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German Pages [251] Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540190 — ISBN E-Book: 9783647540191
Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte (BERG)
Herausgegeben von Christoph Auffarth, Marvin Döbler, Ilinca Tanaseanu-Döbler Band 2
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Marvin Döbler
Die Mystik und die Sinne Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux
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Umschlagabbildung: Bernhard von Clairvaux, Expositio super Cantica canticorum, Ms 20, f. 1r (Italien, vermutlich 1. Hälfte d. 15. Jh.), Dom Edmond Obrecht Collection, Eigentum der Abtei Gethsemani, Trappist, Kentucky. Dauerleihgabe an das Center for Cistercian and Monastic Studies, aufbewahrt im Special Collections and Rare Book Department der Western Michigan University, Kalamazoo, Michigan. Dieses Bild und andere dieser Sammlung können angesehen werden unter: http://luna.library.wmich.edu:8180/luna/servlet/s/l24ld9 Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-54019-0 ISBN 978-3-647-54019-1 (E-Book) Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Vorwort Dieses Buch ist an den Universitäten Bayreuth und Bremen entstanden. Es ist meine für die Drucklegung überarbeitete, um Literatur ergänzte und in einigen Punkten (zu Ernst Troeltsch, zu Emil Brunner und zur thick description) erweiterte Dissertation aus dem Jahr 2010. Ich möchte mich für vielfältige Unterstützung herzlich bedanken: zuerst bei meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Dr. Christoph Auffarth, er ist ein fachliches und menschliches Vorbild. Dann sogleich bei der zweiten Gutachterin, Frau Professor Dr. E. Rozanne Elder (Western Michigan University, Kalamazoo). Sie hat mich im Jahr 2005 in dem von ihr geleiteten Institute of Cistercian Studies (inzwischen Center for Cistercian and Monastic Studies) das erste Mal herzlich aufgenommen und seither mit Rat begleitet. Meinen ersten und weitere Besuche dort hat großzügig die Heinrich J. Klein Förderstiftung durch Stipendien finanziert. In Kalamazoo hat die Institutssekretärin Frau Karen McDougall meine Aufenthalte stets so unterstützt, daß ich mich dort zu Hause fühlen durfte. Vom Mai 2006 bis zum März 2009 wurde ich durch ein Bayerisches Elitestipendium (BayEFG) der Universität Bayern e.V. (vormals Hochschulrektorenkonferenz) maßgeblich unterstützt. In meinen Bayreuther Jahren war mir Herr Professor Dr. Ulrich Berner ein geschätzter Gesprächspartner. Danken möchte ich ferner meinem anderen Bayreuther Lehrer, Professor Dr. Christoph Bochinger, von dessen Seminaren und Klassikerlektüren ich profitieren durfte. Besondere Unterstützung und Anregung habe ich vom Ordenshistoriker † P. Chrysogonus Waddell OCSO erhalten. Seiner Abbey of Gethsemani in Trappist (KY), insbesondere dem Abt P. Elias Dietz OCSO, danke ich für die Gastfreundschaft, die mir bei meinen vielen Arbeitsbesuchen die Zusammenarbeit mit P. Chrysogonus ermöglicht hat. Ferner gilt mein Dank dem Prior P. Dr. Luke Anderson OCist und dem P. Hugh Montague OCist, St. Mary’s Priory of New Ringgold (PA), die mich an der Praxis des lateinischen Chorgesangs teilhaben ließen. Für eine Erfahrung ursprünglichen zisterziensischen Lebens, für stimulierende Interaktion und Gastfreundschaft danke ich den Mönchen der Assumption Abbey (MO), stellvertretend ihrem Abt em. P. Cyprian Harrison OCSO. Viele akademische Kolleginnen und Kollegen habe ich im Laufe der Jahre kennenlernen dürfen, denen ich für unsere Gespräche und Freundschaft danken möchte, genannt seien im besonderen Frau Professor Dr. Marsha Dutton (Ohio University), Dr. Christopher Brown (Ohio State University) und Dr. cand. Jamie A. McCandless (Western Michigan University). Die Diskussionen auf der Cistercian Studies Conference anläßlich des International Congress on Medieval Studies in Kalamazoo haben mir über viele Jahre Anregungen gegeben. Danken
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Vorwort
möchte ich auch Herrn Professor Dr. Fritz Graf, der mir während meiner Aufenthalte an der Ohio State University, Columbus (OH), großzügige Bibliotheksprivilegien gewährt hat; an der Georgia-Augusta in Göttingen hat dies Herr Professor Dr. Reinhard Feldmeier für mich getan. Herrn Prof. Dr. Volker Leppin (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) möchte ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes, seine vielen hilfreichen Anmerkungen und das Angebot, dieses Buch in eine seiner Reihen aufzunehmen, herzlich danken. Am Ende hat doch das den Herausgebern dieser Reihe gemeinsame Anliegen einer Europäischen Religionsgeschichte für eine Veröffentlichung in den BERG den Ausschlag gegeben. Osterwald, im Mai 2013
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Marvin Döbler
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur Bernhardforschung . . . . . . . . . . . 1.3 Christentumsgeschichte als Gegenstand der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . .
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte von ,Mystik‘ in der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einführung: Kategorisierungsversuche der Literatur . . . . . . 2.2 Theologische Positionen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts . 2.2.1 Friedrich D. E. Schleiermacher (1768 – 1834) . . . . . . . 2.2.2 Albrecht Ritschl (1822 – 1889) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Adolf von Harnack (1851 – 1930) . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Ernst Troeltsch (1865 – 1923) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Emil Brunner (1889 – 1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Paul Tillich (1886 – 1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen . . . . . . . . 2.3.1 Friedrich Max Müller (1823 – 1900) . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 William James (1842 – 1910) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Rudolf Otto (1869 – 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Friedrich Heiler (1892 – 1967) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Gustav Mensching (1901 – 1978) . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Neuere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Religionswissenschaftliche Fundamentalkritik an der Verwendung des Mystikbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Konsequenzen für die folgende Untersuchung . . . . . . . . . . 3. Bernhard als mystischer Theologe – Grundzüge . . . . . . . . . 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zur Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zu Bernhards Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . 3.2 Bernhards Sermones super cantica als Beitrag zum mystischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Vorbemerkung: Bernhard und die Tradition der Hoheliedauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Theologische Grundannahmen der Hoheliedpredigten 3.2.2.1 Vorbemerkung zur Methodik . . . . . . . .
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Inhalt
3.2.2.1.1 Diversa sed non adversa . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1.2 Thick Description und Close Reading . . . . . 3.2.2.2 Bemerkungen zum erkenntnistheoretischen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Zur Soteriologie Bernhards in den Hoheliedpredigten . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.4 Zur Gottesvorstellung Bernhards in den Hoheliedpredigten . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.5 Zur Anthropologie Bernhards in den Hoheliedpredigten . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.6 Zur Ekklesiologie Bernhards in den Hoheliedpredigten . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Begegnung der Seele mit Gott in SC 23 . . . . . . . 3.2.3.1 Vom Garten durch den Keller ins Brautgemach 3.2.3.2 Die verschiedenen Stufen der Gotteserfahrung 3.2.4 „Doch der Bräutigam kommt und geht, wann er will“ . 3.2.5 Metaphern als Beschreibung der Gottesbegegnungen . . 3.2.5.1 Vorbemerkung: Metaphern in der kognitiven Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.2 Der Kuß in SC 9: osculum . . . . . . . . . . . 3.2.5.3 Die Umarmung in SC 83: complexus . . . . . . 3.2.5.4 Die ungestüme Liebe in SC 79: amor praeceps, vehemens, flagrans, impetuosus 3.2.5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik . . . . . . . 4.1 Religionsaisthetik als Forschungsfeld der Religionswissenschaft 4.1.1 Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Konsequenzen für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . 4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und natürliche Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die erkenntnisbegründende Funktion der Sinne . . . . . 4.2.2 Die sensus corporis und die sensus animae . . . . . . . . . 4.2.2.1 Die fünf Körpersinne des homo exterior . . . . . 4.2.2.2 Die Schöpfung als liber und speculum der Weisheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Die Sinne der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Erlösender Glaube durch den auditus . . . . . . . . . . . 4.3 Das monastische Umfeld als sinnlich erfahrbare Welt – Bernhard, Musik und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Zur Aisthesis des Hörens: Musik und Gesang . . . . . . . 4.3.1.1 Der monastisch-liturgische Alltag und die Hoheliedpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1.1 Der Bezug zum Kirchenjahr . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.3.1.1.2 Ein direkter Bezug auf die Liturgie in SC 1 . . . Exkurs: Zu Liturgie und Feldarbeit – ora et labora zwischen Ideal der Regel und Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Bernhard und die zisterziensische Liturgiereform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2.1 Die zisterziensische Liturgie im 12. Jahrhundert 4.3.1.2.2 Bernhards Prologus in antiphonarium . . . . . . 4.3.1.2.3 Der Traktat Cantum quem . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2.4 Bernhards Brief 398 an Guido von Monti¦ramey 4.3.1.2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Zur Aisthesis des Sehens: Bildende Kunst . . . . . . . . . 4.3.2.1 Wilhelm von St. Thierry über Bernhard und die Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die Apologie an Abt Wilhelm . . . . . . . . . . 4.3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Literatur . . . . . . . Quellen . . . . . . Hilfsmittel . . . . Sekundärliteratur
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Index rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Index personarum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540190 — ISBN E-Book: 9783647540191
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1. Einleitung 1.1 Thesen Diese Arbeit vertritt drei Thesen, die den Gang der Untersuchung strukturieren. (1) Es ist sinnvoll, den Begriff Mystik in der Religionswissenschaft weiterhin zu verwenden, da er befreit von Essentialismus und dem Versuch, ,die‘ mystische Erfahrung zu rekonstruieren, hermeneutisches Potential birgt: Mystik ist eine Texttradition, die über besondere religiöse Erfahrung reflektiert. Gerade die Topoi vom Mystiker als dem Häretiker, dem Soziophoben, dem Einsamen, der eigene Erfahrungen vorzuweisen hat, die er den religiösen Institutionen entgegenstellt, erklären sich aus der Fachgeschichte der Religionswissenschaft, die somit selbst nicht nur als Beobachter, sondern auch als Akteur in die Religionsgeschichte einzuordnen ist.1 Löst man sich von diesen Topoi und sieht Mystik als historisches, gewachsenes Textgeflecht an, können etwa die Strategien, Konzepte und Metaphern, die darin am Werke sind, genauer beschrieben werden. Die Auseinandersetzung mit den Schriften Bernhards von Clairvaux – insbesondere den Predigten über das Hohelied – illustriert dieses hermeneutische Potential: (2) Bernhard entwickelt in der Tradition der Hoheliedexegese einen eigenen Beitrag zu diesem Diskurs, der die Bedingungen und den Weg für eine überdiskursive Erkenntnis Gottes ausgehend vom Körper beschreibt. Dies lenkt den Blick auf eine kaum wahrgenommene Verknüpfung von Mystik mit dem konkreten Lebenskontext, speziell dem Körper und seiner Sinne. (3) So ist der in dieser Arbeit entwickelte Begriff von Mystik in der Lage, das Gespräch mit anderen Forschungsfeldern der Religionswissenschaft zu suchen, hier der Religionsästhetik bzw. ihrem Feld der Religionssomatologie. Diese Thesen sind aus folgenden religionswissenschaftlichen Fragestellungen heraus entwickelt worden: (1) Ist eine religionswissenschaftliche Rede von Mystik sinnvoll oder sollte der Begriff aufgegeben werden?2 Die Beantwortung dieser Frage hängt eng mit der Erwartung an das begriffliche Instrumentarium der Religionswissenschaft zusammen. (2) Wie könnte sich (eine positive Antwort auf die erste Frage vorausgesetzt) eine Analyse der Quellen mit Hilfe dieses Mystikbegriffes gestalten? (3) Welches zusätzliche Potential bietet ein solcher systematischer Begriff für die Religionswissenschaft, die unter dem Eindruck einer Ausdifferenzierung in Subdisziplinen darum ringen muß, diese untereinander 1 Dazu Gladigow (1988b), bes. 6 – 12; (2005), 40; zur Religionswissenschaft als Akteur im religiösen Feld s. Rüpke (2007), 28. 2 Löhr (2006) fordert, den Begriff aufzugeben und nur noch seine Verwendung zu erforschen.
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1. Einleitung
fortdauernd zum Gespräch zu befähigen, ohne dabei auf der einen Seite in eine ahistorische Betrachtungsweise zu verfallen, die den Kontext ihres Forschungsgegenstandes mißachtet, oder auf der anderen Seite bloß auf einer Mikroebene kleinste Ethnien zu beschreiben oder Kleinstgruppendiskussionen auszuwerten?3 Dieser Dreischritt bringt die Aufgabe mit sich, diese Untersuchung (1) in die Mystikforschung und (2) in die Bernhardforschung einzuordnen, sowie (3) sie innerhalb der Religionsästhetik zu positionieren. Ich habe mich entschieden, zunächst kurz die Position zur Bernhardforschung zu markieren und die Einordnung in die Religionsästhetik erst dann vorzunehmen, wenn deutlich wird, warum die Frage nach Rolle und Funktion der Sinne bei Bernhard sich stellt. Hinsichtlich der Einordnung der Arbeit in den religionswissenschaftlichen Mystikdiskurs liegt die Sache nicht so einfach, da sie in zumindest zwei Problemkreise zerfällt, von denen der offensichtlich zentrale – nämlich die Einordnung in die Mystikforschung – einen (von drei) Teilen der Arbeit bilden wird. Die andere Problematik ist auf den Gegenstand der Untersuchung zurückzuführen. Die Religionswissenschaft hat die Geschichte des Christentums als Gegenstand entdeckt, und man kann mit Recht fragen, was einen religionswissenschaftlichen und einen kirchenhistorischen Zugang unterscheidet. Daß das Christentum als Gegenstand der Religionswissenschaft keine Selbstverständlichkeit war, zeigt schon der Aufsatz ,Europäische Religionsgeschichte‘ von Burkhard Gladigow.4 Ein Beispiel soll diese Beobachtung untermauern: in einem Band ,Höllen-Fahrten‘ sind es die außereuropäischen Religionen die der Religionswissenschaft in persona Hans-Peter Hasenfratz zur Darstellung anvertraut werden.5 Die Beantwortung dieser Frage erforderte mehr Raum, als ich ihr hier zumessen mag, und deshalb kann diese Abgrenzung nur mit einigen annähernden Beobachtungen angedeutet werden, die mehr als Anstoß zu einer Diskussion denn als Lösungsvorschlag dienen können (s. 1.3). Damit ist eine weitere Vorbemerkung zur Darstellung eingeleitet. Die Arbeit versteht sich als These zur Diskussion und als Versuch, in der Darstellung dafür notwendige Argumente zu liefern, auf der anderen Seite aber – an vielen Stellen durchaus mögliche – verbreiternde Ausführungen, Exkurse oder Vertiefungen zu vermeiden. Aus der zitierten Literatur dürfte deutlich werden, daß ich versucht habe, in der Breite die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Disziplinen zu suchen, die durch Methode oder Gegenstand Gesprächspartner der Religionswissenschaft sein können. Um möglichst eine 3 So verstehe ich auch Auffarth (2001), bes. 237, der die Bildung von Idealtypen fordert: „Die Aufgabe einer neuen systematischen Zugriffsweise von Religionswissenschaft ist es zu definieren, wie mit dem Instrument der differenzierten Idealtypen die Fragen an die jeweilige Religion gestellt werden können. Damit nicht jede Diskussion im Fach auf die Aporie hinausläuft: ,In meiner Ethnie ist das aber ganz anders.‘“ 4 Gladigow (2005), 289 – 301. 5 Herzog (2006), der Beitrag von Hans-Peter Hasenfratz dort 25 – 36.
