruben und Heras 2012. 673 Vgl. Lang und Roessl 2011, S. 727–728. 674 Vgl. Bonus 1986, S. 316–318.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Vertrauen – zumindest zu einem gewissen Grad – die Voraussetzung für funktionierende erwartungsstabilisierende Mechanismen ist.675 Allerdings besteht die strittige Frage, ob Vertrauen als Substitut676 für vertragliche Festlegungen fungiert.677 Zudem wird teilweise argumentiert, dass Vertrauen neben dem Preis und der Hierarchie als dritter Steuerungsmechanismus für hybride Organisationsformen anzusehen sei.678 Wenngleich Williamson soziales Vertrauen grundsätzlich als Folge des Umfelds erwartungsstabilisierender Mechanismen anerkennt,679 so misst er dem Konzept individuellen Vertrauens für die Entstehung von Governance nur in Form des Kalküls der Akteure eine Bedeutung zu,680 um seiner Verhaltensannahme des Opportunismus nicht zu widersprechen.681 Die Hauptargumente von Kritikern des Vertrauenskonzepts in der Transaktionskostentheorie sind, dass Vertrauen 1. nicht durch die Akteure eingeschätzt werden könne und deshalb zu vernachlässigen sei, 2. nur in sozialen Beziehungen anzutreffen wäre, nicht aber in Wirtschaftsbeziehungen und 3. keine zusätzlichen Erklärungen in der Organisationsforschung liefere.682 Die empirischen Arbeiten sprechen indes für eine hohe Bedeutung des Vertrauenskonzepts bei der Entstehung von Governance. Die Arbeiten fassen Vertrauen einerseits als dynamisches Konzept, also als Resultat von Beziehungen auf, was in dieser Arbeit als individuelles Vertrauen bezeichnet wurde.683 Gut funktionierende Beziehungen würden demnach zu individuellem Vertrauen führen und die Transaktionskosten reduzieren, woraus sich eine Wirkung für die entstehende Governance ergibt.684 Neben der Wirkung des individuellen Vertrauens wird andererseits untersucht, inwiefern soziales Vertrauen685 auf die Entstehung von Governance wirkt. Der direkte Zusammenhang zwischen Transaktionskosten und sozialem Vertrauen kann beispielsweise in unterschiedlichen Länderkontexten gezeigt werden.686 Vertrauen
675 Vgl. Granovetter 1985, S. 490, Mantzavinos 2001, S. 133–134, und Richter und Furubotn 2003, S. 34–39. 676 Vgl. Macaulay 1963, S. 64. 677 Vgl. Williamson 1993, S. 486. 678 Vgl. Bradach und Eccles 1989, S. 97, und Adler 2001, S. 215. 679 Williamson (1990, S. 93) beruft sich dabei auf Kenney und Klein (1983) und ihre Beschreibung von besonderen Regeln zwischen Diamanthändlern zur Reduktion von Suchkosten. 680 Vgl. Williamson 1993, S. 486. 681 Vgl. Nooteboom et al. 1997, S. 310, und Bromiley und Harris 2006, S. 129. 682 Vgl. Bromiley und Harris 2006, S. 128–129. 683 Siehe hierzu auch die Definition von Vertrauen in Abschnitt 2.1.2.2. 684 Vgl. Ring und van de Ven 1992, S. 488–490, Bromiley und Cummings 1995, S. 241–243, Gulati 1995a, S. 85, Nooteboom et al. 1997, S. 308, Gulati und Singh 1998, S. 805, und Langfield-Smith und Smith 2003, S. 281. 685 Siehe hierzu auch die Definition von Vertrauen in Abschnitt 2.1.2.2. 686 Vgl. Lane und Bachmann 1996, S. 365.
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trägt – unabhängig von seinem Ursprung687 – dazu bei, dass marktnahe GovernanceStrukturen auch bei einem höheren Niveau an Faktorspezifität günstigere Transaktionskosten aufweisen, als dies ohne Vertrauen der Fall wäre.688 Die Wirkung von Vertrauen bei der Entstehung von Governance wird allerdings durch andere Studienergebnisse infrage gestellt.689 Masters et al. zeigen empirisch, dass die Wahl der Organisationsform nicht vom Vertrauen der Akteure, wohl aber von ihrer Risikoneigung abhängt.690 Ein Grund könnte darin bestehen, dass die Beziehung zwischen Vertrauen und der Vertragsgestaltung komplexer ist, als dies vielfach angenommen wird. Hierfür spricht auch die Auffassung von einigen Autoren, dass Vertrauen und formale Verträge keine Substitute sind.691 Eine weitere Untersuchung zeigt, dass zu viel Vertrauen dazu führt, dass Verträge suboptimal ausgestaltet werden,692 was Feilschen und Nachverhandlungen wahrscheinlicher werden lässt und damit zu steigenden Transaktionskosten führt. Wenngleich man sich in der Literatur über die Wirkung von Vertrauen nicht einig ist, scheint allein die Vielzahl an Arbeiten, insbesondere im Rahmen der Forschung zu hybriden Organisationsformen,693 die Bedeutung des Konzepts für die Entstehung von Governance zu untermauern. Auch für die genossenschaftliche Governance wird Vertrauen als wichtige Rahmenbedingung diskutiert, mit deren Hilfe Transaktionskosten eingespart werden können.694 Mehr Vertrauen reduziere den Bedarf formaler Governance-Mechanismen bei Genossenschaften.695 Zudem wird in der Literatur argumentiert, dass Vertrauen eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenschluss von Akteuren in Genossenschaften sei.696 Anhand des länderspezifischen Vertrauensniveaus wird deshalb die weltweit unterschiedlich starke Verbreitung von Genossenschaften erklärt.697 Auch kann empirisch gezeigt werden, dass ein Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung genossenschaftlicher Governance und dem Vertrauen zwischen ihren Mitgliedern besteht.698 Hierfür spricht auch, dass je nach Vertrauensniveau des Kontexts die Governance der
687 Also unabhängig davon, ob Vertrauen das Resultat von Beziehung ist oder auf den Kontext erwartungsstabilisierender Mechanismen zurückgeht (vgl. Abschnitt 2.1.2.2). 688 Vgl. Chiles und McMackin 1996, S. 90–93. 689 Vgl. Valdés-Llaneza und García-Canal 2015, S. 342–345. 690 Vgl. Masters et al. 2004, S. 61. 691 Vgl. Argyres et al. 2007, S. 3, Reuer und Ariño 2007, S. 313, und Puranam und Vanneste 2009, S. 11. 692 Vgl. Jeffries und Reed 2000, S. 880. 693 Vgl. Gulati und Singh 1998, S. 803 und S. 805, Langfield-Smith und Smith 2003, S. 281, und Ménard 2004, S. 363. 694 Vgl. Bonus 1986, S. 321–322, und Ole Borgen 2001, S. 211. 695 Vgl. Shaffer 1987, S. 69. 696 Vgl. James, Jr. und Sykuta 2006, S. 135. 697 Vgl. Jones und Kalmi 2009, S. 165. 698 Vgl. James, Jr. und Sykuta 2005, S. 545–547.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
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Genossenschaft variiert.699 Trotz der Tatsache, dass Vertrauen im Bereich der Forschung zur Governance von Genossenschaften ein etabliertes Thema ist, muss hier festgehalten werden, dass es bislang nur vereinzelt empirische Arbeiten gibt, die einen Zusammenhang zwischen Vertrauen und der Entstehung von genossenschaftlicher Governance explizit nachweisen. 2.2.2.3.2 Rechtsstaat Formelle erwartungsstabilisierende Mechanismen wie Gesetze oder Verordnungen sowie die Verwaltungspraxis im nationalen und regionalen Kontext werden ebenfalls als Erklärung für Governance-Strukturunterschiede herangezogen.700 Bereits in der klassischen Transaktionskostentheorie finden sich Ansätze einer Berücksichtigung formeller erwartungsstabilisierender Mechanismen, denen Williamson insgesamt eine größere Bedeutung bei der Entstehung von Governance beimisst als der Ebene des Sozialkapitals.701 Jedoch bewirkte erst die bereits erwähnte anhaltende Kritik an der Nichtberücksichtigung des Kontexts,702 dass Williamson das Modell der klassischen Transaktionskostentheorie erweiterte. Durch die Einführung des „shift parameter framework“703, wurde den Kontextfaktoren Eigentumsrechte, Vertragsrecht, Reputation und Unsicherheit eine Wirkung auf die Transaktionskosten zugesprochen. Das „shift parameter framework“ besagt, dass beispielsweise ein Wechsel des Rechtsrahmens dazu führen kann, dass sich die Transaktionskosten insgesamt verändern, was auch die Auswahl geeigneter Governance-Strukturen beeinflusst.704 Hieran knüpften weitere Arbeiten an: Beispielsweise wird beschrieben, dass einzelne gesetzliche Normen, sogenannte „extrahybrid institutions“705, die insbesondere in Japan vorzufinden sind, die Entstehung von Allianzen fördern.706 Auch das Vorherrschen von englischem und skandinavischem Recht erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Allianzen gegenüber solchen Kontexten, in denen französisches Recht vorherrscht.707 Ein Zusammenwirken der Governance hybrider Organisationsformen mit erwartungsstabilisierenden Mechanismen des Rechtsstaats ist folglich anzunehmen.708
699 Vgl. Lang und Roessl 2011 und Ruben und Heras 2012. 700 Vgl. Coggan et al. 2013, S. 225. 701 Vgl. Williamson 1990, S. 187–190 und S. 336–341. 702 Vgl. Abschnitt 2.2.1.5. 703 Williamson 1991, S. 286–292. 704 Vgl. Williamson 1991, S. 286–289. 705 Dyer und Singh (1998, S. 673) beziehen sich bei der Bezeichnung „extrahybrid institutions“ auf Borys und Jemison (1989, S. 243), die diese als besondere gesetzliche Normen beschreiben, die hybride Organisationsformen stabilisieren. 706 Vgl. Dyer und Singh 1998, S. 673–674. 707 Vgl. Dickson und Weaver 2011, S. 141–142. 708 Vgl. Grandori und Soda 1995, S. 190–191.
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2 Theoretische Grundlagen
Der Einfluss von formellen erwartungsstabilisierenden Mechanismen auf die Ausgestaltung von Governance-Strukturen wurde zudem empirisch untersucht und erstmals von Oxley bestätigt.709 Zwar zeigen die empirischen Befunde, dass Transaktionsdimensionen eine größere Bedeutung bei der Entstehung von Governance-Strukturen haben, aber zugleich wird deutlich, dass der Schutz von Eigentumsrechten ebenfalls ein signifikanter Faktor ist: In Umgebungen mit schwachem Schutz von Eigentumsrechten wurden eher hierarchische Governance-Strukturen gewählt.710 Ferner wirkt sich der Rechtsrahmen besonders in hoch regulierten Märkten wie dem Energiesektor aus, was in einer vergleichenden Arbeit zu Elektrizitätsmärkten in Europa gezeigt werden kann.711 Empirische Ergebnisse weisen auch darauf hin, dass regionale gesetzliche Unterschiede eine Bedeutung bei der „make-or-buy“-Entscheidung von Stromversorgern haben.712 Es bleibt festzuhalten, dass der Gesetzesrahmen direkte Auswirkungen auf die Transaktionskosten hat und damit auf die Art und Weise der vertraglichen Gestaltung wirkt.713 Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Governance-Entstehung und Rechtsstaat finden sich im Bereich der Genossenschaft insoweit, als dass Gesetzgebungsprozesse für die Gründungsdynamik oder den Niedergang von Genossenschaften angeführt werden.714 Eine vergleichende Studie weist zudem auf den Zusammenhang zwischen der unterschiedlichen Genossenschaftsgesetzgebung in der Europäischen Union und den Entwicklungsmöglichkeiten von Genossenschaften hin.715 Diese Ergebnisse lassen auf die Bedeutung des Rechtsstaats für die GovernanceKosten der Genossenschaft schließen. Auch die große Wichtigkeit des GenG für die Ausgestaltung der genossenschaftlichen Satzung ist ein Beleg für den Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und der genossenschaftlichen Governance.716 Diesen Zusammenhang bestätigt eine empirische Arbeit zur Inanspruchnahme neuer Regelungen der GenG Novelle 2006, in der gezeigt wird, dass die neuen Gestaltungsmöglichkeiten, die das GenG seit der Novelle 2006 bietet, auch genutzt werden.717 Darüber hinaus fehlen empirische Untersuchungen weitgehend, die den Zusammenhang zwischen der Governance von Genossenschaften und rechtsstaatlichen Faktoren analysieren.
709 Vgl. Oxley 1999, S. 306. 710 Vgl. Oxley 1999, S. 283–285. 711 Vgl. Glachant und Finon 2000, S. 331. 712 Vgl. Fabrizio 2012. 713 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 235 und 240–242. 714 Vgl. Staber 1989b, S. 398–399, Doluschitz et al. 2012, S. 21, und Müller et al. 2015a, S. 99. 715 Vgl. Bijman et al. 2012, S. 64–65. 716 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.2. 717 Vgl. Blome-Drees et al. 2016, S. 90.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
89
2.2.2.3.3 Zwischenresümee Die Kritik an der mangelnden Kontexteinbindung der klassischen Transaktionskostentheorie hatte zwei Entwicklungen zur Folge: Zum einen entwickelte sich ein Bereich der ökonomischen Netzwerkforschung718, der anstelle der Transaktion die Beziehung zur Analyseeinheit erklärt.719 Zum anderen hatte die Kritik zur Folge, dass die Bedeutung von Kontextfaktoren auch im Rahmen der Transaktionskostentheorie überprüft wurde und es so zu einer Weiterentwicklung der Theorie kam, zu der auch Arbeiten von Williamson beitrugen. Es liegen Forschungsergebnisse zum Einfluss sozialer Struktur, informeller Institutionen, Vertrauen sowie dem Rechtsstaat vor und es konnte in diesen Arbeiten gezeigt werden, dass Kontextfaktoren einen Einfluss auf die Entstehung von Governance haben. Die soziale Struktur wurde auf unterschiedliche Weise in der Literatur dargestellt und kann bezüglich ihrer Unmittelbarkeit differenziert werden: Soziale Beziehungen stellen unmittelbare soziale Strukturen zwischen den an der Transaktion beteiligten Akteuren dar. Soziale Netzwerke hingegen beschreiben soziale Beziehungen zwischen zahlreichen Akteuren und bedeuten nicht zwangsweise, dass alle Akteure in einem Netzwerk miteinander in direkter Beziehung stehen. Beide Formen sozialer Struktur wirken auf die Entstehung von Governance. Für die Governance-Struktur Genossenschaft lassen sich bislang jedoch nur wenige Arbeiten finden, die diesen Zusammenhang empirisch untersuchen. Es zeigt sich, dass informelle Institutionen ebenfalls eine Wirkung bei der Entstehung von Governance-Strukturen haben. Insbesondere für unterschiedliche Länderkontexte, aber auch für regional-räumliche oder wirtschaftliche Zusammenhänge kann ein Zusammenhang zwischen informellen Institutionen und Governance gezeigt werden. Allerdings erweist sich die Paarung zwischen Governance-Struktur und informellen Institutionen als individuell und so zeichnet sich ab, dass der Einfluss informeller Institutionen spezifisch für das betreffende Untersuchungsobjekt festzulegen ist. Auch für Genossenschaften wird ein Zusammenhang zwischen informellen Institutionen und der entstehenden Governance vermutet, wobei eine stärkere empirische Fundierung bislang noch aussteht. Vertrauen wird im Rahmen der Transaktionskostentheorie zur Erklärung der Entstehung von Governance herangezogen, wenngleich sich unterschiedliche Ergebnisse zeigen und eine umfangreiche Diskussion zur Bedeutung des Konzepts entstanden ist. Zudem wird der Einfluss von Vertrauen nur von einzelnen Autoren angeführt und in anderen Arbeiten vielfach aufgrund der Verhaltensannahmen der Transaktionskostentheorie abgelehnt. Es lassen sich in der Literatur unterschiedliche Argumentationen zur Wirkung von Vertrauen ausmachen: 1. Vertrauen erklärt
718 Vgl. Granovetter 1985, Thorelli 1986, Powell 1990, Grandori und Soda 1995 und Oliver und Ebers 1998. 719 Vgl. Uzzi 1997, S. 63.
90
2 Theoretische Grundlagen
die Entstehung von Organisationen und kann als Steuerungsmechanismus verstanden werden, 2. Vertrauen verändert die Vorhersagen der Transaktionskostentheorie und 3. verschiedene Subdimensionen von Vertrauen wirken in unterschiedliche Richtungen auf die Entstehung von Governance. Auch für die Entstehung der Governance von Genossenschaften zeigen empirische Arbeiten eine Bedeutung des Vertrauenskonzepts. Zudem lässt sich eine Wirkung des Rechtsstaats auf die Ausgestaltung von Governance-Strukturen erkennen. Die Veränderung von Gesetzen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Entstehung und Wirkung von Governance. Allerdings stellt die Interdependenz zwischen den Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen Sozialkapital und Rechtsstaat und die Differenzierung ihrer Wirkung ein Feld für zukünftige Forschung dar.720 Es ist zu konstatieren, dass der Kontext bei der Untersuchung der Entstehung von Governance zu berücksichtigen ist.721 Allerdings muss für jedes Untersuchungsobjekt spezifiziert werden, welche Kontextfaktoren besondere Relevanz haben.722 Dies gilt auch für Genossenschaften, denen zwar Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht zuteilwurde, für die aber bislang nur vereinzelt empirische Arbeiten vorliegen, die den Zusammenhang zwischen Kontextfaktoren und der Entstehung von Governance analysieren. 2.2.2.4 Prozess 2.2.2.4.1 Prozess der Governance-Entstehung Die Kritik am abstrakten Prozessmodell der klassischen Transaktionskostentheorie hat ebenfalls zahlreiche Arbeiten motiviert. Eine Herausforderung bei der Vorstellung der Literatur in diesem Bereich besteht darin, dass die Arbeiten oft vor dem Hintergrund unterschiedlicher Theorien argumentieren723 und die Transaktionskostentheorie dabei nicht im Zentrum steht. Hierdurch ist die Darstellung eines zusammenhängenden Literaturbereichs zur Weiterentwicklung des Prozessmodells der klassischen Transaktionskostentheorie erschwert. Die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Gründungsprozess und Governance-Entstehung stellen vielmehr ein Mosaik dar, das im Folgenden rekonstruiert wird. Eine wesentliche Erkenntnis der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie ist, dass der Prozess der Governance-Entstehung mehr als zwei Phasen umfasst, wobei keine Einigkeit über die genaue Anzahl herrscht. Bei der Entstehung
720 Vgl. Lütz 2010, S. 151. 721 Vgl. Kieser und Ebers 2006, S. 302–303. 722 David und Han (2004, S. 54–55) stellen die Frage: Unter welchen Kontext-Bedingungen funktioniert die Transaktionskostentheorie? 723 Vgl. Bell et al. 2006, S. 1610.
2.2 Forschungsstand zur Governance-Entstehung
91
interorganisationaler Firmenbeziehungen grenzen Zajac und Olsen beispielsweise die Phasen Initialisierung, Durchführung und Rekonfiguration voneinander ab und widersprechen damit der Auffassung einer Zweiphasenteilung in der klassischen Transaktionskostentheorie.724 Ein Dreiphasenmodell wird ebenfalls für den Management-Entscheidungsprozess im Rahmen internationaler Firmenkooperationen skizziert: In der ersten Phase steht die Entscheidung für eine hybride Organisationsform, weil die Governance-Strukturen Markt und Unternehmen nicht infrage kommen. In der zweiten Phase findet eine eher markt- oder unternehmensorientierte vertragliche Ausgestaltung der hybriden Organisationsform statt und in der dritten Phase erfolgt die Netzwerkentwicklung, bei der neben den Transaktionsdimensionen viele weitere Faktoren einflussgebend sind.725 Auch die Untersuchung von Lebenszyklen in Allianzen kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als zwei Entwicklungsphasen abgegrenzt werden müssen.726 Dies widerspricht der in der klassischen Transaktionskostentheorie nahegelegten Vorstellung einer einmaligen und abschließenden Entscheidung der Akteure für eine der generischen Governance-Strukturalternativen.727 Darüber hinaus bietet die Literatur zum Prozess der Governance-Entstehung einen tieferen Einblick in die Bedeutung von Kontextfaktoren. Bei der Gründung hybrider Organisationsformen wird ein Großteil der Steuerung durch das Sozialkapital der Akteure erbracht,728 was den Zusammenhang zwischen der Prozessperspektive und der Kontexteinbettung der Transaktion herausstellt.729 Als weiteres Ergebnis der Literaturauswertung kann die Tatsache festgehalten werden, dass der Prozess als solcher Einfluss auf die entstehende GovernanceStruktur hat. Besonders anschaulich wird dies in einer Arbeit von Ring und van de Ven, die die Entstehung von hybriden Organisationsformen ebenfalls als einen Prozess konzipieren, in dem die Effizienz und Fairness der Organisation von den beteiligten Akteuren laufend beobachtet und beurteilt wird.730 Sie beschreiben eine dynamische Entwicklung von Governance, die zeitpunktbezogen stärker oder schwächer formalisiert ist: Ein zunächst formaler Vertrag wird während der Interaktion zunehmend durch informelle Regelungen angereichert, welche sich zu einem
724 Vgl. Zajac und Olsen 1993, S. 139–142. Siehe Larson (1992, S. 97–98) für ein weiteres dreistufiges Modell. 725 Vgl. Tallman und Shenkar 1994, S. 101. 726 Vgl. Murray und Mahon 1993, S. 109. Es werden bei Gulati (1998, S. 293–294) vier Abschnitte beschrieben: Zu Beginn steht die Entscheidung, eine Allianz zu bilden. Als Zweites findet eine Auswahl der Allianzpartner statt. Im dritten Abschnitt wird die Struktur der Allianz festgelegt und im vierten Abschnitt erfolgt die Entwicklung der Beziehung zwischen den Allianzpartnern. 727 Vgl. Abschnitt 2.2.1.4. 728 Vgl. Larson 1992, S. 98–99, Larson und Starr 1993, S. 5–6, und Dekker 2008, S. 923. 729 Vgl. Larson 1992, S. 98–99. 730 Vgl. Ring und van de Ven 1994, S. 97.
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2 Theoretische Grundlagen
späteren Zeitpunkt wieder in stärker formalisierter Governance niederschlagen.731 Das bedeutet, dass die entstehende Governance je nach Betrachtungszeitpunkt variiert. Zudem wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass hybride Organisationsformen gleichsam das Ergebnis eines emergenten sowie eines geplanten Prozesses sein können.732 Dem Entscheidungsprozess selbst wird dabei ein Einfluss auf die entstehende Governance attestiert: Emergente Prozesse führen zu stärkerer Bindung, werden meist eher von Einzelpersonen entwickelt und werden schneller beendet als solche, die bewusst gesteuert und nach einer Entscheidung zur Entwicklung einer Governance-Struktur vollzogen werden.733 Eine weitere Perspektive auf den Governance-Entstehungsprozess bietet die Forschung zur Partner-Auswahl in hybriden Organisationsformen.734 Diese stellt einen wesentlichen Teil der Prozessforschung im Bereich der Entstehung hybrider Organisationsformen dar.735 Die Forschungsbeiträge betrachten Partner-Auswahl als Governance-Mechanismus hybrider Organisationsformen, also als abhängige Variable analog zur Governance.736 Die Ausgestaltung der Partner-Auswahl wird deshalb von den Transaktionsdimensionen,737 den Akteurseigenschaften738 sowie dem Kontext erwartungsstabilisierender Mechanismen739 bestimmt. Indes herrscht keine Einigkeit darüber, ob die Partner-Auswahl substitutiv740 oder komplementär741 zur Governance einzuordnen ist. Genossenschaften waren im Rahmen der Prozessforschung zur GovernanceEntstehung bislang nicht Gegenstand. Auch allgemein sind empirische Untersuchungen zum Entstehungsprozess von Genossenschaften wenig zahlreich.742 Wenngleich der Gründungsprozess von Genossenschaften allgemein beschrieben ist,743 so thematisieren diese Arbeiten häufig Erfolgsfaktoren für die Gründung von Genossenschaften.744 Andere Arbeiten befassen sich mit Phasen im Lebenszyklus von Genossenschaften.745 Eine Fallstudie stellt beispielsweise Unterschiede
731 Vgl. Ring und van de Ven 1994, S. 103. 732 Vgl. Doz et al. 2000, S. 239, und Sydow 2005, S. 220. 733 Vgl. Doz et al. 2000, S. 250–253. 734 Vgl. Ménard 2004, S. 361, oder Dekker 2008, S. 915–916. 735 Vgl. Street und Cameron 2007, S. 251. 736 Vgl. Ménard 2004, S. 357, Oxley und Sampson 2004, S. 725, und Ding et al. 2013. 737 Vgl. Beckman et al. 2004 und Ding et al. 2013, S. 145. 738 Vgl. Dekker und van den Abbeele 2010, S. 1233. 739 Vgl. Hitt et al. 2004. 740 Vgl. Wuyts und Geyskens 2005, S. 110, und Li et al. 2008, S. 327. 741 Vgl. Dekker 2008, S. 936. 742 Vgl. Blome-Drees und Degens 2013, S. 335–337. 743 Vgl. Müller 1976, S. 200–209. 744 Vgl. Doluschitz et al. 2012. 745 Vgl. Cook 1995.
2.3 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage
93
in der Besetzung des Aufsichtsrats fest, je nachdem, in welcher Phase des Lebenszyklus sich eine Genossenschaft befindet.746 Dieses Ergebnis deutet auf einen Zusammenhang zwischen der Entwicklungsphase einer Genossenschaft und der Ausgestaltung ihrer Governance hin. Weitere Untersuchungen, die die Gründungsphase von Genossenschaften zum Gegenstand haben und sich dabei auf die Governance-Entstehung konzentrieren, erscheinen aufgrund dieser Ausgangslage als zweckmäßig. 2.2.2.4.2 Zwischenresümee Die ursprünglich abstrakte und stark reduzierte Prozessperspektive auf die GovernanceEntstehung in der klassischen Transaktionskostentheorie hat eine Entwicklung erfahren, wobei sich die Prozessperspektive im Lichte der neueren Literatur von größerer Bedeutung zeigte als zunächst angenommen. Es ist hier festzuhalten, dass der Prozess komplexer ist, als in der klassischen Transaktionskostentheorie durch die Einteilung in zwei Phasen suggeriert wurde. Wie sich in der Literatur zur Partner-Auswahl herausstellte, wird der Prozess der Governance-Entstehung durch die Einflussfaktoren Transaktion, Akteur und Kontext determiniert, wobei eine Wechselwirkung mit der entstehenden Governance besteht. Eine Untersuchung des Prozesses verspricht damit ein tieferes Verständnis über die Zusammenhänge bei der Entstehung von Governance.747 Der Untersuchungsbereich der Transaktionskostentheorie wurde im Rahmen der Prozessforschung auch auf hybride Organisationsformen ausgedehnt, die im Mittelpunkt der empirischen Forschung in diesem Bereich stehen. Eine Prozessperspektive gilt in der Literatur als besonders vielversprechend dafür, die Governance von hybriden Organisationsformen besser zu verstehen.748 Auch hier gilt allerdings, dass die Aufmerksamkeit nicht gleichmäßig über alle hybriden Organisationsformen verteilt war. Eine Prozessperspektive auf die Entstehung der Governance von Genossenschaften ist bislang in der Literatur nicht zu finden.
2.3 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage Ausgehend von der eingangs gestellten Hauptforschungsfrage „Wie entsteht die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft?“ wurden zunächst Grundbegriffe eingeführt und mit dem Kooperationsproblem die Notwendigkeit von erwartungsstabilisierenden Mechanismen begründet. Erwartungsstabilisierende
746 Vgl. Berge et al. 2016, S. 472. 747 Vgl. Noorderhaven 1994, S. 32–33. 748 Vgl. Borys und Jemison 1989, S. 239–241, Zajac und Olsen 1993, S. 131, Ring und van de Ven 1994, S. 90–91, und Das und Teng 2012.
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2 Theoretische Grundlagen
Mechanismen wurden anhand eines Schemas von Williamson in Ebenen gegliedert und mit dem Governance-Konzept eine Lösung für das Kooperationsproblem vorgestellt. Die Verortung der großen Vielfalt an Governance-Strukturen erfolgte mittels der Taxonomie der Transaktionskostentheorie, die die generischen GovernanceStrukturen Markt, hybride Organisationsformen und Unternehmen unterscheidet. Als übergeordnetes Untersuchungsobjekt wurde sodann die Genossenschaft als hybride Organisationsform eingeordnet und ihre Governance beschrieben. Die eingangs gestellte Forschungsfrage aufgreifend, thematisierte Kapitel 2.2 den Forschungsstand zur Entstehung von Governance. Die zum Forschungsstand recherchierte Literatur wurde aufgeteilt in: 1. die klassische Transaktionskostentheorie und 2. die empirischen Befunde und Weiterentwicklungen im Bereich der Transaktionskostentheorie. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auch auf Arbeiten, die die Genossenschaft im Rahmen der Transaktionskostentheorie behandeln. Insbesondere die Entstehung der genossenschaftlichen Governance ist jedoch bislang nur randständig erörtert worden. Zur Schärfung der eingangs gestellten Forschungsfrage erfolgt daher nun ein Resümee des Literaturüberblicks, um Theorielücken zusammenzufassen, die anschließend durch eine Spezifizierung der Hauptforschungsfrage anhand von Teil-Forschungsfragen adressiert werden.
2.3.1 Genossenschaftsspezifischer Erweiterungsbedarf der Transaktionskostentheorie Es ist festzustellen, dass sich ein äußerst umfangreiches Forschungsprogramm zur Transaktionskostentheorie entwickelt hat.749 In zahlreichen Arbeiten wurde die klassische Transaktionskostentheorie empirisch überprüft und weiterentwickelt, woran auch Williamson als Begründer der klassischen Transaktionskostentheorie selbst mitgewirkt hat. Durch diese Weiterentwicklung kann nun das bereits in Abbildung 2 gezeichnete Bild, das schematisch die Entstehung von Governance beschreibt, erweitert werden, wie in Abbildung 3 zu sehen ist. Zusammengefasst ergibt sich aus den einschlägigen Veröffentlichungen zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie die Erkenntnis, dass eine bloße Betrachtung der Transaktionsdimensionen die Entstehung des Phänomens Governance nicht vollständig erklären kann. Weitere Faktoren sind zu berücksichtigen, die hier gegliedert in den Unterabschnitten Akteur, Kontext und Prozess vorgestellt wurden.
749 Vgl. Kapitel 2.2. Literaturübersichten haben zum Beispiel Shelanski und Klein 1995, Rindfleisch und Heide 1997, David und Han 2004, Geyskens et al. 2006, Macher und Richman 2008 und Crook et al. 2012 angefertigt.
2.3 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage
95
Kontext − Sozialkapital − Rechtsstaat − … Unternehmen Akteur − Verhaltensannahmen − Anzahl der Akteure − Akteurseigenschaften − …
Entstehung der Governance − Governanceentstehungsprozess − …
Hybride Organisation
Markt
Wirkung
Transaktion − Faktorspezifität − Unsicherheit − Häufigkeit − …
Abbildung 3: Modell der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie. Quelle: Eigene Darstellung.
Neben einer inhaltlichen Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie kam es zu einer Erweiterung des Untersuchungssbereichs auf hybride Organisationsformen. Allerdings ist diese Untersuchungsbereichserweiterung als selektiv zu bewerten,750 da wenige hybride Organisationsformen besonders im Fokus standen: Allianzen, Joint Ventures und Subcontracting sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen,751 wohingegen Genossenschaften vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit erhielten.752 Die Gründe für die Existenz von Genossenschaften werden zwar im Rahmen der Transaktionskostentheorie thematisiert753 und Genossenschaften sind als hybride Organisationsform zu Märkten und Unternehmen verortet,754 allerdings befassen sich wenige Arbeiten mit der Heterogenität der genossenschaftlichen Governance.755 Die Ursachen für die Ausgestaltung der Governance von Genossenschaften bleiben empi-
750 Geyskens et al. (2006, S. 534) resümieren über die selektive Fokussierung der Transaktionskostentheorie als Schlussfolgerung ihres Literaturüberblicks: „Yet, for all its depth and scope, transaction cost theory has only begun to explore the variety and complexity of organizational forms. There is still much to learn.“ 751 Vgl. Macher und Richman 2008, S. 15–16. 752 Vgl. Ménard 2004, S. 350. 753 Vgl. Bonus 1986, Staatz 1987a und Cook 1995. 754 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.2 und Ménard 2007. 755 Mit der Differenzierung von Genossenschaften anhand ihrer Governance befassen sich beispielsweise Cook und Chaddad (2004), Ménard (2007) und Chaddad (2012).
96
2 Theoretische Grundlagen
risch weitestgehend unberücksichtigt.756 Insbesondere für hybride Organisationsformen, die sich graduell zwischen Markt und Unternehmen bewegen, erscheint eine Differenzierung anhand feiner Strukturunterschiede aber von besonderer Bedeutung,757 da nur so eine exakte Verortung auf dem Markt-Unternehmen-Kontinuum möglich ist. Eine Erweiterung des Untersuchungsbereichs der Transaktionskostentheorie auf die Genossenschaft erscheint darüber hinaus besonders interessant, da sich die Genossenschaft theorierelevant von anderen hybriden Organisationsformen unterscheidet. Die Identität von Nutzer und Eigentümer und das daraus abgeleitete Pro-Kopf-Stimmrecht sind charakteristische Merkmale der Genossenschaft,758 die andere hybride Organisationsformen nicht aufweisen. Ferner stellt die Genossenschaft in Verbindung mit übergeordneten Ebenen spezifischer erwartungsstabilisierender Mechanismen ein besonderes Governance-Regime dar,759 das sich für andere hybride Organisationsformen nicht finden lässt. Genossenschaften entstehen im Gegensatz zu anderen hybriden Organisationsformen vor dem Hintergrund einer Reihe genossenschaftlicher Prinzipien und bilden eine eigene Rechtsform.760 Hinzu kommt die starke Vernetzung unter den Genossenschaften durch Dachorganisationen in Form der Genossenschaftsverbände, die eine Vielzahl an Aufgaben im Rahmen der Durchsetzung des GenG wahrnehmen.761 Gleichzeitig ist die Cooperative Governance mit Herausforderungen konfrontiert, die sich aus der spezifischen Beschaffenheit der Genossenschaft ergeben.762 Weiterhin unterscheidet sich die Genossenschaft durch die typischerweise umfangreiche Mitgliederzahl von anderen hybriden Organisationsformen wie Allianzen oder Joint Ventures, an denen oftmals wenige oder sogar nur zwei Transaktionspartner beteiligt sind. Darüber hinaus kann hier festgestellt werden, dass der Genossenschaftssektor in vielen Wirtschaftsbereichen parallel zu anderen Governance-Strukturen existiert
756 Vgl. Abschnitt 2.2.2. Siehe auch Hernández-Espallardo et al. (2013, S. 240–241), die die rein konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Genossenschaft in der Transaktionskostentheorie kritisieren. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Bijman et al. (2014) die Änderungen der Governance von Agrargenossenschaften im europäischen Kontext auf zunehmende Wettbewerbsintensität zurückführen. Andere Arbeiten befassen sich mit den Folgen unterschiedlicher Governance-Konfigurationen: Cook und Illiopoulos (2000) untersuchen die Folgen unterschiedlicher Governance-Ausgestaltungen auf die Investitionsbereitschaft der Mitglieder. James und Sykuta (2005) befassen sich empirisch mit der Frage, inwiefern die Ausgestaltung genossenschaftlicher Governance zu Vertrauen zwischen ihren Mitgliedern führt. Höfer und Rommel (2015) gehen experimentell der Frage nach, inwiefern die Governance von Genossenschaften Auswirkungen auf das Investitionsverhalten von Mitgliedern hat. 757 Vgl. Pisano 1989, S. 109. 758 Vgl. Dunn 1988, S. 84–86. 759 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2. 760 Vgl. § 1 GenG. 761 Vgl. §§ 53–64 c GenG. 762 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.3.
2.3 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage
97
und diese Parallelexistenz in zahlreichen Fällen über lange Zeiträume stabil bleibt,763 was der Vorhersage der Transaktionskostentheorie widerspricht.764 Dies trägt dazu bei, dass Genossenschaften zum Teil als eigener Wirtschaftsbereich begriffen und von IOF, öffentlichen Unternehmen und Non-Profit-Organisationen abgegrenzt werden.765 Das ist umso bedeutender, als sich bei dem Vergleich von Transaktionen in IOF, öffentlichen Unternehmen und Non-Profit Organisationen zeigte, dass die Transaktionskostentheorie keine universelle Gültigkeit hat.766 Eine Untersuchung der Entstehung der Governance von Genossenschaften kann deshalb dazu beitragen, den Gültigkeitsanspruch der Transaktionskostentheorie weiter zu überprüfen und diesen gegebenenfalls zu erweitern.767 Die Untersuchung der Governance-Entstehung bei Genossenschaften bietet zudem die Möglichkeit, die zahlreichen Theorielücken zu adressieren, die oben im Literaturüberblick vorgestellt wurden. Solche Lücken zeigen sich beispielsweise beim Umgang mit den Verhaltensannahmen und der Konzeption des Akteurs. Dabei steht die Gültigkeit und Notwendigkeit des in der klassischen Transaktionskostentheorie postulierten Menschenbilds infrage. Es zeigt sich, dass weitere Akteurseigenschaften Einfluss auf die entstehende Governance haben, die durch die Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie nicht erfasst werden. Bei der hier geplanten Untersuchung sollte folglich der Akteur genauer beleuchtet werden, um festzustellen, welche Eigenschaften desselben für die Entstehung der Governance der Genossenschaft bedeutsam sind. Auf ein Voranstellen der Verhaltensannahmen der klassischen Transaktionskostentheorie wird in
763 Siehe hierzu beispielsweise den Bankensektor mit den Genossenschaftsbanken, den Einzelhandel mit genossenschaftlich organisierten Einzelhändlern oder die Landwirtschaft und die zahlreichen Agrargenossenschaften. 764 Vgl. Williamson 1990, S. 26. Wenngleich sich dieses Phänomen beispielsweise durch eine industrieökonomische Perspektive erklären lässt (vgl. Abschnitt 2.1.4.1.2 und Hanisch et al. 2013), bleiben dennoch Fragen in Bezug auf die Transaktionskostentheorie offen: Die Organisation einer Transaktion mittels einer Genossenschaft ist für die Mitglieder der Genossenschaft nur dann sinnvoll, wenn die Genossenschaft dazu in der Lage ist, Transaktionen auf einem vergleichbaren Transaktionskostenniveau abzuwickeln wie die transaktionskosteneffizienteste alternative GovernanceStruktur. Andernfalls würden zumindest aus Mitgliederperspektive Opportunitätskosten entstehen, auch wenn die Existenz der Genossenschaft aus volkswirtschaftlicher Sicht vorteilhaft wäre (vgl. Fehl 1994, S. 402–403). Die langfristige Parallelexistenz von Genossenschaften und anderen Governance-Strukturen widerspricht der Vorstellung der Transaktionskostentheorie, dass sich eine effiziente Governance-Struktur langfristig durchsetzt und andere Governance-Strukturen verdrängt (vgl. Williamson 1990, S. 26). 765 Vgl. Defourny 2001, S. 33–36, und Abschnitt 2.1.4.1. 766 Vgl. Coles und Hesterly 1998a, und Macher und Richman 2008, S. 35–36. Neben der divergierenden Erklärungskraft der Transaktionskostentheorie in einzelnen Wirtschaftsbereichen ist festzustellen, dass das Zutreffen der Transaktionskostentheorie teilweise von zusätzlichen Bedingungen abhängig ist (vgl. Coles und Hesterly 1998b, S. 341–342, und David und Han 2004, S. 54–55). 767 Vgl. Ménard 2004, S. 350.
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2 Theoretische Grundlagen
Anlehnung an Tsang verzichtet und stattdessen eine qualitativ-explorative Untersuchung der Ursachen der Governance-Entstehung bei Genossenschaften angestrebt.768 Die Transaktionsdimensionen sind der Kern der klassischen Transaktionskostentheorie und bilden das Fundament für die Weiterentwicklung der Theorie, was dafür spricht, diese in Bezug auf die bislang vernachlässigte genossenschaftliche Governance zu analysieren. Wenngleich Faktorspezifität und Häufigkeit eher vorhersagekonforme Ergebnisse bei empirischen Untersuchungen gezeigt haben, so scheint eine weitere empirische Überprüfung ihrer Gültigkeit für die Genossenschaft dennoch sinnvoll. Wesentlicher Forschungsbedarf besteht indes hinsichtlich des Umgangs mit dem Unsicherheitskonzept in der Transaktionskostentheorie, bei dessen Untersuchung sich widersprüchliche Ergebnisse gezeigt haben. Für den Kontext konnte in der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie empirisch nachgewiesen werden, dass diesem eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Governance zukommt. Gleichwohl ist den verschiedenen Kontextfaktoren bisher unterschiedlich viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Weiterer Forschungsbedarf besteht so zum Beispiel hinsichtlich des Einflusses von Vertrauen, und es ist jeweils zu konkretisieren, welche Kontextfaktoren für die untersuchte Transaktion relevant sind und wie diese wirken. Ein besonderer Forschungsbedarf besteht für den Governance-Entstehungsprozess,769 der im Rahmen der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie ebenfalls Untersuchungsgegenstand war. Bislang widmen sich wenige Arbeiten diesem Thema, was auf die Datenverfügbarkeit770 und die Notwendigkeit qualitativer Methoden zurückgeführt wird.771 Qualitative Arbeiten sind bei der Untersuchung des Prozesses notwendig, da die Frage nach dem „Wie“ hier im Mittelpunkt steht. Auch in der Literatur wird die Feststellung geteilt, dass die Theorielücke in Bezug auf den Prozess der Governance-Entstehung besonders groß ist.772 Eine Prozessperspektive auf die Entstehung der Governance der Genossenschaft hat ferner den Vorteil, dass das Zusammenwirken von Transaktion, Kontext und Akteur besser verstanden werden kann. Durch einen Fokus auf die Genossenschaft kann damit sowohl der Untersuchungsbereich der Transaktionskostentheorie erweitert werden als auch ein Beitrag dazu geleistet werden, bestehende Theorielücken insgesamt zu adressieren und wo möglich zu schließen. Hierzu ist es erforderlich, einen sehr breiten Ansatz in der weiteren Arbeit zu wählen.
768 Vgl. Tsang 2006. Siehe auch die Argumentation in den Abschnitten 2.1.1.1, 2.2.1.1, 2.2.1.5 und 2.2.2.1.1. 769 Vgl. Noorderhaven 1994, S. 32–33, und Salk 2005. 770 Vgl. Ariño und García-Canal 2012, S. 271. 771 Vgl. Salk 2005. 772 Vgl. Lütz 2010, S. 151, und Ariño und García-Canal 2012, S. 275–276.
2.3 Weitere Substanziierung der Forschungsfrage
99
2.3.2 Weitere Fokussierung im Forschungsprozess Der Überblick über den Forschungsstand macht nun die Festlegung des weiteren Untersuchungsrahmens dieser Arbeit möglich. Dieser wird die Entstehung der Governance von Genossenschaften in Deutschland umfassen und die transaktionskostentheoretische Forschung in diesem Feld erweitern.773 Dabei steht in dieser Arbeit die Erklärung der Heterogenität der genossenschaftlichen Governance im Mittelpunkt und nicht die komparative Begründung der Existenz von Genossenschaften.774 In diesem Zusammenhang ist es aus forschungspragmatischen Erwägungen775 notwendig, ein Governance-Attribut zu identifizieren, anhand dessen die Heterogenität der genossenschaftlichen Governance exemplarisch untersucht werden kann.776 Die Spezifikation der abhängigen Variablen stellt vor diesem Hintergrund einen wichtigen Zwischenschritt der weiteren Arbeit dar. Darüber hinaus hat diese Arbeit zum Ziel, Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung der Governance von Genossenschaften determinieren. Dabei soll ebenfalls geklärt werden, wie die Wirkung dieser Faktoren auf die entstehende Governance ist.777 Somit wird die Grundlage geschaffen, die Heterogenität der genossenschaftlichen Governance erklären zu können. Im Kern der weiteren Arbeit geht es also darum, den Zusammenhang zwischen der Governance der Genossenschaft und ihren Determinanten zu ergründen. Hierzu wird die weitere Arbeit von der bereits eingangs formulierten Hauptforschungsfrage geleitet, die lautet: Wie entsteht die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft? Diese offene Forschungsfrage ist die Klammer für weitere Teil-Fragestellungen. Durch diese soll die im Rahmen der Literaturschau verwendete Gliederung von Einflussfaktoren aufgegriffen werden.778 Somit ergänzen drei Teil-Forschungsfragen779 die bereits genannte Hauptforschungsfrage:
773 Vgl. Ménard 2004, S. 350. 774 Vgl. Ménard 2004, S. 369–370. 775 Eine Berücksichtigung sämtlicher Governance-Attribute einer Genossenschaft würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen und aufgrund der begrenzten Ressourcen den notwendigen Tiefgang verhindern. Siehe zur Begründung auch Abschnitt 3.1.3.2.5.1. 776 Siehe hierzu als Vergleich Chaddads (2012, S. 457–458) Differenzierung von Genossenschaften anhand von Governance-Attributen. 777 Diese Arbeit knüpft damit an die bei Chaddad (2012, S. 457–458) vorgetragene Forschungsfrage nach den Ursachen für die Heterogenität genossenschaftlicher Governance an. 778 Die Reihenfolge der Teil-Forschungsfragen orientiert sich hier an der Vorstellung der Literatur in Kapitel 2.2. Die Beantwortung der Forschungsfragen weicht in der weiteren Arbeit von der hier gewählten Reihenfolge ab und ist an der Grounded-Theory-Methode in Abschnitt 3.1 und an der hierarchischen Regressionsanalyse in Abschnitt 3.3 ausgerichtet. 779 Der Kontext wird in den Teil-Forschungsfragen als Gründungskontext bezeichnet, um eine Einheitlichkeit mit der später in dieser Arbeit verwendeten Terminologie herzustellen (vgl. Abschnitt 2.2, Fußnote 404 und Abschnitt 3.1.3.2.4).
100
1. 2. 3.
2 Theoretische Grundlagen
Wer sind die Akteure und wie wirken ihre Eigenschaften bei der Entstehung der Governance von Genossenschaften? Welche Wirkung hat die Transaktion bei der Entstehung der Governance von Genossenschaften? Was ist der relevante Gründungskontext und welche Wirkung hat dieser für die Entstehung der Governance von Genossenschaften?
Der Prozess wird in den Teil-Forschungsfragen außen vor gelassen, weil dieser bereits durch die übergeordnete Hauptforschungsfrage adressiert ist. Eine Übersicht der Forschungsfragen und ihrer Verortung im Modell der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie ist in Abbildung 4 dargestellt. Gründungskontext − … TeilForschungsfrage 3
Akteur − …
TeilForschungsfrage 1
Entstehung der Governance − …
HauptForschungsfrage
Genossenschaft − …
TeilForschungsfrage 2 Wirkung
Transaktion − …
Abbildung 4: Verortung der Forschungsfragen im Modell der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie. Quelle: Eigene Darstellung.
Die Frage nach dem „Wie“ macht eine Prozessperspektive notwendig, die zugleich den Zusammenhang zwischen exogenen Variablen und Governance leichter sichtbar machen kann. Daher wird die Untersuchung des Entstehungsprozesses der Governance von Genossenschaften den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Hypothesen bilden. Antworten auf die genannten Fragen bieten die Chance, den Untersuchungsbereich der Transaktionskostentheorie zu erweitern und die beschriebenen Theorielücken zu verkleinern.
3 Modellentwicklung und Prüfung 3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung Im vorangegangenen Kapitel wurde die bereits eingangs skizzierte Forschungsfrage hergeleitet und begründet. Zusätzliche Teil-Forschungsfragen dienten dazu, die Hauptforschungsfrage zu spezifizieren und identifizierte Theorielücken zu benennen. Das Ziel der nun folgenden Kapitel ist es, Antworten auf die Forschungsfragen zu finden. Die Literaturschau hat insbesondere deutlich gemacht, dass weitere empirische Forschung notwendig ist, um die Entstehung der genossenschaftlichen Governance zu verstehen. Das Ableiten eines Modells aus der bestehenden Transaktionskostentheorie und ihren Verhaltensannahmen würde keinen Aufschluss über den tatsächlichen Entstehungsprozess der Governance von Genossenschaften geben. Zudem wäre ein tieferes Verständnis der genossenschaftlichen Governance ohne empirische Analysen erschwert, da beispielsweise die Genossenschaftssatzung als zentrales Element der genossenschaftlichen Governance bislang kaum Gegenstand der einschlägigen Literatur ist. Auch müssten relevante Einflussfaktoren der Governance-Entstehung aus der Literatur abgeleitet werden und die Chance, neue Governance-Struktur spezifische Faktoren zu identifizieren, wäre nicht gegeben. Eine empirische Untersuchung ist daher angezeigt und zugleich vielversprechend, da diese neue Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand – die Entstehung genossenschaftlicher Governance – verspricht. Die Art der Haupt- und Teil-Forschungsfragen erlaubt es nicht, ein rein quantitativ-empirisches Vorgehen zu verfolgen. Hierzu wären die Hypothesen vollständig aus der vorliegenden Literatur zu begründen, was aufgrund der bislang geringen Aufmerksamkeit gegenüber dem Untersuchungsgegenstand und den daher wenigen Literaturbeiträgen unzureichend erscheint. Die offene Frage nach dem Governance-Entstehungsprozess lässt ein zunächst qualitativ-exploratives Untersuchungsdesign als zweckmäßig erscheinen.780 Insbesondere zur Theorieentwicklung eignen sich qualitative Ansätze, deren Ergebnisse in einem zweiten Schritt durch quantitative Methodik validiert werden können.781 Eine etablierte qualitative Forschungsmethode ist die Grounded-Theory-Methode, die auch in dieser Arbeit zur Anwendung kommen soll. Die qualitativ-explorative Untersuchung wird Inhalt des ersten Kapitels 3.1 sein. Darin wird eine Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance einer Energiegenossenschaft entwickelt. Die Gegenstandstheorie beinhaltet ein Prozessmodell und wird die Governance der Genossenschaft in Form ihrer Satzung analysieren. Gegen eine Verwendung der
780 Vgl. Bruce und Jordan 2007, S. 14. Qualitative Forschungsmethoden sind in der Transaktionskostentheorie etabliert (vgl. Dyer 1997, S. 543, und Macher und Richman 2008, S. 7–8). 781 Vgl. Rossman und Wilson 1985 und Strauss und Corbin 1996, S. 4. https://doi.org/10.1515/9783110611151-003
102
3 Modellentwicklung und Prüfung
Grounded-Theory-Methode spricht dabei nicht, dass die Forschungsfragen dieser Arbeit aus der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie abgeleitet sind und damit vor dem Hintergrund eines umfangreichen Literaturbestands gestellt wurden. Das abduktive Vorgehen der Grounded-Theory-Methode gewährleistet die Entwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie auch dann, wenn theoretisches Vorwissen besteht.782 Der umfangreiche Literaturbestand macht es jedoch erforderlich die Gegenstandstheorie in einem zweiten Kapitel 3.2 vor dem Hintergrund der weiterentwickelten Transaktionskostentheorie und der einschlägigen Genossenschaftsliteratur einzuordnen. So wird deutlich, wie die durch das qualitativ-explorative Vorgehen gewonnenen Erkenntnisse zur Literatur stehen. Die gleichzeitige Betrachtung von Gegenstandstheorie und Literatur bildet zugleich die Basis für die Begründung von Hypothesen, aus denen das Modell der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften besteht. Das Modell der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften, das in Kapitel 3.2 vorgestellt wird, ist folglich aus der Gegenstandstheorie abgeleitet und durch die Reflexion von einschlägiger Literatur begründet. Im dritten Kapitel 3.3 wird es darum gehen, die Hypothesen des Modells der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften quantitativ-empirisch zu überprüfen. Damit wird die qualitativ-explorative Methodik um ein quantitativempirisches Verfahren ergänzt. Die Nachteile eines rein qualitativen Vorgehens können so reduziert werden.783 Die Ergebnisse quantitativer Methoden ermöglichen es, in einer Nachbetrachtung784 das entwickelte Modell der Governance-Entstehung zu beurteilen, anzupassen und einzuordnen. Ein solches Vorgehen, das sowohl qualitativ-explorative als auch quantitativ-empirische Verfahren nutzt, wird auch als Mixed-Methods-Ansatz bezeichnet.785 Es verspricht umfangreiche und zugleich durch die Betrachtung einer großen Fallzahl erhärtete Antworten auf die Forschungsfragen zu liefern und ist bereits in anderen Untersuchungen zur Entstehung von Governance zur Anwendung gekommen.786 Die Entwicklung der Gegenstandstheorie im nun folgenden ersten Kapitel 3.1 erfolgt in mehreren Einzelschritten, denen eine Reihe von Unterabschnitten entspricht. Zunächst wird die Grounded-Theory-Methode als Forschungsmethode eingeführt. Daran schließt sich eine Einordnung und Klassifizierung des Untersuchungsobjekts 782 Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass eine Projektion bestehender Theorie in die untersuchten Daten erfolgt. Allerdings ist sich die Grounded-Theory-Methode dieser Tatsache bewusst und das generelle methodische Vorgehen wirkt einer solchen Gefahr entgegen, indem beispielsweise über ein mehrstufiges Verfahren empirisch begründete Zusammenhänge aus den betrachteten Daten abgeleitet werden (vgl. Abschnitt 3.1.1). 783 Beispielsweise ist in qualitativ-empirischen Untersuchungen der Test von Hypothesen erschwert, es können Erkenntnisse nicht ohne Weiteres generalisiert werden und die Ergebnisse sind anfälliger für subjektive Verzerrungen durch den Forscher (vgl. Johnson und Onwuegbuzie 2004, S. 20). 784 Die Nachbetrachtung ist Gegenstand der Diskussion in Kapitel 4.1. 785 Vgl. Johnson und Onwuegbuzie 2004, S. 17, und Johnson et al. 2007, S. 123. 786 Vgl. Uzzi 1996 und Uzzi 1999.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
103
Energiegenossenschaft an, da die empirische Untersuchung an einer Auswahl von Energiegenossenschaften erfolgt. Zudem wird auf das Untersuchungsmaterial und das für die Grounded-Theory-Methode elementare Konzept der Abduktion eingegangen. Anschließend folgen die Erörterung der Gegenstandstheorie und die Erläuterung der im Rahmen der Grounded-Theory-Methode gebildeten Kodes.
3.1.1 Grounded-Theory-Methode 3.1.1.1 Methode und Forschungsparadigma Die Grounded-Theory-Methode787 ist eine der am häufigsten eingesetzten qualitativen Forschungsmethoden.788 Sie wurde in den 1960er-Jahren von Glaser und Strauss entwickelt789 und wird seitdem von beiden Autoren federführend und unterstützt von CoAutoren weiterentwickelt, jedoch mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten.790 Zum Verständnis der Methode ist wichtig, zwischen der „Grounded-Theory-Methode“ als Forschungsmethode und der durch ihre Anwendung entstehende „Grounded Theory“ zu unterscheiden.791 Eine Grounded Theory ist dabei in zwei Ausprägungsformen vorzufinden: zum einen in Form von gegenstandsbezogener Grounded Theory, also solcher Theorie, die sich auf einen konkret abgegrenzten Gegenstand bezieht und auch als materiale Grounded Theory bezeichnet wird;792 zum anderen in Form von formaler Grounded Theory, die ebenfalls das Ergebnis der Grounded-Theory-Methode sein kann und die nicht auf einen konkreten Gegenstand begrenzt ist.793
787 Die Bezeichnung Grounded Theory hat sich auch im deutschen Sprachraum durchgesetzt, weshalb diese Bezeichnung hier ebenfalls verwendet wird (vgl. Mey und Mruck 2011, S. 12). 788 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 11–12. 789 Vgl. Glaser und Strauss 2010. 790 Die Grounded-Theory-Methode entstand als ein innovatives methodisches Vorgehen in einem gemeinsamen Forschungsprojekt von Glaser und Strauss in den 1960er-Jahren im Krankenhausbereich und wurde im Anschluss an das Projekt separat als Grounded-Theory-Methode veröffentlicht (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 7–12). Zur Zeit der Entwicklung der Grounded-Theory-Methode war diese vor allem eine Kritik an den vorherrschenden Methoden in der Soziologie, besonders aber an der Dominanz von deduktiven Forschungsparadigmen, die als „Grand Theory“ (Glaser und Strauss 2010, S. 8) bezeichnet wurden (vgl. Mey und Mruck 2011, S. 13). In den Jahren nach der Veröffentlichung des Hauptwerkes „The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research“ (Glaser und Strauss 2010) traten zwischen Glaser und Strauss jedoch Differenzen bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung der Grounded-Theory-Methode auf, was zur Folge hatte, dass beide jeweils ihre eigene Variante der Forschungsmethode separat entwickelten (vgl. Strübing 2008, S. 95, sowie Fußnote 800). 791 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 12. 792 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 70. 793 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 29. Eine formale Grounded Theory entsteht durch die Untersuchung einer Vielzahl von Gegenständen und der Entwicklung von darauf bezogenen Gegenstandstheorien (vgl. Breuer 2009, S. 108). Es handelt sich bei einer formalen Grounded Theory gewissermaßen um eine Metatheorie zu einer Vielzahl von Gegenstandstheorien.
104
3 Modellentwicklung und Prüfung
Strauss und Corbin fassen die Vorgehensweise der Grounded-Theory-Methode folgendermaßen zusammen: Eine „Grounded“ Theory ist eine gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchte Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt. Folglich stehen Datensammlung, Analyse und die Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Am Anfang steht nicht eine Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen.794
Wie in dem Zitat deutlich wird, ist die Grounded-Theory-Methode neben den methodologischen Vorgaben, die sie macht, vor allem ein Forschungsparadigma, ein Forschungsstil und eine Grundhaltung des Forschers,795 bei der nicht die Überprüfung einer bereits existierenden Theorie, sondern die Entwicklung von neuer Theorie im Vordergrund steht.796 Das Vorgehen der Grounded-Theory-Methode zielt darauf ab, relevante Kategorien zu entdecken und den Zusammenhang zwischen diesen herauszuarbeiten, im Gegensatz zu quantitativen Forschungsansätzen, bei denen die Überprüfung von Zusammenhängen im Vordergrund steht.797 So eignen sich insbesondere Untersuchungsgegenstände, die in der Literatur vernachlässigt worden sind, für die Verwendung der Grounded-Theory-Methode.798 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Fragestellung und das Thema nicht auf Grundlage eines Literaturstudiums entwickelt werden können.799 Die ursprünglich von Glaser und Strauss gemeinsam entwickelte GroundedTheory-Methode wurde im Verlauf von beiden Autoren separat weiterentwickelt.800 794 Strauss und Corbin 1996, S. 7–8. 795 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 22. 796 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 39. 797 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 32. 798 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 20. 799 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 20–24. 800 Der wesentliche Unterschied der beiden Ansätze liegt darin, dass Glaser im Gegensatz zu Strauss empfiehlt, den Theoriegewinnungsprozess möglichst frei von bestehenden theoretischen Konzepten zu halten und den Forscher darin ermutigt, auf die Emergenz von theoretischen Konzepten aus dem Material zu vertrauen (vgl. Mey und Mruck 2011, S. 38). So sind bei Glaser theoretisches Vorwissen und eine damit einhergehende Färbung im Forschungsprozess strikt abzulehnen, da der Forscher sich vollständig auf die Daten stützen sollte (vgl. Strübing 2008, S. 69). Diese Vorgehensweise wird in dem von Strauss weiterentwickelten Ansatz kritisiert (vgl. Strübing 2008, S. 52). Strübing (2008, S. 70) argumentiert, dass für den vergleichenden Prozess der Grounded-Theory-Methode immer auch etablierte Konzepte notwendig sind und somit ein Bezug zum theoretischen Vorwissen unvermeidlich und sogar notwendig ist. Ein weiterer Unterschied zwischen Glaser und Strauss besteht darin, dass Glaser es ablehnt, als Teil des Theoriegeneseprozesses die entwickelte Grounded Theory auch einem Falsifikationstest zu unterziehen (vgl. Strübing 2008, S. 74). Hingegen ist es die Auffassung von Strauss, dass die Abfolge bei der Theoriegenese aus Induktion, Deduktion und Verifikation bestehen sollte (vgl. Strübing 2008, S. 73–74). Weiterhin unterscheiden sich die beiden Ansätze in Bezug auf das Vorgehen beim
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
105
Die Rezeption der von Strauss vertretenen Grounded-Theory-Methode ist heute im deutschsprachigen Raum stärker,801 was insbesondere darauf zurückzuführen ist, dass im Ansatz von Strauss theoretisches Vorwissen einbezogen werden kann und ein Verifikationsschritt leichter zu integrieren ist.802 In dieser Arbeit soll dem Ansatz von Strauss gefolgt werden, der diesen in Zusammenarbeit mit Corbin weiterentwickelte. Dies erscheint insbesondere deshalb zweckmäßig, weil das hier gewählte Forschungsdesign auf Basis eines Theoriestudiums entwickelt wurde. Zudem passen die beabsichtigte Entwicklung von Hypothesen und ihre spätere quantitative Überprüfung eher zur Verwendung des Ansatzes von Strauss und Corbin.803 3.1.1.2 Prozess der Theoriegenese Der Forschungsprozess der Grounded-Theory-Methode wird durch die permanente Theoriebildung geleitet und folgt damit einem iterativen Muster.804 Es gibt während des Forschens stets einen Wechsel zwischen „Handeln (Datenerhebung) und Reflexion (Datenanalyse und Theoriebildung)“805. Konkret bedeutet dies, dass „Datenerhebung, Datenauswertung (Kodieren) und Theoriebildung (Memos schreiben, Modellbildung etc.)“806 mehrmals durchlaufen werden und der Forscher innerhalb dieser Prozessschritte vor- und zurückspringen kann; bereits kodiertes Material kann beispielsweise erneut untersucht werden.807 Das Vorgehen der Grounded-Theory-Methode ist als ein Fragenstellen an das Untersuchungsmaterial zu charakterisieren,808 bei dem Konzepte und Hypothesen abgeleitet werden, die dann durch Vergleiche mit anderen Fällen überprüft und verbessert werden.809 So
Kodieren der Daten: Bei Strauss handelt es sich um einen dreistufigen Prozess, bei Glaser um einen zweistufigen (vgl. Strübing 2008, S. 19). 801 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 20. 802 Vgl. Strübing 2008, S. 76–77. 803 Vgl. Fußnote 800. 804 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 23. 805 Mey und Mruck 2011, S. 23. 806 Breuer 2009, S. 55. 807 Vgl. Breuer 2009, S. 55. 808 Vgl. Hildebrand 2005, S. 36. 809 Der Vergleich ist ein wichtiges Element der Grounded-Theory-Methode, der allen Kodierprozessen zugrunde liegt (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 62), weshalb die Methode auch als „Analysemethode der ständigen Vergleiche“ (Strauss und Corbin 1996, S. 44) bezeichnet wird. Vergleiche dienen als zentrales Mittel zur Analyse des Materials und sollten insbesondere Vergleiche mit theoretischem Vorwissen (vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 67) und den eigenen Erfahrungen (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 82) beinhalten. Eine besondere Bedeutung beim Vergleich kommt dem Gruppieren zu, das der Strukturierung des Materials dient (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 70). Dieser Prozess wird auch als Typenbildung bezeichnet (vgl. Breuer 2009, S. 90). Dabei werden ähnliche Fälle von unähnlichen getrennt und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 66).
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3 Modellentwicklung und Prüfung
entstehen im Forschungsprozess nach und nach Schlüsselkategorien, die den Kern der Theorie bilden.810 Die Auswahl der zu untersuchenden Daten findet im Rahmen der GroundedTheory-Methode während der Bearbeitung der Forschungsfrage im Feld statt.811 Das Prozedere der Datensammlung wird im Rahmen der Grounded-Theory-Methode „theoretisches Sampling“812 genannt. Das theoretische Sampling bezeichnet das Verfahren, mit dem in der Grounded-Theory-Methode Untersuchungsmaterial ausgewählt wird: Ohne im Vorhinein einen Datensatz zu bestimmen, entscheidet der Forscher während der Analyse eines Falls, welcher nächste Fall die gewonnenen Erkenntnisse untermauern, erweitern oder infrage stellen könnte.813 Für den Forscher ist es deshalb nicht notwendig, schon zu Beginn des Forschungsprozesses eine bestimmte Anzahl an Fällen festzulegen, die untersucht werden soll, geschweige denn diese auszuwählen.814 Die Fallauswahl wird durch den Fortschritt der Theorieentwicklung gesteuert, mit dem Ziel eine theoretische Sättigung815 zu erreichen. Dahinter verbirgt sich die Praxis, dass nur solange neues Material selektiert wird, bis für eine Kategorie „1. keine neuen oder bedeutsamen Daten mehr [. . .] aufzutauchen scheinen; 2. die Kategorienentwicklung dicht ist, [. . .] [und, J. M.] 3. die Beziehungen zwischen Kategorien gut ausgearbeitet und validiert sind.“816 Zur Wahrnehmung, wann eine theoretische Sättigung erreicht ist, spielt die Sensibilität des Forschers eine große Rolle.817 Die Sensibilität des Forschers für theoretische Zusammenhänge in den Daten ist auch für den Theorieentwicklungsprozess der Grounded-Theory-Methode entscheidend, denn dieser fußt auf abduktiven Schlüssen, die eine Hypothese über Ursache und Wirkung machen.818 Die Abduktion ist ein Verfahren, das zwischen induktivem und deduktivem Vorgehen zu verorten ist.819 Die Abduktion ist nicht als logische Folgerung aus dem Datenmaterial zu einzuordnen,820 sondern als kreativer Schluss des Forschers,821 mit dem dieser seine Beobachtung auf eine höhere Abstraktionsstufe bringt und somit Theorie entwickelt.822 Aufgrund der notwendigen Kreativität bei diesem Prozess stellt sich die Frage, wie mit theoretischem Vorwissen umzugehen ist.
810 Vgl. Hildebrand 2005, S. 36. 811 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 163. 812 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 61. 813 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 61. 814 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 76. 815 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 159. 816 Strauss und Corbin 1996, S. 159. 817 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 80. 818 Vgl. Hildebrand 2005, S. 34. 819 Vgl. Suddaby 2006, S. 639. 820 Vgl. Strübing 2008, S. 44–45. 821 Vgl. Strübing 2008, S. 56–57. 822 Vgl. Strübing 2008, S. 46–47.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
107
Theoretisches Vorwissen birgt einerseits die Gefahr, durch Konzepte der Theorie eine Theorieentwicklung zu verhindern, da lediglich bereits Bekanntes entdeckt wird.823 Andererseits ist gerade die theoretische Sensibilität insbesondere dann wahrscheinlich, wenn auch die theoretischen Vorkenntnisse ausgeprägt sind.824 Denn die theoretische Sensibilität ist die Folge einer guten Kenntnis der Fachliteratur, persönlichen und professionellen Erfahrungen mit dem Untersuchungsobjekt sowie einer kontinuierlichen Auseinandersetzungen mit den Daten, die im Rahmen der Untersuchung erhoben werden.825 Das Verhältnis von Theoriekenntnis und theoretischer Unbefangenheit sollte demnach ausgewogen sein, um relevante Ursache-Wirkungs-Beziehungen erkennen zu können.826 3.1.1.3 Kodieren und Memos Im Mittelpunkt der Grounded-Theory-Methode steht das Kodieren von Datenmaterial, welches nun vorgestellt wird. Strauss definiert den Prozess des Kodierens folgendermaßen: „Kodieren stellt die Vorgehensweisen dar, durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden.“827 Kurz gesagt, erfolgt das Kodieren dadurch, dass empirische Phänomene Bezeichnungen erhalten, die sowohl sozialwissenschaftliche Begriffe sein dürfen als auch alltagssprachlich aus dem Datenmaterial stammen können – Letzteres wird In-vivo-Kode828 genannt.829 Neben den empirischen Phänomenen selbst werden auch die Kodes Gegenstand des Kodierprozesses, indem diese durch Kodes höherer Ordnung zueinander in Beziehung gesetzt werden.830 Das sogenannte „Konzept-Indikator-Modell“ charakterisiert den Kodierprozess, bei dem zunächst ein vorläufiger Begriff zur Bezeichnung eines Datenabschnitts gewählt wird, der durch Überprüfung mit weiteren Daten geschärft und konkretisiert wird.831 Das Kodieren wird in drei aufeinanderfolgende Stufen unterteilt,832 wobei jede Stufe das Abstraktionsniveau erhöht.833 Auf der ersten Stufe ist das sogenannte offene Kodieren verortet, womit „der Prozeß des Aufbrechens, Untersuchens, Vergleichens, Konzeptualisierens und 823 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 38. 824 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 30, und Strübing 2008, S. 57–58. 825 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 30. 826 Vgl. Strübing 2008, S. 62–63. 827 Strauss und Corbin 1996, S. 39. 828 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 50. 829 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 54. 830 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 25. 831 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 24. „Alltagsweltliche Phänomene in Form empirischer Daten werden als Indikatoren, als Anzeichen für etwas Allgemeineres, Grundlegenderes verstanden“ (Breuer 2009, S. 71). 832 Vgl. Breuer 2009, S. 93. 833 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 47, und Breuer 2009, S. 75.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
Kategorisierens von Daten“834 gemeint ist. Das offene Kodieren ist dadurch gekennzeichnet, dass es nur sehr wenige Annahmen trifft und den größten Teil des Materials nutzt.835 Während des Prozesses werden die Kodes und Kategorien immer wieder angepasst und umformuliert,836 sodass eine möglichst große Nähe zum Datenmaterial erreicht wird.837 Auf der zweiten Stufe des Kodierprozesses findet das axiale Kodieren statt.838 Das axiale Kodieren zielt darauf, Phänomene zu erfassen und die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen die Phänomene auftreten.839 Das offene Kodieren bricht die Daten auf, wohingegen das axiale Kodieren die Daten wieder zusammenfügt.840 Die Kodes, die beim offenen Kodieren entstehen und den axialen Kodes zugeordnet werden, werden als Subkategorien bezeichnet.841 Mit dem Fortschreiten des Kodierens wird eine immer größere Abstraktion zwischen den hinzukommenden Kodes und dem Datenmaterial erreicht.842 Das axiale Kodieren läuft in vier Schritten ab:843 Erstens werden die bereits gebildeten Kategorien zueinander in Beziehung gesetzt. Daran schließt zweitens eine Überprüfung der Stabilität der Beziehung zwischen den Kategorien an. Es werden drittens weitere Subkategorien gesucht, und es wird viertens die Variation der Phänomene untersucht. Die dritte Stufe des Kodierens und damit die höchste Abstraktionsstufe bildet das selektive Kodieren.844 Das Ziel des selektiven Kodierens ist die Herausarbeitung von Schlüssel- und Kernkategorien.845 Die Schlüssel- und Kernkategorien schaffen eine Ordnung der Subkategorien, mit denen sie in Verbindung stehen. Gleichzeitig ergibt sich durch eine Kernkategorie die Geschichte, die der Forscher aus den Daten liest.846 Das selektive Kodieren ist als ein axiales Kodieren auf höherem Abstraktionsniveau zu verstehen.847 Strauss und Corbin beschreiben das selektive Kodieren in fünf Schritten:848 1. Es wird ein roter Faden aus den Daten freigelegt. 2. Die Kategorien werden um die Kernkategorie mithilfe eines Paradigmas849 angeordnet. 3. Die 834 Strauss und Corbin 1996, S. 43. 835 Vgl. Strübing 2008, S. 20–21. 836 Vgl. Strübing 2008, S. 21–22. 837 Vgl. Breuer 2009, S. 76. 838 Vgl. Breuer 2009, S. 76. 839 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 76. 840 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 76. 841 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 76. 842 Vgl. Breuer 2009, S. 76. 843 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 86. 844 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 95. 845 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 94. 846 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 105. 847 Vgl. Breuer 2009, S. 92. 848 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 95. 849 Der Zusammenhang zwischen der Kernkategorie und den offenen und axialen Kodes wird nach Strauss und Corbin (1996, S. 101) durch ein Kodier-Paradigma hergestellt. Das Kodier-Paradigma
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
109
Kategorien werden auf einer dimensionalen Ebene miteinander verbunden. 4. Die Beziehungen werden wieder anhand der Daten validiert. 5. Die fehlenden Kategorien werden in der Theorie mit Konzepten aufgefüllt.850 Zur besseren Strukturierung und als Hilfestellung beim Theoriegeneseprozess werden sogenannte Memos und Diagramme eingesetzt.851 Memos sind schriftliche Aufzeichnungen des Forschers, mit denen dieser theoriebezogene Erkenntnisse und Verknüpfungen zwischen den Kategorien festhält, welche im späteren Verlauf die Grundlage der entstehenden Theorie sind.852 Die Memos bilden den Erklärungshintergrund für die Kodes.853 Erst wenn das Material zu einem ausreichenden Grad aufgeschlossen ist, lohnt es sich, mithilfe von Diagrammen Querverbindungen zwischen den theoretischen Konzepten herzustellen und die theoretischen Zusammenhänge dadurch zu kennzeichnen.854 3.1.1.4 Gütekriterien Wie schon oben dargestellt, handelt es sich bei der Grounded-Theory-Methode um einen qualitativen Forschungsansatz zur Entwicklung von Theorie, dessen Kernprozess die Abduktion ist – also der kreative Schluss des Forschers auf einen theoretischen Zusammenhang, der auf Basis des Datenmaterials erfolgt. Es handelt sich dabei keineswegs um ein willkürliches Vorgehen, weshalb auch das Anlegen von Gütekriterien im Rahmen dieser Forschungspraxis möglich ist. Die gesamte Auslegung der Grounded-Theory-Methode steht allerdings in Opposition zum Hypothesen testenden Vorgehen quantitativer Forschung. Die Grounded-Theory-Methode kann aufgrund ihres qualitativen Ansatzes nicht ohne Weiteres mittels der Qualitätsindikatoren quantitativer Forschung beurteilt werden.855 Zur Beurteilung qualitativer Forschung im Allgemeinen, aber auch der Grounded-Theory-Methode im Besonderen wurden deshalb in der Literatur eigene Kriterien entwickelt. Breuer führt zur Beurteilung einer Grounded Theory allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung an, wie die Begründetheit der Methode, die Kohärenz der
dient dazu, die entwickelten Kodes hinsichtlich ihrer Eigenschaften, kausalen Bedingungen oder beispielsweise ihrer Konsequenzen zu ordnen (vgl. Mey und Mruck 2011, S. 40). 850 Die Passung des Materials zur Theorie ist nicht immer exakt, weshalb Strauss und Corbin (1996, S. 115) das folgende Vorgehen anraten: „Gelegentlich stößt man auf einen prototypischen Fall, einen Fall, der genau in das Muster paßt. Gewöhnlich gibt es keine perfekte Passung. Man versucht, die Fälle in den angemessensten Kontext zu setzen und benutzt dabei eher das Kriterium des besten als des genauen Passens. Aber man erzwingt kein Passen.“ 851 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 170. 852 Vgl. Mey und Mruck 2011, S. 26. 853 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 127. Es werden verschiedene Typen von Memos unterschieden, wie zum Beispiel „Kode-Memos, theoretische Memos und Planungs-Memos“ (Breuer 2009, S. 103–104). 854 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 192. 855 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 214.