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1.2 Zur Bernhardforschung
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Vielzahl von Anknüpfungspunkten darzustellen oder zu liefern, habe ich deshalb häufig komplexe Auseinandersetzungen über Einzelfragen knapp oder in den Anmerkungen dargestellt. Dieser Dissertation liegt als Vorarbeit meine unveröffentlichte Masterarbeit zu Grunde.6 Die Frage, die mir damals gestellt wurde, ließ es zu, Bernhard entweder als Mystiker oder als Politiker oder als Mystiker und Politiker zu beschreiben. Doch keine dieser drei Antworten kann richtig sein, da bereits die Frage nicht sachgerecht war. Somit habe ich die Frage nach Politik aufgegeben und mich auf Mystik und Ästhetik konzentriert. Dazu war es notwendig, zunächst wesentlich umfangreicher die komplexe Begriffsgeschichte in der Religionswissenschaft und darüber hinaus auch ihre theologischen Wurzeln zu behandeln, um Problembewußtsein für die impliziten Prämissen der klassischen Religionswissenschaft zu schaffen. Sodann ist nach Klärung der theologischen Voraussetzungen im Denken Bernhards ein Blick auf seine Konzeption religiöser Praxis notwendig: welche Rolle und welche Bedeutung hat der Körper, hat die monastische Praxis im Denken Bernhards? Dabei ist es entscheidend, die bernhardinische Theologie der Hoheliedpredigten von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung her zu lesen. In diesem mittleren Teil der Dissertation greife ich neben Überlegungen zur Methodik auf Paraphrasen von Texten Bernhards zurück, die ich seinerzeit für meine Masterarbeit angefertigt habe, allerdings nun in einem anderen, nämlich erkenntnistheoretischen, Rahmen interpretiere; die Übersetzungen – sofern sie in der Masterarbeit enthalten waren – habe ich vollständig überarbeitet und umfangreich neue Literatur eingefügt. Zudem greife ich auf Ausführungen zu William James und Rudolf Otto zurück (2.3.2 u. 2.3.3). Zur Übersetzung der lateinischen Texte muß gesagt werden, daß sie sich lediglich als Verständnishilfe versteht und auf keinen Fall literarische Brillianz beansprucht. Selbstverständlich habe ich meine Übersetzungen noch einmal mit der deutschen Werkausgabe7 verglichen. Ich habe darüber hinaus von allen zitierten Übersetzungen der Werke Bernhards profitiert, aber die Übersetzungen sind die meinen; in wenigen Fällen habe ich andere Übersetzungen bemüht, dies ist dann auch ausgewiesen.
1.2 Zur Bernhardforschung Wie steht nun diese Arbeit zur Bernhardforschung, die kaum noch übersehbar ist?8 Fast ist man versucht, grundsätzliche Überlegungen zu Funktion und Umgang mit Historiographie angesichts der enormen Literaturproduktion 6 Döbler (2004). 7 Bernhard Werke deutsch. 8 Dazu Dinzelbacher (1998), bes. 363 – 370.
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1. Einleitung
anzustellen.9 Ich hoffe, zumindest das Einschlägige berücksichtigt zu haben. Doch dazu muß aus methodischer Sicht noch Grundsätzliches gesagt werden. Die in allen geisteswissenschaftlichen Gebieten ausufernde Literatur, u. a. mit ihrem neuen Trend, dem companion,10 darf nicht den frischen Blick auf die Quellen versperren; deshalb wendet sich diese Untersuchung ihnen zunächst zu und versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.11 Gerade die Sekundärliteratur wird dann dazu dienen, zu zeigen, daß Bernhard noch aus weiteren Gründen einen frischen interpretatorischen Ansatz verlangt, der nicht bloß Anthologie von Bernhardtexten jeglicher Provenienz unter Lemmata eines Handbuchs systematischer Theologie bieten will, sondern Bernhard bei der Entwicklung systematischer Gedanken folgt, ihn „bei der Arbeit beobachtet“12. Dies illustriere ich in meinem weiter unten (3.2.2.1) ausführlich begründeten methodischen Ansatz. Nun kurz zur bisherigen Forschung: allein Versuche, Bernhards Biographie zu erstellen, gab und gibt es reichlich;13 um seine historische Bewertung wird seit jeher gerungen.14 Bernhards Werk ist hervorragend ediert.15Als Theologe ist Bernhard Gegenstand einer großen Zahl von Monographien16 und neuerdings eines Handbuchs17. Sein Einfluß auf andere Autoren wurde umfangreich beleuchtet.18 Zu seinem 800. Todestag und seinem 900. Geburtstag gesellten sich erwartungsgemäß zahlreiche Kongreßbände hinzu.19 Auf zwei Dissertationen, die zu Bernhards 900. Geburtstag erschienen, muß besonders eingegangen werden. Regine Hummel hat in einer vergleichenden Arbeit das „St. Trudperter 9 Wie Ankersmit (1998). 10 Man mag fast von einem „Age of Companions“ sprechen, wie Auffarth (2009) es tut. 11 So verfährt etwa auch – mit anderen Quellen – Schrimpf (2000). Den Zugang zum Werk ihres Vaters verdanke ich meiner Kollegin Monika Schrimpf. 12 Eine Formulierung von Berner (1981), 99 – 102, der dies allerdings insbesondere wegen der Probleme einer Rekonstruktion von De Principiis für Origenes vorschlägt. 13 Um nur folgende zu nennen: grundlegend Vacandard (1895), ordensgeschichtlich Luddy (1927), erbaulich Leclercq (1990), knapp Wendelborn (1993), materialreich Dinzelbacher (1998), so ebenfalls Aub¦ (2003), ferner McGuire (2009). Zu den biographischen Quellen, bes. der Vita Ia, siehe kumuliert Bredero (1996). Zu Bernhards Kinder- und Jugendjahren siehe Gastaldelli (1987). 14 Siehe nur Borst (1958), auch McGuire (1991) oder Diers (1991), die insbesondere Bernhards Wirken im Spannungsfeld von vita activa und vita contemplativa beschreibt. 15 S. Bernardi Opera 1 – 8. Ed. J. Leclercq; H.M. Rochais, Rom 1957 – 77. 16 Erstmals Bernhard als Theologen würdigend Gilson (1934), grundlegend Leclercq (1962 – 92), knapp Stange (1954), ausführlicher wieder Hiss (1964). Aus neuerer Zeit Köpf (1980), Sommerfeldt (1985), (1991), (2004a) u. (2004b), Hummel (1989), Heller (1990a), Benke (1991), Diers (1991), Stickelbroeck (1994). 17 McGuire (2011). 18 Auf Gottfried von Straßburg s. Allgaier (1983), auf Calvin s. Lane (1996), auf Luther und den Protestantismus Köpf (2002b); ein vergleichender Ansatz zu Bernhard, Wilhelm von St. Thierry und den St. Trudperter Hoheliedkommentar ist Hummel (1989). 19 Etwa Spörl (1953), Post (1953), S. Bernardo (1954), Lortz (1955), Sommerfeldt (1992), Arabeyre/ Berlioz/Poirrier (1993), Bauer/Fuchs (1996).
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1.2 Zur Bernhardforschung
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Hohelied“, Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry untersucht.20 Ihr Interesse gilt ausgehend von Alois M. Haas und Walter Haug einer unio mystica und deren sprachlichem Ausdruck.21 Ihre Vorgehensweise ist kleinschrittig und quellennah, allerdings sehr von der Suche nach der unio bestimmt.22 Dieser Arbeit liegt ein anderer Mystikbegriff zugrunde; zudem versuche ich, Bernhards Rede über religiöse Erfahrung und seine Konzeption der Liturgie als Ort der Begegnung mit dem verbum im Zusammenhang zu betrachten und religionsaisthetisch zu beschreiben. Abzugrenzen ist diese Arbeit auch von der Untersuchung Dagmar Hellers „Schriftauslegung und geistliche Erfahrung bei Bernhard von Clairvaux“.23 Die Fragestellung, von der Heller ausgeht, ist genuin protestantisch-theologisch: das Verhältnis von „Theologie als Wissenschaft und Erfahrung als Glaubenserfahrung“ soll bestimmt, in der Frage nach der „Heilige[n] Schrift und ihre[r] Auslegung“ zusammengeführt und durch die Analyse Bernhards der mittelalterliche Hintergrund Martin Luthers bestimmt werden.24 Zu einer Vorentscheidung Hellers sind einige Bemerkungen notwendig; sie schreibt: „Es soll ein Zugang zu Bernhard gewonnen werden, der nicht von einem Denksystem ausgeht, das es damals noch gar nicht gab.“25 Dies ist sicher richtig im Hinblick auf die von Heller geäußerte Kritik an Begriffsanalysen in den bernhardinischen Schriften, die Konzepte hinter Begriffen vermuten, die von letzteren womöglich gar nicht definitorisch umfaßt werden.26 Das ist sicher auch richtig, wenn damit gemeint ist, daß Bernhards Theologie von der scholastischen Theologie zu unterscheiden ist – Heller tut das mit Jean Leclercq, diese Arbeit mit der darauf aufbauenden Formulierung Ulrich Köpfs (s. u. S. 152 f).27 Heller hat allerdings neben der Tradition der Schriftauslegung und der Exegese Bernhards auch die monastische Praxis im Blick, etwa die Liturgie oder Askese.28 Wichtig ist in diesem Kontext eine ihrer Schlußfolgerungen: Während der Durchgang durch Bernhards Werk gezeigt hat, daß seine Schriftauslegung nicht ohne den monastischen Kontext verstanden werden kann, so zeigt die Untersuchung der Traditionsgeschichte, daß er gleichermaßen auf dem Hintergrund der altkirchlichen Tradition verstanden werden muß. Und drittens muß seine Exegese im Zusammenspiel der geistigen Kräfte seiner eigenen Zeit gesehen werden. Die 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Hummel (1989). Hummel (1989), bes. 14. So liest Hummel (1989), 129 – 134, Bernhards SC 23 auf eine solche unio hin. Heller (1990a). Heller (1990a), 1 f. Heller (1990a), 7. So verstehe ich die Kritik an O. Castr¦n bei Heller (1990a), 7. Heller (1990a), 6 f. Überlegungen zur zisterziensischen Liturgie – allerdings auf Grundlage der RB – Heller (1990a), 93 – 96; zum Zusammenhang von Schriftzitaten in der Liturgie und ihrer Auslegung dort 120 – 123.
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1. Einleitung
Rolle und Betonung der Erfahrung bei der Auslegung der Schrift ist sicher im Zusammenhang der Zeit eines beginnenden Subjektivismus zu verstehen, aber die Ausprägung im klösterlichen Rahmen ist auf Bernhards Eigenart und seinen Eifer für die zisterziensische Lebensweise zurückzuführen. So tritt bei ihm die Übertragung der Schrift in das geistliche Leben in einer Konkretheit hervor, wie sie in der Tradition noch nicht vorkam.29
An dieser Stelle unterscheidet sich der hier gewählte Ansatz von Hellers Zugang deutlich: es wird hier zunächst versucht, Bernhard theologische Grundlagen herauszuarbeiten, die ihrerseits den Rahmen für sein Schriftverständnis bilden. Weiter geht es dann darum, zu zeigen, auf der Grundlage welches Körper- und Sinneskonzeptes welche aisthetische Strategie von Bernhard verfolgt wird, um das monastische Umfeld so zu gestalten, daß das Erleben der biblischen Schriften möglich wird. Eine Reihe neuerer Arbeiten versucht, Bernhards Texte in ihrem liturgischen Kontext bzw. unter kompositionellen Gesichtspunkten zu lesen. Während es Wim Verbaal darauf ankommt, den Zusammenhang der Predigten zum liturgischen Jahr mit diesem zu untersuchen – mit dem Ergebnis, daß es sich um ein eigenständiges, durchkomponiertes literarisches Werk für eine textual community handele –,30 setzt sich Mette Bruun explizit von einer Kontextualisierung ab und analysiert Bernhards Texte ausschließlich als zeitlose literarische Produkte: I am concerned with the Bernardine texts as self-contained entities. The readings focus on textual structures and dynamics, and thus generally leave aside the function of the texts as evidence of something else; be that their historical Sitz-im-Leben, Bernard of Clairvaux the man, contemporary applicability, or a systematic theology.31
Gerade auf den Ort im historischen Kontext kommt es ihr dabei nicht an: I base myself on the hermeneutic assumption that these [Bernard’s] texts imply both a register by which they are embedded in their contemporaneous situation and one by which they transcend it. Much and fecund work has been done within the first field; this is an essay within the latter.32
Während Mette Bruun sich von einer Kontextualisierung der Texte verabschiedet, gibt sie gleichsam die Richtung ihrer Untersuchung vor: A direction which is first and foremost concerned with the textual strategies through which Bernard addresses the question of the post-lapsarian condition of man – and the means by which he seeks to answer it.33 29 30 31 32 33
Heller (1990a), 190. In eine ähnliche Richtung argumentiert Hummel (1989), 175 – 180. Verbaal (2004), (2007). Bruun (2007), 5. Bruun (2007), 6. Bruun (2007), 7.
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1.2 Zur Bernhardforschung
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An anderer Stelle versucht sie hingegen, eine Verbindung zwischen Text und Ritual herzustellen, wobei letzteres anhand normativer Texte zeitlos bestimmt wird.34 Ähnlich verfährt auch M. B. Pranger : For the same reason that I concentrate on the text rather than on theory, I shall not attempt to situate Bernard in the historical context of the twelfth century. That is not to say that I want my reading of Bernard’s text to be a-historical. Portraying Bernard as a ‘sophisticated intellectual’ I intend to give him a more integrated place in twelfthcentury culture than his ‘conservative’ reputation has hitherto permitted.35
Ganz im Gegensatz dazu stehen die Teile der Bernhardforschung, die ausschließlich noch um den historischen Kontext ringen, Bernhard und seine Wirkungsgeschichte im Spiegel der Zeiten betrachten und sich von einer eigentlichen Textanalyse von Bernhards Schriften entfernen.36 Während hier zunächst gezeigt wird, wie ein hermeneutisch ertragreicher Zugang zur Mystik durch Abkehr von Essentialismus und Erfahrungszentrismus eröffnet werden kann, geht es in einem zweiten Schritt darum, Bernhards Predigten über das Hohelied als Beitrag zu einem über die Jahrhunderte gewachsenen mystischen Diskurs zu verstehen und im monastischen – insbesondere liturgischen – Umfeld zu analysieren. Milieustudien und Rekonstruktionen des zisterziensischen monastischen Alltags im 12. Jahrhundert liegen zahlreich vor.37 Mir kommt es darauf an, zu zeigen, wie Bernhard die Predigten über das Hohelied vor dem Hintergrund seines monastischen Umfeldes für dasselbe konstruiert und seine Idealvorstellung davon konzipiert. Da es nicht um den realen Alltag geht, ist es hier gar nicht nötig, die Frage nach der Differenz von Idealen und Realität des zisterziensischen Lebens im 12. Jahrhundert zu vertiefen.38 Die Frage lautet vielmehr, wie Bernhard seinen Beitrag zum mystischen Diskurs in eine gewünschte oder tatsächliche Lebenswelt einordnet, insbesondere welche Rolle und Wertung er Körperlichkeit und Sinnen zukommen läßt. Die Predigten über das Hohelied sind ein komponierter, später von Bernhard in seiner Gesamtheit redigierter Text; ob sie in der uns vorliegenden Form je gepredigt worden sind ist fraglich.39 Dieser Text 34 35 36 37
Bruun (2004). Pranger (1994), 17. Eine Zusammenfassung dieser Richtung ist Goez (2005). Etwa Lekai (1977); der Klassiker Leclercq (1982); im Hinblick auf Kunst Rudolph (1990); Newman (1996); auch Berman (2000), (2002) kann man als Milieustudie lesen, wenn man auf die Fluidität der zisterziensischen Reformbewegung im 12. Jh. abstellt – die These, es gebe keinen eigentlichen Zisterzienserorden vor 1150 ist jedoch so wohl nicht haltbar, dazu Freeman (2002); McGuire (2000), (2002); Waddell (2000), (2002). 38 Obgleich Lekais Titel „Ideal and Reality“ (1977) dies zunächst nahelegt, wird man doch immer nur im Einzelfalle darstellen können, was Ideal, was Realität und was in der historischen Konstruktion Legende ist; letzteres tut anhand des Konzeptes Zentrum vs. Peripherie etwa Freeman (2005) in ihrer vergleichenden Analyse männlicher und weiblicher Monasterien. 39 Leclercq (1962 – 92), I:206 f, bes. I:212, nimmt eine Orientierung am oralen Stil Bernhards an, falls sie so nicht vorgetragen worden seien; dazu auch Holdsworth (1998).
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1. Einleitung
eignet sich, gerade weil er so sorgfältig komponiert ist, als Ausgangspunkt für die Analyse dieser Zusammenhänge. Dazu gehört zunächst die Beschäftigung mit ihrer theologischen Dimension, dann aber gleich die Frage, wie diese in Bezug zum monastischen Umfeld gesetzt wird. Am Beispiel Bernhards können wir zeigen, wie der Mystiker – der Teilnehmer am Diskurs Mystik – gerade nicht der „Stille im Lande, dieser Beter und Schweiger“40 sein muß, sondern sich in seinem Diskursbeitrag mit seiner Umwelt auseinander und mit ihr in Beziehung setzt.
1.3 Christentumsgeschichte als Gegenstand der Religionswissenschaft Bernhard von Clairvaux und die Mystik – mit diesen beiden Gegenständen betreten wir den Kernbereich der Europäischen Religionsgeschichte. Denn obgleich man angesichts der neueren Forschung wohl nicht mehr vom „ungekrönten König im Abendland“41 oder vom „ungekrönten Papst und Kaiser seines Jahrhunderts“42 sprechen können wird, spielt Bernhard eine so grundlegend bedeutsame Rolle im Abendland des 12. Jahrhunderts, daß man an ihm für eine Europäische (Religions-)geschichte des 12. Jahrhunderts nicht vorbeikommt.43 Mystik als Terminus zum anderen entwickelt sich von einer ursprünglichen Verbindung mit den antiken Mysterienkulten zu einem christlich-westlichen Konstrukt.44 Doch wie müßte eine Religionsgeschichte des Christentums aussehen? Fällt sie nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kirchengeschichte? Das hängt vom historisch bedingten, veränderlichen Selbstverständnis der Disziplinen ab:45 Adolf Harnack hatte – übrigens wie F. Max Müller46 – darauf hingewiesen, daß ohne die Kenntnis anderer Religionen ein Verständnis einer Religion nicht möglich wäre: Endlich aber – wir verlangen das Studium der allgemeinen Religionsgeschichte nicht nur deshalb, weil die Kirchengeschichte in fast allen ihren Stadien auf andere Religionen eingewirkt hat und von ihnen affiziert worden ist, sondern auch deshalb, weil man ein vollkommenes Verständnis einer Religion überhaupt nicht gewinnen kann ohne die Kenntnis anderer.47 40 41 42 43 44 45 46 47
Heiler (1919), 3. Jordan (1989), 83. Wehr (1995), 99. Sommerfeldt (2004b), 1 – 3. Dazu etwa Löhr (2006), 116 – 127. Dazu etwa Freiberger (2000), Kippenberg (2003). Müller (1874), 14 Harnack (1911), II:53.
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1.3 Christentumsgeschichte
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Harnack sieht den Kirchenhistoriker dabei lediglich ob der Vielgestaltigkeit der Christentumsgeschichte im Vorteil. Wenn Harnack das „Verhältnis von Kirchen- und Universalgeschichte“ näher bestimmt, dann zeichnet er einen detailreichen Entwurf einer Kirchengeschichte, die essentielle Züge einer Religionswissenschaft trägt, die wir heute als Kulturwissenschaft verstehen wollen.48 Natürlich ist eine Übersetzungsleistung notwendig. So liest man bei Harnack: Ist die Kirchengeschichte aber ein Teil der allgemeinen Geschichte, so ist sie aufs innigste – nicht wie etwas Fremdes, sondern wie etwas Verwandtes – mit anderen Faktoren und Entwicklungen verknüpft, ja sie ist nur mit ihnen vereint vorhanden. Man wird sie also um so besser verstehen, je mehr man auf diese Verknüpfungen achtet.49
Verstanden werden muß diese Aussage als Ruf nach einer Kontextualisierung, die in ihrer Konsequenz sicher sogar das von modernen Religionswissenschaftlern wie etwa Bruce Lincoln geforderte ideologiekritische Potential aufweist.50 Wir lesen weiter bei Harnack: „Vier große Gebiete kommen hier vor allem in Betracht: 1. die politische Geschichte, 2. die allgemeine Religionsgeschichte, 3. die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, und 4. die Wirtschaftsgeschichte.“51 Nicht abschließend aufgezählt sind es also – in moderne Wissenschaftsprache übersetzt – die Bereiche Institutionen und Macht (institutions, power), die Geschichte der verschiedenen religiösen Traditionen (religions, traditions), die Philosophiegeschichte, die Wissenschaftsgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte (inklusive everyday life) die Harnack als zunächst bedenkenswerte Dimensionen einer Kontextualisierung angibt.52 Doch wieso spricht Harnack dann nicht von einer Kulturgeschich48 49 50 51 52
Zur ,Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft‘ s. Gladigow (2005). Harnack (1911), II:45. Dazu Lincoln (2005). Harnack (1911), II:45. Eine klare Trennung von Text und Kult – so kritisiert im Hinblick auf Harnacks Rektoratsrede Gladigow (1992), 16 – wird hier nicht deutlich. Aber auch dort (Harnack 1906, 167) heißt es: „[…] in der Sprachgeschichte spiegelt sich die Religionsgeschichte. Nur wer jene in all ihren Nuancen kennt, kann versuchen, die Religion zu entziffern. Weiter aber, die wirtschaftlichen Zustände und die politischen Erlebnisse und Institutionen eines Volkes sind für die Ausgestaltungen seiner religiösen Ideen und seines Kultus maßgeblich.“ Weiter ist eben nicht nur von den Philologien, sondern von „alle[n] diesen Studien, d. h. nicht weniger als die gesamte Sprachwissenschaft und Geschichte“, die Rede. Dann sogar: „Dennoch würde sich die Wissenschaft der Religion ihres wichtigsten Hilfsmittels selbst berauben, wollte sie sich auf das tote Material beschränken.“ Dann kommt eine methodologische Kritik – man mag sie wohl zu Recht auf William James (1901/02) beziehen – die in gleicher Weise noch heute formuliert wird (s. u.): „Zurzeit ist sie [die Religionswissenschaft] hier noch sehr zurückhaltend – nicht ohne Grund, denn sie sieht, wie manche Neuerer in wunderlicher Einseitigkeit nur gewisse Exzentrizitäten einer echauffierten Frömmigkeit für Religion zu halten scheinen –; indessen langsam und sicher nähert sie sich der neuen Aufgabe.“
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1. Einleitung
te?53 Wir lesen weiter : „Absichtlich spreche ich nicht von der ,Kulturgeschichte‘ besonders; denn Kulturgeschichte kann wissenschaftlich nur in einer Zerlegung behandelt werden.“54 Harnack ist sich bewußt, daß diese Kulturgeschichte – wie auch die Kulturwissenschaft – nicht von einer Person allein geleistet werden kann, sondern sich nur in der Grundannahme von Wissenschaft als Paradoxon spiegelt, das Wissenschaft sowohl als stete Einzelleistung, aber auch als kollektive Anstrengung aus notwendiger Arbeitsteilung heraus begreift. In der Religionswissenschaft ist Harnack in der Regel mit seiner Rektoratsrede55 von 1901 zitiert worden,56 selten jedoch so ausgewogen wie von Carsten Colpe.57 Zwar heißt es dort bei Harnack: „Wer diese Religion [das Christentum] nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle“, später sogar, daß „[…] dessen Studium das Studium der übrigen Religionen nahezu ersetzt […]“.58 Aber hier geht es ja zunächst gar nicht um die Religionsgeschichte, sondern um die Identität der theologischen Fakultät und ihre Stellung innerhalb der Universität. Im Ringen um die Bestimmung der theologischen Fakultät deklariert er das Christentum als „höchstes Gut, welches die Menschheit besitzt“ und weist der theologischen Fakultät die Rolle einer „Hüterin dieses geistigen Guts“ zu.59 Dieser Aufgabe wegen solle sich die theologische Fakultät nicht mit dem Studium der anderen Religionen befassen, und zwar deshalb – so fährt Harnack fort – weil sie eine Ausbildungsfunktion für den kirchlichen Dienst erfülle.60 Genau dort setzte innertheologische Kritik an Harnack an: gerade die Ausbildung von Missionaren, gerade eine Apologetik erfordere die Kenntnisse anderer Religionen.61 Doch dieser will die Theologie als Wissenschaft frei wissen,62 die Religionsgeschichte der nicht-christlichen Religionen aber ebenso nicht als Anhängsel einer anderweitig gebundenen theologischen Fakultät, sondern als produktive selbstständige Disziplin.63 Denn wenn man Religionsgeschichte von Sprachwissenschaft und Geschichtswissenschaft trenne, indem man sie in die theologische Fakultät eingliedere, „so verurteilt man sie zu einem heillosen
53 Für eine Verortung Harnacks in der wissenschaftstheoretischen Debatte um Kulturgeschichte siehe Scheliha (2003), 171 – 179; Rendtorff (2003), 261 f. 54 Harnack (1911), I:10 f. 55 Zuerst erschienen als Harnack (1901), im folgenden nach Harnack (1906) zitiert. Die Ausgabe Harnack (1996) gibt mit Parallelzählung die hier verwendete Ausgabe Harnack (1906) wieder. 56 Diese hat wohl auch Rüpke (2007), 19, im Sinn, wenn er Harnack (1911), II:53 gegen den Kontext und seine Intention verwendet. 57 Colpe (1980). 58 Harnack (1906), 168. 59 Harnack (1906), 173 f. Rendtorff (2003), 269, spricht von „klaren theologiepolitischen Zielen“. 60 Harnack (1906), 174. Dazu Scheliha (2003), bes. 167 – 169. 61 Foster (1903), bes. 335. 62 Harnack (1906), 174 – 176. 63 Harnack (1906), 176 – 177.