110
3 Modellentwicklung und Prüfung
entwickelten Theorie und die Relevanz der Untersuchung.856 Strauss und Corbin gehen davon aus, dass sich ein Eindruck über die Qualität einer Grounded Theory gewinnen lässt, indem systematisch Fragen an die entstandene Theorie und den Entstehungsprozess gestellt werden.857 Insbesondere in der Offenlegung des Entstehungsprozesses und des Umgangs mit einzelnen wesentlichen Konzepten der Grounded-Theory-Methode sieht Strübing Möglichkeiten, die Güte der Grounded Theory zu beurteilen.858 Weiterhin stellt die Reflexion des Forschungsprozesses ein wesentliches Kriterium dar, mit welchem die Qualität der entstehenden Grounded Theory erhöht werden kann.859 Infolgedessen kann bei den Gütekriterien eher von einzuhaltenden Vorgehensbeschreibungen gesprochen werden. Das bedeutet: Sofern die Grounded Theory Ergebnis des beschriebenen, systematischen Prozesses ist, erfüllt diese die Gütekriterien. In Tabelle 3 werden eine Zusammenstellung allgemeiner Gütekriterien von Breuer, Fragen an die Grounded Theory von Strauss und Corbin, die Beurteilung des Umgangs mit Schlüsselkonzepten der Grounded-Theory-Methode bei Strübing sowie die Reflexion als Komponente des Theorie-Entstehungsprozesses bei Suddaby genannt und der Umgang mit diesen Kriterien in dieser Arbeit skizziert.
3.1.2 Untersuchungsobjekt und Vorgehensweise 3.1.2.1 Energiegenossenschaften 3.1.2.1.1 Definition und Begründung der Untersuchung von Energiegenossenschaften Die empirische Untersuchung in dieser Arbeit hat das Untersuchungsobjekt „Energiegenossenschaft“860 zum Gegenstand. Es bietet sich an, Energiegenossenschaften zunächst anhand einer pragmatischen Definition abzugrenzen. Dies ist in Deutschland beispielsweise mithilfe des GenG möglich.861 Bei einer an das GenG angelehnten Definition werden all jene Organisationen als Energiegenossenschaften definiert, die in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft organisiert
856 Vgl. Breuer 2009, S. 109–110. 857 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 217. 858 Vgl. Strübing 2008, S. 90–92. 859 Vgl. Suddaby 2006, S. 640. 860 Der Begriff Energiegenossenschaft ist mit der Verbreitung von Genossenschaften im Bereich der Energieversorgung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden (vgl. Holstenkamp 2012, S. 36–39). Weitere Begriffe zur Bezeichnung des Phänomens sind zum Beispiel Elektrizitätsgenossenschaft, Energie-Versorgungsgenossenschaft oder Bürger-Energiegenossenschaft (vgl. Holstenkamp 2012, S. 36–39). 861 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.1.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
111
Tabelle 3: Kriterien zur Beurteilung der Grounded Theory. Kriterium/ Vorgehensbeschreibung Begründung für die Methode
Umsetzung in dieser Arbeit
– –
–
Theoretisches Sampling
– –
– Empirische Verankerung
– – – –
Theoretische Sättigung
– – –
in Anlehnung an
Zielsetzung der Entwicklung einer Gegenstandstheorie Mangel an empirischen Untersuchungen mit der gleichen Forschungsfrage zum Untersuchungsgegenstand Forschungsfrage impliziert eine Prozessperspektive, die mittels GroundedTheory-Methode eingenommen werden kann
Breuer (, S. –)
Entstehende Gegenstandstheorie leitet Fallauswahl Drei Phasen der Forschung – keine Stichprobe oder im Vorhinein festgelegte Fallauswahl Ausschluss von Fällen zur Fokussierung des Untersuchungsgegenstands
Strübing (, S. –); Strauss und Corbin (, S. )
Fragenstellen an die Daten und wiederkehrende Vergleiche Abduktion der Kodes aus dem Material Darstellung von Textstellen Offenlegung des Forschungsprozesses
Strauss und Corbin (, S. ); Strübing (, S. –)
Auswertung des Materials im Verlauf des Strübing (, S. –); theoretischen Samplings Suddaby (, S. ) Abduktion der Kodes und wiederkehrende Überprüfung am Material Diskussion von Zwischenergebnissen auf Fachkonferenzen
Verankerung der Kernkategorie
–
Darstellung des Zusammenhangs zwischen Strauss und Corbin (, Kernkategorie und axialen Kodes in der S. ) Gegenstandstheorie
Reflektierte Subjektivität
– – –
Eigener Reflexionsprozess Reflexion auf Fachkonferenzen Besuch einer Forschungswerkstatt
Intersubjektive Nachvollziehbarkeit
– –
Dokumentation des Forschungsprozesses Breuer (, S. –) Darstellung relevanter und exemplarischer Passagen des Materials Überprüfung der Gegenstandstheorie durch Überführung in ein Modell und quantitative Überprüfung des Modells
–
Suddaby (, S. ); Strübing (, S. )
112
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 3 (fortgesetzt ) Kriterium/ Vorgehensbeschreibung
Umsetzung in dieser Arbeit
in Anlehnung an
Kohärenz
–
Überprüfbarkeit im Rahmen der Beschrei- Breuer (, S. –) bung der Gegenstandstheorie
Relevanz
–
Siehe Motivation des gesamten, hier skiz- Breuer (, S. –) zierten Forschungsvorhabens
Quelle: Eigene Darstellung.
sind und deren Geschäftsbetrieb der Energiewirtschaft zuzurechnen ist.862 Zugleich bedeutet dies aufgrund der §§ 10–11 GenG, dass nur eingetragene Genossenschaften zur Gruppe der Energiegenossenschaften gezählt werden. Diese
862 Dabei sind zwei Folgen dieser Definition zu bedenken: 1. Das maßgebliche Kriterium zur Identifikation von Energiegenossenschaften ist hier ihre rechtliche Verfassung als eingetragene Genossenschaft. Dadurch werden solche Organisationen nicht als Energiegenossenschaften erfasst, die nicht im Rahmen des Genossenschaftsgesetzes als eingetragene Genossenschaft gelten (vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.2). Ein solcher Fall könnte beispielsweise dann bestehen, wenn in einer Aktiengesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft das typische Identitätsprinzip vorliegt und die Gesellschaft nach den genossenschaftlichen Prinzipien wirtschaftet (vgl. Abschnitt 2.1.4.1.1), oder es sich um eine nicht verfasste Kooperation nach genossenschaftlichen Prinzipien handelt (vgl. Dorniok und Lautermann 2016, S. 180–182). Hier wird die Auffassung vertreten, dass solche Organisationen in Deutschland eher selten sind, da das Genossenschaftsgesetz ein passender und bewährter Rahmen für Organisationen ist, die nach den genossenschaftlichen Prinzipien wirtschaften. Ebenso könnte man argumentieren, dass mit der vorliegenden Definition auch solche Organisationen als Energiegenossenschaften gelten, die tatsächlich nicht als solche zu klassifizieren wären, weil beispielsweise das genossenschaftliche Identitätsprinzip nicht vorliegt (siehe hierzu beispielsweise die Differenzierung bestehender Energiegenossenschaften bei Dilger et al. (2017) oder Dorniok (2018, S. 221–223)). Hier ist jedoch einzuwenden, dass die Genossenschaftsverbände insbesondere das Vorliegen der Mitgliederförderung im Rahmen des Genossenschaftsgesetzes prüfen und das Bestehen des Identitätsprinzips damit eine Voraussetzung für die Eintragung im Genossenschaftsregister ist (vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3). Zudem sind die hier betrachteten Energiegenossenschaften eher jung und ein (auch temporärer) Verlust der Mitgliederförderung ist damit eher unwahrscheinlich. Darüber hinaus bestätigen empirische Ergebnisse eine vielfältige Mitgliederförderung in Energiegenossenschaften (vgl. Volz 2011). 2. Es entsteht eine Unschärfe je nachdem, ob eine Genossenschaft ihr Geschäftsmodell ausschließlich in der Energiewirtschaft hat oder nur Teile eines umfangreicheren Geschäftsmodells der Energiewirtschaft zuzurechnen sind. Beispielsweise dann, wenn es sich um Genossenschaften handelt, deren primärer Zweck in der Wohnungswirtschaft liegt, die aber auch einen nicht unerheblichen Teil ihres Umsatzes mit Dienstleistungen in der Energiewirtschaft erzielen. In dieser Arbeit werden nur solche Energiegenossenschaften mit in die Untersuchung einbezogen, deren primärer Geschäftsbetrieb im Bereich der Energiewirtschaft liegt.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
113
pragmatische, auf dem Genossenschaftsrecht basierende Definition hat sich in der deutschsprachigen Literatur zu Energiegenossenschaften etabliert.863 Aufgrund dessen soll auch in dieser Arbeit die folgende Definition das Untersuchungsobjekt erfassen: Energiegenossenschaften in Deutschland sind als Genossenschaften im Sinne des § 1 GenG verfasste Organisationen, die im Genossenschaftsregister eingetragen sind und deren primärer Geschäftsbetrieb im Bereich der Energiewirtschaft liegt.
Wie bereits zum Eingang dieser Arbeit erläutert, ist für Energiegenossenschaften in Deutschland in jüngster Zeit eine starke Gründungsdynamik zu beobachten.864 Auch weltweit sind Neugründungen von Energiegenossenschaften im Rahmen der Bürgerenergie-Bewegung festzustellen.865 Aufgrund der hohen Gründungszahlen in den letzten Jahren sind Energiegenossenschaften ein interessantes Untersuchungsobjekt, anhand dessen die Entstehung der Governance von Genossenschaften untersucht werden kann. Die Gründung von Energiegenossenschaften kann einerseits direkt beobachtet werden und ihr großzahliges Auftreten lässt andererseits auch quantitativ-empirische Forschungsmethoden zu. Insbesondere durch die zahlreichen Neugründungen gibt es viele Gelegenheiten, einen direkten Einblick in den Gründungsprozess zu erhalten. Darüber hinaus sind Energiegenossenschaften eine interessante Gruppe innerhalb der Genossenschaften, da sie in der großen Mehrzahl auch darauf ausgerichtet sind, die Energiewende voranzutreiben und damit eine lokale Antwort auf das globale Bedrohungsszenario Klimawandel zu geben.866 Energiegenossenschaften verfolgen neben der konkreten Förderung ihrer Mitglieder durch den gemeinsamen Geschäftsbetrieb oft auch einen darüber hinausgehenden Förderzweck,867 der aufgrund der Klimaschutzabsicht zugleich als gemeinwohlorientiert bezeichnet werden kann.868 Eine solche multiple Förderzweckdefinition liegt bei der Neugründung von Genossenschaften im Trend.869 Die Untersuchung von Energiegenossenschaften in dieser Arbeit erscheint somit vor dem Hintergrund der Forschungsfragen sinnvoll und verspricht zudem einen Einblick in eine junge Genossenschaftspopulation.
863 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 7–10, Holstenkamp und Müller 2013, S. 4–5, und Müller und Holstenkamp 2015, S. 5. 864 Vgl. Holstenkamp und Müller 2013, S. 2, Müller und Holstenkamp 2015, S. 2, und Kahla et al. 2017, S. 25–27. 865 Vgl. Olsen und Skytte 2002, Schreuer und Weismeier-Sammer 2010 und Huybrechts und Mertens 2014. 866 Vgl. Holstenkamp und Kahla 2016, S. 118. 867 Vgl. Volz 2011, S. 303–304. 868 Energiegenossenschaften könnten damit, neben der Einordnung als hybride Organisationsform aus einer transaktionskostentheoretischen Perspektive, auch als Hybride im Sinne pluraler institutioneller Logiken betrachtet werden (vgl. Fußnote 227). 869 Vgl. Blome-Drees et al. 2016, S. 83.
114
3 Modellentwicklung und Prüfung
3.1.2.1.2 Systematisierung Historisch lassen sich die heute existierenden Energiegenossenschaften in mindestens zwei Generationen unterteilen.870 Die erste Generation Energiegenossenschaften entstand infolge der Elektrifizierung des ländlichen Raums.871 Der wesentliche Geschäftszweck dieser Energiegenossenschaften bestand im Aufbau und Betrieb von Elektrizitätsverteilnetzen.872 Für private Investoren waren ländliche Räume unattraktiv, und kommunale Unternehmen konzentrierten sich ebenfalls eher in Städten, sodass die Bevölkerung auf dem Land Selbsthilfe durch die Gründung von Energiegenossenschaften leistete.873 In Deutschland gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeitweise mehr als 6000 dieser Energiegenossenschaften.874 Heute existieren lediglich 44 Energiegenossenschaften dieser ersten Generation,875 welcher deshalb kaum noch Bedeutung in der Gesamtpopulation der Energiegenossenschaften zukommt. Nach mehreren Jahren ohne nennenswerte Gründungszahlen entstanden infolge der Ölkrisen in den 1970er-Jahren vereinzelt neue Energiegenossenschaften 870 Auf die Notwendigkeit einer historischen Unterscheidung von Energiegenossenschaften weisen beispielsweise Flieger und Klemisch (2008) sowie Holstenkamp (2012) hin. 871 Vgl. Holstenkamp 2015, S. 2. Wenngleich in den industrialisierten Ländern kaum Neugründungen von Stromnetzinfrastrukturgenossenschaften vorkommen, so entstehen diese heute vor allem in ländlichen Regionen von Entwicklungsländern (vgl. Yadoo und Cruickshank 2010). Allerdings ist mit der Re-Regulierung von Netzwerkindustrien ein Diskurs über die optimale Organisation von Netzinfrastrukturen entstanden (vgl. Ménard und Ghertman 2009). Netzinfrastrukturen in genossenschaftlichem Besitz werden Vorteile gegenüber Netzinfrastrukturen unter staatlicher Kontrolle oder organisiert als IOF bescheinigt (vgl. Lüke 2001). 872 Vgl. Holstenkamp 2015, S. 14–15. 873 Vgl. Holstenkamp 2015, S. 14–15. 874 Vgl. Holstenkamp und Müller 2013, S. 7. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in den USA, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls eine Vielzahl ländlicher Energiegenossenschaften entstand, um Elektrizitätsverteilernetze aufzubauen und Energieerzeugungsanlagen zu betreiben (vgl. Cook 1993, S. 157–158, und Greer 2003, S. 488). Im englischsprachigen Raum hat sich der Begriff der „Utility Cooperatives“ (Hansmann 1996, S. 22) oder „Rural Electric Cooperatives“ (Greer 2003 und Greer 2008) für diese Gruppe der Genossenschaften etabliert. 875 Dazu wurden alle zum 31.12.2012 in den Genossenschaftsregistern registrierten und vor 1950 gegründeten Energiegenossenschaften aufsummiert (vgl. Abbildung 5). Der überwiegende Teil dieser Energiegenossenschaften verschwand im 20. Jahrhundert, da sie zum Teil in übergeordneten Energieversorgungsunternehmen fusionierten oder die Grundlage für Gemeinde- oder Stadtwerke bildeten (vgl. Holstenkamp 2015, S. 10–13). Zusätzliche Gründe für den Niedergang dieser ersten Generation von Energiegenossenschaften sind im Konsolidierungsdruck zu sehen, der durch politische Entscheidungen ausgelöst wurde, um stärkere Kontrolle im Energiesektor zu erreichen, oder durch verschärfte Konkurrenz mit größeren Energieversorgungsunternehmen verursacht wurde (vgl. Holstenkamp 2015, S. 11). Anders als in Deutschland existieren viele Energiegenossenschaften dieser ersten Generation in den Vereinigten Staaten noch heute, was möglicherweise an den weniger drastischen politischen Umbrüchen im 20. Jahrhundert im Vergleich zu Deutschland liegt. Die rund 912 Energiegenossenschaften versorgen heute 18,5 Mio. US-amerikanische Haushalte (vgl. National Rural Electric Cooperative Association 2015).
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
115
einer zweiten Generation.876 Diese Entwicklung verstärkte sich durch das zunehmende öffentliche Bewusstsein für den durch Menschen verursachten Klimawandel zu Beginn der 1990er-Jahre.877 Das Gründungsmotiv für diese zweite Generation von Energiegenossenschaften bestand demnach primär darin, einen Beitrag zur Umstellung der Energieerzeugung auf klimafreundliche erneuerbare Energien zu leisten und so auf die drohende Klimakatastrophe des 20. und 21. Jahrhunderts zu reagieren.878 Dieses Motiv für Energiegenossenschaftsgründungen wurde durch die Einführung des Gesetzes für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) im Jahr 2000879 zusätzlich gestärkt, durch welches ein Einspeisevorrang und eine Mindestvergütung für regenerativ erzeugten Strom festgelegt wurden.880 Die Gründungszahlen der Energiegenossenschaften der zweiten Generation stiegen zudem seit der Novelle des GenG 2006,881 weshalb ab diesem Zeitpunkt auch von einer Renaissance der Energiegenossenschaften gesprochen wird.882 Die Novelle des GenG erleichterte die Gründung von Genossenschaften
876 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 36. Die Energiegenossenschaften der zweiten Generation werden neben anderen Organisationen der sogenannten Bürgerenergie-Bewegung zugeordnet, die eine neue Akteursgruppe im Energiesektor beschreibt (vgl. Holstenkamp und Degenhart 2013, Degenhart und Nestle 2014 und Yildiz et al. 2015). In der Bürgerenergie-Bewegung spielt das Konzept der Bürgerbeteiligung eine zentrale Rolle. Als Bürgerbeteiligung im Bereich erneuerbarer Energien werden solche Organisationen (die auch als Bürgerenergiegesellschaft bezeichnet werden (vgl. Kahla et al. 2017, S. 6)) verstanden, in denen mehrheitlich Privatpersonen mit räumlichem Bezug zu Erneuerbare-Energien-Projekten stimmberechtigtes Kapital zu deren Umsetzung bereitstellen und damit auch gemeinwohlorientierte Ziele wie den Klimaschutz verfolgen (vgl. Holstenkamp und Degenhart 2013, S. 33–34). Über 46 % der regenerativen Energieerzeugungskapazitäten wurde bis zum Jahr 2012 von Bürgern errichtet, zu denen Privatpersonen, Landwirte und Bürgergruppen gezählt werden, die regionale Energiewendeprojekte organisieren (vgl. trend:research und Leuphana Universität 2013, S. 42). Der Vorteil einer Bürgerenergiegesellschaft ist, dass diese die Akzeptanz für erneuerbare Energien steigert, da sie Mitwirkungsmöglichkeiten an der Energiewende verspricht und Teilhabe an den Chancen vor Ort eröffnet (vgl. Viardot 2013 und Langer et al. 2017). Auch international ist eine Rezeption des Konzepts der Bürgerenergiegesellschaft zu verzeichnen, beispielsweise unter dem Begriff „Community Renewable Energy“ (Walker 2008, S. 4401). 877 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 37–38. 878 In der Literatur werden weitere Motive für die Gründung von Energiegenossenschaften angeführt, wie der Wunsch nach einer Erhöhung regionaler Wertschöpfung (vgl. Holstenkamp und Kahla 2016, S. 113) oder die Schaffung einer Selbstversorgungseinrichtung für Energie (vgl. Holstenkamp und Kahla 2016, S. 113, und Ecker et al. 2017). 879 Wenn im Weiteren vom „EEG“ die Rede sein wird, ohne dass ein Bezug auf eine konkrete Fassung genannt ist, so ist das Gesetz generell gemeint, also unabhängig von einer konkreten Fassung. 880 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 36–41. 881 Vgl. Holstenkamp 2012, S. 2. 882 Vgl. Müller et al. 2015a, S. 96.
116
3 Modellentwicklung und Prüfung
insgesamt und steigerte die Attraktivität der Rechtsform.883 Insgesamt existieren 710 Energiegenossenschaften der zweiten Generation zum 31.12.2012.884 Aufgrund der Heterogenität der zweiten Generation von Energiegenossenschaften erscheint es zweckmäßig, eine weitere Unterteilung vorzunehmen. Die weitere Systematisierung basiert dabei auf einer Kombination aus deduktivem und induktivem Vorgehen.885 In einem ersten Schritt wurde eine Vollerhebung886 aller Energiegenossenschaften entsprechend der oben erbrachten Definition durchgeführt und es wurden ihre Geschäftsmodelle recherchiert. Zur Bestimmung der Geschäftsmodelle wurden die Satzungen der Energiegenossenschaften, ihre Internetauftritte
883 Beispielsweise wurde durch die Novelle des GenG die Anzahl der notwendigen Gründungsmitglieder von sieben auf drei reduziert (vgl. § 4 GenG) und auch soziale oder kulturelle Belange können neuerdings den Förderzweck der Genossenschaft bilden (vgl. § 1 Abs. 1 GenG). 884 Dazu wurden alle zum 31.12.2012 in den Genossenschaftsregistern registrierten und nach 1950 gegründeten Energiegenossenschaften aufsummiert (vgl. Abbildung 5). Das Datum 31.12.2012 wurde aufgrund von pragmatischen Überlegungen während der Erstellung dieser Arbeit festgelegt. Bis zur Fertigstellung dieser Arbeit ist die Anzahl an Energiegenossenschaften allerdings weiter gewachsen auf zuletzt 1024 zum 31.12.2016 (vgl. Kahla et al. 2017, S. 25–26). Von einer Anpassung des Stichtags wurde aufgrund der begrenzten Ressourcen zur Erstellung dieser Arbeit abgesehen, da dies umfangreiche erneute Recherchen, Datenerhebung und -Auswertung sowie die Änderung von bereits verschriftlichten Abschnitten bedeutet hätte. Es wird angenommen, dass die Untersuchung der bis zum 31.12.2012 registrierten Energiegenossenschaften ausreichend ist, um die Forschungsfrage dieser Arbeit zu untersuchen, da bis zu diesem Zeitpunkt circa 75 % der heute existierenden Energiegenossenschaften registriert wurden. 885 Diese Systematisierung erfolgt in Anlehnung an Vorarbeiten von Holstenkamp (2012) sowie Holstenkamp und Müller (2012 und 2013). Typologien von Energiegenossenschaften lassen sich auch bei anderen Autoren finden: Deduktive Typologien von Energiegenossenschaften basieren beispielsweise auf Überlegungen zur Wertschöpfungskette in der Energiewirtschaft und gliedern die Energiegenossenschaften entlang dieser Wertschöpfungskette (vgl. Theurl 2008, S. 21–22). Rein empirisch begründete Taxonomien finden sich orientiert am Förderzweck von Energiegenossenschaften (vgl. Volz 2011), anhand von Governance- und Finanzierungskriterien (vgl. Müller und Holstenkamp 2012) oder anhand von Investitions- und Finanzierungsmerkmalen sowie der Motivation zur Gründung von Energiegenossenschaften (vgl. Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e. V. 2012, Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e. V. 2013 und Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e. V. 2014). Eine Kombination aus deduktivem und induktivem Vorgehen führt beispielsweise dazu, dass die Energiegenossenschaften um die Bereiche „Erzeugung, Verbrauch und Handel“ (Klemisch und Maron 2010, S. 9) angeordnet werden. Aus dieser deduktiv begründeten Anordnung werden sodann die Typen Energieverbrauchergenossenschaften, Energieproduktionsgenossenschaften, Energie-Erzeuger-VerbraucherGenossenschaften und Energiedienstleistungsgenossenschaften abgeleitet und anhand von Fallbeispielen beschrieben (vgl. Klemisch und Maron 2010, S. 9). Ein ähnliches Vorgehen wählt Flieger (2011) bei seiner Systematisierung. Ein Vorgehen wie Holstenkamp (2012) sowie Holstenkamp und Müller (2012 und 2013) ist auch bei Debor (2014) mit ähnlichen Ergebnissen zu finden. 886 Die Vollerhebung erfolgte zum Stichtag 31.12.2012 und wird später in Abschnitt 3.3.1 detailliert beschrieben.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
117
und Presseartikel über die Energiegenossenschaften ausgewertet.887 In einem zweiten Schritt erfolgte eine Strukturierung der Energiegenossenschaften anhand des deduktiven Konzepts der Wertschöpfungskette.888 Die Wertschöpfungskette unterscheidet in ihrer klassischen Form produktive Funktionen in einem Unternehmen in primäre Aktivitäten und unterstützende Aktivitäten.889 Dieser Gedanke lässt sich auch auf die Spezialisierung von Akteuren innerhalb einer Industrie übertragen890 und ermöglicht dadurch eine Systematisierung. Im Ergebnis zeigt sich, dass die primäre Wertschöpfungskette in Produktion, Übertragung und Handel untergliedert werden kann mit jeweils unterschiedlichen Geschäftsmodellen.891 Hierzu zählen auf der Wertschöpfungsstufe der Produktion Energieproduktionsgenossenschaften, die Strom aus regenerativen Quellen erzeugen oder Biokraftstoffproduzenten. Als Geschäftsmodelle, die der Übertragung zugeordnet werden können, finden sich Nahwärmenetzgenossenschaften, Gas- und Stromnetzbetreiber. Auf der Wertschöpfungsstufe Handel sind Ökostromversorger, konventionelle Stromversorger, Energieeinkäufer und Biomasseverkäufer zu differenzieren. Die sekundäre Wertschöpfungskette besteht aus Beratungs- und Dienstleistungsgenossenschaften sowie aus sonstigen Energiegenossenschaften mit jeweils unterschiedlichen Geschäftsmodellen. Zusammengefasst ergibt sich damit die in Abbildung 5 dargestellte Systematisierung der aktuell im Genossenschaftsregister eingetragenen Energiegenossenschaften anhand ihrer historischen Entstehungsphasen, der Verortung innerhalb einer industriellen Wertschöpfungskette und anhand ihrer Geschäftsmodelle.892
887 Als Erstes wurde der satzungsmäßige Zweck im Hinblick auf Hinweise zur verwendeten Technologie ausgewertet. Energiegenossenschaften, die beispielsweise ein Nahwärmenetz betreiben, legen dies häufig als ihren satzungsmäßigen Zweck fest, sodass über diese Quelle und eine anschließende Internetrecherche zu der Genossenschaft festgestellt werden konnte, ob die Genossenschaft tatsächlich ein Nahwärmenetz betreibt. Ebenso verhält es sich mit Energieproduktionsgenossenschaften, die häufig die zum Einsatz kommende Technologie in der Satzung bezeichnen. In einem zweiten Schritt wurde auch hier auf den Internetseiten der jeweiligen Genossenschaft recherchiert, welche Technologie zum Einsatz kommt. In einem dritten Schritt diente die regionale Presseberichterstattung als Quelle zur Recherche der verwendeten Technologie. Die Recherche erfolgte durch mindestens zwei Personen (neben dem Autor dieser Arbeit waren auch die Mitentwickler der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ Lars Holstenkamp und Heinrich Degenhart sowie studentische Hilfskräfte (Nils Rückheim, Elisa Volkmer und Stefanie Ulbrich) daran beteiligt) unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Siehe hierzu auch Abschnitt 3.3.1.1 zur Erstellung der Datenbank. 888 Vgl. Porter 2014, S. 64. 889 Vgl. Porter 2014, S. 64. 890 Vgl. Porter 2014, S. 87–88. 891 Diese Systematik ist insbesondere angelehnt an Holstenkamp (2012, S. 42). Gleichwohl wird auch auf die Vorarbeiten von Holstenkamp und Müller (2013, S. 12), Müller et al. (2015b), Porter (2014, S. 64) und Holstenkamp (2015, S. 7) rekurriert. 892 Dadurch wird ein sehr ähnliches Ergebnis wie bei Holstenkamp (2012) erzielt.
118
3 Modellentwicklung und Prüfung
vor 01.01.1950
01.01.1950–31.12.2012
1. Generation
2. Generation
Elektrizitätsnetzbetreiber (44)
Beratungs- und Dienstleistungsgenossenschaften (37) Sonstige (17) z. B. Forschungsgenossenschaften, Dachgenossenschaften, Netzwerkgenossenschaften, Geschäftsmodell nicht bestimmbar Produktion (487)
Übertragung (129)
Handel (40)
z. B. Energieproduktionsgenossenschaften, Biokraftstoffproduzenten
z. B. Nahwärmenetzgenossenschaften, Gasnetzbetreiber, Elektrizitätsnetzbetreiber
z. B. Ökostromversorger, konventionelle Stromversorger, Energieeinkäufer, Biomasseverkäufer
Abbildung 5: Systematisierung der Energiegenossenschaften. In Klammern dargestellt ist die Anzahl registrierter Energiegenossenschaften zum 31.12.2012. Quelle: In Anlehnung an Holstenkamp (2012, S. 42), Holstenkamp und Müller (2013, S. 12), Müller et al. (2015b), Porter (2014, S. 64) und Holstenkamp (2015, S. 7).
3.1.2.1.3 Untersuchte Fälle Im Rahmen des theoretischen Sampling-Prozesses wurden insgesamt 15 Energiegenossenschaften der zweiten Generation untersucht, die sich entlang der primären Wertschöpfungskette verteilen. In die Entwicklung der Gegenstandstheorie fließen 10 der 15 Fälle ein, die den primären Wertschöpfungsstufen Produktion und Übertragung zuzurechnen sind.893 Hierbei handelt es sich um: 1. die Produktion und Netzeinspeisung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, was im Weiteren als Energieproduktionsgenossenschaft bezeichnet wird, und 2. die Versorgung von lokalen Siedlungsstrukturen mit Nahwärme, was im Folgenden Nahwärmenetzgenossenschaft genannt wird. Auf beide Geschäftsmodelle wird im Rahmen der Vorstellung der Gegenstandstheorie detailliert eingegangen.894 Durch diese Konzentration des theoretischen Samplings war eine Fokussierung des Untersuchungsgegenstands – der Entstehung von Governance – möglich und die Heterogenität der untersuchten Fälle beherrschbar.895
893 Die fünf Fälle, die nicht in die Entwicklung der Grounded Theory einbezogen wurden, umfassen Energiegenossenschaften, deren Geschäftsmodell nicht im Bereich der Energieproduktion oder des Nahwärmenetzbetriebs liegt. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Elektrizitätsnetzbetreiber oder Ökostromversorger. 894 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.2. 895 Der Prozess des theoretischen Samplings war in dieser Arbeit zunächst davon geleitet, möglichst kontrastreiche Fälle zu explorieren, um durch den Vergleich dieser Fälle theoretisch relevante Gruppen auszuwählen. Somit konzentrierte sich die Entwicklung der Grounded Theory erst im Verlauf des Untersuchungsprozesses auf die hier genannten zehn Fälle. Die Auswahl von Gruppen ist ein übliches Vorgehen im Rahmen der Grounded-Theory-Methode (vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 70–74, Fußnote 809 und Abschnitt 3.1.1.2).
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
119
Um einen besseren Überblick über die Gruppe der Energiegenossenschaften zu erhalten, die zur Entwicklung der Gegenstandstheorie herangezogen wurden, werden diese anhand der Kriterien Geschäftsmodell, primäre Technologie, Status der Organisation, und Siedlungsstruktur am Gründungsort in Tabelle 4 vorgestellt. Die Namen der untersuchten Energiegenossenschaften sind pseudonymisiert, da den Interviewteilnehmern im Rahmen der Interviews Anonymität zugesichert wurde. Hierdurch wurde das Problem der sozialen Erwünschtheit von Antworten reduziert, was die Wahrscheinlichkeit steigert, dass auch sensible Themen zur Sprache kommen. Zur Pseudonymisierung wurde der Name der Energiegenossenschaft jeweils durch einen Buchstaben ersetzt.
Tabelle 4: Theoretisches Sampling – untersuchte Fälle. Name
Geschäftsmodell
primäre Technologie
Status
Siedlungsstruktur*
P.eG
Energieproduktion
PV-Anlage
eingetragen
dicht besiedelt
O.eG
Nahwärmenetz
Nahwärmenetz und Bioenergieanlage
eingetragen
mittelstark besiedelt
S.eG
Energieproduktion
PV-Anlage
eingetragen
mittelstark besiedelt
G.eG
Nahwärmenetz
Nahwärmenetz und Bioenergieanlage
eingetragen
dünn besiedelt
L.eG
Nahwärmenetz
Nahwärmenetz und Bioenergieanlage
eingetragen
mittelstark besiedelt
W.eG
Energieproduktion
PV-Anlage
eingetragen
mittelstark besiedelt
N.eG
Nahwärmenetz
Nahwärmenetz und Bioenergieanlage
eingetragen
mittelstark besiedelt
B.eG
Nahwärmenetz
Nahwärmenetz und Bioenergieanlage
in Auflösung
mittelstark besiedelt
Z.eG
Energieproduktion
PV-Anlage
in Gründung
mittelstark besiedelt
T.eG
Energieproduktion
PV-Anlage
in Gründung
dicht besiedelt
Quelle: Eigene Darstellung und *in Anlehnung an Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2000).
Zwei Energiegenossenschaften befanden sich zum Untersuchungszeitpunkt noch in Gründung896 und eine wurde im Verlauf der Erstellung dieser Arbeit wieder aufgelöst.
896 Hierbei handelt es sich um eine Ausnahme zur pragmatischen Definition von Energiegenossenschaften in Abschnitt 3.1.2.1.1, da der Status „in Gründung“ anzeigt, dass noch keine Eintragung
120
3 Modellentwicklung und Prüfung
Wie schon oben angedeutet, umfassen die Geschäftsmodelle ausschließlich die Produktion von Energie sowie die Produktion und Distribution von Wärmeenergie. Die verwendeten Technologien der untersuchten Energiegenossenschaften bestehen aus Fotovoltaik-, Bioenergieanlagen und Nahwärmenetzen. Die räumliche Verteilung der Genossenschaften erstreckt sich über sechs Bundesländer und beinhaltet sowohl dicht besiedelte, mittelstark besiedelte sowie dünn besiedelte Regionen. Die Gründungszeitpunkte erstrecken sich bis 2011 und wurden hier aufgrund der angestrebten Anonymität nicht angegeben. Die qualitativ-explorative Untersuchung dieser Arbeit lässt sich in drei Phasen unterteilen, in denen anhand des Erkenntnisfortschritts neue Fälle ausgewählt und in die Untersuchung eingeschlossen wurden,897 bis eine ausreichende „theoretische Sättigung“ erreicht war.898 1. Phase: In dieser Phase wurden insgesamt drei Energiegenossenschaften untersucht und deren Initiatoren899 zu den Gründungsprozessen befragt. Ein zentraler Inhalt dieser Phase war auch die Prüfung der Datenverfügbarkeit und die weitere Richtungsorientierung im Forschungsprozess. Anhand der Erkenntnisse dieser Phase wurde der Interviewleitfaden neu gestaltet und es wurden weitere Fälle ausgewählt. 2. Phase: In dieser Phase wurden die meisten Fälle untersucht. Das theoretische Sampling war dabei davon geleitet, möglichst kontrastreiche Fälle aufzunehmen, um die Entwicklung der Kategorien im Kodierprozess möglichst breit anzulegen. 3. Phase: In dieser Phase wurden wenige zusätzliche Fälle aufgenommen, die vor allem dazu dienten, die schon gewonnenen Kategorien weiter zu prüfen und eine stärkere theoretische Sättigung zu erreichen. Die Forschungsphasen sind in Tabelle 5 dargestellt, in welcher auch die Interviewtermine und die besuchten Konferenzen und Fachveranstaltungen aufgeführt sind.
zum Untersuchungszeitpunkt erfolgt ist. Die Eintragung dieser Genossenschaften erfolgte im Verlauf der Untersuchung. 897 Eine intensive berufliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld bot einen guten Überblick und damit auch die Möglichkeit zur gezielten Fallauswahl. Besuche auf Fachtagungen, in Gründungsveranstaltungen und bei Vernetzungstreffen von Energiegenossenschaften trugen dazu bei, einen Eindruck vom Forschungsfeld und einen Überblick über dasselbe zu gewinnen. Zudem führte die berufliche Auseinandersetzung bei der Entwicklung von Finanzprodukten für Energiegenossenschaften als Projektmanager der GLS Beteiligungsaktiengesellschaft – einer Tochtergesellschaft der GLS Gemeinschaftsbank eG – zu spezifischem Branchenwissen. Diese intensive Beschäftigung mit dem Forschungsfeld war nützlich, um das theoretische Sampling umzusetzen, das in der Grounded-Theory-Methode der zentrale Mechanismus zur Fallauswahl ist. Persönliche Kenntnisse des Forschungsfeldes sind auch nach Auffassung von Strauss und Corbin (1996, S. 26) im Forschungsprozess nützlich, da dadurch die theoretische Sensibilität des Forschers erhöht wird. 898 Vgl. Abschnitt 3.1.1.2. 899 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1 und Fußnote 935.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
121
Tabelle 5: Theoretisches Sampling – Untersuchungsphasen. Interview oder Veranstaltung
Datum
Forschungsphase
. Treffen Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften (ARGE)
.. Phase I
B.eG#
.. Phase I
. Treffen Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften (ARGE)
.. Phase I
N.eG#
.. Phase I
G.eG#
.. Phase I
. Treffen Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften (ARGE)
.. Phase II
L.eG#
.. Phase II
S.eG#a und S.eG#b
.. Phase II
P.eG#
.. Phase II
O.eG#
.. Phase II
O.eG#
.. Phase II
P.eG#
.. Phase II
L.eG#
.. Phase II
. Treffen Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften (ARGE)
.. Phase II
Energiewende durch Kooperation – Stadtwerke und Genossenschaften
.. Phase II
Z.eG#
.. Phase III
T.eG#
.. Phase III
W.eG#
.. Phase III
Aufwind mit Wind – Mannheim
.. Phase III
Quelle: Eigene Darstellung.
Die Beschäftigung mit den untersuchten Fällen war jedoch nicht auf die in der Tabelle 5 ausgewiesenen Zeitpunkte beschränkt, sondern fand über den gesamten Forschungsprozess hinweg statt. Um die Interviews hier im Text unterscheiden zu können, wurde die pseudonymisierte Bezeichnung der Genossenschaft um ein #1 oder #2 ergänzt. So kann jedes Interview einer untersuchten Energiegenossenschaft zugeordnet werden und die Interviews können untereinander unterschieden werden.
122
3 Modellentwicklung und Prüfung
3.1.2.2 Untersuchungsmaterial 3.1.2.2.1 Gründungsprozesse Die Grounded-Theory-Methode schlägt die Einteilung der Datensammlung in primäre und sekundäre Daten vor.900 Zu den primären Datenquellen zählen solche Datenquellen, die der Forscher eigenständig erhoben hat,901 wie beispielsweise Interviews. Sekundäre Daten sind solche, die nicht durch den Forscher erhoben wurden,902 wie dies in dieser Untersuchung für die Gründungssatzungen der Energiegenossenschaften gilt. Das Untersuchungsmaterial wird im folgenden Abschnitt vorgestellt. Für die Untersuchung der Gründungsprozesse wurden vorwiegend primäre Datenquellen genutzt. Den Kern der Untersuchung bilden narrative Interviews mit den Initiatoren der Energiegenossenschaften, die zum überwiegenden Teil auch eine Funktion in den Gremien der Genossenschaft innehatten, wie in Tabelle 6 zu sehen ist. Tabelle 6: Interviews mit Initiatoren von Energiegenossenschaften. Name
Funktion Befragter
Datum Interview
B.eG#
Vorsitzender des Vorstands
..
N.eG#
Vorstand
..
G.eG#
Vorstand
..
L.eG#
Vorsitzender des Vorstands
..
S.eG#a und S.eG.#b
Vorstand und Mitglied
..
P.eG#
Vorstand
..
O.eG#
Vorstand
..
O.eG#
Vorsitzender des Vorstands
..
P.eG#
Aufsichtsrat
..
L.eG#
Aufsichtsrat
..
Z.eG#
Öffentlichkeitsarbeit
..
T.eG#
Vorstand
..
W.eG#
Vorstand
..
Quelle: Eigene Darstellung.
900 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 34 und S. 38. 901 Diese Unterscheidung von primären und sekundären Datenquellen lehnt sich an die Definition von Kornmeier (2007, S. 107–109) an. 902 Vgl. Kornmeier 2007, S. 153 ff.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
123
Zum besseren Verständnis des Gründungsprozesses wurden auch Sekundärquellen hinzugezogen, wie die Satzungen der Energiegenossenschaften, deren Internetauftritte und standortbezogene Informationen aus öffentlichen Statistiken. Die Entwicklung der Interviewleitfäden orientierte sich an den Vorgaben der Grounded-Theory-Methode. Interviews stellen in der Grounded-Theory-Methode ein wichtiges Mittel dar, primäre Daten zu erheben.903 Interviews sollten dabei nicht von einer Leitfadenstruktur dominiert sein, sondern lediglich durch Leitfragen strukturiert werden, also dem Forscher die nötige Freiheit lassen, im Forschungsprozess entsprechend dem theoretischen Sampling Modifikationen vornehmen zu können.904 An diese Überlegung angelehnt, wurden die Interviews zur Untersuchung der Gründungsprozesse als nicht standardisierte Interviews geführt.905 Strauss und Corbin schlagen vor, dass die Leitfragen, die die Interviews strukturieren, anhand von Laienliteratur und Praxiswissen entwickelt werden und deshalb keineswegs finale Konzepte beinhalten, sondern lediglich einen Startpunkt für die Untersuchung darstellen und als temporär anzusehen sind.906 Es bietet sich an, Leitfäden in zwei Abschnitte zu gliedern: In einem ersten Abschnitt kann der Forscher dem Befragten größtmögliche Freiheit zum Antworten geben und ein narratives Interview mit diesem führen.907 In einem zweiten Interviewteil kann der Forscher dann konkrete Nachfragen stellen und das Interview durch vorher entwickelte Fragen strukturieren.908 Angelehnt an dieses Schema, bestand auch der erste Leitfaden aus zwei Teilen. Der erste Teil war anhand von drei offen gestellten Leitfragen strukturiert. Die erste Leitfrage behandelte den Gründungsprozess und die Konflikte und Spannungen, die es während des Gründungsprozesses gab.909 Die zweite Leitfrage betraf äußere Einflüsse auf die Energiegenossenschaft während der Gründungsphase.910 Die dritte Leitfrage zielte auf Regeln und Mechanismen ab, die während der Gründungsphase geschaffen wurden, und darauf, wie diese Regelungen und Mechanismen aussahen.911
903 Vgl. Breuer 2009, S. 63–64. 904 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 151–152. 905 Nach der Definition von Gläser und Laudel (2009, S. 39–40) können nicht standardisierte Interviews als eine Mischung aus narrativem Interview und Leitfadeninterview verstanden werden. Nach Gläser und Laudel (2009, S. 39–40) kennzeichnen sich nicht standardisierte Leitfadeninterviews dadurch, dass der Interviewer dem Interviewpartner vorher entwickelte Leitfragen stellt, die allerdings frei formuliert werden können und deren Reihenfolge variabel ist. Ad-hoc-Fragen sind in dieser Form der Befragung ebenfalls zulässig (vgl. Gläser und Laudel 2009, S. 39–40). 906 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 151–152. 907 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 90. 908 Vgl. Glaser und Strauss 2010, S. 90. 909 Leitfrage 1: „Bevor die Genossenschaft gegründet wurde, gab es einen Gründungsprozess. Ich frage nur nach Dingen, die vor der formalen Gründung der Genossenschaft passiert sind. Welche Hauptkonflikte und Spannungen gab es zwischen wem und was waren Lösungen?“ 910 Leitfrage 2: „Wie wurde von außen Einfluss auf die Genossenschaft genommen?“ 911 Leitfrage 3: „Was waren die wichtigsten internen Regeln?“
124
3 Modellentwicklung und Prüfung
In einem zweiten Teil wurden acht Schlussthesen vorgestellt und die Zustimmung der Interviewpartner zu diesen abgefragt. Zur Entwicklung des ersten Leitfadens besuchte der Autor mehrere Treffen der „Arbeitsgemeinschaft Energiegenossenschaften“ (ARGE), die ein loser Verbund aus neu gegründeten Energiegenossenschaften in Hessen ist. Da in den ersten Interviews festgestellt wurde, dass der narrative Teil nach einer Einleitungsfrage von besonderer Wichtigkeit für die Theorieentwicklung war, erfolgte eine Anpassung des Leitfadens. Für die zweite Forschungsphase912 wurde ein Interviewleitfaden entwickelt, der zunächst einen narrativen Fragenteil mit der folgenden Einstiegsfrage vorsah: „Bitte skizzieren Sie den Gründungsprozess der Genossenschaft: Was waren die wesentlichen Stationen des Gründungsprozesses? Bitte gehen Sie bei Ihrer Schilderung auch auf Hauptkonflikte ein. Was waren die größten Herausforderungen und Probleme während der Gründungsphase?“ Nach dieser Eröffnung hatten die Interviewpartner ausreichend Zeit, den Gründungsprozess zu erinnern und narrativ zu schildern. Das nachfolgende leitfadengestützte Interview beinhaltete die Themen: Transparenz, Beteiligung, soziale Nähe, Vorbilder, Mindestgröße der Genossenschaft, Mitglieder, ökonomischer Nutzen und ökologischer Nutzen. Zu jedem der Themen gab es mehrere vorformulierte Fragen, die je nach Verlauf des narrativen Interviews eingehender, also vollständig, oder weniger eingehend, also nur teilweise, gestellt wurden.913 Zum Abschluss des Interviews wurden die Interviewpartner gebeten, die drei wichtigsten Themen zu nennen, die dazu geführt haben, dass Mitglieder für die Energiegenossenschaft gewonnen werden konnten. In allen Interviews wurden die Interviewpartner zu Beginn gefragt, ob sie mit der Aufzeichnung des Interviews einverstanden wären, wozu alle Interviewpartner bereit waren. Zudem wurde ihnen zugesichert, dass die Veröffentlichung von wörtlichen Textpassagen in dieser Arbeit nur in anonymisierter Form erfolgen wird. Hiermit waren alle Interviewpartner einverstanden. Zudem wurden die Interviewpartner vor Interviewbeginn über die zeitliche Dauer und Struktur des Interviews aufgeklärt. Insgesamt wurden 13 Interviews mit Initiatoren von den zehn hier betrachteten Energiegenossenschaften geführt.914 Diese Personen bekleideten zum Interviewzeitpunkt unterschiedliche Rollen in den Genossenschaften wie Vorstand, Aufsichtsrat, Mitglied oder Mitarbeiter. Zu Anfang wurden teilweise zwei Interviewpartner pro Energiegenossenschaft befragt, was sich im Verlauf der Untersuchung jedoch als nicht notwendig herausstellte. Sieben Interviews wurden mit Initiatoren von
912 Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.3. 913 Vielfach waren Nachfragen zu den im Vorhinein gebildeten Themenkomplexen überflüssig, weil die Interviewpartner bereits auf diese Themen eingegangen waren. 914 Eine Übersicht der geführten Interviews und Informationen zu den Befragten befindet sich in Tabelle 6.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
125
Nahwärmenetzgenossenschaften geführt und sechs Interviews mit Initiatoren von Energieproduktionsgenossenschaften. Die Interviews ergeben neun Stunden Interviewmaterial und wurden vollständig transkribiert.915 Mit einer Ausnahme fanden alle Interviews zwischen einem Interviewpartner und dem Interviewer statt. In einem Fall fand das Interview gleichzeitig mit zwei Interviewteilnehmern einer Energiegenossenschaft statt. Teilweise wurden die Interviews persönlich geführt und teilweise telefonisch. Es ließen sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen telefonischen und persönlichen Interviews feststellen. Zur besseren Übersichtlichkeit des Datenmaterials wurde zunächst eine Tabelle mit der Kurzzusammenfassung der jeweils geschilderten Gründung der Energiegenossenschaft angefertigt. Durch diese Kurzmemos konnte während des Forschungsprozesses eine gute Übersicht über die Fälle gewährleistet werden, was auch die Bewältigung des theoretischen Samplings erleichterte. 3.1.2.2.2 Gründungssatzungen Als zusätzliches Untersuchungsmaterial wurden die Gründungssatzungen der Energiegenossenschaften ausgewertet. Die Satzungen der Genossenschaften stellen einen wesentlichen Teil ihrer formalisierten Governance dar916 und sind das Ergebnis des Gründungsprozesses. Die Anforderungen an die Satzungserstellung sind trotz detaillierter Vorgaben des GenG für Laien herausfordernd, weshalb meist Mustersatzungen der Genossenschaftsverbände verwendet werden.917 Die Genossenschaftsverbände bieten neben der Übermittlung einer Mustersatzung eine Gründungsberatung an. Auch wenn sich die Satzungen von neu gegründeten Genossenschaften „in der Regel eng an die Mustersatzungen der Genossenschaftsverbände“918 anlehnen, so obliegt es doch den Gründungsmitgliedern, ihre Satzung unabhängig aufzustellen, da es sich wie Pöhlmann et al. schreiben bei Mustersatzungen um reine Empfehlungen an die Gründungsmitglieder handelt.919 „Eine Anpassung an Musterregelungen darf weder vom RegGer [(Registergericht), J. M.] noch vom Prüfungsverband verlangt werden, auch wenn die Rechtsberatung der Prüfungsverbände durch schlanke und einheitliche Satzungen naturgemäß erleichtert wird.“920 Zur Spezifizierung der Mustersatzungen werden von den Genossenschaftsverbänden teilweise standardisierte Fragebögen eingesetzt, die Wahlmöglichkeiten der Satzungsausgestaltung
915 Für die vollständige Transkription der Interviews mit den Vertretern der untersuchten Energiegenossenschaften gemäß meiner Anleitung danke ich Anna Müller. 916 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3. 917 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3. 918 Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 3. 919 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 3. 920 Pöhlmann et al. 2012, GenG § 6 Rn 3.
126
3 Modellentwicklung und Prüfung
kennzeichnen.921 Die Gründungssatzungen sind somit ein wichtiges Dokument, anhand dessen sich die Entstehung der genossenschaftlichen Governance nachvollziehen lässt. Die Gründungssatzungen wurden durch Abfragen aus dem Genossenschaftsregister oder durch Download von den Webseiten der Energiegenossenschaften beschafft. Aus Gründen der Anonymisierung wurde auf direkte Zitate aus den Satzungen verzichtet und ein anderes Pseudonym verwendet als bei den untersuchten Fällen und Interviews. Die Bezeichnung umfasst zwei Buchstaben, wobei der erste Buchstabe für das Geschäftsmodell922 steht („N“ für Nahwärmenetzgenossenschaft und „E“ für Energieproduktionsgenossenschaft) und der zweite Buchstabe die Energiegenossenschaft bezeichnet. 3.1.2.3 Abduktion Wie bereits dargelegt, sieht die Grounded-Theory-Methode ein dreistufiges Verfahren vor, um aus dem Datenmaterial sukzessive eine Gegenstandstheorie zu entwickeln.923 Entsprechend den Vorgaben der Grounded-Theory-Methode wurde zunächst das Datenmaterial mit offenen Kodes versehen. Hierzu wurden die Interviews mehrmals gelesen und In-vivo-Kodes mit dem Programm MAXQDA erzeugt. Ähnlich wurde mit den Satzungen der Genossenschaften verfahren, allerdings entstanden hier keine In-vivo-Kodes, sondern die Abschnittsüberschriften der Satzungen dienten als offene Kodes. Diese offenen Kodes bilden die erste theoretische Abstraktionsstufe des Datenmaterials und „brechen dieses auf“924. Durch fortwährende Vergleiche unterschiedlicher Fälle, aber auch innerhalb des Datenmaterials eines Falls konnten die generierten offenen Kodes immer weiter verfeinert werden, sodass am Ende des Kodierprozesses eine Vielzahl an offenen Kodes und Beziehungskategorien zur Verbindung offener Kodes bestand. Beide betrachteten Geschäftsmodelle wurden immer wieder getrennt voneinander untersucht und dann als Gruppen miteinander verglichen. Zudem bot es sich bei der Untersuchung an, Fragen an das Material zu stellen und das Material dadurch besser zugänglich zu machen. Hierbei war die Haupt-Forschungsfrage von zentraler Bedeutung, da das Datenmaterial damit aus einem spezifischen Blickwinkel fokussiert werden konnte. So beschreiben manche Interview- oder Satzungsabschnitte Dinge, die hier nicht thematisiert werden, weil sie nicht im Fokus der Hauptforschungsfrage stehen. Neben den Interviews und Satzungen wurden in dieser Phase auch die Notizen zum Besuch von Veranstaltungen im Genossenschaftsbereich, insbesondere die
921 Vgl. Genossenschaftsverband Bayern e. V. o. J.. Siehe zum Aufbau von Mustersatzungen Abschnitt 2.1.4.2.2.3. 922 Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.2. 923 Vgl. Abschnitt 3.1.1.3. 924 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 43 ff.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
127
Treffen der ARGE reflektiert. Ein Teil des offenen Kodierprozesses bestand darin, Memos zu erstellen, die Notizen über Zusammenhänge und Beobachtungen im Untersuchungsmaterial enthalten. Die Sammlung der Memos erfolgte teilweise als Notiz zu den offenen Kodes und teilweise außerhalb des Materials in einem Manuskript zur Datenauswertung. Die zahlreichen Memos waren später Grundlage zur Entwicklung der Gegenstandstheorie. In einem zweiten Prozessschritt wurden die offenen Kodes dann weiter gruppiert, zueinander in Beziehung gesetzt und auf einer höheren Abstraktionsstufe verdichtet. Die axialen Kodes sind neue Kategorien, die den Bedeutungsraum aller offenen Kodes umfassen. Um die axialen Kodes zu entwickeln, wurden alle offenen Kodes einer Kategorie zugeordnet und diese dann nach und nach in weitere Subkategorien zerlegt, je nachdem wie gering die Passung der übergeordneten Kategorie zu den untergeordneten Kategorien war.925 Ein ständiges vertikales und horizontales Vergleichen des „Kategorie-Baums“ ermöglichte die weitere Differenzierung der axialen Kodes. Die Herausarbeitung einer Kernkategorie – des sogenannten selektive Kodes – bildete den letzten Schritt. Die Herausarbeitung einer Kernkategorie erfolgte, indem die axialen Kodes miteinander verbunden wurden und diese Verbindung am Material überprüft wurde.926 Der selektive Kode ist gewissermaßen die Bezeichnung für die aus den Daten extrahierte Geschichte, die im folgenden Abschnitt vorgestellt wird.927
3.1.3 Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance einer Energiegenossenschaft 3.1.3.1 Prozess der Neukontextualisierung Die Untersuchung der Gründungsprozesse und der Gründungssatzungen mithilfe der Grounded-Theory-Methode hat ein übergeordnetes Kodesystem zum Ergebnis, das in Abbildung 6 dargestellt ist und zur Einführung in die Gegenstandstheorie erläutert wird. Es werden drei Ebenen unterschieden: Neben dem selektiven Kode und den axialen Kodes wurde der Gründungsprozess als ordnendes Schema für das Kodesystem mit aufgenommen. Durch die Unterscheidung der Prozessschritte ist es möglich, den Bereich hervorzuheben, auf den sich die hier vorgestellte Gegenstandstheorie konzentriert. Der Gründungsprozess beginnt mit dem Bedarf kollektiver Handlung, auf den drei Prozessphasen folgen, die im Weiteren als Neukontextualisierung928 bezeichnet
925 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 86–93. 926 Vgl. Strauss und Corbin 1996, S. 94. 927 Vgl. Fußnote 849. 928 Hierbei handelt es sich um die mit der Grounded-Theory-Methode herausgearbeitete Kernkategorie (vgl. Abschnitt 3.1.1.3), die weiter unten in diesem Abschnitt erläutert wird.
128
3 Modellentwicklung und Prüfung
Neukontextualisierung Selektiver Kode 1. Bedarf kollektiver Handlung
2. Wahl der Rechtsform
3. Ausgestaltung der Governance
4. Mitgliedergewinnung
Gründungsprozess
Mitgliederbeitritt
Genossenschaft Art der Transaktion
Gestaltende Akteure
Energieproduktionsgenossenschaft Nahwärmenetzgenossenschaft
Gründungskontext
Initiator Genossenschaftsverband
SozioGeografie Population der Energiegenossenschaften
Satzung Mitgliederbindung als GovernanceAttribut GovernanceMechanismen der Mitgliederbindung GovernanceKosten der Mitgliederbindung
Axiale Kodes
Abbildung 6: Kodierschema Neukontextualisierung. Quelle: Eigene Darstellung.
werden. Der Bedarf kollektiver Handlung ergibt sich aus der Notwendigkeit, einen ökonomischen, politischen oder gesellschaftlichen Zweck zu erreichen.929 Hierauf soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Der Fokus in dieser Arbeit liegt auf dem Prozess der Neukontextualisierung, der die Wahl der Rechtsform930 Genossenschaft, die Ausgestaltung ihrer Governance und den Beitrittsvorgang der Mitglieder umfasst. Insbesondere steht die Ausgestaltung der Governance im Zentrum dieser Untersuchung und wird hier anhand von vier Gruppen axialer Kodes beschrieben: der Art der Transaktion, den gestaltenden Akteuren, dem Gründungskontext931 und der Satzung.
929 Für weitere Informationen zur Motivation bei der Gründung einer Energiegenossenschaft siehe Müller und Talaulicar (2012) und Boon und Dieperink (2014). 930 Die Bezeichnung der Genossenschaft als „Rechtsform“ ergab sich im Rahmen des Kodierprozesses aus den Daten und wird daher dem synonymen und alternativ zu verwendenden Begriff der „Governance-Struktur“ in der Vorstellung der Gegenstandstheorie vorgezogen. 931 Die Wirkung des Gründungskontexts stellte sich in der Untersuchung zweigeteilt dar: Zum einen erzeugte der Gründungskontext Handlungssicherheit und zum anderen hatte der Gründungskontext die Funktion, ein gemeinsames Bewusstsein für die Notwendigkeit kollektiver Handlung zu schaffen. Er wirkt also bereits vor dem Prozess der Neukontextualisierung (vgl. Abbildung 6). In dieser Arbeit soll lediglich auf die Handlungssicherheit erzeugenden Faktoren des Gründungskontexts eingegangen werden, wie die Sozio-Geografie (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1) und die Population der Energiegenossenschaften (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.2). Faktoren, die vorwiegend eine kollektive Handlung stimulieren, wie der Produktmarkt, der Faktormarkt, eigene Gegner oder das politische
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
129
Die Governance-Entstehung der hybriden Organisationsform Energiegenossenschaft ist ein komplexer Vorgang der Neukontextualisierung: Eine Transaktion wird nicht in einem bestehenden Kontext erwartungsstabilisierender Mechanismen – Sozialkapital und Rechtsstaat – durchgeführt, sondern neue Mechanismen eines niedrigeren Niveaus932 – Governance – werden speziell zur Sicherung und Durchführung der Transaktion geschaffen. An diesen neuen Kontext in Form einer Governance-Struktur binden sich die Mitglieder der Energiegenossenschaft durch ihren Beitritt. Der Prozess der Governance-Entstehung kann folglich als Neukontextualisierung bezeichnet werden, weil eine Governance-Struktur geschaffen wird, die einen neuen Handlungskontext für die an der Transaktion beteiligten Akteure darstellt. Der Zweck der entstehenden Governance ist es, ein ausreichendes Maß an Handlungssicherheit zu schaffen. Die durch die Governance geschaffene Handlungssicherheit gleicht dazu Defizite des Angebots an Handlungssicherheit aus. Der Mangel an Handlungssicherheit ist eine Folge des transaktionsbedingten Bedarfs an Handlungssicherheit, welchem kein gleichwertiges Angebot an Handlungssicherheit gegenübersteht. Ein solches natürliches Angebot an Handlungssicherheit wird durch den gestaltenden Akteur oder den Gründungskontext erzeugt. Mit Handlungssicherheit ist das Ausmaß der Gewissheit der gestaltenden Akteure und potenziellen Mitglieder gemeint, dass die beabsichtigte Transaktion erfolgreich umgesetzt werden kann. Das Konzept der Handlungssicherheit wurde im Rahmen der Gegenstandstheorie entwickelt und weist eine inhaltliche Nähe zum Unsicherheitskonzept der Transaktionskostentheorie auf.933 Allerdings unterscheidet sich die Handlungssicherheit von dem in der Transaktionskostentheorie verwendeten Begriff der Unsicherheit in mehreren Hinsichten: 1. Die Handlungssicherheit ist im Gegensatz zur Unsicherheit positiv formuliert. Hierdurch soll verdeutlicht werden, dass im gesamten Prozess der Neukontextualisierung die gestaltenden Akteure nicht defensiv auf Unsicherheit reagieren, sondern diese nach einem Niveau an Handlungssicherheit streben, das sie ermutigt, in die Transaktion einzuwilligen. 2. Das Konzept der Handlungssicherheit setzt später an als das Unsicherheitskonzept der Transaktionskostentheorie, da es bereits die Wirkung von Governance-
System werden an dieser Stelle nicht weiter dargestellt, weil sie in ihrer Wirkung nicht im Prozess der Neukontextualisierung anzusiedeln sind, sondern eine Rolle bei der Begründung der Notwendigkeit kollektiver Handlung spielen. Sämtliche hier beschriebenen Kontextfaktoren sind in einer ersten Ausarbeitung in einem Konferenzbeitrag zur Diskussion gestellt worden (vgl. Müller und Talaulicar 2012). Die in Abschnitt 3.1.3 vertiefend und großteils neu erstellte Ausarbeitung bezieht sich immer wieder auf den vorgenannten Konferenzbeitrag. 932 Vgl. Abschnitt 2.1.2. 933 Vgl. Abschnitte 2.1.1.2, 2.2.1.2 und 2.2.2.2.2.
130
3 Modellentwicklung und Prüfung
Strukturen auf Handlungssicherheit umfasst. Nicht die in der Ausgangssituation bestehende Unsicherheit steht hier im Fokus, sondern die Frage, ob ausreichend Handlungssicherheit beispielsweise durch passende GovernanceStrukturen erzeugt werden kann. 3. Auch die Modellierung der Handlungssicherheit unterscheidet sich von dem Unsicherheitskonzept, das als Transaktionsdimension in der Transaktionskostentheorie thematisiert wird. Die Handlungssicherheit ist in der hier dargelegten Gegenstandstheorie kein exogener Faktor, sondern endogen und damit abhängig von der Art der Transaktion, aber auch von weiteren Faktoren, die nicht der Transaktion direkt zuzurechnen sind. Es handelt sich bei der Handlungssicherheit um den zentralen Wirkzusammenhang zwischen den unabhängigen Variablen und der entstehenden Governance. 4. Die Handlungssicherheit bezieht sich auf eine konkrete Handlungssituation und hat nur für diese Gültigkeit. Anders als das Unsicherheitskonzept der Transaktionskostentheorie ist die Handlungssicherheit nicht abhängig von den Verhaltensannahmen über den Akteur, die in der Entwicklung der Gegenstandstheorie bewusst ausgeklammert wurden. Das Niveau an Handlungssicherheit kann deshalb nicht auf andere Handlungszusammenhänge übertragen werden, weil die ganz konkreten Einflussfaktoren der Handlungssicherheit situationsbedingt variieren. Die Gegenstandstheorie behandelt jene Faktoren, die die Handlungssicherheit beeinflussen und die damit relevant für die Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften sind. Hierzu zählen die Art der Transaktion, der gestaltende Akteur, der Gründungskontext und die Satzung, die allesamt auf das wahrgenommene Niveau an Handlungssicherheit wirken. Es wird in der Gegenstandstheorie zunächst davon ausgegangen, dass die gestaltenden Akteure934 und potenziellen Mitglieder sich nicht in der Wahrnehmung der Handlungssicherheit unterscheiden. Das bedeutet, dass die gestaltenden Akteure das gleiche Niveau an Handlungssicherheit beobachten wie die potenziellen Mitglieder, also keine Informationsunterschiede bestehen. Lediglich die Handlungsmöglichkeiten in der Folge ihrer Wahrnehmung unterscheiden sich und werden nun skizziert. Die Neukontextualisierung ist ein dreistufiger Prozess, der von den Initiatoren935 gesteuert wird, wobei der Hauptfokus der Gegenstandstheorie auf dem zweiten Prozessschritt liegt:
934 Die in Gründung befindliche Genossenschaft hat noch keine konstituierten Organe und ist daher selbst nicht in der Lage, ihre Umwelt zu beurteilen. Das Konzept des gestaltenden Akteurs beschränkt sich in dieser Arbeit auf die Initiatoren und den Genossenschaftsverband. 935 Als Initiator wird hier derjenige tituliert, der den Prozess der Neukontextualisierung angestoßen hat und diesen organisiert (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1).
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
1.
2.
3.
131
Unter Berücksichtigung des Gründungskontexts und der Anforderungen der Transaktion findet die erste Entscheidung für eine Rechtsform statt, die in allen hier betrachteten Fällen die eingetragene Genossenschaft ist. Hiermit ist die Festlegung einer Governance-Struktur erfolgt, was den weiteren Prozess der Ausgestaltung der Governance determiniert. Der zweite Schritt besteht darin, die Governance-Struktur auszugestalten, was als Optimierungsprozess bezeichnet werden kann, bei dem unterschiedliche Aspekte Berücksichtigung finden. Das Ergebnis dieser Phase ist die Satzung. Die Satzungsentwicklung erfolgt durch die Zusammenarbeit der Initiatoren mit dem Genossenschaftsverband bei gleichzeitiger Einbeziehung des Feedbacks potenzieller Mitglieder. In einer dritten Phase findet die Mitgliederwerbung statt. Es ist das Ziel dieser Phase, eine ausreichende Anzahl an Mitgliedern zu gewinnen, die der Satzung zustimmen und somit bereit sind, die Transaktion in dem neuen, dafür geschaffenen Handlungskontext – der ausgestalteten Governance-Struktur Genossenschaft – umzusetzen. Der Mitgliederbeitritt durch Satzungsunterzeichnung wird hier als Abschluss der Neukontextualisierung angesehen.
Die Neukontextualisierung verläuft nach einem Prozess-Schema, das in Abbildung 7 dargestellt ist und wie folgt beschrieben werden kann: Die gestaltenden Akteure intendieren eine Transaktion, die nach ihrer Wahrnehmung (1) ein bestimmtes Maß an Handlungssicherheit (2) erfordert. Sie nehmen gleichzeitig den Gründungskontext (3) wahr, der Handlungssicherheit (4) bietet, und schätzen ihre eigene Rolle (5) zur Erzeugung von Handlungssicherheit (6) ein. Die fehlende Handlungssicherheit versuchen sie durch die Gestaltung der Satzung (7) zu erzeugen, die ebenfalls auf die Handlungssicherheit (8) wirkt. Die Gründung ist davon abhängig, ob es den gestaltenden Akteuren gelingt, die notwendige Bedingung zu erfüllen und ausreichend Handlungssicherheit herzustellen (9). Dabei ist zugleich entscheidend, dass der Nutzen der Transaktion (10) die mit einer Bindung an die Satzung einhergehenden Governance-Kosten (11) für jedes Mitglied übersteigt, damit die hinreichende Bedingung (12) für die Neukontextualisierung erfüllt ist. Nur dann, wenn notwendige und hinreichende Bedingungen erfüllt sind, ist es wahrscheinlich, dass sich eine ausreichende Anzahl an Mitgliedern findet, die das Zusammenspiel aus Handlungssicherheit (13) und Netto-Nutzen der Transaktion (14) positiv bewerten und sich an den neu geschaffenen Kontext binden (15). Die Gegenstandstheorie, die die Neukontextualisierung beschreibt, wird in den folgenden Abschnitten konkretisiert, indem die axialen Kodes Genossenschaft, Art der Transaktion, gestaltende Akteure, Gründungskontext, Satzung und Mitgliederbeitritt und ihre Subdimensionen vorgestellt werden.
132
3 Modellentwicklung und Prüfung
Gründungskontext
1
Gestaltender Akteur 5 6
7
Satzung
8
3 4
Angebot
2
Bedarf
Art der Transaktion
Handlungssicherheit 9
13
Mitgliederbeitritt 11
Genossenschaftsgründung
Wirkung
15
potentielle Mitglieder
10 14
12
Beobachtung Gestaltung / Zustimmung
Governance-Kosten
Transaktionsnutzen
Netto-Nutzen
Abbildung 7: Prozess der Governance-Entstehung einer Energiegenossenschaft als Neukontextualisierung. Quelle: Eigene Darstellung.
3.1.3.2 Axiale Kodes 3.1.3.2.1 Genossenschaft Der Prozess der Neukontextualisierung hat seinen markantesten Punkt in der Wahl der Rechtsform936, was auch in der Reflexion dieser Entscheidung durch die Initiatoren in den Interviews deutlich wurde. Dementsprechend wurde der axiale Kode hier als Genossenschaft bezeichnet. Dennoch darf die Untersuchung der Entstehung von Governance durch die Wahl der Rechtsform nicht als abgeschlossen betrachtet werden, da erst infolge dieser Entscheidung die eigentlichen Fragen der Ausgestaltung der Governance bearbeitet werden.937 Die passende Rechtsform zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich mit vertretbarem Aufwand an die Gegebenheiten und Erfordernisse der Art der Transaktion, den Gründungskontext und die gestaltenden Akteure anpassen lässt. Dies wird im folgenden Zitat eines Initiators der P.eG sichtbar.938
936 Rechtsform ist hier als Synonym zum eingeführten Begriff der Governance-Struktur zu verstehen (vgl. Fußnote 930). 937 Vgl. G.eG#1 23.11.2010, Abs. 16–41. 938 P.eG#1 14.10.2011, Abs. 53–61.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
53 P.eG#1: 54 Müller: 55 P.eG#1: 56 57 58 59 60 61
Müller: P.eG#1: Müller: P.eG#1: Müller: P.eG#1:
133
Und da haben wir lange hin und her überlegt und sind dann irgendwann auf die Genossenschaft gekommen. Hmm Nicht so sehr vordergründig aus den Gedanken die hinter (den?) Genossenschaften so stehen. ((lachend)) /eh/ Hmm Sondern eigentlich eher auf relativ pragmatische Hmm, hmm Art und Weise. Wir hätten auch eine GmbH gemacht. ((lacht)) Hmm Wenn das nicht so aufwendig gewesen wäre. Also wir haben einfach wirklich alles durchgespielt was es so, was so möglich ist. Und sind dann, sind dann halt auf die Idee der Genossenschaft gekommen. Und haben dann auch relativ schnell da /eh/ Geschmack dran gefunden.
Die Aussagen des P.eG#1, dass man „auch eine GmbH gemacht“ hätte und die „Gedanken hinter den Genossenschaften“ kein vordergründiges Motiv für die Auswahl der Rechtsform waren, weisen darauf hin, dass bei der ursprünglichen Entscheidung für die Rechtsform Genossenschaft zunächst keine ideologischen Gründe ausschlaggebend waren. Die zitierte Aussage von P.eG#1 legt indes nahe, dass der Akteur sich aufgrund des höheren Aufwands gegen andere Alternativen und für die Genossenschaft entschieden hat. Wenngleich hier nicht im Detail dargelegt wird, worin der durch P.eG#1 geschilderte Aufwand besteht, so liegen zwei Interpretationen nahe: Zum einen kann damit der komparativ geringere Auswahlaufwand gemeint sein. Zum anderen sind damit möglicherweise die Anpassungsmaßnahmen im Zuge der Ausgestaltung der Rechtsform gemeint. Von Letzterem ist eher auszugehen, da andere Rechtsformen „durchgespielt“ wurden und ein vergleichsweise hoher Auswahlaufwand damit bereits in Kauf genommen wurde.939 Die Bewertung der Genossenschaft hinsichtlich ihrer Anpassungsmöglichkeiten lässt wiederum zwei Schlüsse zu: Entweder bringt die Grundkonfiguration der Governance einer Genossenschaft bereits viel von dem mit, was die Initiatoren zur Erzeugung von ausreichender Handlungssicherheit benötigen,940 oder die Ausgestaltung der Governance einer Genossenschaft zur Erzeugung von Handlungssicherheit ist vergleichsweise günstiger. Als wesentliche Motive für die Auswahl der Rechtsform Genossenschaft werden die demokratischen Entscheidungsstrukturen, die genossenschaftlichen Prinzipien, die Legitimation von Entscheidungen, der Vereinscharakter, die Haftungsbegrenzung
939 Teilweise werden Alternativen zur Genossenschaft nur deshalb ins Kalkül gezogen, weil die Rechtsform Genossenschaft selbst eher unvertraut ist (vgl. P.eG#1 14.10.2011, Abs. 402–425). 940 Darauf deutet die Aussage von zwei Initiatoren hin (vgl. S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 882–902).
134
3 Modellentwicklung und Prüfung
und die Eignung zur Organisation einer Vielzahl von Menschen genannt.941 Die Genossenschaft gilt zudem als besonders insolvenzsicher im Vergleich zu anderen Rechtsformen, auch wegen der Pflichtprüfung durch die genossenschaftlichen Prüfungsverbände, wie in dem Interview mit den Initiatoren der S.eG erkennbar wird.942 870 S.eG#1a:
871 Müller: 872 S.eG#1a:
Und /eh/ dann sucht er sich ein Format, wo er sich gut aufgehoben fühlt. Und dann, ich denke mal das genossenschaftliche Konzept ist allgemein überzeugend. Hmm Weil wo, wo findet man in einer Rechtsform so ideal gepaart Risikoarmut, weil man nicht mit seinem Vermögen haftet, zweitens weil man /eh/ weil das ein Rechtssystem, /eh/ eine Rechtsform ist, die stark überwacht ist und auch die geringste Insolvenzquote hat.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Wahl der Rechtsform einen Rahmen aufspannt, der im Folgenden ausgestaltet wird.943 545 L.eG#1:
[. . .] Und wir haben dann [. . .] mit dem Justiziar [des Genossenschaftsverbands, J. M.] haben wir uns anhand einer schon vorhandenen Gründungssatzung /eh/ haben wir uns entlang gehangelt und haben die dann so umgeschrieben, dass sie auf die Genossenschaft passte.
Die Entstehung der Governance der hybriden Organisationsform Energiegenossenschaft ist weder durch die Wahl der Rechtsform abgeschlossen noch handelt es sich um einen Prozess, bei dem immer wieder zwischen unterschiedlichen Rechtsformen gewechselt wird. Die Wahl der Rechtsform Genossenschaft erfolgt aufgrund ihrer Eigenschaft, einen geeigneten Rahmen zu bieten, der mit wenig Aufwand in der Gründungssituation angepasst werden kann, um dadurch ausreichend Handlungssicherheit zu erzeugen. Wenngleich hier nicht untersucht wurde, ob andere Rechtsformen tatsächlich höhere Anpassungsaufwendungen zur Folge haben, ist die Begründung der Akteure entscheidend: Die Akteure wählen die Rechtsform Genossenschaft unter anderem wegen ihrer geringen Anpassungskosten. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass die Entstehung von Governance nicht durch die Wahl einer generischen Governance-Struktur abgeschlossen ist, sondern darin ihren Ausgangspunkt hat.