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1.3 Christentumsgeschichte
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Dilettantismus“.64 Ganz ehrlich ist also Harnacks Forderung zum Abschluß seiner Rede gemeint: Aber indem wir bei der alten Aufgabe unserer Fakultät verharren, geschieht dies in der doppelten Voraussetzung, daß ihrer Freiheit keine Schranken gezogen werden, und daß sich über die äußeren Zäune hinweg Vertreter verwandter Fächer – wie zur Zeit der Anfänge unserer Universität – die Hand reichen zu gemeinsamer Forschung. Vielleicht kommen wir so nach langer, langer Arbeit zu einer vergleichenden Religionswissenschaft.65
In einem im gleichen Jahre veröffentlichten Nachwort66 faßt Harnack seine These noch einmal zusammen: es handele sich um eine rein praktische Entscheidung im Hinblick auf das theologische Studium,67 es ginge darüber hinaus um die Wahrung der Identität der theologischen Fakultät,68 und eine in der theologischen Fakultät angesiedelte universale Religionsgeschichte, die lediglich Überblicke böte, setze sich der Gefahr des Feuilletonismus aus.69 Die Grenzen zwischen Kirchengeschichte und der Religionsgeschichte des Christentums aus religionswissenschaftlicher Perspektive verlaufen also fließend und sind oft weniger inhaltlich als vielmehr pragmatisch bestimmt, wie die Skizze der oft als Gegensatz zu Müller zitierten Position Harnacks zeigt. Während sich für Harnack aber die Geschichte des Christentums in ihren Wechselwirkungen mit der Geschichte anderer religiöser Traditionen erhellt, betont die Europäische Religionsgeschichte die Heterogeneität des Christentums selbst und untersucht seine Geschichte gleichrangig neben der anderer 64 Harnack (1906), 167. 65 Harnack (1906), 177. Zu dieser wissenschaftspolitischen Vision auch Rendtorff (2003), 272, der allerdings Harnacks Anspielung auf die Religionswissenschaft übergeht. 66 Harnack (1906), 179 – 187. 67 Harnack (1906), 179, spricht von „praktisch-organisatorischer oder schultechnischer“ Frage. Die Frage nach Ausbildung der Theologiestudenten wird ebd., 181, aufgeworfen, die Inhalte werden ebd., 183ff, konkretisiert. 68 Das zeigt bes. Harnack (1906), 180: „Die Erforschung und Darstellung der christlichen Religion soll aus sachlichen und aus praktischen Gründen die eigentliche Aufgabe der theologischen Fakultäten bleiben; diese sollen nicht in Fakultäten für allgemeine Religionsgeschichte verwandelt werden.“ 69 Harnack (1906), 186: „Eine besondere Spezies von Religionshistorikern aber zu schaffen, die sich nur in den theologischen Fakultäten sehen lassen dürfen, dafür danken wir.“ Ebd., 182: „Mit der allgemeinen Religionsgeschichte steht es aber noch anders. Sie umfaßt Sprache, Mythus, Sitte, Kultur, Wissenschaft, kurz die Geschichte der Völker und ist von ihnen nicht zu trennen. Oder soll aus den verschiedenen Religionen der Völker je ein ,Prinzip‘ gemacht und dann lustig mit diesen ,Prinzipien‘ gebaut werden? Die Zeiten sind vorüber. Aber es gibt doch auch ,Allgemeine Weltgeschichte‘, und man liest darüber sogar Vorlesungen? Gewiß, aber man hat sich längst verständigt, was man unter diesem Titel versteht – politische Geschichte. Die, welche den Begriff erweitern und eine wirkliche Universalgeschichte aus ihm machen wollen, markieren entweder nur die unendliche Aufgabe, an der wir alle arbeiten, oder treiben allerlei feuilletonistischen Unfug.“ Ebd., 182 f: „Eine allgemeine Religionsgeschichte gibt es auch nur als unendliche Aufgabe vieler Disziplinen, und dafür richtet man keine Lehrstühle ein, weder bei der theologischen noch bei der philosophischen Fakultät.“
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1. Einleitung
Traditionen.70 Insofern ist sie von kirchenhistorischen Entwürfen wie dem Harnacks zu unterscheiden, steht aber nicht im Gegensatz dazu. Man kann überlegen, ob ein religionswissenschaftlicher Ansatz sein Profil gegenüber zeitgenössischen Ansätzen in der Kirchengeschichte behauptet, da diese eben ihre Kirchengeschichte als Theologie und nicht als rein historische Disziplin verstehen wollen; aber auch das ist im Alltagsgeschäft nicht so einfach, wie die programmatische Ausführung von Christoph Markschies andeutet: Daran, dass die Dimension spezifischen Wirkens Gottes ungeachtet aller Schwierigkeiten, sie im konkreten Alltag historischer Arbeit konsensfähig zu identifizieren, nicht einfach aufgegeben wird, hängt der Charakter der Kirchengeschichte als einer theologischen Disziplin und ihre Identifizierbarkeit im interdisziplinären Gespräch mit Religionshistorikern.71
Oliver Freiberger hat in seinem Eröffnungsvortrag der DVRW-Tagung 2011 in Heidelberg versucht, Kriterien der Fachabgrenzung zu finden, die aus der soziologischen Disziplinaritätsforschung stammen und viel pragmatischer auf institutioneller und fachdiskursiver Ebene zu finden sind; Freibergers Ziel – und zugleich seine erste von vier Thesen – ist es, die Religionswissenschaft als „transnationale akademische Disziplin“ zu beschreiben: Einige Disziplinaritätsforscher stellen als Kriterien für Disziplinarität nicht den Gegenstand oder die Methode eines Faches in den Mittelpunkt, sondern nennen als konstituierende Merkmale das Vorhandensein historisch gewachsener Institutionen und einer rhetorischen Konstruktion der Disziplin. Beides ist m. E. für die Religionswissenschaft gegeben.72
70 Auffarth (2003) spricht von Christentümern als einer heterogenen Traditionslinie neben anderen. 71 Markschies (2004), 62. 72 Freiberger (2013), hier 4. Institutionen, so Freiberger weiter, sind dabei: „Fachverbände wie die DVRW, eigene Institute, Seminare und Lehrstühle, Promotionsstudiengänge, die den wissenschaftlichen Nachwuchs in diesem Fach produzieren, Fachzeitschriften und Buchreihen, die einem Peer-Review-System unterworfen sind, eigene Fachgutachter in Wissenschaftsorganisationen wie der DFG usw. Mit ,rhetorischer Konstruktion der Disziplin‘ (dem zweiten Kriterium) ist gemeint, dass die Disziplin im Fachdiskurs bewusst als solche bestimmt wird. Dies geschieht durch Fachgeschichtsschreibung (inklusive Legendenbildung und Heldenverehrung), aber insbesondere dadurch, dass man die Grenzen zu anderen Disziplinen festlegt – was in der deutschen Religionswissenschaft gegenüber der Theologie seit Jahrzehnten unermüdlich praktiziert wird. Diese Abgrenzungsaktivität wird in der Disziplinaritätsforschung ,boundarywork‘ genannt. Solches ,boundary-work‘ findet aber nicht nur in programmatischen Manifesten von Fachvertretern statt, sondern auch an anderen Stellen – etwa wenn eine Fachzeitschrift einen Aufsatz ablehnt, weil er nach Auffassung der Herausgeber nicht ins Fach gehört; wenn ein DFG-Antrag abgelehnt wird, weil die Gutachter erklären, dass das Projekt nicht religionswissenschaftlich, sondern theologisch sei; oder wenn eine Professorin einem Studenten rät, das geplante Promotionsprojekt in einem anderen Fach durchzuführen. Es ist unbestreitbar, dass mit solchen Formen von ,boundary-work‘ Macht ausgeübt wird; die Herausgeber einer Zeitschrift, die Fachgutachter, die Professoren bestimmen nicht nur, was gute und schlechte Reli-
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Diesem Vorschlag ist zuzustimmen, weil er zunächst eine Metaebene in die Betrachtung der Disziplingrenzen einzieht, die von den Interessenlagen der im Fach betriebenen Abgrenzungsprozesse wegführt, obgleich er ja selbst wieder Teil eines solchen Abgrenzungsprozesses ist, da ein Religionswissenschaftler hier versucht, seine Disziplin abzugrenzen. Ausschlaggebend ist für mich, daß Freiberger sich entschieden um Deskription und nicht um Programmatik bemüht. Freibergers weitere Thesen allerdings kritisieren einen von ihm konstatierten Trend in der deutschen Religionswissenschaft, sich auf die Erforschung Europas und der Gegenwart zu konzentrieren und dabei nur wenig am transnationalen Fachdiskurs teilzunehmen; zwischen beiden Beobachtungen – Verengung des Gegenstands und geringe Teilnahme am transnationalen Diskurs – existiere ein Kausalzusammenhang.73 Dies ist aber nicht notwendig der Fall. Obwohl ich mich hier auf einen Gegenstand der Europäischen Religionsgeschichte konzentriere, habe ich mich dennoch bemüht, den internationalen Fachdiskurs aufzugreifen. Etwas anderes aber ist meiner Ansicht nach für die Religionswissenschaft ebenfalls wichtig: sie muß mit anderen Disziplinen im Gespräch bleiben und deren Ansätze und Erkenntnisse aufgreifen, ebenfalls transnational. Auch darum habe ich mich hier bemüht.
gionswissenschaft ist, sondern auch, was nicht Religionswissenschaft ist. Als institutionalisierte Funktionsträger schützen sie so die Grenze der Disziplin.“ Hervorhebung im Original. 73 Freiberger (2013), 7: „These 2: Die deutsche Religionswissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit Europa und insbesondere mit dem ,Hier-und-Jetzt‘.“; ebd., 16: „These 3: Die Beteiligung der deutschen Religionswissenschaft am transnationalen Fachdiskurs ist gering, und sie nimmt weiter ab.“; ebd., 23: „These 4: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der thematischen Fokussierung der deutschen Religionswissenschaft und ihrer geringen Beteiligung am transnationalen Fachdiskurs.“
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte von ,Mystik‘ in der Religionswissenschaft 2.1 Einführung: Kategorisierungsversuche der Literatur Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist die Fülle der unter dem Schlagwort ,Mystik‘ zu findenden Literatur zu einem unüberschaubaren Berg herangewachsen,1 bereits 1899 zählte William Ralph Inge 26 Definitionen von Mystik auf.2 Abgesehen davon, daß allein die Trennung von akademischem und erbaulichem Schrifttum eine im Hinblick auf die Quantität kaum zu unterschätzende Leistung wäre, muß man natürlich überlegen, wie das vorhandene wissenschaftliche Korpus am besten zu kategorisieren sei, wenn man sich nicht Einzelstudien3 widmen will. Bernard McGinn etwa unterscheidet (a) theologische, (b) philosophische sowie (c) komparative und psychologische Ansätze; dabei bemerkt er jedoch gleich selbst sich einschränkend, daß diese Klassifizierung nicht gänzlich in die Irre führe, allerdings eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich sei.4 Eine solche Problematik birgt wohl etwa das Werk Rudolf Ottos: ist es ein theologisches, wie die religionswissenschaftliche Kritik sagen würde, ein philosophisches oder, wie McGinn feststellt, ein komparatives bzw. psychologisches Werk?5 Otto selbst würde wohl zwischen Beiträgen zu verschiedenen Diskursen, dem „theologischen“ und dem „religionskundlichen“, differenzieren, wie sein Aufsatz „Religionskundliche und theologische Aussagen“ nahelegt.6 Dagegen unterscheidet Jeffrey Kripal (a) erfahrungsorientierte, (b) essentialistische und (c) epistemologische Ansätze.7 Dieser Einteilung ist hier der Vorzug zu gewähren, weil sie doch – anders als die McGinns – den ideengeschichtlichen Hintergrund hervorhebt: sie hält nicht an Disziplinengrenzen fest, sondern läßt über diese hinaus eine thematische Analyse der verschiedenen Diskurse im Feld Mystik zu. In der deutschsprachigen Religionswissenschaft hat, wovon weiter unten noch die Rede sein wird, der erfahrungsorientierte Ansatz bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein dominiert, man könnte wohl sogar von 1 Es existiert keine umfassende Bibliographie. Die beste Sammlung bietet wohl immer noch McGinn (1992), 265 – 343. 2 Inge (1899), bes. Appendix A. Die Bekanntschaft mit Inge verdanke ich Bernard McGinn (1994), 393 f. 3 Wie etwa Widmer (2004) zu William James und Evelyn Underhill. 4 McGinn (1992), 267. In der deutschen Übersetzung McGinn (1994), 384 f. 5 Zum Problemaufriß siehe Alles (1997). 6 Otto (1932). 7 Kripal (2006), 323 – 325, spricht im Engl. von „experience“, „essentialism“ und „epistemology“.
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2.1 Kategorisierungsversuche der Literatur
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einem ,Erfahrungszentrismus‘ sprechen. Wichtige Vertreter der ,History of Religions‘ – so etwa Mircea Eliade, Gershom Scholem und Henry Corbin – entwickeln ihr Verständnis von Religion gleichfalls um eine mystische Erfahrung („mystical experience“) im Zentrum herum, so Steven Wasserstrom,8 und damit stehen sie bis heute keinesfalls alleine da.9 Im Hinblick auf die Religionsphänomenologie muß man eine essentialistische Herangehensweise annehmen, die aber, wie sich zeigen wird, nicht ungetrennt von einer erfahrungsorientierten ist. Beispiele für epistemologische Erwägungen sind etwa im religionsphilosophischen Diskurs zu lokalisieren. So versucht z. B. Grace Jantzen ausgehend von William James’ Definition von Mystik (s. u.) zu zeigen, daß James’ Fokus auf subjektive Erfahrung und Bewußtseinszustand irreführend sei.10 Die Untersuchung zielt darauf ab, zu zeigen, daß sich James’ Definition nicht mit dem Befund in den Schriften Bernhards von Clairvaux und Julians of Norwich decke, welche ihr als Paradigmen der Mystik gelten. Liege James nun falsch, bedeute dies, daß die gesamte Forschung, die auf ihm aufbauend einen subjektivistischen Zugang zur Mystik gepflegt habe, fehlgeleitet sei. Das Ergebnis ihrer Betrachtung der Texte ist, daß Erfahrung nicht Ziel und Zentrum der Religiosität Bernhards und Julians sei, sondern vielmehr eine unio. Ferner, daß die Erfahrung von Stimmen, Visionen, subjektiver Ekstase und Einung eben nicht gleich dieser unio mit Gott sei. Daran schließt sich die Überlegung an, daß das Verständnis des religiösen Subjekts bestimmend für die Definitionsbildung auf der metasprachlichen Ebene sei. Jantzens Intention jedoch scheint darüber hinaus jedoch eine andere zu sein: der mystischen unio soll offenbar ein erkenntnistheoretischer Wert beigemessen werden, wie sich zum Ende der Schlußbetrachtung andeutet. Diese Frage, wie Jantzen selbst bekennt, führt jedoch in ihrer epistemologischen und ontologischen Dimension vor die Aufklärung, namentlich vor Immanuel Kant, zurück.11 Eine solche Position findet sich in der Religionswissenschaft in ihrer frühen vom Neukantianismus und der Romantik beeinflußten Phase, etwa bei 8 Wasserstrom (1999), 5; kritisch zu diesem Ansatz dann 239 – 241. 9 S. nur etwa ältere Beiträge Hopkinson (1946), Zaehner (1957), Smart (1966) u.v.a. Neuer: Stoeber (1994), Borchert (1994), Bishop (1995), weniger akademisch Abhayananda (2002), (2007). Die Debatte zwischen (maßgeblich) Katz (1978), (1982), (1983), (1992), (2000a), (2000b), (2004) und Forman (1990), (1998), (1999) bzw. Andresen/Forman (2000) kreist ebenfalls um das Problem von ,experience‘ im engeren Kern, um die perennial philosophy (zum Begriff Huxley 1946) vs. Konstruktivismus im weiteren. Auch der neurobiologische Ansatz versucht im Grunde nur, mystische Erfahrung empirisch zu belegen, etwa Newberg/d’Aquili (1999), (2000); Newberg (2001), (2003); Newberg/d’Aquili/Rause (2001). Ebenso der psychologische Ansatz, etwa Merkur (1999), Kroll/Bachrach (2005). 10 Jantzen (1989). 11 Jantzen (1989), 315: „Again, it could be argued that doing so provides us with an alternative anthropology to those views current in post-Kantian philosophy, a view of human personhood which correlates with an epistemology and ontology opposed to much post-Enlightment thought and able to provide insight into contemporary problems, both philosophical and practical.“
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
F. Max Müller und Rudolf Otto; sie ist für die Religionswissenschaft jedenfalls dann nicht akzeptabel, wenn ihr Empiriebezug als wesentliches Merkmal ihrer Arbeit angenommen wird.12 Im folgenden soll nun versucht werden, den religionswissenschaftlichen Mystikdiskurs in seiner Verbundenheit mit den theologischen Debatten darzustellen. Damit sei der Fokus auf die theoretischen Voraussetzungen dieser Untersuchung gerichtet. Eben nicht die Frage nach dem Wesen von Mystik bestimmt den Ansatz, sondern ein dynamisch-dialektisches Vorgehen, welches sich dem Verständnis des Gegenstandes widmet.13 Ausgangspunkt ist dabei eine Anregung aus der Germanistik, namentlich das Vorgehen Kurt Ruhs, der einen „Kanon der Mystik“ beschreibt, ausgehend von der literaturhistorischen Beobachtung, daß sich ein solcher in Europa herausgebildet habe.14 Es geht Ruh nicht darum, etwas über das Wesen von Mystik auszusagen oder sie zu definieren. Sein Ziel ist es, Texte, die gemeinhin mystisch genannt werden, zu beschreiben und sich so dem Gegenstandsbereich anzunähern: unter diesen sind z. B. die Hoheliedpredigten Bernhards. Auch in der Kirchengeschichte hat Ruhs Zugang Beachtung gefunden, so hat Volker Leppin in seinem Band „Die christliche Mystik“ Ruhs Vorschlag aufgegriffen.15 Mit Blick auf die religionswissenschaftlichen Fachkollegen möchte ich folgendes noch einmal klarstellen: ich verwende den Begriff Kanon nicht, um das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses von Echtheitsansprüchen religiöser Texte zu bezeichnen (den Kanon biblischer Schriften etwa), sondern um Texte zusammenzufassen, die auf Anhieb von der interdisziplinären Mystkforschung als verwandt bezeichnet werden. Die Grenze ist nicht fest gezogen; denn der Kanon beschreibt nur und bestimmt nicht das Textgeflecht, welchem er sich nähert – er kann also stets erweitert werden. Ein schwerwiegendes Problem wird damit umgangen, nämlich – wie Volker Leppin es launig ausdrückt – „daß die Katze sich definitorisch in den Schwanz beißt“16 ; gemeint ist die petitio principii. Dieses Vorgehen von einem Vorverständnis aus – beruhend auf der literaturwissenschaftlich-deskriptiven Annahme eines „Kanons der Mystik“ – hin zu einem besseren „nach(träglichen)-Verständnis“ (Kurt Rudolph) ist der 12 Zum Empiriebezug s. Seiwert (1977). Zu dem Problem der Standortbestimmung von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie siehe auch Berner (1997), mit der These, daß die analytische Religionsphilosophie im Hinblick auf die Analyse religiöser Sprache heuristisch wertvoll sein könnte. 13 Siehe auch Hanegraaff (1998), 44 – 46, der bei der Diskussion der Definitionsmöglichkeit von Esoterik und Religion zu ähnlicher Schlußfolgerung kommt (45, dort Anm. 110): „Notice that the process of definition is not an analytical but a dialectical one. There is no reason to assume that the process is closed once a reasonably convincing definition has been formulated. Rather, the dialectics between etic theory [Außenbeschreibung] and emic material [Selbstbeschreibung] is an ongoing one.“ 14 Ruh (1990), 14; McGinn (1992), xiv f. 15 Leppin (2007), 7 – 13, bes. 8 f. 16 Leppin (2007), 8.
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2.1 Kategorisierungsversuche der Literatur
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Weg; die Feststellung von Gemeinsamkeiten (Familienähnlichkeiten) bzw. ein tiefes fundiertes historisches Verständnis der verhandelten „Sachverhalte“ (Hubert Seiwert) wäre das Ziel.17 Zunächst ist dabei nun das Vorverständnis zu klären; für den religionswissenschaftlichen Mystikbegriff kann dies nur durch einen Blick auf die Begriffsgeschichte innerhalb der Disziplin geschehen. Doch dies wäre noch zu eng gegriffen: die Selbständigkeit der Religionswissenschaft als empirisch arbeitende Disziplin gegenüber der Theologie entwickelt sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.18 Deshalb muß der Blick zunächst auf die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts gerichtet werden, um eine für die Religionswissenschaft prägende Traditionslinie beginnend bei Friedrich Schleiermacher nachzuzeichnen,19 der die für den späteren Mystikdiskurs prägende religiöse Erfahrung in den Mittelpunkt seines Religionskonzeptes stellt; sein Einfluß auf frühe Klassiker der Religionswissenschaft wie F. Max Müller oder Rudolf Otto ist mit Händen zu greifen. Da es hier auf die religionswissenschaftliche Mystikforschung ankommt, soll nur diese protestantische theologische Traditionslinie verfolgt werden, die konstitutiv für die Entwicklung der Religionswissenschaft war. Letzteres hat Volkhard Krech sehr differenziert u. a. am Beispiel des Religionsbegriffes gezeigt und eine Konsequenz dieses historischen Zusammenhanges für die frühe Religionswissenschaft, die „Konzentration auf die religiöse Erfahrung“, herausgearbeitet.20 Ein Überblick über die gesamte theologische – katholische wie protestantische – Auseinandersetzung mit Mystik ist hier also aus den genannten fachhistorischen Gründen gar nicht nicht angestrebt.21 Verweisen 17 Analog zur Problematik der Bestimmung von ,Religion‘ bei Rudolph (1992), 39 – 48, bes. 40 – 42; zum Begriff „Sachverhalt“ s. Seiwert (1981); s. u. Anm. 309. 18 Ahn (1997), bes. 41 – 42 u. 48; ferner Gladigow (1988a), Kohl (1988), Zinser (1988), Hjelde (1994) und Gladigow (1996). Siehe auch Heinrich (2002), 12. Zu Tübingen als Fallbeispiel für die frühe Fachentwicklung siehe Junginger (1999), 11 – 107. 19 Zu dieser Rolle Schleiermachers und der damit begründeten Traditionslinie s. etwa auch Proudfoot (1985), bes. xiii ff, 119 – 154; Pyysiäinen (2001), 109 f.; King (2005), bes. 312; Kripal (2006), 323 f. 20 Krech (2003); die „Konzentration auf die religiöse Erfahrung“ ebd. 229. 21 Ein Versuch einer Darstellung der Mystikdebatte in der protestantischen (und katholischen) deutschsprachigen Theologie nach 1918 stellt die Arbeit von Maaß (1972) dar. Jedoch ist sein Schluß, den theologischen Wert der verschiedenen Mystikbegriffe mittels eines Vergleiches mit dem zu bestimmen, was Mystik in ihren historischen Ausformungen ausmache (204 – 207, bes. 205), ohne dabei bestimmen zu wollen, was Mystik sei (13 f), etwas verwirrend. Richtig und gut demonstriert ist sicherlich, daß die von ihm dargestellte Debatte historisches Material ausschloß, das offenbar in Maaß’ Vorverständnis in den Bereich ,Mystik‘ fällt. Richtig also auch, daß etwa Ritschl (den Maaß, 168 – 170, wohl anhand der Sekundärliteratur referiert) ein enges Verständnis von Mystik hatte, welches bestimmte Sachverhalte von vornherein ausschloß. (s. dazu auch die Ausführungen zu Ritschl weiter unten in dieser Arbeit). Jedoch ist der nächste Schritt, Kritik an diesen Positionen üben zu wollen, ohne eine eigene Position entweder substantiell (Definition von Mystik) oder methodologisch (Wert einer solchen Definition) abzusichern, problematisch. Kritisch zu bemerken bleibt zudem, daß eine Differenzierung von verschiedenen Sprachebenen (Sprache der Mystiker, Alltagssprache, wissenschaftliche Meta-
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
möchte ich hier für die katholische Theologie trotzdem auf die Arbeit Bernard McGinns, die er als Anhang seines ersten Bandes der ,Mystik im Abendland‘ veröffentlicht hat. Dort stellt er eine Vielzahl englischer, französischer, deutscher, US-amerikanischer und kanadischer Werke vor.22 Allerdings wäre eine Darstellung des katholischen Diskurses noch um eine Facette zu erweitern, nämlich die des Modernismus bzw. des Antimodernismus.23 Diese Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Theologie – insbesondere zwischen universitärer Theologie und Lehramt – ist allerdings hier nicht zielführend. Hingewiesen sei auf die Arbeit von Peter Neuner ; er beschreibt Friedrich von Hügel als treibende Kraft hinter der katholischen Mystikforschung, der als katholischer Laientheologe im Austausch mit den Protestanten Ernst Troeltsch, Adolf Harnack, Albert Schweitzer, Nathan Söderblom, Friedrich Heiler oder Rudolf Eucken stand.24 Aus den genannten pragmatischen und fachhistorischen Gründen wird allerdings der protestantische Diskurs im Vordergrund stehen, lediglich an einem Punkt (Friedrich Heiler) wird es noch einmal einen Seitenblick auf den Modernismus geben. Auch McGinn behandelt verschiedene hier im folgenden zu besprechende religionswissenschaftliche Autoren mit protestantisch-theologischem Bildungshintergrund. Sieht man die Nähe der frühen Religionswissenschaft zur Theologie, die ich im folgenden anhand des Mystikverständnisses darzustellen versuche, ist fraglich, ob man trotz des komparativistischen Charakters der frühen religionswissenschaftlichen Zugänge diese als eigenständig einordnen sollte. Sieht man historisch beide Disziplinen in ihrer Verbundenheit, dann ist auch fraglich, ob man die protestantische Theolgogie „auf das Ganze gesehen“ als ablehnend gegenüber der Mystik charakterisieren kann, wie McGinn es tut.25
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ebene) scheinbar fehlt (dazu bes. 14). Hier wäre aus religionswissenschaftlicher Sicht eine genauere Reflektion notwendig gewesen. Obgleich ich oben aus McGinns engl. Originalausgabe zitiere, verweise ich hier auf die deutsche Übersetzung, weil sie in deutschen Bibliotheken besser verfügbar ist. In McGinn (1992), das ist die engl. Ausgabe, lassen sich die Stellen dann auch leicht auffinden. In der deutschen Ausgabe McGinn (1994) sind es also zum anglo-katholischen Diskurs W.R. Inge, Evelyn Underhill, Kenneth Escot Kirk und Edward Cuthbert Butler (392 – 398), zum französisch-katholischen Augustin-FranÅois Poulain, Auguste Sandreau, Albert Farges u. a. (398 – 402), zum deutschkatholischen Joseph Zahn, Alois Mager, bes. Anselm Stolz (402 – 404), Karl Rahner (408 – 412) und Hans Urs von Balthasar (412 – 415). Zum amerikanisch-katholischen Diskurs sind zu finden Thomas Merton und Bernard Lonergan (404 – 407); ferner Stephen Katz (455 – 458). Neuner (2009), 91 – 93, zeigt, wie Modernismus als normativer Begriff vom katholischen Lehramt geprägt worden ist; eine „einheitliche Bewegung“ sieht Neuner, 140 – 160, hier 140, nur „unmittelbar“ nach der Verurteilung durch die Enzyklika Pascendi dominici gregis 1907. Hier wird Modernismus neutral und pragmatisch lediglich als terminus technicus verwendet, um einen theologischen Diskurs innerhalb des katholischen Tradition zu beschreiben. Neuner (2009), 74 – 84. McGinn (1994), 385 f.