941 Vgl. O.eG#1 25.10.2011, Abs. 68, P.eG#2 25.10.2011, Abs. 119–125, G.eG#1 23.11.2010, Abs. 284–302, P.eG#1 14.10.2011, Abs. 37–53, und S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 74–80. 942 S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 870–872. 943 L.eG#1 02.10.2011, Abs. 545.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
135
3.1.3.2.2 Art der Transaktion 3.1.3.2.2.1 Energieproduktionsgenossenschaften Je nach Art der Transaktion besteht ein unterschiedlicher Bedarf an Handlungssicherheit. Der axiale Kode wurde als „Art der Transaktion“ bezeichnet, da dies einerseits erlaubt, einen sprachlichen Bezug zur Transaktionskostentheorie herzustellen, welche den Hintergrund für die untersuchte Forschungsfrage bildet. Andererseits ermöglicht die gewählte Bezeichnung, die beiden untersuchten Transaktionen Energieproduktionsgenossenschaft und Nahwärmenetzgenossenschaft unter demselben Kode zu subsumieren. Das Geschäftsmodell der Energieproduktionsgenossenschaften besteht im Kern darin, dargebotsabhängige solare Strahlungsenergie in Elektrizität umzuwandeln und diese in das öffentliche Stromnetz einzuspeisen.944 Die Abnahme und die Preisfestsetzung für die produzierte Elektrizität werden durch das EEG geregelt. Dieses garantiert einen festen Preis für jede produzierte Kilowattstunde, die in das öffentliche Netz eingespeist wird, was folglich einer Preis- und Mengengarantie entspricht. Die Transaktion, die zwischen den Mitgliedern und der Energieproduktionsgenossenschaft erfolgt, kann folgendermaßen beschrieben werden: Das Mitglied und die Energiegenossenschaft schließen einen Vertrag (Satzung) zur persönlichen und finanziellen Beteiligung des Mitglieds am Geschäftsbetrieb der Energieproduktionsgenossenschaft. Der Geschäftsbetrieb besteht aus der Errichtung und dem Betrieb von Energieproduktionsanlagen.945 Neben diesem Primärziel der Transaktion werden häufig weitere Subziele verfolgt, wie der Klimaschutz946 oder die Förderung der lokalräumlichen Entwicklung947. Die Formalisierung der Transaktion wird durch die Ausgestaltung der Satzung und ihre Unterzeichnung durch alle beitretenden Mitglieder erreicht. Wesentliche Tauschleistungen sind das Einzahlen des Pflichtanteils und die Inanspruchnahme der Förderleistung der Energiegenossenschaft durch die Mitglieder sowie die persönliche Mitwirkung innerhalb der genossenschaftlichen Organisation.948 Im Gegenzug erfüllt die Energiegenossenschaft den satzungsmäßig vorgeschriebenen Zweck und lässt ihre Mitglieder am Geschäftserfolg teilhaben. Die Förderung der Mitglieder geht über die reine Dividendenausschüttung oder Ertragsthesaurierung949 hinaus: Zu Beginn besteht die Förderung 944 Alle in der qualitativ-explorativen Untersuchung betrachteten Energieproduktionsgenossenschaften erzeugten Elektrizität aus Fotovoltaikanlagen. 945 Insbesondere die Errichtung von Energieproduktionsanlagen stand bei den hier untersuchten Energiegenossenschaften zum Zeitpunkt der Interviewführung im Mittelpunkt. Betriebsführungserfahrung war zwar teilweise vorhanden, aber noch wenig bestimmend für den Geschäftsbetrieb. 946 Vgl. T.eG#1 01.06.2012, Abs. 150. 947 Vgl. S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 447–498. 948 Vgl. T.eG#1 01.06.2012, Abs. 150–158, und Z.eG#1 20.12.2011, Abs. 212–223. 949 Die Ertragsthesaurierung meint hier die Wiederanlage von Jahresüberschüssen in der Energiegenossenschaft.
136
3 Modellentwicklung und Prüfung
vor allem im gemeinsamen Einkauf von Investitionsgütern, der Errichtung der Anlagen und dem gemeinsamen Absatz der produzierten Energie sowie in der Beratung von Mitgliedern und Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Klimaschutz. Perspektivisch findet sich in den Satzungen auch der Zweck, die Mitglieder mit Energie zu versorgen.950 Ein entscheidender Erfolgsfaktor für das Geschäftsmodell der Energieproduktionsgenossenschaften ist der Produktionsstandort mit den dort vorherrschenden Wetterverhältnissen, die mittels langfristiger Wetterprognosen im Vorfeld der Anlagenerrichtung prognostiziert werden können. Dies ins Kalkül gezogen, ist es offensichtlich, dass ein großer Wettbewerb um die besten Produktionsstandorte herrscht, dem sich die Energieproduktionsgenossenschaften stellen müssen.951 So ist im Rahmen der Transaktionsplanung von Energieproduktionsgenossenschaften die Standortsicherung ein zentraler Planungsschritt. Hierbei geht es um die Suche nach geeigneten Flächen und die Anbahnung von Verträgen mit den Flächeneigentürmern. Die in diesem Rahmen entstehenden Kosten werden meist privat von den Initiatoren getragen und oft auch später nicht monetär kompensiert.952 Die durch die Initiatoren wahrgenommene Handlungssicherheit bemisst sich auch danach, wie sehr sie davon ausgehen können, dass sich eine ausreichende Zahl an Mitgliedern finden lässt. So sind auch die Versuche der Initiatoren zu erklären, noch vor der Entscheidung für die Durchführung der Transaktion ausreichend Mitglieder an die Energiegenossenschaft zu binden, wie ein Initiator der P.eG schildert.953 265 P.eG#2:
271
P.eG#2:
272 Müller: 273 P.eG#2:
[. . .] Parallel dazu eben auch immer die Verhandlungen mit der Schule und mit dem kommunalen Immobilien Betrieb der Stadt, die also da das Sagen für das Schulgebäude haben. Man muss also mit wirklich vielen Menschen da sprechen. Das ist ein erheblicher organisatorischer Aufwand. [. . .] Und parallel dazu eben das Einwerben weiterer Genossenschaftsmitglieder und /eh/ der Anteile und eben mit der ((niest)) Ansage: Leute, wenn die Eintragung da ist, dann müsst ihr bitte auch sofort, ihr müsst dann bitte flüssig sein und sofort dann eure Anteile auch einzahlen können, Ja damit wir sofort mit der Planung und /eh/ Installation der Anlage weiter machen
950 Vgl. EQ.eG o. J., § 2, EA.eG o. J., § 2, und EU.eG o. J., § 2. 951 Vgl. P.eG#1 14.10.2011, Abs. 543–553. 952 Vgl. P.eG#1 14.10.2011, Abs. 71–83. Das Verhalten der Initiatoren ist in den hier untersuchten Fällen vorwiegend als altruistisch zu bezeichnen. 953 P.eG#2 25.10.2011, Abs. 265–273.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
137
Wenn es für die Energieproduktionsgenossenschaft nicht möglich ist, ausreichend Mitglieder und damit Kapital zu binden, steht das gesamte Projekt infrage. Die Handlungssicherheit nimmt folglich mit großen Projekten ab, da hiermit auch das Kapitalvolumen für jedes einzelne Mitglied ansteigt und immer unwahrscheinlicher wird, dass genügend Mitglieder gefunden werden.954 3.1.3.2.2.2 Nahwärmenetzgenossenschaften Das Geschäftsmodell der Nahwärmenetzgenossenschaften besteht darin, eine Nahwärmenetz-Infrastruktur zu errichten und diese dazu zu nutzen, Wärme von einem zentralen Ort an die angeschlossenen Haushalte zu transportieren. Die Wärme wird dabei entweder eigenständig produziert oder von einer zentralen Stelle abgenommen, die nicht zum Anlagevermögen der Nahwärmenetzgenossenschaft gehört.955 Bei den Nahwärmenetzen handelt es sich ausschließlich um Rohre, die unter der Erde verlaufen und teilweise bis zu mehrere Kilometer lang sind und in den untersuchten Fällen zwischen 30 und 130 Anschlussstellen besitzen.956 Als Inputstoffe zur Wärmeerzeugung dient Biomasse, meist in Form von Holz. Für Spitzenlastzeiten stehen zentrale Öl- oder Gasbrenner zur Verfügung. Es werden also biogene Inputstoffe in Wärmeenergie umgewandelt, wobei auch Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zum Einsatz kommen, die neben der Erzeugung von Wärme gleichzeitig Strom produzieren. Der Strom wird in das öffentliche Netz eingespeist und im Rahmen des EEG vergütet. Die in einer Nahwärmenetzgenossenschaft stattfindende Transaktion kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Genossenschaftsmitglied und die Nahwärmenetzgenossenschaft schließen einen Vertrag (Satzung) zur persönlichen und finanziellen Beteiligung des Mitglieds am Geschäftsbetrieb der Nahwärmenetzgenossenschaft. Dieser Geschäftsbetrieb besteht in der Errichtung und dem Betrieb der Nahwärmenetzinfrastruktur und der notwendigen Wärmeerzeugungsanlage. Darüber hinaus verpflichten sich die Mitglieder in einem separaten Wärmenutzungsvertrag zur langfristigen Abnahme einer bestimmten Wärmemenge. Zur Vertragserfüllung ist es erforderlich, dass jedes Mitglied die pflichtmäßigen Einzahlungen auf seinen Geschäftsanteil leistet, seinen Verpflichtungen innerhalb der Nahwärmenetzgenossenschaft nachkommt und einen Wärmelieferungsvertrag mit der Genossenschaft abschließt. Um die von der Nahwärmenetzgenossenschaft produzierte Wärme abzunehmen, muss die Heizungsanlage des Mitglieds umgebaut werden und eine geeignete Abnahmeeinrichtung für die Wärme aus dem Nahwärmenetz errichtet werden. Der Umbau erfordert meist den Rückbau der alten Heizanlage. Aufseiten der
954 Vgl. P.eG#2 25.10.2011, Abs. 411. 955 Wird die Wärmeenergie von einer dritten Partei zugekauft, handelt es sich bei den Verkäufern häufig um Betreiber von Biogasanlagen, deren Abwärme genutzt wird. Im Fall der Abwärmenutzung von einer dritten Partei werden Lieferverträge mit dem Wärmelieferanten geschlossen. Ein solcher Fall lag bei den hier untersuchten Nahwärmenetzgenossenschaften jedoch nicht vor. 956 Aufgrund der Anonymisierung wird hier nur eine Bandbreite angegeben.
138
3 Modellentwicklung und Prüfung
Nahwärmenetzgenossenschaft bestehen die Verpflichtungen, das Nahwärmenetz zu verlegen und eine Wärmeerzeugungsanlage zu errichten und zu betreiben. Weiter ist die Nahwärmenetzgenossenschaft dazu verpflichtet, das Mitglied mit der festgelegten Wärmemenge zu beliefern. Teilweise betreiben die Nahwärmenetzgenossenschaften als Zusatzgeschäft auch noch Fotovoltaikanlagen.957 Der Bau eines Nahwärmenetzes ist ein komplexer Vorgang, der intensive Planungen erfordert. Hierzu gehört sowohl eine technische Machbarkeitsstudie eines Ingenieurbüros als auch die Beschaffung langfristiger Darlehen zur Finanzierung mit oft mehr als 30 Jahren Laufzeit.958 Der Standort ist für die Errichtung eines Nahwärmenetzes insofern entscheidend, als dieser dafür ausschlaggebend ist, ob ein Nahwärmenetz wirtschaftlich zu betreiben ist. Wesentliche Parameter, die die Wirtschaftlichkeit eines Nahwärmenetzes beeinflussen, sind die Siedlungsdichte,959 die Verfügbarkeit von Brennstoffen960 und die Beschaffenheit des Geländes,961 auf dem das Nahwärmenetz entstehen soll. Nach erfolgreicher Überprüfung der Machbarkeit beginnt ein intensiver Aushandlungsprozess mit den potenziell anschlussfähigen Haushalten, die überzeugt werden müssen, ihr aktuelles Heizsystem gegen einen Anschluss an die Zentralheizung zu tauschen. Dies geht mit erheblichen Investitionen aufseiten der Mitglieder einher. Zum wirtschaftlichen Betrieb ist es meist erforderlich, eine Mindestanzahl an Hausanschlüssen zu gewinnen. Lässt sich diese Mindestanzahl an Hausanschlüssen nicht in einem lokal begrenzten Raum gewinnen, so kann das Projekt nicht umgesetzt werden. Zur Anfertigung einer Machbarkeitsstudie durch externe Gutachter ist es erforderlich, circa 10.000 € bis 15.000 € zu investieren. Das hohe Investitionsrisiko wird in der Schilderung eines Initiators der G.eG deutlich, die vor der Durchführung der Machbarkeitsstudie ihre Mitglieder befragt hat, ob diese auch mit einer vollständigen Abschreibung des Betrags einverstanden wären.962 96
G.eG#1:
Und deswegen hat das dann noch ein bisschen länger gedauert. Weil die Leute dann noch lange überlegt haben. ((Husten)) Auf jeden Fall haben wir dann /ehm/ die 19 gegründet. Also wir waren dann 19 Leute aus dem Dorf die gesagt haben wir nehmen ein bisschen Geld in die Hand und machen, und lassen eine Machbarkeitsstudie machen.
957 Vgl. G.eG#1 23.11.2010, Abs. 406. 958 Vgl. Degenhart 2010, S. 7. 959 Je geringer die Siedlungsdichte ist, desto länger werden die Transportwege und damit auch die Leitungsverluste, was wiederum die Effizienz der Anlage verringert. 960 Brennstoffe können jedoch auch über weite Strecken geliefert werden, weshalb dieser Einflussfaktor auf die Handlungssicherheit relativiert werden muss. 961 Hindernisse wie Flussläufe, bestehende Verkehrswege oder große Höhenunterschiede stellen bautechnische Hürden dar, die die Investitionsausgaben für das Projekt beeinflussen oder dieses technisch unmöglich machen. 962 G.eG#1 23.11.2010, Abs. 96–100.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
97 98
Müller: G.eG#1:
99 Müller: 100 G.eG#1:
139
Ja /ehm/ Ich weiß nicht mehr wie viel. Ich glaube wir hatten gesagt pro Nase maximal 500 € darf das kosten. Ja Das hatten wir, also haben wir schriftlich festgelegt, dass wir das /ehm/ im, also, im Zweifelsfall auch abschreiben würden, wenn die Machbarkeitsstudie ergibt, dass es sich nicht lohnt.
Die hohen Planungskosten, die zudem einem hohen Risiko unterliegen, stehen exemplarisch für den erhöhten Bedarf an Handlungssicherheit bei Nahwärmenetzgenossenschaften im Vergleich zu Energieproduktionsgenossenschaften. Der erhöhte Bedarf an Handlungssicherheit wird auch daran deutlich, dass das Investitionsvolumen nach Abschluss der Planungsphase zu großen Teilen fixiert ist und auf die Anschlussstellen verteilt werden muss. Dementsprechend sinkt die Handlungssicherheit, wenn nicht schon vor Planungsabschluss ausreichend Mitglieder bereit sind, der Energiegenossenschaft beizutreten. Die Investitionsausgaben für das Nahwärmenetz pro Mitglied steigen an, je weniger Mitglieder gefunden werden, da die variablen Anteile am Investitionsbudget eines Nahwärmenetzes sehr gering sind. Höhere Investitionsausgaben führen wiederum dazu, dass die Mitgliedschaftsbereitschaft abnimmt. Hierdurch ergibt sich potenziell ein selbstverstärkender negativer Kreislauf. Zur Lösung des Problems wird deshalb eine Mindestanzahl an Abnahmestellen festgelegt, die erreicht werden muss, um das Nahwärmenetz zu bauen. In Übereinstimmung damit schildert der Initiator der G.eG die hohe Unsicherheit, die mit dem hohen Investitionsvolumen einherging, und den Versuch, dieses Problem an die Bedürfnisse der potenziellen Mitglieder anzupassen.963 170 G.eG#1: 171 Müller: 172 G.eG#1:
173 Müller: 174 G.eG#1:
((Husten)) Und, wir haben halt auch überlegt, wie wir das machen, wenn manche Leute sich diese 5000 € nicht leisten können. Ja Dann haben wir da mit Kreditaufnahme und Zinsen verschiedene Versionen von Zinsen und Tilgung und das durchgespielt. Das war. Wir haben uns da viel zu sehr in Kleinigkeiten verzettelt. Ja Ja, wenn ich das nochmal machen müsste, würde ich zwei Sachen festlegen. Würde sagen so ist es, nehmt es oder lasst es. ((Lachen))
Insgesamt lässt sich folgern, dass der Bedarf an Handlungssicherheit für Nahwärmenetzgenossenschaften deutlich höher ist als für Energieproduktionsgenossenschaften.
963 G.eG#1 23.11.2010, Abs. 170–174.
140
3 Modellentwicklung und Prüfung
3.1.3.2.3 Gestaltende Akteure 3.1.3.2.3.1 Initiator In dieser Arbeit wurden die an einer Transaktion beteiligten Personen wahlweise als Akteur oder Transaktionspartner bezeichnet. Da durch die nun erfolgende Vorstellung der Begrifflichkeit eine Differenzierung dieses Konzepts erfolgt, sollen die im Folgenden vorgestellten Akteure Initiator und Genossenschaftsverband gemeinsam als die gestaltenden Akteure von solchen Akteuren abgegrenzt werden, die bei der Entwicklung von Governance eine weniger aktive Rolle einnehmen, wie beispielsweise die potenziellen Mitglieder. Der axiale Kode wurde aus diesem Grund als gestaltender Akteur bezeichnet. Als Initiator wird hier derjenige tituliert, der den Prozess der Neukontextualisierung angestoßen hat und diesen organisiert. Der Initiator greift die Idee für eine Transaktion auf und steuert deren Umsetzung. Dies bedeutet auch, dass er für die Wahl der Rechtsform Genossenschaft und deren Ausgestaltung verantwortlich ist. Seine zentrale Rolle besteht darin, die Gegebenheiten des Gründungskontexts zu interpretieren und durch die Ausgestaltung der Governance dem Bedarf der Transaktion an Handlungssicherheit gerecht zu werden. Er wird bei diesem Prozess eng durch einen beratenden Genossenschaftsverband begleitet, wie in Abschnitt 3.1.3.2.3.2 erläutert wird. Die Governance der Energiegenossenschaft nutzt der Initiator in der dritten Phase der Neukontextualisierung, um potenzielle Mitglieder vom Beitritt zu überzeugen. Die Initiatoren der Energiegenossenschaften lassen sich hinsichtlich zahlreicher Kriterien differenzieren und bilden eine heterogene Gruppe. Ein Konzept, das im Rahmen der Analyse besonders relevant erschien, ist die Verfasstheit der Initiatoren. Die Verfasstheit beschreibt den Grad, zu dem der Initiator selbst organisiert ist und eine formale Governance aufweist. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn es sich um einen Verein oder ein Unternehmen handelt, das als Initiator fungiert. Juristische Personen964 und natürliche Personen965 sind folglich zwei Ausprägungsformen des Attributs Verfasstheit. Natürliche Personen, die eine Neukontextualisierung initiieren, verfügten in den untersuchten Fällen über Expertise in Sachen regenerative Energien, stellten lokale Amts- und Rolleninhaber dar oder agierten als Umweltaktivisten. Im Fall von bereits verfassten Organisationen kamen Umweltvereine, Vereine zur Förderung regenerativer Energien und lokale Unternehmen vor, wie in Tabelle 7 dargestellt ist. Die Verfasstheit als Eigenschaft des Initiators wirkt sich auf die Wahrnehmung des Gründungskontexts, die Ausgestaltung der Governance und die anschließende Mitgliederwerbung aus, weshalb sie hier als axialer Kode zur Charakterisierung des Initiators ausgewählt wurde.
964 Vgl. beispielsweise § 22 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). 965 Vgl. § 1 BGB.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
141
Tabelle 7: Verfasstheit Initiatoren. Name
Initiator
Verfasstheit
P.eG
Verein zur Förderung regenerativer Energien
ja (juristische Person)
O.eG
lokaler Amts- und Rolleninhaber
nein (natürliche Person)
S.eG
Umweltaktivist
nein (natürliche Person)
G.eG
Experte regenerative Energien
nein (natürliche Person)
L.eG
lokaler Amts- und Rolleninhaber
nein (natürliche Person)
W.eG
Experte regenerative Energien
nein (natürliche Person)
N.eG
lokaler Amts- und Rolleninhaber
nein (natürliche Person)
B.eG
Umweltaktivist
nein (natürliche Person)
Z.eG
Umweltverein
ja (juristische Person)
T.eG
Umweltverein und Unternehmen
ja (juristische Person)
Quelle: Eigene Darstellung.
Wahrnehmung des Gründungskontexts Die durch den Initiator beabsichtigte Transaktion erfordert Handlungssicherheit für die potenziellen Mitglieder. Diesen Bedarf an Handlungssicherheit nimmt der Initiator wahr. Zudem interpretiert der Initiator die Handlungssicherheit, die durch den Gründungskontext gegeben ist. Folglich ist es entscheidend, was der Initiator als Gründungsumwelt wahrnimmt. Insbesondere im Hinblick auf die Wahrnehmung der Gründungsumwelt unterscheiden sich verfasste von nicht verfassten Initiatoren, indem sie den sozio-geografischen Raum966 oder ihre eigene Organisation als wesentliche Gründungsumwelt interpretieren. So beschreibt der Initiator der T.eG einen Verein als Gründungsumwelt, der auch Initiator der Energiegenossenschaft war.967 36 T.eG#1:
/eh/ Wir sind der Verein [. . .] und sind von der Stadt [. . .] gegründet. Und auch /eh/ finanziert und gefördert. /eh/ Und /eh/ allerdings finanzieren wir uns nicht nur von, auf diesen Zuschuss, sondern auch über eigene Projekte. Projekteinnahmen. Und /eh/ unter anderem haben, also der Verein existiert seit [..]. Im Unterschied zu vielen anderen lokalen Agenden ist der Verein /eh/ nicht Teil der Stadtverwaltung, sondern es ist ein Verein. Ja. Und /eh/
966 Eine eingehende Vorstellung des Gründungskontexts und Erläuterung des Konzepts der Sozio-Geografie erfolgt in Abschnitt 3.1.3.2.4. 967 T.eG#1 01.06.2012, Abs. 36–42.
142
3 Modellentwicklung und Prüfung
37 Müller: 38 T.eG#1:
39 Müller: 40 T.eG#1:
41 Müller: 42 T.eG#1:
Ja wir haben mehrere Schwerpunkte. Unter anderem ist auch Energie ein Schwerpunkt. Und da haben wir eine Projektgruppe Energie, die auch /eh/ ich sage mal seit 2006, 7 so stärker aktiv wurde und /eh/ im Zuge dieser Aktivität sind vier Bürgersolarkraftwerke entstanden. Ja /eh/ [in Jahr X, J. M.] zwei Stück und [in Jahr Y, J. M.] auch zwei. Und eine logische Konsequenz war /ehm/ dass wir /eh/ in Gründungs- / eh/ also /eh/ in Richtung Gründung einer Energiegenossenschaft überlegen. Ja Und /eh/ haben dann /ehm/ diesen Prozess gestartet [. . .].
Im Fall der T.eG fällt auf, dass der sozio-geografische Raum als Gründungskontext nicht explizit dargestellt wird. Im Gegensatz dazu beschreibt der Initiator der Energiegenossenschaft O.eG die relevante Gründungsumwelt als sozio-geografischen Raum „Dorf“.968 32 O.eG#1:
33 Müller: 34 O.eG#1: 35 Müller: 36 O.eG#1:
Also [im Jahr Z, J. M.] haben sich der [Rolleninhaber A, J. M.] und der [Rolleninhaber B, J. M.] getroffen bei dem [Rolleninhaber B, J. M.] und dann haben die zwei sich unterhalten über alternative Energien. Ja Und /eh/ dann, in diesem Gespräch kristallisierte sich raus, Mensch, sowas müssten wir für das ganze Dorf machen. Ja Und weil der [Rolleninhaber B, J. M.] gleichzeitig ein Ortsvorsteher war, ist er mit dieser Idee (bis?) in die nächste Ortsbeiratssitzung gezogen. Hat seinen Leuten das erzählt und traf auf verhaltene ja, man könnte /eh/ Idee und wo kann man sowas sehen? Und einen Tag später /eh/ habe ich dann den Wetterbericht abgehört von NordrheinWestphalen 3 und dort wurde in /ehm/ [Ort N, J. M.] das dritte Hackschnitzelholzheizwerk eingeweiht. Und daraufhin habe ich dort angerufen.
Im Fall der O.eG wird zudem deutlich, dass der sozio-geografische Raum dann besonders zugänglich ist, wenn der Initiator in diesem strukturell verwurzelt ist, zum Beispiel durch seine Rolle als „Ortsvorsteher“. Es lässt sich aus dem Datenmaterial schlussfolgern, dass dieser Unterschied in der Wahrnehmung des relevanten Gründungskontexts auch dazu führt, dass das
968 O.eG#1 25.10.2011, Abs. 32–36.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
143
Angebot an Handlungssicherheit durch den sozio-geografischen Raum unterschiedlich bewertet wird. Im Fall von verfassten Initiatoren spielt der sozio-geografische Raum zur Erzeugung von Handlungssicherheit eine deutlich kleinere Rolle als im Fall von nicht verfassten Initiatoren. Ausgestaltung der Governance-Struktur Wie in der Zusammenfassung bereits geschildert, beabsichtigt der Initiator, die fehlende Handlungssicherheit durch Governance auszugleichen, um die notwendige Bedingung zur Mitgliedergewinnung zu erfüllen. Dieser Prozess unterscheidet sich bei Initiatoren, die verfasst sind, von solchen, die dies nicht sind. Ein verfasster Initiator muss kaum Kompromisse bei der Ausgestaltung der Governance eingehen und bindet auch die potenziellen Mitglieder der Energiegenossenschaft weniger stark in den Entwicklungsprozess ein. In den Schilderungen eines Initiators der P.eG wird dies exemplarisch deutlich: Die Satzung wird auf der Gründungsversammlung nicht ausgestaltet oder geändert, sondern allenfalls erklärt.969 169 P.eG#2:
170 Müller: 171 P.eG#2:
172 Müller: 173 P.eG#2:
/ehm/ Und wir hatten also eine Rechtsanwältin auch, eine Notarin dabei, die [. . .] ist mehr zivilrechtlich und hat also oft mit solchen Verträgen zu tun, das konnte die also aus dem Effeff. Ja Die ist auch Genossenschaftsmitglied, von daher war das also sehr /ehm/ /eh/ hilfreich. Sie wusste also wie man sowas macht. Wie man sowas leitet und wie man eine Satzung beschließt und welchen Sinn die einzelnen /eh/ Paragraphen haben, das konnte sie aus ihrer Kenntnis und Erfahrung heraus gut darlegen und auch Fragen aus dem Stehgreif immer gut beantworten, so dass das Ja also ziemlich reibungslos /eh/ verlief.
Die Mitglieder der Energiegenossenschaft, die dieser als Gründungsmitglieder beitreten, wurden also in den Ausgestaltungsprozess der Satzung nicht aktiv mit eingebunden. Anders stellt sich dies bei nicht verfassten Initiatoren dar. Bei nicht verfassten Initiatoren ist ein gemeinsamer Entwicklungsprozess der Satzung mit potenziellen Mitgliedern eher zu beobachten. Es werden Arbeitsgruppen mit besonders engagierten potenziellen Mitgliedern gebildet und es entsteht ein Vertrauensverhältnis durch die gemeinsame Arbeit zwischen Initiatoren und potenziellen Mitgliedern. Das Bilden von Arbeitsgruppen wird durch eine soziale Infrastruktur begünstigt, in welcher sich die Initiatoren mit potenziellen Mitgliedern austauschen können. Es
969 P.eG#2 25.10.2011, Abs. 169–173.
144
3 Modellentwicklung und Prüfung
ist deshalb damit zu rechnen, dass die Satzung bei nicht verfassten Initiatoren eher das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses zwischen Initiatoren und potenziellen Mitgliedern ist.970 70
O.eG#1:
Und dann haben wir Arbeitsgruppen gebildet. Die eine Arbeitsgruppe Technik, die andere Arbeitsgruppe Holzbeschaffung, dies und jenes und die, /eh/ ich war mit noch einem dann die Gruppe Organisationssystem. Und wir haben dann gleich von vornherein eine Genossenschaftssatzung geschrieben, die wir dann dem Genossenschaftsverband in Frankfurt mitgeteilt haben.
Auch im Entstehungsprozess der Governance spielt also die Verfasstheit eine Rolle. Nicht verfasste Initiatoren forcieren bei der Entwicklung von Governance eher ein konsensorientiertes Vorgehen, bei dem sie potenzielle Mitglieder einbinden, wohingegen verfasste Initiatoren eher einen Top-down-Ansatz verfolgen. Mitgliedergewinnung Sobald die Transaktion inhaltlich vorbereitet und die Governance-Struktur ausgestaltet ist, werben die Initiatoren für den Beitritt von Mitgliedern. Auch in diesem Prozess unterscheiden sich verfasste von nicht verfassten Initiatoren. Im Fall von nicht verfassten Initiatoren signalisieren dieselben ihren potenziellen Mitgliedern Handlungssicherheit durch eine Kombination aus ihrer eigenen Verwurzelung im sozio-geografischen Gründungskontext in Verbindung mit der entwickelten Governance. Die Stellung der Initiatoren im Gründungskontext und das Vertrauen, das ihnen dort entgegengebracht wird, tragen mit zur Erzeugung von Handlungssicherheit bei; die folgende Aussage des Initiators der N.eG verdeutlicht dies.971 183 N.eG#1: 184 Müller: 185 N.eG#1:
Und die Mitglieder vertrauen uns. Und das wissen wir zu schätzen. Und das müssen wir auch erhalten, Ja ja, dieses Vertrauen.
Eine fehlende Verwurzelung des Initiators im sozio-geografischen Gründungskontext kann hier auch zu einer Verweigerung der Gefolgschaft von potenziellen Mitgliedern führen, wie dies zum Beispiel der Initiator der B.eG schildert.972 14
B.eG#1:
Ja. /ehm/ Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns mittlerweile seit gut einem Jahr. Was eigentlich die Hauptprobleme sind. /ehm/ Wir gehen davon aus, dass wir /eh/ die alte Dorfstruktur, also die
970 O.eG#1 25.10.2011, Abs. 70. 971 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 183–185. 972 B.eG#1 29.10.2010, Abs. 14.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
145
Menschen die schon immer in diesem Dorf leben, /eh/ vielleicht am Anfang des Prozesses nicht richtig mitgenommen haben. /eh/ Die meisten Aktiven in unseren /eh/ Gremien sind Zugezogene. Im Fall von verfassten Initiatoren beschränkt sich die Mitgliederwerbung eher auf die Darstellung von Governance und Transaktion. Der Gründungskontext und die Verwurzelung der Initiatoren in diesem haben eine weniger große Bedeutung bei der Mitgliedergewinnung. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit steht im Vordergrund, wie der Initiator der P.eG beschreibt.973 339 P.eG#2: 340 341 342 343
Müller: P.eG#2: Müller: P.eG#2:
[. . .] Dann war es so, dass wir uns also auch [. . .] bald um den Internetauftritt gekümmert haben. Ja /ehm/ Was sicherlich auch hilfreich gewesen ist. Hmm Und dann eben ja, Flyer verteilt, /eh/ auch Veranstaltungen, in der Anfangszeit haben wir mehr Infoveranstaltungen auch durchgeführt.
Der als juristische Person verfasste Initiator P.eG#2 führt Werbeveranstaltungen an, mit denen auf die Mitgliedschaft in der Energiegenossenschaft hingewiesen wurde. Seine Stellung im sozio-geografischen Raum wird nicht als Argument zur Mitgliedergewinnung angeführt. Auch bei der Mitgliedergewinnung spielt also die Verfasstheit des Initiators eine Rolle. Initiatoren sind die zentralen Akteure im Prozess der Neukontextualisierung und wurden hier anhand ihrer Eigenschaft der Verfasstheit differenziert, die im Rahmen der Neukontextualisierung Einfluss hat. Die Wahrnehmung der relevanten Gründungsumwelt, der Prozess der Governance-Entwicklung und auch die Überzeugung von Mitgliedern werden durch die Verfasstheit des Initiators beeinflusst. Verfasste Initiatoren bieten ein formales Gerüst erwartungsstabilisierender Mechanismen, die die in Gründung befindliche Energiegenossenschaft nutzen kann. Dadurch ist die Handlungssicherheit bei verfassten Initiatoren erhöht. 3.1.3.2.3.2 Genossenschaftsverband An der Gründung einer jeden Genossenschaft wirkt ein Genossenschaftsverband974 mit, was gesetzlich durch § 11 Abs. 2 Nr. 3 GenG festgeschrieben ist: „[. . .] die Bescheinigung eines Prüfungsverbandes, dass die Genossenschaft zum Beitritt zugelassen ist, sowie eine gutachtliche Äußerung des Prüfungsverbandes, ob nach den persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, insbesondere der
973 P.eG#2 25.10.2011, Abs. 339–343. 974 Ein Genossenschaftsverband wird im Rahmen des GenG auch als Prüfungsverband bezeichnet (vgl. GenG § 54).
146
3 Modellentwicklung und Prüfung
Vermögenslage der Genossenschaft, eine Gefährdung der Belange der Mitglieder oder der Gläubiger der Genossenschaft zu besorgen ist.“ Ein Prüfungsverband ist ein nach den §§ 63 – 63a GenG von der Aufsichtsbehörde zugelassener eingetragener Verein, der bei seinen genossenschaftlich organisierten Mitgliedsunternehmen die gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen durchführt.975 Nach § 54 GenG ist jede Genossenschaft verpflichtet, Mitglied in einem Prüfungsverband zu sein. Aufgrund der Tatsache, dass der Genossenschaftsverband im Gründungsprozess eine zentrale Rolle einnimmt und alle Genossenschaften verpflichtet sind, einem genossenschaftlichen Prüfungsverband anzugehören, spielt dieser als Akteur bei der Neukontextualisierung ebenfalls eine zentrale Rolle, was bereits an der Kommunikationsfrequenz zwischen Initiator und Genossenschaftsverband erkennbar ist. Dies wird anschaulich in der Aussage des Initiators der T.eG:976 110 T.eG#1:
111 112
Müller: T.eG#1:
((dazwischen sprechend)) Ja, die, also wir haben das alles, alles, wir hatten vier, fünf Sitzungen wo wir die Satzung wirklich diskutiert haben. Hmm Zweimal sogar mit Herrn [. . .] vom Rheinisch-WestfälischenGenossenschaftsverband. Er war hier, kam nach [. . .].
Auch das Zur-Verfügungstellen von Mustersatzungen durch den Genossenschaftsverband ist Ausdruck seines Einflusses bei der Entstehung der Governance. Der Großteil der Formulierungen der Mustersatzungen wird von vielen Energiegenossenschaften übernommen, wie der Initiator der S.eG prägnant formuliert:977 382 S.eG#1a:
Aber ansonsten haben wir im Großen und Ganzen die Mustersatzung genommen und uns da angelehnt und aber auch das sehr zugeschnitten auf unseren Zweck.
975 Neben der Entwicklung der Satzung bereitet die Energiegenossenschaft sich im Vorfeld ihrer Gründung auf die Gründungsprüfung des Genossenschaftsverbands vor, indem sie einen Geschäftsplan entwickelt und den beabsichtigten Geschäftsbetrieb vorbereitet. Sowohl die unterzeichnete Satzung als auch der Geschäftsplan werden beim genossenschaftlichen Prüfungsverband eingereicht. Der Genossenschaftsverband erstellt auf dieser Grundlage ein Gründungsgutachten, das dem Registergericht vorgelegt wird. Es schließt sich sodann ein Eintragungsprozess in das Genossenschaftsregister an, bei dem das führende Registergericht die Voraussetzungen für die Eintragung der Energiegenossenschaft prüft. Mit Eintragung der Genossenschaft kann sich diese mit dem Zusatz „eG“ als eingetragene Genossenschaft bezeichnen; zuvor ist es verpflichtend, den Zusatz „i. G.“ mit der Bedeutung „in Gründung“ in der Unternehmensbezeichnung zu tragen und dadurch anzuzeigen, dass die Eintragung noch nicht stattgefunden hat. Die Vorgenossenschaft verfügt noch nicht über die Rechte des Genossenschaftsgesetzes, insbesondere nicht über die Möglichkeit einer Haftungsbegrenzung (vgl. Beuthien et al. 2011, GenG § 13 Rn 2–3). 976 T.eG#1 01.06.2012, Abs. 110–112. 977 S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 382–384.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
383 Müller: 384 S.eG#1a:
147
Ja So, das war unsere Arbeit. Aber natürlich alles im Zusammenhang oder in Zusammenarbeit mit dem Genossenschaftsverband vorher, vorweg.
Es kommt also zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Initiator und Genossenschaftsverband und folglich sind beide als gestaltende Akteure im Prozess der Neukontextualisierung zu berücksichtigen. Aufgrund der Organisation aller Genossenschaften in Genossenschaftsverbänden und der verpflichtenden Beratung im Gründungsprozess verfügen die Genossenschaftsverbände über ein hohes Maß an Fach- und Branchenwissen. So gibt es in den meisten Genossenschaftsverbänden neben funktionaler Teilung der Aufgaben beispielsweise in rechtliche oder steuerliche Beratung auch eine Rollenteilung in Bezug auf Branchen, in denen Genossenschaften vermehrt anzutreffen sind. Eine solche Rollenteilung orientiert sich an der Bedeutung der Genossenschaften für den Genossenschaftsverband. Branchen mit nur wenigen Genossenschaften, die in einem Verband organisiert sind, werden in größeren Gruppen – zum Beispiel der Gruppe Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften978 – zusammengefasst. Zu Beginn der vermehrten Gründung von Energiegenossenschaften der zweiten Generation war für viele Genossenschaftsverbände nicht offensichtlich, welche Bedeutung Energiegenossenschaften flächendeckend in Deutschland im Rahmen der Energiewende erhalten würden,979 und folglich wurden diese zunächst eher als Exoten in den Verbänden behandelt. Es bestand weder fachliches Branchenwissen noch die Bereitschaft, dieses für nur wenige Energiegenossenschaften aufzubauen. Hieraus resultierte zu Beginn der Gründungswelle von Energiegenossenschaften eine nur eingeschränkte Erfahrung mit den beabsichtigten Geschäftsmodellen und verwendeten Technologien. Dies hatte Auswirkungen auf die Beratung der Energiegenossenschaften und auch direkte Effekte für die Ausgestaltung der Genossenschaftssatzungen. Eine der Genossenschaften, die beabsichtigte ein Nahwärmenetz zu einem eher frühen Zeitpunkt in der Genossenschaftspopulation zu errichten, weist beispielsweise sehr konkrete Formulierungen zum Zweck und Gegenstand in ihrer Satzung auf.980 Im Vergleich dazu wurde der Zweck und Gegenstand einer Genossenschaft, die später in der Genossenschaftspopulation gegründet wurde, weniger präzise und damit so gefasst, dass kaum Einschränkungen hinsichtlich der geschäftlichen Betätigung der
978 Als Beispiele sind hier Wohnungsbaugenossenschaften oder Genossenschaftsbanken als große Gruppen innerhalb der existierenden Genossenschaften zu nennen. Beide Gruppen werden in den Verbänden auch von Branchenexperten beraten, wie beispielsweise im Organigramm des Rheinisch-Westfälischen Genossenschaftsverband e. V. erkennbar ist (vgl. Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V. 2012, S. 42–45). 979 Vgl. Müller und Holstenkamp 2015. 980 Aus Gründen der Anonymisierung wird hier auf eine Quellenangabe und ein direktes Zitat aus der Satzung verzichtet.
148
3 Modellentwicklung und Prüfung
Energiegenossenschaft entstehen.981 Zudem versuchten die Genossenschaftsverbände später, durch eine erweiterte Beschreibung des Geschäftszwecks die Mitgliederförderung auf soziale und kulturelle Aspekte auszudehnen und damit den Gestaltungsspielraum des § 1 GenG stärker zu nutzen.982 Ein weiterer Hinweis auf die mangelnde Erfahrung der Genossenschaftsverbände zu Beginn der dynamischen Entwicklung der Energiegenossenschaftspopulation sind die langen Wartezeiten, die auf entsprechend lange Bearbeitungszeiten bei den Genossenschaftsverbänden zurückzuführen sind, wie beispielsweise die P.eG darstellt.983 255
P.eG#2:
256 Müller: 257 P.eG#2:
Es hat dann allerdings mit der Eintragung gedauert. Da, das hat tatsächlich dann einige Monate sich hingezogen, bis wir als Genossenschaft dann endlich eingetragen waren. Ja /ehm/ ((hustet)) Das war dann im Herbst irgendwann, wenn ich das richtig erinnere. [. . .]
Aus der unterschiedlichen Erfahrung der Genossenschaftsverbände und der gleichzeitig intensiven Zusammenarbeit mit diesen resultieren auch die Spannungen zwischen Initiatoren und Genossenschaftsverband, die in manchen Fällen zu beobachten waren. Die Rolle des Genossenschaftsverbands wird sehr unterschiedlich wahrgenommen und wurde beispielsweise von der W.eG als sehr negativ und hinderlich für die Gründung der Energiegenossenschaft bezeichnet.984 91
W.eG#1:
92 93
Müller: W.eG#1:
Dann wurde der Kontakt zum [Genossenschaftsverband R, J. M.] gegründet, denn wir haben sehr schnell erkannt, leider ist in Deutschland dann auch gleich ein Verband mit dran beteiligt Ja und das ist hier der [Genossenschaftsverband R, J. M.],
Andererseits sprachen andere Initiatoren dem Genossenschaftsverband eine positive Wirkung zu, und äußerten, dass dieser im Verlauf der Gründung „beratend“985 und „begleitend“986 zur Seite stand.987 981 Aus Gründen der Anonymisierung wird hier auf eine Quellenanagabe und ein direktes Zitat aus der Satzung verzichtet. 982 Aus Gründen der Anonymisierung wird hier auf eine Quellenanagabe und ein direktes Zitat aus der Satzung verzichtet. 983 P.eG#2 25.10.2011, Abs. 255–257. 984 W.eG#1 14.06.2012, Abs. 91–93. Siehe hierzu auch Z.eG#1 20.12.2011, Abs. 233–242. 985 Vgl. B.eG#1 29.10.2010, Abs. 51–52, L.eG#1 02.10.2011, Abs. 175, und T.eG#1 01.06.2012, Abs. 110–114. 986 Vgl. T.eG#1 01.06.2012, Abs. 44–48. 987 B.eG#1 29.10.2010, Abs. 52.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
52
B.eG#1:
149
Ja, also [. . .] /eh/ für den Rechtlichen Rahmen reicht das was der Genossenschaftsverband anbietet aus. Auf jeden Fall. Was insgesamt /eh/ die Projektentwicklung anbelangt, so ist das sicherlich /eh/ . . . kann man das /eh/ nicht so einfach /eh/ in eine Handlungsempfehlung abgeben weil das sicherlich ortsgebunden ganz unterschiedlich sein kann. /eh/ Ich denke die Erfahrung muss man selbst machen. /eh/ Also das was zur Verfügung steht, also auch dieser Leitfaden für Bioenergiedörfer, der ist schon gut. /eh/ Man kann sicherlich jetzt nach einer gewissen Zeit so /eh/ die, auch die negativen Erfahrungen mal sammeln um /eh/ [dies J. M.] möglichst /eh/ anderen an Hand zu geben, dass sie nicht wieder solche Fehler machen. Oder dass sie von vornherein vielleicht ein bisschen anders vorgehen, ja.
Als Ursache für diese unterschiedliche Einschätzung des Genossenschaftsverbands lassen sich seine Erfahrungen und die Möglichkeit der Initiatoren, von dieser Erfahrung zu profitieren, anführen. Beispielsweise war es für eine früh gegründete Energiegenossenschaft kaum möglich, auf Erfahrungen des Genossenschaftsverbands zurückzugreifen. Hingegen bewertet eine später gegründete Energiegenossenschaft die Zusammenarbeit mit dem Genossenschaftsverband als fruchtbar und charakterisiert diesen als Wissensträger und Vermittler.988 Weiterhin zeigt sich, dass die zunehmende Erfahrung der Genossenschaftsverbände und ihr wachsender Einfluss im Rahmen der Neukontextualisierung auch zu Konflikten um Einfluss mit den Initiatoren geführt haben. So schildert die Z.eG beispielsweise einen sehr peniblen Genossenschaftsverband, der sich in viele Details eingemischt hat und damit den Gründungsprozess erschwerte.989 131
Z.eG#1:
132 133
Müller: Z.eG#1:
134 Müller: 135 Z.eG#1: 136 Müller: 137 Z.eG#1:
Also wir sind jetzt ja noch Bürgerenergiegenossenschaft in Gründung. Ja, das habe ich gelesen. Hmm Wir haben einen Antrag gestellt auf die Aufnahme (um?) Prüfung im Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband. Ja Und /eh/ ja, die sind aus meiner Sicht jetzt auch sehr formal und sehr juristisch unterwegs. Ja Haben uns jetzt auch einen /ehm/ ich sage mal relativ einfachen, pragmatischen Dachnutzungsvertrag mit der Gemeinde und mit dem Mitglied
988 Vgl. B.eG#1 29.10.2010, Abs. 51–52. 989 Z.eG#1 20.12.2011, Abs. 131–141.
150
3 Modellentwicklung und Prüfung
138 Müller: 139 Z.eG#1:
140 Müller: 141 Z.eG#1:
Ja im Prinzip jetzt momentan einmal so als, /eh/ also nicht genehmigt und somit jetzt auch die /eh/ Gründungsprüfung nochmal ((räuspert sich)) verschoben. Ja Also da habe ich jetzt ein bisschen das Gefühl da ist man schon sehr formal, juristisch unterwegs.
Zusammenfassend lassen sich aus der Untersuchung der Gründungsprozesse mithilfe der Grounded-Theory-Methode drei Erkenntnisse über den Genossenschaftsverband ableiten und die Entwicklung seiner Erfahrung präzisieren: Der Genossenschaftsverband spielt erstens eine wesentliche Rolle im Rahmen der Neukontextualisierung, indem er die Genossenschaftssatzung als Mustersatzung zur Verfügung stellt, im Gründungsprozess berät und ein Gründungsgutachten anfertigt, das zur Eintragung der Energiegenossenschaft beim Amtsgericht vorgelegt werden muss. Zweitens zeigt sich, dass die Genossenschaftsverbände von den zahlreichen Neugründungen im Bereich der Energiegenossenschaften überrascht wurden und sich erst nach und nach das notwendige Branchenwissen bezüglich der zum Einsatz kommenden Technologien und Geschäftsmodelle der Energiegenossenschaften aneigneten. Es gab ganz offensichtlich Lerneffekte bei den Genossenschaftsverbänden, nachdem diese Ressourcen zur Bearbeitung der zahlreichen Gründungsgesuche bereitgestellt hatten. Zudem ist drittens davon auszugehen, dass sich mit der Zeit in den Genossenschaftsverbänden Verfahrensweisen und Abläufe etabliert haben, die die Handlungssicherheit in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Technologien und Geschäftsmodelle erhöht haben. 3.1.3.2.4 Gründungskontext 3.1.3.2.4.1 Sozio-Geografie 3.1.3.2.4.1.1 Sozialkapital Die Umwelt, in der der Gründungsprozess abläuft, ist ein wichtiger Faktor der die Governance-Entstehung der Energiegenossenschaft beeinflusst. Zur sprachlichen Rahmung der unterschiedlichen gründungsbezogenen Einflussfaktoren des Kontexts wird die Bezeichnung Gründungskontext für den übergeordneten axialen Kode gewählt. Eine weitere Differenzierung dieses axialen Kodes erfolgt anhand der Unterscheidung von sozio-geografischen Faktoren und der Population der Energiegenossenschaften. Die regional relevante Gründungsumwelt, die hier als sozio-geografischer Gründungskontext bezeichnet wird, ist weiter untergliedert in das Sozialkapital und die Regionalstruktur, wobei nun zunächst das Sozialkapital thematisiert wird.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
151
Das in der Literatur existierende Konzept des Sozialkapitals990 wurde zur Bezeichnung des axialen Kodes verwendet, da die empirisch beobachteten Phänomene dem in der Literatur etablierten Konzept entsprechen.991 Die abduktiv entwickelten Kodes der „Eingebundenheit in soziale Einheiten“, „gemeinsame Normen“ und „soziales Vertrauen“ sind folglich unter den axialen Kode Sozialkapital gruppiert. Eingebundenheit in soziale Einheiten Als wesentlicher Handlungskontext werden in den Interviews unterschiedliche gemeinsame soziale Einheiten genannt, wie die Zugehörigkeit zu Interessengemeinschaften, Freundschaftsnetzwerke, gemeinsame Tätigkeiten, kirchliche Einrichtungen, Familien, Vereinsmitgliedschaften und soziale Orte. Durch diese bestehenden sozialen Einheiten wird die Kommunikation während der Neukontextualisierung vereinfacht, weil Begegnung und Austausch eingeübt sind. Wie im folgenden Zitat dargestellt, trägt die gemeinsame Einbindung dazu bei, dass „Dreh- und Angelpunkte“ zur Verfügung stehen, über die eine reibungslose Kommunikation sichergestellt wird.992 113
L.eG#1:
114 115
Müller: L.eG#1:
/ehm/ So funktioniert das ja. Und /ehm/ da war natürlich auch Drehund Angelpunkt im [Restaurant R, J. M.] für die Informationen. Hmm Das ist für mich ein ganz, ganz wichtiger, ja ein zentraler Punkt. Das eben in so einem kleinen Dorf natürlich alle ((abbrechend)) möglichen, alles mögliche an Kunde sehr schnell verbreitet wird
Die Abwesenheit von sozialen Einheiten als Austauschplattformen führt dazu, dass die Kommunikation deutlich erschwert ist, was eine geringere Handlungssicherheit zur Folge hat. Ferner ermöglichen soziale Netzwerke die Kontrolle der Energiegenossenschaft, da der Einfluss auf die Energiegenossenschaft in sozialen Netzwerken gebündelt werden kann, was bereits während der Genossenschaftsgründung zu erkennen ist.993 Infolgedessen ist anzunehmen, dass die Handlungssicherheit in solchen Gründungskontexten erhöht ist, in denen die Eingebundenheit in soziale Einheiten eher wahrscheinlich ist.
990 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2 oder Coleman 1988, Putnam 1993, Uzzi 1996, van Deth 2003 und Freitag und Traunmüller 2008. 991 Zudem zeigt sich in der Literatur, dass Sozialkapital insbesondere ein lokales oder regionales Phänomen ist (vgl. Putnam 1993 und Huggins und Johnston 2010, S. 463–464) und aus diesem Grund die vorgeschlagene Einordnung als Element der Sozio-Geografie passend erscheint. 992 L.eG#1 02.10.2011, Abs. 113–115. 993 Beispielsweise die Koordination der potenziellen Mitglieder im Heimatverein (vgl. L.eG#2 27.10.2011, Abs. 55) oder die Versammlungsmöglichkeit in einer Kirche (vgl. P.eG#1 14.10.2011, Abs. 157–159).
152
3 Modellentwicklung und Prüfung
Gemeinsame Normen Wenn die Initiatoren und potenziellen Mitglieder sich gegenseitig hinsichtlich ihrer Ansichten vertraut sind und es beispielweise gemeinsame Wertvorstellungen gibt, so erleichtert dies die Bewertung der Energiegenossenschaft vor dem Beitritt und macht ex post eine einfache Verständigung wahrscheinlich. In der Folge entsteht größere Handlungssicherheit. In dem Interview mit der N.eG werden das „gemeinsame Verständnis“ und die Konsensorientierung in ihrer Bedeutung für den Gründungserfolg hervorgehoben.994 93
N.eG#1:
94 95
Müller: N.eG#1:
96 97
Müller: N.eG#1:
98 99
Müller: N.eG#1:
Also in der Interessengemeinschaft war ja /eh/ /eh/ das Ziel klar. Also praktisch die /eh/ Energieversorgung in dem Ort, ich will das mal so sagen, umzustellen und /ehm/ es, wir haben dann abgestimmt. Aber nicht so das man sagen kann wer hat da Gegenstimmen, Enthaltungen, sondern wir haben dann, wir haben immer gefragt warum oder wo sind jetzt noch Gegenstimmen oder wo ist das Gegenargument? Ja Und haben dann eben den Konsens gesucht. Also ganz demokratisch. Wir haben es nicht so gemacht wie in einer Fraktion, wo es dann Fraktionszwang gibt. Ja Sondern wir haben dann gesagt dein Einwurf ist berechtigt, den berücksichtigen wir. Manchmal haben wir auch gesagt das ist ja dann, wir hatten auch einen Spinner dabei, der hat dann immer Käse erzählt, von dem haben wir uns dann an irgendeiner Stelle getrennt, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Ja Aber im Grunde genommen war das immer dann Konsens. Also ist der Konsens herbeigeführt worden. Es ist kein Bedenkenpunkt sage ich mal, einfach negiert worden. Das haben wir nie gemacht.
Das im Zitat betonte Ideal einer Konsensorientierung spricht dafür, dass ein gemeinsames Normengerüst existiert, ohne das eine Konsensorientierung eher unrealistisch wäre. So ist auch die Charakterisierung eines Mitglieds als „Spinner“ verständlich, das aufgrund eines abweichenden Normengerüsts nicht zu den übrigen Mitgliedern passte. Eine angestrebte Homogenität hinsichtlich relevanter informeller Institutionen senkt gleichsam die Abstimmungskosten in der Energiegenossenschaft und erhöht die Sicherheit für jedes einzelne Mitglied, keine Minderheit in der Energiegenossenschaft zu verkörpern.
994 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 93–99.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
153
Eine besonders wesentliche soziale Norm wird immer wieder in den Interviews hervorgehoben, ohne die die Gründung von Energiegenossenschaften nicht denkbar wäre: die freiwillige und ehrenamtliche Bereitschaft der Initiatoren und potenziellen Mitglieder, im Gründungsprozess mitzuhelfen.995 Aus der Angewiesenheit auf eine starke Ausprägung der sozialen Norm der Hilfsbereitschaft resultiert gleichzeitig eine Sorge für das Fortbestehen der Genossenschaft, die dann in ihrer Existenz bedroht ist, wenn sich nicht ausreichend Mitglieder mit einer solchen Einstellung finden lassen.996 75
P.eG#1:
76 77 78 79
Müller: P.eG#1: Müller: P.eG#1:
80 81
Müller: P.eG#1:
82 83
Müller: P.eG#1:
Und das muss dann über die Jahre einfach immer jemand finden, zumal ja bei uns der ehrenamtliche Gedanke dahinter stand, also nicht so sehr wir wollen jetzt Geld damit /eh/ Hmm verdienen, sondern wir machen das ehrenamtlich Hmm und da muss man ja immer sich im Klaren sein, dass ja, Ehrenamt, (es ist?) auch nicht immer so einfach Hmm Leute zu finden, die das auf Dauer machen und ja, auf Dauer ihre Energie reinstecken für ((lachend)) die gute Sache Hmm sozusagen. Das hat also vielen ein bisschen Bauchschmerzen bereitet.
Die möglicherweise fehlende Hilfsbereitschaft der Mitglieder wird in dem Zitat oben als Hemmnis für eine erfolgreiche Gründung genannt. Im Umkehrschluss kann davon ausgegangen werden, dass Regionen, in denen eine ausgeprägte Kultur der Hilfsbereitschaft besteht, grundsätzlich eine höhere Handlungssicherheit aufweisen. Im Vorgenannten wird ersichtlich, dass sowohl ein geteiltes Normengerüst als auch die starke Ausprägung besonders relevanter Normen wie der gegenseitigen Hilfsbereitschaft dafür sorgen, dass die Handlungssicherheit für potenzielle Mitglieder steigt. Soziales Vertrauen Neben der sozialen Eingebundenheit und gemeinsamen Normen kommt auch dem sozialen Vertrauen eine Bedeutung für die Erzeugung von Handlungssicherheit zu. Durch ein erhöhtes Niveau an sozialem Vertrauen werden weitreichende Entscheidungen, wie zum Beispiel der Beschluss zur Durchführung einer komplexen Transaktion, insgesamt erleichtert, da die beteiligten Akteure eher bereit sind, fehlende Sicherheit zu akzeptieren.997 Zudem erleichtert ein gesteigertes soziales Vertrauen
995 Vgl. P.eG#2 25.10.2011, Abs. 285, oder O.eG#1 25.10.2011, Abs. 242–252. 996 P.eG#1 14.10.2011, Abs. 75–83. 997 Vgl. L.eG#1 02.10.2011, Abs. 373–381.
154
3 Modellentwicklung und Prüfung
den Gründungsprozess, da aufwändige Abstimmungsprozesse zwischen Initiatoren und potenziellen Mitgliedern eher entbehrlich sind.998 Wie das Interview mit L.eG#1 verdeutlichte, ist es daher von großer Wichtigkeit, vorhandenes Vertrauen im sozio-geografischen Gründungskontext zu bewahren.999 845 L.eG#1:
846 Müller: 847 L.eG#1:
Aber wichtig, wichtig ist einfach, dass man versucht eben hier das Vertrauen /eh/ zu halten und /eh/ ja, das geschieht im Großen und Ganzen ganz gut. Ja Und /eh/ nur, das wissen sie auch, Vertrauen aufbauen ist leicht, aber Vertrauen verlieren geht relativ flott, ne.
Soziales Vertrauen wird im Gründungsprozess also intensiv genutzt und muss kultiviert werden, damit es dauerhaft für die soziale Interaktion zur Verfügung steht. Gelingt es, das soziale Vertrauen der potenziellen Mitglieder zu „halten“, so ist eine gesteigerte Handlungssicherheit wahrscheinlich, die etwaige Ersatzmechanismen zur Erzeugung von Handlungssicherheit überflüssig macht. Hier kann konstatiert werden, dass das Sozialkapital durch seine Dimensionen der gemeinsamen Zugehörigkeit zu sozialen Einheiten, gemeinsamen stark ausgeprägten Werten wie der Hilfsbereitschaft sowie soziales Vertrauen dazu beitragen, dass Handlungssicherheit entsteht. Die vorgenannten Sozialkapitaldimensionen sind daher wesentliche Einflussfaktoren im Rahmen der Neukontextualisierung, die die Entstehung der genossenschaftlichen Governance beeinflussen.
3.1.3.2.4.1.2 Regionalstruktur Die Regionalstruktur bezeichnet die strukturräumlichen Gegebenheiten der Gründungsumwelt, die sich durch eine Vielzahl von Aspekten charakterisieren lässt, von denen im Weiteren aber nur drei Konzepte vorgestellt werden, die im Rahmen der Neukontextualisierung bedeutsam sind. Diese Faktoren der Regionalstruktur haben einen besonderen Einfluss auf die durch die gestaltenden Akteure und potenziellen Mitglieder wahrgenommene Handlungssicherheit. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Regionen, die Stabilität der Bevölkerung und die Einstellung der Bevölkerung zu Umweltthemen.
998 Ein Initiator schildert beispielsweise die Notwendigkeit, Arbeitsgruppen zu bilden, um den Abstimmungsaufwand vertretbar zu halten. Solche Arbeitsgruppen mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen sind jedoch nur möglich, wenn gleichzeitig das Vertrauen besteht, dass ein solches Vorgehen zu den gewünschten Ergebnissen führt (vgl. L.eG#1 02.10.2011, Abs. 581–585). 999 L.eG#1 02.10.2011, Abs. 845–847.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
155
Stadt und Land Die untersuchten Energiegenossenschaften wurden an unterschiedlichen Orten gegründet.1000 Vor allem der strukturelle Unterschied zwischen Stadt und Land hatte eine hohe Bedeutung für den Prozess der Neukontextualisierung. Dabei spielte das sozio-geografische Konstrukt „Dorf“ für Energiegenossenschaften, die im ländlichen Raum gegründet wurden, eine besondere Rolle. So beginnt die Darstellung der Gründungsgeschichte einer Energiegenossenschaft im ländlichen Raum meist mit einem Bezug zum „Dorf“, von dem die Gründung ausgeht oder für das die Gründung erfolgt.1001 Das „Dorf“ steht als Metapher für unterschiedliche Aspekte des Gründungskontexts, insbesondere aber für die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Dorfbewohner, die aufgrund der geringen Siedlungsdichte eher transparent sind.1002 Ein potenzielles Mitglied kann sich in einem Dorf deutlich schneller einen Überblick über die anderen potenziellen Mitglieder verschaffen, als dies aufgrund der dichten Besiedlung in einer Stadt der Fall ist. Das „Dorf“ wird als Heimat dargestellt, das durch eine gemeinsame Historie der Bewohner zahlreiche Referenzen für erfolgreiche Kooperation vermittelt1003 und somit ein bedeutender Faktor für das Gelingen der Gründung ist, wie ein Initiator der Energiegenossenschaft L.eG schildert.1004 311
L.eG#2:
312 313 314 315
Müller: L.eG#2: Müller: L.eG#2:
316 317 318 319
Müller: L.eG#2: Müller: L.eG#2:
Und das, wir haben, wie gesagt und dadurch, dass wir uns natürlich regelmäßig getroffen haben, ich sage ja, in der Anfangsphase saßen wir fast jeden Abend zusammen, Ja unter der Woche. Ja Und /ehm/ dann nachher auf jeden Fall dann zu mindestens einmal die Woche. Und /eh/ da wurde eben immer alles direkt geklärt, alles besprochen und es hatte alles kurze Wege, ne. ((gleichzeitig sprechend)) Kurze Wege, ja. Ja. Hmm Weil wir ja eben auch alle im Dorf sind. Ja /ehm/ Das, von daher, das lief reibungslos.
1000 Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.3. 1001 Vgl. O.eG#1 25.10.2011, Abs. 34, und L.eG#1 02.10.2011, Abs. 32–42 und Abs. 52–56. 1002 Ein Initiator schildert, dass eine gegenseitige Bekanntheit mit potenziellen Mitgliedern beispielsweise über gemeinsame Feste oder zufällige Begegnungen im Alltag gegeben sei. Allerdings ist diese oberflächliche Bekanntheit nicht zu verwechseln mit ausgeprägten Beziehungen, die erst im Gründungsprozess durch die gemeinsame Arbeit entstanden (vgl. O.eG#2 25.10.2011, Abs. 348–357). 1003 Zwei Initiatoren beschreiben, wie die Beobachtung anderer Energiegenossenschaften die vorherrschende Meinung im Dorf „das können wir auch“ prägte, die wiederum auf die gemeinsame Historie erfolgreicher Kooperation der Dorfbewohner zurückzuführen war (vgl. N.eG#1 09.11.2010, Abs. 47–49, und G.eG#1 23.11.2010, Abs. 67–76). 1004 L.eG#1 02.10.2011, Abs. 311–319. Siehe hierzu auch L.eG#2 27.10.2011, Abs. 311–321.
156
3 Modellentwicklung und Prüfung
In dem Zitat zeigt sich, welche Bedeutung die Struktur „Dorf“ für den „reibungslosen“ Ablauf der Gründung hatte. Wobei in dem Wort „reibungslos“ auf den umgekehrten Fall, nämlich „Reibungsverluste“, rekurriert wird, die für städtische Regionen angenommen werden. Insbesondere die eingeübten Kommunikationsprozesse („regelmäßig getroffen“) und die geringen Hürden für Kommunikation („direkt geklärt“ und „kurze Wege“) sind Vorteile der dörflichen Struktur. Daraus ist abzuleiten, dass die dörfliche Struktur einen Vorteil gegenüber städtischen Gebieten hinsichtlich des Angebots an Handlungssicherheit hat. Die Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten erscheint demnach bedeutungsvoll für den Prozess der Neukontextualisierung. Stabilität der Bevölkerung Es ist für die wahrgenommene Handlungssicherheit von großer Wichtigkeit, wie stabil eine Region hinsichtlich ihrer Einwohner ist. Häufige Wechsel der Bevölkerung bedeuten auch für die Energiegenossenschaft einen wahrscheinlich stetigen Mitgliederaustausch. Für ein potenzielles Mitglied besteht somit die Frage, mit wem es zu einem späteren Zeitpunkt Mitglied der Energiegenossenschaft sein wird. Hingegen kann das potenzielle Mitglied in Regionen, in denen eine größere Stabilität der Bewohnerschaft vorherrscht, mit größerer Gewissheit voraussehen, wer seine Transaktionspartner in Zukunft sein werden.1005 Zudem bedrohen größere Mitgliederverluste die Existenz der Energiegenossenschaft, da dies zu einem empfindlichen Kapitalverlust führen könnte, was ebenfalls schädlich für die wahrgenommene Handlungssicherheit ist.1006 Auch erleichtern stabile Bevölkerungsstrukturen den Mitgliederwerbeprozess, da ein Wegzug dazu führen würde, dass bereits überzeugte potenzielle Mitglieder von einer Mitgliedschaft absehen.1007 Auch dies brächte eine Abnahme der Handlungsicherheit mit sich. Ferner sorgt die Bevölkerungsstabilität für eine erhöhte Homogenität der Bevölkerung mit zahlreichen positiven Folgen. Ein Initiator berichtet beispielsweise über die Probleme der Ansprache einer künstlich gewachsenen Regionalstruktur, welche durch die uneinheitliche Bewohnerschaft in Neubaugebieten entsteht.1008 190 O.eG#1:
Und da hat man auch kein Ansprechpartner. Da war auch keiner so direkt zu sehen, weil das war /eh/ ((stotternd)) ein Neubaugebiet in den, in der zweiten 60er Jahre-Hälfte und da war, sitzt so ein Konglomerat von vielen verschiedenen Leuten, die nicht aufeinander eingestimmt sind. Ja, ok.
191
Müller:
1005 1006 1007 1008
Vgl. N.eG#1 09.11.2010, Abs. 143–151. Vgl. O.eG#2 25.10.2011, Abs. 169–179. Vgl. L.eG#1 02.10.2011, Abs. 277–297. O.eG#1 25.10.2011, Abs. 190–192.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
192
O.eG#1:
157
Und dadurch, /eh/ das funktionierte nicht. Sonst so, die wo die Verwandtschaftskreise funktionierten, das sind die die am besten gezogen haben.
In dem Zitat wird die „Verschiedenheit“ der Bevölkerung thematisiert, die durch künstlich erzeugte Strukturen, die nicht „gewachsen“ sind, zu einem Problem für die Mitgliederwerbung werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet das für stabile Bevölkerungsstrukturen, die nur geringen Veränderungsprozessen unterliegen, eine größere Homogenität, die eine Konvergenz in den Einstellungen und Verhaltensweisen nahelegt. Dadurch ist die Kommunikation und Mitgliederansprache vereinfacht,1009 was ebenso die Handlungssicherheit eines solchen sozio-geografischen Raums erhöht. Einstellung zu Umweltthemen Eine weitere die Handlungssicherheit beeinflussende Eigenschaft der Regionalstruktur ist die Umweltorientierung der Bevölkerung. Eine starke Umweltorientierung in der Region erhöht die Legitimität der Energiegenossenschaft. Die hier betrachteten Arten der Transaktion versprechen einen Beitrag zum Umweltschutz, was besonders in solchen Regionen willkommen ist, in denen Umweltthemen eine hohe Bedeutung haben. Auch dies erhöht die wahrgenommene Handlungssicherheit durch die Initiatoren während der Neukontextualisierung. Die Bedeutung der Umweltorientierung in der Region verdeutlicht das Interview mit dem Initiator der Z.eG:1010 367 Z.eG#1: 368 Müller: 369 Z.eG#1: 370 371 372 373
Müller: Z.eG#1: Müller: Z.eG#1:
374 Müller: 375 Z.eG#1:
Also das Wichtigste, ich sage mal deutlich Rückenwind gab natürlich Fukushima. Ja /eh/ Das hat denke ich den Prozess, über regionale Erzeugung von erneuerbaren Energien Ja intensiver nachzudenken, sehr stark gefördert. Ja Also durch das ist ja so ein richtiger Ruck /eh/ durch die Region nochmal gegangen und sagen ok, wir (müssen?) jetzt unsere Energieerzeugung /eh/ dezentral in die Hand nehmen. Ja Und ich denke das war ein, so eine Initialzündung, die das mit unterstützt hat.
1009 Ein Initiator schildert, dass die Ansprache zunächst im „alten Dorf“ erfolgte, weil die zumeist älteren Bewohner dieses Gemeindeabschnitts sich über lange Zeit kennen und man dort schnell eine signifikante Anzahl potenzieller Mitglieder vom Beitritt zur Energiegenossenschaft überzeugen konnte (vgl. L.eG#1 02.10.2011, Abs. 600–613). 1010 Z.eG#1 20.12.2011, Abs. 367–375.
158
3 Modellentwicklung und Prüfung
Bei einer starken Sensibilität der regionalen Bevölkerung für Umweltthemen ist es für die Initiatoren leichter möglich, die Ziele der Energiegenossenschaft zu kommunizieren und den im Zitat genannten „Rückenwind“ zur Überzeugung potenzieller Mitglieder zu nutzen. Mit dem „Rückenwind“ ist der immaterielle Nutzen einer Mitgliedschaft gemeint, der für potenzielle Mitglieder mit einer Umweltorientierung stärker ins Gewicht fallen wird als für solche, die indifferent gegenüber Umweltthemen sind. Der immaterielle Zusatznutzen einer Mitgliedschaft, indem durch diese zum lokalen Umweltschutz beigetragen werden kann, erleichtert also die Gewinnung von Mitgliedern. Zudem können potenzielle Mitglieder über ihre Umweltorientierung leichter angesprochen werden, da sie dem Vorhaben durch den gemeinsamen Bezug tendenziell aufgeschlossener gegenüberstehen als solche Bewohner, die sich für Umweltbelange nicht interessieren. Dieser leichtere Zugang zu potenziellen Mitgliedern in Regionen mit hoher Umweltorientierung trägt zur Steigerung der Handlungssicherheit bei. Zusammenfassend betrachtet, wirkt die Regionalstruktur auf die im Prozess der Neukontextualisierung seitens der Akteure wahrgenommene Handlungssicherheit. Konkret wurden hier die Faktoren der Unterscheidung zwischen Stadt und Land, der Stabilität der Bevölkerung und der Umweltorientierung der Bevölkerung als einflussreich festgestellt. 3.1.3.2.4.2 Genossenschaftspopulation Die Population der Energiegenossenschaften1011 ist ebenfalls ein Element des Gründungskontexts, das Handlungssicherheit erzeugt. Die gestaltenden Akteure und potenziellen Mitglieder beobachten die Population der Energiegenossenschaften und verorten den eigenen Gründungsprozess damit im Kontext der Entwicklung der relevanten Genossenschaftspopulation. Durch diese Bezugnahme werden zwei Dinge erreicht: Zum einen wird der „Beweis der Machbarkeit“ erbracht – das Vorhaben ist in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft erfolgreich organisierbar – und zum anderen wird das gegenseitige Lernen durch das Beobachten und Vergleichen mit anderen Energiegenossenschaften gefördert. Beides erzeugt Handlungssicherheit. Die geschilderte Verortung des eigenen Gründungsprozesses und eine Bezugnahme auf die Population der Energiegenossenschaften werden beispielsweise durch die starke Bindung an eine Vorbild-Energiegenossenschaft erreicht. Neben Informationen, die über das Vorbild gesammelt werden, kommt es häufig zu
1011 Die Population der Energiegenossenschaften wird in dieser Arbeit auch als Genossenschaftspopulation oder Energiegenossenschaftspopulation bezeichnet. Die Population der Energiegenossenschaften meint sämtliche existierende Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften (vgl. Abschnitt 3.1.2.1). Der axiale Kode wurde hier in Anlehnung an die PopulationsökologieForschung gewählt. Hannan und Freeman (1977, S. 936) definieren den Populationsbegriff folgendermaßen: „Given a systems definition, a population of organizations consists of all the organizations within a particular boundary that have a common form. That is, the population is the form as it exists or is realized within a specified system.“
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
159
Besuchen oder sogar Patenschaften und engen Beziehungen zwischen den Gremienmitgliedern der neuen und der bereits gegründeten Energiegenossenschaft. Der Kontakt zwischen den Energiegenossenschaften kommt dabei entweder durch räumliche Nähe, auf Empfehlung aus dem Netzwerk der Initiatoren oder durch Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Netzwerk zustande. Die Population der Energiegenossenschaften und besonders einzelne Vorbilder, die bei potenziellen Mitgliedern bekannt sind, erhöhen die Handlungssicherheit bei diesen, wie in der Schilderung des Initiators der Energiegenossenschaft L.eG deutlich wird.1012 46
L.eG#1:
Und /ehm/ dann war eben die Überlegung warum können wir das mal, das wäre doch schön wenn wir, man sowas für unser Dorf andenken würde und nicht uns auf Gas konzentrieren. Ja, da gab es natürlich geteilte Meinungen, auch im Vorstand. Aber ich bekam den Auftrag doch mal zu eruieren, was gibt es eigentlich in dem Bereich, /eh/ gibt es sowas schon in Nordrhein-Westfalen, oder wo gibt es das in Deutschland?
Die im Zitat angesprochene Recherche nach organisationalen Beispielen soll dafür sorgen, die „geteilten Meinungen“ zu vereinheitlichen, was dafür spricht, dass Referenzen zur Erzeugung von Handlungssicherheit dienen. Je früher die Energiegenossenschaft gegründet wird, desto kleiner ist jedoch die existierende Population, was die eigene Verortung innerhalb dieser erschwert und deshalb die Erzeugung von Handlungssicherheit durch Bezugnahme auf Referenzen behindert.1013 532 L.eG#2:
Ja, also ich sage mal so, in der Konstellation, wie wir das hier gemacht haben, sind wir einzigartig eigentlich.
Der Initiator skizziert im vorangegangenen Zitat eine Extremsituation, da er die Gründung seiner Energiegenossenschaft als „einzigartig“ charakterisiert. Darin klingt zugleich die Hürde an, die es im Gründungsprozess zu überwinden galt, da es aus seiner Sicht nicht möglich war, etwas „nachzumachen“ was andere vorgemacht hatten. Es ist anzunehmen, dass diese Tatsache ein starkes Handlungssicherheitsdefizit zur Folge hatte. Teilweise beginnt der Prozess der Neukontextualisierung durch Besuch einer Referenzorganisation, die damit als Vorbild für den gesamten Prozess dient. Durch den Besuch wird die Verankerung der Population der Energiegenossenschaften als relevanter Gründungskontext in der Wahrnehmung der Initiatoren und potenziellen Mitglieder verstärkt.1014
1012 L.eG#1 02.10.2011, Abs. 46. 1013 L.eG#2 27.10.2011, Abs. 532. 1014 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 47–49.
160
3 Modellentwicklung und Prüfung
47
N.eG#1:
48 49
Müller: N.eG#1:
Und dann sind wir mal mit so einem Kleinbus voll, mit 10, 12 Leuten, mal nach [Nahwärmenetzgenossenschaft A, J. M.] gefahren und haben uns ganz einfach mal angeguckt wie das bei denen funktioniert. Ja Und da kamen wir alle begeistert zurück und haben gesagt, das können wir auch. Und da ging im Prinzip der Prozess los.
Die Population der Energiegenossenschaften als Element des Gründungskontexts ist umso offensichtlicher, je näher eine benachbarte Energiegenossenschaft ist. Die regionale Population hat somit neben der deutschlandweiten Population der Energiegenossenschaften ebenfalls einen Einfluss auf die wahrgenommene Handlungssicherheit. In diesem Zusammenhang ist auch die Äußerung des Initiators der G.eG zu sehen.1015 70
G.eG#1:
71 72
Müller: G.eG#1:
Da haben sich, da haben ein paar Leute hier beim Bier zusammen gestanden und da wurde in [der unmittelbaren Nachbarschaft, J. M.] Ja /ehm/ das Nahwärmenetz eingeweiht und das ging durch die Presse. Und da haben hier ein paar Leute gesagt oh, das können wir auch. Das wollen wir auch haben. Na und dann haben sich zwei oder drei Leute gefunden, die das so ein bisschen mehr verfolgt haben.
Insbesondere für die Initiatoren der Energiegenossenschaft wird das „Lernen“ von anderen Energiegenossenschaften und das „Imitieren“ erfolgreicher Vorgehensweisen zur Handlungsmaxime, was ebenfalls die Bedeutung der Population für den Prozess der Neukontextualisierung unterstreicht. Obwohl die Initiatoren sich dazu meist auf eine „Vorbildorganisation“ fixieren, gibt es durchaus den Fall, dass auch auf mehrere Energiegenossenschaften Bezug genommen wird, wie in dem Interview mit dem Initiator der N.eG geschildert wird.1016 37
N.eG#1:
38 39
Müller: N.eG#1:
Das ist, das ist ja, wenn sie so eine Genossenschaft gründen wollen und überhaupt so einen Ort oder Dörfer oder Gemeinden mit erneuerbaren Energien versorgen wollen, können sie im Prinzip nur von anderen lernen. Das mal abgucken würde man in der Schule sagen. Ja Weil die relativ offen sind. Das sehen sie auch am Internet, ja. Da gibt es also kaum Geheimnisse über Satzung, über Verträge, über sonstiges. Das ist also nicht wie bei den Energiekonzernen.
1015 G.eG#1 23.11.2010, Abs. 70–72. 1016 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 37–39.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
161
Der offene und freundschaftliche Austausch von Wissen zwischen den Organisationen der Population und die Suche nach gelungenen Praxisbeispielen werden an der Schilderung eines Initiators der S.eG deutlich.1017 572 S.eG#1a:
573 S.eG#1b: 574 Müller: 575 S.eG#1a:
576 Müller: 577 S.eG#1a: 578 S.eG#1b: 579 S.eG#1a:
[. . .] Das ist eine wunderschöne Sache der Genossenschaften. Wenn ich heute irgendwo hergehe und eine GmbH gründe oder sowas, dann wird mir keine andere GmbH in dem Umfeld irgendwie sagen hier, das haben wir toll gemacht /eh/ das kannst du so nachmachen. Weil man ist ja Konkurrent oder so. Hmm, (ja?) Hmm Wenn ich im Genossenschaftswesen gerade hier in den erneuerbaren Energien irgendwo hingehe, habe ich nie erlebt, dass irgendeine Genossenschaft gesagt hat nein, das ist unser Geschäftsfeld, das erfährst du nicht. Hmm Ganz im Gegenteil. Also dieser Kooperationsgedanke, der in dem schönen englischen Wort cooperation, für Genossenschaft, drinsteckt Hmm der wird tatsächlich gelebt.
Die hohe Bedeutung des gegenseitigen Lernens in der Population der Energiegenossenschaften wird auch daran sichtbar, dass viele Energiegenossenschaften nach einer erfolgreichen Gründung sich selbst als Vorbild für andere Energiegenossenschaften sehen.1018 538 L.eG#2:
ja, weil viele fragen uns immer, wir haben ja mittlerweile schon weit über 500 Führungen dort oben gemacht,
Insgesamt, so lässt sich festhalten, fungieren bereits existierende Energiegenossenschaften, die den potenziellen Mitgliedern der Energiegenossenschaft im Gründungsprozess präsentiert werden, als organisationale Referenz, die Handlungssicherheit erzeugt. Weiterhin zeigt sich die Bedeutung der Population der Energiegenossenschaften durch die Vorbildfunktion, die die Genossenschaften in einer Population gegenseitig haben, was das organisationsübergreifende Lernen befördert. Eine große Energiegenossenschaftspopulation und nah benachbarte Energiegenossenschaften tragen dazu bei, dass die Handlungssicherheit erhöht wird, da andere Energiegenossenschaften eher mit potenziellen Kooperationsvorteilen denn mit Konkurrenzdruck verbunden werden.
1017 S.eG#1a und S.eG#1b 07.10.2011, Abs. 572–579. 1018 L.eG#2 27.10.2011, Abs. 538.
162
3 Modellentwicklung und Prüfung
3.1.3.2.5 Satzung 3.1.3.2.5.1 Formale Mitgliederbindung als Governance-Attribut Die Initiatoren der Energiegenossenschaft beobachten die oben beschriebenen Faktoren und interpretieren die Differenz zwischen notwendiger und vorhandener Handlungssicherheit. Hier wird davon ausgegangen, dass die Initiatoren nicht dazu in der Lage sind, den Bedarf an Handlungssicherheit durch die Art der Transaktion oder das Angebot an Handlungssicherheit durch die gestaltenden Akteure und den Gründungskontext zu beeinflussen.1019 Ihnen steht lediglich die Ausgestaltung der Governance der Energiegenossenschaft zur Verfügung, um die fehlende Handlungssicherheit zu kompensieren.1020 Wie bereits erläutert, umfasst die entstehende Governance der Energiegenossenschaft sowohl formale als auch informelle Komponenten.1021 In dieser Arbeit erfolgt eine Konzentration auf die formalisierte Governance der Genossenschaft, die zu einem überwiegenden Teil in Form der Genossenschaftssatzung untersucht werden kann.1022 Mehrere Gründe sprechen für den Fokus auf die genossenschaftliche Satzung und die damit einhergehende Konzentration der Untersuchung:1023 Zuvorderst sei angeführt, dass die Untersuchung der Gründungsprozesse zeigte, dass die Satzung der Genossenschaft das zentrale Element der genossenschaftlichen Governance ist, das die Initiatoren in Zusammenarbeit mit dem Genossenschaftsverband und wenigen engagierten Mitgliedern ausgestalten. Durch die Mustersatzungen, die der Genossenschaftsverband zur Verfügung stellt, ist zwar ein Grundgerüst an verfügbaren Governance-Mechanismen vorgegeben, jedoch wird die Ausprägung der einzelnen Governance-Mechanismen im Gründungsprozess verhandelt.1024 Die Satzung ist daher gewissermaßen als Schlüsseldokument zu verstehen, anhand dessen die Entstehung der genossenschaftlichen Governance nachvollzogen werden kann. Im Verhältnis zu informellen Aspekten der genossenschaftlichen Governance ist sie zudem leichter zu erfassen, da die informelle genossenschaftliche Governance nicht kodifiziert ist.1025 Für eine Konzentration auf die Genossenschaftssatzung spricht darüber hinaus, dass mit der Literatur zur Vertragsforschung zahlreiche Referenzen
1019 Vgl. Abschnitt 3.1.3.1. 1020 Vgl. Abschnitt 3.1.3.1. 1021 Vgl. Abschnitte 2.1.2.4 und 2.1.4.2.2.3. 1022 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3. 1023 Siehe zur Begründung des Fokus auf die Genossenschaftssatzung auch die Abschnitte 2.1.4.2.2.3, 3.2.2 und 3.3.2.1.1. 1024 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3. Die Varianz in der Genossenschaftssatzung entsteht demnach insbesondere durch die Modifikation von Governance-Mechanismen aus einer Mustersatzung und eher nicht durch die Schaffung neuer Governance-Mechanismen, die nicht in den Mustersatzungen enthalten sind. 1025 Auch aufgrund der beschränkten Ressourcen bei der Erstellung dieser Arbeit soll eine nähere Analyse der informellen Governance zukünftigen Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
163
bestehen, die die Zweckmäßigkeit der Vertragsanalyse belegen.1026 Zugleich ist hier zu konstatieren, dass Genossenschaftssatzungen bislang kein Gegenstand der vorgenannten Literatur waren, weshalb eine Beschränkung auf diese als gerechtfertigt, da hinreichend innovativ, erscheint. Infolge dieser Fokussierung der Untersuchung auf die formalisierte Governance der Genossenschaft wurde der axiale Kode zur Bezeichnung der genossenschaftlichen Governance mit „Satzung“ gewählt. Um zu verstehen, wie die Initiatoren Handlungssicherheit durch die Satzung erzeugen können, wurden die Satzungen der im Rahmen des theoretischen Samplings betrachteten Energiegenossenschaften analysiert. Parallel zur Abduktion von offenen und axialen Kodes aus den Satzungen wurde das GenG in die Betrachtung mit einbezogen, da erst in der Zusammenschau von Satzung und GenG die Spielräume der Satzungsausgestaltung erfasst werden können. In den Satzungen konnte eine Vielzahl von Governance-Mechanismen als offene Kodes identifiziert werden, aus denen in einem zweiten Schritt axiale Kodes abgeleitet wurden, die als Governance-Attribute der Governance-Struktur Genossenschaft zu verstehen sind. Es wurden insgesamt sieben Governance-Attribute identifiziert.1027 Eine Betrachtung aller identifizierten Governance-Attribute würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen und hätte zudem den Nachteil, dass ein notwendiger Tiefgang kaum zu erreichen wäre. Die Grounded-Theory-Methode ermöglicht zudem durch das theoretische Sampling und den Kodierprozess eine Selektion besonders relevant erscheinender Aspekte.1028 Der Fokus wird in dieser Arbeit daher auf ein Governance-Attribut – die Mitgliederbindung – gelegt. Das Governance-Attribut Mitgliederbindung bezeichnet hier aufgrund der ausschließlichen Analyse der Genossenschaftssatzung die formale Bindung der Mitglieder an die Energiegenossenschaft. Wenn in der folgenden Arbeit folglich von der Mitgliederbindung die Rede sein wird, so ist damit also ausschließlich die formale Mitgliederbindung der Genossenschaft gemeint, die in der Satzung der Genossenschaft festgelegt ist. Die Mitgliederbindung ist im Rahmen der Neukontextualisierung ein besonders relevantes Governance-Attribut, da es die Beziehung zwischen Mitglied und Genossenschaft beschreibt. Die Mitgliederbindung meint den Grad, zu dem sich die potenziellen Mitglieder durch ihren Beitritt zur Energiegenossenschaft auch an diese binden. Je stärker das Ausmaß der Mitgliederbindung ist, desto komplizierter oder unvorteilhafter ist es für ein Mitglied, wieder aus der Energiegenossenschaft auszuscheiden. Hieraus folgt, dass eine besonders ausgeprägte Mitgliederbindung den neuen Handlungskontext Genossenschaft auch besonders verbindlich für das jeweilige Mitglied macht, denn ein Herauslösen aus diesem neuen Handlungskontext ist 1026 Vgl. Abschnitt 3.2.2. 1027 Hierzu zählen Mitgliederbindung, Kontextbezug, Homogenität der Mitglieder, Offenheit für Mitglieder, Formalisierungsgrad, Partizipation und Überwachung. 1028 Vgl. Abschnitt 3.1.1.3.
164
3 Modellentwicklung und Prüfung
bei stärkerer Mitgliederbindung nur eingeschränkt möglich. Da die Mitgliederbindung für alle Genossenschaftsmitglieder gleichermaßen gilt, wird durch sie auch angezeigt, in welchem Ausmaß die potenziellen Mitglieder bereit sind, eine Bindung untereinander einzugehen. Auch mit Blick auf diesen Aspekt sprechen mehrere Gründe, die nun geschildert werden sollen, für den Fokus auf die Mitgliederbindung als Governance-Attribut. Ein wichtiger Beweggrund für die Untersuchung der Mitgliederbindung ist ihre Bedeutung für den Prozess der Neukontextualisierung. Die Mitgliederbindung steht sinnbildlich dafür, zu welchem Grad die Mitglieder ihren alten Handlungskontext verlassen und sich durch die Bindung an die Energiegenossenschaft in einen neuen Handlungskontext begeben. Keines der anderen identifizierten GovernanceAttribute dokumentiert diesen Übergang in einer solchen Klarheit. Zwar können auch andere Governance-Attribute zur Unterscheidbarkeit zwischen bestehendem Handlungskontext und neuem Handlungskontext beitragen, aber erst die Mitgliederbindung bestimmt die Langfristigkeit und Verbindlichkeit der Wirkung sämtlicher Governance-Mechanismen der Genossenschaft. Für den Fokus auf die Mitgliederdbindung spricht auch, dass die Governance-Mechanismen, die das Ausmaß der Mitgliederbindung bestimmen, verglichen mit den übrigen Governance-Mechanismen eine hohe Varianz aufweisen. Die erhöhte Varianz deutet darauf hin, dass die Mitgliederbindung eine besondere Rolle dabei spielt, die fehlende Handlungssicherheit auszugleichen, da sie offensichtlich eher zur entsprechenden Konfiguration der Genossenschaftssatzung genutzt wird als andere Governance-Attribute. Darüber hinaus löst die Mitgliederbindung – je nach Ausgestaltung – mehrere zentrale Probleme der Energiegenossenschaft1029 und beeinflusst dadurch besonders offensichtlich die Handlungssicherheit für potenzielle Mitglieder: Durch eine stärkere Mitgliederbindung kann einerseits der Sorge potenzieller Mitglieder bezüglich der dauerhaften Existenz der Energiegenossenschaft begegnet werden, einer Sorge, die sich aus zentrifugalen Kräften1030 zwischen den Mitgliedern ergibt. Andererseits führt die Heterogenität der Mitglieder insbesondere hinsichtlich ihrer persönlichen Zeithorizonte und Mitgliedschaftsplanung1031 zu Unsicherheit, möglicherweise zur Unzeit einen Mitgliederverlust zu erleiden. Durch eine entsprechende Justierung der Mitgliederbindung kann diesem Problem begegnet werden. Ferner kann durch eine erhöhte Mitgliederbindung auch weiteren externen Partnern die Dauerhaftigkeit der Energiegenossenschaft in der Gründungsphase signalisiert werden, was ebenfalls zu einer Steigerung der Handlungssicherheit führt. Die Mitgliederbindung wird in der Gegenstandstheorie somit stellvertretend für die Governance der Energiegenossenschaft untersucht.
1029 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.3. 1030 Vgl. Draheim 1952, S. 42, und Bonus 1986, S. 311–312. 1031 Vgl. Vitaliano 1983, S. 1082, und Cook 1995, S. 1156–1157.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
165
Die Mitgliederbindung in einer Energiegenossenschaft ist ein latentes Konstrukt, das sich aus der Formulierung von Satzungsregelungen (Governance-Mechanismen) ergibt. Diese können in Bindungs-Kontroll-Mechanismen und Bindungs-AnreizMechanismen unterschieden werden, wobei Kontrollmechanismen sich dadurch auszeichnen, dass sie den Mitgliedern genaue Vorgaben zum Ausmaß ihrer Bindung machen. Hierzu zählen Regeln zum Ausscheiden (der Möglichkeit des Mitglieds, die Mitgliedschaft in der Energiegenossenschaft zu beenden) sowie Regeln zur Auseinandersetzung (Bestimmungen zur Auszahlung eines ausgeschiedenen Mitglieds). Die Bindungs-Anreiz-Mechanismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Mitglied einen Anreiz zum Verbleib in der Energiegenossenschaft bieten, wozu die Regeln zur Thesaurierung von Gewinnen1032 zu zählen sind. Neben einer Beschreibung der maßgeblichen Klauseln wird im Folgenden auch auf die Ausgestaltungsvarianten in den untersuchten Satzungen eingegangen und erörtert, inwiefern die Formulierungen zur Stärkung der Mitgliederbindung beitragen. 3.1.3.2.5.2 Governance-Mechanismen der formalen Mitgliederbindung 3.1.3.2.5.2.1 Ausscheiden Es wurden drei Governance-Mechanismen aus den untersuchten Satzungen abduziert, die das Ausscheiden eines Mitglieds aus der Energiegenossenschaft regeln und die teils anhand von mehreren Satzungs-Klauseln spezifiziert sind. Hierzu zählen die Governance-Mechanismen Kündigungsfrist, Übertragung des Geschäftsguthabens und Ausscheiden durch Tod.1033 Kündigungsfrist Die ordentliche und außerordentliche Kündigung der Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist durch das GenG geregelt und kann in den gesetzlich definierten Spielräumen frei ausgestaltet werden. Eine besonders wichtige Satzungsklausel ist in diesem Zusammenhang die Kündigungsfrist, welche die ordentliche Kündigung spezifiziert.1034 Die Kündigungsfrist beschreibt den Zeitraum zwischen der Willenserklärung 1032 Vgl. Fußnote 949. 1033 Formal kann ein Mitglied der Genossenschaft diese ausschließlich durch die Erfüllung folgender Tatbestände verlassen: durch die „ordentliche und außerordentliche Kündigung (§§ 65, 66, 67, 67a), durch Übertragung des Geschäftsguthabens (§ 76), durch den eigenen Tod (§ 77) oder die Auflösung oder das Erlöschen juristischer Personen und Handelsgesellschaften (§ 77a) und durch Ausschlagung gemäß § 90 UmwG“ (Pöhlmann et al. 2012, GenG § 65 Rn 1). 1034 Neben der Festsetzung einer Kündigungsfrist war eine Sonderkündigungsmöglichkeit bei einem Wohnsitzwechsel in einer Satzung festzustellen. Eine solche Regelung ist nicht explizit in der Satzung notwendig, da auch durch § 67 GenG dem Mitglied bei Wohnsitzwechsel ein außerordentliches Kündigungsrecht ermöglicht wird, sofern die Genossenschaft als Voraussetzung zur Mitgliedschaft einen bestimmten Wohnsitz vorsieht. In § 67a wird zudem jedem Genossenschaftsmitglied „bei bestimmten
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3 Modellentwicklung und Prüfung
eines Mitglieds, aus der Genossenschaft auszuscheiden, und seinem tatsächlichen Ausscheiden. Ein solcher Zeitraum war in allen untersuchten Satzungen festgelegt und variierte zwischen einem und drei Jahren. Im GenG wird die Kündigungsfrist in § 65 geregelt, der eine minimale Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende des Geschäftsjahres und eine maximale Kündigungsfrist von fünf Jahren zum Geschäftsjahresende vorsieht.1035 Die Kündigung kann immer nur zum Schluss eines Geschäftsjahres erfolgen.1036 Sofern ein Mitglied mit mehreren Geschäftsanteilen an der Genossenschaft beteiligt ist, kann es nur diejenigen Geschäftsanteile kündigen, ohne aus der Genossenschaft auszuscheiden, die es nicht als Pflichtanteile halten muss.1037 In einer weiteren Klausel, die die Kündigungsfrist betrifft, kann zudem eine Mindestdauer der Mitgliedschaft definiert werden, durch welche die Kündigungsfrist für neu eintretende Mitglieder gesondert bestimmt ist. Die Mindestdauer der Mitgliedschaft beschreibt den Zeitraum, den eine Person mindestens Mitglied der Genossenschaft gewesen sein muss, bevor sie ihre Mitgliedschaft kündigen kann. Mehrere der untersuchten Energiegenossenschaften verfügen über eine in der Satzung definierte Mindestdauer der Mitgliedschaft, nach der die Kündigung erstmals möglich ist. So hat eine Energiegenossenschaft beispielsweise eine einjährige Kündigungsfrist, wobei die Kündigung erstmals zum Schluss des vierten Geschäftsjahres erfolgen kann, das auf den Beitritt folgt.1038 Zur Regelung der Mindestdauer der Mitgliedschaft ist ebenfalls § 65 GenG mit seinen Vorschriften maßgeblich.1039 Durch eine maximale Ausgestaltung der Mindestdauer der Mitgliedschaft darf die Kündigungsfrist für ein neues Mitglied lediglich bis zur maximal zulässigen Kündigungsfrist von fünf Jahren erhöht werden. Durch die Kündigungsfrist und Mindestdauer der Mitgliedschaft kann die Energiegenossenschaft ihre Mitgliederbindung sehr explizit festlegen, da ein Mindestzeitraum
Satzungsänderungen ein außerordentliches Kündigungsrecht“ (Pöhlmann et al. 2012, GenG § 67a Rn 1) eingeräumt, um den Schutz von Minderheiten bei wesentlichen Änderungen des genossenschaftlichen Unternehmens zu gewährleisten (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 67a Rn 1). Ferner besteht für jedes Mitglied gemäß § 65 Abs. 3 GenG die Möglichkeit, seine Mitgliedschaft „vorzeitig [zu, J. M.] beenden, wenn ihm nach seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen ein Verbleib in der Genossenschaft bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann“ (§ 65 Abs. 3 GenG) und wenn die Kündigungsfrist in der Satzung mit mehr als zwei Jahren festgelegt ist. 1035 Vgl. § 65 Abs. 2 Satz 1–2 GenG. Handelt es sich bei allen Mitgliedern der Genossenschaft um Unternehmer, so kann „zum Zweck der Sicherung der Finanzierung des Anlagevermögens“ (§ 65 Abs. 2 Satz 3 GenG) auch eine Kündigungsfrist von zehn Jahren vorgesehen werden. 1036 Vgl. § 65 Abs. 2 Satz 1 GenG. 1037 Vgl. § 67b GenG. 1038 Aus Gründen der Anonymisierung wird hier auf eine Quellenangabe verzichtet. 1039 Nach § 65 Abs. 5 GenG sind all jene Vereinbarungen und Satzungsinhalte unwirksam, die gegen die Regelungsinhalte des § 65 GenG verstoßen. Hierzu zählt auch eine Überschreitung der gesetzlich vorgegebenen maximalen Kündigungsfrist von fünf Jahren, etwa durch eine besonders lange Mindestdauer der Mitgliedschaft (vgl. Beuthien et al. 2011, GenG § 65 Rn 4).
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
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der Mitgliedschaft hiermit definiert wird. Eine theoretisch maximale Mitgliederbindung würde die Energiegenossenschaft erreichen, indem die Kündigung der Mitgliedschaft ausgeschlossen wird, was jedoch gesetzlich ebenso unzulässig ist wie der vollständige Verzicht auf eine Kündigungsfrist. Die Mindestdauer der Mitgliedschaft ist insbesondere bei der Neugründung von Energiegenossenschaften interessant: Durch eine solche Regelung kann gegenüber Darlehensgebern nachgewiesen werden, wie lange die Gründungsmitglieder gebunden sind und somit das anfänglich eingezahlte Eigenkapital in der Energiegenossenschaft erhalten bleibt. Durch die Konfiguration der Kündigungsfrist kann die Beständigkeit der Energiegenossenschaft in einem gewissen Spielraum explizit festgelegt werden. Übertragung des Geschäftsguthabens Der Governance-Mechanismus, der hier als Übertragung des Geschäftsguthabens bezeichnet wird, bestimmt die Weitergabe des Geschäftsguthabens eines Mitglieds an eine andere Person. Die Übertragung von Geschäftsguthaben ist in § 76 GenG geregelt und bietet der Energiegenossenschaft einen breiten Gestaltungsspielraum. In der Satzung kann die Übertragung des Geschäftsguthabens einerseits ausgeschlossen werden oder von Bedingungen abhängig gemacht werden, sofern die Bindung des Mitglieds nicht durch weitere Satzungsbestimmungen erhöht ist, die sich aus den §§ 8a (Mindestkapital), 65 Abs. 2 Satz 3 (Kündigungsfrist > 5 Jahre bei Unternehmergenossenschaften) oder 73 Abs. 4 (Bedingungen für die Fälligkeit des Auseinandersetzungsguthabens) GenG ergeben.1040 Die möglichen Bedingungen, an die eine Übertragung geknüpft werden kann, sind im GenG nicht definiert, aber Beuthien et al. sprechen beispielsweise von einer „Zustimmung eines [Organs der Genossenschaft, J. M.]“1041, das auch in sechs1042 von zehn untersuchten Satzungen durch Vorstandszustimmung festgelegt wurde. Andererseits kann die genossenschaftliche Satzung die Übertragung von Geschäftsguthaben bedingungslos erlauben.1043 Allerdings ist auch in diesem Fall der Kreis der Erwerber beschränkt, da es sich bei der Übertragung des Geschäftsguthabens nicht um den Verkauf von Geschäftsanteilen an ein Nichtmitglied handelt, sondern für den Erwerber eine Mitgliedschaft in der Energiegenossenschaft bereits vorausgesetzt wird.1044 Die Übertragung von Geschäftsguthaben ist in den untersuchten Satzungen in zwei Ausprägungsformen anzutreffen: Entweder ist eine Übertragung des Geschäftsguthabens nur mit der Zustimmung des Vorstands möglich oder die Übertragung des Geschäftsguthabens ist jederzeit auch ohne Zustimmung des Vorstands zulässig.
1040 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 76 Rn 1. 1041 Beuthien et al. 2011, GenG § 76 Rn 5. 1042 Vgl. NC.eG o. J., § 6 Abs. 2, NY.eG o. J., § 6 Abs. 3, NI.eG o. J., § 6 Abs. 2, NÜ.eG o. J., § 6 Abs. 3, NÄ.eG o. J., § 6 Abs. 3, und EE.eG o. J., § 6 Abs. 3. 1043 Vgl. § 76 Abs. 1 GenG. 1044 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 76 Rn 2.
168
3 Modellentwicklung und Prüfung
Die Übertragung des Geschäftsguthabens stellt grundsätzlich eine einfache Möglichkeit für ein Mitglied dar, aus der Energiegenossenschaft auszuscheiden. Selbst geringe Einschränkungen dieses Rechts durch die hier thematisierten Zustimmungserfordernisse erhöhen in der Folge die persönliche Bindung des Mitglieds an die Energiegenossenschaft. Dies steigert zugleich die Gewissheit für alle übrigen Mitglieder, dass die Mitgliederstruktur in ihrer bekannten Form stabil ist. Ausscheiden durch Tod Der Tod einer natürlichen Person, die Mitglied in der Energiegenossenschaft ist, führt zum Übergang der Mitgliedschaft auf die Erben. Die Festlegung des Handlungsspielraums im Fall der Vererbung wird hier ebenfalls als Governance-Mechanismus identifiziert und als Ausscheiden durch Tod bezeichnet. In den untersuchten Satzungen fanden sich unterschiedliche Regelungen zum Todesfall eines Mitglieds und der Verfahrensweise bei der Vererbung. Bei insgesamt vier Energiegenossenschaften wurde in der Satzung festgelegt, dass der Erbe zum Schluss des Geschäftsjahres ausscheidet, in dem der Erbfall eingetreten ist.1045 Bei sechs Energiegenossenschaften sah die Regelung zum Ausscheiden durch Tod vor, dass die Erben des Mitglieds die Mitgliedschaft weiterführen müssen, sofern sie die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen und bei einer Erbengemeinschaft ein Mitglied bestimmt wird, dass dauerhaft die Mitgliedschaft weiterführt.1046 Der Erbfall ist in § 77 GenG geregelt und sieht üblicherweise vor, dass die Erben zum Ende des Geschäftsjahres automatisch ausscheiden, in dem der Erbfall eingetreten ist.1047 Allerdings kann die Satzung festlegen, dass der Erbe unter bestimmten Voraussetzungen die Mitgliedschaft fortsetzen muss.1048 Scheidet der Erbe zwangsläufig aus der Energiegenossenschaft aus, so ist die Mitgliederbindung dadurch erhöht, weil die Mitgliedschaft an die Person des Mitglieds gebunden ist und die Erben keine Möglichkeit haben, nach dem Tod des Erblassers beispielsweise von stillen Reserven zu profitieren. Ferner haben die übrigen Mitglieder der Energiegenossenschaft die Gewissheit mittels ihrer Gremien über den Eintritt von Mitgliedern frei entscheiden zu können. Die Genossenschaftsmitglieder müssen nicht fürchten, mit möglicherweise unbekannten Erben und ihren Interessen konfrontiert zu werden. 3.1.3.2.5.2.2 Auseinandersetzung Neben der Konfiguration des Ausscheidens aus der Energiegenossenschaft können weitere Regelungen genutzt werden, um den Verbleib eines Mitglieds in der
1045 Vgl. EU.eG o. J., § 6, NC.eG o. J., § 7, NY.eG o. J., § 7, und NÜ.eG o. J., § 7. 1046 Vgl. NI.eG o. J., § 7, NÄ.eG o. J., § 7, EE.eG o. J., § 7, EA.eG o. J., § 6, EQ.eG o. J., § 6, und ED.eG o. J., § 6. 1047 Vgl. § 77 Abs. 1 GenG. 1048 Vgl. § 77 Abs. 2 GenG, Beuthien et al. 2011, GenG § 77 Rn 7, und Pöhlmann et al. 2012, GenG § 77 Rn 7–9.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
169
Energiegenossenschaft wahrscheinlicher zu machen. Dies gelingt beispielsweise mithilfe von Governance-Mechanismen, die die Modalitäten der Auseinandersetzung mit dem Mitglied festlegen. Die Satzungsklauseln zur Auseinandersetzung beschreiben die Verfahrensweise, wie nach Beendigung der Mitgliedschaft die Auszahlung des Geschäftsguthabens des Mitglieds erfolgt. Hierzu werden im Folgenden die Fälligkeit und das Mindestkapital thematisiert. Fälligkeit Ein Governance-Mechanismus, der in der Satzung bestimmt werden kann und die Auseinandersetzung mit dem Mitglied regelt, ist die Fälligkeit. Durch diese wird bestimmt, wann dem Mitglied sein Geschäftsguthaben in Form des Auseinandersetzungsbetrags auszuzahlen ist.1049 In den im Rahmen des theoretischen Samplings untersuchten Genossenschaftssatzungen wurde die Fälligkeit mit jeweils sechs Monaten und in einem Fall mit zwölf Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Genossenschaft verpflichtet, dem ausgeschiedenen Mitglied den Auseinandersetzungsbetrag auszuzahlen.1050 Eine spätere Fälligkeit verzögert somit die vollständige Loslösung eines Mitglieds von der Energiegenossenschaft. Der Gestaltungsspielraum dieses Governance-Mechanismus ist in § 73 GenG geregelt, der zudem die Bemessung des Auseinandersetzungsbetrags festlegt. Das GenG sieht standardmäßig eine Fälligkeit nach 6 Monaten vor.1051 Jedoch können seit der Novelle des GenG 2006 auch längere Fristen für die Auszahlung festgelegt und weitere Bedingungen gestellt werden,1052 von der die Auszahlung des Auseinandersetzungsbetrags abhängig ist.1053 Die Höhe des Auseinandersetzungsbetrags bemisst sich am Geschäftsguthaben eines Mitglieds, „das sich aus seinen Einzahlungen zuzüglich Gewinnzuschreibungen abzüglich Verlustabschreibungen ermittelt“1054. Sofern die Satzung keine Rücklage vorsieht, die explizit zur Auszahlung bei Auseinandersetzung vorgesehen ist,1055 hat das Mitglied keinerlei Anspruch auf die bestehenden Rücklagen, geschweige denn auf stille Reserven.1056 Der weitreichende Gestaltungsspielraum bezüglich der Fälligkeit in der Satzung kann dazu genutzt werden, die Kündigung der Mitgliedschaft unattraktiver zu machen.
1049 Vgl. § 73 Abs. 2 GenG. 1050 Sofern keine Mindestkapitalregelung nach § 8a GenG oder eine Bedingung nach § 73 Abs. 4 GenG die Fälligkeit des Auseinandersetzungsguthabens bestimmen. 1051 Vgl. § 73 Abs. 2 Satz 2 GenG. 1052 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 73 Rn 11. 1053 Vgl. § 73 Abs. 4 GenG und Henssler und Strohn 2014, GenG § 73 Rn 5. 1054 Pöhlmann et al. 2012, GenG § 73 Rn 6. Siehe auch § 73 Abs. 2 GenG. 1055 Die Ergebnisrücklage, die die Genossenschaft nach § 73 Abs. 3 GenG bilden kann, um Mitglieder bei Auseinandersetzung abzufinden, kann an weitere Bedingungen geknüpft werden, wie beispielsweise die „Mindestdauer der Mitgliedschaft oder die Erreichung eines bestimmten Mindestumsatzes“ (Pöhlmann et al. 2012, GenG § 73 Rn 7). 1056 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 73 Rn 1.
170
3 Modellentwicklung und Prüfung
In der Konsequenz erhöht sich die Mitgliederbindung. Ein bedrohlicher Kapitalabfluss ist durch eine erhöhte Fälligkeit unwahrscheinlicher und der unverminderte Haftungsfonds der Energiegenossenschaft steht länger zur Verfügung. Mindestkapital Ein weiterer Governance-Mechanismus, der die Auseinandersetzung mit dem ausscheidenden Mitglied regelt, ist das Mindestkapital. Das Mindestkapital bezeichnet einen Kapitalsockel der Genossenschaft, der nicht durch die Auszahlung von Auseinandersetzungsguthaben unterschritten werden darf. Sofern dieser durch die Auszahlung an ein Mitglied unterschritten würde, ist die Fälligkeit des Auszahlungsanspruchs des Mitglieds so lange ausgesetzt, bis die Auszahlung das Mindestkapital nicht mehr unterschreiten würde.1057 Insgesamt verfügten acht der untersuchten Genossenschaftssatzungen über eine Mindestkapitalregel, die sich auf 50 % bis 95 % des Geschäftsguthabens beziehungsweise der Geschäftsanteile bezieht. Der unterschiedliche Bezug der Mindestkapitalregel auf das Geschäftsguthaben oder die Geschäftsanteile ist mitentscheidend für ihre Wirkung: Ein prozentualer Anteil am Geschäftsguthaben bedeutet, dass das Geschäftsguthaben als Berechnungsgröße für das Mindestkapital herangezogen wird und dieses Geschäftsguthaben durch Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens nicht unterschritten werden darf. Das Geschäftsguthaben der Mitglieder variiert durch Zuschreibungen von Gewinnen und Verlusten sowie durch Einzahlungen der Mitglieder. Ein prozentualer Anteil der gezeichneten Geschäftsanteile bedeutet hingegen, dass diese als Berechnungsgröße für das Mindestkapital herangezogen wird.1058 Die gezeichneten Geschäftsanteile variieren nicht durch Verlust- oder Gewinnzuweisungen, sondern ausschließlich durch die Zeichnung oder Kündigung von Geschäftsanteilen. Tendenziell wird die Berechenbarkeit des Mindestkapitals dadurch erleichtert. Hinzu kommt, dass nicht eingezahlte Geschäftsanteile bei der Berechnung mit berücksichtigt werden, was dazu führt, dass der Mindestkapitalwert bei einer Bemessung an den Geschäftsanteilen stabiler ist als bei einer Bemessung am Geschäftsguthaben. Das Mindestkapital ist in § 8a GenG geregelt. Die Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Mindestkapitals unterliegen nur wenigen Beschränkungen durch das GenG, weshalb zahlreiche Berechnungsvarianten mittels unterschiedlicher Bezugsgrößen denkbar sind. Die Freiheitsgrade in der Ausgestaltung ermöglichen es der Energiegenossenschaft, ihr Eigenkapital teilweise oder sogar vollständig vor einem Entzug durch die Mitglieder zu schützen.1059
1057 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 8a Rn 3. 1058 Das Mindestkapital muss vor der Eintragung der Genossenschaft in das Genossenschaftsregister voll eingezahlt sein, damit das Registergericht die Eintragung vornimmt (vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 8a Rn 2). 1059 Die Novelle des GenG 2006 brachte diese Regelungsmöglichkeit mit sich, um die Eigenkapitalbasis der Genossenschaften zu stärken und damit ihre Kreditfähigkeit zu erhöhen (vgl. Beuthien et al. 2011, GenG § 8a Rn 1).
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
171
Eine Mindestkapitalklausel führt ebenfalls zu einer Veränderung der Fälligkeit des Auseinandersetzungsguthabens und erhöht dadurch die Bindung zwischen Energiegenossenschaft und Mitglied. Die Stärke der Bindung wird durch die Wahl der Bezugsgröße, durch die das Mindestkapital berechnet wird, sowie die festgelegte Höhe des Mindestkapitals beeinflusst. Für die Mitglieder wird durch das Mindestkapital eine Hürde geschaffen, der Energiegenossenschaft Kapital zu entziehen und damit in bestimmten Situationen die Mitgliedschaftskündigung sanktioniert. Die Mitglieder sind durch eine Mindestkapitalklausel dazu gezwungen, ihre Einlage dem Haftungsfonds tendenziell länger zur Verfügung zu stellen. 3.1.3.2.5.2.3 Thesaurierung Zusätzlich zu den Regelungen zum Ausscheiden aus der Energiegenossenschaft und der Auseinandersetzung mit dem ausgeschiedenen Mitglied werden in der Satzung der Energiegenossenschaft auch Regelungen zur Verwendung von entstehenden Gewinnen aus dem Geschäftsbetrieb getroffen. Durch Governance-Mechanismen, die die Rücklagenbildung regeln, können Gewinne einbehalten und der freien Verfügung des Mitglieds dauerhaft entzogen werden. Thesaurierte Gewinne stehen dem Mitglied dann nicht mehr in Form von Dividenden oder zur Erhöhung des Auseinandersetzungsbetrags zur Verfügung. Zu den Klauseln, die die Mitgliederbindung auf diese Weise erhöhen, gehören die gesetzliche Rücklage, die maximale gesetzliche Rücklage und die andere Rücklage. Gesetzliche Rücklage Die gesetzliche Rücklage ist ein in § 7 Nr. 2 GenG definierter Kapitalansparzwang der Genossenschaft, der dazu dient, ein Vermögen in der Genossenschaft zu bilden, das ausschließlich zur Deckung von Bilanzverlusten genutzt wird.1060 Die Genossenschaft ist in der Ausgestaltung der Rücklagenbildung frei, sie muss aber einen Mindestbetrag nennen, der der Rücklage zuzuführen ist, sofern sie nicht nach § 20 GenG eine Gewinnrückzahlung grundsätzlich ausschließt.1061 Bei den untersuchten Energiegenossenschaften finden sich in den Satzungen Regelungen, die einen Betrag zwischen 1 % und 10 % des Jahresüberschusses der gesetzlichen Rücklage zuführen.
1060 Beuthien et al. (2011, GenG § 7 Rn 16) schreiben über die gesetzliche Rücklage, dass es sich hierbei nicht um die Rücklage realer Vermögenswerte handelt, sondern um eine „gem § 266 III HGB auf der Passivseite der Bilanz unter AIII Nr 1 als Rechnungsposten vorgeschriebene besondere Ergebnisrücklage. Auf diese Weise soll ein entsprechender Teil des auf der Aktivseite der Bilanz ausgewiesenen Vermögens zum Schutz der GenGl [(Genossenschaftsgläubiger), J. M.] gebunden werden.“ 1061 Vgl. Beuthien et al. 2011, GenG § 7 Rn 17. Der Ausschluss der Gewinnrückzahlung kann ebenfalls erreicht werden, indem festgelegt wird, dass der gesamte Gewinn der Genossenschaft in die gesetzliche Rücklage einzustellen ist.
172
3 Modellentwicklung und Prüfung
Da die gesetzliche Rücklage streng an den Zweck der Deckung von Bilanzverlusten gebunden ist, wird durch ihre Bildung dem Genossenschaftsmitglied Kapital – vor allem beim Ausscheiden aus der Energiegenossenschaft – entzogen. Das in der Rücklage gebundene Kapital wird nicht zum Auseinandersetzungsguthaben hinzugerechnet. Es kommt durch die gesetzliche Rücklage also zu einer Thesaurierung von Gewinnen, was ein Bindungs-Anreiz ist und die Mitgliedschaftskündigung aus Sicht des Mitglieds unattraktiver macht. Das Mitglied kann ausschließlich durch seine Mitgliedschaft von der gesetzlichen Rücklage profitieren, da die Kapitalstruktur durch das erhöhte Eigenkapital gestärkt ist und eine Insolvenz beispielsweise weniger wahrscheinlich wird.1062 Infolge dessen erhöht eine entsprechend ausgestaltete gesetzliche Rücklage die Mitgliederbindung. Maximale gesetzliche Rücklage Die Bindungswirkung der gesetzlichen Rücklage kann durch einen weiteren Governance-Mechanismus begrenzt werden: die maximale gesetzliche Rücklage. Die Klausel zur maximalen gesetzlichen Rücklage schreibt der Genossenschaft vor, dass der Ansparzwang durch die gesetzliche Rücklage nur so lange besteht, bis ein festgelegter Wert erreicht wurde. Die Anspargrenze wird durch die Kombination aus einem maximalen Wert und einer Bezugsgröße definiert. Bei den untersuchten Energiegenossenschaften finden sich in den Satzungen Regelungen, die die maximale gesetzliche Rücklage durch zwei Bezugsgrößen festlegen: Zum einen durch einen maximalen Anteil an der Bilanzsumme, der zwischen 1 % und 100 % der Bilanzsumme variierte. Zum anderen durch einen Anteil am Anlagevermögen, der in einem Fall mit 1 % des Anlagevermögens bestimmt war. Je höher die maximale gesetzliche Rücklage ist, desto höher ist auch die Mitgliederbindung. Die Ursache liegt in der stärkeren Bindungswirkung der gesetzlichen Rücklage: Fehlt eine Begrenzung bei der Ansparung der gesetzlichen Rücklage, so kommt es zu einer ungebremsten Thesaurierung von Gewinnen. Wie oben bereits geschildert, erhöht dies den Anreiz für ein Mitglied, Teil der Energiegenossenschaft zu bleiben, denn nur als Mitglied profitiert es von der angesparten Rücklage. Andere Rücklagen Die Energiegenossenschaft kann neben der gesetzlichen Rücklage die Ansparung weiterer Rücklagen in der Satzung vorsehen. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zur gesetzlichen Rücklage um eine Rücklage ohne konkreten Verwendungszweck, mit dem allgemein die Innenfinanzierung der Gesellschaft gestärkt wird und den Gremien der Genossenschaft finanzielle Spielräume eröffnet werden. Vier von zehn untersuchten Energiegenossenschaften hatten die Bildung einer anderen Rücklage
1062 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 13.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
173
in der Satzung verankert,1063 die eine Zuführung zwischen 10 % und 20 % des Jahresüberschusses vorsah. Die Genossenschaften sind grundsätzlich frei in der satzungsmäßigen Ausgestaltung von anderen Rücklagen, wobei § 272 HGB die Zuordnung im Eigenkapital der Genossenschaft regelt.1064 Die andere Rücklage der Genossenschaft gehört nicht zum Auseinandersetzungsguthaben und steht für die Auszahlung eines ausscheidenden Mitglieds nicht als Kapital zur Verfügung.1065 Die Festlegung der Bildung einer anderen Rücklage in der Satzung führt dazu, dass das Kapital des Mitglieds in der Energiegenossenschaft gebunden bleibt, mit den gleichen Folgen, wie sie für die gesetzliche Rücklage oben beschrieben sind. Das Kapital, das in der anderen Rücklage gebunden ist, nützt dem Mitglied nur während der Dauer seiner Mitgliedschaft. Es stellt also einen Anreiz dar, dauerhaft Mitglied der Energiegenossenschaft zu bleiben, und erhöht somit die Bindung zwischen Mitglied und Energiegenossenschaft. 3.1.3.2.5.3 Governance-Kosten der Mitgliederbindung Die von den identifizierten Governance-Mechanismen ausgehende Wirkung wird hier zusammengefasst als Grad der Mitgliederbindung bezeichnet. Die minimale und maximale Ausprägung des Grads der Mitgliederbindung ergibt sich aus den gesetzlich zulässigen Gestaltungsspielräumen der einzelnen Klauseln, die in Tabelle 8 zusammengefasst sind. Jedoch sind die Erhöhung der Mitgliederbindung und damit eine Steigerung der Handlungssicherheit keineswegs kostenlos zu erreichen. Dies zeigt sich schon daran, dass die Initiatoren die Mitgliederbindung nicht durchweg maximal ausgestalten, obwohl sie durch ein solches Vorgehen die Handlungssicherheit für die potenziellen Mitglieder maximieren könnten. Die Mitgliederbindung erhöht zwar die
1063 Vgl. NY.eG o. J., § 39, NC.eG o. J., § 39, NÜ.eG o. J., § 39, und NÄ.eG o. J., § 38. 1064 Vgl. Pöhlmann et al. 2012, GenG § 7 Rn 16. 1065 Allerdings kann die Genossenschaft eine Ergebnisrücklage nach § 73 Abs. 3 GenG bilden, die beim Ausscheiden eines Mitglieds ausgezahlt wird. „Der durch § 73 III 1 zugelassene Anspruch auf Auszahlung des Anteils an der eigens zu diesem Zweck gebildeten bes Ergebnisrücklage soll unbillige Härten mildern, die wegen § 73 II 2 auftreten können, wenn langjährige Mitglieder aus Altersgründen kündigen oder durch Tod ausscheiden. Außerdem soll die Bereitschaft der Mitglieder gefördert werden, weitere Geschäftsanteile zu erwerben“ (Beuthien et al. 2011, GenG § 73 Rn 15). Hierbei können unterschiedliche Voraussetzungen für die Auszahlung festgelegt werden, wie beispielsweise eine Mindestmitgliedschaft. Eine solche Ergebnisrücklage nach § 73 Abs. 3 GenG würde senkend auf die Mitgliederbindung wirken, weil sie einen Anreiz zum Ausscheiden aus der Genossenschaft darstellt. Die Ergebnisrücklage nach § 73 Abs. 3 GenG spielte in den betrachteten Satzungen jedoch keine Rolle und war auch in der später analysierten Untersuchungsgesamtheit bei der quantitativ-empirischen Modellprüfung zu vernachlässigen, da sie ein kaum verbreitetes Instrument zur Konfiguration der Mitgliederbindung ist.
174
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 8: Ausprägungsspektrum der Governance-Mechanismen der Mitgliederbindung. Wirkungsbereich
GovernanceMechanismus
minimale Ausprägung
maximale Ausprägung
Ausscheiden
Kündigungsfrist
Monate
Monate
Übertragung des Geschäftsguthabens
Übertragung jederzeit möglich
Übertragung ausgeschlossen
Ausscheiden durch Tod
Erben haben das Recht, Mitglied der Genossenschaft zu bleiben
Erben scheiden aus der Genossenschaft aus
Monate
unbegrenzt
Mindestkapital
keine Regelung
Mindestkapitalregelung mit maximaler Ausprägung, zum Beispiel % von der Bilanzsumme/Eigenkapital
gesetzliche Rücklage
niedriger Anteil vom Jahresüberschuss
gesamter Jahresüberschuss
maximale gesetzliche Rücklage
niedriger Anteil an keine Begrenzung der einer Bezugsgröße, gesetzlichen Rücklage die nur einen kleinen durch einen Maximalwert Bruchteil der Bilanzsumme darstellt
andere Rücklage
keine andere Rücklage
Auseinandersetzung Fälligkeit
Thesaurierung
gesamter Jahresüberschuss
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an das GenG.
Handlungssicherheit für die gesamte Gruppe der potenziellen Mitglieder, da sie spezifische Probleme der Genossenschaft adressiert, sie steigert jedoch auch die Kosten für jedes einzelne Mitglied. Es wird hier angenommen, dass die Governance-Kosten der Mitgliederbindung von allen potenziellen Mitgliedern einheitlich wahrgenommen werden. Eine Steigerung der Mitgliederbindung führt also immer zu der gleichen Steigerung der wahrgenommenen Governance-Kosten. Für diese Annahme spricht, dass es sich immer um dieselben Governance-Mechanismen der Governance-Struktur Genossenschaft handelt, die variiert werden. Alle Governance-Mechanismen werden zudem vor dem bundesweit einheitlichen GenG ausgelegt und unterscheiden sich daher nicht in ihrer Wirkung, was ebenfalls für diese Annahme spricht. Die Governance-Kosten bestehen insbesondere in der geringeren Flexibilität eines Mitglieds und dem Kapitalverlust, der durch eine Beendigung der Mitgliedschaft realisiert würde. Das potenzielle Mitglied stimmt durch seinen Beitritt
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
175
ferner der eigenen Unterwerfung unter die Wirkung aller Governance-Mechanismen der Energiegenossenschaft zu, deren Wirkzeitraum durch die Konfiguration der Mitgliederbindung bestimmt wird. Eine Beendigung der Wirkung wird durch die Bindungs-Kontrollmechanismen faktisch eingeschränkt und durch die BindungsAnreiz-Mechanismen unattraktiv. Ergo erhöht eine Steigerung der Mitgliederbindung zwar die Handlungssicherheit, hat aber gleichzeitig auch steigende GovernanceKosten zur Folge. Erhöhte Governance-Kosten schrecken indes potenzielle Mitglieder vom Beitritt ab. Eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Beitritt potenzieller Mitglieder erfordert daher das gleichzeitige Vorhandensein hoher Handlungssicherheit bei geringen Governance-Kosten. 3.1.3.2.6 Mitgliederbeitritt Die Entscheidung der potenziellen Mitglieder zum Beitritt zur Energiegenossenschaft markiert den Endpunkt des Prozesses der Neukontextualisierung. Der axiale Kode wurde als Mitgliederbeitritt bezeichnet. Die gestaltenden Akteure verfolgen während der Neukontextualisierung das Ziel, die Bedingungen zum Beitritt der potenziellen Mitglieder so auszugestalten, dass die Beitrittswahrscheinlichkeit erhöht wird. Der Beitrittsvorgang selbst findet meist auf der Gründungsversammlung der Genossenschaft statt. Auf der Gründungsversammlung wird von den Initiatoren implizit auf das Zusammenspiel zwischen gestaltenden Akteuren, Gründungskontext und Satzung zur Erzeugung der notwendigen Handlungssicherheit für eine Transaktion eingegangen, indem die Satzung als ausreichender und wirksamer Rahmen für zukünftiges Handeln vorgestellt wird. Zwei besondere Aspekte des Mitgliederbeitritts konnten mittels der Grounded-Theory-Methode freigelegt werden. Sie sollen im Folgenden vorgestellt werden. Dabei handelt es sich um das Abwägen der potenziellen Mitglieder und die selbstverstärkende Wirkung des Mitgliederbeitritts. Das Abwägen Die Voraussetzung für den Beitritt eines potenziellen Mitglieds ist die positive Bewertung von zwei Kriterien, die schon oben als notwendige und hinreichende Bedingung bezeichnet wurden:1066 Die notwendige Bedingung besteht darin, dass ausreichend Handlungssicherheit zur erfolgreichen Umsetzung der intendierten Transaktion gegeben ist. Sollte die notwendige Bedingung nicht erfüllt sein, so entschließen sich die potenziellen Mitglieder gegen einen Beitritt zur Energiegenossenschaft. Sie gehen in diesem Fall nicht davon aus, dass die Transaktion erfolgreich durchgeführt werden kann. Ein solches Verweigern potenzieller Mitglieder wird in der Schilderung des Initiators der N.eG deutlich.1067
1066 Vgl. Abschnitt 3.1.3.1. 1067 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 135–137
176
135
3 Modellentwicklung und Prüfung
N.eG#1:
136 Müller: 137 N.eG#1:
Und das haben die Leute natürlich nachgerechnet und dann gesagt oh das ist aber, das ist aber so und so. Und außerdem bestand die Mentalität zu sagen, ah wir wollen uns das erst mal angucken ob das funktioniert. Ja Denn das ist uns nicht geheuer was ihr da macht. Ja wir gucken erst mal.
Wie dem Zitat zu entnehmen ist, sind die potenziellen Mitglieder unsicher, ob die Transaktion erfolgreich durchgeführt werden kann. Die Möglichkeit eines späteren Beitritts, die hier anklingt, bedeutet, dass die potenziellen Mitglieder nicht ausreichend Handlungssicherheit wahrnehmen und daher nicht entschlossen sind, eine Mitgliedschaft einzugehen. Jedoch muss auch die hinreichende Bedingung erfüllt sein, damit es zum Mitgliederbeitritt kommt. Selbst wenn ein ausreichendes Maß an Handlungssicherheit besteht, so kann dennoch der Netto-Nutzenzuwachs für ein potenzielles Mitglied durch Governance-Kosten infrage stehen. Eine maximale Ausgestaltung der Mitgliederbindung würde mit sehr hohen Governance-Kosten verbunden sein, die den Nutzen einer Transaktion übertreffen können. Die potenziellen Mitglieder wägen demnach ab, ob sie durch den Beitritt einen Netto-Nutzenzuwachs erreichen oder nicht. Dieses Abwägen wurde oben bereits als hinreichende Bedingung eingeführt. Ist die hinreichende Bedingung nicht erfüllt, dann kommt es nicht zum Beitritt des potenziellen Mitglieds. Ein solches Verweigern des Beitritts wird beispielsweise von einem Initiator der N.eG geschildert. Von den anfänglich an der Transaktion interessierten Haushalten blieben letztendlich nur noch 10 % übrig, die eine Bereitschaft zur Mitgliedschaft zeigten.1068 51
N.eG#1:
52 53
Müller: N.eG#1:
Und dann haben wir sofort nachdem die Studie praktisch da war dann /eh/ die verbindlichen Erklärungen von den potenziellen Mitgliedern abgefordert. Und da war im Prinzip dann der Zeitpunkt wo es uns nicht so gut ging. Weil das eben sehr wenige waren im Vergleich zu dessen die uns beauftragt hatten von der Bevölkerung die Studie zu machen. Ja Also es sind praktisch nur 10 Prozent übrig geblieben.
Hier zeigt sich, dass die eigentlich gewillten Mitglieder abwägen, ob der Nutzenzuwachs durch die Transaktion ausreicht, um die Governance-Kosten zu kompensieren, die durch einen Beitritt zur Genossenschaft entstehen. In dem Zitat klingt an, wie das anfängliche Interesse an einer Mitgliedschaft dann zurück geht, wenn sich der Nutzen
1068 N.eG#1 09.11.2010, Abs. 51–53.
3.1 Gegenstandstheoretische Grundlegung
177
einer Transaktion zwar konkretisiert, aber ebenso deutlich wird, welche GovernanceKosten mit einer „verbindlichen Erklärung“ zum Beitritt einhergehen. Die Diskrepanz zwischen Interessenbekundung und tatsächlichem Mitgliederbeitritt spiegelt das Ergebnis des Abwägeprozesses. Selbstverstärkende Wirkung des Mitgliederbeitritts Die Wahrnehmung von Handlungssicherheit durch die potenziellen Mitglieder ist ein komplexer Vorgang, der auch mit dem Prozess des Mitgliederbeitritts selbst zu tun hat. Der Beitritt besonders angesehener Mitglieder signalisiert anderen potenziellen Mitgliedern, dass ein gewisses Maß an Handlungssicherheit vorhanden ist, was zu einem sich selbst verstärkenden Prozess des Mitgliederzuwachses führt. Neben der Wahrnehmung von Handlungssicherheit durch die Beobachtung des Beitrittsverhaltens anderer Mitglieder ergibt sich aus dem Beitritt einer hohen Mitgliederanzahl selbst auch Handlungssicherheit für das einzelne potenzielle Mitglied, weil es nun wahrscheinlich ist, dass die notwendige Größe erreicht wird. Das Ziel der Initiatoren ist es deshalb während des Gründungsprozesses, eine Eigendynamik des Mitgliederbeitritts zu entfachen und Schlüsselakteure als Mitglieder zu gewinnen. Dies zeigt sich beispielsweise im Interview mit dem Initiator der Energiegenossenschaft L.eG.1069 75 76 77 78 79
L.eG#2: Müller: L.eG#2: Müller: L.eG#2:
80 81
Müller: L.eG#2:
um dann eben halt 40 Haushalte zusammen zu kriegen. Ok, ja. Das hieß, erwies sich am Anfang als sehr, sehr schleppend. Ok /eh/ Wir hatten also ziemlich schnell 20, rund 20 Häuser zusammen, aber /eh/ von 20 bis 40 der Sprung war also dann doch recht schwierig. Hmm /ehm/ Nachdem wir aber die Kirche überzeugen konnten, /eh/ dort auch sich mit der Kirche und dem /eh/ kirchlichen Kindergarten und auch mit dem Gemeindehaus, dass auch die sich an so ein Heizwerk anschließen würden, /eh/ hatte das natürlich direkt Kreise gezogen und hat so den ein oder anderen mit ins Boot geholt.
Als Schlüsselakteur werden im Zitat oben die „Kirche“ und weitere kirchennahe Einrichtungen genannt. Die Kirche zeichnet sich in diesem Fall dadurch aus, dass sie bei den potenziellen Mitgliedern besonders angesehen ist. Eine Eigenschaft, die
1069 L.eG#2 27.10.2011, Abs. 75–81.
178
3 Modellentwicklung und Prüfung
auch für andere Schlüsselakteure gilt. Der Beitritt von Schlüsselakteuren bestärkt („mit ins Boot geholt“) andere potenzielle Mitglieder in ihrer Entscheidung zum Beitritt („Kreise gezogen“), da durch den Beitritt von Schlüsselakteuren eine besonders relevante Referenz für das Abwägen von Kosten und Nutzen des Beitritts existiert. Daraus ergibt sich für den Prozess des Mitgliederbeitritts, dass ein sich selbst verstärkender Kreislauf in Gang gesetzt werden kann. Durch diesen wird die Entscheidungsgeschwindigkeit erhöht, was insbesondere dann von Wichtigkeit ist, wenn eine besonders hohe Zahl an Mitgliedern gewonnen werden muss. Denn der Prozess der Neukontextualisierung ist erst dann erfolgreich, wenn eine ausreichende Anzahl an Mitgliedern sich zum Beitritt entschließt.
3.1.3.3 Zwischenresümee In diesem Kapitel 3.1 wurde eine mittels Grounded-Theory-Methode entwickelte Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften vorgestellt. Die Gegenstandstheorie basiert auf Interviews mit Initiatoren von Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften sowie ihren jeweiligen Satzungen. Aus diesem Material wurde eine Grounded Theory entwickelt, die beschreibt, wie eine ausreichende Zahl an potenziellen Mitgliedern davon überzeugt werden kann, der Energiegenossenschaft beizutreten und somit die Umsetzung einer Transaktion zu ermöglichen. Der Prozess der Bindung von potenziellen Mitgliedern an die entstehende Energiegenossenschaft wurde hier als Neukontextualisierung bezeichnet. Die Energiegenossenschaft als Governance-Struktur stellt einen neuen Kontext erwartungsstabilisierender Mechanismen dar, der zusätzlich zu den bereits existierenden erwartungsstabilisierenden Mechanismen höherer Ordnung wirkt, sofern die potenziellen Mitglieder der Genossenschaft auch beitreten. Die potenziellen Mitglieder wägen dabei ab, ob die Transaktion im neuen Handlungskontext Energiegenossenschaft erfolgreich durchzuführen ist und welchen Nutzen ihnen dies stiftet. Dazu bewerten sie zahlreiche Faktoren, die die Handlungssicherheit beeinflussen und sie schätzen die auf sie zukommenden Governance-Kosten ab. Nur dann, wenn ausreichend Handlungssicherheit besteht, dass die Transaktion erfolgreich durchgeführt werden kann und gleichzeitig die Governance-Kosten nicht den Nutzen der Transaktion übersteigen, kommt es zum Beitritt der potenziellen Mitglieder. Auf Grundlage dieses Prozesses kann eine Beziehung zwischen den hier beschriebenen Faktoren – der Art der Transaktion, den gestaltenden Akteuren, dem Gründungskontext und der Satzung – beschrieben werden. Zudem lassen sich eine notwendige und eine hinreichende Bedingung für den Beitritt von potenziellen Mitgliedern unterscheiden. Die notwendige Bedingung beschreibt die Tatsache, dass die potenziellen Mitglieder ein ausreichendes Maß an Handlungssicherheit wahrnehmen müssen, um sich zur Durchführung der Transaktion zu entschließen. In der Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften wurde beschrieben, dass
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
179
das notwendige Ausmaß an Handlungssicherheit durch die Art der Transaktion bestimmt wird. Die Art der Transaktion und ihr Bedarf an Handlungssicherheit sind damit gewissermaßen die Messlatte, anhand der die potenziellen Mitglieder bewerten, wie viel Handlungssicherheit notwendig ist. Handlungssicherheit ist auf der anderen Seite durch den Gründungskontext und den gestaltenden Akteur zu einem bestimmten Grad gegeben. Jedoch genügt dieses Niveau an Handlungssicherheit meist noch nicht zur Durchführung der Transaktion. Daher ist es notwendig, durch die Etablierung einer Governance-Struktur – in diesem Fall einer Genossenschaft – und durch die Ausgestaltung ihrer Governance zusätzliche Handlungssicherheit zu erzeugen. Als ein besonders relevantes Governance-Attribut der Genossenschaft wurde die Mitgliederbindung identifiziert und darauf eingegangen, wie mithilfe der Festlegung der Mitgliederbindung dazu beigetragen werden kann, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Erst wenn durch die Konfiguration beispielsweise der Mitgliederbindung die bestehende Differenz zwischen dem Bedarf an Handlungssicherheit und dem Angebot an Handlungssicherheit ausgeglichen ist, ist die notwendige Bedingung zur Durchführung einer Transaktion erfüllt. Allerdings ist der Gestaltungsspielraum zur Erzeugung von Handlungssicherheit mithilfe von Governance dadurch begrenzt, dass beispielsweise eine stärker ausgestaltete Mitgliederbindung auch zu einem Anstieg der damit verbundenen GovernanceKosten führt. Ein Genossenschaftsmitglied ist durch stärkere Mitgliederbindung in seiner Freiheit eingeschränkt, was sich in gesteigerten Governance-Kosten niederschlägt. Durch einen Anstieg der Governance-Kosten wird der wahrgenommene NettoNutzen der Transaktion für potenzielle Mitglieder geschmälert und gegebenenfalls sogar negativ. Somit handelt es sich für die gestaltenden Akteure bei der Formulierung der Satzung um ein Optimierungsproblem: Es muss ein notwendiges Niveau an Handlungssicherheit erzeugt werden, ohne dass dadurch zu hohe Governance-Kosten entstehen, die den Nutzen der Transaktion übersteigen. Nur dann, wenn der Nutzen der Transaktion die Governance-Kosten übersteigt, ist auch die hinreichende Bedingung zur Durchführung einer Transaktion erfüllt und es kommt zum Beitritt potenzieller Mitglieder. Durch die Beschreibung der notwendigen und hinreichenden Bedingung ist ein Zusammenhang zwischen der Art der Transaktion, den gestaltenden Akteuren, dem Gründungskontext und der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft formuliert. Dabei ist die Mitgliederbindung die abhängige Variable und die Art der Transaktion, die gestaltenden Akteure und der Gründungskontext sind unabhängige Variablen.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung Die qualitativ-explorative Untersuchung der Forschungsfragen war Inhalt des vorangegangenen Kapitels 3.1. Im Ergebnis ist es gelungen, eine Gegenstandstheorie
180
3 Modellentwicklung und Prüfung
zum Prozess der Governance-Entstehung für Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften zu erarbeiten. Durch die Beobachtung der Gründung von Energiegenossenschaften konnte ein Prozessmodell entwickelt werden, das den Governance-Entstehungsprozess und seine Ursache-Wirkungsbeziehungen erklärt. Es konnten zudem relevante Einflussfaktoren der Governance-Entstehung aufgezeigt sowie das genossenschaftsspezifische Governance-Attribut Mitgliederbindung identifiziert werden. Das Ziel des nun folgenden Kapitels 3.2 ist es, auf Basis der Gegenstandstheorie und vor dem Hintergrund der Literatur, Hypothesen zu begründen, die ein falsifizierbares Modell der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften bilden. Dabei wird von der Gegenstandstheorie ausgegangen. Es wird für die Begründung der Hypothesen der Wirkzusammenhang zwischen exogenen und endogenen Variablen zugrunde gelegt, der in der Gegenstandstheorie herausgearbeitet wurde1070 und hier einleitend noch einmal zusammengefasst wird. Ferner ist die abhängige Variable, die hier stellvertretend für die Entstehung von Governance untersucht wird, die Mitgliederbindung1071 der Energiegenossenschaft, welche ebenfalls ein Resultat der qualitativ-explorativen Untersuchung ist. Die Mitgliederbindung wird im zweiten Unterabschnitt dieses Kapitels erläutert und im Kontext anderer abhängiger Variablen der Transaktionskostentheorie verortet.1072 Ferner leiten sich die in der folgenden Arbeit untersuchten Einflussfaktoren der Governance-Entstehung aus den Erkenntnissen der Gegenstandstheorie ab. Dennoch ist zur Hypothesenbegründung die Reflexion des Literaturstands notwendig. Aufgrund der zahlreichen Beiträge im Rahmen der Transaktionskostentheorie müssen die Ergebnisse der Gegenstandstheorie im Lichte der Literatur eingeordnet werden. So wird ersichtlich, an welchen Stellen die Gegenstandstheorie bereits bekannte Zusammenhänge beschreibt und an welchen Stellen neue Aspekte thematisiert werden. Auch wird durch eine Reflexion der Literatur bei der Hypothesenbegründung die Anschlussfähigkeit an die Transaktionskostentheorie erhöht. So können beispielsweise einzelne Termini der Gegenstandstheorie an die Transaktionskostentheorie angeglichen werden. Die Hypothesen, die das Modell der Governance-Entstehung bilden, werden folglich sowohl durch die Ergebnisse der Gegenstandstheorie als auch anhand der Forschungsergebnisse anderer Autoren begründet. Die Hypothesen beziehen sich auf die in der Gegenstandstheorie als axiale Kodes abduzierten Einflussfaktoren der
1070 Siehe neben der Zusammenfassung in Abschnitt 3.2.1 auch die Übersicht zum Prozess der Neukontextualisierung in Abschnitt 3.1.3.1, sowie das Zwischenresümee in Abschnitt 3.1.3.3. 1071 An dieser Stelle sei erneut darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Konzept der Mitgliederbindung in dieser Arbeit ausschließlich um die formale Mitgliederbindung handelt, die sich aus der Satzung der Genossenschaft ergibt (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.1). 1072 Vgl. Abschnitt 3.2.2.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
181
Governance und werden hier in der Reihenfolge Art der Transaktion, Gründungskontext und gestaltende Akteure vorgestellt.1073 Das Ergebnis dieses Kapitels sind 20 Hypothesen. Die Hypothesen sind mit den Ziffern 1–10 sowie Buchstaben bezeichnet. Thematisch eng zusammenhängende Hypothesen erhalten dieselbe Ziffer und werden durch Buchstaben unterschieden. Die Hypothesen H1 und H2 beziehen sich auf die Art der Transaktion. Die Hypothesen H3a, H3b und H3c sowie H4a, H4b und H4c werden zur Modellierung des Einflusses der Sozio-Geografie auf die Mitgliederbindung gebildet. Zudem werden die Hypothesen H5 und H6 zur Abbildung des Einflusses der Genossenschaftspopulation auf die Mitgliederbindung abgeleitet. Auch sind die gestaltenden Akteure im Modell berücksichtigt, indem der Effekt der Verfasstheit des Initiators als Hypothese H7 und die Wirkung der Erfahrung des Genossenschaftsverbands als Hypothese H8 formuliert sind. Neben einem direkten Zusammenhang zwischen den exogenen und der endogenen Variable wird auch der moderierende Effekt des gestaltenden Akteurs bei der Entstehung von Governance anhand von Hypothesen konkretisiert.1074 Hierzu wird die vermutete Wechselwirkung zwischen den Variablen der Sozio-Geografie und der Verfasstheit des Initiators in den Hypothesen H9a, H9b, H9c, H9d, H9e und H9f aufgegriffen. Ebenso werden zwei Hypothesen zu Interaktionseffekten zwischen der Erfahrung des Genossenschaftsverbands und den Transaktionsdimensionen in den Hypothesen H10a und H10b formuliert. Ohne an dieser Stelle zu weit vorgreifen zu wollen, ist zur besseren Übersichtlichkeit an dieser Stelle das Modell der Governance-Entstehung bestehend aus den vorgenannten Hypothesen schematisch in Abbildung 8 dargestellt.
3.2.1 Wirkzusammenhang Die Entscheidung der potenziellen Mitglieder zum Beitritt zur Genossenschaft hängt davon ab, ob die durch sie wahrgenommene Handlungssicherheit zur Durchführung der Transaktion ausreichend ist und ob der Nutzen einer Transaktion die mit einem Beitritt verbundenen Governance-Kosten überwiegt. Die potenziellen Mitglieder beobachten folglich sämtliche Faktoren, die einen Einfluss auf die Handlungssicherheit haben. Dieser in der Gegenstandstheorie geschilderte Prozess wird im Modell der Governance-Entstehung aufgegriffen und liegt sämtlichen entwickelten Hypothesen zugrunde. Im Kern dieses Modells geht es um die Beziehung zwischen solchen
1073 Die Reihenfolge weicht von der in der Gegenstandstheorie präsentierten Reihenfolge ab und orientiert sich nunmehr an der später angestrebten hierarchischen Regressionsanalyse (vgl. Abschnitt 3.3.3.2). Die Gliederung ist auch deshalb sinnvoll, weil somit aufeinander aufbauende Hypothesen zu den Interaktionseffekten leichter nachvollziehbar eingeführt werden können. 1074 Vgl. Abschnitt 3.2.3.3.
182
3 Modellentwicklung und Prüfung
Gründungskontext Sozio-Geografie Sozialkapital
H3 a -c
Regionalstruktur
H4 a -c
Genossenschaftspopulation Populationsgröße
H5
Populationskonzentration
H6
Gestaltende Akteure H9 a -f Initiator Verfasstheit
Genossenschaftliche Governance (Satzung)
H7
Mitgliederbindung
Genossenschaftsverband Erfahrung
H8
H10 a, b
Art der Transaktion Eigenschaften Faktorspezifität
H1
Transaktionsvolumen
H2
Haupteffekt Interaktionseffekt
Abbildung 8: Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenübersicht. Quelle: Eigene Darstellung.