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2.2 Theologische Positionen
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2.2 Theologische Positionen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts 2.2.1 Friedrich D. E. Schleiermacher (1768 – 1834) Friedrich Schleiermacher, der hier nun zunächst in seiner Bedeutung für die protestantische Theologie erfaßt werden soll, könnte mit guten Gründen auch in die Reihe religionswissenschaftlicher Zugänge eingeordnet werden, wie der weiter unten noch einmal zitierte Beitrag von Burkhard Gladigow in den „Klassikern der Religionswissenschaft“ zeigt.26 Das mag zunächst überraschen, läßt doch bereits die Wende, die Schleiermacher in der fünften „Rede über die Religion“27 mit der Anknüpfung an das von Paulus zitierte Christuslied und dessen j]mysir (Phil 2, 6 – 8) einleitet, sicherlich dann aber seine Glaubenslehre,28 keinen Zweifel daran, daß Schleiermacher Theologe ist und Theologie betreibt.29 Wir wollen uns hier auf die Reden beschränken, weil sie auf die frühe Religionswissenschaft am unmittelbarsten gewirkt haben, worauf Rudolf Ottos Ausgabe derselben hindeutet.30 Wie Jan Rohls bemerkt, richte sich Schleiermacher gegen den Rationalismus als natürliche Vernunftreligion genauso wie gegen den Supranaturalismus eines dogmatischen Offenbarungsglaubens.31 Sein Ausgangspunkt ist das Individuum, deshalb steht er auch etwa gegen Durkheim und die Reduktion von Religion auf kollektive Funtionen.32 Schleiermachers Verdienst für die Religionswissenschaft nun ist es, daß er die Notwendigkeit sieht, Religionen in ihrer historischer Ausformung zu beschreiben und diesen „positiven Religionen“ einen Eigenwert zuzuerkennen, indem er erklärt, Religion ließe sich allein in ihren historischen Ausformungen erfassen, die „notwendig, nicht zufällig“ seien, wie Burkhard Gladigow zeigt.33 Obwohl Schleiermacher in den Reden über die Religion den Terminus ,Mystik‘ als solchen kaum mit Inhalt füllt,34 so ist doch seine Verortung von Religion als „Provinz im Gemüte“35 prägend für spätere Versuche, Mystik zu umgrenzen. Schleiermachers Wunsch nach einer Rekultivierung des religiösen Gefühls läßt ihn demjenigen Religion absprechen, der sich nicht seines Gefühls als unmittelbarer Einwirkung des Universums 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Gladigow (1997). Schleiermacher (1799), 235 – 312. Schleiermacher (1821/22). Zumindest sofern man deskriptiv Theologie von der Religionswissenschaft abgrenzt, indem man letzterer den Anspruch zuschreibt, Normativität (von einem weltanschaulichen oder religiösen Standpunkt aus) vermeiden zu wollen, wie Freiberger (2000), bes. 118 – 121, es tut. Bis heute in vielen Auflagen erschienen, so etwa als Schleiermacher (2002). Rohls (1997), 327ff, sowie Gerrish (1985). Schleiermacher (1799), 31 f. Gladigow (1997), 17. So etwa Schleiermacher (1799), 29. Schleiermacher (1799), 37.
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bewußt ist.36 Wenn Schleiermacher zum Ende der zweiten Rede auf „Gott“37 zu sprechen kommt und dieses Konzept als nur eine Möglichkeit begreift, das Unendliche zu versinnbildlichen, „Universum“ hingegen als eine darüber hinausgehende Option, spricht er kurz von der „Unsterblichkeit der Religion“: „Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion“.38 Die theologische Stoßrichtung Schleiermachers – Individualität und Gefühl – wird in diesem Satze deutlich. Denkt man an verschiedene Positionen, die eine unio mystica als zentral für Mystik postulieren,39 so würde Schleiermacher in dieser Lesart Mystik als ein zentrales Element von Religion erfassen. Wolfgang Gantke hat in einem kurzen aber präzisen Überblick eine solche Linie von Schleiermachers gefühls- zu Rudolf Ottos erlebnisorientierten Ansatz nachgezeichnet.40
2.2.2 Albrecht Ritschl (1822 – 1889) Albrecht Ritschls kritische Haltung zum spekulativen Denken erkläre sich aus seiner Intention, Theologie auf eine historische Grundlage zu stellen, so Eckhard Lessing,41 kulturkämpferisch richte er sich damit gegen den Katholizismus, so Friedrich Wilhelm Graf.42 Seine negative Haltung gegenüber Mystik wird deshalb schnell deutlich, schwieriger ist es jedoch, seinen Begriff von ihr präzise zu erfassen. Es bietet sich an, einen Blick auf seine Schrift „Theologie und Metaphysik“ zu werfen, deren Angriffsziel ein erkenntnistheoretisches Axiom ist. Die Metaphysik in der systematischen Theologie bestehe darin, die christliche Weltanschauung rationalistisch in eine weitergehende zu integrieren und letztere als allgemein und vernünftig zu setzten. Dabei, so Ritschl, werde eben der „Werth der Gotteserkenntniß aus der Offenbarung verkürzt.“43 Denn die christliche Gotteserkenntnis müsse vermittels des und im Christus der Offenbarung – d. h. der biblischen Schriften – erfolgen.44 So lehnt Ritschl dann auch Platonismus und Neuplatonismus gerade wegen ihres Gottesbegriffes und der von ihm diagnostizierten Tendenz 36 Schleiermacher (1799), 120. 37 In der zweiten Auflage wird es weiter umschrieben: „Gott, wie er gewöhnlich gedacht wird als einzelnes Wesen außer der Welt und hinter der Welt […].“ 38 Schleiermacher (1799), 133. 39 Einflußreich Underhill (1901): „[…] Mysticism, in its pure form, is the science of ultimates, the science of union with the Absolute, and nothing else, and that the mystic is the person who attains to this union, not the person who talks about it. Not to know about, but to Be is the mark of the real initiate.“ Zu Underhill und James siehe auch Widmer (2004). 40 Gantke (1998), 237 – 252. 41 Lessing (2000), 35 – 43, hier 36. 42 Graf (2003a), 649. 43 Ritschl (1881), 21 f. 44 Ritschl (1881), 5.
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dieses Gottesbegriffes zum Pantheismus ab.45 Diese „Hellenisierungsthese“ – das Gottesverständnis entstamme der hellenistischen Philosophie – wird später bei Adolf Harnack weiterentwickelt.46 In seiner Ablehnung der Absolutheit als eines geeigneten Prädikates Gottes – zur Verdeutlichung einer auf Erfahrung beruhenden Erkenntnis der ontologischen Differenz zwischen dem Menschen und eben diesem Gott – deutet sich ein erstes Merkmal von Ritschls Mystikverständnis an: Das Absolute, wie es Frank [Franz H.R. Frank (1827 – 1894), Erlanger Dogmatiker, Vertreter einer konfessionell-lutherischen (Erfahrungs-)Theologie]47 definirt, behaupten allerdings etwa die Brahmanen, und die Mystiker im Islam und in der christlichen Kirche praktisch zu erfahren und zu erproben, aber auch nicht, um ihr Vertrauen darauf zu setzen, wie der Christ auf seinen Vater in Christus, sondern indem sie vorübergehend sich und ihr Selbstgefühl in dem allgemeinen Sein verlieren. Aber das Absolute, das außer allen Beziehungen zu Anderem als das bloße Fürsichsein gedacht wird, kann nicht mit Recht als ,der Fels der uns erzeugt und der Gott der uns geboren‘ bezeichnet werden. Denn das sind Beziehungen auf Andere, welche entweder in dem Begriff des Absoluten ausgeschlossen sind, oder als richtige Prädicate die eben festgestellte Bedeutung des Absoluten aufheben. In beiden Fällen erweist sich, daß das Absolute kein Product der religiösen Reflexion ist, sondern ein metaphysischer Begriff, welcher den Christen im Ganzen fremd, und nur den Mystikern in den genannten Religionsgenossenschaften geläufig ist.48
Mystik wird in die Nähe zu Erfahrung und Gefühl gerückt, allerdings zugleich in Abgrenzung zu Schleiermacher.49 Die Erkenntnis Gottes verwirklicht sich für Ritschl nicht in metaphysischen Spekulationen und Erfahrungen, sie vollziehe sich ausschließlich durch die Offenbarung: […] auch die Bestimmung Gottes als Liebe habe ich nur aus der durch Christus vermittelten Erkenntnis seiner Gemeinde aufgenommen. Bildet sich mein Gegner [Frank, s. o.] ein, ich redete hierüber a priori im Sinne einer Hypothese, so schiebt er mir das Gegenteil von dem unter, was ich vertrete.50
Die Klage, die Ritschl wie oben erwähnt gegen den Neuplatonismus führt, hält er auch gegen die Mystik aufrecht, die er mit diesem identifiziert: Die Mystik also ist die Praxis der neuplatonischen Metaphysik und diese ist die theoretische Norm des prätendirten mystischen Genusses Gottes. Daß nun das all45 Ritschl (1881), 9. Dort auch die Feststellung, daß ein Christ, der sich auf metaphysische Gotteserkenntnis einließe, einen quasi-paganen Standpunkt einnehme. 46 Lessing (2000), 36 u. 96. 47 Lessing (2000), 57 – 64. 48 Ritschl (1881), 17. 49 Deutlicher wird wohl die Differenz zu Schleiermacher in der Betonung des Zusammenhanges von Ethik und Religion bes. in Ritschl (1875); dazu Axt-Piscalar (2002), XV. Zum Verhältnis Ethik-Mystik s. Ritschl (1881), 26 f. 50 Ritschl (1881), 20.
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gemeine Sein, in welchem der Mystiker zu zerschmelzen wünscht, als Gott angesehen wird, ist eine Erschleichung.51
Bernhard von Clairvaux allerdings will er von dieser Kritik ausgenommen wissen: er rechnet ihn dabei zu seinem Verbündeten gegen die Metaphysik und den in ihr versteckten Rationalismus.52 Dies geschieht wohl auf Grund seiner Wertschätzung von Bernhards Programm einer imitatio Christi zur Wiedergestaltung des Menschen ad imaginem Dei; vor dem Hintergrund seines Postulats einer Gotteserkenntnis aus der positiven Religion – nämlich der Offenbarung in der Christusgestalt – wird diese Lesart Ritschls nachvollziehbar. 2.2.3 Adolf von Harnack (1851 – 1930) Adolf von Harnacks Position wird in mehrfacher hier relevanter Weise in seinem „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ deutlich;53 er erörtert im Gang durch die Geschichte die Rolle der Mystik im ostkirchlichen und römisch geprägten Christentum. Alle Mystik sei wesenhaft dieselbe;54 Harnack identifiziert sie mit katholischer Frömmigkeit.55 Für ihn führt insbesondere die Innerlichkeit und Askese der Mystik zu einer subjektiven Ahistorizität: der historische Jesus Christus werde dem Mystiker zum k|cor %saqjor, ihm gehe der geschichtliche Christus verloren.56 Der Neuplatonismus, der durch Plotin über Jamblich und Proklos und schließlich über Pseudo-Dionysios auf die mittelalterliche christliche Mystik größten Einfluß ausübte, aber auch durch Augustinus hindurchscheint,57 wird von Harnack genau aus demselben Grund
51 Ritschl (1881), 25. 52 Ritschl (1896), 208 – 214. 53 Wichtige Passagen sind hier: Harnack (1931), II:144 f; II, 437 – 490; III:330 – 347; III:354 – 359; III:421 – 455. Siehe zu Harnack auch McGinn (1994), 386 – 388; Nowak (1996), 25 – 29. 54 Harnack (1931), III:433: „Man hat weitläufige Untersuchungen angestellt, um die Mystiker zu classifizieren, und eine scholastische, eine romanische und eine deutsche, eine katholische, eine evangelische und eine pantheistische Mystik unterscheiden zu können gemeint. Allein die Unterschiede sind im Grunde ohne Belang. Die Mystik ist immer dieselbe; sie ist vor Allem nicht national oder confessionell unterschieden. Die Differenzen betreffen niemals ihr Wesen, sondern stets nur entweder das Mass, die Art, und die Energie ihrer Anwendung oder das Vorwalten der Abzweckung auf den Intellect oder auf den Willen.“ 55 Harnack (1931), III:434: „Die Mystik ist die katholische Frömmigkeit überhaupt, soweit diese nicht bloss kirchlicher Gehorsam, d. h. fides implicita ist. Eben deshalb ist die Mystik nicht eine Gestalt der vorreformatorischen Frömmigkeit neben anderen Gestalten – etwa gar latent die evangelische –, sondern sie ist die katholische Ausprägung individueller Frömmigkeit überhaupt.“ III:435: „Entzieht man der katholischen Kirche die Mystik und nimmt sie als ,protestantisch‘ in Beschlag, so entleert man damit den Katholicismus und deteriorirt den evangelischen Glauben.“ 56 Harnack (1931), II:144 f. 57 Siehe dazu zuletzt Louth (2007), 154 – 173; Ruh (1990), 31 – 82; Dinzelbacher (1994), 70 – 73; McGinn (1994) 233 – 269, mit umfangreicher Diskussion der Forschung zur Frage ob Ps.-Dio-
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abgelehnt: der überweltliche Gott sei nicht der Gott des Evangeliums.58 Auch hieran wird die Hellenisierungsthese seiner Dogmengeschichte deutlich.59 Interessant – und aus seiner Perspektive auch folgerichtig – ist Harnacks Überlegung zum Verhältnis von Rationalismus und Mystik: beide seien stammesverwandt, wenn man sie nicht aus systematisch-philosophischer Sicht, sondern im Hinblick auf das bereits angesprochene Verhältnis zur positiven Religion betrachte. Die Mystik sei nichts anderes als auf eine der ratio nicht zugängliche Sphäre angewandter Rationalismus.60 Die l\hgsir und die pq\neir !caha_ würden aber zu l\hgsir und lustacyc_a, für die Majorität nur zu letzterer ; die Entwicklung schlüge dann in Zauberei, Ritualismus und Ikonoklastik um.61 Im Mittelalter dann folge die Scholastik aus der Mystik – und dies muß man im Kontext der Ausführungen zum Verhältnis zwischen Mystik und Rationalismus lesen –, insofern sie lediglich ein objektives Erkenntnisinteresse in Hinblick auf das Verhältnis Gott-Welt formuliere, die Mystik ein subjektives.62 Eigen sei der Mystik – und Harnack zielt hier auf die Ostkirche – die Gefahr, in Pantheismus bzw. Polytheismus umzuschlagen.63 2.2.4 Ernst Troeltsch (1865 – 1923) Ernst Troeltschs religionssoziologische Typologie setzt „Mystik“ neben „Kirche“ und „Sekte“.64 Welchen hermeneutischen Wert die Troeltschen Überlegungen noch für die heutige Religionswissenschaft haben können, zeigt Christoph Bochinger, indem er darlegt, wie der Troeltsche Typus ,Mystik‘ zum Verständnis des Phänomens New Age beitragen kann.65 Bochinger entwickelt seine Beschreibung des New Age aus dem Troeltschen Mystikbegriff heraus. So heißt es schließlich bei ihm: […] Aus der angeblich vom amerikanischen Himmel auf den deutschen Boden gefallenen, zugleich anti-kirchlichen wie anti-modernen ,New-Age-Sekte‘ wird eine
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nysios nun als Christ verkleideter Neuplatoniker war oder – aus theologischer Sicht – fehlgeleiteter christlicher Theologe. Zum Neuplatonismus bei Augustinus Ruh (1990), 86 – 91. Harnack (1886), 17 f. Im übrigen bezeichnete auch Luther in De captivitate = WA 6, 562, die theologia mystica des Areopagiten als mehr platonisch denn christlich. So Wickert (1989), 376 – 78. Harnack (1931), II:145. Deutlicher noch einmal in der Aussage: „Die Mystik ist in der Regel phantastisch ausgeführter Rationalismus, und der Rationalismus ist abgeblasste Mystik.“, so Harnack (1931), II:441, Anm. 2. Harnack (1931), II:441 ff. Deutlich in der negativen Tendenz auch in Harnacks kürzerem Abriß „Dogmengeschichte“: Harnack (1991), 268 = §45. Harnack (1931), III:356 – 359. Harnack (1931), II:442 f (Polytheismus); II:441 f (Pantheismus); deutlicher Harnack (1991), 268 f = §45. Troeltsch (1923), 967: „[…] die drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik.“ Bochinger (1995), 92 – 99.