Faktoren, die Handlungssicherheit notwendig machen, und solchen Faktoren, die Handlungssicherheit bieten. Konkret fordert die beabsichtigte Art der Transaktion ein notwendiges Niveau an Handlungssicherheit. Die gestaltenden Akteure, der Gründungskontext und die Governance bieten indes ein spezifisches Maß an Handlungssicherheit. Es wir hier davon ausgegangen, dass lediglich die Governance durch die gestaltenden Akteure angepasst werden kann, um ein möglicherweise bestehendes
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
183
Handlungssicherheitsdefizit auszugleichen. Die Konfiguration der Governance erhöht oder senkt je nach Ausgestaltung die Handlungssicherheit. Infolge der Abhängigkeit der Governance vom Niveau der verfügbaren Handlungssicherheit handelt es sich bei dieser um die endogene Variable. Die exogenen Variablen sind die Art der Transaktion, der Gründungskontext und die gestaltenden Akteure selbst. Das Ziel bei der Ausgestaltung der Governance ist es, ein Niveau an Handlungssicherheit zu erreichen, bei dem ausreichend Mitglieder zum Beitritt zur Energiegenossenschaft bereit sind. Jedoch ist die Ausgestaltung der Governance beschränkt. Eine besonders umfangreiche und damit Handlungssicherheit erzeugende Ausgestaltung der Governance induziert zugleich erhebliche Governance-Kosten. Eine in ihrer Stärke über das notwendige Maß hinausgehende Ausgestaltung der Mitgliederbindung ist unwahrscheinlich, da sie den gewünschten Effekt des Mitgliederbeitritts behindern würde, indem sie den Netto-Nutzen einer Transaktion schmälert. Es ist daher das Ziel der gestaltenden Akteure, die genau notwendige Handlungssicherheit durch Mitgliederbindung zu erzeugen und unnötige Governance-Kosten zu vermeiden. Die Untersuchung der ausgestalteten Governance ermöglicht folglich einen Rückschluss auf das Niveau an Handlungssicherheit in der Gründungssituation.1075 Bei dem im Folgenden entwickelten Modell handelt es sich um ein Modell der reduzierten Form, wie in den meisten empirischen Untersuchungen zur Transaktionskostentheorie.1076 Das bedeutet, dass die Handlungssicherheit nicht direkt gemessen wird und stattdessen durch das In-Beziehung-Setzen von Faktoren, die die Handlungssicherheit beeinflussen, auf das vorhandene Niveau an Handlungssicherheit geschlossen wird.1077 Ein Modell der reduzierten Form bietet sich deshalb an, weil die Einflussfaktoren der Handlungssicherheit einfacher zu messen sind als die Handlungssicherheit selbst.1078
3.2.2 Abhängige Variable Die übergeordnete Forschungsfrage dieser Arbeit zielt darauf, die Entstehung der Governance von Genossenschaften zu verstehen, weshalb die Governance im hier entwickelten Modell die zu erklärende Variable ist. Mithilfe der Grounded-Theory1075 Auch wenn durch die von den Genossenschaftsverbänden zur Verfügung gestellten Mustersatzungen die Satzungserstellung gelenkt wird (vgl. Abschnitte 2.1.4.2.2.3 und 3.1.2.2.2), ist die Spezifikation der einzelnen Satzungs-Klauseln als Reaktion auf die wahrgenommene Handlungssicherheit in der Gründungssituation zu interpretieren (vgl. Abschnitte 3.1.3.1 und 3.1.3.2.5). 1076 Vgl. Ménard 2008, S. 285–286. 1077 Siehe hierzu die empirischen Tests der Transaktionskostentheorie, die regelmäßig auf ein Niveau an Transaktionskosten schließen, indem sie beispielsweise den Zusammenhang zwischen der Faktorspezifität einer Transaktion und ihrer Organisation mittels bestimmter GovernanceStrukturen überprüfen (vgl. Abschnitt 2.2.2.2.1). 1078 Vgl. Ménard 2008, S. 285–286.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
Methode wurde bereits die Entstehung der Satzung der Genossenschaft exemplarisch für die Entstehung ihrer Governance analysiert.1079 Die Betrachtung zeigte, dass das Governance-Attribut Mitgliederbindung durch mehrere in der Satzung bestimmbare Governance-Mechanismen geregelt wird und der Mitgliederbindung zugleich eine besondere Bedeutung bei der Erzeugung von Handlungssicherheit zukommt.1080 Die Mitgliederbindung eignet sich insoweit als abhängige Variable in der weiteren Untersuchung. Für eine Konzentration auf die Mitgliederbindung spricht auch die Thematisierung verwandter Konzepte in der Genossenschaftsliteratur. So wird die Stabilität der Kooperation1081 als wichtiges Ziel der Genossenschaft dargestellt, dessen Erreichung die Gefahr eines Eigenkapitalabflusses mildert1082 und den zentrifugalen Kräften1083 innerhalb der Mitgliederbasis entgegenwirkt. Insbesondere die Abwägung zwischen hoher Mitgliederbindung zur Überwindung der genossenschaftlichen Eigenkapitalschwäche1084 und der geringeren Attraktivität starker Mitgliederbindung aufgrund der Mitgliedschafts- und Entscheidungskosten1085 sind Gegenstand in der wissenschaftlichen Debatte. Darüber hinaus werden Faktoren untersucht, die die Mitgliedschaft in Genossenschaften beeinflussen.1086 In der Literatur werden die Folgen der Mitgliederbindung damit ähnlich betrachtet wie in der Gegenstandstheorie: Die Gegenstandstheorie argumentiert, dass eine Erhöhung der Mitgliederbindung zu einer Steigerung der Handlungssicherheit führt, da beispielsweise das Problem eines Eigenkapitalverlusts verringert wird. Gleichzeitig ist eine gesteigerte Handlungssicherheit mit einem Anwachsen der Governance-Kosten für jedes Mitglied verbunden, da dieses durch seine Bindung an die Genossenschaft in seiner Flexibilität eingeschränkt ist und seinen satzungsmäßigen Pflichten nachkommen muss.1087 Trotz der Thematisierung von mit der Mitgliederbindung verwandten Konzepten ist diese in der Genossenschaftsliteratur als Governance-Attribut bislang nicht empirisch untersucht worden.1088
1079 Wie bereits dargelegt, ist die Satzung das zentrale Element der formalen Governance der Genossenschaft (vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.3). 1080 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.1. Andere Governance-Attribute der Genossenschaft wurden hier bewusst nicht als abhängige Variable berücksichtigt, weil die Untersuchung mehrerer GovernanceAttribute einer notwendigen Fokussierung entgegengestanden hätte (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.1). 1081 Vgl. Dülfer 1994, S. 858, und Fulton 1999. 1082 Vgl. Draheim 1952, S. 34 und S. 71. 1083 Vgl. Draheim 1952, S. 42, und Bonus 1986, S. 311–312. 1084 Vgl. Cook und Iliopoulos 2000, Bacchiega und Fraja 2004, Holstenkamp und Degenhart 2014, S. 190–191, und Huybrechts und Mertens 2014, S. 206–207. 1085 Vgl. Zusman 1992, S. 361–362, und Fulton 1999, S. 420. Siehe hierzu auch die Argumentation von Hansmann (1996) zu Kosten von Eigentümern. 1086 Vgl. Jones et al. 2016. 1087 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.6. 1088 Vgl. Hernandez-Espallardo et al. 2013, S. 241.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
185
Ein Fokus auf die Mitgliederbindung ist auch vor dem Hintergrund der in der Transaktionskostentheorie behandelten abhängigen Variablen1089 sinnvoll: Die klassische Transaktionskostentheorie und zum Teil auch ihre Weiterentwicklung bezogen sich häufig auf den Vergleich von generischen Governance-Strukturen.1090 Diese Betrachtungsweise ermöglicht zwar den Vergleich generischer Governance-Strukturen untereinander, blendet aber zugleich die Heterogenität der generischen Strukturalternativen aus.1091 Beispielsweise ist die Genossenschaft eine äußerst heterogene GovernanceStruktur, die durch die Anpassung ihrer Governance für unterschiedliche Transaktionen geeignet ist.1092 Ein Vergleich der generischen Governance-Strukturen Genossenschaft und Unternehmen würde beispielsweise Gefahr laufen, wegen der Heterogenität der Genossenschaft verzerrt zu sein. Die Mitgliederbindung als kontinuierliche Variable ermöglicht hingegen die Differenzierung unterschiedlicher Genossenschaften und erweitert damit ihre bisher vorherrschende Betrachtungsweise als homogene generische Governance-Struktur.1093 Ferner spricht auch die inhaltliche Nähe zu manchen Governance-Attributen und Governance-Mechanismen, die im Rahmen der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie untersucht wurden, für eine Hinwendung zur Mitgliederbindung. Beispielsweise hat der Governance-Mechanismus Vertragsdauer Schnittmengen mit der Mitgliederbindung.1094 Allerdings umfasst die Mitgliederbindung weit mehr als
1089 Als abhängige Variablen fungierten in der Transaktionskostentheorie beispielsweise Unternehmen gegenüber Markt, Unternehmen gegenüber Hybrid, Hybrid gegenüber Markt (vgl. David und Han 2004, S. 46). 1090 Vgl. Kapitel 2.2. 1091 Vgl. Abschnitt 2.3.1. 1092 Vgl. Chaddad 2012. 1093 Zwar werden Genossenschaften vielfach differenziert, ihre Governance-Struktur wird jedoch nicht als kontinuierliche abhängige Variable untersucht (vgl. Abschnitt 2.1.4.). Wenige Ausnahmen bilden hier Ménard (2007), Cook et al. (2008) und Chaddad (2012). Cook et al. (2008, S. 1) schreiben beispielsweise in einem Überblicksartikel: „Existing research treats the cooperative structure as relatively homogeneous. The proposed paper argues that all cooperatives are not created equal [. . .] We propose a continuum from single-level rent seeking, traditional, patron, user-driven cooperative forms; through forms of hybrids and macrohierarchies; to multiple-level rent seeking, patron, userinvestor-driven collective entrepreneurship.“ 1094 Einer der ersten Governance-Mechanismen, die zur empirischen Unterscheidung von Governance-Strukturen untersucht wurden, ist die Vertragsdauer. Eine Verlängerung der Dauer eines Kontrakts führt zu eher relationalen Verträgen (vgl. Macneil 1973, S. 749) und ebenso ergibt sich ein eher relationaler Vertrag, je weniger eindeutig Start- und Endpunkt des Vertrags sind (vgl. Macneil 1973, S. 751). Daraus abgeleitet konnten Governance-Strukturen empirisch anhand ihrer Vertragsdauer in eher unternehmensähnliche oder marktähnliche eingeteilt werden (vgl. Joskow 1987, S. 168–169). Folglich ist die Vertragsdauer ein wichtiges Merkmal zur Unterscheidung hybrider Organisationsformen, wobei die Vertragsdauer und die Beziehungsdauer hierzu zusammen betrachtet werden müssen. Die Beziehungsdauer kann die Vertragsdauer um ein Vielfaches übersteigen und ihre Länge ist als Hinweis auf eine hybride Organisationsform zu werten (vgl. Ménard 2004, S. 362). Siehe auch Shelanski und Klein (1995, S. 346–348).
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3 Modellentwicklung und Prüfung
die Festlegung von Kündigungsfristen.1095 Auch die Integration der Transaktionspartner ist ein verwandtes Konzept. Die Mitgliederbindung meint allerdings etwas anderes als die vertikale Integration1096 oder den Integrationsgrad1097, wenngleich es Überschneidungen mit diesen Konzepten gibt. Der Integrationsgrad ist eine gedankliche Übertragung der diskreten „make-or-buy“-Entscheidung auf ein Kontinuum zwischen den Polen der „internen Organisation“ und der „Markttransaktion“.1098 Integration umfasst als Konzept insbesondere Themen der Steuerung durch Unterwerfung der Akteure unter die Führung des Unternehmers.1099 Integration bedeutet also auch die faktische Aufgabe der Souveränität und rechtlichen Selbstständigkeit. Die Mitgliederbindung bezeichnet hingegen die Festigkeit der Bindung zwischen Mitglied und Genossenschaft.1100 Durch die Mitgliederbindung ist folglich nicht das Ausmaß der Aufgabe der Souveränität eines Mitglieds bestimmt, welche sich erst aus der Festlegung anderer Governance-Mechanismen ergibt.1101 Trotz der inhaltlichen Nähe der Mitgliederbindung zu den etablierten abhängigen Variablen Vertragsdauer und Integration ist sie als neues Governance-Attribut zu betrachten, das bislang nicht im Rahmen der transaktionskostentheoretischen Forschung untersucht wurde. Zusammengenommen sprechen die Ergebnisse der Gegenstandstheorie, die Bedeutung von mit der Mitgliederbindung verwandten Konzepten in der einschlägigen Genossenschaftsliteratur sowie die Nähe zu bereits in der Transaktionskostentheorie genutzten abhängigen Variablen dafür, die Mitgliederbindung hier als abhängige Variable und Stellvertreter für die entstehende Governance der Genossenschaft zu untersuchen.
3.2.3 Wesentliche Einflussfaktoren 3.2.3.1 Art der Transaktion In der Gegenstandstheorie wurde das Konstrukt Transaktion anhand des intendierten Tauschvorgangs zwischen den Akteuren vorgestellt und als exogene Variable für die Entstehung von Governance eingeführt. Die wichtigste Erkenntnis der Gegenstandstheorie in Bezug auf die Transaktion ist, dass je nach Art der Transaktion, ein unterschiedlicher Bedarf an Handlungssicherheit besteht. Die beiden untersuchten Transaktionen, die als Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaft
1095 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5. 1096 Vgl. Williamson 1971. 1097 Vgl. Williamson 1991, David und Han 2004, S. 45–47, und Crook et al. 2012, S. 66. 1098 Vgl. Williamson 1990, S. 109–112, Williamson 1991, S. 279–282, und Abschnitt 2.1.3. 1099 Vgl. Coase 1937, S. 388. 1100 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.2. 1101 Beispielsweise durch die Festlegung des Katalogs der zustimmungspflichtigen Geschäfte des Vorstands durch den Aufsichtsrat und die Generalversammlung der Genossenschaft.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
187
bezeichnet wurden, unterscheiden sich in dieser Hinsicht stark voneinander. Für Nahwärmenetzgenossenschaften wurde in der empirischen Untersuchung ein höherer Bedarf an Handlungssicherheit beobachtet, als dies für Energieproduktionsgenossenschaften der Fall war. In der abgeleiteten Gegenstandstheorie wurde diese Tatsache auf die Besonderheiten von Nahwärmenetzgenossenschaften zurückgeführt. Der Argumentation zum Wirkzusammenhang folgend, sind Auswirkungen auf die Konfiguration der genossenschaftlichen Governance wahrscheinlich. Die Akteure würden dem höheren Bedarf an Handlungssicherheit im Fall von Nahwärmenetzgenossenschaften entsprechen, indem sie c. p. die Mitgliederbindung erhöhen. Entsprechend dieser Begründung könnte hier die Hypothese formuliert werden, dass Nahwärmenetzgenossenschaften die Mitgliederbindung im Vergleich zu Energieproduktionsgenossenschaften erhöhen. Allerdings soll zunächst ein Blick auf den Stand der Literatur erfolgen, um den genannten Zusammenhang weiter zu begründen und die Begrifflichkeit in der Hypothesenformulierung zu schärfen. Der zentrale Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Transaktionskostentheorie, deren Hauptargument es ist, das die entstehende Governance maßgeblich durch die Transaktionsdimensionen determiniert wird.1102 Hiermit wird der Beobachtung der Gegenstandstheorie im Ergebnis entsprochen: Die Art der Transaktion bestimmt die Konfiguration der Governance. Darüber hinaus bietet die Transaktionskostentheorie ein begriffliches Instrumentarium zur Unterscheidung von Transaktionen. In der Transaktionskostentheorie werden Transaktionen anhand der Dimensionen Faktorspezifität, Unsicherheit und Häufigkeit differenziert.1103 Diese wurden bereits zusammen mit ihren Subdimensionen eingeführt und in ihrer Wirkung für die Entstehung von Governance erörtert.1104 Das begriffliche Instrumentarium der Transaktionskostentheorie ermöglicht eine feine Differenzierung von Transaktionen und soll deshalb auch hier zur Anwendung kommen. Insbesondere die Faktorspezifität hat sich zur Unterscheidung von Transaktionen und als Einflussgröße für die Entstehung von Governance als zutreffend erwiesen.1105 Zur Charakterisierung von Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften wird hier auf die Sachkapital-Spezifität, die Humankapital-Spezifität und auch die Standort-Spezifität eingegangen.1106 Die Begründung für die Auswahl liegt in der Gegenstandstheorie selbst: Die vorgenannten Subdimensionen der Faktorspezifität waren hier explizit zu beobachten.1107
1102 Vgl. Williamson 1990, S. 77–95, und Abschnitt 2.2.1.2. 1103 Vgl. Abschnitt 2.2.1.2. 1104 Vgl. Abschnitt 2.2.2.2. Verkürzt dargestellt, führen eine Erhöhung von Faktorspezifität, Häufigkeit und Unsicherheit zu eher hierarchisch ausgestalteten Governance-Struturen. 1105 Vgl. David und Han 2004, Geyskens et al. 2006, Macher und Richman 2008 und Crook et al. 2012. 1106 Die Definition der Subdimensionen der Faktorspezifität erfolgte in Abschnitt 2.2.2.2.1. 1107 Die Subdimensionen der Faktorspezifität korrelieren häufig und werden in der Literatur teilweise parallel zur Beschreibung der Faktorspezifität einer Transaktion verwendet (vgl. Abschnitt 2.2.2.2.1).
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3 Modellentwicklung und Prüfung
So zeigen sich im Rahmen der Gegenstandstheorie Unterschiede im Hinblick auf spezifische Sachkapital-Investitionen. Mitglieder von Nahwärmenetzgenossenschaften müssen beispielsweise spezifische Investitionen in ihre Heizungsanlage tätigen, die nur schwer in einer anderen Transaktion wiederzuverwenden sind.1108 Auch die Rohrleitungen, die einmal in der Erde vergraben wurden, haben nur noch einen geringen Verschrottungswert, im Gegensatz zu Fotovoltaik-Modulen, die leicht demontiert und weiterverkauft werden können.1109 Die SachkapitalSpezifität eignet sich demnach zur Differenzierung der Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften und ist für Nahwärmenetzgenossenschaften stärker ausgeprägt.1110 Der in der Gegenstandstheorie beschriebene höhere Bedarf an Handlungssicherheit könnte somit zum Teil auf gesteigerte Sachkapital-Spezifität zurückgeführt werden. Darüber hinaus erzeugte die räumliche Entfernung zwischen den Transaktionspartnern einen spezifischen Bedarf an Handlungssicherheit. Nahwärmenetzgenossenschaften können ihre Mitglieder aufgrund der genutzten Technik nur in einem sehr begrenzten lokalen Raum gewinnen, da die Ausdehnung des Nahwärmenetzes über diesen Raum hinaus wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Die notwendige lokale Nähe zwischen den potenziellen Mitgliedern und der Genossenschaft erzeugt Standort-Spezifität.1111 Gelingt es der Nahwärmenetzgenossenschaft nicht, innerhalb eines eng begrenzten Radius ausreichend Mitglieder zu gewinnen, so führt dies zum Transaktionsabbruch für alle potenziellen Mitglieder. Anders verhält es sich bei Energieproduktionsgenossenschaften, welche die produzierte Elektrizität in das öffentliche Netz einspeisen und bei denen somit der Standort der Mitglieder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Standortgebundenheit1112
Allerdings ist keine Untersuchung bekannt, in der alle Subdimensionen der Faktorspezifität parallel untersucht werden. Auch in dieser Arbeit ist es deshalb zweckmäßig, eine Auswahl zu treffen, die zudem durch die Ergebnisse der Gegenstandstheorie gestützt wird. 1108 In der Literatur wird der Verschrottungswert bei Masten (1984, S. 408), Palay (1984, S. 287) und Coles und Hesterly (1998a, S. 389) als Indikator für Sachkapital-Spezifität genannt. 1109 In empirischen Untersuchungen wird ein geringer Verschrottungswert ebenfalls als Indikator für Sachkapital-Spezifität genutzt (vgl. Dyer 1996, S. 652, und Ulset 1996, S. 74). 1110 In der Literatur werden insbesondere technologische Besonderheiten, die auf die Durchführung einer Transaktion zugeschnitten sind, als Indikator für Sachkapital-Spezifität angeführt (vgl. Hubbard 2001, S. 372, und Nickerson und Silverman 2003, S. 96–97). 1111 Nahe beieinander liegende Standorte (vgl. Joskow 1985, S. 76) oder der gemeinsame Sitz der Transaktionspartner in einem zusammenhängenden Gebiet (vgl. Spiller 1985, S. 295) erhöhen die Standort-Spezifität, da eine wechselseitige Abhängigkeit aufgrund der räumlichen Passung der Akteure zueinander entsteht und Transaktionen zwischen diesen deshalb eher in vertikal integrierten Unternehmen organisiert werden (vgl. David und Han 2004, S. 49). 1112 Joskow (1985, S. 77–78) nennt beispielsweise sogenannte „Grubenkraftwerke“ als standortspezifische Investitionen, bei denen Transaktionspartner ihre Betriebe in unmittelbar räumlicher Nähe zueinander errichten und wechselseitig aufeinander angewiesen sind.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
189
zwischen den Transaktionspartnern erhöht für Nahwärmenetzgenossenschaften den Bedarf an Handlungssicherheit. Auch das notwendige Know-how hat Auswirkungen auf den Bedarf an Handlungssicherheit. Nahwärmenetzgenossenschaften sind auf eine Machbarkeitsstudie angewiesen, die praktisch ausschließlich von einem spezialisierten Ingenieurbüro angefertigt werden kann. Die Aneignung des Wissens zur Erstellung der Machbarkeitsstudie wäre zu kostenintensiv und ausschließlich für die Transaktion einsetzbar.1113 Zudem ist der Planungsprozess eines Nahwärmenetzes ein komplexer Vorgang, der spezifisches Wissen von den Initiatoren, aber auch von den potenziellen Mitgliedern verlangt. Hingegen ist die Errichtung einer Fotovoltaikanlage mit eher geringem spezifischem Wissen verbunden. Unterschiede in der Humankapital-Spezifität1114 können deshalb ebenfalls ursächlich für divergierende Bedarfe an Handlungssicherheit sein. Nahwärmenetzgenossenschaften weisen eine deutlich höhere Humankapital-Spezifität auf, was eine weitere Ursache für ihren gesteigerten Bedarf an Handlungssicherheit ist. Für alle drei Subdimensionen der Faktorspezifität zeigt sich eine stark positive Korrelation mit dem Bedarf an Handlungssicherheit. Der Argumentation folgend, kann also die Faktorspezifität dazu genutzt werden, den Bedarf einer Transaktion an Handlungssicherheit zu beschreiben. Somit wird das Konzept verwendet, um die erste Hypothese begrifflich zu präzisieren. Höhere Faktorspezifität bedeutet zugleich gesteigerten Bedarf an Handlungssicherheit, welche c. p. mit entsprechend ausgestalteter Governance erzeugt wird. Für die untersuchte abhängige Variable der Mitgliederbindung ist folglich zu erwarten, dass höhere Faktorspezifität zu gesteigerter Mitgliederbindung führt. Es kann deshalb Hypothese H1 formuliert werden: H1:
Eine erhöhte Faktorspezifität erhöht den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Neben der begrifflichen Präzisierung durch die Faktorspezifität kann auch das Transaktionsvolumen als Subdimension genutzt werden, um Transaktionen hinsichtlich ihres Bedarfs an Handlungssicherheit zu differenzieren. Das Transaktionsvolumen ist
1113 Bei der Machbarkeitsstudie handelt es sich nicht um spezifische Investitionen in Sachkapital. Sie ist eher ein Hinweis auf hohe Humankapital-Spezifität, da sie als Alternative zur Aneignung des Wissens durch die gestaltenden Akteure gewertet werden kann. Der Wissensaufbau würde sehr aufwändig sein und wäre mit einem hohen Risiko verbunden, bei Nichtdurchführung der Transaktion wertlos zu sein. 1114 Mit Humankapital-Spezifität sind die transaktionsbezogenen Investitionen in Humankapital gemeint. Solche eignen sich ausschließlich zur Durchführung der Transaktion und sind in anderen Transaktionszusammenhängen weitgehend wertlos (vgl. Abschnitt 2.2.2.2.1). Die Folgen von erhöhter Humankapital-Spezifität sind deshalb stärkere Integration wie Überkreuz-Eigenkapitalbeteiligungen bei Entwicklungspartnerschaften (vgl. Pisano 1989, S. 124), vertikale Integration bei hohen Entwicklungskosten für Zwischenprodukte (vgl. Monteverde und Teece 1982, S. 212), oder integrierte Unternehmen bei hoher Kommunikationsintensität (vgl. Monteverde 1995, S. 1624).
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neben der Transaktionsfrequenz eine Subdimension der Häufigkeit.1115 Es wird der Transaktionsfrequenz vorgezogen, da Letztere sich im Rahmen der Literatur als nicht eindeutig der Transaktion selbst zuzurechnende Dimension herausstellte.1116 Zudem gibt es in der Literatur eher Bestätigung für den Einfluss des Transaktionsvolumens bei der Entstehung von Governance.1117 Ferner erwies sich das Transaktionsvolumen als wichtige Transaktionseigenschaft in der Gegenstandstheorie.1118 In der Gegenstandstheorie wurde das Transaktionsvolumen als Hürde für das Gelingen der Neukontextualisierung beschrieben. Ein höheres Transaktionsvolumen erhöht den Bedarf an Handlungssicherheit, da die Akquisition des notwendigen Kapitals eher infrage steht. Die Gefahr des Scheiterns aufgrund von Mitgliedermangel wächst mit steigendem Transaktionsvolumen, da es weniger wahrscheinlich ist, dass wenige Mitglieder große Kapitalvolumina aufbringen können.1119 Auch das Ausscheiden eines Mitglieds ist dann umso kritischer, je wahrscheinlicher es ist, dass das benötigte Kapital nicht eingesammelt werden kann. Meist gilt, dass je mehr Kapital benötigt wird, auch umso mehr Mitglieder benötigt werden. Das erhöht den Bedarf an Handlungssicherheit im Gründungsprozess. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass c. p. die Mitgliederbindung bei einer Steigerung des Transaktionsvolumens erhöht ist, um zusätzliche Handlungssicherheit herzustellen. Folglich kann Hypothese H2 abgeleitet werden: H2:
Je höher das Transaktionsvolumen ist, desto höher ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Die Unsicherheit wird hier bewusst nicht als Transaktionsdimension in das Modell aufgenommen. Es sprechen unterschiedliche Gründe für dieses Vorgehen: 1115 Vgl. Abschnitt 2.2.2.2.3. Die Häufigkeit wird in der Literatur in die Transaktionsfrequenz und das Transaktionsvolumen differenziert (vgl. Klein 1989, S. 255, und Macher und Richman 2008, S. 7). 1116 Mit der Transaktionsfrequenz ist die Anzahl gleicher Transaktionen gemeint, wohingegen das Transaktionsvolumen den Umfang einer Transaktion bezeichnet. Wie in Abschnitt 2.2.2.2.3 ausgeführt, sind die empirischen Ergebnisse für die Transaktionsfrequenz gemischt. Als Ursache dafür wird angeführt, dass Transaktionsfrequenz und Transaktionsvolumen unterschiedliche Eigenschaften einer Transaktion messen: Die Transaktionsfrequenz scheint Überschneidungen mit dem Konzept sozialer Beziehungen, also dem Transaktionskontext, zu haben, da häufigere Transaktionen auf einen Beziehungsaufbau hindeuten. Folglich ist die Transaktionsfrequenz nicht ausschließlich eine Transaktionseigenschaft (vgl. Abschnitt 2.2.2.2.3). 1117 Die Hypothese lautet dabei: Je größer das Transaktionsvolumen ist, desto eher können die zusätzlichen Governance-Kosten von hybriden Organisationsformen und Unternehmen kompensiert werden (vgl. Williamson 1990, S. 85). Beispielsweise konnte dieser Effekt für die Integration von Absatzkanälen international agierender Unternehmen (vgl. Klein et al. 1990, S. 205), die Ausgestaltung von Verträgen (vgl. Leffler und Rucker 1991, S. 1084) und in Metaanalysen bestätigt werden (vgl. Crook et al. 2012, S. 70). 1118 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.2. 1119 Ein hohes Transaktionsvolumen zeigt sich auch in einer Studie zum Gründungserfolg von genossenschaftlich verfassten Bürgerenergiegesellschaften als Gründungshemmnis (vgl. Boon und Dieperink 2014, S. 304–305).
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
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Zunächst ist anzumerken, dass es sich bei den hier formulierten Hypothesen nicht um einen klassischen Test der Transaktionskostentheorie handelt, bei der die Transaktionsdimensionen parallel und vollständig getestet werden sollen.1120 Das hier entwickelte Modell orientiert sich an den Erkenntnissen aus der Gegenstandstheorie und der Literatur. Besonders gewichtig für eine Nichtberücksichtigung der Unsicherheit ist daher die Tatsache, dass der Handlungssicherheit in der Gegenstandstheorie eine Schlüsselfunktion zukommt und es hier Überschneidungen mit dem Unsicherheitskonzept der Transaktionskostentheorie gibt.1121 Dabei wird die Handlungssicherheit in dieser Arbeit als Wirkzusammenhang zwischen der abhängigen und den unabhängigen Variablen aufgefasst.1122 Es handelt sich bei allen genannten Hypothesen somit um den Zusammenhang zwischen Faktoren, die Handlungssicherheit beeinflussen oder von dieser abhängig sind. Eine gesonderte Hypothese zur Unsicherheit im Sinne der Transaktionskostentheorie würde folglich redundant oder verkürzt erscheinen. Weiter wurde in dem Studiendesign bewusst auf das Voranstellen von Verhaltensannahmen über den Akteur verzichtet. Williamson begründet die Unsicherheit aber gerade mittels der Verhaltensannahmen des Opportunismus und der begrenzten Rationalität.1123 Die Formulierung einer Hypothese zum Unsicherheitskonzept der Transaktionskostentheorie stünde demnach im Kontrast zur hier gewählten Vorgehensweise. Eine eingehende Erläuterung der Unterschiede zwischen der Transaktionskostentheorie und dem hier präsentierten Modell der Governance-Entstehung wird an späterer Stelle in Abschnitt 4.2.2 präsentiert. 3.2.3.2 Gründungskontext 3.2.3.2.1 Sozio-Geografie 3.2.3.2.1.1 Sozialkapital Die in der Gegenstandstheorie beschriebene Governance-Entstehung findet eingebettet in einem Gründungskontext statt. Die Eigenschaften des Gründungskontexts sind exogene Rahmenbedingungen, die im Prozess der Neukontextualisierung von den Initiatoren und potenziellen Mitgliedern bezüglich ihrer Wirkung auf die Handlungssicherheit interpretiert werden und somit für die Entwicklung von erwartungsstabilisierenden Mechanismen einer niedrigeren Reichweite1124 – hier der Ausgestaltung der
1120 Vgl. Abschnitt 2.2.2.2. 1121 Siehe hierzu auch die spätere Diskussion zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Gegenstandstheorie und Transaktionskostentheorie in Abschnitt 4.2.2. 1122 Die Vermutung, dass die Unsicherheit von Kontextfaktoren abhängig ist, wird auch bei Williamson (1991, S. 291–292) selbst angedeutet. 1123 Vgl. Williamson 1990, S. 64–68. 1124 Vgl. Abschnitt 2.1.2.1 und Williamson 2000, S. 597.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
Governance-Struktur Genossenschaft – von Bedeutung sind. In solchen Gründungskontexten, in denen ein höheres Maß an Handlungssicherheit vorhanden ist, muss die entstehende Governance weniger Handlungsunsicherheitsdefizite ausgleichen. Für das Governance-Attribut Mitgliederbindung ist somit zu schlussfolgern, dass dieses in solchen Gründungskontexten, in denen eine hohe Handlungssicherheit vorherrscht, weniger restriktiv konfiguriert ist.1125 Die qualitativ-explorative Untersuchung zeigte, dass der Gründungskontext weiter zu differenzieren ist. Deshalb wird in dem nun folgenden Abschnitt für jeden Einflussfaktor der Sozio-Geografie und der Genossenschaftspopulation eine Hypothese entwickelt, die den vorgenannten Zusammenhang zwischen Gründungskontext und Mitgliederbindung thematisiert. Zunächst werden Hypothesen zum Einfluss des Sozialkapitals und der in diesem Zusammenhang bedeutenden Konzepte der Eingebundenheit in soziale Einheiten, der gemeinsamen Normen und der Bedeutung von sozialem Vertrauen1126 vorgestellt. Wie in der Gegenstandstheorie geschildert, erhöhen bestehende soziale Strukturen1127 im Gründungskontext die Handlungssicherheit für Initiatoren und potenzielle Mitglieder.1128 Die Kommunikation ist in sozialen Einheiten erleichtert, weil diese Begegnungsräume darstellen, in denen der Gründungsprozess organisiert werden kann. Das Vorhandensein sozialer Einheiten schafft zudem neben der Sicherheit im Gründungsprozess auch nach dem Beitritt eines potenziellen Mitglieds für dieses Sicherheit, da das Mitglied durch die Einbindung in eine soziale Struktur stärkere Kontrolle über die Energiegenossenschaft ausüben kann, als ihm dies ohne die Zugehörigkeit zu einem latenten Mitgliederblock möglich wäre. Infolge der erhöhten Handlungssicherheit durch ausgeprägte soziale Strukturen wird das Bedürfnis der Initiatoren c. p., Handlungssicherheit durch Mitgliederbindung zu erzeugen, geringer. Dieser Zusammenhang zwischen sozialer Struktur und der Entstehung von Governance ist auch Gegenstand der transaktionskostentheoretischen Forschung.1129 Soziale Struktur wird beispielsweise als Substitut für formale Governance und Integration angeführt.1130 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass soziale Beziehungen zwischen den Transaktionspartnern die Transaktionskosten verändern.1131 Soziale Beziehungen infolge vormaliger Transaktionen reduzieren die Transaktionskosten und beeinflussen
1125 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 1126 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1. 1127 In der Gegenstandstheorie wurden soziale Strukturen als „Eingebundenheit in soziale Einheiten“ (Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1) bezeichnet. 1128 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1. Siehe hierzu auch Putnam (1993, S. 162) und seine Argumentation, dass soziale Strukturen den ökonomischen Erfolg fördern und zur Qualität des politischen Systems beitragen. 1129 Hier sei angemerkt, dass sozialen Strukturen neben einem Einfluss auf die Entstehung von Governance ein positiver Effekt für zahlreiche sozio-ökonomische Faktoren zugeschrieben wird (vgl. Putnam 2001). 1130 Vgl. Abschnitt 2.2.2.3.1.1. 1131 Vgl. Gulati 1995a, Dyer 1997 und Uzzi 1999.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
193
somit die Auswahl einer geeigneten Governance-Struktur.1132 Neben der direkten Beziehung der Akteure wirkt ihre Zugehörigkeit zu gemeinsamen sozialen Netzwerken in dieselbe Richtung.1133 Die Zugehörigkeit zu gemeinsamen sozialen Netzwerken dient – substitutiv zur Governance – der Steuerung von Transaktionen.1134 Anders formuliert, besteht die Hypothese darin, dass stärkere Beziehungen der Transaktionspartner die Entstehung von Governance in der Weise beeinflussen, dass weniger Integration der Akteure notwendig wird.1135 Ein Mangel an sozialer Struktur würde folglich stärkere Integration erforderlich machen. Zusammengenommen bestätigen die angeführten Quellen die in der Gegenstandstheorie zusammengefassten Beobachtungen und bestärken die hier angelegte Hypothese eines substitutiven Zusammenhangs zwischen sozialer Struktur und Mitgliederbindung. Des Weiteren wird in der Literatur ein Zusammenhang zwischen sozialer Struktur und dem Gründungserfolg von hybriden Organisationsformen1136 und auch Genossenschaften1137 hergestellt, was die Aussage der Gegenstandstheorie bekräftigt, dass ein Mehr an sozialen Strukturen die Handlungssicherheit erhöht. Darüber hinaus wird die Entstehung und Entwicklung von Genossenschaften in der Literatur mit dem Sozialkapitalkonzept in Verbindung gebracht.1138 Die soziale Struktur wird als Voraussetzung und Ausgangspunkt für die Entstehung formaler Governance von Genossenschaften betrachtet.1139 Manche Autoren gehen deshalb davon aus, dass analog zum Preismechanismus des Marktes und der Hierarchie in Unternehmen, Genossenschaften auf dem Steuerungsmechanismus des Sozialkapitals beruhen.1140 Im übertragenen Sinne spricht auch dies für den positiven Einfluss sozialer Struktur auf die Handlungssicherheit bei der Gründung von Energiegenossenschaften.
1132 Vgl. Gulati 1995a, S. 85–86. 1133 Vgl. Gulati 1995b, S. 622–624. 1134 Vgl. Uzzi 1996, S. 674. Auch Ménard (1996a, S. 180) stellt die besondere Bedeutung von sozialer Einbettung für die Funktionsweise hybrider Organisationsformen heraus. 1135 Vgl. Granovetter 1985, Jones et al. 1997, S. 911 und S. 913, und Uzzi 1999. 1136 Vgl. Larson 1992, Larson und Starr 1993 und Grandori und Soda 1995. 1137 Vgl. Draheim 1952, S. 26, Valentinov 2004 und Hatak et al. 2011. Eine aktuelle Fallstudie zu Bürgerinitiativen im Bereich erneuerbarer Energien stellt ebenfalls eine hohe Bedeutung der Einbettung solcher Initiativen in soziale Strukturen fest (vgl. Becker et al. 2017, S. 32–33). Siehe zur Bedeutung sozialer Struktur für den Gründungserfolg von Bürgerenergiegesellschaften (insbesondere genossenschaftlich verfassten) auch Boon und Dieperink (2014, S. 305). 1138 Vgl. Hatak et al. 2011, S. 3–5. Siehe auch Mautz et al. (2018, S. 605–606), welche die Bedeutung sozialer Struktur für Bürgerenergiegesellschaften (damit sind auch Energiegenossenschaften gemeint) beschreiben. Eine qualitative Analyse des Entstehungsprozesses von Bioenergiedörfern (diese sind häufig als Genossenschaften organisiert) kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass lokales Sozialkapital für den Gründungserfolg von Bioenergiedörfern besonders relevant ist (vgl. Bock und Polach et al. 2015, S. 134). 1139 Vgl. Jussila et al. 2012, S. 14, und Ruben und Heras 2012. 1140 Vgl. Valentinov 2004, S. 5.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
Die angeführte Literatur und auch der Abschnitt 2.2.2.3.1.1 verdeutlichen, dass soziale Struktur sowohl direkt (anhand von Beziehungen) als auch indirekt (durch die Existenz von sozialen Netzwerken) hinsichtlich einer Wirkung auf die Entstehung von Governance untersucht wurde. Mit Verweis auf die Bedeutung sozialer Netzwerke in der Gegenstandstheorie und auch aufgrund einer notwendigen Fokussierung wird Hypothese H3a in dieser Arbeit bezüglich eines indirekten Zusammenhangs zwischen sozialen Beziehungen und der Ausgestaltung von Governance formuliert: H3a: Je stärker soziale Netzwerke im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt sind, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Wenn die potenziellen Mitglieder der Energiegenossenschaft über gemeinsame informelle Institutionen verfügen, erhöht dies die Handlungssicherheit, wie in der Gegenstandstheorie dargelegt wurde.1141 Die Ursache besteht darin, dass Abstimmungskosten durch gemeinsame Normen reduziert werden und Konsensentscheidungen eher wahrscheinlich sind. Allein die Kenntnis des Normengerüsts, an dem sich andere potenzielle Mitglieder orientieren, erleichtert die Einschätzung zur eigenen Passung eines Mitglieds und erhöht somit dessen Handlungssicherheit in der Beitrittssituation. Dem oben geschilderten Wirkzusammenhang folgend, werden formale Governance-Mechanismen also im Fall von geteilten Normen eher entbehrlich. Der geschilderte substitutive Zusammenhang zwischen geteilten informellen Institutionen und formalen Governance-Mechanismen wird in der Literatur ebenfalls thematisiert.1142 Eine Untersuchung zeigt, dass gemeinsame informelle Institutionen der Transaktionspartner hierarchische Governance-Strukturen überflüssig machen, die üblicherweise zu erwarten gewesen wären.1143 Zudem wird die Steuerungsleistung spezieller Governance-Strukturen, wie die des sogenannten Japanischen Unternehmens, durch das Zusammenwirken von informellen Institutionen des Kontexts mit der Governance-Struktur erklärt.1144 Auch Ländervergleiche bestätigen den geschilderten Zusammenhang, indem sie die Präferenz für Governance-Strukturen anhand von kulturellen Unterschieden begründen.1145 Wenngleich nicht für jede informelle Institution eine substitutive Beziehung mit formaler Governance zu vermuten ist, so kann davon ausgegangen werden, dass die Abwesenheit informeller Institutionen allgemein deutlich umfangreichere Spezifikationen in Verträgen zur Folge hätte.1146
1141 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1. 1142 Vgl. Abschnitt 2.2.2.3.1.2. 1143 Vgl. Greif 1993, S. 542–543. 1144 Vgl. Dore 1983, S. 459, und Aoki 1990, S. 23. 1145 Vgl. Whitley 1990, S. 68–69, oder Whitley 1991, S. 1. 1146 Eine Welt ohne Konventionen, moralisches Handeln oder gemeinsame Normen wäre von großer Unsicherheit geprägt und würde die Erwartungsstabilisierung durch niedrigere Ebenen erwartungsstabilisierender Mechanismen umso notwendiger machen (vgl. Abschnitte 2.1.1.4 und 2.1.2).
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
195
Außer auf die Beziehung zwischen zahlreichen informellen Institutionen und Governance-Strukturen wird in der Literatur auch auf die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen einzelnen informellen Institutionen und Governance-Strukturen eingegangen.1147 Die Fokussierung eines solchen Zusammenhangs erscheint hier ebenfalls zweckmäßig, da die qualitativ-explorative Untersuchung mit der gegenseitigen Hilfsbereitschaft eine besonders für die Energiegenossenschaft wichtige informelle Institution identifiziert hat,1148 deren Bedeutung darüber hinaus auch in anderen Arbeiten zu Energiegenossenschaften konstatiert wird.1149 Das Konzept der gegenseitigen Hilfsbereitschaft kann als Synonym zu dem in der Literatur diskutierten Konzept der Reziprozität angesehen werden, welches als informelle Institution im Rahmen des Sozialkapitals Gegenstand der Forschung ist.1150 Reziprozität meint im positiven Fall die Bereitschaft von Akteuren, freundliche Handlungen zu erwidern, ohne eine konkrete Gegenleistung zu verlangen.1151 Auch die gegenseitige Hilfsbereitschaft beruht auf diesem Prinzip: Die Hilfe wird geleistet, ohne eine konkrete Gegenleistung zu erwarten. Es besteht lediglich die Erwartung, dass das Gegenüber grundsätzlich ebenfalls bereit wäre, Hilfe anzubieten. Reziprozitätsnormen sind auch Gegenstand in der einschlägigen Genossenschaftsliteratur. Das Prinzip der Gegenseitigkeit wird als Kernelement der genossenschaftlichen Organisation bereits mit Bezug auf frühe Formen von Genossenschaften genannt.1152 Für die herausragende Stellung von Reziprozitätsnormen für die Genossenschaft spricht auch die Auffassung in der Literatur, dass Reziprozität als Steuerungsmechanismus von Genossenschaften anzusehen sei.1153 Zudem wird die Kooperativneigung1154 der Bevölkerung, die eine wichtige Voraussetzung für die Gründung von Genossenschaften ist,1155 auf das Vorhandensein von Reziprozitätsnormen zurückgeführt.1156 Ferner findet sich in der Literatur die Hypothese,
1147 So werden Reziprozitätsnormen beispielsweise als notwendige Kontextbedingung für die Entstehung von Netzwerkorganisationen genannt (vgl. Larson 1992, S. 76). Auch bestätigt eine Umfrage, dass soziale Normen mit Bezug zum Thema erneuerbare Energien die Bereitschaft der Befragten steigern, sich in lokalen Energieinitiativen zu engagieren (vgl. Kalkbrenner und Roosen 2016, S. 66). 1148 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1. 1149 Energiegenossenschaften sind insbesondere wegen des Prinzips der Selbstorganschaft auf die Hilfsbereitschaft ihrer Mitglieder angewiesen (vgl. Poppen 2015, S. 22–25). 1150 Vgl. Diekmann 2004, S. 487, und Freitag und Traunmüller 2008, S. 225–227. 1151 Vgl. Fehr und Gächter 2000, S. 160, und Fußnote 148. 1152 Vgl. Müller 1976, S. 46. 1153 Vgl. Lang und Roessl 2011, S. 727. 1154 Die Kooperativneigung meint die Bereitschaft der Akteure, sich zur Durchführung von Transaktionen in Genossenschaften zu organisieren (vgl. Draheim 1952, S. 21–22). 1155 Vgl. Draheim 1952, S. 22–33, und Müller 1976, S. 77–80. 1156 Vgl. Draheim 1952, S. 21–22, und Jussila et al. 2012, S. 20.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
dass sich die Ausprägung von Reziprozitätsnormen im Gründungskontext auf die Gestaltung formaler Governance-Mechanismen in Genossenschaften auswirkt.1157 Insofern wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Ausprägung der sozialen Norm Reziprozität im Gründungskontext die wahrgenommene Handlungssicherheit und damit die Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften beeinflusst. Sowohl die substitutive Beziehung zwischen informellen Institutionen und Governance im Allgemeinen als auch die Bedeutung von Reziprozitätsnormen für die Gründung von Genossenschaften im Besonderen dienen somit als Begründung für die nachfolgend formulierte Hypothese H3b: H3b: Je stärker Reziprozitätsnormen im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt sind, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Auch das Niveau sozialen Vertrauens wurde im Rahmen der Gegenstandstheorie thematisiert.1158 Das Abwenden von Vertrauensverlusten ist ein wichtiges Motiv für Handlungen der Genossenschaftsinitiatoren. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass soziales Vertrauen die Handlungssicherheit steigert. Die Ergebnisse der Gegenstandstheorie sprechen somit auch hier für eine substitutive Beziehung zwischen sozialem Vertrauen und formalisierter Governance. Ein solcher Zusammenhang ist zudem Gegenstand der transaktionskostentheoretischen Forschung. Sozialem Vertrauen als Dimension des Sozialkapitals1159 wird grundsätzlich ein Einfluss bei der Entstehung von Governance attestiert.1160 Im Kern besteht die Hypothese dabei darin, dass zusätzliches Vertrauen zwischen den Transaktionspartnern mit einer Reduktion der Transaktionskosten einhergeht.1161 Folglich verändert die Einführung des Vertrauenskonzepts in die klassische Transaktionskostentheorie die Selektion von Governance-Strukturen dahingehend, dass beispielsweise höhere Faktorspezifität nicht zwangsläufig zu hierarchischen Governance-Strukturen führt.1162 Auch in der Literatur besteht für Vertrauen also die Annahme, dass dieses als Substitut für formale GovernanceMechanismen fungiert. Soziales Vertrauen hat zudem eine positive Wirkung auf die Bereitschaft der Akteure, sich der Unsicherheit von unvollständigen Verträgen auszusetzen, wie sie für hybride Organisationsformen typisch sind.1163 Die förderliche Wirkung von Vertrauen
1157 Vgl. Jussila et al. 2012, S. 22, und Ruben und Heras 2012. 1158 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.1. 1159 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2. Siehe auch van Deth 2003, S. 83, und Freitag und Traunmüller 2008, S. 225–227. 1160 Vgl. Abschnitt 2.2.2.3.1.3 sowie Zucker 1986, S. 4, und Jones et al. 1997, S. 911. 1161 Vgl. Dyer 1997, S. 552, und Dyer und Chu 2003. 1162 Vgl. Chiles und McMackin 1996, S. 91. 1163 Vgl. Ménard 2004, S. 363.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
197
wurde deshalb für die Entstehung von Allianzen zwischen kleinen Unternehmen,1164 für Netzwerkorganisationen1165 und für den Zusammenschluss von Akteuren in Genossenschaften1166 thematisiert. Empirisch konnte gezeigt werden, dass das wahrgenommene Vertrauen der Mitglieder mit bestimmten Konfigurationen genossenschaftlicher Governance korreliert.1167 Das Vorhandensein von Vertrauen wird zudem für die unterschiedlich starke Verbreitung von Genossenschaften weltweit in Betracht gezogen.1168 In einer Fallstudie mit Genossenschaften zeigte sich zudem, dass je nach Vertrauensangebot des lokalen Gründungskontexts ihre Governance variiert.1169 Darüber hinaus zeigt eine aktuelle Befragung, dass Vertrauen die Bereitschaft steigert, sich in einer lokalen Energieinitiative finanziell oder mit ehrenamtlicher Arbeit zu engagieren.1170 Die besondere Bedeutung von Vertrauen für hybride Organisationsformen motivierte manche Autoren gar dazu, Vertrauen als zentralen Steuerungsmechanismus hybrider Organisationsformen zu definieren: Das Vertrauen der Akteure wurde dazu neben dem Preismechanismus für Markttransaktionen und der Hierarchie in Unternehmen als eigenständiger Austauschmechanismus definiert.1171 Wie in Abschnitt 2.1.2.2 bereits eingeführt, kann das Vertrauenskonzept in unterschiedliche Komponenten differenziert werden. Wenngleich auch für Vertrauen als Kalkül1172 und Vertrauen als Ergebnis von Beziehung1173 eine Wirkung auf die entstehende Governance beschrieben wird, so steht in dieser Arbeit soziales Vertrauen im Untersuchungsfokus.1174 Die Begründung dafür liegt insbesondere in der Tatsache, dass die Gegenstandstheorie soziales Vertrauen thematisiert und Vertrauen als Beziehungsaspekt in dieser Arbeit nicht im Fokus steht. Analog zu den Überlegungen der Gegenstandstheorie und der Literatur, die einen Zusammenhang zwischen sozialem Vertrauen und Governance beschreibt, wird Hypothese H3c formuliert.
1164 Vgl. Street und Cameron 2007, S. 250–251. 1165 Vgl. Larson 1992, S. 76. 1166 Vgl. Ole Borgen 2001, S. 211, und James, Jr. und Sykuta 2006, S. 135. 1167 Vgl. James, Jr. und Sykuta 2005, S. 547 und S. 574, und Ruben und Heras 2012. 1168 Vgl. Jones und Kalmi 2009. 1169 Vgl. Lang und Roessl 2011. 1170 Vgl. Kalkbrenner und Roosen 2016, S. 66. Siehe zur Bedeutung von Vertrauen als Motiv, sich in Energiegenossenschaften zu engagieren auch Bauwens (2016). In einer aktuellen Arbeit beschreiben Büscher und Sumpf (2018, S. 154–155) zudem die zentrale Stellung von Vertrauen für die Existenz von Energiegenossenschaften und anderen Formen der Bürgerbeteiligung an der Energiewende. 1171 Vgl. Bradach und Eccles 1989. 1172 Vgl. Williamson 1993, S. 486. 1173 Vgl. Gulati 1995a, S. 85. 1174 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2.
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H3c:
3 Modellentwicklung und Prüfung
Je stärker soziales Vertrauen im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
3.2.3.2.1.2 Regionalstruktur Die durch die Initiatoren und potenziellen Mitglieder wahrgenommene Handlungssicherheit wird neben dem Sozialkapital auch durch weitere Faktoren des sozio-geografischen Gründungskontexts beeinflusst, die hier als Regionalstruktur zusammengefasst sind. Mit der Regionalstruktur sind in der Gegenstandstheorie ausgewählte strukturräumliche Gegebenheiten der Gründungsumwelt gemeint.1175 Es werden dabei die Konzepte Ländlichkeit, Bevölkerungsstabilität und Umweltorientierung abgegrenzt, für die nun jeweils eine Hypothese bezüglich ihres Einflusses auf die Governance-Entstehung formuliert wird.1176 Für ländliche Strukturen wird gegenüber städtischen Strukturen ein vereinfachter Gründungsprozess in der Gegenstandstheorie beschrieben, da die Kommunikation in Dörfern oft besser eingeübt ist als in städtischen Gebieten. Bereits bekannte Kommunikationskanäle können erneut genutzt werden. Zudem sind in Dorfgemeinschaften Referenzen für erfolgreiche lokale Kooperation eher wahrscheinlich als in städtischen Quartieren. Ein potenzielles Mitglied muss aufgrund der geringeren Siedlungsdichte zudem weniger Akteure kennen, um einen vollständigen Überblick über seine potenziellen Partner zu haben, was ihm die Bewertung des Beitritts zur Genossenschaft erleichtert. Insgesamt fällt es den Initiatoren und potenziellen Mitgliedern auf dem Land leichter, die Erfolgswahrscheinlichkeiten für die Transaktion einzuschätzen. In der Folge besteht höhere Handlungssicherheit in ländlichen Regionen, was gemäß dem hier zugrundeliegenden Wirkzusammenhang1177 eine weniger restriktive Ausgestaltung der Mitgliederbindung nahelegt.1178 Die Stadt-Land-Unterscheidung wird auch in der Literatur als bedeutender Einflussfaktor für die Entstehung von Genossenschaften thematisiert. Die Unterschiedlichkeit der Governance von Genossenschaften auf dem Land und in der Stadt zeigt sich beispielsweise in einer historischen Betrachtung der Entwicklung des Genossenschaftswesens.1179 Genossenschaften entwickelten sich in Städten 1175 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2. Die Kontextualisierung der Organisationsforschung wird generell in der Literatur gefordert (vgl. Rousseau und Fried 2001, S. 2–3). Die Bedeutung regionaler Kontextbedingungen für Organisationen im Bereich der Energiewende wird in mehreren Arbeiten hervorgehoben (vgl. Späth und Rohracher 2010, Becker et al. 2016b, Lutz et al. 2017 und Klagge und Schmole 2018). 1176 Auch für die Hypothesen zur Regionalstruktur gilt der bereits dargelegte Wirkzusammenhang (vgl. Abschnitt 3.2.1). 1177 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 1178 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2. 1179 Vgl. Müller 1976.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
199
und auf dem Land in unterschiedlichen Systemen: Raiffeisen und das nach ihm benannte ländliche Genossenschaftswesen unterschied sich grundsätzlich von dem auf Schulze-Delitzsch zurückgehenden Genossenschaftswesen in Städten.1180 Beide Systeme prägten die Governance der einzelnen Genossenschaften jeweils unterschiedlich.1181 Als Ursache hierfür werden die divergierenden Anforderungen ländlicher und städtischer Gründungskontexte angeführt.1182 Die Literatur bestätigt somit die Gegenstandstheorie hinsichtlich der Identifikation der Stadt-Land-Unterscheidung als Einflussfaktor bei der Governance-Entstehung.1183 In einer anderen Arbeit wird ein direkter Zusammenhang zwischen der Ländlichkeit und der Wahrscheinlichkeit für die Gründung von Genossenschaften postuliert1184 sowie auf Gründungsprobleme von Genossenschaften in Städten hingewiesen.1185 Das Dorf fungiere als begünstigender Faktor für die Gründung, da dieses häufig eine funktionierende Gemeinschaft der Bewohner biete, welche in städtischen Kontexten seltener anzutreffen sei.1186 Der genannte Zusammenhang zwischen Dorfgemeinschaft und der Begünstigung von Genossenschaftsgründungen kann als Indiz für den in der Gegenstandstheorie beschriebenen verstärkenden Effekt der Ländlichkeit auf die Handlungssicherheit interpretiert werden. Darüber hinaus zeigen Umfrageergebnisse, dass Bewohner suburbaner oder ländlicher Regionen in Deutschland eine erhöhte Bereitschaft haben, sich in lokalen
1180 Vgl. Müller 1976, S. 69–72. 1181 Insbesondere zeichneten sich die Raiffeisengenossenschaften ländlichen Typs dadurch aus, dass diese sich in ihrem Mitglieder-Einzugsbereich stark auf das Dorf beschränkten, eine Haftung aller Mitglieder mit ihrem gesamten Vermögen vorsahen, ihr Geschäftskapital auf die gesparten Einlagen der Mitglieder beschränkten und ein ehrenamtlich arbeitendes Management der Genossenschaft festschrieben (vgl. Müller 1976, S. 53). 1182 Vgl. Müller 1976, S. 70. 1183 Auch in einer neueren Untersuchung von Ruben und Heras (2012) zeigt sich, dass die Ländlichkeit die Ausgestaltung der Governance von Genossenschaften beeinflusst. Die Autoren dieser Arbeit argumentieren, dass insbesondere die Heterogenität der Bevölkerung zwischen städtischen und ländlichen Gründungskontexten variiert und die daraus resultierenden Sozialkapitalunterschiede ausschlaggebend für strukturräumlich unterschiedliche Governance-Strukturen sind (vgl. Ruben und Heras 2012, S. 477–480). 1184 Vgl. Draheim 1952, S. 26–28. Dieser Zusammenhang kann auch für Energiegenossenschaften beobachtet werden (vgl. Maron und Maron 2012, S. 122). 1185 Vgl. Draheim 1952, S. 29. 1186 Vgl. Draheim 1952, S. 26. Wenngleich davon auszugehen ist, dass Gründungen von Genossenschaften auch in Städten begünstigt sein können (vgl. Lutz et al. 2017, S. 12), nämlich dann wenn ausgeprägte Nachbarschaftsstrukturen vorherrschen und das Sozialkapital erhöht ist, soll in dieser Arbeit der Ansicht gefolgt werden, dass insbesondere der ländliche Raum Vorteile für die Gründung von Genossenschaften bereithält und damit zusätzliche Handlungssicherheit bietet. Für diese Argumentation sprechen einerseits die Beobachtung in der Gegenstandstheorie und zum anderen die Tatsache, dass Sozialkapitalfaktoren im Modell der Governance-Entstehung berücksichtigt werden. Effekte, die beispielsweise auf besondere soziale Strukturen in Städten zurückzuführen sind, werden somit ebenfalls abgebildet (vgl. Abschnitt 3.2.3.2.1.1). Siehe auch Becker et al. (2016a, S. 234).
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Energieprojekten sowohl finanziell als auch durch ehrenamtliche Arbeit zu engagieren.1187 Andere empirische Ergebnisse deuten in eine ähnliche Richtung, indem sie in dünn besiedelten Regionen eine stärkere Bereitschaft für die Mitgliedschaft in Genossenschaften finden.1188 Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass Energiegenossenschaften in ländlichen Regionen auf eine größere Basis potenzieller Mitglieder zurückgreifen können und die Handlungssicherheit daher in ländlichen Regionen erhöht ist. Für die in dieser Arbeit vermutete Richtung des genannten Zusammenhangs spricht eine Arbeit, die besondere Transaktionskostenvorteile von genossenschaftlichen Governance-Strukturen auf dem Land konstatiert: Genossenschaften seien demnach besonders in ländlichen Räumen dazu in der Lage, Transaktionskosten für ihre Mitglieder zu senken.1189 Die Ursache wird darin gesehen, dass Genossenschaften auf dem Land das Vertrauen und die Reputation ihrer Mitglieder effektiver nutzen können, um Transaktionskosten zu senken, als andere Governance-Strukturen.1190 Dieser Argumentation folgend, bestünde dieser Vorteil für Genossenschaften in Städten nicht, was ihre Gründung dort unwahrscheinlicher macht und für dennoch stattfindende Gründungen geringere Handlungssicherheit bedeutet. Daraus abgeleitet und in Anbetracht des oben geschilderten Wirkzusammenhangs1191 wären Unterschiede in der Mitgliederbindung zu erwarten. Ferner wird die Ländlichkeit als erklärender Faktor für die unterschiedliche Verteilung von Energiegenossenschaften genannt. Es wird besonders die Abwesenheit von Elektrizitätsnetzgenossenschaften in Städten thematisiert, die auf die größere Heterogenität der Bevölkerung in Städten zurückzuführen sei.1192 Wenngleich sich dieses Ergebnis speziell auf Elektrizitätsnetzgenossenschaften bezieht, könnte die als ursächlich identifizierte Heterogenität der Bewohner in Städten auch für die Gründung anderer Genossenschaftstypen in Städten ein Hindernis darstellen. Eine geringere Heterogenität der Bevölkerung auf dem Land würde dafür sprechen, dass Initiatoren und potenzielle Mitglieder von Genossenschaften auf dem Land Vorteile in Bezug auf die Verfügbarkeit von Handlungssicherheit wahrnehmen. Darüber hinaus zeigt eine empirische Arbeit, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit mancher Genossenschaftstypen in ländlichen Regionen erhöht ist,1193 was ebenfalls die hier angelegte Hypothese stützt. In Anbetracht der Gegenstandstheorie und der angeführten Literatur wird davon ausgegangen, dass die Ländlichkeit ein relevanter Einflussfaktor des Gründungskontexts ist. Genossenschaften haben in ländlichen Kontexten Vorteile bei
1187 Vgl. Kalkbrenner und Roosen 2016, S. 66. 1188 Vgl. Jones et al. 2016, S. 429. 1189 Vgl. Bonus 1986. 1190 Vgl. Bonus 1986, S. 316–318. 1191 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 1192 Vgl. Hansmann 1996, S. 181. 1193 Vgl. Staber 1992, S. 1208.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
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der Gründung, woraus eine größere Handlungssicherheit für Initiatoren und potenzielle Mitglieder geschlussfolgert werden kann. Daraus lässt sich ein geringerer Bedarf an Mitgliederbindung von ländlichen Genossenschaften ableiten, was die Formulierung der Hypothese H4a motivierte. H4a: Je ländlicher der sozio-geografische Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Auch eine stabile Bevölkerungsstruktur vereinfacht die Ansprache potenzieller Mitglieder und erleichtert somit die Kommunikation im Rahmen der Neukontextualisierung. Hierbei besteht die grundsätzliche Annahme, dass längere Zugehörigkeit zu einem sozio-geografischen Kontext mit einer Konvergenz in den Einstellungen und Verhaltensweisen einhergeht. Dies vereinfacht die gegenseitige Beurteilung der potenziellen Mitglieder und hat eine Steigerung der Handlungssicherheit zur Folge. Die Herstellung von Handlungssicherheit durch Mitgliederbindung ist im Umkehrschluss weniger notwendig, woraus eine substitutive Beziehung zwischen der Stabilität der Bevölkerungsstruktur und der Mitgliederbindung resultiert.1194 Ein Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsstabilität und der Entstehung von Genossenschaften wird ebenso in der Literatur zu Genossenschaftsgründungen hergestellt. Ein Autor sieht beispielsweise in der Sesshaftigkeit der Bevölkerung eine Mindestvoraussetzung für die Entstehung von Genossenschaften1195 und stützt so die Argumentation der Gegenstandstheorie: Das Abwandern bereits integrierter Mitglieder kann eine Gefahr für die Genossenschaft darstellen, da dadurch Kapital verloren geht und die Mitgliederwerbung wiederholt werden muss, was ressourcenintensiv ist.1196 Starke Wanderungsbewegungen der Bevölkerung bedrohen folglich den Gründungserfolg, infolgedessen eine Reduktion der wahrgenommenen Handlungssicherheit durch Initiatoren und potenzielle Mitglieder wahrscheinlich ist. Die zusätzlich notwendige Handlungssicherheit muss wiederum durch formalisierte Governance wie die Mitgliederbindung hergestellt werden.1197 Eine weitere Untersuchung begründet die unterschiedliche Verteilung von Elektrizitätsnetzgenossenschaften in den Vereinigten Staaten mit der divergierenden Mobilität der Bevölkerung und den daraus erwachsenden Folgen: In Städten, so die Hypothese, gibt es weniger Eigenheimbesitzer und die Menschen sind tendenziell weniger sesshaft, was die Gründung von Elektrizitätsnetzgenossenschaften erschwerte.1198 Wenn eine instabile Bevölkerungsstruktur vorliegt, so die weitere Argumentation,
1194 1195 1196 1197 1198
Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2. Vgl. Draheim 1952, S. 24 und S. 29. Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2. Vgl. Abschnitt 3.2.1. Vgl. Hansmann 1996, S. 174–175.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
steigert dies die Wahrscheinlichkeit für eine erhöhte Heterogenität in der Bevölkerung.1199 In einem solchen Umfeld ist es herausfordernd, ausreichend Mitglieder zu gewinnen und zudem solche Governance-Strukturen zu etablieren, die Konflikten, resultierend aus der Heterogenität, gewachsen sind.1200 Diese Begründung wird zudem durch Arbeiten gestützt, die nahelegen, dass Mitgliederheterogenität in Genossenschaften die Entscheidungskosten erhöht, weil die kollektive Entscheidungsfindung durch das genossenschaftliche Demokratieprinzip1201 erschwert wird.1202 Die Einflusskosten1203 eines Mitglieds steigen mit wachsender Ungleichheit der Mitglieder an, wie anhand einer empirischen Untersuchung bestätigt werden konnte.1204 Um die Entscheidungskosten in der Genossenschaft zu begrenzen, so eine weitere Untersuchung, erfolgt die Satzungsausgestaltung mit Hinblick auf die antizipierte Mitgliederheterogenität.1205 Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstabilität und daraus resultierender Mitgliederhomogenität,1206 die zu einer Reduktion der Entscheidungskosten führt, spricht für die Feststellung der Gegenstandstheorie, dass Bevölkerungsstabilität die Handlungssicherheit erhöht. Potenzielle Mitglieder, die sich in einem Umfeld mit größerer Bevölkerungsstabilität für den Beitritt zu einer Energiegenossenschaft entscheiden, können eher erwarten, dass die Genossenschaft gegründet werden kann und die intendierten Ziele erreicht werden, weshalb weniger zusätzliche Handlungssicherheit durch erhöhte Mitgliederbindung erforderlich ist. Daraus folgt die Formulierung von Hypothese H4b: H4b: Je stabiler die Struktur der Bevölkerung im sozio-geografischen Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Ferner erhöht eine ausgeprägte Umweltorientierung der Bevölkerung die Chancen auf einen erfolgreichen Prozess der Mitgliederwerbung. Für Energiegenossenschaften ist der Klimaschutz ein zentrales Handlungsmotiv, das bei entsprechender Orientierung der lokalen Bevölkerung die Akzeptanz der neuen Organisation erhöht. Die erhöhte Akzeptanz der Genossenschaft erleichtert in der Folge die Mitgliederwerbung, da tendenziell eine größere
1199 Vgl. Hansmann 1996, S. 174–175. 1200 Vgl. Hansmann 1996, S. 174–179. 1201 Vgl. Abschnitt 2.1.4.1.1. 1202 Vgl. Staatz 1987b, S. 37–38, Hansmann 1996, S. 40, Boone und Ozcan 2014, S. 994, und Theurl und Kleene 2018, S. 254. 1203 Damit sind die Governance-Kosten gemeint, die ein Mitglied aufwenden muss, um Entscheidungen auf Ebene der Genossenschaft zu seinen Gunsten zu beeinflussen. 1204 Vgl. Iliopoulos und Hendrikse 2009, S. 60. 1205 Vgl. Zusman 1992, S. 361–362. 1206 Mitgliederheterogenität kann in Genossenschaften zahlreiche Ursachen haben und unter anderem aus den unterschiedlich lange beabsichtigten Mitgliedschaften in der Genossenschaft resultieren (vgl. Höhler und Kühl 2017, S. 7).
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
203
Zahl potenzieller Mitglieder dem Beitritt zur Genossenschaft aufgeschlossen gegenübersteht. Umgekehrt fehlt in Regionen mit geringer Umweltorientierung dieses Argument für einen Beitritt und alternative Gründe müssen gefunden werden, die potenzielle Mitglieder zum Beitritt motivieren. Insgesamt erhöht eine Steigerung der Umweltorientierung die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Gründung, was sich positiv auf die Handlungssicherheit auswirkt und zusätzliche Mitgliederbindung überflüssig macht.1207 Die Einstellung der lokalen Bevölkerung wird auch in der Literatur als bedeutender Einflussfaktor für die Entstehung von Genossenschaften behandelt.1208 Beispielsweise wird die geringere Verbreitung von Genossenschaften im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten darauf zurückgeführt, dass die Auffassung in der Bevölkerung vorherrschte, jeder Einzelne könne „durch eigene Fähigkeiten oder durch Glück schnell ‚reich‘ werden“1209. Diese Einstellung der potenziellen Mitglieder einer Genossenschaft steht im Kontrast zu einer ausgeprägten Kooperativneigung, die als wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Gründung angeführt wird.1210 In einer empirischen Untersuchung zur Entstehung von Genossenschaften in der Bio-Ethanol -Industrie kann der Einfluss der Einstellung der lokalen Bevölkerung gleichsam als maßgeblicher Faktor für die erfolgreiche Etablierung von Genossenschaften bestätigt werden.1211 Auch die unterschiedlich starke Verbreitung von Energiegenossenschaften in Europa wird auf die Einstellungen der lokalen Bevölkerung zu umweltpolitischen Themen zurückgeführt.1212 Die Legitimität der Genossenschaft ist folglich von einer Passung ihres Zwecks zu den vorherrschenden Werten im Gründungskontext abhängig.1213 Bei einer hohen Legitimität der Genossenschaft ist es wahrscheinlicher,
1207 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2. 1208 Umweltpolitische Diskurse in der Bevölkerung zum Klimawandel oder den Risiken von Atomenergie waren beispielsweise besonders bedeutsame Faktoren für die Entstehung dänischer Energiegenossenschaften (vgl. Mey und Diesendorf 2017, S. 4 und S. 6). Die Bedeutung des Umweltbewusstseins der lokalen Bevölkerung wird ebenfalls als Erfolgsfaktor für die Entstehung von niederländischen Bürgerenergiegesellschaften (insbesondere genossenschaftlich verfassten) berichtet (vgl. Boon und Dieperink 2014, S. 305). Die zentrale Stellung des Umweltbewusstseins für das Mitgliederpotenzial von Energiegenossenschaften in Deutschland stellen auch Masson et al. (2015) heraus. Siehe auch Kooij et al. (2018, S. 61). 1209 Draheim 1952, S. 25. 1210 Vgl. Draheim 1952, S. 25. Siehe zur Bedeutung der Einstellungen potenzieller Mitglieder für die Verbreitung von Genossenschaften auch die Zusammenfassung von Dorniok (2018, S. 216–217). 1211 Vgl. Boone und Ozcan 2014, S. 990. 1212 Bauwens et al. (2016, S. 145–146) argumentieren, dass in Ländern, in denen politische Initiativen zu Energiethemen eine besondere Rolle spielen (beispielsweise die Anti-Atomkraft Bewegung), eine stärkere Präsens von Energiegenossenschaften im Bereich der Windenergienutzung zu beobachten ist. 1213 Vgl. Ingram und Simons 2000, S. 25. Die regionalen Konflikte im Rahmen der Energiewende finden ihren Ursprung in Diskrepanzen zwischen den Zielen der lokalen Bevölkerung und den Absichten der Akteure der Energiewende (vgl. Becker et al. 2016b, S. 47). Die Passung der Einstellung von Akteuren der Energiewende und der Orientierung der lokalen Bevölkerung ist also eine wichtige Voraussetzung für ein möglichst geringes Konfliktpotenzial bei der Durchführung von Energiewendeprojekten.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
dass ihr ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.1214 Die Verfügbarkeit von genossenschaftlichen Unterstützungsstrukturen1215 ist umso wahrscheinlicher, je stärker die Gesinnung der Bevölkerung des Gründungskontexts mit den Zielen der Genossenschaft übereinstimmt.1216 Aktuelle Umfrageergebnisse deuten ebenfalls in diese Richtung: Die Umweltorientierung einer Person beeinflusst ihre Bereitschaft, sich durch ehrenamtliche Tätigkeit für lokale Energieinitiativen einzusetzen und in solche Gesellschaften zu investieren.1217 Die Kongruenz zwischen den Zielen potenzieller Mitglieder, die ein hohes Interesse an Umweltthemen haben, und Energiegenossenschaften, deren primäres Handlungsfeld die Adressierung von Umweltthemen im lokalräumlichen Umfeld ist, dürfte ihre Gründung vereinfachen und in der Konsequenz zu größerer Handlungssicherheit führen. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Argumente wird Hypothese H4c formuliert: H4c: Je höher die Umweltorientierung der Bevölkerung im sozio-geografischen Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
3.2.3.2.2 Genossenschaftspopulation In der qualitativ-explorativen Untersuchung zeigte sich, dass die Existenz von anderen Energiegenossenschaften ein wichtiger Kontextfaktor bei der GovernanceEntstehung ist. Alle bereits gegründeten Energiegenossenschaften sind Teil einer Population, die als Referenz bei einer Neugründung angeführt wird.1218 Die existierenden Energiegenossenschaften sind Vorbilder und regen Nachahmung und
1214 Vgl. Staber 1989a, S. 62–63. 1215 Vgl. Müller 1976, S. 64, und Aldrich und Stern 1983, S. 400–402. 1216 In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass eine qualitative Untersuchung zu regionalen Energiewendediskursen zeigen kann, dass die öffentliche Auseinandersetzung der Bevölkerung mit der Energiewende auch ein wichtiger Faktor für die Umsetzung lokaler Energiewendeprojekte ist (vgl. Späth und Rohracher 2010). 1217 Vgl. Kalkbrenner und Roosen 2016, S. 66. Siehe zur Bedeutung der Umweltorientierung einer Person als Motiv, sich in einer Energiegenossenschaft zu engagieren, auch Bauwens (2016). Die Umweltorientierung scheint insbesondere für die ersten Mitglieder von Energiegenossenschaften ein Beitrittsmotiv zu sein (vgl. Bauwens 2016, S. 283). 1218 Die Energiegenossenschaftspopulation wurde in der Gegenstandstheorie mittels der Energiegenossenschaftsdefinition in Abschnitt 3.1.2.1.1 und der daran anschließenden Systematisierung in Abschnitt 3.1.2.1.2 abgegrenzt (vgl. Fußnote 1011). Demnach zählen alle Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland zur hier gemeinten Population der Energiegenossenschaften. Siehe zur empirischen Eingrenzung einer Organisationspopulation auch die Populationsökologie Literatur (vgl. Hannan und Freeman 1977, Staber 1989b, S. 384, und Staber 1992, S. 1197). Bezüglich der empirischen Operationalisierung der Energiegenossenschaftspopulation sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass in der quantitativ-empirischen Modellprüfung eine Sub-
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
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gegenseitiges Lernen an. Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass eine große Energiegenossenschaftspopulation die Handlungssicherheit erhöht und deshalb die Population bei der Governance-Entstehung von Energiegenossenschaften eine Wirkung hat.1219 Der Zusammenhang zwischen einer Organisationspopulation und der Entstehung von Governance findet sich indirekt auch in der Transaktionskostentheorie,1220 wenngleich uneinheitliche Aussagen bezüglich der konkreten Wirkrichtung bestehen. Die klassische Transaktionskostentheorie geht von einem permanenten Wettbewerb um effiziente Governance-Strukturen aus. Das bedeutet, dass dauerhaft nur solche Governance-Strukturen bestand haben, die die größten Transaktionskosteneinsparungen realisieren.1221 Ein solcher Zusammenhang kann auch empirisch bestätigt werden: Das Anwachsen einer Organisationspopulation und dadurch ansteigender Wettbewerbsdruck senken die Überlebenswahrscheinlichkeit von ineffizienten Governance-Strukturen.1222 Eine größere Organisationspopulation wird folglich – entgegen den Ergebnissen der Gegenstandstheorie – als Ursache für gesteigerte Unsicherheit aufgefasst. Allerdings ist die Transaktionskostentheorie bezüglich der Effektrichtung nicht entschieden: Williamson stellte ebenfalls die Hypothese auf, dass die Erhöhung des Alters einer Industrie einen Rückgang der Unsicherheit bewirkt.1223 Wenngleich hier eingewendet werden könnte, dass es sich beim Alter einer Industrie und der Populationsgröße um zwei unterschiedliche Konstrukte handelt, so ist eine positive Korrelation zwischen beiden wahrscheinlich. Eine Erklärung für die uneinheitliche Bewertung eines Anwachsens der Organisationspopulation findet sich in der Populationsökologie-Forschung.1224 Hier wird von einem umgekehrt U-förmigen Zusammenhang zwischen der Größe einer Population und der Wahrscheinlichkeit für Neugründungen ausgegangen: Bei geringer
Population untersucht wird, die als Untersuchungsgesamtheit in Abschnitt 3.3.1.2 näher spezifiziert wird. 1219 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.2. 1220 Die Wechselwirkung zwischen Populationsökologie-Forschung und Transaktionskostentheorie wird deshalb als vielversprechender Ansatz zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie angesehen (vgl. Bigelow und Argyres 2008, S. 805, und Macher und Richman 2008, S. 25–26). 1221 Vgl. Williamson 1990, S. 26. 1222 Vgl. Silverman et al. 1997. Auch intraindustrielle Verdrängungsprozesse führen zu einem erhöhten Konkurrenzdruck mit der gleichen Wirkung auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von schlecht angepassten Governance-Strukturen (vgl. Park und Russo 1996 und Argyres und Bigelow 2007, S. 1332). 1223 Vgl. Williamson 1979, S. 254, und Williamson 1990, S. 91. 1224 Die Forschung zur Populationsökologie befasst sich mit der Entstehung und der Veränderung von Organisationspopulationen und konnte zeigen, dass die Population selbst ein zu berücksichtigender Kontextfaktor für jede neu gegründete Organisation ist (vgl. Hannan und Freeman 1987 und Staber 1989b).
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3 Modellentwicklung und Prüfung
Populationsgröße1225 steigt die Wahrscheinlichkeit für Gründungen langsam an und beschleunigt sich, je mehr Organisationen existieren.1226 Ab einer optimalen Populationsgröße kehrt sich der Effekt um und die Wahrscheinlichkeit weiterer Neugründungen nimmt ab.1227 Zwei gegenläufige Prozesse werden als Ursache für dieses Phänomen angeführt:1228 1. Legitimationsprozesse, die das Wachstum kleiner Populationen umso mehr fördern, je mehr Organisationen einer Population existieren.1229 Die Organisationen streben nach Vertrauen bei ihren Stakeholdern und müssen skeptische Kunden, Kreditgeber, Lieferanten und andere Ressourceninhaber von der Nützlichkeit ihrer Organisation überzeugen.1230 Initiatoren, die auf eine bereits etablierte Population verweisen können, haben folglich durch das Referenzieren größere Überzeugungskraft bei ihren Stakeholdern.1231 2. Steigt der Wettbewerb der Organisationen einer Population mit zunehmender Populationsgröße an, so führt die verstärkte Konkurrenz um Ressourcen zu einem verlangsamten Wachstum der gesamten Population. Der Konkurrenzdruck kann so stark zunehmen, dass es zu einem Verdrängungswettbewerb kommt.1232 Aufgrund der Beobachtung in der Gegenstandstheorie wird davon ausgegangen, dass während des Untersuchungszeitraums bis zum 31.12.2012 Legitimationsprozesse in der Population der Energiegenossenschaften überwogen haben, da das Referenzieren auf andere Energiegenossenschaften als Handlungssicherheit steigernd bewertet wurde.1233 Für eine solche Einschätzung spricht auch die Tatsache, dass die zweite Generation der Energiegenossenschaften erst seit der Novelle des GenG im Jahr 2006 erhebliche Dynamik erfahren hat,1234 also noch relativ jung ist und
1225 Das, was in dieser Arbeit als Populationsgröße definiert ist, wird in der PopulationsökologieForschung als Populationsdichte bezeichnet (vgl. Staber 1989b, S. 384). Aufgrund der Differenzierung des Populationsbegriffs für verschiedene Raumeinheiten (siehe Hypothese H6) wurde hier mit der Populationsgröße eine abweichende Bezeichnung gewählt. 1226 Vgl. Staber 1989b, S. 384. 1227 Vgl. Staber 1989b, S. 384. 1228 Vgl. Staber 1989b, S. 384–389. 1229 Der Legitimationsbegriff der Populationsökologie-Forschung wird differenziert in die kognitive Legitimation, die als Verbreitung des Wissens über eine neue Organisationsform aufgefasst wird und von welcher die sozio-politische Legitimation unterschieden wird (vgl. Aldrich und Fiol 1994, S. 648). Die sozio-politische Legitimation wird durch das Verhalten von Entscheidungsträgern und Stakeholdern erzeugt, indem diese die neue Organisationsform als angemessen in Bezug auf gültige Gesetze und Standards bezeichnen (vgl. Aldrich und Fiol 1994, S. 648). 1230 Vgl. Aldrich und Fiol 1994, S. 650. 1231 Vgl. Aldrich und Fiol 1994, S. 651–652. 1232 Vgl. Staber 1989b, S. 385. 1233 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.2 und Huybrechts und Mertens 2014, S. 207–208. 1234 Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.2.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
207
historische Genossenschaftspopulationen deutlich größer waren.1235 Auch andere Arbeiten gehen davon aus, dass Konkurrenzeffekte innerhalb der Population der Energiegenossenschaften bislang nicht oder höchstens in sehr geringem Umfang existieren.1236 Vor dem Hintergrund der Beobachtungen der Gegenstandstheorie und den Literaturbeiträgen wird hier Hypothese H5 formuliert. H5:
Je größer die Population der Energiegenossenschaften ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Neben einer Untersuchung des Effekts der Populationsgröße, bei der alle Energiegenossenschaften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden, soll hier auch die lokalräumliche Populationskonzentration als Einflussfaktor untersucht werden. Die Gegenstandstheorie zeigte, dass der räumlichen Nähe zwischen Energiegenossenschaften eine besondere Bedeutung zukommt. Die Nachbarschaft zwischen Energiegenossenschaften ermöglicht Lernprozesse und Erfahrungsaustausch und erhöht somit ebenfalls die Handlungssicherheit im Gründungsprozess.1237 Neben der Populationsgröße wird deshalb im Modell der Governance-Entstehung als zweite Subdimension die Populationskonzentration differenziert. Mit der Populationskonzentration ist die lokalräumliche Dichte der Energiegenossenschaftspopulation gemeint, also die Anzahl der Energiegenossenschaften in einem Teil des Raums, für den die Populationsgröße gemessen wird.1238 Durch diese Differenzierung ist es zugleich möglich, eventuell unterschiedlich starke Effekte der Populationsgröße und Populationskonzentration abzugrenzen. Die Literatur zur Populationsökologie-Forschung differenziert den Raum, in dem eine Population existiert, ebenfalls in weitere Sub-Einheiten.1239 Innerhalb
1235 Vgl. Holstenkamp 2015, S. 6. Dafür spricht auch eine Befragung von Genossenschaftsgründern, die die Bedeutung der „Wahrnehmung der Genossenschaft“ und ihr „Image“ für den Gründungserfolg herausstellt (vgl. Doluschitz et al. 2012, S. 30–31). Insbesondere die geringe Bekanntheit der Genossenschaft ist für die Gründung jedoch ein Problem, was darauf schließen lässt, dass Legitimationsprozessen eine große Bedeutung im Gründungsprozess zukommt (vgl. Doluschitz et al. 2012, S. 30–31). 1236 Nach den Ergebnissen von Müller et al. (2015a, S. 99–100) ist ein solcher Effekt – wenn überhaupt – lediglich nach dem in der quantitativ-empirischen Modellprüfung gewählten Untersuchungszeitraum vom 18.08.2006 bis 31.12.2012 (vgl. Abschnitt 3.3.1.2) zu beobachten. Allerdings gehen andere Arbeiten sogar davon aus, dass es bislang nicht zu einer vollständigen Diffusion von Energiegenossenschaften in Deutschland gekommen ist (vgl. Dorniok 2018, S. 223) und folglich Konkurrenzeffekte auch heute eher keine Rolle spielen. 1237 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.2. 1238 Konkret ist mit der Populationskonzentration die Populationsgröße in einem geografischen Teilraum wie einer Raumordnungsregion gemeint, also einer regionalen Raumeinheit der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Abschnitt 3.3.2.4). 1239 Vgl. Lomi 1995b, S. 111.
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3 Modellentwicklung und Prüfung
dieser Sub-Einheiten können separate Effekte für die dort existierenden Elemente einer Organisationspopulation untersucht werden.1240 Insbesondere dann, wenn Organisationen lokal verankert sind, was für Genossenschaften anzunehmen ist,1241 sind Effekte der Populationskonzentration von besonderer Bedeutung.1242 Organisationen besiedeln lokale Nischen,1243 innerhalb deren sie um Ressourcen konkurrieren. Je nach Ausprägung der Populationskonzentration spielen sich Legitimations- und Konkurrenzeffekte somit auf lokaler Ebene ab.1244 Auch hier gilt die Annahme, dass Legitimationsprozesse im Untersuchungszeitraum überwogen haben, was beispielsweise aufgrund der neu gegründeten lokalen genossenschaftlichen Netzwerke anzunehmen ist,1245 die eine Gemeinschaftsbildung1246 befördern sollen, indem sie einen Erfahrungsaustausch organisieren. Zudem ist empirisch zu beobachten, dass Energiegenossenschaften vermehrt in regional zusammenhängenden Räumen entstehen.1247 Bei einem Vorliegen von lokalräumlichem Konkurrenzdruck wäre eine solche Entwicklung eher unwahrscheinlich gewesen.1248 Ferner resümiert eine Untersuchung zum Gründungserfolg von Bürgerenergiegesellschaften, dass ein wichtiger Faktor für eine positive Wahrnehmung solcher Organisationen in der lokalräumlichen Co-Existenz ähnlicher Bürgerenergiegesellschaften besteht.1249 Sowohl die Gegenstandstheorie als auch die Literatur zur PopulationsökologieForschung und die Genossenschaftsliteratur sprechen für die separate Formulierung einer Hypothese zum Effekt der Populationskonzentration auf die Handlungssicherheit und folglich auf die Festlegung der Mitgliederbindung. Entsprechend wird hier Hypothese H6 formuliert. H6:
Je höher die Konzentration der Population der Energiegenossenschaften ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
1240 Vgl. Lomi 1995b, S. 111. 1241 Vgl. Abschnitt 2.1.4.2.2.1. 1242 Vgl. Lomi und Larsen 1996, S. 1314. 1243 Vgl. Baum und Oliver 1996, S. 1379. 1244 Vgl. Lomi 1995b, S. 111, und Baum und Oliver 1996, S. 1382–1384. 1245 Vgl. Flieger 2013 und Landesnetzwerk BürgerEnergieGenossenschaften Rheinland-Pfalz e. V. 2014. 1246 Vgl. Staber 1992, S. 1194–1196. 1247 Vgl. Maron und Maron 2012, S. 127–128, Holstenkamp und Müller 2013, S. 8–12, Dorniok 2018, S. 216, und Theurl und Kleene 2018, S. 246. 1248 Eine Untersuchung findet beispielsweise einen positiven Einfluss von lokalräumlich nahen Bürgerenergiegesellschaften für den Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen diesen (vgl. Ruggiero et al. 2014, S. 58). Es ist folglich eher Zusammenarbeit als Konkurrenzdruck zwischen Bürgerenergiegesellschaften zu beobachten. 1249 Vgl. Boon und Dieperink 2014, S. 305.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
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3.2.3.3 Gestaltende Akteure 3.2.3.3.1 Initiator Die Initiatoren wurden in der Gegenstandstheorie als der zentrale Akteur in der Gründungsphase einer Energiegenossenschaft identifiziert: Sie leiten die Ausgestaltung der Governance-Struktur Genossenschaft und legen das dadurch erzeugte Niveau an Handlungssicherheit fest. Ein wesentliches Merkmal der Initiatoren ist ihre Verfasstheit.1250 Es wird für die Verfasstheit der Initiatoren einerseits eine direkte Wirkung auf die Handlungssicherheit angenommen: Sofern es sich beim Initiator um eine juristische Person handelt, dient dessen Organisationsweise als Referenz für eine gelungene und dauerhaft stabile Governance-Struktur. Eine juristische Person kann tendenziell leichter durch die potenziellen Mitglieder beurteilt werden, da ihre Vergangenheit in der Regel nachvollziehbar1251 und ihr Zweck anhand von Dokumenten1252 transparent ist. Verfasste Initiatoren steigern daher die Handlungssicherheit in der Gründungssituation. Andererseits wird eine Interaktion mit dem sozio-geografischen Gründungskontext thematisiert: Juristische Personen als Initiatoren sind weniger stark auf einen Handlungssicherheit erzeugenden sozio-geografischen Gründungskontext angewiesen. Sie nehmen diesen nur eingeschränkt als Handlungssicherheit steigernd wahr. Anstatt dessen nutzen sie im Rahmen der Neukontextualisierung die formalisierte Governance ihrer Organisation zur Erzeugung von Handlungssicherheit. Das bedeutet, dass der sozio-geografische Gründungskontext an Relevanz verliert, wenn eine juristische Person die Genossenschaftsgründung initiiert.1253 Die hier getroffene Unterscheidung hinsichtlich der Verfasstheit des Initiators findet sich in der Transaktionskostentheorie nur insofern wieder, als die Transaktionskostentheorie sich eher auf Unternehmen als auf Privatpersonen oder Gruppen von Privatpersonen bezieht.1254 Mit dieser eingeschränkten Bezugnahme macht Williamson zwar implizit auf die hier thematisierte Unterscheidung als möglichen Einflussfaktor aufmerksam, ohne diesen jedoch näher zu erläutern. Auch die zahlreichen
1250 Neben den beschriebenen Vereinen, Stadtwerken oder Genossenschaftsbanken sind weitere Akteure im Forschungsfeld als juristische Person einzustufen. Beispielsweise Gründungsnetzwerke, die Energiegenossenschaften nach einem vorgefertigten Muster in großen Serien gründen, wie die Agrokraft GmbH (2014) oder der Verband der BürgerEnergiegenossenschaften in Baden-Württemberg (2014). Auch Kirchen sind in wenigen Fällen als Initiatoren von Energiegenossenschaften aufgetreten (vgl. Energievision eG 2015). 1251 Beispielsweise in Form von Veröffentlichungen in öffentlich zugänglichen Registern oder infolge ihrer öffentlichen Kommunikation. 1252 Beispielsweise anhand der Satzung oder eines Gesellschaftsvertrags einer juristischen Person. 1253 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1. 1254 Vgl. Williamson 1990, S. 326.
210
3 Modellentwicklung und Prüfung
Arbeiten zur Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie haben sich bislang nicht explizit dem Akteurs-Attribut der Verfasstheit zugewandt.1255 Allerdings findet sich in der Forschung zu Governance-Entstehungsprozessen von Allianzen die Beobachtung, dass je nachdem, ob die Allianzentwicklung durch einen fokalen Akteur gesteuert ist oder eher emergent verläuft, unterschiedliche Ergebnisse in der Governance-Ausgestaltung zu erwarten sind: Emergente Prozesse sind bei Allianzen mit stärkerer Integration verbunden, um einer einseitigen Vorteilnahme einzelner Allianzpartner entgegenzuwirken.1256 Eine Interpretation dieses Ergebnisses legt nahe, dass emergente Prozesse mit weniger Handlungssicherheit verbunden sind. Wenn man gleichzeitig annimmt, dass emergente Prozesse, wie in der explorativen Untersuchung vorgefunden, eher von Privatpersonen angestrebt werden,1257 spricht das Ergebnis der genannten Untersuchung für die hier angelegte Hypothese: Natürliche Personen als Initiatoren erzeugen weniger Handlungssicherheit als juristische Personen. Die Verfasstheit von Gründern wird ebenfalls in der Literatur zur Gründung von Genossenschaften thematisiert. Die Gründung einer Genossenschaft kann üblicherweise als Cooperative Entrepreneurship1258 bezeichnet werden, womit die Gründung eines Unternehmens durch eine Gruppe von gleichberechtigten Partnern gemeint ist. Das Phänomen der Gründung einer Organisation aus einer bestehenden Organisation heraus wird davon unterschieden und als „Corporate Entrepreneurship“1259 bezeichnet. Der Ablauf solcher Gründungen weicht von denen ab, die durch gleichberechtigte Partner initiiert sind: Für Unternehmensgründungen aus Genossenschaften heraus wird beispielsweise geringere Unsicherheit vermutet, da sich die Gründer bereits über die Interaktion innerhalb oder mit der juristischen Person kennen.1260 Dieses Ergebnis spricht ebenfalls für die Beobachtung der Gegenstandstheorie, dass juristische Personen als Initiatoren die Handlungssicherheit erhöhen. Weiterhin stellte sich in der explorativen Untersuchung der Gründungsprozesse von Energiegenossenschaften heraus, dass das Attribut der Verfasstheit des Initiators die Mitgliederwerbung beeinflusst.1261 Die Reputation der Initiatoren ist von großer Wichtigkeit für die Mitgliederwerbung. Reputation ist wiederum eine Akteurseigenschaft, die in der Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie für die Entstehung von Governance thematisiert wird. Empirische Untersuchungen zeigen einen negativen Zusammenhang zwischen der Reputation eines Akteurs und seinen
1255 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1. 1256 Vgl. Doz et al. 2000, S. 250–253. 1257 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1. 1258 Vgl. Bijman und Doorneweert 2008, S. 6. 1259 Vgl. Ribeiro-Soriano und Urbano 2010, S. 350. 1260 Vgl. Burress und Cook 2009, S. 7–8. 1261 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
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Transaktionskosten.1262 Wenngleich nicht generell differenziert werden kann, ob natürliche oder juristische Personen eine höhere Reputation genießen, so kann hier angenommen werden, dass die Bewertung einer verfassten Organisation meist einfacher ist als die Bewertung von Privatpersonen.1263 Juristische Personen stellen selbst Governance-Strukturen dar und sind anhand ihrer teilweise formalisierten Zielsetzungen in Statuten oder ihrer offiziellen Kommunikation leichter einzuschätzen. Der dargestellten Argumentation folgend und auf Grundlage der Gegenstandstheorie wird angenommen, dass verfasste Initiatoren für den gesamten Gründungsprozess größere Handlungssicherheit bieten. Dies macht weniger Mitgliederbindung zur Erzeugung von Handlungssicherheit notwendig. Hypothese H7 wird entsprechend formuliert. H7:
Eine juristische Person als Initiator senkt den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Zusätzlich zu der skizzierten direkten Wirkung der Verfasstheit des Akteurs auf die Ausgestaltung der Governance wird für die Akteurseigenschaft der Verfasstheit eine Interaktion mit den Einflussfaktoren der Sozio-Geografie modelliert. Die in der Gegenstandstheorie aufgezeigte unterschiedliche Wahrnehmung der sozio-geografischen Gründungskontexte durch juristische und natürliche Personen als Initiatoren lässt vermuten, dass diese jeweils für die Erzeugung von Handlungssicherheit unterschiedlich relevant sind. Natürliche Personen sind stark auf das Sozialkapital angewiesen und der Erfolg der Gründung hängt maßgeblich von der Verfügbarkeit und ihrem Zugang zu Sozialkapital ab. Sie sind fest in der sozialen Struktur verwurzelt und nutzen ihr Sozialkapital zudem auch intensiv für die Rekrutierung von Mitgliedern. Im Unterschied dazu spielt bei juristischen Personen ihre eigene Organisation eine zentrale Rolle, wodurch die Bedeutung des verfügbaren Sozialkapitals oder der Zugang zu diesem durch die Initiatoren in den Hintergrund tritt. Auch spielt die Regionalstruktur für juristische Personen eine weniger bedeutende Rolle im Prozess der Neukontextualisierung. Juristische Personen kompensieren fehlende Handlungssicherheit der Regionalstruktur, wie sie beispielsweise durch einen städtischen Gründungskontext oder eine niedrige Umweltorientierung verursacht werden. Sie können ebenso mit der Handlungsunsicherheit infolge einer stärkeren Bevölkerungsinstabilität besser umgehen. Juristische Personen nivellieren den Einfluss der Regionalstruktur, da sie auf ihre eigene Verfasstheit und die daraus erwachsende Handlungssicherheit setzen können.1264
1262 Vgl. Allen und Lueck 1992. In der Literatur wird beispielsweise argumentiert, dass Reputation die Verhaltensunsicherheit reduziert (vgl. Standifird und Weinstein 2007, S. 412). 1263 Zum Prozess der sozialen Bewertung von Organisationen siehe Bitektine (2011). 1264 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1.
212
3 Modellentwicklung und Prüfung
In der Literatur werden sowohl moderierende als auch mediierende Wirkungen von Akteurseigenschaften beschrieben. Eine mediierende Wirkung der Akteurseigenschaften wird beispielsweise für Partnerauswahlprozesse1265 und Vertrauen1266 genannt. Moderierende Effekte werden beispielsweise für Machtunterschiede,1267 Risikopräferenzen der Akteure1268 und ihre Erfahrung1269 angeführt. Bei der Art des Interaktionseffekts handelt es sich um einen Moderationseffekt. Darauf deuten mehrere Erkenntnisse aus der Gegenstandstheorie hin: Grundsätzlich wird angenommen, dass der Kontext nicht als exogene Variable Einfluss auf die Verfasstheit des Initiators hat,1270 was für einen moderierenden Effekt der Verfasstheit spricht.1271 Zudem zeigt die Gegenstandstheorie, dass die Wirkung des Gründungskontexts auf die Handlungssicherheit durch das Attribut der Verfasstheit des Akteurs beeinflusst wird,1272 was ebenfalls typisch für einen Moderationseffekt ist.1273 Auch in der Literatur finden sich Arbeiten, die auf einen moderierenden Effekt der Verfasstheit von Initiatoren mit dem lokalen Gründungskontext hindeuten. Generell wird die Genossenschaft in der Literatur als typische lokale Organisation1274 dargestellt und auf die hohe Bedeutung der Verbindung zwischen lokalem Kontext und dem Management der Genossenschaft hingewiesen: Durch die Verwurzelung des Managements der Genossenschaft in der lokalen Umwelt kann die Umwelt als Ressource für die Genossenschaft erst erschlossen werden.1275 In einer Arbeit von Petruchenya und Hendrikse wird untersucht, inwieweit die Folgen der Heterogenität von Mitgliedern durch die Eigenschaften des Initiators und damit verbundenen Gründungsprozesses abgemildert werden können. Die Autoren differenzieren die Entstehungsprozesse von Genossenschaften in erstens einen „bottom-up“-Prozess, der entweder durch eine Gruppe von Personen gesteuert werden kann oder sich um eine fokale Person herum organisiert, und
1265 Vgl. Ding et al. 2013. 1266 Vgl. Lui et al. 2006, S. 466. 1267 Vgl. Shervani et al. 2007. 1268 Vgl. Chiles und McMackin 1996, S. 91. 1269 Vgl. Dekker 2008. 1270 Vgl. Abschnitt 3.1.3.1. 1271 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 305, und Urban und Mayerl 2006, S. 293–294. 1272 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1. Eine qualitative Untersuchung von Bürgerbeteiligungsgesellschaften im Bereich der erneuerbaren Energien findet ebenfalls Unterschiede in der Bedeutung des Sozialkapitals für die Entstehung dieser Organisationen, je nachdem, ob es sich bei solchen eher um ein „marktorientiertes Vorhaben“ – initiiert von Firmen – oder eine „Bürgerinitiative“ – initiiert von Privatpersonen – handelt (vgl. Hatzl et al. 2016, S. 64–65). Wenngleich es bei der zitierten Untersuchung nicht vordergründig um das Merkmal der Verfasstheit geht, spricht das Ergebnis für die hier angelegte Hypothese: Die Bedeutung des Sozialkapitals für den Gründungsprozess variiert, je nachdem, welche Eigenschaften der Akteur aufweist. 1273 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 293–294. 1274 Vgl. Tuominen et al. 2006, S. 9. 1275 Vgl. Tuominen et al. 2006, S. 16–17.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
213
zweitens einen „top-down“-Prozess, der durch einen Außenstehenden initiiert wird. Je größer die Heterogenität der Mitglieder ist, desto schwerer ist es eine Genossenschaft durch einen „bottom-up“-Prozess zu gründen und desto eher sind Einzelpersonen oder ein „top-down“-Prozess durch Externe die einzige Möglichkeit für eine Gründung.1276 Dieses Ergebnis kann in der Weise interpretiert werden, dass die Wirkung von Gründungskontexten mit geringerer Handlungssicherheit durch das Eintreten einer juristischen Person, die den Gründungsprozess initiiert, abgemildert wird. Ferner ist in der Literatur ein moderierender Effekt zwischen den Akteursfähigkeiten und dem Transaktionskontext für die Entstehung von Governance festgestellt worden.1277 Zwar handelt es sich hierbei nicht um die Verfasstheit als Akteurseigenschaft, die Ergebnisse der Untersuchung weisen aber in dieselbe Richtung wie die Beobachtung der Gegenstandstheorie: Die Wirkung von Kontextfaktoren bei der Entstehung von Governance wird durch die Eigenschaften des Akteurs moderiert.1278 Es kann also festgehalten werden, dass die Eigenschaften des Akteurs nicht nur einen direkten Einfluss auf die Entstehung von Governance haben, sondern auch den Einfluss anderer unabhängiger Variablen moderieren. In Anlehnung an die Gegenstandstheorie und die hier angeführte Literatur soll deshalb die moderierende Rolle der Verfasstheit des Initiators auf den Einfluss von Sozialkapital und Regionalstruktur bei der Governance-Entstehung in den Hypothesen H9a, H9b, H9c H9d, H9e und H9f formuliert werden. H9a: Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von sozialen Netzwerken des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. H9b: Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von Reziprozitätsnormen des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. H9c: Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von sozialem Vertrauen des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. H9d: Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Ländlichkeit des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. H9e: Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Bevölkerungsstruktur des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
1276 Vgl. Petruchenya und Hendrikse 2014, S. 11–12. 1277 Vgl. Fabrizio 2012. 1278 Vgl. Fabrizio 2012.
214
H9f:
3 Modellentwicklung und Prüfung
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Umweltorientierung der Bevölkerung des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
3.2.3.3.2 Genossenschaftsverband Dem Genossenschaftsverband kommt im Rahmen der Neukontextualisierung eine besondere Nebenrolle zu, wie in der Gegenstandstheorie herausgearbeitet wurde. Der Genossenschaftsverband wirkt aktiv als Berater während des gesamten Gründungsprozesses mit und ist an der Satzungserstellung maßgeblich beteiligt. Seine Interpretation des GenG und seine Empfehlungen im Gründungsprozess beeinflussen die Handlungen der Initiatoren weitgehend, weshalb der Genossenschaftsverband in dieser Arbeit ebenfalls als Teil des gestaltenden Akteurs im Hinblick auf seine Wirkung bei der Entstehung von Governance modelliert wird.1279 Wie in der Gegenstandstheorie beschrieben wurde, unterscheiden sich die Genossenschaftsverbände erstens inhaltlich bei der Gründungsberatung, sie verfügen zweitens über eigene Mustersatzungen1280 und haben drittens unterschiedlich viel Erfahrung bei der Begleitung von Energiegenossenschaften im Gründungsprozess. In dieser Arbeit wird die Erfahrung des Genossenschaftsverbands in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. In der Gegenstandstheorie zeigte sich, dass ohne die notwendige Erfahrung in Bezug auf Technologie und Geschäftsmodelle der Energiegenossenschaften die Beratung der Initiatoren eine geringere Qualität aufweist. Die mangelnde Erfahrung des Genossenschaftsverbands wirkt sich auf den Gründungsprozess aus und strahlt auf die Initiatoren ab, was die potenziellen Mitglieder verunsichert und ihre Einschätzung der vorhandenen Handlungssicherheit beeinflusst. Erst mit zunehmender Fallzahl ergibt sich für die Genossenschaftsverbände die Möglichkeit, Vergleiche vorzunehmen, und es entstehen erprobte Verfahrensweisen und Routinen, die die Qualität der Beratung steigern und damit die wahrgenommene Handlungssicherheit erhöhen.1281
1279 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.2. Die Beteiligung von Akteuren an der Seite der Transaktionspartner wird auch in der Transaktionskostenforschung thematisiert (vgl. Abschnitt 2.2.2.1.2). Insbesondere Manager, Ingenieure und Anwälte werden als Rolleninhaber neben den Transaktionspartnern differenziert, mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten bei der Entstehung von Verträgen (vgl. Argyres und Mayer 2007, Hadfield 2008, S. 189, und Vanneste und Puranam 2010, S. 198). Die Forschung zur Gründung von Genossenschaften bestätigt zumindest die wichtige Nebenrolle von Genossenschaftsverbänden: Die Beratung durch den Genossenschaftsverband erhöht die Sicherheit für die Initiatoren und Mitglieder und wird deshalb als wichtige Unterstützung für einen erfolgreichen Gründungsprozess angesehen (vgl. Doluschitz et al. 2012, S. 29–32). 1280 Hierauf wird in Abschnitt 3.3.2.6 im Rahmen der Spezifizierung der Kontrollvariablen noch eingegangen. 1281 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.2.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
215
Auch der aktuelle Stand der Transaktionskostentheorie schreibt der Erfahrung und dem Lernen der Akteure eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Governance zu.1282 Ganz ähnlich wie in der Gegenstandstheorie wird in einer qualitativempirischen Analyse argumentiert, in der Verträge zwischen zwei Unternehmen im Zeitverlauf untersucht wurden. Die Autoren der Studie schlussfolgern, dass die Fähigkeit, Verträge zu schreiben, die sich durch Lernprozesse und daraus resultierender Erfahrung ergibt, dazu führt, dass Transaktionen eher über Märkte abgewickelt werden als dass diese in Unternehmen organisiert sind.1283 Unerfahrene Akteure würden sich eher durch Integration absichern, weil sie dadurch ihre Unsicherheit bezüglich einer optimalen Vertragsausgestaltung kompensieren.1284 Der in der Gegenstandstheorie beobachtete Effekt, dass eine Steigerung der Erfahrung des Genossenschaftsverbands zu Handlungssicherheit führt und deshalb weniger umfangreiche Mitgliederbindung bewirkt, wird durch die angesprochenen Arbeiten gestützt. Für junge Industrien wird in der Literatur zudem das Problem beschrieben, dass neue Markteintritte mit großer Unsicherheit verbunden sind, da weder Standards noch Prozesse existieren und das Know-how der Pioniere implizit und für Außenstehende nicht nachzuvollziehen ist.1285 Daraus folgt, dass der Eintritt für neue Akteure umso sicherer ist, je einfacher das Know-how einer Industrie zugänglich ist. Vor diesem Hintergrund hat die Erfahrung des Genossenschaftsverbands große Bedeutung, denn dieser fungiert für Genossenschaftsgründungen als Know-how-Träger und Wissensplattform und sorgt dafür, dass das spezifische Wissen zur Durchführung bestimmter Transaktionen zugänglich ist.1286 Es kann geschlussfolgert werden, dass
1282 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1.3. 1283 Vgl. Mayer und Argyres 2004, S. 408. 1284 Vgl. Mayer und Argyres 2004, S. 408. Eine Untersuchung zur Eigenkapitalmobilisierung durch Energiegenossenschaften im Windkraft-Bereich kommt zu dem Schluss, dass die Erfahrung und die Referenzen der Initiatoren wesentlich zum Eigenkapitalbeschaffungserfolg beitragen (vgl. Holstenkamp und Degenhart 2014, S. 194). Diese Schlussfolgerung spricht ebenfalls für den hier angesprochenen Zusammenhang zwischen Erfahrung und Handlungssicherheit. 1285 Vgl. Aldrich und Fiol 1994, S. 653–654. 1286 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.2. Eine Untersuchung zur internationalen Verbreitung von Energiegenossenschaften kommt zu dem Schluss, dass die genossenschaftlichen Netzwerke zum Wissensaustausch, wie sie beispielsweise in Form der Genossenschaftsverbände existieren, einen wichtigen Anteil an der unterschiedlich starken Verbreitung von Energiegenossenschaften weltweit haben (vgl. Mignon und Rüdinger 2016, S. 483). Auch eine Untersuchung in den Niederlanden schlussfolgert, dass die Erfahrung externer Berater, die zu einem Wissenstransfer beitragen, einen erheblichen Einfluss auf den Gründungserfolg von Bürgerenergiegesellschaften (auch genossenschaftlich verfassten) hat (vgl. Boon und Dieperink 2014, S. 305). Ferner zeigt eine Analyse zum Einfluss von Stakeholdern auf den Gründungserfolg von Bürgerenergiegesellschaften, dass intermediäre Organisationen, zu denen Genossenschaftsverbände zu zählen sind, eine wichtige Funktion beim Transfer von Erfahrung haben (vgl. Ruggiero et al. 2014, S. 58).
216
3 Modellentwicklung und Prüfung
die Handlungssicherheit mit steigender Erfahrung des Genossenschaftsverbands ebenfalls steigt. Weiterhin wurde für ganze Industrien der Einfluss von Lerneffekten auf die Entstehung von Governance beschrieben: Je weiter die Entwicklung einer Industrie voranschreitet, desto eher entsteht Standardisierung, die Transaktionskosten senkt und die Desintegration von Unternehmen ermöglicht.1287 Dies steht im Einklang mit der bei den Genossenschaftsverbänden beobachteten zunehmenden Standardisierung ihrer Gründungsberatung. Andere Arbeiten stellen einen Zuwachs an vertraglichen Details mit zunehmender Erfahrung fest, was damit begründet werden kann, dass sich Verträge mit zunehmender Erfahrung der Transaktionspartner deutlich präziser fassen lassen.1288 Auch dieses Ergebnis spricht für einen Zuwachs an Handlungssicherheit durch zunehmende Erfahrung der Akteure mit bestimmten Transaktionen. Der Genossenschaftsverband lernt mit jeder in seinem Verband gegründeten Energiegenossenschaft hinzu und somit steigt auch die durch ihn vermittelte Handlungssicherheit parallel zum Anstieg seiner Erfahrung. Der Zuwachs an Handlungssicherheit verringert die Notwendigkeit einer starken Mitgliederbindung zur Erzeugung von Handlungssicherheit. Vor diesem Hintergrund wird die Hypothese H8 formuliert: H8:
Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands senkt den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Zusätzlich zu einer direkten Wirkung der Erfahrung des Genossenschaftsverbands bei der Entstehung der Governance wird hier ein Interaktionseffekt mit den Transaktionsdimensionen als Hypothese angelegt. Die Begründung dafür besteht darin, dass der Genossenschaftsverband sich ohne Erfahrung stark an einer theoretischen Erfassung und Einordnung der Transaktionsdimensionen orientiert. Der Bedarf der Transaktion an Handlungssicherheit wird dabei tendenziell überbewertet, weshalb die Transaktionsdimensionen im Fall eines unerfahrenen Genossenschaftsverbands einen stärkeren Einfluss auf die Ausgestaltung der Governance haben. Je erfahrener der Genossenschaftsverband mit Energiegenossenschaften wird, desto stärker stützt er sich auf seine eigenen Erfahrungen. Die Transaktionsdimensionen nehmen an Relevanz für die Ausgestaltung der Governance ab, da der theoretische Bedarf an Handlungssicherheit der Transaktion durch praktische Erfahrungen korrigiert wird.1289 Es wird hier keine Interaktion zwischen der Erfahrung des Genossenschaftsverbands und dem Gründungskontext modelliert, da der Genossenschaftsverband die Transaktion im Gegensatz zum Gründungskontext leichter beobachten und beurteilen kann. Die beabsichtigte Art der Transaktion kann durch Kommunikation mit
1287 Vgl. Jacobides und Winter 2005, S. 402–403. 1288 Vgl. Argyres et al. 2007, S. 3. 1289 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.2.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
217
den Initiatoren einfach nachvollzogen werden, wohingegen die Beurteilung des Gründungskontexts eher die eigene Anwesenheit in diesem erfordert. Die hier angelegte Hypothese stützt sich auch, analog zur Modellierung der Interaktion zwischen Initiator und sozio-geografischem Gründungskontext, auf die Beschreibung solcher Interaktionseffekte in der Literatur.1290 Ebenso wie die Argumentation für die Interaktion zwischen der Verfasstheit des Initiators und dem sozio-geografischen Gründungskontext wird auch für die Interaktion zwischen der Erfahrung des Genossenschaftsverbands und den Transaktionsdimensionen von einem moderierenden Effekt ausgegangen.1291 Es kommt darauf an, wie der Genossenschaftsverband den Bedarf der Transaktion an Handlungssicherheit einschätzt und wie vehement er seine Einschätzung bei der Gründungsberatung der Initiatoren vertritt. Gesteigerte Erfahrung des Genossenschaftsverbands schwächt deshalb den Zusammenhang zwischen Transaktionsdimensionen und dem Bedarf an Handlungssicherheit, was typisch für einen Moderationseffekt ist.1292 Die Erfahrung selbst ist jedoch unabhängig von den vorliegenden Transaktionsdimensionen, was ebenso für die Ableitung eines Moderationseffektes spricht.1293 Auch in der Literatur ist für die Erfahrung der Transaktionspartner ein moderierender Interaktionseffekt mit den Transaktionsdimensionen beschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass die Erfahrung den Effekt der Transaktionsdimensionen bei der Auswahl der Governance-Struktur abschwächt.1294 Ein Beleg für diesen Zusammenhang kann in einer Untersuchung zur Wirkung von Fähigkeiten eines Unternehmens auf den Zusammenhang zwischen temporaler Faktorspezifität und der „make-or-buy“-Entscheidung in der chilenischen Bauindustrie gefunden werden.1295 Die empirischen Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass ausgeprägte Fähigkeiten der Transaktionspartner die Wahrscheinlichkeit von Integration bei einer Erhöhung von Faktorspezifität senken und die Fähigkeiten des Unternehmens daher den Zusammenhang zwischen Faktorspezifität und der „make-or-buy“-Entscheidung moderieren.1296 Die Erklärung für die Beobachtung sehen die Autoren zum einen in der größeren Bedeutung von besonderen Fähigkeiten bei höheren Transaktionskosten und zum anderen darin, dass zusätzliche Fähigkeiten der Transaktionspartner Transaktionskosten senken.1297 Ebenso deuten die Untersuchungsergebnisse einer anderen Studie darauf hin, dass zunehmende Industrieerfahrung von Transaktionspartnern die Transaktionskosten insgesamt beeinflusst und somit den Zusammenhang
1290 Vgl. Abschnitte 2.2.2.1.3 und 3.2.3.3.1. 1291 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 305. 1292 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 293–294. 1293 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 305. 1294 Vgl. Dekker 2008, S. 921 und S. 937. 1295 Vgl. Brahm und Tarziján 2014. 1296 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 241. 1297 Vgl. Brahm und Tarziján 2014, S. 238.
218
3 Modellentwicklung und Prüfung
zwischen Transaktionsdimensionen und der entstehenden Governance abschwächt.1298 Diese Ergebnisse unterstützen jeweils die oben angelegte Hypothese und sprechen dafür, einen moderierenden Effekt der Erfahrung des Genossenschaftsverbands in das Modell der Governance-Entstehung aufzunehmen. Es werden Hypothese H10a und H10b als Interaktionseffekt zwischen der Erfahrung des Genossenschaftsverbands und den Transaktionsdimensionen formuliert: H10a:
H10b:
Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands schwächt die Wirkung von Faktorspezifität auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands schwächt die Wirkung des Transaktionsvolumens auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
3.2.4 Zusammenfassung Mit dem Modell der Governance-Entstehung wurde eine Antwort auf die eingangs gestellte Forschungsfrage entwickelt, wie die Governance der hybriden Organisationsform Genossenschaft entsteht. Das Modell der Governance-Entstehung gründet auf der ebenfalls in dieser Arbeit entwickelten Gegenstandstheorie zur Entstehung der Governance einer Energiegenossenschaft und der einschlägigen transaktionskostentheoretischen Literatur. Insgesamt 20 Hypothesen, die in Tabelle 9 in einer Übersicht dargestellt sind, beschreiben den Zusammenhang zwischen Faktoren, die gemäß einem zugrundeliegenden Wirkzusammenhang die Ausgestaltung der Mitgliederbindung in den Genossenschaftssatzungen beeinflussen. Die Hypothesen beziehen sich zudem auf Bereiche, die in den formulierten Teil-Forschungsfragen zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurden.1299 So werden insgesamt zwei Hypothesen zum Einfluss der Transaktion, acht Hypothesen zum Einfluss des Gründungskontexts und zehn Hypothesen zum Einfluss des Akteurs formuliert. Das Modell der Governance-Entstehung wird in den folgenden Abschnitten mittels quantitativ-empirischer Methodik überprüft. Dabei werden die einzelnen Hypothesen in einer großzahligen Untersuchung auf ihr Zutreffen hin getestet. Die Nichtwiderlegung einer Hypothese hätte eine partielle Bestätigung des Modells zur Folge. Sollten einzelne Hypothesen verworfen werden müssen, so ist das Modell der Governance-Entstehung in Bezug auf die betreffenden Zusammenhänge zu diskutieren und im Nachhinein anzupassen.1300 Das Ziel der verbleibenden Abschnitte
1298 Vgl. Bigelow und Argyres 2008, S. 805. 1299 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 1300 Vgl. Kapitel 4.1.
3.2 Modell der Governance-Entstehung und Hypothesenbildung
219
Tabelle 9: Übersicht der zu prüfenden Hypothesen. Nr.
Hypothese
H
Eine erhöhte Faktorspezifität erhöht den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
H
Je höher das Transaktionsvolumen ist, desto höher ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Ha
Je stärker soziale Netzwerke im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt sind, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hb
Je stärker Reziprozitätsnormen im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt sind, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hc
Je stärker soziales Vertrauen im sozio-geografischen Gründungskontext ausgeprägt ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Ha
Je ländlicher der sozio-geografische Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hb
Je stabiler die Struktur der Bevölkerung im sozio-geografischen Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hc
Je höher die Umweltorientierung der Bevölkerung im sozio-geografischen Gründungskontext ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
H
Je größer die Population der Energiegenossenschaften ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
H
Je höher die Konzentration der Population der Energiegenossenschaften ist, desto geringer ist der Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
H
Eine juristische Person als Initiator senkt den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
H
Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands senkt den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Ha
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von sozialen Netzwerken des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hb
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von Reziprozitätsnormen des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
220
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 9 (fortgesetzt ) Nr.
Hypothese
Hc
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung von sozialem Vertrauen des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hd
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Ländlichkeit des soziogeografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
He
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Bevölkerungsstruktur des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Hf
Eine juristische Person als Initiator schwächt die Wirkung der Umweltorientierung der Bevölkerung des sozio-geografischen Gründungskontexts auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft.
Ha Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands schwächt die Wirkung von Faktorspezifität auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Hb Eine erhöhte Erfahrung des beratenden Genossenschaftsverbands schwächt die Wirkung des Transaktionsvolumens auf den Grad der Mitgliederbindung der Energiegenossenschaft. Quelle: Eigene Darstellung.
dieser Arbeit ist es somit, das Modell der Governance-Entstehung zu überprüfen, nötigenfalls Verbesserungen vorzunehmen und die Ergebnisse insgesamt zu diskutieren.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung In dem nun folgenden Kapitel 3.3 wird die quantitativ-empirische Überprüfung des Modells der Governance-Entstehung vorgestellt. Die Modellprüfung hat zum Ziel, Aufschluss darüber zu geben, inwieweit das auf der Gegenstandstheorie und der hinzugezogenen Literatur fußende Modell einem Falsifikationstest standhält. Durch die quantitativ-empirische Untersuchung können Nachteile des bislang qualitativexplorativen Vorgehens verringert werden. Insbesondere können dadurch die zuvor notwendigen Schlussfolgerungen des Forschers im Rahmen der Abduktion in der Gegenstandstheorie überprüft werden. Zudem stützte sich die Untersuchung bislang auf wenige Fälle, die durch das in der Grounded-Theory-Methode verankerte Verfahren des theoretischen Samplings selektiert wurden. Der Test der Hypothesen anhand einer großen Fallzahl hilft zu klären, inwieweit das Modell in einer
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
221
Nachbetrachtung überarbeitet werden muss und ob sich die in den Hypothesen dargelegten Zusammenhänge auch mittels quantitativ-empirischer Methodik nachweisen lassen. Der in dieser Arbeit zur Anwendung kommende Mixed-Methods-Ansatz1301 trägt somit dazu bei, die Qualität der bislang erzielten Antworten auf die Forschungsfragen zu überprüfen. Das Vorgehen der quantitativ-empirischen Modellprüfung orientiert sich an der empirischen Forschung im Rahmen der Transaktionskostentheorie.1302 Ein besonders häufiges Verfahren in der Literatur ist die Verwendung eines Modells der reduzierten Form.1303 Ein solches Modell geht davon aus, dass durch die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Einflussfaktoren für Transaktionskosten und GovernanceStrukturen auf das Vorhandensein von Transaktionskosten geschlossen werden kann, ohne Transaktionskosten direkt zu messen.1304 Das Vorgehen in dieser Arbeit ist analog dazu. Ohne die Handlungssicherheit direkt zu messen, wird durch die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Transaktions-, Akteurs- und Kontextfaktoren sowie der Mitgliederbindung von Energiegenossenschaften auf das Niveau an Handlungssicherheit geschlossen. Zur Umsetzung werden zunächst die Variablen des Modells operationalisiert, indem Indikatoren zu ihrer Messung identifiziert werden. Sodann erfolgt die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den Prädiktoren und der abhängigen Variable des Modells mittels einer hierarchischen Regressionsanalyse. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse lassen alsdann eine Beurteilung der Modellgüte zu und werden zur Validierung der Hypothesen verwendet, indem die vorhergesagte Wirkung im Modell mit der empirisch beobachteten Wirkung verglichen wird. Das folgende Kapitel ist in vier Unterabschnitte aufgeteilt: Im ersten Unterabschnitt wird die Datengrundlage vorgestellt, anhand derer die quantitativ-empirische Modellprüfung erfolgt. Dazu wird die Untersuchungsgesamtheit eingegrenzt und die Methodik der Datenerfassung mittels der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ erläutert.1305 Der zweite Unterabschnitt behandelt die Operationalisierung der unabhängigen und abhängigen Variablen des Modells und thematisiert darüber hinaus eine Reihe von Kontrollvariablen.1306 Im dritten Unterabschnitt wird die hierarchische Regressionsanalyse als Untersuchungsmethode vorgestellt, was ebenfalls die Modellspezifikation, die Darstellung der Anwendungsvoraussetzungen und eine Erläuterung von Verfahren zur Ergebnisbeurteilung beinhaltet.1307 Die Ergebnisse der quantitativ-empirischen Modellprüfung befinden sich im vierten Unterabschnitt und
1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307
Vgl. Johnson und Onwuegbuzie 2004, S. 17, und Johnson et al. 2007, S. 123. Vgl. Shelanski und Klein 1995, David und Han 2004 und Macher und Richman 2008. Vgl. Ménard 2008, S. 285–286. Vgl. Ménard 2008, S. 285–286. Vgl. Abschnitt 3.3.1. Vgl. Abschnitt 3.3.2. Vgl. Abschnitt 3.3.3.
222
3 Modellentwicklung und Prüfung
gliedern sich in eine Beschreibung der deskriptiven Statistik und die Ergebnisse der hierarchischen Regressionsanalyse.1308
3.3.1 Datengrundlage 3.3.1.1 Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ Die Untersuchungsgesamtheit, anhand derer die quantitativ-empirische Modellprüfung erfolgt, wurde aus einer Vollerhebung der Energiegenossenschaften in Deutschland1309 selektiert. Die Vollerhebung der Energiegenossenschaften in Deutschland zum 31.12.2012 ist in der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ zusammengefasst,1310 die in einem Kooperationsprojekt mit den beiden Wissenschaftlern Lars Holstenkamp und Heinrich Degenhart von der Leuphana Universität Lüneburg seit 2010 fortlaufend entwickelt wird.1311 An dem Datenbankaufbau haben mehrere studentische Hilfskräfte beispielsweise in Form von Recherchen und bei der Dateneingabe auf Grundlage eines vorgegebenen Kodeplans mitgewirkt.1312 Auf die Erhebungsmethodik und den Aufbau der Datenbank soll an dieser Stelle kurz eingegangen werden, um die nachfolgend vorgestellte Bestimmung der Untersuchungsgesamtheit zu fundieren. Die Anforderung an den Datenbankaufbau bestand insbesondere darin, weitere Sekundär- oder Primärdaten mit den Grunddaten der Energiegenossenschaften verknüpfen zu können.1313 Die Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ umfasst deshalb thematisch gegliederte Tabellen, die über einen Schlüssel miteinander verknüpft sind. Es handelt sich um eine relationale Desktop-Datenbank, die mit der Software Microsoft Access 2010 erstellt wurde.
1308 Vgl. Abschnitt 3.3.4. 1309 Vgl. Müller et al. 2015b. 1310 Eine eigene Erhebung war aufgrund fehlender Datenbestände geboten. Erhebungen des Netzwerks „Energiewende Jetzt“ (2013) oder von Maron und Maron (2012) waren zum Zeitpunkt der Datenbankentwicklung unvollständig beziehungsweise nicht zugänglich. 1311 Wobei mehrere Formulare, Tabellen und Abfragen zusätzlich und spezifisch nur für diese Untersuchung erstellt wurden und nicht Teil der gemeinsamen Arbeit waren, wie zum Beispiel Tabellen für Satzungsvariablen oder Kontextvariablen. In die hier vorgestellte Untersuchung wurde der Entwicklungsstand der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ bis zum Jahr 2014 einbezogen. 1312 Bei der Erstellung der Grunddaten-, Stammdaten-, Quellen- und Typen-Tabelle sowie bei der Initiatoren-Recherche war Nils Rückheim an der Dateneingabe und teilweise an der Recherche beteiligt. Für die Initiatoren-Recherche ist insbesondere auch die Arbeit von Holstenkamp und Ulbrich (2010) zu nennen. Die Einträge in die Tabellen zu den Satzungsdaten und den Grunddaten erfolgten teilweise durch Elisa Volkmer auf Grundlage eines vorgegebenen Kodeplans. 1313 Zum Aufbau von Datenbanken siehe beispielsweise Kemper und Eickler (2013, S. 33–35).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
223
Das Vorgehen zur Vollerhebung der Energiegenossenschaften ist in einem Arbeitspapier von Holstenkamp und Müller1314 beschrieben und orientiert sich am Vorgehen von Maron und Maron1315. Der zentrale Arbeitsschritt der Datenerhebung bestand aus mehrfachen Online-Abfragen der Genossenschaftsregister über das Gemeinsame Registerportal der Länder.1316 Jedes Amtsgericht führt ein öffentlich zugängliches Genossenschaftsregister, in welchem die eingetragenen Genossenschaften verzeichnet sind.1317 Die Veröffentlichung beinhaltet zudem einen Auszug aus der Satzung, mit weiteren grundlegenden Informationen über die Genossenschaft.1318 Um eine Vollerhebung durchzuführen, wurden alle Genossenschaften in die Datenbank aufgenommen „deren Hauptzweck darin besteht, Aktivitäten im Energiesektor durchzuführen – ohne Beschränkung auf bestimmte Wertschöpfungsstufen, d. h. entlang der gesamten Wertschöpfungskette“1319. Dieses Vorgehen ist pragmatisch und ermöglicht die beabsichtigte Vollerhebung des Feldes. Die Abfragen der Genossenschaftsregister am 25.05.2012 (130 Registerauszüge) und am 02.01.2013 (132 Registerauszüge) ergaben Listen aller in Deutschland registrierten Genossenschaften, in denen mögliche Energiegenossenschaften unabhängig von vier Personen markiert wurden.1320 Viele Energiegenossenschaften sind anhand ihres Namens zu erkennen, und solche, die nicht eindeutig zu erkennen sind, können mittels Recherche ihres Satzungszwecks im Genossenschaftsregister überprüft werden. Die Registerabfragen wurden zudem anhand der Registernummer sortiert, da somit neu eingetragene Genossenschaften aufgrund der fortlaufenden Nummernvergabe besonders weit oben auf den Listen zu finden waren. Die Chronologie in den Registerauszügen half dabei, Energiegenossenschaften zu identifizieren, die nicht eindeutig am Namen erkennbar waren, da insbesondere unter den neu eingetragenen Genossenschaften Energiegenossenschaften zu finden sind.1321 In einem zweiten Schritt wurden die Suchergebnisse weiter gefiltert und um Genossenschaften bereinigt, deren Wertschöpfung nicht primär im Energiesektor liegt.
1314 Vgl. Holstenkamp und Müller 2013. 1315 Vgl. Maron und Maron 2012, S. 55–66. 1316 Vgl. Gemeinsames Registerportal der Länder 2014. 1317 Vgl. §§ 10–12 GenG. 1318 Nach § 12 GenG umfasst die Veröffentlichung im Register: „1. das Datum der Satzung, 2. die Firma und den Sitz der Genossenschaft, 3. den Gegenstand des Unternehmens, 4. die Mitglieder des Vorstands sowie deren Vertretungsbefugnis, 5. die Zeitdauer der Genossenschaft, falls diese auf eine bestimmte Zeit beschränkt ist.“ 1319 Holstenkamp und Müller 2013, S. 4. Siehe hierzu auch die Systematisierung der Energiegenossenschaften in Abschnitt 3.1.2.1.2. 1320 Die Markierungen erfolgten durch Jakob Müller, Lars Holstenkamp sowie die studentischen Hilfskräfte Nils Rückheim und Elisa Volkmer. 1321 Dies geht auf die seit 2006 zu beobachtende Gründungsaktivität zurück, die auch in anderen Veröffentlichungen dargestellt wurde (vgl. Maron und Maron 2012, S. 99, oder Müller und Holstenkamp 2015).
224
3 Modellentwicklung und Prüfung
Zur Überprüfung, ob es sich tatsächlich um Energiegenossenschaften handelt, wurde eine Internetrecherche durchgeführt sowie der satzungsmäßige Zweck der ausgewählten Genossenschaften überprüft.1322 Insgesamt verfügten 82 % der Energiegenossenschaften über eine Internetpräsenz, auf der diese meist auch Informationen zu den getätigten Investitionen und die Satzung zum Herunterladen anbieten. Weiterhin wurden auch Online-Presseveröffentlichungen über die Energiegenossenschaften genutzt, um ihre Einordnung als Energiegenossenschaft zu verifizieren. Bei den Presseartikeln handelt es sich meist um lokale oder regionale Zeitungen, die über die Aktivitäten der Genossenschaften berichten. Zudem wurden als Quelle auch Angaben der Bundesnetzagentur zu Stromnetzbetreibern in Deutschland ausgewertet.1323 Im Ergebnis entstand eine Datenbank, die 757 eingetragene Energiegenossenschaften umfasst, von denen sich drei zum Erhebungszeitpunkt in einem Insolvenzverfahren befanden, weshalb die Grundgesamtheit zum Ende des Jahres 2012 insgesamt 754 Energiegenossenschaften umfasst. Dieses Ergebnis deckt sich mit kleinen Abweichungen auch mit anderen, später durchgeführten Erhebungen,1324 die sich an der hier geschilderten Methodik1325 orientieren. 3.3.1.2 Untersuchungsgesamtheit Die Datensätze, anhand derer die Transaktionskostentheorie überprüft wurde, sind sehr heterogen. Häufig handelt es sich bei den untersuchten Daten um Teilerhebungen1326, in denen eine ausgewählte Transaktion,1327 Befragungen von Firmenvertretern1328 oder Transaktionen in bestimmten Governance-Strukturen1329 analysiert werden. Die quantitativ-empirische Modellprüfung erfolgt in dieser Arbeit anhand einer Selektion aus der Grundgesamtheit der Energiegenossenschaften. Die Grundgesamtheit der Energiegenossenschaften ist vollständig in der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ abgebildet und umfasst zum Stichtag 31.12.2012 insgesamt 754 Elemente.1330 Die Selektion, die im Weiteren als Untersuchungsgesamtheit bezeichnet wird, ist aus mehreren Gründen notwendig: Ein wesentlicher Grund besteht in der Tatsache, dass die Gegenstandstheorie auf Grundlage der Untersuchung der Gründungsprozesse von Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften
1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330
Vgl. Holstenkamp und Müller 2013, S. 5. Vgl. Bundesnetzagentur 2012. Vgl. Debor 2014. Vgl. Holstenkamp und Müller 2013, S. 4–5. Vgl. Kornmeier 2007, S. 158–162. Vgl. Joskow 1987, S. 183. Vgl. Ding et al. 2013, S. 145–146. Vgl. Ding et al. 2013, S. 317–319. Vgl. Abschnitt 3.3.1.1.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
225
entstanden ist.1331 Das darauf aufbauende Modell der Governance-Entstehung bezieht sich folglich auf diese beiden Energiegenossenschaftstypen. Eine Überprüfung des Modells anhand von Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften erscheint daher zweckmäßig. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass die Grundgesamtheit der Energiegenossenschaften in Deutschland sehr heterogen ist.1332 Eine erhöhte Heterogenität in der Untersuchungsgesamtheit hätte möglicherweise verzerrende Effekte zur Folge und würde eine Vielzahl von zusätzlichen Kontrollvariablen notwendig machen. Zudem werden in der transaktionskostentheoretischen Literatur zu starke Unterschiede zwischen den Untersuchungsobjekten kritisiert, da diese meist nicht gänzlich kontrolliert werden können und damit eine Gefahr für Fehlinterpretationen besteht.1333 Ferner ist an dieser Stelle zu bemerken, dass Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften die größten Gruppen innerhalb der Grundgesamtheit der Energiegenossenschaften sind und zusammen die deutliche Mehrheit der in Deutschland existierenden Energiegenossenschaften zum 31.12.2012 darstellen.1334 Die mit der Selektion einhergehenden Einschränkungen für die Generalisierung der Ergebnisse werden hier bewusst in Kauf genommen,1335 da die Nachteile eines heterogenen Datensatzes die Vorteile einer Untersuchung anhand der Grundgesamtheit der Energiegenossenschaften überwiegen. Die Tabelle 10 bietet einen Überblick über die Selektion, die nun erläutert wird. Wie bereits in der Systematisierung der Energiegenossenschaften skizziert wurde, sind insgesamt N = 44 Energiegenossenschaften einer ersten Energiegenossenschafts-Generation zuzurechnen, die hier nicht betrachtet wird. Die Population der Energiegenossenschaften der zweiten Generation umfasst eine Gruppe von insgesamt N = 710 Energiegenossenschaften.1336 Davon sind N = 487 Energiegenossenschaften der Wertschöpfungsstufe Produktion zuzuordnen, die wiederum unterschiedliche Technologien nutzen. Die am häufigsten verwendeten Technologien sind Fotovoltaik, Windkraft und Biomasse. Um die Homogenität in der Untersuchungsgesamtheit zu erhöhen, werden nur solche Energiegenossenschaften als Energieproduktionsgenossenschaften ausgewählt, die eine dieser drei Technologien nutzen (N = 433). Verfügten die Energiegenossenschaften auf dieser Wertschöpfungsstufe über andere Erzeugungstechnologien, wie beispielsweise Wasserkraft, fossile Technologien, Solar- und Geothermie, oder handelte es sich um Biokraftstoffproduzenten, so wurden diese aufgrund ihrer jeweils geringen Bedeutung
1331 1332 1333 1334 1335 1336
Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.3. Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.2. Vgl. David und Han 2004, S. 54–55, und Macher und Richman 2008, S. 9. Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.2. Siehe hierzu auch die Diskussion der Limitationen in Kapitel 4.3. Vgl. Abschnitt 3.1.2.1.2.
226
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 10: Untersuchungsgesamtheit. untersuchte Fälle
nicht untersuchte Fälle
–
–
–
–
–
–
Zwischensumme
Brutto-Untersuchungsgesamtheit
. Generation Energiegenossenschaften Wertschöpfungsstufe Produktion
Energieproduktionsgenossenschaft (Fotovoltaik, Windkraft, Biomasse) sonstige Erzeugungstechnologien und Biokraftstoffproduzenten
Wertschöpfungsstufe Übertragung
Nahwärmenetzgenossenschaft sonstige Übertragungstechnologien
Sonstige Wertschöpfungsstufen
gegründet vor dem ..
–
Satzung nicht ermittelbar
–
Zwischensumme
Netto-Untersuchungsgesamtheit
Quelle: Eigene Darstellung und in Anlehnung an Müller et al. (2015b).
nicht mit in die Untersuchungsgesamtheit aufgenommen (N = 54).1337 Auf der Wertschöpfungsstufe Übertragung sind alle Energiegenossenschaften selektiert, die ein Nahwärmenetz betreiben und folglich Nahwärmenetzgenossenschaften sind (N = 119). Solche Energiegenossenschaften, die andere Übertragungstechnologien nutzen, werden aufgrund ihrer marginalen Bedeutung und der notwendigen Fokussierung nicht mit betrachtet (N = 10).1338 Der Ausschluss aus der Untersuchungsgesamtheit gilt auch für die sonstigen Energiegenossenschaften, die den übrigen Wertschöpfungsstufen zugeordnet sind (N = 94).
1337 Durch einen Einschluss der vorgenannten Technologien wäre die Interpretation der Ergebnisse deutlich erschwert. Dies liegt an den sehr spezifischen Eigenschaften dieser Technologien und der starken Zunahme der Heterogenität bei der Operationalisierung der Transaktionsdimensionen (vgl. Fußnote 1333). Die drei betrachteten Technologien sind jeweils deutlich häufiger und die dadurch verursachte Heterogenität kann beherrscht werden (vgl. Abschnitt 3.3.2.2.1). 1338 Vgl. Fußnote 1337.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
227
Damit ergibt sich eine Summe von N = 552 Energiegenossenschaften, die den hier fokussierten Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften zuzurechnen sind. Diese Auswahl wird als Brutto-Untersuchungsgesamtheit bezeichnet. Allerdings wurde aus forschungspragmatischen Gründen1339 die Untersuchung auf Energiegenossenschaften eingeschränkt, die nach der Novelle des GenG 2006 gegründet wurden, das am 18.08.2006 in Kraft trat.1340 Dadurch reduzierte sich die Untersuchungsgesamtheit um 16 Energiegenossenschaften. Zudem konnten bei manchen Energiegenossenschaften die Satzungen nicht beschafft werden,1341 was eine weitere Verringerung der Untersuchungsgesamtheit um 14 Elemente zur Folge hatte.1342 Das Ergebnis des hier beschriebenen Auswahlprozesses ist eine Netto-Untersuchungsgesamtheit, die 522 Energiegenossenschaften umfasst und in Tabelle 10 zusammengefasst dargestellt ist. Im weiteren Verlauf der Arbeit dient die Netto-Untersuchungsgesamtheit1343 als Datensatz für die quantitativ-empirische Modellprüfung.
3.3.2 Operationalisierung 3.3.2.1 Mitgliederbindung 3.3.2.1.1 Satzung als Quelle der Mitgliederbindung Nach der Vorstellung der Datengrundlage im vorangegangenen Abschnitt befasst sich dieser Abschnitt mit der Operationalisierung des Modells der GovernanceEntstehung. Die eingeführten Konstrukte des Modells werden nun durch die Identifikation von Indikatoren messbar gemacht. Zunächst wird die Operationalisierung
1339 Blome-Drees et al. (2016) kommen zu dem Schluss, dass die Novelle des GenG 2006 einen starken Einfluss auf neu gegründete Genossenschaften hatte. Die Novelle des GenG 2006 ist eine umfangreiche Neufassung des GenG und hätte in der weiteren Untersuchung kontrolliert werden müssen, was aber aufgrund der äußerst geringen Anzahl der Energiegenossenschaften, die vor der Novelle des GenG gegründet wurden und hier selektiert worden wären, eine unverhältnismäßige Erhöhung der Kontrollvariablen zur Folge gehabt hätte. Um Komplexität zu verringern, wurde die Untersuchungsgesamtheit entsprechend reduziert. 1340 Siehe hierzu die Veröffentlichung des GenG in der Fassung vom 20.10.2006. 1341 Die Satzungen wurden in den meisten Fällen durch den Abruf von Genossenschaftsregistern und teilweise von den Webseiten der Energiegenossenschaften beschafft. Es wurde bei der Satzungsrecherche darauf geachtet, dass, so weit wie möglich, Gründungssatzungen beschafft wurden, was anhand des Satzungsdatums oder der Anzahl der hinterlegten Satzungsdokumente im Genossenschaftsregister sichergestellt werden konnte. 1342 Grundsätzlich müssen die Satzungen der eingetragenen Genossenschaften bei den Registergerichten hinterlegt werden. Bei den nicht auffindbaren Satzungen lagen vermutlich Fehler des elektronischen Registerportals vor. 1343 Die Netto-Untersuchungsgesamtheit wird im weiteren Verlauf auch als „Untersuchungsgesamtheit“ bezeichnet. Sofern von der Brutto-Untersuchungsgesamtheit die Rede sein wird, ist diese als „Brutto-Untersuchungsgesamtheit“ bezeichnet.
228
3 Modellentwicklung und Prüfung
der abhängigen Variable Mitgliederbindung erläutert, woran die Beschreibung der Messbarmachung der unabhängigen Variablen anschließt. Der Abschnitt endet mit der Vorstellung der Kontrollvariablen und der Beschreibung ihrer Messung. Die Entstehung der Mitgliederbindung wird in dieser Arbeit exemplarisch für die Entstehung von Governance untersucht.1344 Die Mitgliederbindung wurde folglich als abhängige Variable in der Gegenstandstheorie1345 und im Modell der GovernanceEntstehung1346 vorgestellt. Sie fasst die Wirkung solcher Governance-Mechanismen, die das Ausscheiden eines Mitglieds aus der Genossenschaft einschränken oder unattraktiv machen, zusammen.1347 Wenngleich sich informelle und formelle GovernanceMechanismen identifizieren lassen, die Mitgliederbindung erzeugen, so bezieht sich das Erkenntnisinteresse hier auf formalisierte Governance-Mechanismen in der Satzung.1348 Es wird bewusst in Kauf genommen, dass nicht kodifizierte GovernanceMechanismen außen vor bleiben, um eine notwendige Konzentration der Untersuchung zu erreichen.1349 Die Satzung einer Energiegenossenschaft eignet sich aus mehreren Gründen zur Untersuchung der Entstehung genossenschaftlicher Governance. Wie in der qualitativ-explorativen Analyse in dieser Arbeit herausgestellt wurde, wird die Satzung zur zusätzlichen Erzeugung von Handlungssicherheit während des Gründungsprozesses ausgestaltet. Sie ist damit das zentrale Zeugnis des Entstehungsprozesses der genossenschaftlichen Governance.1350 Da es sich bei Satzungen um eine Sekundärdatenquelle handelt, die weitgehend durch das GenG standardisiert ist, kann mit Blick auf die Daten zudem von einem hohen Maß an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit gesprochen werden. Genossenschaftssatzungen und die darin enthaltenen Informationen können ohne Weiteres von Dritten überprüft werden. Subjektive Verzerrungen, wie sie durch eine Befragung von Transaktionspartnern zu ihren Verträgen zu erwarten wären, lassen sich bei einer Dokumentenanalyse eher vermeiden.1351 Ferner 1344 Vgl. Abschnitt 3.2.2. 1345 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5. 1346 Vgl. Abschnitt 3.2.2. 1347 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5. 1348 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.1. Die Untersuchung von formellen Governance-Mechanismen hat den Vorteil, dass diese einfacher großzahlig zu untersuchen sind, beispielsweise durch die Auswertung von Satzungen. Informelle Governance-Mechanismen könnten durch Umfragen untersucht werden, wenngleich fehlende Werte, die Auskunftsfähigkeit der Umfrageteilnehmer und die subjektive Interpretation von informellen Governance-Mechanismen durch die Antwortenden ein solches Vorgehen erschweren würden. Zudem sei für die Konzentration auf formale Mitgliederbindung angeführt, dass die Mitgliederbindung durch Satzungsausgestaltung bereits in der Gegenstandstheorie ausgewählt wurde. 1349 Dies wird als potenzielle Limitation später diskutiert (vgl. Kapitel 4.3). Siehe zu dem Thema auch Zylbersztajn (2009, S. 5–6). 1350 Vgl. Abschnitt 3.1.3. 1351 Es wird davon ausgegangen, dass beispielsweise die „test-retest“-Reliabilität (vgl. Spector 1981, S. 13–14) für Sekundärdatenanalysen einfacher erreicht werden kann als für Umfragedaten.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
229
ermöglicht die Analyse von Sekundärdaten, deren Vorliegen gesetzlich vorgeschrieben ist, leichter eine Vollerhebung, da kaum mit fehlenden Daten zu rechnen ist.1352 Gleichwohl ist auch die Interpretation der Festlegungen in der Satzung mit Unsicherheit verbunden. Das in dieser Arbeit betrachtete Governance-Attribut der Mitgliederbindung wurde deshalb im qualitativ-explorativen Teil eingehend untersucht und die Ausgestaltungsoptionen einzelner Governance-Mechanismen anhand des GenG ermittelt.1353 Dabei wurde begründet, dass ein hoher Bindungsgrad die Wahrscheinlichkeit für Mitgliederaustritte senkt, denn der Mitgliederaustritt wird durch Anreize unattraktiv und durch Regelungen eingeschränkt, die notfalls juristisch durchgesetzt werden können. Trotz der notwendigen Interpretation der Paragrafen in den Satzungen wird hier die Einschätzung vertreten, dass die Mitgliederbindung anhand der genossenschaftlichen Satzung hinreichend sicher bestimmt werden kann.1354 Für die Untersuchung der Genossenschaftssatzungen spricht zudem, dass sich ihre Analyse in die Tradition der Vertragsforschung einreiht, die in der Transaktionskostentheorie etabliert ist.1355 Dabei wird die Tatsache, dass die empirische Untersuchung von Genossenschaftssatzungen in der Literatur bislang kaum beschrieben ist,1356 als zusätzliches Argument für die Fokussierung dieses Untersuchungsmaterials angesehen. Das Vorgehen bei der Satzungsanalyse orientiert sich in dieser Arbeit an den Verfahrensweisen, die in der Literatur zur Vertragsforschung beschrieben sind. Zwei Varianten lassen sich grundsätzlich unterscheiden: Entweder die Informationen werden direkt aus den Verträgen abgelesen,1357 oder die Vertragsparteien werden zu
Gleichwohl lässt sich einwenden, dass auch die Formulierungen in Satzungen bisweilen Interpretationsspielräume eröffnen und das Verständnis des Wortlauts subjektiv verzerrt sein kann. 1352 Allerdings kann es auch bei einer Vertragsanalyse dazu kommen, dass Verträge nicht recherchierbar sind und Daten deshalb fehlen, wie in Abschnitt 3.3.1 für eine kleine Gruppe festgestellt werden musste. Der dadurch entstehende Datenverlust wird hier aber als deutlich weniger problematisch eingestuft als der Datenverlust, der durch fehlende Antworten in Befragungen zu erwarten wäre. 1353 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5. 1354 Dennoch muss hier konstatiert werden, dass, wie bei vielen Messinstrumenten in den Sozialwissenschaften, die Validität eines Instruments nur schwer überprüft werden kann (vgl. Spector 1981, S. 14). 1355 Vgl. Williamson 1991, S. 271–276, Luo 2002, S. 910–911, Poppo und Zenger 2002, S. 717, Anderson und Dekker 2005, S. 1742–1743, Macher und Richman 2008, S. 9, Smith und King 2009, Ariño et al. 2014, S. 388–389, und Schepker et al. 2014. 1356 Eine Ausnahme stellt die qualitative Untersuchung von Genossenschaftssatzungen bei Theurl (2004) dar. Zudem wird in einem Arbeitspapier bei Müller und Holstenkamp (2012) empirisch auf Satzungsregelungen von Energiegenossenschaften eingegangen. Auch schließt die mit qualitativer Forschungsmethodik arbeitende Untersuchung von Brummer (Brummer 2018) Satzungen von Energiegenossenschaften mit ein. 1357 Vgl. Corts und Singh 2004, S. 238–239, und Kalnins und Mayer 2004, S. 213–214.
230
3 Modellentwicklung und Prüfung
den Inhalten in den Verträgen befragt.1358 Aufgrund der bereits genannten Vorteile der Sekundärdatenanalyse werden die Satzungen in dieser Arbeit ohne den Umweg einer Befragung untersucht und die Ausprägung der relevanten Merkmale wird aus den Satzungen abgelesen. Je nachdem, ob nur die Existenz einer Vertragsklausel von Interesse ist1359 oder die Ausgestaltung der Vertragsklausel den Untersuchungsgegenstand bildet,1360 unterscheidet sich der Aufwand der Messung und späteren Aggregation der Daten. Die in der Literatur beschriebenen Datenextraktionsverfahren variieren zwischen der einfachen Dokumentation von Vertragsklauseln1361 und aufwändigen Kodeplänen, anhand derer die Vertragsinhalte ausgelesen werden.1362 Da hier insbesondere die Ausgestaltung der Governance-Mechanismen in den Satzungen von Bedeutung ist, werden die Satzungen in dieser Arbeit mithilfe eines Kodeplans analysiert. Die konkrete Verfahrensweise wird im nächsten Abschnitt erläutert. 3.3.2.1.2 Bestimmung der Mitgliederbindung in den Satzungen Wie in der Gegenstandstheorie herausgearbeitet wurde, sind zur Bestimmung der Mitgliederbindung acht Governance-Mechanismen relevant,1363 die in der Satzung einer Genossenschaft spezifiziert werden können. Zur Extraktion der Information aus den Satzungen wurde ein Kodeplan in Anlehnung an die Kodierung von Fragebögen bei Umfragen entwickelt. Alle Klauseln zur Abbildung der Governance-Mechanismen wurden in einer separaten Tabelle „Satzung“ in der Datenbank erfasst.1364 Das Ziel der Messung ist es, die in den Satzungen intendierte Mitgliederbindung zu bestimmen. Daher werden auch solche Werte erfasst, die vom Gestaltungsrahmen des GenG in unzulässiger Weise abweichen, aber eine Willensäußerung der Initiatoren darstellen und durch den Beitritt eines Mitglieds von diesem akzeptiert werden. Eine alternative inhaltliche Korrektur der Daten wird hier nicht durchgeführt, da es darum geht, die Willensäußerung der Akteure abzubilden. Auf Einzelheiten hierzu wird nun eingegangen, indem die Messung der Governance-Mechanismen anhand der extrahierten Klauseln erläutert wird.
1358 Vgl. Poppo und Zenger 2002, S. 717, Luo 2002, S. 910–911, Anderson und Dekker 2005, S. 1742–1743, und Ariño et al. 2014, S. 388–389. 1359 Vgl. Pisano 1989. 1360 Vgl. Argyres et al. 2007, S. 9–10. 1361 Vgl. Crocker und Reynolds 1993, S. 131–132, und Solis‐Rodriguez und Gonzalez‐Diaz 2012, S. 660–661. Als einfache Operationalisierung des Konstrukts Vertragsumfang findet sich in der Literatur die Zählung der Seitenzahlen von Verträgen (vgl. Poppo und Zenger 2002, S. 717). 1362 Vgl. Argyres et al. 2007, S. 9–10. 1363 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.2. Die beschriebenen Governance-Mechanismen sind 1. Kündigungsfrist, 2. Übertragen des Geschäftsguthabens, 3. Ausscheiden durch Tod, 4. Fälligkeit, 5. Mindestkapital, 6. gesetzliche Rücklage, 7. maximale gesetzliche Rücklage und 8. andere Rücklage. 1364 Die studentische Hilfskraft Elisa Volkmer hat die Kodierung der Satzungen unterstützt.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
1.
231
Kündigungsfrist: Die Kündigungsfrist ergibt sich aus zwei Klauseln: zum einen durch die Festlegung einer ordentlichen Kündigungsfrist und zum anderen durch Spezifikation einer Mindestdauer der Mitgliedschaft. Alle untersuchten Genossenschaftssatzungen weisen eine ordentliche Kündigungsfrist auf.1365 Insgesamt schreiben 27,6 % der Satzungen zusätzlich eine Mindestdauer der Mitgliedschaft satzungsmäßig vor.1366 Die Festlegung der Mindestdauer der Mitgliedschaft erfolgt häufig durch Nennung eines Datums, ab dem die Kündigung erstmals möglich ist. Die Ausprägung der Klausel ist als Differenz zwischen dem Datum der Satzungsunterzeichnung und dem Datum der erstmaligen Kündigungsmöglichkeit dokumentiert, wobei jeweils auf volle Monate gerundet wird. Genossenschaften ohne Mindestdauer der Mitgliedschaft ist der Wert 0 Monate zugeordnet. Für jedes Gründungsmitglied einer Genossenschaft bestimmt sich die Kündigungsfrist aus der Zusammenschau der ordentlichen Kündigungsfrist und der Mindestdauer der Mitgliedschaft, weshalb beide hier addiert werden und im Weiteren als Kündigungsfrist bezeichnet sind.1367 Die signifikant negative Korrelation der ordentlichen Kündigungsfrist und Mindestdauer der Mitgliedschaft deutet zudem auf die komplementäre Verwendung der Regelungen zur Festlegung der Kündigungsfrist hin, was ebenfalls für die hier durchgeführte Addition spricht.1368 Durch die Addition ist ferner sichergestellt, dass die berechnete Variable Kündigungsfrist die gesamte Varianz der beiden Klauseln
1365 Dabei hatten drei Genossenschaftssatzungen eine geringere Kündigungsfrist als drei Monate. Diese Satzungsregelung ist grundsätzlich ungültig, da sie vom GenG in unzulässiger Weise abweicht und die Mindestkündigungsfrist des GenG wieder in Kraft setzt (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.2.1). Da es sich hierbei jedoch um die Willensäußerung der Mitglieder handelt und diese Willensäußerung zur Bestimmung der Mitgliederbindung erfasst werden soll, wurde die in der Satzung festgelegte Kündigungsfrist in die Datenbank aufgenommen und auf eine Korrektur verzichtet. Eine Übersicht zur minimalen und maximalen Ausprägung der Governance-Mechanismen findet sich in Abschnitt 3.1.3.2.5.3. Siehe zur Abweichung der genossenschaftlichen Satzung von gesetzlichen Vorgaben auch Brummer (2018). 1366 Die Werte wichen auch hier von den gesetzlich definierten Spielräumen ab. So wiesen insgesamt 5,6 % der Satzungen eine Mindestdauer der Mitgliedschaft auf, welche die maximale Kündigungsfrist von 60 Monaten überschritt. Auch in diesen Fällen wurde der in der Satzung festgehaltene Wert in die Datenbank aufgenommen, da es sich auch hier um eine Willensäußerung der Mitglieder handelt, die nicht korrigiert werden soll. 1367 In den Fällen, in denen eine Mindestdauer der Mitgliedschaft festgelegt wird, ist diese meist bestimmend für die Kündigungsfrist in den ersten Jahren der Mitgliedschaft, da sie die ordentliche Kündigungsfrist übersteigt. Will ein Mitglied aber nach Ablauf der Mindestdauer der Mitgliedschaft kündigen, so ist dann die ordentliche Kündigungsfrist wieder relevant. Erst durch die Erfassung beider Werte wird der Governance-Mechanismus Kündigungsfrist als Mittel zur Erzeugung von Mitgliederbindung umfänglich erfasst. Eine alternativ mögliche zeitpunktbezogene Beschränkung auf eine der beiden Regelungen wird hier nicht verfolgt, weil sie den Gestaltungswillen der Initiatoren nicht vollständig erfassen würde. 1368 Die Kündigungsfrist und die Mindestdauer der Mitgliedschaft korrelieren signifikant negativ miteinander: Pearson-Korrelationskoeffizient -0,382.