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zeitgemäße, von den herrschenden sozialen Bedingungen bestimmte Version religiöser Betätigung, wie es sie im Prinzip zu allen Zeiten im Christentum selber auch gab. Kein Wunder, daß ,New Age‘ diffus, uneindeutig, synkretistisch, pluralistisch, individualistisch ist: So ist unsere Zeit, und ,New Age‘ ist die kirchenabgewandte Seite ihres ,mystischen‘ Anteils. ,New Age‘ ist falsch erfaßt, wenn man es als ,Sekte‘ versteht. Dies würde eine feste innere Struktur voraussetzten, die Zugehörigkeit müßte klarer bestimmt sein, die Sanktionierung gruppeninterner Prozesse und ,Rituale‘ ebenso. All das ist nicht der Fall. Man […] sollte es erfassen als Teil der religiösen Gesamtszenerie, zu der neben den sog. ,New Agern‘ evangelikale Christen wie Franziskanermönche, Universitätstheologen wie christliche Politiker gehören.66
Bochinger benutzt hier die soziologischen Typen der Troeltschen Soziallehren, um New Age als religiöses Phänomen religionssoziologisch zu erfassen. Verständnishorizont für Ernst Troeltsch ist ihm die Troeltsche Sicht auf die Theologiegeschichte seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, die Bochinger als „Dreischritt zusammenfass[t]: Traditionale christliche Religion – Religionskritik/Auflösung der Tradition – Wiederbelebung unter Verlust der ethischen und religiösen Monopole.”67 Im Ergebnis beschreibe damit Troeltsch zutreffend, „daß unter den Bedingungen der Moderne ein ständiges Nebeneinander der religionskritischen und re-spiritualisierenden Ströme zu finden sein wird, vielleicht mit graduellen Schwankungen beider in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander.“68 In der Hauptsache hat Bochinger damit – in jedem Fall aus religionssoziologischer Perspektive – wohl keinesfalls Unrecht. Dennoch fehlt zum einen das entscheidende Schlagwort des Historismus69 und – das ist für den Mystikbegriff entscheidend – die Abgrenzung Troeltschs von seinem Göttinger Lehrer Ritschl. Troeltsch zielt nämlich, Gerhold Becker hat das gezeigt, auf drei Punkte: Ritschls Standpunkt sei nicht durch die Theologie Luthers legitimiert (sondern entspringe neuzeitlicher Dogmatik), sei von einer bestimmten (neuzeitlichen) philosophischen Vorentscheidung abhängig und entwickele einen exklusiven, metaphysikkritischen (neuzeitlichen) Standpunkt.70 Troeltsch sieht sich dagegen vor der Herausforderung, der Neuzeit eben doch anders als durch ihre eigenen Begriffe und Denkmuster entgegenzutreten; gerade das Problem der „Relativierung durch geschichtliche Erkenntnis“ im Gegensatz zum „Glauben des Frommen“ löste Troeltsch, so Hans-Georg Drescher, indem er : die Gottesbeziehung des Menschen ihrem wesentlichen Gehalt nach als unmittelbares, direktes Glaubenserlebnis des Menschen deutet. Der Sinn des Frommen richtet sich auf die Begegnung mit Gott selbst, für die das geschichtliche Element nur Ho66 67 68 69 70
Bochinger (1995), 99. Bochinger (1995), 93. Ebd. Troeltsch’ Begriff des Historismus ist scharf umrissen bei Graf (2003b). Becker (1982), 107 – 116.
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2.2 Theologische Positionen
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rizont und Anregungsmittel ist. […] Aus der Sicht theologischer Tradition ist deutlich, daß Troeltsch den Gottes- und Geschichtsbegriff so in Beziehung setzt, daß nicht ein christologisch vermitteltes Offenbarungsdenken bestimmend ist. Vielmehr ist Gott selbst als der Grund und das Ziel des religiösen Erlebens in einer geschichtlichen Bewegung zu sehen, die als Geschichte seines Offenbarwerdens zu begreifen ist.71
Damit wird hinsichtlich der Mystik die Differenz zu Ritschl deutlich, der ja konsequenterweise, wie wir oben gesehen hattten, die Mystik schon wegen des Verdachtes der Metaphysik ablehnen mußte. Hans-Georg Dreschers obige Analyse wird durch eine Passage aus Troeltschs Schrift „Religion und Kirche“ (zuerst erschienen 1895) untermalt, die eine von Christoph Bochinger beobachtete ambivalente Haltung Troeltschs zur Mystik in Frage stellt:72 Die lebendigsten Zeiten der Religion sind die unkirchlichsten, die enthusiastischen, das Individuum und seinen Herzensdrang hervortreten lassenden. Die jüdischen Apokalyptiker und ihre Gläubigen, die Mystiker und Mönche des Islam, die urchristlichen Wiederkunftsgläubigen und Geistesträger, die Anfänge der Franziskanerbewegung, die deutschen Reformatoren und Wiedertäufer, die englischen Independenten und Quäker sind der lebendigste Beweis dafür. Die Kirche dagegen ist etwas Festes, immer Gleiches, das den Besitz der Offenbarung den einzelnen entzieht und immer die Unmittelbarkeit der Religion aufhebt.73
Aus diesem Zitat und seinem uns heute fast fremd gewordenen Duktus wird deutlich, daß eine Lesart, die Troeltsch auf die religionssoziologische Typologie reduziert, zumindest hinsichtlich der Überlegungen in Richtung eines systematisch-religionswissenschaftlichen Mystikbegriffes noch weitergeführt werden kann. Bochingers Lesart, Troeltsch beurteile Mystik ihres „Asozialismus“ und im Verhältnis zur Kirche „parasitären“ Charakters wegen negativ, gilt nur in ekklesiologischer – wenn man will soziologischer – Dimension.74 McGinn glaubt sogar, daß „Troeltsch versuchte, Mystik für den Protestantismus zu retten […]“75 Das ist vielleicht etwas zu stark formuliert. Im Hinblick auf die gefühlte Krisis der Kirche und die Antwort der Theologie wird man sagen müssen, daß Troeltsch der Mystik Wertschätzung entgegenbringt, weil sie ihm die Möglichkeit eröffnet, mit dem Rückzug auf das religiöse Erlebnis am Historismus als Anregungsmittel festzuhalten und gleichzeitig das Problem der Metaphysik hinter diesem Erlebnis zurückstellt.
71 72 73 74 75
Drescher (1991), 274. Bochinger (1995), 95. Troeltsch (1922), 148. Das scheint bei Bochinger (1995), 95 oder 97 auch deutlich durch. McGinn (1994), 390.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
2.2.5 Emil Brunner (1889 – 1966) Emil Brunners Schrift „Die Mystik und das Wort“76 ist eine Kampfschrift gegen eine Religionsphänomenologie vom Schlage Rudolf Ottos. Der Untertitel Brunners lautet „Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers“. Nun jährte sich Schleiermachers Tod zum Zeitpunkt des Erscheinens des Brunnerschen Werkes schon fast zum 100. Mal. Bei genauem Hinsehen soll die Auseinandersetzung mit Schleiermacher nur eine Theologie entfalten, die sich in der gleichen Weise in den Widerspruch zu Rudolf Otto und dessen einflussreichem „Heiligen“ setzt. Bettina Weyh hat sich in ihrer lesenswerten Arbeit zum Werk Brunners intensiv dessen Auseinandersetzung mit Schleiermacher und der Schleiermacher-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewidmet; leider erschien sie zu spät, um die Konzeption dieses Abschnittes noch zu beeinflussen.77 Im folgenden habe ich Brunner in erster Linie als Reaktion auf Rudolf Otto gelesen; eine Perspektive, die selektiv und nur aus dem disziplinärem Bezugsrahmen der Religionswissenschaft heraus begründet ist. Zwei Leitsprüche sind wie These und Antithese unter Brunners Titel abgedruckt (nicht zufällig, wie das Vorwort hervorhebt), nämlich Fausts Wort aus der Gartenszene „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch“ und Luthers „Verbum est principium primum“.78 Während Goethe hier für Schleiermachers Position stehen soll, welche die Religion als eigene „Provinz im Gemüte“ bzw. das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ bestimmt, und somit einen eigenen, ganz abgesonderten Bereich, das „ganz andere, irrationale Erleben“ Rudolf Ottos, beansprucht, ist das primum principium Luthers nicht das Menschenwort, sondern eben das geoffenbarte Gotteswort.79 Zur Mystik Schleiermachers schreibt Brunner dann also: […] d i e Mystik, um die es sich, wie bei allen Modernen, bei Schleiermacher handelt, ist Mystik in einem abgeschwächten Sinne, nämlich die einem Kultursystem ein- und untergeordnete mystische Religiosität. Sie ist aber nur vom mystischen Religionsbegriff aus zu verstehen, wie umgekehrt der Kulturidealismus, mit dem sie kombiniert ist, letztlich in mystischen Gedanken wurzelt. Für diese Mystik scheint mir allerdings das Goethewort des Mottos charakteristisch.80
Im Zentrum von Brunners Kritik steht also der Religionsbegriff Schleiermachers, gegen den er – ich deute das nur kurz an – substantielle Kritik an76 77 78 79
Brunner 1928. Weyh (2010). Brunner 1928, I. Dazu die Arbeit von Beutel (1991) über die Auslegung des Johannesprologes in Luthers Wartburg-Postille. 80 Brunner (1928), V.