232
3 Modellentwicklung und Prüfung
beinhaltet und anzeigt, wie ausgeprägt der Governance-Mechanismus Kündigungsfrist in der Satzung ausgestaltet ist. 2. Übertragung des Geschäftsguthabens: Es weisen insgesamt 55,7 % der untersuchten Energiegenossenschaften eine Zustimmungspflicht durch die Gremien der Genossenschaft bei Geschäftsguthabenübertragung eines Mitglieds aus.1369 Hierbei handelt es sich in den meisten Fällen um eine Standardformulierung, die aus den Mustersatzungen der Genossenschaftsverbände entnommen ist. Diese Variable wird im Weiteren als „Übertragung“ bezeichnet und ist mit einer dichotomen Merkmalsausprägung kodiert, wobei die Kodierung 0 = „keine Zustimmung erforderlich“ und 1 = „Zustimmung erforderlich“ vergeben wurde.1370 3. Ausscheiden durch Tod: Insgesamt beinhalten 79,1 % der Satzungen eine Regelung, nach der die Erben eines Mitglieds nicht zwangsläufig ausscheiden, sondern die Mitgliedschaft von diesen fortgeführt werden kann. Die Voraussetzung hierfür ist, dass sich bei einer möglichen Erbengemeinschaft eine Person findet, die die Voraussetzungen zur Mitgliedschaft erfüllt und das Erbe antritt. Auch diese Regelung wird durch eine einheitliche Formulierung, die aus den Mustersatzungen übernommen wurde, in den Satzungen abgebildet. Es wurde eine dichotome Variable gebildet mit den Werten 0 = „Mitgliedschaft kann durch Erben fortgesetzt werden“ und 1 = „Mitgliedschaft der Erben endet automatisch“. Die Variable wird im Folgenden als „Vererbung“ bezeichnet. 4. Fälligkeit: 44 Energiegenossenschaften verfügen über eine längere und eine Genossenschaft über eine kürzere Fälligkeit des Geschäftsguthabens als die gesetzlich vorgesehenen 6 Monate nach Kündigung der Geschäftsanteile. Die Daten können ohne zusätzliche Rechenoperationen aus den Satzungen entnommen werden. 5. Mindestkapital: Insgesamt haben 235 Energiegenossenschaften eine Mindestkapitalregel, die in 54 Fällen ein festes Mindestkapital vorsieht und in 181 Fällen durch Hinzunahme einer Bezugsgröße berechnet wird.1371 Als Bezugsgrößen für das Mindestkapital sind in den Satzungen unterschiedliche Bilanzzahlen angegeben: die Bilanzsumme, das Anlagevermögen, das Eigenkapital, die Geschäftsanteile, das
1369 In der Mehrheit der Fälle war dies der Vorstand der Genossenschaft. 1370 Wie in Abschnitt 3.1.3.2.5.2.1 beschrieben, ist die Wirksamkeit der Einschränkung der Übertragbarkeit vom Vorhandensein anderer, die Mitgliederbindung erhöhender Mechanismen abhängig, wie des Mindestkapitals oder einer eingeschränkten Fälligkeit des Geschäftsguthabens bei Ausscheiden eines Mitglieds. Bei der Festlegung der Übertragbarkeit in den Satzungen wurde hierauf nicht immer Rücksicht genommen. Auch in diesen Fällen wurde, unabhängig von einer juristischen Wirksamkeit, die Merkmalsausprägung in der Satzung ausgelesen, um die Willensäußerung der Mitglieder hinsichtlich der Ausgestaltung der Mitgliederbindung zu erfassen. 1371 Als typisches Beispiel ist folgende Formulierung zu lesen: „Das Mindestkapital der Genossenschaft, das durch Rückzahlungen eines Auseinandersetzungsguthabens an ausgeschiedene Mitglieder nicht unterschritten werden darf beträgt 90% der Summe der gezeichneten Geschäftsanteile“ (Bassumer Energiegenossenschaft eG 2008, § 28 Abs. 5).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
233
Geschäftsguthaben oder die Verbindlichkeiten. Die Varianz der Variable Mindestkapital ergibt sich also – außer im Fall einer Fixbetragsangabe – aus zwei Elementen: zum einen der Bezugsgröße und zum anderen dem Mindestkapitalanteil, der sich auf die Bezugsgröße bezieht. Die Ausprägung des Governance-Mechanismus Mindestkapital ist also anhand zweier Variablen zu bestimmen. Würde man auf die Bezugsgröße verzichten, wäre der festgelegte Mindestkapitalanteil nicht zu vergleichen, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Wenn als Mindestkapital 100 % der Bilanzsumme festgelegt werden, so ist dies in der Regel ein höheres Mindestkapital, als wenn 100 % der Verbindlichkeiten als Mindestkapital bestimmt sind. Um einen vergleichbaren Wert des Mindestkapitals zu erfassen, muss dieses folglich anhand der Bezugsgröße normiert werden. Um die Bezugsgrößen einbeziehen zu können, wurden diese anhand einer Standardbilanz1372 spezifiziert.1373 Die Bilanzpositionen der Standardbilanz befinden sich in Tabelle 11. Die Berechnung des normierten Mindestkapitals ist daraufhin sehr einfach, indem der Mindestkapitalanteil mit der zugehörigen Bezugsgröße der Standardbilanz multipliziert wird.1374 Ein Beispiel für die Berechnung ist ebenfalls in Tabelle 11 zu sehen. Solchen Energiegenossenschaften, die über keine Mindestkapitalregelung verfügen, ist der Wert 0 zugewiesen.
1372 Eine Standardbilanz ist deshalb notwendig, weil eine Erhebung sämtlicher Bilanzen der jeweiligen Genossenschaften den Rahmen dieser Arbeit überstiegen hätte. Zudem wäre auch bei einer Erhebung sämtlicher zugehöriger Bilanzen festzulegen, welche Bilanz der jeweiligen Genossenschaft herangezogen wird. Durch die Standardbilanz entsteht zwar eine Verzerrung, die in Kapitel 4.3 als Limitation diskutiert werden muss, die hier aber in Kauf genommen wird, da die relative Bedeutung der Bezugsgröße mit vertretbarerer Genauigkeit erfasst werden kann. Beispielsweise ist davon auszugehen, dass die Bilanzsumme bei allen Genossenschaften ein größeres Gewicht hat als die Bezugsgröße Anlagevermögen. Durch das Heranziehen von zehn Genossenschaftsbilanzen zur Berechnung der Standardbilanz (vgl. Fußnote 1373) wird angenommen, dass auch die relativen Unterschiede beispielsweise zwischen den Bezugsgrößen Anlagevermögen und Verbindlichkeiten mit einer vertretbaren Genauigkeit erfasst sind. 1373 Es gibt nur wenige Veröffentlichungen, die Informationen über die Bilanzen von Energiegenossenschaften publiziert haben. Diese Veröffentlichungen geben jedoch keine exakten Informationen zu den hier interessierenden Bezugsgrößen in den Bilanzen von Energiegenossenschaften (vgl. Debor 2014, Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e. V. 2014 und Kahla et al. 2017), weshalb anhand von zehn Energiegenossenschaften aus der Untersuchungsgesamtheit eine Standardbilanz durch Bildung des arithmetischen Mittels pro Bilanzposition aufgestellt wurde. Um zu vermeiden, dass Eröffnungsbilanzen das Bild verzerren, sind Bilanzen herangezogen worden, deren Aufstellung mindestens zwei Jahre nach Gründung erfolgte. 1374 In solchen Fällen, in denen ein Fixbetrag in der Satzung angegeben ist, kommt es nicht zu einer Berechnung des Mindestkapitals. Es wird demnach unterstellt, dass die Standardbilanz dazu führt, dass relative Mindestkapitalangaben mit Fixbetragsangaben vergleichbar sind. In dieser Annahme liegt eine mögliche Ursache für Verzerrungen des Messergebnisses. Dies wird hier jedoch in Kauf genommen, da die Alternative in einer Dichotomisierung der Variable Mindestkapital bestünde, die einen umfangreichen Verlust der Varianz zur Folge hätte und damit ebenso eine Ursache für Verzerrungen wäre.
234
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 11: Standardbilanz und Beispiel zur Normierung von Mindestkapital und maximaler gesetzlicher Rücklage. Beispielwerte für Mindestkapital/ maximale gesetzliche Rücklage
Bezugsgröße
. €
Fixbetrag
%
Bilanzsumme
.. €
. €
%
Anlagevermögen
.. €
. €
%
Verbindlichkeiten
.. €
. €
%
Eigenkapital
. €
. €
%
Geschäftsguthaben/ Geschäftsanteile
. €
. €
Bezugsgröße aus Standardbilanz
Beispielhaft normiertes Mindestkapital/ normierte maximale gesetzliche Rücklage . €
Quelle: Eigene Berechnung.
6. Gesetzliche Rücklage: Da die gesetzliche Rücklage nach dem GenG eine Pflichtrücklage ist, die in der Satzung bestimmt werden muss, verfügen alle Genossenschaften über eine Klausel zur gesetzlichen Rücklage. In allen Fällen bezieht sich die gesetzliche Rücklage auf einen prozentualen Anteil des Jahresüberschusses. Der Anteil des Jahresüberschusses, der in die gesetzliche Rücklage eingestellt werden soll, variiert zwischen 1 % und 50 % des Jahresüberschusses und kann ohne weitere Berechnung als Merkmalsausprägung direkt in der Satzung abgelesen werden. 7. Maximale gesetzliche Rücklage: Diese definiert einen Maximalbetrag, bis zu welchem die gesetzliche Rücklage anzusparen ist.1375 Analog zum Mindestkapital ergibt sich auch hier der Wert der maximalen gesetzlichen Rücklage aus zwei Variablen: 1. dem maximalen Anteil, bis zu welchem Ansparungen vorzunehmen sind, und 2. der Bezugsgröße.1376 Die Bezugsgröße variiert zwischen der Bilanzsumme, den Geschäftsanteilen, den Verbindlichkeiten und
1375 Als typisches Beispiel ist folgende Formulierung zu sehen: Die gesetzliche Rücklage wird „durch eine jährliche Zuweisung von mindestens 5 Prozent des Jahresüberschusses zuzüglich eines eventuellen Gewinnvortrags bzw. abzüglich eines eventuellen Verlustvortrags [gebildet, J. M.] solange die Rücklage 20 Prozent der Bilanzsumme nicht erreicht“ (Bassumer Energiegenossenschaft eG 2008, § 29 Abs. 1). 1376 In sieben Fällen wurde zudem keine maximale gesetzliche Rücklage spezifiziert, was bedeutet, dass in diesen Fällen die gesetzliche Rücklage unbegrenzt anzusparen ist, bis faktisch 100 % der Bilanzsumme erreicht sind. In einem Fall wurde die maximale gesetzliche Rücklage durch
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
235
dem Anlagevermögen. Zur Berücksichtigung der Varianz aus der Bezugsgröße sind die Werte – analog zur Berechnung des Mindestkapitals – durch Bezugnahme auf die Standardbilanz normiert.1377 Ohne eine solche Normierung wäre die maximale gesetzliche Rücklage ebenfalls nicht satzungsübergreifend vergleichbar und die Varianz der Bezugsgröße bliebe zudem unberücksichtigt.1378 8. Andere Rücklage: Insgesamt 149 Energiegenossenschaften weisen in ihrer Satzung die obligatorische Bildung einer sogenannten „anderen Rücklage“ aus. Die Bezugsgröße der anderen Rücklage ist in allen Fällen der Jahresüberschuss. Die andere Rücklage variiert zwischen 1 % und 25 % vom Jahresüberschuss. Bei insgesamt 37 Genossenschaften ist zwar festgelegt, dass eine andere Rücklage gebildet werden muss, die Höhe der anderen Rücklage ist aber nicht bestimmt. Es lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden, mit dieser nur teilweise bestimmten Satzungsausgestaltung umzugehen: Entweder die betroffenen Satzungen werden so behandelt, als ob sie die Bildung einer anderen Rücklage nicht vorschreiben; oder es wird angenommen, dass die Bildung einer anderen Rücklage vorgeschrieben ist, was die nachträgliche Festlegung des Wertes der anderen Rücklage durch den Forscher erforderlich macht. Hier soll eine nachträgliche Festlegung des Wertes der anderen Rücklage erfolgen, da offensichtlich ist, dass die Satzungen die Bildung einer anderen Rücklage vorschreiben. Eine Nichtberücksichtigung würde zu einer größeren Verzerrung der Daten führen als eine sinnvolle nachträgliche Festlegung des Wertes der anderen Rücklage. Zu dessen Bestimmung wurde das arithmetische Mittel der anderen Rücklage aus allen Satzungen gebildet, in denen der Wert bestimmt war.1379 Der errechnete Mittelwert ist sodann den Satzungen mit unbestimmter anderer Rücklage zugeordnet. Das arithmetische Mittel hat den Vorteil, dass es sich an den Beobachtungen orientiert und somit eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, die tatsächlich gemeinte Ausprägung der Variable zu treffen. Solchen Energiegenossenschaften, die in ihrer Satzung keine Klausel zur obligatorischen Bildung einer anderen Rücklage ausweisen, ist der Wert 0 zugewiesen. Eine Übersicht der Variablen zur Beschreibung der Mitgliederbindung in den Satzungen der untersuchten Energiegenossenschaften befindet sich in Tabelle 12.
einen festen Betrag bestimmt, für den daher keine Korrektur anhand einer Bezugsgröße vorzunehmen war. 1377 Vgl. Tabelle 11. 1378 Siehe hierzu auch die Argumentation zur Berechnung des Mindestkapitals. 1379 Durchschnittlich betrug die andere Rücklage 10,9 % vom Jahresüberschuss.
236
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 12: Deskriptive Statistik der Variablen zu den Governance-Mechanismen der Mitgliederbindung. Variable
N Einheit Minimum
Maximum Mittelwert Standardabweichung
Kündigungsfrist
Monate
,
,
Übertragung
binär
,
,
,
Vererbung
binär
,
,
,
Fälligkeit
Monate
,
,
Mindestkapital
€
..
.
.
gesetzliche Rücklage
%/
,
,
,
maximale gesetzliche Rücklage
€
. ..
.
.
andere Rücklage
%/
,
,
,
,
Quelle: Eigene Berechnung.
3.3.2.1.3 Indexbildung Es ist das Ziel, für jede Energiegenossenschaft einen Wert zu berechnen, der die Bindung ihrer Mitglieder im Verhältnis zur Bindung der Mitglieder aller anderen untersuchten Energiegenossenschaften beschreibt. Folglich ist eine Aggregation der aus den Satzungen extrahierten Daten durchzuführen. In der Literatur lassen sich dazu im Wesentlichen zwei Vorgehensweisen finden: zum einen unterschiedliche Varianten der Indexberechnung1380 und zum anderen statistische Verfahren wie die explorative Faktorenanalyse.1381 Beide Vorgehensweisen unterscheiden sich stark voneinander: Die Indexberechnung verfolgt das primäre Ziel der Datenaggregation, also der Zusammenfassung von eingehenden Variablen in einem Index. Die Indexbildung setzt deshalb voraus, dass der Zusammenhang zwischen den Variablen bekannt ist und diese beispielsweise aufgrund von theoretischen Überlegungen oder empirischen Befunden in einem Index aggregiert werden. Die Indexberechnung kann dabei auf unterschiedliche
1380 Vgl. Crocker und Reynolds 1993, S. 132, Reuer und Ariño 2007, S. 319–320, Ryall und Sampson 2009, S. 911–920, und Solis‐Rodriguez und Gonzalez‐Diaz 2012, S. 660–661. 1381 Vgl. Reuer und Ariño 2007, S. 320–322. Weiterhin werden neben Faktoranalysen erster Ordnung zur Beurteilung der Dimensionalität eines Konstrukts auch zusätzlich Faktoranalysen zweiter Ordnung durchgeführt, um eine Dimensionsreduktion zu erreichen und die Messbarkeit eines Konstrukts zu vereinfachen (vgl. Ding et al. 2013, S. 148).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
237
Weise erfolgen, wobei die Addition eine häufige Variante ist.1382 Die Addition der Variablen hat den Vorteil, dass die eingehenden Variablen leicht nachvollziehbar zusammengefasst werden und zudem die gesamte Varianz der Variablen berücksichtigt wird. Die explorative Faktorenanalyse verfolgt hingegen den Zweck, latente Faktoren in den Variablen zu identifizieren, die stellvertretend für mehrere oder alle eingehenden Variablen betrachtet werden können.1383 Somit eignet sich eine Faktorenanalyse nur bedingt zur Aggregation von Daten, da der Grad der erreichten Aggregation von der Anzahl der nachweisbaren Faktoren in den Daten abhängt. Zudem ist die Verdichtung der eingehenden Variablen aufgrund des statistischen Verfahrens mit einem Varianzverlust verbunden.1384 In dieser Arbeit geht es insbesondere darum, das bereits in der Gegenstandstheorie eingehend beschriebene Konstrukt der Mitgliederbindung messbar zu machen und anhand dessen die Entstehung von Governance zu untersuchen. Folglich wird eine Aggregation der Governance-Mechanismen, die auf die Mitgliederbindung wirken, ohne Varianzverlust bevorzugt. Durch die Gegenstandstheorie ist zudem der Zusammenhang zwischen den zusammenzufassenden Variablen bekannt, und es wird von einem eindimensionalen Konstrukt ausgegangen. Die Untersuchung einer möglichen Dimensionalität des Governance-Attributs Mitgliederbindung soll zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleiben. Aus diesem Grund wird hier die Aggregation der GovernanceMechanismen der Mitgliederbindung mittels eines additiven Indizes verfolgt. Wie bereits im Abschnitt zur Gegenstandstheorie argumentiert wurde, tragen die genannten Governance-Mechanismen – je nach Ausgestaltung – stärker oder schwächer zur Mitgliederbindung bei. Die Wirkung der Ausgestaltung kann dabei relativ zur Wirkung der Ausgestaltung in allen anderen Satzungen bestimmt werden. Beispielsweise kann eine 60-monatige Kündigungsfrist als hoch bezeichnet werden, da die Kündigungsfrist im Durchschnitt aller Satzungen bei circa 44 Monaten liegt. Zudem wird hier, mit Verweis auf die Ergebnisse der qualitativ-explorativen Untersuchung, angenommen, dass die Beziehung zwischen den betrachteten GovernanceMechanismen und dem Konstrukt der Mitgliederbindung linear ist.1385 Dies bedeutet, dass die Erhöhung der Kündigungsfrist von 44 auf 45 Monate die Mitgliederbindung genauso stark erhöht, wie beispielsweise eine Erhöhung von 59 auf 60 Monate. Bis auf die empirische Beobachtung einer unterschiedlich intensiven Nutzung einzelner Governance-Mechanismen1386 liegen keine Erkenntnisse über ihre relative Bedeutung vor. Eine subjektive Gewichtung – indem beispielsweise festgelegt würde, dass einer der selektierten Governance-Mechanismen stärker zur Mitgliederbindung
1382 Vgl. Saussier 2000, S. 196, Reuer und Ariño 2007, S. 319–320, und Ryall und Sampson 2009, S. 913. 1383 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 260–261. 1384 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 266. 1385 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5. 1386 Vgl. Abschnitt 3.3.2.1.2.
238
3 Modellentwicklung und Prüfung
beiträgt – erfolgt deshalb nicht. Auch die Tatsache, dass insgesamt drei GovernanceMechanismen zum Thema Thesaurierung in die Indexberechnung mit eingehen (gesetzliche Rücklage, maximale gesetzliche Rücklage und andere Rücklage) und der Komplex Thesaurierung damit möglicherweise ein stärkeres Gewicht hat, soll hier nicht korrigiert werden. Es liegen keine empirischen Indizien vor, die den Ausschluss eines Governance-Mechanismus zur Rücklagenbildung rechtfertigen würden. Eine subjektive Gewichtung der Governance-Mechanismen würde möglicherweise ebenso die Gefahr der Verzerrung bergen, weshalb an dieser Stelle ein ungewichteter, additiver Index1387 zur Operationalisierung des Konstrukts Mitgliederbindung bevorzugt wird.1388 Um die Ausprägungen der Variablen vergleichbar zu machen und ihre Varianz zu berücksichtigen, wird eine Standardisierung1389 der eingehenden Variablen vorgenommen. Nach der Standardisierung, die auch als z-Transformation bekannt ist, beträgt das arithmetische Mittel 0 und die Varianz der Variablen 1. Dabei ist xi die Realisation der betrachteten Variablen, x das arithmetische Mittel der betrachteten Variablen und sx ihre Standardabweichung. Die Rechenoperation ist in Formel 1 dargestellt.1390 Formel 1: z-Transformation Zi =
xi − x sx
Die z-transformierten Variablen Kündigungsfrist (B), Übertragung (Ü), Vererbung (V), Fälligkeit (F), Mindestkapital (M), gesetzliche Rücklage (R), maximale gesetzliche Rücklage (X) und andere Rücklage (A) werden nun zur Bildung des Index der Mitgliederbindung addiert, wie es in Formel 2 beschrieben ist. Formel 2: Grad der Mitgliederbindung € i + Vi + Fi + Mi + Ri + Xi + Ai Mitgliederbindung i = Bi + U Damit ist das Konstrukt Mitgliederbindung operationalisiert und anhand eines linear-additiven Index vergleichbar, der dem Skalenniveau einer Verhältnisskala1391 1387 Eine multiplikative Indexbildung widerspricht der Funktionsweise des Governance-Attributs Mitgliederbindung, das weder bei der Nichtausprägung eines einzelnen Governance-Mechanismus insgesamt keine Ausprägung aufweisen würde, noch durch starke Ausprägungen einzelner GovernanceMechanismen in seiner Wirkung überproportional ansteigt. Die beiden genannten Effekte wären im Fall der multiplikativen Indexbildung die Folge. Eine Multiplikation der eingehenden GovernanceMechanismen zur Indexbildung kommt folglich nicht infrage. 1388 Etwaige sich aus diesem Vorgehen ergebende Limitationen müssen bei der Bewertung der Ergebnisse reflektiert werden (vgl. Kapitel 4.3). 1389 Es sei angemerkt, dass eine Standardisierung für einen Teil der Grundgesamtheit auch als Studentisierung bezeichnet wird (vgl. Schnell et al. 2011, S. 158–201). 1390 Vgl. Eckstein 2012, S. 128. 1391 Da die Governance-Mechanismen zur Bestimmung der Mitgliederbindung gesetzlich definierte Minimalausprägungen aufweisen (vgl. Abschnitt 3.1.3.2.5.3) und es deshalb einen definierten
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
239
entspricht.1392 Da sich positive und negative Vorzeichen in den standardisierten Variablen befinden, heben sich diese teilweise gegenseitig auf. Ein Histogramm der Variablen Mitgliederbindung ist in Abbildung 9 dargestellt. 80
Häufigkeit
60
40
20
0 –10,00
–5,00
0,00
5,00
10,00
15,00
Mitgliederbindung Abbildung 9: Histogramm Grad der Mitgliederbindung. Quelle: Eigene Darstellung.
Die neu gebildete Variable Mitgliederbindung zeigt optisch eine rechtsschiefe Verteilung im Histogramm, die dadurch erklärt werden kann, dass gesetzlich ein Minimum an Mitgliederbindung definiert ist,1393 dieses aber durch Satzungsausgestaltung
Nullpunkt der Skala gibt, kann diese auch als Ratioskala klassifiziert werden. Wesentlich zur Betrachtung in dieser Untersuchung ist aber das Skalenniveau einer Verhältnisskala, da es um den Vergleich der Mitgliederbindung der betrachteten Energiegenossenschaften geht. 1392 Bezüglich der Validität der formalen Mitgliederbindung sei auf Abschnitt 3.1.3.2.5 verwiesen. Aufgrund der Neuartigkeit des Konstrukts und auch seiner hier vorgestellten Operationalisierung könnten in zukünftigen Arbeiten zusätzlich Befragungen zur Wirkung unterschiedlicher Niveaus der Mitgliederbindung durchgeführt werden oder Mitgliedsaustritte untersucht werden. So ließe sich die Validität möglicherweise weiter erhöhen. Es gibt an dieser Stelle jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass der hier entwickelte Index der Mitgliederbindung nicht die tatsächliche Mitgliederbindung messen würde. Siehe hierzu auch die Argumentation in Abschnitt 3.2.2. 1393 Vgl. Fußnote 1391.
240
3 Modellentwicklung und Prüfung
erhöht werden kann. Die Rechtsschiefe ergibt sich dann durch die Ausgestaltung von Governance-Mechanismen, die die Mitgliederbindung steigern. 3.3.2.2 Transaktionsdimensionen 3.3.2.2.1 Faktorspezifität Wie bereits dargelegt, wird die Faktorspezifität in sechs Subdimensionen differenziert.1394 Folglich variiert auch die Messung der Faktorspezifizität.1395 David und Han finden in ihrem Literaturüberblick insgesamt 27 unterschiedliche Operationalisierungen von Faktorspezifität,1396 was auf die individuelle Anpassung von Messinstrumenten an das Untersuchungsobjekt zurückzuführen ist.1397 Bei den in der Literatur zu findenden Operationalisierungen werden die Subdimensionen der Faktorspezifität sowohl einzeln1398 als auch in Kombination verwendet, um die Faktorspezifität zu bestimmen.1399 Dabei wird davon ausgegangen, dass spezifische Produktionsfaktoren positiv korrelieren: Sobald ein spezifischer Produktionsfaktor vorhanden ist, sind die Akteure auch bereit, in weitere spezifische Faktoren zu investieren.1400 Ein Literaturüberblick zeigt, dass eine Kombination der Subdimensionen der Faktorspezifität eher zu einer Bestätigung der Hypothesen der Transaktionskostentheorie in empirischen Untersuchungen führt.1401 Die parallele Betrachtung relevanter Subdimensionen der Faktorspezifität ist daher ein sinnvolles Vorgehen zur Operationalisierung.1402 In dieser Arbeit kommt ebenfalls eine untersuchungsobjektspezifische Operationalisierung zur Anwendung, bei der ausgewählte Subdimensionen der Faktorspezifität parallel betrachtet werden. Die Operationalisierung besteht dabei im Kern aus der Analyse der verwendeten Technologie und der Beurteilung ihrer Wirkung auf einzelne Subdimensionen der Faktorspezifität. Ein solches Verfahren zur Bestimmung der Faktorspezifität hat sich bereits in anderen Arbeiten bewährt.1403 Die
1394 Vgl. Abschnitt 2.2.2.2.1. 1395 Shelanski und Klein (1995, S. 338) nennen als häufige Operationalisierungen der Faktorspezifität Komponentenkomplexität, spezifisches Humankapital und physische Nähe. 1396 Vgl. David und Han 2004, S. 47. 1397 Vgl. David und Han 2004, S. 49. 1398 Bei Brahm und Tarzijan (2014, S. 231) wird zur Messung der temporalen Spezifität ein multiplikativer Index aus drei Indikatoren für temporale Spezifität berechnet. 1399 Beispielsweise durch die Messung der Faktorspezifität mittels einer Kombination der Subdimensionen Sachkapital-Spezifität und Humankapital-Spezifität (vgl. Klein et al. 1990, S. 201, und David und Han 2004, S. 47). 1400 Vgl. Spiller 1985, S. 295. 1401 Vgl. David und Han 2004, S. 47. 1402 Vgl. Vita et al. 2011, S. 335–336. 1403 Ein ähnliches Vorgehen ist in der Literatur beispielsweise bei Chen und Bharadwaj (2009, S. 494–495) zu finden.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
241
Technologieanalyse und die Beurteilung der Faktorspezifität erfolgen als Fremdeinstufung durch den Forscher. Dieses Vorgehen hat gegenüber einer Befragung1404 mehrere Vorteile: 1. Durch die Fremdeinstufung des Forschers ist der Bewertungsmaßstab weitgehend einheitlich, was in Befragungen zur Faktorspezifität häufig ein Problem darstellt.1405 2. Die Qualität der Fremdeinstufung durch den Forscher ist durch die umfangreiche qualitativ-explorative Untersuchung sichergestellt.1406 3. Eine Reduktion der Untersuchungsgesamtheit aufgrund fehlender Antworten wird durch die Fremdeinstufung ausgeschlossen. Es konnte für alle in der Untersuchungsgesamtheit befindlichen Energiegenossenschaften die verwendete Technologie ermittelt werden. Insgesamt sind vier wesentliche Technologien zu nennen, die im Zentrum der Transaktionen stehen: Nahwärmenetze, Bioenergieanlagen, Windkraftanlagen und Fotovoltaikanlagen. Die Technologien unterscheiden sich in Bezug auf die vorgestellten Subdimensionen der Faktorspezifität, was den Einsatz eines Scoring-Verfahrens zur Differenzierung nahelegt.1407 Allerdings beschränkt sich die Analyse der Technologien auf die drei Subdimensionen Sachkapital-Spezifität, Humankapital-Spezifität und Standortspezifität. Bereits in der Gegenstandstheorie finden sich Belege für ihre Bedeutung1408 und eine parallele Betrachtung aller im theoretischen Teil dieser Arbeit genannten Subdimensionen der Faktorspezifität lässt sich nicht aus der Technologieanalyse ableiten.1409 Die Verschiedenartigkeit der genannten Technologien hinsichtlich der drei Subdimensionen Sachkapital-Spezifität, Humankapital-Spezifität und Standortspezifität wird im Folgenden vorgestellt und ist in Tabelle 14 zusammengefasst. Sachkapital-Spezifität Sowohl Investitionen aufseiten der Energiegenossenschaften als auch aufseiten der Mitglieder können spezifisch sein.1410 Bei der gemeinsamen Realisierung von
1404 Zur Untersuchung der Faktorspezifität haben Befragungen neben qualitativen Interviews und direkten Beobachtungen die größte Bedeutung (vgl. Macher und Richman 2008, S. 8). 1405 Die subjektive Interpretation der Fragen bei der umfragegestützten Erhebung von Transaktionsdimensionen ist eine typische Quelle für Verzerrungen in der empirischen Transaktionskostentheorieforschung (vgl. Shelanski und Klein 1995, S. 339). 1406 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.2. Ferner kann auch hier die berufliche Erfahrung des Autors im Bereich der Finanzierung von Erneuerbare-Energien-Anlagen angeführt werden, die eine Beurteilung der Faktorspezifität der verwendeten Technologien erleichtert (vgl. Fußnote 897). 1407 Vgl. Fußnoten 897 und 1406. 1408 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.2. 1409 Es ist zudem zu erwarten, dass die anderen Subdimensionen der Faktorspezifität mit den hier betrachteten in ihrer Ausprägung positiv korrelieren (vgl. Fußnote 1400). Zudem hätte die Betrachtung aller Subdimensionen der Faktorspezifität die verfügbaren Ressourcen für diese Arbeit überstiegen. 1410 In der Literatur wird Sachkapital-Spezifität als Wiederverwertbarkeit von Investitionsgütern operationalisiert (vgl. Palay 1984, S. 268–269, Coles und Hesterly 1998a, S. 389, und Shelanski
242
3 Modellentwicklung und Prüfung
Fotovoltaikanlagen, Windkraftanlagen und Biomasseanlagen genügt grundsätzlich das Bereitstellen von Geldmitteln durch die Mitglieder. Die eingesetzten Faktoren der Mitglieder weisen in dieser Hinsicht keine Sachkapital-Spezifität auf. Im Fall von Nahwärmenetzen muss der Hausanschluss eines Mitglieds verändert werden, damit es die Wärme nutzen kann.1411 Dies erfordert einen Umbau der Heizungsanlage. Die Umbaumaßnahmen lassen sich zwar technisch rückgängig machen, jedoch können die entfernten Anlagegegenstände eher nicht erneut verwendet oder nur mit erheblichem Wertverlust weiterveräußert werden. Auch sind die Handwerkerarbeiten zum Umbau der Heizungsanlage in einem solchen Fall abzuschreiben.1412 Aufseiten der Genossenschaft kommt es dagegen bei jeder der genannten Technologien zu spezifischen Sachkapitalinvestitionen. Die Unterschiedlichkeit in der Spezifität lässt sich im Wiederverkaufswert sehen und kann folgendermaßen beschrieben werden: Die Hauptinvestition bei Fotovoltaikanlagen sind die Module und Wechselrichter, die demontiert und an anderer Stelle wieder verwendet werden könnten. Der Abbau einer Windkraftanlage und die Wiedererrichtung zerstören einen Großteil der getätigten Investition, da der Bau der Anlagen viele individuelle Lösungen erforderlich macht, die an einem anderen Standort meist wertlos sind.1413 Zudem fließt ein erheblicher Anteil der Investition in Fundament und Turmkonstruktion, die entweder gar nicht wiederverwendet werden können oder durch die Demontage beschädigt werden. Ähnlich verhält es sich bei Bioenergieanalgen, deren Komponenten bei einer Weiterveräußerung ebenfalls erheblich an Wert verlieren oder vollständig wertlos werden. Für Nahwärmenetze ist eine Zweitverwertung kaum vorstellbar. Das Ausgraben eines verlegten Nahwärmenetzes würde vermutlich mehr Kosten verursachen, als der Schrottwert der Leitungen erbringt. Hieraus ergibt sich eine ordinale Rangfolge hinsichtlich der Sachkapital-Spezifität der Technologien, die in das in Tabelle 14 dargestellte Scoring-Verfahren eingeht: Fotovoltaik (geringe
2004, S. 958). Masten (1984, S. 408) unterscheidet beispielsweise die Wiederverwertbarkeit von Werkzeugen und differenziert dabei drei Abstufungen: keine Wiederverwertbarkeit, Wiederverwertbarkeit in anderen Unternehmen der gleichen Industrie und Wiederverwertbarkeit in anderen Industrien. Dyer (1996, S. 652) operationalisiert Sachkapital-Spezifität durch eine Quantifizierung des Verschrottungswerts einer Investition. Den Wiederverkaufswert nutzt auch Ulset (1996, S. 74) zur Operationalisierung der Sachkapital-Spezifität. Nickerson und Silverman (2003, S. 96–97) operationalisieren die Sachkapital-Spezifität anhand von Technologieunterschieden in der Transportindustrie. Technologieunterschiede werden auch von Hubbard (2001, S. 372) zur Operationalisierung der Sachkapital-Spezifität genutzt. 1411 Vgl. Degenhart 2010, S. 6 und S. 9. 1412 Auch die Erdarbeiten zur Verlegung der Rohrleitungen auf dem betroffenen Grundstück sind mit erheblichen Kosten verbunden, die bei einem erneuten Wechsel der Wärmeversorgung weitgehend abgeschrieben werden müssten. 1413 Beispielsweise besondere technische Einrichtungen, um die Genehmigungsauflagen einzuhalten. Zudem sind auch der Transport und die Errichtung der Großkomponenten einer Windkraftanlage kostenintensiv und wären bei einem Standortwechsel abzuschreiben.
meist kein BImSchGGenehmigungsverfahren
umfangreiches Genehmigungsverfahren nach BImSchG
umfangreiches Genehmigungsverfahren nach BImSchG; Einschätzung der Input- und Outputmärkte erforderlich
umfangreiches Genehmigungsverfahren; Einschätzung der Input- und Outputmärkte erforderlich; technische Machbarkeitsstudie erforderlich
Fotovoltaik
Windkraft
Bioenergie
Nahwärmenetz
Quelle: Eigene Darstellung.
Planung
Technologie
Beurteilung eines Generalübernehmerangebotes zur Anlagenerrichtung für Laien erschwert
Beurteilung eines Generalübernehmerangebotes zur Anlagenerrichtung für Laien erschwert
Beurteilung eines Generalübernehmerangebotes zur Anlagenerrichtung für Laien erschwert
Beurteilung eines Generalübernehmerangebotes zur Anlagenerrichtung auch für Laien möglich
Bau
Tabelle 13: Phasen der Projektentwicklung und Humankapital-Spezifität.
wartungsintensive Technik, viele Entscheidungen erforderlich, volatile Märkte, Preis- oder Mengensicherung erschwert, Betrieb erfordert Personaleinsatz
wartungsintensive Technik, viele Entscheidungen erforderlich, volatile Märkte, Preis- oder Mengensicherung erschwert, Betrieb erfordert Personaleinsatz
wartungsintensive Technik aufgrund vieler beweglicher Teile; im Verhältnis zur Fotovoltaik viele Entscheidungen durch die Eigentümer auch in der Betriebsphase erforderlich
wartungsarme Technik, die normalerweise nur wenige Entscheidungen in der Betriebsphase erfordert
Betrieb
sehr hoch
hoch
mittel
gering
HumankapitalSpezifität
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
243
244
3 Modellentwicklung und Prüfung
Faktorspezifität), Windkraftanlagen (mittlere Faktorspezifität), Bioenergieanlagen (mittlere Faktorspezifität) und Nahwärmenetze (hohe Faktorspezifität).1414 Humankapital-Spezifität Sowohl das genossenschaftliche Unternehmen als auch seine Mitglieder benötigen spezifische Humankapitalressourcen, um die verwendete Technologie beurteilen zu können.1415 Dies kann anhand einer Differenzierung der Projektentwicklung für jede Technologie in Planungs-, Bau- und Betriebsphase verdeutlicht werden, wie in Tabelle 13 dargestellt ist. Im Bereich von Fotovoltaikanlagen sind in allen Phasen der Projektentwicklung vergleichsweise geringe spezifische Kenntnisse erforderlich.1416 Im Bereich der Windkraft ist insbesondere in der Projektentwicklung deutlich mehr Know-how erforderlich, da zunächst eine Genehmigung nach dem BundesImmissionsschutzgesetz (BImSchG)1417 erwirkt werden muss, was ein langwieriger und komplexer Vorgang ist.1418 Der Prozess stellt sich ähnlich umfangreich für Bioenergieanlagen dar, für die zudem eine tiefe Kenntnis von Input- und Outputmärkten obligatorisch ist. Bei Bioenergieanlagen ist es unabdingbar, eine exakte Kalkulation der räumlich verfügbaren Biomasse zu erstellen und auch die Bonität der Wärmesenke zu beurteilen. Bei der Errichtung eines Nahwärmenetzes ist umfassendes
1414 Ein Hinweis auf die Wiederverwendbarkeit der Anlagegegenstände ergibt sich auch aus der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer der Anlagen. Die unterstellte Nutzungsdauer dieser Anlagegegenstände beträgt für Fotovoltaikanlagen 20 Jahre, für Windkraftanlagen 16 Jahre und für Blockheizkraftwerke (der wesentliche Bestandteil einer Bioenergieanlage) 10 Jahre (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2000, Nr. 3.1.6, Nr. 3.1.5 und Nr. 3.1.4). Eine kürzere Nutzungsdauer steht einer Wiederverwendbarkeit entgegen, da dieselben Fixkosten zur Installation benötigt werden bei unter Umständen deutlich verkürzter Restnutzungsdauer. Die Nutzungsdauer von Nahwärmenetzen ist deutlich länger (Betriebszeiten zwischen 30 und 50 Jahren (vgl. Degenhart 2010, S. 7)), jedoch stehen technische Gründe (unterirdische Verlegung) einer Wiederverwendbarkeit entgegen. 1415 Humankapital-Spezifität wurde beispielsweise von Pisano (1989, S. 114) untersucht, indem er den Effekt von Forschungs- und Entwicklungspartnerschaften auf die Wahl der GovernanceStruktur testet. Forschungs- und Entwicklungspartnerschaften wertet Pisano (1989, S. 114) als Indiz für den Aufbau von transaktionsspezifischem Wissen. Monteverde und Teece (1982, S. 207–209) untersuchen den Einfluss von spezifischem Wissen auf die vertikale Integration von Automobilunternehmen, indem sie Ingenieurskosten für einzelne Fahrzeugteile auf einer zehnstufigen ordinalen Skala differenzieren. In einer anderen Studie operationalisiert Monteverde (1995, S. 1632) Humankapital-Spezifität als den Einfluss der Kommunikationsintensität im Produktentwicklungsprozess auf die Integrationsentscheidung von Unternehmen. 1416 Dies wird auch an den circa 1,4 Mio. insbesondere von Privathaushalten installierten Fotovoltaikanlagen bis Ende 2013 deutlich (vgl. Bundesverband Solarwirtschaft e. V. 2014). 1417 Der vollständige Titel des Gesetzes lautet: Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG). 1418 Vgl. beispielsweise § 5 BImSchG. Auch die Beteiligung an bereits realisierten Windkraftprojekten erfordert spezifisches Know-how (vgl. Holstenkamp und Degenhart 2014, S. 198).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
245
technisches-, betriebswirtschaftliches- und rechtliches Wissen sowie eine genaue Kenntnis des lokalräumlichen Abnahmestellen-Potenzials zur Planung notwendig. Dies berücksichtigend ergibt sich die in Tabelle 14 nachvollziehbare ordinale Rangfolge hinsichtlich der Humankapital-Spezifität für die einzelnen Technologien: Fotovoltaik (geringe Faktorspezifität), Windkraft (mittlere Faktorspezifität), Bioenergie (hohe Faktorspezifität) und Nahwärmenetz (sehr hohe Faktorspezifität). Tabelle 14: Operationalisierung der Faktorspezifität. Technologie
Bewertung der Faktorspezifität
Zusammenfassung
Sachkapital
Humankapital
Standort
Faktorspezifität (Summe)
Ausprägung Variable
Fotovoltaik
gering ()
gering ()
gering ()
gering ()
Windkraft
mittel ()
mittel ()
gering ()
mittel ()
Biomasse
mittel ()
hoch ()
gering ()
hoch ()
Netzbetrieb
hoch ()
sehr hoch ()
sehr hoch ()
sehr hoch ()
Quelle: Eigene Darstellung.
Standort-Spezifität Bei Betrachtung der Technologien Fotovoltaik, Windkraft und Bioenergie ist eine geringe Standort-Spezifität für die Transaktion zwischen dem genossenschaftlichen Unternehmen und seinen Mitgliedern festzustellen, da der Wohnsitz des Mitglieds aufgrund der Netzeinspeisung der produzierten Elektrizität unerheblich ist. Dies ändert sich im Fall von Nahwärmenetzen, die jeweils nur in einem begrenzten Radius errichtet werden können, um die Übertragungsverluste minimal zu halten. Die Nutzbarkeit des Nahwärmenetzes ist folglich an den Standort des Mitglieds gekoppelt, was dazu führt, dass die Standort-Spezifität als sehr hoch einzustufen ist.1419 Die ordinale Rangfolge für die Standort-Spezifität lautet daher: Fotovoltaik (geringe Faktorspezifität), Windkraft (geringe Faktorspezifität), Bioenergie (geringe Faktorspezifität) und Nahwärmenetze (sehr hohe Faktorspezifität), wie ebenfalls in Tabelle 14 abzulesen ist.
1419 Joskow operationalisiert als einer der ersten Standort-Spezifität, indem er physisch nah beieinander befindliche Kohlereservoirs und Kohleverbraucher als „Mine-Mouth“-Fabriken klassifiziert und damit indirekt den Einfluss der Entfernung zwischen den Transaktionsparteien zur Beschreibung der Spezifität ihrer Investitionen nutzt (vgl. Joskow 1985, S. 77–78). Spiller (1985, S. 295) verwendet eine ähnliche Operationalisierung zur Messung der Standortspezifität, indem er zum einen die direkte Entfernung zwischen den Transaktionspartnern bestimmt und zum anderen die gemeinsame Ansiedlung in einem geografisch zusammenhängenden Raum wie einem Bundesstaat dokumentiert.
246
3 Modellentwicklung und Prüfung
Aggregiertes Maß der Faktorspezifität Das Ergebnis der Analyse der Subdimensionen der Faktorspezifität wird nun verdichtet, um einen aggregierten Wert für jede Energiegenossenschaft zu erhalten. Der mit der Aggregation einhergehende Datenverlust wird hier in Kauf genommen, da es in dieser Arbeit nicht um die Differenzierung von Subdimensionen der Faktorspezifität geht, sondern lediglich der Einfluss geringer oder erhöhter Faktorspezifität von Interesse ist. Anknüpfend an kombinierte Operationalisierungen der Faktorspezifität in der Literatur1420 werden die vorgenannten Subdimensionen mittels eines Scoring-Verfahrens zusammengefasst. Im Ergebnis entsteht die in Tabelle 14 zu sehende Verdichtung der Technologieanalyse. Die Addition der Subdimensionen der Faktorspezifität ergibt eine ordinale Rangfolge, deren maximale Ausprägung 12 = „sehr hohe“ Faktorspezifität und deren minimale Ausprägung 3 = „geringe“ Faktorspezifität aufweist. Da der Unterschied zwischen geringer und erhöhter Faktorspezifität im Mittelpunkt steht, wurde die ordinale Skala weiter verdichtet und eine dichotome Variable gebildet. Das Ergebnis des ScoringVerfahrens wurde durch eine Dummykodierung ersetzt, die den Wertebereich 0 und 1 der neuen Variable Faktorspezifität bildet. Die Kodierung 0 steht dabei für sehr geringe Faktorspezifität und die Kodierung 1 für erhöhte Faktorspezifität. Eine Dichotomisierung erscheint trotz Varianzverlust zweckmäßig, weil die Bewertungsdifferenz zwischen den Technologien Windkraft und Biomasse nur sehr klein ist, was die Reihung auf einer alternativen ordinalen Skala zumindest weniger robust erscheinen lässt. Eine ordinale Skala würde zudem in der später geplanten Regression1421 nicht ohne Weiteres zu verwenden sein, was ebenfalls für die Dichotomisierung spricht. In der Untersuchungsgesamtheit haben somit 353 Energiegenossenschaften eine sehr geringe Faktorspezifität und 169 Energiegenossenschaften eine erhöhte Faktorspezifität. 3.3.2.2.2 Transaktionsvolumen In der Literatur findet sich kein einheitliches Verfahren zur Operationalisierung des Transaktionsvolumens. Vielmehr existieren unterschiedliche, jeweils auf das Untersuchungsobjekt zugeschnittene Verfahren, mithilfe derer das Transaktionsvolumen bestimmt wird.1422 Eine Variante der Messung besteht darin, das Transaktionsvolumen
1420 Vgl. Fußnote 1399. 1421 Vgl. Abschnitt 3.3.3. 1422 Klein (1989, S. 256) misst das Transaktionsvolumen anhand mehrerer Indikatoren, die zusammengenommen einen Dollar-Betrag für das Verkaufsvolumen eines Produkts bilden. In einer weiteren Studie messen Klein et al. (1990, S. 201) das Transaktionsvolumen in einer Befragung durch den Umsatz mit unterschiedlichen Produkten.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
247
direkt aus dem Vertrag in Form von Geldeinheiten abzulesen.1423 Ein solches Vorgehen wird hier ebenfalls gewählt und an die Besonderheiten der Genossenschaftssatzung angepasst. Das Transaktionsvolumen wird in dieser Arbeit mithilfe des Pflichtanteils eines Genossenschaftsmitglieds operationalisiert.1424 Der Pflichtanteil ist eine rechnerische Größe, die in der Genossenschaftssatzung festgelegt wird, indem in der Satzung bestimmt ist, wie viele Geschäftsanteile ein neues Mitglied jeweils zu zeichnen hat.1425 Der Geschäftsanteil bezeichnet die kapitalmäßige Beteiligung des Mitglieds an der Genossenschaft.1426 Zur Berechnung des Transaktionsvolumens Vol einer Genossenschft i wurde der Pflichtanteil als Euro-Betrag aus den Satzungen extrahiert, in dem der Geschäftsanteil Gi mit den mindestens zu zeichnenden Anteilen Ai multipliziert wurde, wie in Formel 3 dargestellt ist. Durch diese Operationalisierung wird der minimale Betrag, der zum Beitritt zur Genossenschaft durch ein Mitglied aufzuwenden ist, als Transaktionsvolumen festgelegt. Formel 3: Transaktionsvolumen Voli = Gi × Ai Das Histogramm in Abbildung 10 gibt eine Übersicht über die Häufigkeitsverteilung des Transaktionsvolumens in der Untersuchungsgesamtheit.
1423 Leffler und Rucker (1991, S. 1077) operationalisieren das Transaktionsvolumen als die in einem Kontrakt festgelegte zu transferierende Menge. Ebers und Oerlemans (2016, S. 1505) operationalisieren das Transaktionsvolumen als Geldwert einer Transaktion. 1424 Das Transaktionsvolumen beinhaltet hier keine weiteren Investitionen neben dem Geschäftsanteil. Solche Investitionen fallen bei Mitgliedern von Nahwärmenetzgenossenschaften durch den Umbau des Hausanschlusses an (vgl. Degenhart 2010, S. 6 und S. 9). Es wird davon ausgegangen, dass die Hausanschlusskosten bei den untersuchten Nahwärmenetzgenossenschaften in etwa gleich groß sind. Bei Energieproduktionsgenossenschaften sind solche zusätzlichen Investitionen nicht zu erwarten. Da keine Daten über die jeweiligen Umbaukosten des Hausanschlusses bei Mitgliedern von Nahwärmenetzgenossenschaften verfügbar sind, muss diese Unschärfe hier in Kauf genommen werden. 1425 Die Genossenschaft muss den Pflichtanteil so wählen, dass die Transaktion durch die Summe der Pflichtanteile umsetzbar ist, da vonseiten der Genossenschaft gegenüber den Mitgliedern kein Anspruch besteht, dass diese sich mit höheren Beträgen am Geschäftsbetrieb der Genossenschaft beteiligen. Insofern kann durch den Pflichtanteil in jedem Fall das minimale Transaktionsvolumen bestimmt werden. Gleichwohl sind Genossenschaften in der Regel offen dafür, dass sich die Mitglieder auch mit mehr Geschäftsanteilen als dem Pflichtanteil beteiligen können. Dazu liegen jedoch keine Daten vor, weshalb der Pflichtanteil zur Bestimmung des Transaktionsvolumens herangezogen wird. 1426 Vgl. § 7 Nr. 1 Satz 1 GenG.
248
3 Modellentwicklung und Prüfung
400
Häufigkeit
300
200
100
0 0,00
5.000,00
10.000,00
15.000,00
Transaktionsvolumen Abbildung 10: Histogramm Transaktionsvolumen. Quelle: Eigene Darstellung.
3.3.2.3 Sozio-Geografie 3.3.2.3.1 Sozialkapital Im Rahmen der transaktionskostentheoretischen Forschung wurden meist individuell auf das Untersuchungsobjekt zugeschnittene Verfahren zur Messung des Sozialkapital-Konstrukts verwendet.1427 Wenngleich auch der umfangreiche Forschungsstand zu Sozialkapital keinen Konsens hinsichtlich der Operationalisierung des Konstrukts aufweist,1428 existieren zumindest Verfahren, die mittlerweile als etabliert bezeichnet werden können.1429 Auch aufgrund der Komplexität der Messung von Sozialkapital
1427 Vgl. Uzzi 1996, S. 686–687, BarNir und Smith 2002, S. 224–225, und Dyer und Chu 2003, S. 62. 1428 Vgl. Abschnitt 2.1.2.2. 1429 Vgl. van Deth 2003, S. 83.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
249
wird in dieser Arbeit auf eine bereits existierende Operationalisierung zurückgegriffen und es werden die dabei entstandenen Daten verwendet. Freitag und Traunmüller gehen in einer Untersuchung der Fragestellung nach, wie Sozialkapital in Deutschland auf regionaler Ebene verteilt ist.1430 Dazu werten sie Daten des Sozio-Ökonomischen-Panels (SOEP) aus den Jahren 2003 und 2005 aus, das eine räumlich differenzierte und repräsentative Erhebung zu Sozialkapital beinhaltet.1431 Die Befragung des SOEP ist eng angelehnt an das in der Literatur beschriebene Vorgehen zur Operationalisierung des Sozialkapitalkonstrukts.1432 Freitag und Traunmüller gelingt es in ihrer Arbeit, mittels einer Faktorenanalyse aus den Befragungsergebnissen des SOEP drei Dimensionen von Sozialkapital für die Raumordnungsregionen1433 in Deutschland zu berechnen.1434 Sie extrahieren die Faktoren soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen und weisen damit die in Literatur beschriebene Mehrdimensionalität des Konstrukts nach.1435 In der zugrunde liegenden Faktorenanalyse laden folgende Variablen auf den Faktor soziale Netzwerke: 1. das zeitliche
1430 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008. 1431 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 227–230. Wenngleich der Erhebungszeitpunkt (2003 und 2005) außerhalb des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit liegt (vgl. Abschnitt 3.3.1.2), wird dies hier aufgrund der Annahme toleriert, dass das Sozialkapital relativ stabil ist (vgl. Abschnitt 2.1.2.1) und auch für die Entstehung von Genossenschaften im Untersuchungszeitraum noch Gültigkeit hat. 1432 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 227–230, und van Deth 2003. 1433 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 227. Raumordnungsregionen sind zusammenhängende geografische Räume in Deutschland, die anhand von Pendlerbewegungen durch die statistischen Ämter gebildet wurden. Es handelt sich dabei also nicht nur um geografische Einheiten, sondern um sozial-räumlich zusammenhängende Gebiete. Das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist heute in 96 Raumordnungsregionen aufgeteilt. Kreisreformen in Sachsen und Sachsen-Anhalt verringerten die Anzahl der Raumordnungsregionen von zunächst 97 auf heute noch 96. Wie das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2014) schreibt, erfolgte die Aufteilung auf Basis von empirischen Analysen zu Pendlerverflechtungen von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und den Planungsregionen der Länder. Ein Kreis wurde einer Raumordnungsregion zugeordnet, wenn mehr als 15 % der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Pendler aus der Raumordnungsregion stammen (vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2014). Bei Raumordnungsregionen handelt es sich mit Ausnahme der Stadtstaaten auch um die räumlichen Planungsregionen der Länder (vgl. Legewie 2008, S. 297). Es könnte argumentiert werden, dass die Raumordnungsregionen zu große Gebiete sind und Aussagen auf dem Niveau der Raumordnungsregionen nicht den wesentlichen sozialräumlichen Kontext darstellen. Legewie findet in einer empirischen Untersuchung jedoch Bestätigung dafür, dass ein großer Teil der regionalen Varianz auf die Raumordnungsregionen zurückzuführen ist und damit von einer intern homogenen und extern heterogenen Struktur der Raumordnungsregionen ausgegangen werden kann (vgl. Legewie 2008, S. 297). „Mit diesen Gebieten wird der gesamte alltägliche Interaktionsraum eines Großteils der Bevölkerung abgedeckt“ (Legewie 2008, S. 297). Untersuchungen haben gezeigt, dass die Bevölkerungsbewegungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätte sich größtenteils innerhalb der Raumordnungsregionen abspielen (vgl. Legewie 2008, S. 297, und Freitag und Traunmüller 2008, S. 227). 1434 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 227–230. 1435 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 230–232, und Abschnitt 2.1.2.2.
250
3 Modellentwicklung und Prüfung
Engagement der Befragten in Vereinen oder Initiativen, 2. ihre Mitgliedschaft in lokalen Organisationen und 3. die Zeit, die die Befragten in informellen sozialen Netzwerken mit Freunden oder Nachbarn verbringen.1436 Die Variablen, die den Faktor Reziprozitätsnormen bilden, betreffen die Einstellung zur Erwiderung der Hilfsbereitschaft anderer Menschen.1437 Auf den Faktor soziales Vertrauen lädt einerseits das generelle Vertrauen gegenüber Mitbürgern und andererseits die Einschätzung zur Fairness anderer Bürger.1438 Zudem finden Freitag und Traunmüller eine regional unterschiedliche Verteilung der Sozialkapitaldimensionen.1439 Die Faktorwerte der Sozialkapitaldimensionen soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen für die Raumordnungsregionen werden in dieser Arbeit genutzt, um das Angebot an Sozialkapital im Gründungskontext einer Energiegenossenschaft zu operationalisieren.1440 Durch die Zuordnung der Energiegenossenschaften zu den heute bestehenden 96 Raumordnungsregionen können die Faktorwerte der Sozialkapitaldimensionen soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen mit den Gründungsorten der Energiegenossenschaften verknüpft werden. Dadurch ergibt sich ein Wert für die Ausprägung von sozialen Netzwerken SSki in der Gründungsregion einer Energiegenossenschaft ebenso wie für Reziprozitätsnormen Rezi und für soziales Vertrauen Trui . Die Häufigkeitsverteilung der Sozialkapitaldimensionen nach Zuordnung der Energiegenossenschaften der Untersuchungsgesamtheit zu den Raumordnungsregionen ist in Abbildung 11 dargestellt. 3.3.2.3.2 Regionalstruktur Ländlichkeit €ni soll anhand der Bevölkerungsdichte Die Operationalisierung der Ländlichkeit La der Gemeinde erfolgen, in der die Genossenschaft gegründet wurde. Durch die Bevölkerungsdichte kann der Grad, zu dem ein Gebiet als städtisch oder ländlich einzustufen ist, einfach dokumentiert werden, da besonders gering besiedelte Gebiete als eher ländlich einzustufen sind und umgekehrt. Die Bevölkerungsdichte ist auch in
1436 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 250. Uzzi (1996, S. 687) operationalisiert den Effekt der „Social Capital Embeddedness“, indem er die Zugehörigkeit der Akteure zu einem Unternehmensnetzwerk oder einer Unternehmensvereinigung als diskrete Variable kodiert. Dabei handelt es sich um personelle Verflechtungen und persönliche Beziehungen von Unternehmensmitgliedern untereinander. 1437 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 251. 1438 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 251. Dyer und Chu (2003, S. 62) untersuchen Vertrauen als Komponente von Sozialkapital, welches sie durch eine Befragung von Unternehmensvertretern ebenfalls mithilfe von Skalen operationalisieren. 1439 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 232–235. 1440 Vgl. Freitag und Traunmüller 2008, S. 252–255.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
80
Häufigkeit
60
40
20
0 –2,00
–1,00
0,00 1,00 Soziale Netzwerke
2,00
3,00
–8,00
–6,00
–4,00 –2,00 Reziprozitätsnormen
0,00
2,00
(a) 120
Häufigkeit
100 80 60 40 20 0 (b) 100
Häufigkeit
80 60 40 20 0 –3,00 (c)
–2,00
–1,00 0,00 1,00 Soziales Vertrauen
2,00
3,00
Abbildung 11: Histogramme soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen. Quelle: Eigene Darstellung.
251
252
3 Modellentwicklung und Prüfung
der Literatur als Indikator für die Ländlichkeit einer Region anerkannt.1441 So nutzt das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung für seine Gebietsklassifikation die Bevölkerungsdichte als Indikator zur Differenzierung,1442 was ebenfalls für die EUGebietsklassifikationen gilt.1443 Die Bevölkerungsdichte in der Gründungsgemeinde einer Energiegenossenschaft berechnet sich anhand der Einwohner Einwi pro Quadratkilometer Fläche Fli der Gemeinde, wie in Formel 4 beschrieben ist. Zur besseren Lesbarkeit werden die Werte der Variable mit -1 multipliziert. Dadurch zeigen höhere Werte eine stärkere Ländlichkeit an. Formel 4: Ländlichkeit €ni = La
Einwi × −1 Fli
Als Datenquelle werden Zensusdaten aus der Regionaldatenbank des Statistischen Bundesamts zum 31.12.2012 genutzt.1444 Die Wahl fällt dabei auf das Jahr 2012 zur Berechnung der Bevölkerungsdichte, da im Jahr 2011 von den statistischen Ämtern der letzte Zensus durchgeführt wurde und die Zählung zum 31.12.2012 die neuen Zensusdaten nutzt. Es wurde darauf verzichtet, jährliche Daten zu verwenden, da die Bevölkerungsdichte als relativ stabil angesehen werden kann und über den Zeitraum von knapp sieben Jahren der hier betrachtet wird, vermutlich nur geringfügig schwankt. Eine Betrachtung unterschiedlicher Zeitpunkte hätte zudem zur Folge, dass durch den Zensus 2011 eine Verzerrung in den Daten entstehen würde, die im Modell kontrolliert werden müsste.1445 Durch den Gemeindeschlüssel, der für jeden Gründungsort einer Energiegenossenschaft in der Datenbank vorliegt, werden die Daten des Statistischen Bundesamts zugeordnet. Die Ländlichkeit wird demnach als Bevölkerungsdichte des Gründungsorts der Energiegenossenschaft zum 31.12.2012 definiert. Es ergibt sich die in Abbildung 12 dargestellte Häufigkeitsverteilung der Bevölkerungsdichte in der Untersuchungsgesamtheit. Bevölkerungsstabilität In der Literatur ist kein Verfahren zur Operationalisierung der Bevölkerungsstabilität zu finden, weshalb hier ein eigener Ansatz gewählt wird. Zur Operationalisierung
1441 Vgl. Lutz et al. 2017, S. 4. 1442 Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2010. 1443 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2000. 1444 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014b. 1445 Der Zensus 2011 ergab eine deutliche Abweichung gegenüber den Bevölkerungsfortschreibungen aus den Vorjahren (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2013, S. 5). Die Bevölkerungsfortschreibungen aus den Jahren vor 2011 basieren auf der Volkszählung durch die statistischen Ämter von 1987.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
253
300
Häufigkeit
200
100
0 –5.000,00
–4.000,00
–3.000,00
–2.000,00
–1.000,00
0,00
Ländlichkeit Abbildung 12: Histogramm Ländlichkeit. Quelle: Eigene Darstellung.
der Bevölkerungsstabilität wird davon ausgegangen, dass eine besonders stabile Bevölkerungsstruktur dann entsteht, wenn die Mitglieder einer Gemeinde über längere Zeiträume miteinander interagieren können. Demnach sinkt die Stabilität der Bevölkerung durch Zuwanderung und Abwanderung der Bevölkerung. Als Indikator für die Stabilität der Bevölkerung soll die Zuwanderung zum Gemeindegebiet herangezogen werden, die durch Zensusdaten des Statistischen Bundesamts erhoben wird. Die Zuwanderungszahlen zum Gemeindegebiet werden den Abwanderungszahlen vorgezogen, da Erstere das Verhältnis von Altbürgern und Neubürgern eher beeinflussen. Die Abwanderung von Bevölkerungsteilen ist für eine Erhöhung der Instabilität in der Bevölkerungsstruktur weniger relevant, da ausschließliche Abwanderung nicht dazu führt, dass Neubürger integriert werden müssen. Dieses Argument wird durch die Ergebnisse der Gegenstandstheorie gestützt, in der explizit der Zuzug von Neubürgern als Quelle für Handlungsunsicherheit beschrieben wurde.1446 Die parallele Verwendung von Zuwanderungs- und Abwanderungszahlen wäre zudem aus einem methodischen Grund problematisch: Beide Variablen korrelieren stark, was Multikollinearität
1446 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.4.1.2.
254
3 Modellentwicklung und Prüfung
zur Folge hätte und die Stabilität der Regressionsanalyse gefährden würde.1447 Aus diesen Gründen wird hier die Zuwanderung zum Gemeindegebiet als Indikator für Bevölkerungsstabilität definiert. Die Zahlen zur Bevölkerungswanderung der Statistischen Bundesämter werden für den Zeitraum 2008–2012 als Durchschnittsdaten erfasst1448 und über den Gemeindeschlüssel den Energiegenossenschaften zugeordnet. Die Durchschnittsbildung über den betrachteten Zeitraum bot sich sowohl aufgrund der Datenverfügbarkeit an1449 als auch deshalb, weil dadurch einmalige Effekte korrigiert werden konnten und zudem in dem betrachteten Zeitraum die meisten Gründungen von Energiegenossenschaften in der Untersuchungsgesamtheit stattfanden. Die Zuwanderung von Einzelpersonen Zzi wird, wie in Formel 5 dargestellt ist, in das Verhältnis zu den Einwohnern Einwi der Gemeinde zum 31.12.2012 gesetzt, um die relative Bedeutung der Zuwanderung zu erfassen. Die Stabilität der Bevölkerung Zuwi wird als durchschnittliche Zuzüge im Zeitraum 2008–2012 pro Einwohner zum 31.12.2012 definiert.1450 Zur besseren Lesbarkeit werden die Werte der Variable mit -1 multipliziert. Dadurch zeigen höhere Werte eine stärkere Bevölkerungsstabilität an. Formel 5: Bevölkerungsstabilität Zzi Zzi Zzi Zzi Zzi 5 2008 + 5 2009 + 5 2010 + 5 2011 + 5 2012 × −1 Zuwi = Einwi Es ergibt sich die in Abbildung 13 dargestellte Häufigkeitsverteilung der Bevölkerungsstabilität in der Untersuchungsgesamtheit.
Umweltorientierung Die Umweltorientierung der lokalen Bevölkerung in der Gründungsgemeinde einer Energiegenossenschaft Umwi wird anhand der durchschnittlichen Wahlergebnisse für die Partei „Die Grünen“ bei den Bundestagswahlen 2009 und 2013 operationalisiert.
1447 Vgl. Abschnitt 3.3.3.3. 1448 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014d. 1449 Zahlen für die Jahre 2006 und 2007 auf Gemeindeebene waren nicht zugänglich. Eine daraus möglicherweise resultierende Unschärfe wird in Kauf genommen, da diese aufgrund der relativ gesehen geringen Gründungszahlen in den Jahren 2006 und 2007 vertretbar ist. 1450 Die Gemeinden Visbek und Friedland im Kreis Göttingen können bei den Zuzügen als Ausreißer klassifiziert werden. Sie weisen durchschnittliche Zuzüge von mehr als 25 % (Visbek) beziehungsweise 54 % (Friedland) der lokalen Bevölkerung auf. Für die Gemeinde Visbek verzerrt die Meldung von Saisonarbeitern die Statistik (vgl. Loos 2012, S. 71–73). In der Gemeinde Friedland handelt es sich um einen künstlichen Effekt, der durch die Erstmeldung von Spätaussiedlern entsteht. Die Werte für beide Gemeinden wurden durch den Mittelwert an Zuzügen, der in der Untersuchungsgesamtheit bei 5,5 % liegt, ersetzt. Die Verwendung des Mittelwerts als Strategie zur Vermeidung von fehlenden Werten wird auch in der Literatur als geeignetes Vorgehen vorgeschlagen (vgl. Little und Rubin 2002, S. 20).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
255
80
Häufigkeit
60
40
20
0 –0,14
–0,12
–0,10
–0,08
–0,06
–0,04
–0,02
0,00
Bevölkerungsstabilität Abbildung 13: Histogramm Bevölkerungsstabilität. Quelle: Eigene Darstellung.
Das Wahlprogramm der Partei „Die Grünen“ beinhaltet traditionell zahlreiche Umweltthemen,1451 weshalb von einer überdurchschnittlichen Umweltorientierung ihrer Wählerschaft auszugehen ist.1452 Die Stimmabgabe eines Bürgers ist gleichzeitig ein umfangreicher Ausdruck seiner Einstellung, weshalb die Wahlentscheidung ein passender Indikator für die Umweltorientierung einer Person ist.1453 Zur Messung der Umweltorientierung wird für jede Gemeinde, in der eine
1451 Vgl. Bündnis 90/Die Grünen 2009 und Bündnis 90/Die Grünen 2013. 1452 Eine empirische Untersuchung zeigt, dass die Wahl der Partei „Die Grünen“ mit einer umfassenden Umweltorientierung assoziiert ist, auch wenn für zahlreiche sozio-demografische Variablen kontrolliert wird (vgl. Preisendörfer 1999, S. 156). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das Wahlergebnis der Partei „Die Grünen“ ein zweckmäßiger Indikator für die Umweltorientierung der Bevölkerung ist. Eine empirische Untersuchung zum Konsumverhalten von Stromkunden zeigt zudem, dass die Wähler der Partei „Die Grünen“ eine erhöhte Kaufbereitschaft für erneuerbare Energien haben (vgl. Sagebiel et al. 2014, S. 97–98). Auch dieses Ergebnis spricht für eine erhöhte Umweltorientierung der Wähler der Partei „Die Grünen“. 1453 Eine aktuelle empirische Studie findet einen positiven Zusammenhang zwischen dem lokalen Wahlerfolg der Partei „Die Grünen“ und der installierten Windkraftanlagen-Kapazität vor Ort (vgl. Goetzke und Rave 2016, S. 200). Dieses Ergebnis zeigt, dass die anhand des Wahlerfolgs der
256
3 Modellentwicklung und Prüfung
Energiegenossenschaft gegründet wurde, ermittelt, wie viele Stimmen die Par€nei bei den beiden Bundestagswahlen 2009 und 2013 im tei „Die Grünen“ Gru Verhältnis zu den Wahlberechtigten im jeweiligen Wahlkreis Wbi erhalten hat. Zusätzlich wird die durchschnittliche Wahlbeteiligung Wbeti bei beiden Bundestagswahlen ermittelt und mit dem Durchschnittswert des Abschneidens der Partei „Die Grünen“ multipliziert, wie in Formel 6 dargestellt ist. Dadurch werden Wahlbezirke mit hoher Wahlbeteiligung stärker gewichtet, was aufgrund der stärkeren Aussagekraft von Wahlergebnissen mit hoher Wahlbeteiligung als zweckmäßig erscheint. Formel 6: Umweltorientierung €ne 2009i €ne 2013i Gru Gru Wbet 2009i + Wbet 2013i × + Umwi = Wb 2009i × 2 Wb 2013i × 2 2
100
Häufigkeit
80
60
40
20
0 0,000
0,025
0,050
0,075
0,100
0,125
Umweltorientierung Abbildung 14: Histogramm Umweltorientierung. Quelle: Eigene Darstellung.
Partei „Die Grünen“ gemessene Umweltorientierung der Bevölkerung sich in einer beschleunigten Energiewende vor Ort manifestiert.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
257
Als Quelle dienen Daten des Statistischen Bundesamts, die mithilfe der Gemeindeschlüssel den Genossenschaften zugeordnet werden.1454 Es ergibt sich dadurch die in Abbildung 14 dargestellte Verteilung der Umweltorientierung in den Gründungsgemeinden der untersuchten Energiegenossenschaften. 3.3.2.4 Genossenschaftspopulation Zur Untersuchung der Effekte Populationsgröße und Populationskonzentration ist es erforderlich, jede Energiegenossenschaft in der Gesamtpopulation der Energiegenossenschaften zu verorten. Die Gesamtpopulation umfasst in diesem Fall alle Elemente der Brutto-Untersuchungsgesamtheit.1455 Populationsgröße und Populationskonzentration können gemessen werden, indem für jede Energiegenossenschaft der Gründungszeitpunkt und der Gründungsort dokumentiert werden. Zur zeitlichen Verortung werden alle Energiegenossenschaften der BruttoUntersuchungsgesamtheit anhand ihres Gründungsdatums sortiert und ihnen dann eine fortlaufende Nummer zugewiesen. Diese Nummer zeigt an, zu welchem Zeitpunkt innerhalb der Brutto-Untersuchungsgesamtheit die Energiegenossenschaft gegründet wurde und wie viele Energiegenossenschaften es bereits inklusive der betrachteten Energiegenossenschaft zu diesem Zeitpunkt gibt.1456 Das Gründungsdatum ist der Zeitpunkt der Satzungsunterzeichnung.1457 Folglich ist die Summe
1454 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014a. Bei zwölf Gemeinden gab es jeweils nur einen Wert, entweder zur Bundestagswahl 2009 oder zur Bundestagswahl 2013. In acht Fällen 2013 und in vier Fällen 2009. Es wurde für diese Gemeinden der aus der anderen Wahlperiode vorhandene Wert direkt übernommen (vgl. Little und Rubin 2002, S. 20, und Fußnote 1450). 1455 Hier wird folglich nicht auf die Netto-Untersuchungsgesamtheit (N = 522) abgestellt, sondern zur Verortung der Energiegenossenschaft in der Population der Energiegenossenschaften auf die Brutto-Untersuchungsgesamtheit (N = 552) zurückgegriffen (vgl. Abschnitt 3.3.1.2). Damit ist gewährleistet, dass die selektierte Population der Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften vollständig abgebildet ist und die Genauigkeit der Verortung der Energiegenossenschaften der NettoUntersuchungsgesamtheit in der Population erhöht wird. Eine alternative Beschränkung auf die Netto-Untersuchungsgesamtheit hätte eine leichte Verzerrung bei der Bestimmung der Position der Energiegenossenschaften in der Population zur Folge, da 30 Energiegenossenschaften der Population nicht mitbetrachtet werden würden. Hierdurch ergibt sich in Abbildung 15 ein höherer Startwert, da in der Netto-Untersuchungsgesamtheit nur Energiegenossenschaften enthalten sind, die nach dem 18.8.2006 gegründet wurden und für die eine Satzung recherchierbar war (vgl. Abschnitt 3.3.1.2). 1456 In der Literatur wird die Populationsgröße ebenso durch die Zählung der Elemente einer Population zu unterschiedlichen Zeitpunkten in einem geografisch definierten Raum bestimmt (vgl. Staber 1989a, S. 67–68, und Lomi 1995a, S. 81). 1457 Bei insgesamt 15 Energiegenossenschaften war kein Gründungsdatum recherchierbar. Da im Durchschnitt zwischen dem Datum der Registereintragung und dem Gründungsdatum 212 Tage liegen, wurde das Datum der Registereintragung für die fehlenden Werte um 212 Tage nach hinten korrigiert, sodass das Gründungsdatum approximativ bestimmt werden konnte (vgl. Little und Rubin 2002, S. 20, und Fußnote 1450).
258
3 Modellentwicklung und Prüfung
aller zum Gründungsdatum einer Energiegenossenschaft in der Bundesrepublik Deutschland existierenden Nahwärmenetz- und Energieproduktionsgenossenschaften hier als Populationsgröße zum Gründungszeitpunkt definiert. Das zeitliche Anwachsen der Population der Energiegenossenschaften ist in Abbildung 15 dargestellt.
600
Populationsgröϐe
500 400 300 200 100 0
01.01.2007 01.01.2008 01.01.2009 01.01.2010 01.01.2011 01.01.2012 01.01.2013 Gründungszeitpunkt
Abbildung 15: Diagramm Populationsgröße der Energiegenossenschaften. Quelle: Eigene Darstellung.
Zur Messung der Populationskonzentration wird auf Ebene der Raumordnungsregionen1458 die Populationsgröße ermittelt. Folglich ist die Summe aller zum Gründungsdatum einer Energiegenossenschaft in der jeweiligen Raumordnungsregion existierenden Nahwärmenetz- und Energieproduktionsgenossenschaften hier als Populationskonzentration zum Gründungszeitpunkt definiert. Die Abbildung 16 zeigt die Verteilung der Populationskonzentration der Energiegenossenschaften. 3.3.2.5 Gestaltende Akteure 3.3.2.5.1 Verfasstheit Initiator Die Operationalisierung der Verfasstheit von Genossenschaftsinitiatoren oder verwandter Konzepte ist aus der Literatur nicht bekannt, weshalb hier ein neuer Ansatz der Messbarmachung vorgestellt wird. Zur Operationalisierung des Konstrukts 1458 Zur Erläuterung der Raumordnungsregionen siehe Fußnote 1433.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
259
80
Häufigkeit
60
40
20
0 0,00
5,00
10,00
15,00
20,00
25,00
Populationskonzentration Abbildung 16: Histogramm Populationskonzentration. Quelle: Eigene Darstellung.
Verfasstheit sind eine Recherche der Initiatoren und ihre Klassifizierung als natürliche oder juristische Personen notwendig. Da es in dieser Arbeit lediglich um die Differenzierung von natürlichen und juristischen Personen geht, konnte die Klassifizierung anhand der Daten in der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“1459 vorgenommen werden. Hierzu wurde eine Dummy-Variable eingeführt, die die Merkmalsausprägungen 0 = „nicht verfasst“ und 1 = „verfasst“ aufweist. Die Initiatoren der Energiegenossenschaften können anhand von Hinweisen im Internet ermittelt werden. Oft ist es der Fall, dass Energiegenossenschaften ihre Gründungsgeschichte oder Hinweise zu den Initiatoren auf ihrer Internetseite präsentieren. Zudem geben auch die Satzungen Einblick, ob verfasste Initiatoren an der Gründung beteiligt waren. Beispielsweise werden Aufsichtsratsmandate für Vertreter der Kommunalwirtschaft reserviert, sofern diese als Initiator der Energiegenossenschaft aufgetreten ist. Weiterhin lässt sich auch am Namen der Energiegenossenschaften ein Bezug zu den Initiatoren herstellen, wie beispielsweise die „BürgerEnergiegenossenschaften“ oder die „Friedrich-Wilhelm-Raiffeisengenossenschaften“. Im Rahmen der
1459 Vgl. Müller et al. 2015b.
260
3 Modellentwicklung und Prüfung
Entwicklung der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“1460 wurde eine Recherche zu den Initiatoren und eine nachfolgende Klassifizierung der Initiatoren in 13 Kategorien vorgenommen.1461 Die Kategorien, die Grundlage der Klassifizierung waren, ergaben sich aus der Recherche zu den Energiegenossenschaften und sind damit empirisch begründet. Zu den Kategorien gehören: Bank, Kommune, Stadtwerk, Energieversorgungsunternehmen, Landwirte, Energieinitiative, Privatpersonen, Unternehmen, Mitarbeiter eines Unternehmens, kirchliche Einrichtungen, Verbände/ Vereine/Universitäten und Energiegenossenschaften. In 132 Fällen ergab die Recherche keinen Aufschluss über den Initiator der Energiegenossenschaft. Insgesamt konnte für die Untersuchungsgesamtheit in 390 Fällen der Initiator ermittelt werden. Für Energiegenossenschaften, für die kein Initiator explizit recherchiert werden konnte, ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um Privatpersonen handelt: Die Erfahrung des Autors mit Energiegenossenschaften zeigt, dass verfasste Initiatoren sich mit ihrem Engagement für die Gründung einer Energiegenossenschaft eher öffentlichkeitswirksam positionieren.1462 Auch wenn die betreffende Organisation, die als Initiator fungiert, entgegen der allgemeinen Beobachtung nicht prominent mit der Genossenschaftsgründung werben sollte, so finden sich doch Hinweise auf die Verbindung zwischen beiden juristischen Personen.1463 Privatpersonen nehmen sich als Initiatoren von Energiegenossenschaften hingegen meist stark zurück, um das Engagement weiterer Bürger in der Energiegenossenschaft nicht zu gefährden, wie die qualitativ-explorative Untersuchung zeigt.1464 Energiegenossenschaften, für die keine Initiatoren recherchiert werden konnten, wurden deshalb als nicht verfasste Initiatoren klassifiziert.1465 Energiegenossenschaften, bei denen die folgenden Initiatoren an der Gründung beteiligt waren, wurden als verfasst klassifiziert: Bank,
1460 Vgl. Müller et al. 2015b. 1461 Eine Recherche der Initiatoren und anschließende Klassifizierung wurde von Holstenkamp und Ulbrich (2010, S. 11–13) für Genossenschaften im Fotovoltaikbereich entwickelt. Die von Holstenkamp und Ulbrich (2010, S. 11–13) beschriebenen Kategorien sind eine wesentliche Grundlage der Klassifizierung der Energiegenossenschaften in der Datenbank „Energiegenossenschaften in Deutschland“ (vgl. Abschnitt 3.3.1.1). Die Recherche der Initiatoren wurde von studentischen Mitarbeitern am Institut für Bank-, Finanz- und Rechnungswesen der Leuphana Universität Lüneburg durchgeführt. Zu nennen ist hier insbesondere die Arbeit von Nils Rückheim. 1462 Beispielsweise indem der Name der Genossenschaft so gewählt wird, dass auf den Initiator zurückgeschlossen werden kann, wie es im Fall der Volkswagen Belegschaftsgenossenschaft für regenerative Energien am Standort Emden eG deutlich wird. 1463 Als Beispiel sei hier die Reservierung von Aufsichtsratsmandaten für Vertreter der Initiatoren in den Satzungen von Energiegenossenschaften zu nennen, wie beispielsweise in der Satzung der BürgerSolarpark Niebüll eG für die Kommune und das örtliche Stadtwerk. 1464 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.1. 1465 Wenngleich dieses Vorgehen die Gefahr einer falschen Zuordnung birgt, wird es aufgrund der angeführten Argumente als beste verfügbare Option ausgewählt. Bei der Beurteilung der Ergebnisse sollte die Möglichkeit einer falschen Zuordnung jedoch als potenzielle Limitation diskutiert werden (vgl. Kapitel 4.3).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
261
Kommunen, Stadtwerk, Energieversorgungsunternehmen, Unternehmen, Mitarbeiter eines Unternehmens,1466 kirchliche Einrichtungen, Verbände/Vereine/Universitäten und Energiegenossenschaften. Als nicht verfasste Initiatoren wurden Privatpersonen, Landwirte, Energie-Initiativen und unbekannte Initiatoren klassifiziert, wie in Tabelle 15 dargestellt ist.
Tabelle 15: Kodierung der Verfasstheit. Initiator
Verfasstheit
Ausprägung Variable
Unbekannt
nein
Landwirte
nein
Energie-Initiative
nein
Privatpersonen
nein
Bank
ja
Kommune
ja
Stadtwerk
ja
Energieversorger
ja
Unternehmen
ja
Unternehmens-Mitarbeiter
ja
Kirchliche Einrichtung
ja
Verbände, Vereine, Universitäten
ja
Energiegenossenschaften
ja
Quelle: Eigene Darstellung.
Insgesamt wurden 254 Energiegenossenschaften der Untersuchungsgesamtheit von juristischen Personen gegründet. Bei 268 Energiegenossenschaften waren die Initiatoren natürliche Personen.
1466 Im Unterschied zum Initiator „Unternehmen“ handelt es sich hierbei nicht um Gremienvertreter der Organisation, sondern um Mitarbeiter des Unternehmens, die keine Vertretungsberechtigung für das Unternehmen innehaben. Es handelt sich deshalb faktisch nicht um ein Unternehmen, das als Initiator auftritt, sondern um eine Gruppe von Mitarbeitern des Unternehmens. Ein Beispiel hierfür ist die Volkswagen Belegschaftsgenossenschaft für regenerative Energien am Standort Emden eG.
262
3 Modellentwicklung und Prüfung
3.3.2.5.2 Erfahrung Genossenschaftsverband Das Erfahrungs-Konstrukt wird in der Literatur häufig durch die Zählung von Erfahrungssituationen operationalisiert.1467 Dabei besteht die Annahme, dass die Erfahrung mit jeder zusätzlichen Erfahrungssituation anwächst. Ein solcher Zusammenhang wird grundsätzlich auch zur Operationalisierung der Erfahrung des Genossenschaftsverbands bei der Gründung von Energiegenossenschaften unterstellt. Es wird also davon ausgegangen, dass jede bereits einem Genossenschaftsverband angehörende Energiegenossenschaft zu der Erfahrung beiträgt, die der Genossenschaftsverband bei der Begleitung einer neu zu gründenden Energiegenossenschaft besitzt. Um die Erfahrung eines Genossenschaftsverbands zu operationalisieren, wurde zunächst die Zugehörigkeit der Energiegenossenschaften zu den jeweiligen Genossenschaftsverbänden recherchiert.1468 Hierzu wurden Daten aus den Satzungen, den zugänglichen Jahresabschlüssen und den Internetpräsenzen der Energiegenossenschaften herangezogen sowie Daten aus den Veröffentlichungen der Genossenschaftsverbände. Es war möglich, für insgesamt 540 Energiegenossenschaften der Brutto-Untersuchungsgesamtheit1469 den zugehörigen Genossenschaftsverband zu recherchieren.1470 Die Energiegenossenschaften in der Brutto-Untersuchungsgesamtheit sind in 21 Genossenschaftsverbänden organisiert, wie in Tabelle 16 dargestellt ist.
1467 Teng und Das (2008, S. 726) operationalisieren Erfahrung beispielsweise, indem sie die vormaligen Allianzen eines Akteurs zählen. Brahm und Tarzijan (2014, S. 232) messen Erfahrung, indem sie die kumulative Transaktionsanzahl eines Akteurs als Indikator für seine Erfahrung definieren. 1468 In Deutschland gibt es 33 Genossenschaftsverbände (vgl. Verein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens e. V. 2014), die als Prüfungsverbände bezeichnet werden und in §§ 53–64 c GenG gesetzlich definiert sind. Nach Geschwandtner und Helios (2006, S. 291–293) bietet sich eine Einteilung der Genossenschaftsverbände in Spitzenverbände, regionale Prüfungsverbände, Fachprüfungsverbände und organisationsfreie Prüfungsverbände an. Genossenschaftsverbände unterliegen der staatlichen Aufsicht und müssen in der Rechtsform des eingetragenen Vereins verfasst sein. Die Mitglieder in genossenschaftlichen Prüfungsverbänden dürfen nur eingetragene Genossenschaften sein (vgl. §§ 53–64 c GenG). 1469 Abweichend wird hier die Brutto-Untersuchungsgesamtheit betrachtet, die, wie in Abschnitt 3.3.1.2 dargestellt, aus 552 Energiegenossenschaften besteht. So konnte die Erfahrung der Genossenschaftsverbände mit den neu gegründeten Genossenschaften umfassend berücksichtigt werden. Würde die Netto-Untersuchungsgesamtheit herangezogen, so würden die Nahwärmenetzund Energieproduktionsgenossenschaften nicht als erfahrungssteigernd berücksichtigt werden, die vor dem 18.08.2006 gegründet wurden oder für die keine Satzung recherchierbar war. 1470 Bei insgesamt 12 Energiegenossenschaften konnte keine Verbandszugehörigkeit ermittelt werden. Um fehlende Werte zu vermeiden, wurde über den Standort der betreffenden Energiegenossenschaften auf die Zugehörigkeit zu einem regionalen Prüfungsverband geschlossen. Dieses Vorgehen bietet sich deshalb an, weil Energiegenossenschaften in 92 % der Fälle einem regionalen Prüfungsverband wie dem Rheinisch-Westfälischen Genossenschaftsverband e. V. (RWGV), dem Genossenschaftsverband Bayern e. V. (GVB), dem Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband e. V. (BWGV), dem Genossenschaftsverband e. V. (GV) oder dem Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V. (GVWE) angehören und deshalb eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass auch die nicht direkt zuordenbaren Genossenschaften ihrem regionalen Prüfungsverband angehören.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
263
Tabelle 16: Erfahrung der Genossenschaftsverbände mit Energiegenossenschaften. Genossenschaftsverband
Anzahl Energiegenossenschaften im Verband
Anteil
kumulativer Anteil
Genossenschaftsverband e. V.
, %
, %
Genossenschaftsverband Bayern e. V.
, %
, %
Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e. V.
, %
, %
Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V.
, %
, %
Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V.
, %
, %
Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V.
, %
, %
Allgemeiner Genossenschaftlicher Prüfungsverband e. V.
, %
, %
Prüfungsverband der kleinen und mittelständischen Genossenschaften e. V.
, %
, %
Fachprüfungsverband von Produktivgenossenschaften in Mitteldeutschland e. V.
, %
, %
Prüfungsverband der Deutschen Verkehrs-, Dienstleistungs- und Konsumgenossenschaften e. V.
, %
, %
Prüfungsverband deutscher Konsum- und Dienstleistungsgenossenschaften e. V.
, %
, %
vdp MitUnternehmer- und Genossenschaftsverband e. V.
, %
, %
ECOVIS Genossenschaftsprüfverband e. V.
, %
, %
Prüfungsverband der Sozial- und Wirtschaftsgenossenschaften e. V.
, %
, %
Prüfungsverband Deutscher Genossenschaften e. V.
, %
, %
264
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 16 (fortgesetzt ) Genossenschaftsverband
Anzahl Energiegenossenschaften im Verband
Anteil
kumulativer Anteil
Verband der Südwestdeutschen Wohnungswirtschaft e. V.
, %
, %
Potsdamer Prüfungsverband e. V.
, %
, %
PROGRESS Genossenschaftsverband e. V.
, %
, %
Prüfungsverband Deutscher Produktiv- und Dienstleistungsgenossenschaften e. V.
, %
, %
Prüfungsverband Thüringer Wohnungsunternehmen e. V.
, %
, %
vbw Verband baden-württembergischer Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V.
, %
, %
%
Gesamtsumme Quelle: Eigene Berechnung.
Die Erfahrung des Genossenschaftsverbands zum Gründungszeitpunkt einer Genossenschaft ist von der Anzahl der bereits im Verband organisierten Energiegenossenschaften abhängig. Um die Erfahrung eines Genossenschaftsverbands zum Gründungszeitpunkt einer Energiegenossenschaft zu bestimmen, wird die Zahl der im Verband organisierten Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften summiert.1471 Je mehr Energiegenossenschaften dem Genossenschaftsverband angehören, desto höher ist seine Erfahrung.
1471 Die Fusionen von Genossenschaftsverbänden konnten in dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden, da lediglich Daten zur Organisation der Energiegenossenschaften zum Datenerhebungszeitpunkt vorliegen. Beispielsweise ist der Genossenschaftsverband e. V. mit dem Norddeutschen Genossenschaftsverband e. V. im Jahr 2008 fusioniert und mit dem Mitteldeutschen Genossenschaftsverband e. V. im Jahr 2012. Auch die Fusion des Badischen Genossenschaftsverbands e. V. mit dem Württembergischen Genossenschaftsverband e. V. zum Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband e. V. im Jahr 2008 ist zu nennen. In dieser Arbeit wird also davon ausgegangen, dass die Verbandszugehörigkeit der Energiegenossenschaften zum Datenerhebungszeitpunkt auch der Verbandszugehörigkeit der Energiegenossenschaften zum Gründungszeitpunkt entspricht. Es kann also beispielsweise nicht bestimmt werden, wie viele Energiegenossenschaften der Württembergische Genossenschaftsverband e. V. vor der Fusion mit dem Badischen Genossenschaftsverband e. V. hatte. Dies stellt eine Quelle für Messungenauigkeiten dar, da sowohl der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband e. V. als auch der Genossenschaftsverband e. V. im Untersuchungszeitraum aus Fusionen entstanden sind. Allerdings wird dieser Effekt
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
265
Da in dieser Arbeit insbesondere von Interesse ist, wie ein erfahrener Genossenschaftsverband auf die Entstehung der Governance wirkt, und die Variable später zudem als Moderatorvariable verwendet werden soll, erscheint eine Dichotomisierung zweckmäßig.1472 Für eine Dichotomisierung spricht ferner die Tatsache, dass der Erfahrungszuwachs einer zusätzlichen Energiegenossenschaftsgründung mit steigender Anzahl bereits im Genossenschaftsverband organisierter Energiegenossenschaften abnimmt.1473 Es ist folglich ein Schwellenwert festzulegen, zu dem ein Genossenschaftsverband als erfahren bezeichnet werden kann. Hier wird davon ausgegangen, dass ein Genossenschaftsverband nach der Gründungsbegleitung von 20 Energiegenossenschaften als erfahren zu bezeichnen ist und der Erfahrungszuwachs durch weitere Gründungsbegleitungen marginal wird. Für diese Annahme spricht die Beobachtung, dass vereinzelte Neugründungen von Energiegenossenschaften zunächst zu keiner systematischen Bearbeitung durch die Genossenschaftsverbände führten und jede Gründung als Einzelfall behandelt wurde. Ab einem Schwellenwert, der hier zwischen drei und fünf Neugründungen vermutet wird, fängt der Genossenschaftsverband an, vermehrt Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken
dadurch gemildert, dass zwei Fusionen relativ früh im Untersuchungszeitraum liegen und zu diesem Zeitpunkt insgesamt noch sehr wenige Energiegenossenschaften existierten. Sowohl der Norddeutsche Genossenschaftsverband e. V., der Genossenschaftsverband e. V., der Badische Genossenschaftsverband e. V. und der Württembergische Genossenschaftsverband e. V. können zum Fusionszeitpunkt im Jahr 2008 als unerfahren in Bezug auf Energiegenossenschaften eingestuft werden, weshalb allenfalls von geringen Verzerrungen in den Daten auszugehen ist. Der Verbandswechsel einer Genossenschaft ist als weitere Fehlerquelle zu nennen, die nach der praktischen Erfahrung des Autors dieser Arbeit jedoch als seltenes Ereignis einzustufen ist. Die hierdurch möglicherweise entstehenden Messfehler werden in den Abschnitten 4.1.2.4.2 und 4.3 diskutiert. 1472 Kontinuierlich skalierte Variablen verursachen Interpretationsprobleme bei Interaktionseffekten mit ebenfalls kontinuierlich skalierten Variablen (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 297–298, oder Jaccard et al. 1990, S. 26). Die Ursache liegt darin, dass mögliche Verzerrungen aus der Multiplikation entstehen können, da die Multiplikation von zwei kontinuierlichen Variablen in einer nichtlinearen Steigerung des Interaktionsterms resultieren kann. Zudem ergeben sich mehrere Kombinationsmöglichkeiten für einen Wert des Interaktionsterms, was die Interpretation deutlich erschwert (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 297–298). Um Interpretationsprobleme zu vermeiden, bietet es sich deshalb an, kontinuierlich skalierte Moderatorvariablen in Dummy-Variablen zu rekodieren (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 296). Die Dichotomisierung kann dazu anhand von inhaltlichen Überlegungen begründet werden (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 298–299), wie es in dieser Arbeit der Fall ist. Auch zur Vermeidung von Multikollinearitätsproblemen bietet sich dieses Vorgehen an. Siehe hierzu auch Abschnitt 3.3.3.3. 1473 Ein abnehmender Grenznutzen zusätzlicher Erfahrungssituationen ist dann anzunehmen, wenn eine Erfahrungssituation erneut durchlaufen wird. Bei der Gründungsberatung von Energiegenossenschaften handelt es sich um relativ homogene Ereignisse aus Sicht des Genossenschaftsverbands. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Geschäftsmodelle der Energiegenossenschaften sich wiederholen. Aufgrund der ausschließlichen Betrachtung von Energieproduktions- und Nahwärmenetzgenossenschaften ist von einem abnehmenden Erfahrungszuwachs bei jeder Neugründung in einem Genossenschaftsverband auszugehen.
266
3 Modellentwicklung und Prüfung
und dieses systematisch zu behandeln. Es werden in der Folge Routinen entwickelt und es kommt zu einem organisierten Erfahrungszuwachs sowie teilweise zu der Etablierung von Fachabteilungen. Der Erfahrungszuwachs wird dann marginal, wenn die Gründungsberatung standardisiert wurde und Mitarbeiter sich entsprechend spezialisiert haben.1474 Hier wurde mit 20 Gründungen ein relativ hoher Grenzwert gewählt, bei dem davon auszugehen ist, dass der betreffende Genossenschaftsverband als erfahren eingestuft werden kann.1475 Insgesamt wurden in der NettoUntersuchungsgesamtheit 396 Gründungen von Energiegenossenschaften durch einen erfahrenen Genossenschaftsverband organisiert und 126 Gründungen durch einen unerfahrenen Genossenschaftsverband.1476 3.3.2.6 Kontrollvariablen Um Spezifikationsproblemen1477 und den damit verbundenen Fehlern in der Regressionsanalyse vorzubeugen, werden Kontrollvariablen aufgenommen, die einen alternativen Erklärungsansatz bieten und somit den Einfluss der Untersuchungsvariablen
1474 Am Beispiel des RWGV kann beobachtet werden, dass dieser im Geschäftsbericht 2007 Energiegenossenschaften noch nicht explizit erwähnt, da zum Jahresende 2007 erst eine Energiegenossenschaft aus der Untersuchungsgesamtheit im RWGV organisiert war (vgl. Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V. 2007). Im Jahr 2008 steigt die Zahl der Energiegenossenschaften der Untersuchungsgesamtheit, die im RWGV organisiert sind, auf insgesamt fünf an und etliche weitere befinden sich bereits im Gründungsverfahren. Daraufhin wird der Trend im Geschäftsbericht 2008 des RWGV identifiziert (vgl. Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V. 2008). Im Geschäftsbericht des Jahres 2009 wird der Darstellung von Energiegenossenschaften dann deutlich mehr Platz eingeräumt und diese werden als wichtiger Trend vorgestellt (vgl. Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V. 2009). Es ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt verbandsintern Routinen etabliert sind und die Gründungsaktivität neuer Energiegenossenschaften verstärkt beobachtet wird. Im Jahr 2009 steigt die Anzahl der gegründeten Energiegenossenschaften, die im RWGV organisiert sind, auf insgesamt 23 an. 1475 Vgl. Fußnote 1474. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass es sich um eine subjektive Festlegung handelt, die auf der Einschätzung des Autors und seiner Erfahrung mit dem Untersuchungsobjekt beruht und die deshalb in den Abschnitten 4.1.2.4.2 und 4.3 diskutiert wird. 1476 Die Genossenschaftsverbände, die nach Geschwandtner und Helios (2006, S. 291–293) als regionale Prüfungsverbände zu bezeichnen sind, wie der GV, GVB, GVWE, der BWGV und der RWGV, können in ihrem Erfahrungsschatz deutlich von den übrigen Genossenschaftsverbänden unterschieden werden. Diese Differenz wird auch in Tabelle 16 anhand der Differenz der organisierten Energiegenossenschaften im GVWE und im Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e. V. deutlich. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass auch die regionalen Genossenschaftsverbände zu Beginn der Gründungswelle von den zahlreichen Energiegenossenschaftsgründungen überrascht waren und über keine Erfahrungswerte verfügten. Siehe hierzu auch die Argumentation in Abschnitt 3.1.3.2.3.2. 1477 Spezifikationsfehler können sich insbesondere aus drei Quellen ergeben: 1. Nichtberücksichtigung von bedeutenden Variablen, 2. Berücksichtigung von unwichtigen Variablen und 3. falsche mathematische Verknüpfung zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 218). Aufgrund der theoretischen Vorüberlegungen und auch der qualitativen Untersuchung wird davon ausgegangen, dass alle relevanten Parameter zur Untersuchung der Fragestellung im
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
267
kontrollieren.1478 So wird erreicht, dass ein möglichst realistisches Bild des Einflusses der unabhängigen auf die abhängige Variable entsteht.1479 Kontrollvariablen werden als solche bezeichnet, weil die Schätzung der Regressionsfunktion im multivariaten Modell zur Schätzung einer Variablen statistisch den „Nicht-Einfluss“1480 der anderen Variablen herstellt und dementsprechend den Einfluss der anderen Variablen „kontrolliert“.1481 Allerdings ist die Fragestellung dieser Arbeit neuartig, weshalb nicht auf ein bekanntes Gerüst an Kontrollvariablen aus anderen Veröffentlichungen zurückgegriffen werden kann. Außerdem zeigt sich auch in der Literatur, dass die Auswahl von Kontrollvariablen sehr individuell erfolgt1482 – ein Vorgehen, das auch hier zur Anwendung gelangt. Zur Auswahl von Kontrollvariablen sind zunächst theoretische Überlegungen zur Vollständigkeit des Modells und zur Vermeidung von Spezifikationsfehlern angezeigt,1483 indem die Frage beantwortet wird: Welche Einflussfaktoren können die Varianz in der Mitgliederbindung ebenfalls erklären? Theoretisch lassen sich die Einflussfaktoren in zwei Bereiche gliedern: 1. direkte Einflussfaktoren, die auf die Ausgestaltung der Satzungen wirken und 2. indirekte Einflussfaktoren, die auf das Niveau der Handlungssicherheit wirken und damit einen Einfluss auf die Ausgestaltung der Governance haben. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine Überspezifikation des Modells ebenfalls zu Problemen führt,1484 weshalb hier lediglich besonders zentrale alternative Erklärungen angeführt werden. Die Genossenschaftsverbände haben einen direkten Einfluss auf die Satzungsausgestaltung.1485 Die Genossenschaftsverbände bieten intensive Gründungsberatung an und stellen Mustersatzungen zur Verfügung. Ihr Einfluss auf die entstehenden Satzungen ist deshalb als sehr hoch zu bewerten, wie ebenfalls in der
Modell berücksichtigt wurden. Insbesondere die Stützung der Hypothesen auf die Literatur trägt dazu bei, dass Spezifikationsfehler weniger wahrscheinlich sind (vgl. Berry 1993, S. 30). 1478 Vgl. Black 1999, S. 60–63. 1479 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 91. 1480 Urban und Mayerl 2006, S. 81. 1481 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 81. Zudem haben Kontrollvariablen in einer multivariaten Regressionsanalyse die Eigenschaft, dass die Effektgröße jeder einzelnen Variable durch das Konstanthalten aller anderen Variablen kontrolliert wird (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 93). 1482 Vgl. Joskow 1987, S. 173, Dyer und Chu 2003, S. 60–61, Argyres et al. 2007, S. 10–12, und Gurcaylilar-Yenidogan et al. 2011, S. 1043. 1483 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 52. 1484 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 84–85. 1485 Eine weitere direkte Einflussgröße für die Genossenschaftssatzungen wären Veränderungen des GenG. Der Einfluss des GenG ist unstrittig, da hierin die Rahmenbedingungen für die Satzung festgelegt werden. Änderungen würden sich direkt auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Satzung auswirken. Da die Energiegenossenschaften in der Untersuchungsgesamtheit in einem Zeitraum entstanden sind, in dem es keine wesentlichen Änderungen des Genossenschaftsgesetzes gegeben hat, ist der Einfluss des Genossenschaftsgesetztes als konstant anzusehen. Die Spezifikation einer Kontrollvariable ist daher nicht erforderlich.
268
3 Modellentwicklung und Prüfung
Gegenstandstheorie herausgearbeitet wurde.1486 Um zu kontrollieren, ob jeder einzelne Genossenschaftsverband durch seine verbandsspezifischen Vorgaben die Ausgestaltung der Mitgliederbindung bestimmt, ist das Modell im Hinblick auf den betreuenden Verband zu kontrollieren. Anders formuliert stellt sich die Frage, inwiefern das hier entwickelte Modell neben dem anzunehmenden Einfluss des Genossenschaftsverbands überhaupt die Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften erklären kann. Eine Kontrolle der durch den Genossenschaftsverband erklärten Varianz in den Satzungen ist daher von hoher Bedeutung. Insgesamt sind die Energiegenossenschaften in der Untersuchungsgesamtheit in 21 Genossenschaftsverbänden organisiert, wie in Abschnitt 3.3.2.5.2 bereits ausgeführt wurde. 16 Verbände weisen nur sehr geringe Mitgliederzahlen auf. Um Multikollinearitätsproblemen vorzubeugen, werden nicht alle Genossenschaftsverbände als Kontrollvariablen mit aufgenommen.1487 Es wurden die Genossenschaftsverbände: GV (N = 149), GVB (N = 123), GVWE (N = 44) und der RWGV (N = 66) als Regressoren im Modell berücksichtigt. Der BWGV und die Genossenschaftsverbände, in denen sehr wenige Energiegenossenschaften organisiert sind (N = 140), wurden nicht als Kontrollvariablen aufgenommen. Neben dem direkten Einfluss der Genossenschaftsverbände sind Faktoren anzuführen, die möglicherweise die Handlungssicherheit beeinflussen und somit indirekt auf den Grad der Mitgliederbindung wirken. Eine Vielzahl an sozio-demografischen Variablen ist hier vorstellbar, die jedoch zur Überspezifikation des Modells führen könnten oder schwer zu messen wären.1488 Als Indikator zur Bestimmung der sozioökonomischen Situation in einem Gründungskontext wird das durchschnittliche gesamte Einkommen steuerpflichtiger Personen auf Gemeindeebene1489 in das Modell aufgenommen.1490 Zwei Sachverhalte sprechen dafür, das Einkommen als Kontrollvariable zu definieren: 1. In empirischen Untersuchungen zeigte sich, dass Mitglieder von Energiegenossenschaften ein überdurchschnittlich hohes Einkommen haben.1491 Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass Energiegenossenschaften ihre Mitglieder vorwiegend aus wohlhabenden Bevölkerungsschichten rekrutieren. Regionen mit einer wohlhabenden Bevölkerung versprechen somit höhere Handlungssicherheit für die Initiatoren und potenziellen Mitglieder, da ein erfolgreicher Gründungsprozess und ein langfristiger Bestand der Energiegenossenschaft eher wahrscheinlich sind. 2. Hier 1486 Vgl. Abschnitt 3.1.3.2.3.2. 1487 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 277, und Abschnitt 3.3.3.3. 1488 Yildiz et al. (2015, S. 64–65) schreiben bezüglich der Mitgliedercharakteristika in Energiegenossenschaften beispielsweise, dass es sich eher um Männer höheren Alters mit hohem Bildungsstandard handelt, die Genossenschaften als demokratische Unternehmensform schätzen. 1489 Dieses wird im Weiteren auch als Einkommen bezeichnet. 1490 Das Einkommen ist ein weit verbreiteter Indikator sowohl zur Bestimmung der regionalen Wohlstandsentwicklung (vgl. Lakner und Milanovic 2013 oder Causa et al. 2015) als auch zur Messung des sozio-ökonomischen Status einer Person (vgl. Wolf 1995, S. 103). 1491 Vgl. Yildiz et al. 2015, S. 64–65, und Schreuer 2016, S. 132.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
269
wird angenommen, dass das Einkommen neben dem Gründungskontext und dem gestaltenden Akteur einen alternativen Erklärungsansatz für Handlungssicherheit bietet: Je höher das Einkommen ist, desto eher können die potenziellen Mitglieder Fehlinvestitionen verkraften, was die Handlungssicherheit steigert.1492 In Gemeinden, in denen das durchschnittliche Einkommen niedrig ist, könnte folglich die Handlungssicherheit abnehmen und damit die Mitgliederbindung ansteigen. Der umgekehrte Effekt könnte in Gemeinden mit einem hohen durchschnittlichen Einkommen existieren.1493 Um Einkommensniveauunterschiede zu messen, wurde auf die Lohn- und Einkommenssteuerstatistik des Statistischen Bundesamts zurückgegriffen.1494 In dieser Statistik sind für alle Gemeinden i in Deutschland Daten zu den gesamten Einkünften GesE aller in einer Gemeinde einkommenssteuerpflichtigen Personen EP für das Jahr 2007 dokumentiert.1495 Zur Berechnung des Einkommens wurde Formel 7 verwendet.1496 Formel 7: Einkommen HhEi =
GesEi EPi
Es ergibt sich die in Abbildung 17 dargestellte Einkommensverteilung für die Energiegenossenschaften in der Untersuchungsgesamtheit. Die gesetzliche Förderung von erneuerbaren Energien stellt für alle hier betrachteten Energiegenossenschaften die wirtschaftliche Grundlage dar. Änderungen der gesetzlichen Grundlage wirken sich also direkt auf die Handlungssicherheit aus.1497 Dies lässt sich sehr anschaulich an den im EEG festgelegten Förderkonditionen für erneuerbare Energien nachvollziehen: Sofern sich diese verschlechtern und beispielsweise durch periodische Absenkung der Fördersätze zusätzlicher Zeitdruck auf die Projektrealisierung ausgeübt wird, wirkt sich dies auch auf die Handlungssicherheit
1492 In der Literatur wird ein Zusammenhang zwischen der Existenz von Bürgerbeteiligungsprojekten und dem Einkommen der Bevölkerung angenommen (vgl. Holstenkamp und Degenhart 2014, S. 194). 1493 Die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Kapital wird in der Literatur als begünstigender Faktor für die Entstehung von Energiegenossenschaften angesehen (vgl. Šahović und da Silva 2016, S. 51–52). 1494 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014 c. 1495 Zur Durchführung der Untersuchung standen ausschließlich Werte für das Jahr 2007 zur Verfügung. Es wird davon ausgegangen, dass die Daten auch nach 2007 relativ konstant waren. Das Jahr 2007 eignet sich zudem als Betrachtungszeitpunkt, da dieser die wirtschaftliche Situation vor der Finanzkrise 2008 spiegelt und damit Verzerrungen in den Daten aufgrund von Kriseneffekten reduziert sind. 1496 Für die Gemeinde Schwarzenborn, Eifel, waren in den Daten des Statistischen Bundesamts keine Informationen zum Einkommen vorhanden. Um fehlende Werte zu vermeiden, wurde der Wert mit den Daten der übergeordneten Verbandsgemeinde ersatzweise ermittelt. 1497 Vgl. Müller et al. 2015a, S. 98–100, und Holstenkamp und Kahla 2016, S. 120.
270
3 Modellentwicklung und Prüfung
125
Häufigkeit
100
75
50
25
0 20.000
30.000
40.000
50.000
60.000
70.000
80.000
Einkommen Abbildung 17: Histogramm Einkommen. Quelle: Eigene Darstellung.
der Initiatoren und potenziellen Mitglieder einer Energiegenossenschaft aus. Auch die bloße Veränderung des Förderregimes hat einen Effekt auf die wahrgenommene Handlungssicherheit.1498 Aus diesem Grund wird im Modell kontrolliert, wann Änderungen bei der Förderung von erneuerbaren Energien vom Bundestag beschlossen wurden. Der Zeitpunkt des Bundestagsbeschlusses eignet sich eher als der Zeitpunkt, zu dem die Gesetzesänderung in Kraft tritt, da angenommen wird, dass die Initiatoren in Erwartung der neuen Regelungen agieren. Im gesamten Untersuchungszeitraum werden dazu drei Phasen unterschieden und als DummyVariablen kodiert. Auch hier wird lediglich das EEG 2008–2011 als Kontrollvariable1499 mit in das Modell aufgenommen, um Multikollinearität entgegenzuwirken.1500 Es handelt sich hierbei um die Gesetzesperiode, in der die meisten Gründungen erfolgten, wie in Tabelle 17 zu sehen ist.
1498 Vgl. Müller et al. 2015a, S. 98–100. 1499 Die Variable wird als EEG_2008 bezeichnet, weil der Beschluss zur Änderung des EEG im Jahr 2008 gefallen ist. In der öffentlichen Debatte wird diese Gesetzesänderung als EEG-Novelle 2009 rezitiert, weil diese erst im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. 1500 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 277, und Abschnitt 3.3.3.3.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
271
Tabelle 17: EEG Novellierungen im Untersuchungszeitraum. VariablenBezeichnung
Bezeichnung Bundestags- gültig bis Gesetz beschluss
Anzahl Energiegenossenschaftsgründungen in der Untersuchungsgesamtheit
EEG –
EEG
..
..
EEG –
EEG
..
..
EEG –
EEG
..
..
Quelle: Eigene Darstellung.
3.3.3 Regressionsmodell 3.3.3.1 Hierarchische Regression Nach der Operationalisierung der Konstrukte im vorangegangenen Abschnitt wird nun auf das Regressionsverfahren eingegangen.1501 Als Methode zur Untersuchung der Hypothesen wird in dieser Arbeit eine hierarchische Regressionsanalyse1502 verwendet. Hierarchische Regressionsanalysen kamen neben logistischen Regressionen vielfach in empirischen Untersuchungen zur Transaktionskostentheorie zum Einsatz.1503 Die Methode ist somit im Rahmen der Transaktionskostentheorie als etabliert zu bezeichnen. Es ist das Ziel der Regressionsanalyse, die abhängige Variable durch die Spezifikation der Koeffizienten b1 bis bn sowie die Spezifikation des konstanten Glieds b0 zu schätzen.1504 Hierzu wird für jede unabhängige Variable eine Regressionsgerade gesucht, die so verläuft, dass die Residuen zwischen den Beobachtungswerten und
1501 In Anlehnung an Backhaus et al. (2006, S. 52) und Urban und Mayerl (2006, S. 21–23) können sechs Arbeitsschritte einer Regressionsanalyse differenziert werden, die auch in dieser Arbeit durchlaufen werden: 1. die Ableitung des Regressionsmodells aus einem Theoriemodell (vgl. Abschnitt 3.2), 2. die Operationalisierung der Konstrukte (vgl. Abschnitt 3.3.2), 3. die Auswahl und Spezifikation der Regressionstechnik (vgl. Abschnitt 3.3.3.1), 4. die Berechnung der Regressionsfunktion und Prüfung der Regressionsfunktion sowie der Regressionskoeffizienten (vgl. Abschnitt 3.3.4), 5. die Beurteilung der Modellgüte anhand der Modellprämissen (vgl. Abschnitt 3.3.3.3) und 6. die Überprüfung der Ergebnisse in Bezug auf das Theoriemodell (vgl. Kapitel 4.1). 1502 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 120. 1503 Vgl. Joskow 1987, Klein 1989, Masten et al. 1989, Buvik 2002, Reuer und Ariño 2007, Shervani et al. 2007, Chen und Bharadwaj 2009, Gurcaylilar-Yenidogan et al. 2011 und Ding et al. 2013. 1504 Vgl. Berry und Feldman 1985, S. 12.
272
3 Modellentwicklung und Prüfung
der Geraden minimal sind.1505 Es handelt sich dabei um die „Methode der kleinsten Quadrate“1506, die auch „ordinary-least-square“ oder verkürzt „OLS-Regression“ genannt wird. Der Ablauf einer hierarchischen Regressionsanalyse unterscheidet sich von einer nicht hierarchischen Regressionsanalyse in der Weise, dass die unabhängigen Variablen jeweils nacheinander einzeln oder in zusammenhängenden Blöcken dem Regressionsmodell hinzugefügt werden. Folglich werden mehrere Regressionsgleichungen berechnet, im Gegensatz zu einer einzelnen Regressionsgleichung im Fall der nicht hierarchischen Regressionsanalyse. Der Vorteil einer hierarchischen Regressionsanalyse besteht darin, dass die Veränderung der Koeffizienten einzelner Variablen bei Hinzunahme weiterer Variablen sichtbar wird, und untersucht werden kann, inwiefern der Einschluss von Variablen die Erklärungskraft des gesamten Modells steigert.1507 Ein solcher Modellvergleich ist durch die Analyse der F-Statistik oder des Bestimmtheitsmaßes möglich.1508 Zudem kann die zusätzlich erklärte Varianz durch hinzugefügte Variablen auf ihre Signifikanz hin überprüft werden, indem ein F-Test für die Differenz des Bestimmtheitsmaßes (Delta-R2) durchgeführt wird.1509 Die in die Regressionsanalyse eingehenden Variablen können hier in Kontrollvariablen, Variablen des Hauptmodells und Interaktionsvariablen unterschieden werden, wie es in der Übersicht in Tabelle 18 dargestellt ist, in welcher auch die Bezeichnungen der Variablen zu finden sind. Wie bereits in Abschnitt 3.3.2.6 beschrieben, sorgen die Kontrollvariablen dafür, dass alternative Erklärungen zur Kontrolle von Haupt- und Interaktionseffekten berücksichtigt werden. In dieser Arbeit werden die Kontrollvariablen EEG, Einkommen sowie Genossenschaftsverbände einbezogen. Zu den untersuchten Haupteffekten gehören die Transaktionsdimensionen mit den Konstrukten Faktorspezifität und Transaktionsvolumen. Weiterhin zählen dazu die Sozio-Geografie mit den Konstrukten soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen, soziales Vertrauen, Ländlichkeit, Bevölkerungsstabilität und Umweltorientierung. Zudem werden als Haupteffekte die Population mittels der Populationsgröße und Populationskonzentration sowie die Akteure anhand der Verfasstheit und ihrer Erfahrung untersucht. Neben den Variablen des Hauptmodells soll auch der moderierende Effekt der Verfasstheit des Initiators auf die Sozio-Geografie sowie der moderierende Effekt der Erfahrung des Genossenschaftsverbands auf die Transaktionsdimensionen untersucht werden. Interaktionseffekte können im Modell abgebildet werden, indem
1505 Vgl. Berry und Feldman 1985, S. 12. 1506 Backhaus et al. 2006, S. 58. 1507 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 120. Die Spezifikation der hier zur Anwendung kommenden Modelle erfolgt in Abschnitt 3.3.3.2. 1508 Vgl. Abschnitt 3.3.3.4. 1509 Vgl. Abschnitt 3.3.3.4 und Cohen und Cohen 1983, S. 145–147.
Mitgliederbindung Spe Vol SSk Rez Tru Län Zuw Umw Pop PoR Vef Erf
Mitgliederbindung
Faktorspezifität
Transaktionsvolumen
Soziale Netzwerke
Reziprozitätsnormen
Soziales Vertrauen
Ländlichkeit
Bevölkerungsstabilität
Umweltorientierung
Populationsgröße
Populationskonzentration
Verfasstheit Initiator
Erfahrung Genossenschaftsverband
Verfasstheit InitiatorXSoziale Netzwerke
Bezeichnung
Variable
Tabelle 18: Untersuchungsvariablen.
VefXzenSSk
zenUmw
zenZuw
zenLän
zenTru
zenRez
zenSSk
zenVol
Bezeichnung zentriert
Interaktion
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Haupteffekt
Abhängige Variable
Gruppe
Ha
H
H
H
H
Hc
Hb
Ha
Hc
Hb
Ha
H
H
(fortgesetzt )
zughörige Hypothese
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
273
VefXzenUmw
Verfasstheit InitiatorXUmweltorientierung
HhE GV GVB GVWE RWGV
Einkommen
Genossenschaftsverband e. V.
Genossenschaftsverband Bayern e. V.
Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V.
Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V.
Quelle: Eigene Darstellung.
EEG_
EEG –
Erfahrung GenossenschaftsverbandXTransaktionsvolumen
ErfXzenVol
VefXzenZuw
Verfasstheit InitiatorXBevölkerungsstabilität
ErfXSpe
VefXzenLän
Verfasstheit InitiatorXLändlichkeit
Erfahrung GenossenschaftsverbandXFaktorspezifität
VefXzenTru
Verfasstheit InitiatorXSoziales Vertrauen
Bezeichnung zentriert VefXzenRez
Bezeichnung
Verfasstheit InitiatorXReziprozitätsnormen
Variable
Tabelle 18 (fortgesetzt )
Kontrollvariable
Kontrollvariable
Kontrollvariable
Kontrollvariable
Kontrollvariable
Kontrollvariable
Interaktion
Interaktion
Interaktion
Interaktion
Interaktion
Interaktion
Interaktion
Gruppe
Hb
Ha
Hf
He
Hd
Hc
Hb
zughörige Hypothese
274 3 Modellentwicklung und Prüfung
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
275
die betreffenden Variablen miteinander multipliziert werden.1510 Für den neu gebildeten Interaktionsterm lassen sich damit im Regressionsmodell die Einflussstärke, die Signifikanz und die Richtung der Wirkung bestimmen.1511 Um die Multikollinearität von Interaktionsvariablen zu vermeiden, bietet es sich an, noch vor Berechnung des Interaktionsterms alle an der Interaktion beteiligten unabhängigen Variablen zu zentrieren,1512 sofern diese nicht binär kodiert sind.1513 Die Zentrierung einer Variablen wird erreicht, indem das arithmetische Mittel der Variable berechnet wird und dieses von den Werten der Variablen subtrahiert wird, wie in Formel 8 dargestellt.1514 Formel 8: Variablenzentrierung zenVari = Vari − Var Auf Grundlage der in Abschnitt 3.2 begründeten Hypothesen werden für die Variablen des Hauptmodells bestimmte Vorzeichen der Koeffizienten erwartet, wie in Tabelle 19 zusammenfassend zu sehen ist. Damit eine Hypothese nicht verworfen werden muss, sollten die erwarteten Effekte zudem signifikant sein. Für die Interaktionseffekte werden ebenfalls signifikante Betakoeffizienten erwartet,1515 die in der Zusammenschau mit dem zugehörigen Haupteffekt1516 in der Weise wirken sollen, wie dies in den Interaktionshypothesen formuliert ist. Gemäß den Hypothesen zu den Interaktionseffekten wird erwartet, dass die Koeffizienten der Interaktionsterme das entgegengesetzte Vorzeichen zum Haupteffekt zeigen bei einem gleichzeitig geringeren Betrag als dem des Haupteffektes.1517 Sollte das Vorzeichen des Haupteffektes anders als erwartet ausfallen, so wird ebenfalls ein Vorzeichenwechsel für den Betakoeffizienten des Interaktionseffekts erwartet, andernfalls muss die Hypothese zum Interaktionseffekt verworfen werden. Die Ursache hierfür liegt in der Berechnung des Interaktionseffektes, wie in Formel 18 in Abschnitt 3.3.3.4 nachvollzogen werden kann. Siehe zu den erwarteten Vorzeichen der Koeffizienten der Interaktionsterme ebenfalls Tabelle 19.
1510 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 293. 1511 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 295. 1512 Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 31. 1513 Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 43. 1514 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 239–240. 1515 Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 25. 1516 Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 26–27. 1517 Es wird in den Hypothesen zu den Interaktionseffekten erwartet, dass die Interaktion dazu führt, dass sich der gesamte Einfluss der unabhängigen Variable abschwächt (vgl. Abschnitt 3.2.3.3). Dies ist nur dann der Fall, wenn die Koeffizienten des Interaktionsterms und des Haupteffekts unterschiedliche Vorzeichen aufweisen und der Betrag des Koeffizienten des Interaktionsterms nicht größer ist als der Betrag des Koeffizienten des Haupteffekts.
276
3 Modellentwicklung und Prüfung
Tabelle 19: Erwartete Ergebnisse. Variable
Hypothese
erwartetes Vorzeichen der Betakoeffizienten
Faktorspezifität
H
+
Transaktionsvolumen
H
+
Soziale Netzwerke
Ha
–
Reziprozitätsnormen
Hb
–
Soziales Vertrauen
Hc
–
Ländlichkeit
Ha
–
Bevölkerungsstabilität
Hb
–
Umweltorientierung
Hc
–
Populationsgröße
H
–
Populationskonzentration
H
–
Verfasstheit Initiator
H
–
Erfahrung Genossenschaftsverband
H
–
Verfasstheit InitiatorXSoziale Netzwerke
Ha
+*
Verfasstheit InitiatorXReziprozitätsnormen
Hb
+*
Verfasstheit InitiatorXSoziales Vertrauen
Hc
+*
Verfasstheit InitiatorXLändlichkeit
Hd
+*
Verfasstheit InitiatorXBevölkerungsstabilität
He
+*
Verfasstheit InitiatorXUmweltorientierung
Hf
+*
Konstante
Erfahrung GenossenschaftsverbandXFaktorspezifität Ha
–*
Erfahrung GenossenschaftsverbandXTransaktionsvolumen
Hb
–*
EEG –
Kontrollvariable
?
Einkommen
Kontrollvariable
?
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
277
Tabelle 19 (fortgesetzt ) Variable
Hypothese
erwartetes Vorzeichen der Betakoeffizienten
Genossenschaftsverband e. V.
Kontrollvariable
?
Genossenschaftsverband Bayern e. V.
Kontrollvariable
?
Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V.
Kontrollvariable
?
Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband e. V.
Kontrollvariable
?
*
entgegengesetztes Vorzeichen zum Haupteffekt und geringerer Betrag des Betakoeffizienten im Vergleich zum Betakoeffizienten des Haupteffektes Quelle: Eigene Darstellung.
3.3.3.2 Spezifikation der Regressionsmodelle Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt dargelegt wurde, ist es erforderlich, eine sinnvolle Reihenfolge der eingehenden Variablen in die hierarchische Regressionsanalyse festzulegen, um die zu untersuchenden Modelle spezifizieren zu können.1518 In der Literatur wird häufig eine abnehmende theoretische Bedeutung1519 oder das Interesse an der Wirkung einzelner Variablen1520 als Begründung für die Zusammensetzung der Modelle angeführt. Die Reihenfolge der hier angestrebten hierarchischen Regressionsanalyse orientiert sich sowohl an theoretischen Überlegungen als auch an der Absicht, die Wirkung von Einflussfaktorgruppen sichtbar zu machen. Das Basismodell besteht allein aus den Kontrollvariablen, sodann werden die Variablen des Hauptmodells in mehreren Blöcken hinzugefügt und zuletzt werden die Interaktionseffekte aufgenommen. Insgesamt werden fünf Modelle spezifiziert. In Modell 1 wird der Einfluss der Kontrollvariablen EEG, des Einkommens sowie der Genossenschaftsverbände auf die abhängige Variable bestimmt, wie in Formel 9 dargestellt ist. Da es sich bei Modell 1 um das Basismodell handelt, das auch die Grundlage für alle weiteren Modelle ist, werden alternative Erklärungen zur Entstehung von Mitgliederbindung auch in den folgenden Modellen der hierarchischen Regression kontrolliert. Das Modell 1 umfasst zudem die Residualgröße ε, die auch in
1518 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 120–123. 1519 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 304. 1520 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 121–122.
278
3 Modellentwicklung und Prüfung
allen weiteren Modellen dazu dient, solche Faktoren in der Funktion zu repräsentieren, die nicht durch die spezifizierten Variablen erklärt werden können.1521 Formel 9: Modell 1 Mitgliederbindung = b0 + b13 EEG2008 + b14 HhE + b15 GV + b16 GVB + b17 GVWE + b18 RWGV + ε In Modell 2 wird der Einfluss der Transaktionsdimensionen Faktorspezifität und Transaktionsvolumen untersucht, wie in Formel 10 zu sehen ist. Für die Aufnahme der Transaktionsdimensionen in Modell 2 spricht ihre theoretische Bedeutung in der klassischen Transaktionskostentheorie.1522 Durch die Aufnahmen der beiden Variablen in Modell 2 wird zudem in den weiteren Modellen ihr Effekt kontrolliert und damit ein zentraler Bestandteil der klassischen Transaktionskostentheorie abgegrenzt. Formel 10: Modell 2 Mitgliederbindung = b0 + b1 Spe + b2 Vol + b13 EEG2008 + b14 HhE + b15 GV + b16 GVB + b17 GVWE + b18 RWGV + ε In Modell 3 werden die Variablen des Gründungskontexts in die Regressionsanalyse aufgenommen, wie es in Formel 11 dargestellt ist. Damit wird ein weiterer zentraler Erklärungsansatz zur Entstehung der Governance von Energiegenossenschaften in die Untersuchung integriert.1523 Hierzu zählen soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen, soziales Vertrauen, Ländlichkeit, Bevölkerungsstabilität und Umweltorientierung. Ebenso werden in Modell 3 die Variablen Populationsgröße und Populationskonzentration mit einbezogen, die ebenfalls zum Gründungskontext zählen. Formel 11: Modell 3 €n Mitgliederbindung = b0 + b1 Spe + b2 Vol + b3 SSk + b4 Rez + b5 Tru + b6 La + b7 Zuw + b8 Umw + b9 Pop + b10 PoR + b13 EEG2008 + b14 HhE + b15 GV + b16 GVB + b17 GVWE + b18 RWGV + ε
1521 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 57. 1522 Vgl. Abschnitt 2.2.1.2. 1523 Der Gründungskontext wird den Akteurseigenschaften in Modell 3 vorgezogen, weil die Akteurseigenschaften insbesondere auch für die Interaktionen mit den Transaktionsdimensionen und dem sozio-geografischen Gründungskontext relevant sind. Die hier gewählte Reihenfolge erscheint daher schlüssiger als eine ebenso mögliche vorgezogene Aufnahme der Akteursvariablen in Modell 3 anstelle der Variablen des Gründungskontexts.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
279
In Modell 4 werden die Akteurseigenschaften Verfasstheit der Initiatoren und die Erfahrung des Genossenschaftsverbands in die Regressionsanalyse eingebracht, wie in Formel 12 zu sehen ist. Mit der Hinzunahme der Akteurseigenschaften ist das Hauptmodell vollständig. Formel 12: Modell 4 €n + b7 Zuw Mitgliederbindung = b0 + b1 Spe + b2 Vol + b3 SSk + b4 Rez + b5 Tru + b6 La + b8 Umw + b9 Pop + b10 PoR + b11 Vef + b12 Erf + b13 EEG2008 + b14 HhE + b15 GV + b16 GVB + b17 GVWE + b18 RWGV + ε Zur Untersuchung der Interaktionseffekte wird sodann ein weiteres Modell 5 spezifiziert, das in Formel 13 zu finden ist. Es werden folgende Interaktionsterme in das Modell aufgenommen: die Interaktionsterme zwischen der Verfasstheit der Initiatoren und sozialen Netzwerken, Reziprozitätsnormen, sozialem Vertrauen, Ländlichkeit, Bevölkerungsstabilität und Umweltorientierung sowie die Interaktionsterme zwischen der Erfahrung des Genossenschaftsverbands und Faktorspezifität und Transaktionsvolumen. Um Multikollinearität entgegenzuwirken, sind alle Variablen zentriert, die zur Berechnung der Interaktionsterme herangezogen werden,1524 sofern es sich dabei nicht um binär kodierte Variablen handelt.1525 Formel 13: Modell 5 €n Mitgliederbindung = b0 + b1 Spe + b2 Vol + b3 SSk + b4 Rez + b5 Tru + b6 La + b7 Zuw + b8 Umw + b9 Pop + b10 PoR + b11 Vef + b12 Erf + b13 EEG2008 + b14 HhE + b15 GV + b16 GVB + b17 GVWE + b18 RWGV + b19 Vef *zenSSk + b20 Vef *zenRez €n + b23 Vef *zenZuw + b21 Vef *zenTru + b22 Vef *zenLa + b24 Vef *zenUmw + b25 Erf *Spe + b26 Erf *zenVol + ε 3.3.3.3 Anwendungsvoraussetzungen der linearen Regression Um die Ergebnisse der Regressionsanalyse interpretieren zu können, sind besondere Anwendungsvoraussetzungen zu erfüllen.1526 Zwei Anwendungsvoraussetzungen bestehen in der Linearität der Beziehung zwischen den abhängigen und der unabhängigen Variablen1527 sowie in der vollständigen Spezifikation1528 des Modells. Die Beziehung
1524 1525 1526 1527 1528
Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 30–31. Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 43. Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 177–272. Siehe auch Backhaus et al. (2006, S. 78–94). Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 125 . Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 218.
280
3 Modellentwicklung und Prüfung
zwischen den unabhängigen und der abhängigen Variablen wurde durchweg als linear beschrieben.1529 Eine grafische Begutachtung der Residuen-Plots deutet zudem nicht darauf hin, dass diese Annahme verletzt ist.1530 Die Vollständigkeit des Modells war bereits Gegenstand der Erörterung im Rahmen der Vorstellung der Kontrollvariablen.1531 Die zusätzlich in das Modell aufgenommenen Kontrollvariablen sowie die qualitativexplorative Untersuchung,1532 die der quantitativ-empirischen Modellprüfung in dieser Arbeit vorausgegangen ist, sprechen für eine vollständige Spezifikation des Modells und die Nichtverletzung dieser zweiten Annahme. Darüber hinaus ist die Einhaltung des Gauß-Markov-Theorems für die Regressionsanalyse von Bedeutung, da durch dieses gewährleistet ist, dass die Regressionsschätzung der „Best Linear Unbiased Estimator“ ist.1533 Dies wird auch als „BLUE-Eigenschaft“ der Regression bezeichnet. Allerdings sind hierzu vier weitere Annahmen einzuhalten, was anhand einer Analyse der Residuen empirisch überprüft werden kann.1534 In dieser Arbeit werden dazu die Residuen von Modell 51535 näher betrachtet und somit das Vorliegen der folgenden Voraussetzungen der BLUE-Eigenschaft überprüft: 1. Heteroskedastizität: Heteroskedastizität bedeutet Streuungsungleichheit und besagt, dass für jeden X-Wert die gleiche Varianz vorliegen sollte.1536 Um zu überprüfen, ob Heteroskedastizität besteht, bietet sich eine grafische Analyse der Residuen an.1537 Hierzu werden die Residuen und die vorhergesagten Y-Werte in einem Koordinatensystem geplottet.1538 Die grafische Analyse der Residuen aller unabhängigen Variablen ergab keine Hinweise auf Heteroskedastizität. 2. Erwartungswert der Residuen von 0: Die Annahme, dass der Erwartungswert der Residuen 0 beträgt, lässt sich nicht ohne Weiteres überprüfen.1539 Da ein Verstoß gegen die Annahme aber lediglich zur Folge hätte, dass sich das konstante Glied b0 verändern würde und dieses nicht im Fokus dieser Untersuchung steht, wäre eine Verletzung der Annahme weniger schwerwiegend.1540
1529 Vgl. Kapitel 3.2 und Abschnitt 3.3.2. 1530 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 80–83, und Urban und Mayerl 2006, S. 202. Es werden hier keine Multigruppeneffekte oder Dummy-Variablen-Tests verwendet, da diese jeweils anfällig für subjektive Fehler bei der Intervallbestimmung sind (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 202–204). 1531 Vgl. Abschnitt 3.3.2.6. 1532 Vgl. Abschnitt 3.1.3. 1533 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 120–125. Siehe auch Berry (1993, S. 18–19). 1534 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 122–123. 1535 Es wurde Modell 5 ausgewählt, da es sich hierbei um das am vollständigsten spezifizierte Modell handelt. 1536 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 124. 1537 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 86. 1538 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 86. 1539 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 201. 1540 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 201.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
281
3.
Multikollinearität: Multikollinearität besagt, dass sich ein Regressor als lineare Funktion der anderen Regressoren darstellen lässt.1541 Multikollinearität bezeichnet also den wechselseitigen Einfluss der unabhängigen Variablen.1542 Die meisten Regressionsmodelle weisen Multikollinearität auf, die auch unproblematisch ist,1543 sofern das Ausmaß der Multikollinearität die Stabilität des Ergebnisses nicht gefährdet.1544 Zur Überprüfung von Multikollinearität wurden in dieser Untersuchung die Toleranz1545 und der Varianz-Inflations-Faktor (VIF)1546 genutzt.1547 Die Grenzwerte zu Toleranz und VIF werden hier nicht überschritten.1548 4. Autokorrelation: Autokorrelation entsteht meist bei der Betrachtung von Zeitreihen und beschreibt den Umstand, dass ein Messwert vom vorangegangenen Messwert beeinflusst wird.1549 Zum Test auf Autokorrelation bietet sich beispielsweise der Durbin-Watson-Test an.1550 Der Durbin-Watson-Test liegt im akzeptablen Bereich zwischen 1,5 und 2,5.1551 Es kann deshalb hier davon ausgegangen werden, dass keine Probleme durch Autokorrelation vorliegen. Neben der BLUE-Eigenschaft der Regression ist eine weitere Anwendungsvoraussetzung zu erfüllen, sofern statistische Tests durchgeführt werden sollen: Zur Durchführung von statistischen Tests sollte eine Normalverteilung der Residuen gegeben sein.1552 Die Normalverteilungsannahme kann durch unterschiedliche Verfahren überprüft werden, zu denen wieder grafische Untersuchungen sowie Tests auf
1541 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 89. 1542 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 225. 1543 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 89. 1544 Die Folgen der Multikollinearität sind vielfältig: Zum Beispiel hohe Sensibilität bei kleinen Veränderungen der eingehenden Daten oder die Instabilität in Bezug auf die Wirkrichtung unabhängiger Variablen (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 229). 1545 Als Indikator für eine problematische Toleranz kann die Unterschreitung der 10-%-Grenze angesehen werden (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 232). 1546 Beim VIF hat sich der Grenzwert von 10 etabliert (vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 232). 1547 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 231. 1548 Bei der Untersuchung der Interaktionseffekte kann die Einhaltung der Grenzwerte durch eine Zentrierung der Variablen erreicht werden, wie in Abschnitt 3.3.3.1 beschrieben ist. Allerdings lässt sich bei den dichotomen Variablen, die üblicherweise zur Interaktionseffekt-Berechnung nicht zentriert werden (vgl. Abschnitt 3.3.3.1), ein Anstieg in der Kollinearitätsstatistik feststellen. Dieser führt aber ebenfalls nicht zu einer Grenzwertverletzung. 1549 Ursachen für diesen Effekt sind nach Urban und Mayerl (2006, S. 260–263) beispielsweise fehlerhafte Messungen in Zeitreihendaten, die sich mit Anwachsen der Messdaten akkumulieren, sowie Spezifikationsfehler bei Variablen und unterstellten Zusammenhängen. 1550 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 89, und Urban und Mayerl 2006, S. 264. 1551 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 266. 1552 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 145.
282
3 Modellentwicklung und Prüfung
Normalverteilung und die Normalverteilungsplots gehören.1553 Sowohl die grafische Analyse der Residuen als auch der Kolmogorov-Smirnov-Test auf Normalverteilung zeigen, dass die Residuen nicht normalverteilt sind. In der Literatur wird allerdings argumentiert, dass eine Verletzung der Normalverteilungsannahmen insbesondere dann toleriert werden kann, wenn die untersuchte Fallzahl entsprechend hoch ist.1554 Die Fallzahl ist hier mit 522 Fällen sehr hoch, was dafür spricht, dass die nicht gegebene Normalverteilungsannahme vernachlässigt werden kann.1555 Die Signifikanztests werden demnach unabhängig von der fehlenden Normalverteilung der Residuen mit in die Interpretation eingeschlossen. 3.3.3.4 Beurteilung der Regressionsanalyse Bevor in der weiteren Arbeit überprüft wird, ob eine formulierte Hypothese zu verwerfen ist, werden die berechneten Regressionsmodelle miteinander verglichen und ihre Aussagekraft gesamthaft untersucht. Hierzu bieten sich das korrigierte Bestimmtheitsmaß, die F-Statistik1556 und die Analyse des Delta-R2 an. Das Bestimmtheitsmaß beschreibt das Verhältnis zwischen der erklärten Streuung und der gesamten Streuung in den Daten.1557 Je höher das Bestimmtheitsmaß ist, desto mehr Varianz kann durch die unabhängigen Variablen erklärt werden. Da das Bestimmtheitsmaß auch davon abhängig ist, wie viele unabhängige Variablen in das Modell einfließen, wird im Folgenden das korrigierte Bestimmtheitsmaß verwendet, um die erklärte Varianz des Modells zu beschreiben.1558 Die Berechnungsweise des korrigierten Bestimmtheitsmaßes ist in Formel 14 zu finden:1559 Formel 14: Korrigiertes Bestimmtheitsmaß P ðyi − ^yi Þ2 =ðn − p − 1Þ korr. R2 = P ðyi − yÞ2 =ðn − 1Þ
1553 Vgl. Urban und Mayerl 2006, S. 194. 1554 Backhaus et al. (2006, S. 93–94) schreiben in Anlehnung an Greene (2003, S. 67–69) und Kmenta (1997, S. 262 ff.), dass die Normalverteilungsannahme für Störgrößen bei einer großen Zahl an Beobachtungen keine Auswirkungen auf die Gültigkeit von Signifikanztests hat. Wie Backhaus et al. (2006, S. 92–93) ausführen, ist der zentrale Grenzwertsatz der Statistik maßgeblich dafür, dass angenommen werden kann, dass die Störgrößen normalverteilt sind: Wenn es eine Vielzahl von Störgrößen gibt, die jeweils nicht normalverteilt sein müssen, dann ist die Summe dieser Störgrößen wieder normalverteilt. 1555 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 93. Sie hierzu auch Berry (1993, S. 82). 1556 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 63. 1557 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 66. 1558 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 68. 1559 Vgl. Chatterjee und Price 1995, S. 65.
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
283
y = Stichprobenmittelwert yi = empirisch beobachteter Wert ^yi = geschätzter Wert der Regression p = Anzahl unabhängiger Variablen n = Anzahl Fälle Die F-Statistik ist ebenfalls ein Maß, mit welchem sich die Güte des gesamten Regressionsmodells beurteilen lässt. Die F-Statistik zeigt an, ob ein Zusammenhang zwischen den unabhängigen und der abhängigen Variablen besteht und ob dieser Zusammenhang signifikant in Bezug auf ein festgelegtes Vertrauensniveau ist. Die F-Statistik testet die Hypothese, dass die Regressionskoeffizienten null sind und damit kein Zusammenhang in der Grundgesamtheit vorliegt.1560 Zur Überprüfung dieser Hypothese wird ein F-Test verwendet, bei dem ein empirischer F-Wert mit einem kritischen F-Wert verglichen wird. Der empirische F-Wert berücksichtigt dazu die Anzahl der Freiheitsgrade, welche sich aus der Anzahl der Beobachtungen und den einbezogenen Variablen ergeben.1561 Ist die Aussage des F-Tests, dass ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Variablen besteht, so muss die Nullhypothese des Tests abgelehnt werden, welche von einem nicht bestehenden Zusammenhang zwischen den Variablen ausgeht. In Formel 15 ist die Rechenoperation zur Ermittlung des empirischen F-Wertes dargestellt:1562 Formel 15: F-Test F= SSE(VM) =
X X
½SSEðRMÞ − SSEðVMÞ=ðp + 1 − kÞ SSEðVMÞ=ðn − p − 1Þ
ðyi − ^yi Þ2 = vollständiges Modell
ðyi − ^y*i Þ2 = reduziertes Modell (vollständiges Modell mit einigen spezifizierten Regressionskoeffizienten) k = Anzahl nicht festgelegte Parameter
SSE(VM) =
Um in einer hierarchischen Regressionsanalyse zu beurteilen, ob die Erklärungskraft von hinzugenommenen Variablen das Modell signifikant verbessert, wird mittels FTest überprüft, ob der Zuwachs des Delta-R² signifikant ist.1563 Die Berechnung des F-Tests ist hierzu in Formel 16 dargestellt:1564
1560 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 68–69. 1561 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 69–70. 1562 Vgl. Chatterjee und Price 1995, S. 66–68. 1563 Vgl. Cohen und Cohen 1983, S. 146, oder Urban und Mayerl 2006, S. 307–308. 1564 Vgl. Schendera 2014, S. 421.
284
3 Modellentwicklung und Prüfung
Formel 16: Delta-F ΔF =
ΔR2 ðC − p* Þ qð1 − R2current Þ
C = Summe der Fallgewichte q = Anzahl hinzugefügter unabhängiger Variablen p* = Anzahl der Koeffizienten im Modell (ohne Konstante) Neben dem Vergleich der Regressionsmodelle kann auch auf Ebene der Betakoeffizienten mittels t-Tests überprüft werden, ob diese zu einem vorher festgelegten Vertrauensniveau signifikant sind.1565 Da hier gerichtete Hypothesen aufgestellt wurden und die dazugehörige Nullhypothese nicht nur den Nichteinfluss des Betakoeffizienten umfasst, sondern auch den zur Alternativhypothese entgegengerichteten Effekt beinhaltet, wird in dieser Arbeit ein einseitiger t-Test durchgeführt.1566 Die Nullhypothese ist dann abzulehnen, wenn der empirisch berechnete t-Wert größer ist als ein theoretischer t-Wert zu einem festgelegten Vertrauensniveau1567 und gleichzeitig der Betakoeffizient das in der gerichteten Hypothese vorausgesagte Vorzeichen aufweist. Siehe Formel 17 zur Berechnungsweise des empirischen t-Werts für den j-ten Regressor:1568 Formel 17: t-Test temp =
bj − βj Sbj
temp = empirischer t-Wert für den j-ten Regressor βj = wahrer Regressionskoeffizient (unbekannt) bj = Regressionskoeffizient des j-ten Regressors Sbj = Standardfehler von bj Das Vertrauensniveau ist in vielen Studien mit 5 % festgelegt.1569 In dieser Untersuchung werden jedoch auch Werte mit einem Vertrauensniveau von 10 % als statistisch schwach signifikant bei der Ergebnisauswertung berücksichtigt. Dieses Vorgehen ist in der Literatur akzeptiert,1570 jedoch sollte dabei berücksichtigt
1565 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 73–74. 1566 Vgl. Black 1999, S. 394–396. Bezüglich des Einflusses der Kontrollvariablen wurde keine gerichtete Hypothese aufgestellt. Insofern wird zur Beurteilung der Betakoeffizienten der Kontrollvariablen ein zweiseitiger t-Test durchgeführt. Dieser zeigt an, ob es sich beim Wert des Betakoeffizienten um eine zufällige oder statistisch signifikante Abweichung von null handelt (zu dem festgelegten Vertrauensniveau von 10 %). 1567 Vgl. Backhaus et al. 2006, S. 73–76. 1568 Backhaus et al. 2006, S. 74. 1569 Vgl. Verbeek 2014, S. 37. 1570 Vgl. beispielsweise Reuer und Ariño (2007, S. 325) und Brahm und Tarziján (2014, S. 235).
3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
285
werden, dass die Wahrscheinlichkeit für Fehler erster Art, also die irrtümliche Ablehnung der Nullhypothese, dadurch erhöht ist. Zur Interpretation von Interaktionseffekten ist es notwendig, den Haupteffekt in Zusammenschau mit dem Interaktionsterm zu bewerten. Hierzu werden die Betakoeffizienten von Haupteffekt b1 und Interaktionseffekt b3 bei einer gewählten Ausprägung des Moderators addiert und somit der Gesamteffekt sichtbar gemacht. Der Gesamteffekt ist dann zu verstehen als die Wirkung des Haupteffekts bei Vorliegen einer Ausprägung der Moderatorvariable X, wie es in Formel 181571 dargestellt ist. Da die Moderatorvariablen in dieser Untersuchung dichotom operationalisiert wurden, ergeben sich für diese lediglich zwei mögliche Ausprägungsformen. Formel 18: Gesamtwirkung einer unabhängigen Variablen als Zusammenspiel von Haupteffekt und Interaktionsterm b1 bei Xi = b1 + b3 Xi 3.3.4 Ergebnisse 3.3.4.1 Deskriptive Statistik Nach der Vorstellung der verwendeten Methodik im vorangegangenen Abschnitt folgt nun die Vorstellung der Ergebnisse der Regressionsanalyse. Einleitend werden dazu deskriptive Statistiken beschrieben und auffällige Korrelationen zwischen den Variablen erörtert. Sowohl die deskriptiven Statistiken als auch die Korrelationskoeffizienten befinden sich zusammengefasst in Tabelle 20, Tabelle 21 und Tabelle 22. Zur besseren Übersichtlichkeit enthält Tabelle 20 eine Beschreibung der Maßeinheiten der Variablen. Die deskriptive Statistik umfasst die untersuchte Fallzahl, minimale und maximale Ausprägungen, den Mittelwert und die Standardabweichung der Variablen. Eine Besonderheit zeigt sich in der deskriptiven Statistik für die Mitgliederbindung und auch die Variablen soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen: Da zur Berechnung der Mitgliederbindung z-transformierte Werte herangezogen wurden, beträgt der Mittelwert dieser Variable null. Auch bei den Variablen soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und soziales Vertrauen handelt es sich um Faktorwerte, jedoch beträgt der Mittelwert dieser Variablen nicht null, da die Verteilung der Energiegenossenschaften in den Raumordnungsregionen, für die die Faktorwerte erhoben wurden, nicht einheitlich ist. Bei den Interaktionstermen ist zudem anzumerken, dass sämtliche metrisch skalierte Variablen zentriert wurden, bevor ein Interaktionsterm berechnet wurde. Aufgrund dieser Tatsache sind die minimalen und maximalen Ausprägungen nur bedingt mit denen der Haupteffekte vergleichbar.
1571 Vgl. Jaccard et al. 1990, S. 26.
additiver Index
Mitgliederbindung
Faktorspezifität
Transaktionsvolumen
Soziale Netzwerke
Reziprozitätsnormen
Soziales Vertrauen
Ländlichkeit
Bevölkerungsstabilität
Umweltorientierung
Anzahl Anzahl binär binär zentriert Faktorwert
Populationsgröße
Populationskonzentration
Verfasstheit Initiator
Erfahrung Genossenschaftsverband
Verfasstheit InitiatorXSoziale Netzwerke
%/
%/
Anzahl
Faktorwert
Faktorwert
Faktorwert
€
binär
Beschreibung
Nr. Variable
Tabelle 20: Deskriptive Statistik und Korrelationen A.
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Max. Mittelwert
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Min.
286 3 Modellentwicklung und Prüfung
zentriert %/ zentriert %/ binär
zentriert €
binär € binär binär binär
Verfasstheit InitiatorXBevölkerungsstabilität
Verfasstheit InitiatorXUmweltorientierung
Erfahrung GenossenschaftsverbandXFaktorspezifität
Erfahrung GenossenschaftsverbandXTransaktionsvolumen
EEG –
Einkommen
Genossenschaftsverband e. V.
Genossenschaftsverband Bayern e. V.
Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V.
Rheinisch-Westfälischer Genossenschaftsverband binär e. V.
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Korrelation ist bei einem Vertrauensniveau von 0,01 signifikant (zweiseitig). Korrelation ist bei einem Vertrauensniveau von 0,05 signifikant (zweiseitig). Quelle: Eigene Berechnung.
**
zentriert Anzahl
Verfasstheit InitiatorXLändlichkeit
zentriert Faktorwert
Verfasstheit InitiatorXSoziales Vertrauen
zentriert Faktorwert
Verfasstheit InitiatorXReziprozitätsnormen
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3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
287
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Verfasstheit InitiatorXReziprozitätsnormen
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Verfasstheit InitiatorXSoziale Netzwerke
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Bevölkerungsstabilität
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Erfahrung Genossenschaftsverband
Ländlichkeit
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Verfasstheit Initiator
Reziprozitätsnormen
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Soziale Netzwerke
Populationskonzentration
Transaktionsvolumen
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Faktorspezifität
Populationsgröße
Mitgliederbindung
Nr. Variable
Tabelle 21: Deskriptive Statistik und Korrelationen B.
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288 3 Modellentwicklung und Prüfung
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Rheinisch-Westfälischer
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3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
289
Faktorspezifität
Transaktionsvolumen
Soziale Netzwerke
Reziprozitätsnormen
Soziales Vertrauen
Ländlichkeit
Bevölkerungsstabilität
Umweltorientierung
Verfasstheit InitiatorXReziprozitätsnormen
Verfasstheit InitiatorXSoziale Netzwerke
Erfahrung Genossenschaftsverband
Verfasstheit Initiator
Populationskonzentration
Populationsgröße
Mitgliederbindung
Nr. Variable
Tabelle 22: Deskriptive Statistik und Korrelationen C.
290 3 Modellentwicklung und Prüfung
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Erfahrung GenossenschaftsverbandXFaktorspezifität
Erfahrung
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Genossenschaftsverband e. V.
Genossenschaftsverband Bayern e. V.
Genossenschaftsverband Weser-Ems e. V.
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3.3 Quantitativ-empirische Modellprüfung
291
292
3 Modellentwicklung und Prüfung
Korrelationskoeffizienten von > 0,4 und