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2.2 Theologische Positionen
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bringen kann. Schleiermachers Religion sei unselbständig der Philosophie gegenüber, da er die Vorentscheidung, daß das religiöse Gefühl (das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit) überhaupt ein Gutes sei, treffen müsse, bevor er Religion aus diesem Gefühl heraus entwickeln könne. Dieses Gefühl, das kein Tun sei, ermögliche dann auch keine verbindliche Ethik. Zudem sei Schleiermachers Stoßrichtung anti-intellektualistisch. Dieser Vorwurf führt zurück zur Mystik: Brunner formuliert eingangs und als Fazit die Alternativen „Entweder die Mystik oder das Wort“.81 Das Wort ist Brunner in der Stoßrichtung der dialektischen Theologie – oder hier treffender : der Wort-GottesTheologie – die Offenbarung, die als direkte Ansprache an den Menschen zu verstehen sei. Anders als die liberale Theologie und die religionsgeschichtliche Forschung um die Jahrhundertwende, der es auf den historischen Jesus ankam – man denke etwa an Albert Schweizers Forschung zur Urgemeinde im Gegenwart des eschaton oder Adolf Harnacks Abwicklung der Dogmatik als geschichtlich bedingt, eben unbiblisch – entwickelt Brunner eine Logostheologie. Sein Vorwurf an die Religionsgeschichte ist, daß sie die Unmittelbarkeit des Christus und des Gläubigen hinter die Mittelbarkeit der historischen Betrachtung zurückstelle. Hier ist es wieder das Wort, der Logos, das eine direkte Ansprache (gegen die Mittelbarkeit der Geschichtswissenschaft) sowohl des Verstandes (gegen die Idee einer Religion als Gefühl) als auch des Gefühls sei. Mystik wird dann für Brunner zum Kampfbegriff gegen die liberale Theologie und die religionsgeschichtliche Schule, so wie Mystik Adolf Harnack und Ritschl als Kampfbegriff gegen einen metaphysischen Katholizismus diente: Mystik sei „der große, echt religiöse Gegner des Glaubens“.82 Denn ihre Gottessehnsucht sei zwar positiv, die Behauptung des Gottesbesitzes hingegen negativ zu bewerten. Nun bekommt Brunners Mystikkonzept Kontur. Glaube sei – im Sinne wieder der dialektischen Theologie – WortGemeinschaft (wieder der Logos!), also Gottgemeinschaft, Mystik hingegen sei Gottwerdung, da der ontologische Dualismus Gott-Mensch aufgelöst werde. Die Seele befinde sich auf einem heimlichen Wege zum Göttlichen, die Bewegung ginge von der Seele aus; der Logos sei – fast programmatisch für die dialektische Theologie – „Wort-aus-mir“, ganz im Gegensatz zum biblischen „Wort-an-mich“ (man denke in diesem Zusammenhang an Karl Barths „Du bist gemeint!“ aus der „Kirchlichen Dogmatik“ II 2). Die Gegner werden Brunner nun zu Logos-Philosophen, die – konstruiert analog zu Platons Wiedererinnerung der Seele – das Göttliche kraft der Göttlichkeit ihrer Seele erkennten und eine Erlösung aus sich selbst heraus ermöglichten. Wir sehen, wohin der Weg führt: erst aus der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf könne, wenn jener sich diesem offenbare, Gemeinschaft entstehen. Das Wort vom Kreuz, so Brunner, sei vollkommene Selbstmitteilung Gottes an das Geschöpf, und aus dieser Offenbarung gehe dann erst die Mitteilung der Ver81 Brunner (1928), 8 und 399. 82 Brunner (1928), 394
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
borgenheit und Heiligkeit Gottes hervor. Das Wort vom Kreuz als höchste Offenbarung hat schon angedeutet, worin Brunners Kampfschrift gipfelt: Mystik sei am Ende Selbstrechtfertigung des Menschen aus seiner eigenen Göttlichkeit, eine Selbstrechtfertigung, die es als Illusion zu entzaubern gelte.83 Auch bei Brunner machen Individualismus und Gefühl Mystik aus, sie habe „das Gefühl für die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Gott und Mensch wach erhalten müssen“, und zwar immer dann, „wo der Glaube zur Formel, wo die Kirche zur Institution erstarrte“.84 Hier wird ein Verhältnis zur Kirche beschrieben, wie es auch in Friedrich Heilers Vortrag von 1919 (s. u., 2.3.4) zu finden ist. Gerichtet sei die Mystik auf das – Brunner sagt „vermeintliche“ – Erleben der Gotteinheit.85 Wie etwa Harnack und Ritschl, die gegen Mystik als katholische Metaphysik polemisierten, führt Brunner seinen Stoß auch gegen Platonismus und Pantheismus. Der Gegner im eigenen Lager jedoch ist die Phänomenologie, insbesondere Rudolf Otto, der aus dem religiösen Gefühl heraus Religion als a priori und sui generis erstehen läßt.
2.2.6 Paul Tillich (1886 – 1965) Es sei noch ein kurzer Blick auf eine spätere prominente Position der protestantischen Theologie gerichtet, die sich in enger Zusammenarbeit mit der Religionswissenschaft entwickelt: die Paul Tillichs. Dieser ist hier in die Reihe protestantisch-theologischer Positionen eingeordnet, eine Zuschreibung, die seiner vielschichtigen Rolle in Theologie, Religionsphilosophie, Soziologie oder Religionswissenschaft nicht gerecht werden würde, wenn es mir nicht in erster Linie um eine Darstellung des Mystikdiskurses im frühen 20. Jahrhundert ginge. Ziel ist es hier nur, prominente Positionen exemplarisch darzustellen, um Tendenzen sichtbar werden zu lassen. Bernard McGinn und Richard King erwähnen Tillich im Hinblick auf Mystik je kurz, allerdings läßt sich insbesondere einer Schrift Tillichs noch etwas weiteres abgewinnen.86 In der Anthologie „Auf der Grenze“ schreibt er im gleichnamigen Kapitel, welches zugleich (in englischer Sprache) als erster Teil seiner „Interpretation of History“87 dient: Die affektgeladene Ablehnung von Marxismus und Psychoanalyse, der ich sehr oft begegnet bin, ist der Versuch sozialer Gruppen und einzelner Persönlichkeiten, der Enthüllung zu entgehen, die unter Umständen Vernichtung für sie bedeutet. Aber ohne solche Enthüllung ist der letzte Sinn der christlichen Verkündigung nicht vernehmbar. Darum sollte gerade der Theologe diese Wege zur Sichtbarmachung 83 84 85 86 87
Brunner (1928), 399. Brunner (1928), 395. Ebd. McGinn (1994), 388 f; King (1999), 25. Tillich (1936), hier 1 – 73.
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2.2 Theologische Positionen
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menschlicher Existenz so ernsthaft wie möglich benutzen, anstatt einem harmonisierenden Idealismus das Wort zu reden.88
Offenbar bringt Tillich hier Marxismus in seiner Kollektivität und Sigmund Freuds Psychoanalyse in ihrer Individualität gerade in ihrem Potential für einen existentialtheologischen Ansatz gegen den Idealismus in Stellung, wenngleich auch mit der Einschränkung, sie dienten zur Sichtbarmachung der menschlichen Existenz – nicht hingegen zu ontologischen Aussagen.89 So deutet er an jenen sofort Kritik an und umreißt beider hermeneutische Funktion: Er [der Theologe] kann sie [Marxismus und Psychoanalyse] von der Grenze her benutzen; er kann – und das ist für mich selbst gesagt – die veraltete Begriffsbildung der Psychoanalyse kritisieren; er kann die utopischen und dogmatischen Elemente des Marxismus ablehnen; er kann die wissenschaftliche Unhaltbarkeit vieler Einzeltheorien in Psychoanalyse und Marxismus betonen. Er kann und muß sich gegen metaphysischen und ethischen Materialismus wehren, ganz gleich, ob er aus Freud und Marx herausgelesen werden kann oder nicht. Aber er darf sich nicht der enthüllenden ideologiezerstörenden Kraft berauben, die in beiden gegeben ist.90
Marxismus und Psychoanalyse erfüllen somit ihre Rolle als ancillae theologiae. Tillichs Methode, sie „von der Grenze her“ dienstbar zu machen, soll ihm die Möglichkeit eröffnen, Marxismus ohne metaphysischen, Psychoanalyse ohne ethischen Materialismus zu betreiben, d. h. ihren immanenten Atheismus als fundamentales theologisches Problem auszuklammern. Dem Idealismus will er auf diese Weise das Christentum als prophetische Religion entgegensetzen: […] im Marxismus ist nicht nur Enthüllung, sondern auch Forderung und Erwartung, und zwar in Ideen von gewaltiger geschichtlicher Stoßkraft. In ihm ist prophetisches Pathos, während der Idealismus, sofern er durch das Prinzip der Identität bestimmt ist, mystische und sakramentale Wurzeln hat.91
Und hier zeigt sich dann eine ablehnende Haltung gegenüber der Mystik – es klingen noch Harnacks Worte nach, der Mystik, wie oben gezeigt, in einem Atemzug mit Metaphysik oder Ritualismus nannte. Jahre später hingegen92 stellt Tillich ähnlich wie Harnack, jedoch mit gegensätzlicher Bewertung, fest, 88 Tillich (1962), 52. 89 Hierzu auch Tillich (1962), 51: „Er [der ökonomische Materialismus] bestreitet, daß es eine von der wirtschaftlichen Struktur unabhängige Geistes- und Religionsgeschichte gibt, und bestätigt damit die theologische, vom Idealismus vernachlässigte Einsicht, daß der Mensch auf der Erde lebt und nicht im Himmel, philosophisch gesprochen; [sic] in der Existenz und nicht im Wesen.“ 90 Tillich (1962), 52. 91 Tillich (1962), 52. 92 Während Tillich (1962) deutsch erschien, war die englische Übersetzung als Tillich (1936) verlegt worden; daher dürfte Tillich (1957) das jüngere Werk sein.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
daß Mystik (als „mystical faith“) nicht irrational sei, hingegen seien gerade große Mystiker auch hervorragende Philosophen gewesen. In seiner Bestimmung des Mystikers scheinen dann wiederum Erfahrungszentrismus und der Topos des Apophatischen durch: […] they [the mystics] realized that the true content of faith in an ultimate concern can neither be identified with a piece of reality, as sacramental faith desires, nor be expressed in terms of a rational system. It is a matter of ecstatic experience, and one can only speak of the ultimate in a language which at the same time denies the possibility of speaking about it.93
Und weiter : The mystic is aware of the infinite distance between the infinite and the finite, and accepts a life of preliminary stages of union with the infinite, interrupted only rarely, and perhaps never, in this life by the final ecstasy.94
Diese Suche nach Erfahrung des religiösen Menschen ordnet sich bei Tillich also dem existentialtheologischen Ansatz unter : der Mystiker habe immerhin erkannt, daß er in reinem Sakramentalismus – wohl auch Ritualismus – und Rationalität – hier kling wieder der Materialismus an – keine Antworten finde, die sein „ultimate concern“ befriedigen könnten. Leider können wir diesem Gedanken hier nicht weiter folgen. Für uns bleibt festzuhalten, daß auch bei Paul Tillich Mystik durch das Streben nach Erfahrung charakterisiert wird; im Hinblick auf den Idealismus ist seine Wertung negativ, im Hinblick auf die existentialistische Dimension hingegen positiv.
2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen 2.3.1 Friedrich Max Müller (1823 – 1900) Soweit zu übersehen ist, existiert kein systematisch-religionswissenschaftlicher Beitrag F. Max Müllers zur Mystik.95 So bleibt es denn allein übrig, seine Publikationen exemplarisch nach Erwähnung von Mystik durchzusehen und die Bedeutung je herauszuarbeiten. Etwaige Kritik an Müllers theoretischem Ansatz – weniger der historisch-philologischen Methode als des theoretischen Rahmens – kann in diesem Kontext hintan gestellt werden, geht es doch hier vornehmlich um die Illustration des Mystikverständnisses. 93 Tillich (1957), 61. 94 Tillich (1957), 62. 95 Zumindest spielt ,Mystik‘ als systematische Kategorie keine Rolle in Müller (1872), (1883), (1887), (1889), (1890), (1892). Auch die anthologische Edition Stone (2002) liefert keinen Anhaltspunkt, nicht einmal im Index wird ,Mystik‘ geführt; bei Voigt (1967) in der Anthologie seiner Essays zu Person und Werk Müllers ebensowenig.
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2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen
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In Müllers Essays („Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft“) finden sich verschiedene Stellen. Zunächst wird dabei eine Einordnung von Mystik auf seiten dessen deutlich, was man in christlichem Kontext gern als vita contemplativa gegen die vita activa abzugrenzen pflegt. Müller möchte eine „Richtung des indischen Geistes“ im Veda bestimmen und bemerkt: Die Richtung des indischen Geistes zur Grübelei ist schon im Veda sichtbar, doch ist seine Hinneigung zur Mystik noch nicht so voll entwickelt. Von Philosophie finden wir nur wenig und was wir finden, ist noch in seinem Keime verborgen. Die thätige Seite des Lebens tritt stärker hervor [….]. Gleichwohl verräth das Kind die Leidenschaften des Mannes und es giebt im Veda Hymnen, wenn auch nur wenige, welche eine solche Gedankenfülle und Tiefe der Spekulation erreichen, dass in dieser Urperiode kein Dichter eines anderen Volkes dieselben zu fassen vermocht hätte.96
Auf der einen Seite werden hier Grübelei, Mystik, Philosophie und Spekulation gegen die „thätige Seite des Lebens“ auf der anderen gestellt. In anderem Zusammenhang tritt eine negative Konnotation hervor: Wir dürfen ohne Bedenken das Huzvaresch der Avestaübersetzungen als die Hof- und Kirchensprache der Sassaniden betrachten. Werke, wie der Bundehesch und Minokhired, gehören nach Sprache und Gedankeninhalt derselben Periode mystischen Brütens an, als Indien und Egypten, Babylonien und Griechenland zusammen sassen und wie läppische Vetteln durcheinander schwatzten, ohne im Stande zu sein, sich einen einzigen Gedanken, ein einziges Gefühl mit jener Kraft ins Gedächtniss zurückzurufen, welche denselben einst Leben und Wahrheit verliehen hatte. Es war eine Periode religiösen und metaphysischen Irrsinns, wo Alles zu Allem wurde, wo man My und Sophia, Mitra und Christus, Viraf und Jesajas, Belus, Zarvan und Kronos in ein einziges System bodenloser Spekulation zusammenbraute, von welchem am Ende die positiven Lehren Muhameds den Osten, das einfache Christentum der Germanen den Westen befreite.97
Offenbar ist bei Müller diese „Periode mystischen Brütens“ zugleich die eines „religiösen und metaphysischen Irrsinns“. Diese Ablehnung einer „Metaphysik“ als „bodenlose Spekulation“ erinnert an Ritschls and Harnacks Kritik an Mystik, die Metaphysik sei. Während einer Diskussion um Datierungsfragen der vedischen Literatur bemerkt Müller weiter : Aber folgt denn daraus, dass, weil das Ceremoniell eine sich auf den Sonnenlauf beziehende Beobachtung um das zwölfte Jahrhundert voraussetzt, deshalb die theologischen Werke, in welchen jenes Ceremoniell erklärt, commentirt und mit allerhand mystischer Bedeutung ausstaffirt wird, zu jener frühen Zeit schon abgefasst worden war?98 96 Müller (1869), 73. 97 Müller (1869), 85. 98 Müller (1869), 104.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
Schenkt man hier der vom Autor eigentlich behandelten Frage weniger Aufmerksamkeit als der Wendung „mystisch ausstaffieren“, so ergibt sich ein Kontrast zwischen Erklärung und Kommentar auf der einen, mystischer Bedeutung auf der anderen Seite. So dürfte es dann nicht vollkommen mißverstanden sein, eine „mystische“ Bedeutung der rationalen Erklärung entgegengesetzt zu sehen; sie ist für Müller allenfalls von sekundärer Bedeutung. An anderer Stelle wird deutlich, daß Müllers Sprachgebrauch von der Objektebene beeinflußt ist. Aus seinem Vergleich zwischen Buddha und Kapila kann man ersehen, daß Müller Kapilas Position, die ihm in kommentierter Form vorlag, im Hinblick auf den Erkenntniswert ekstatischer Visionen dahingehend interpretiert, daß diese keine sinnlichen Wahrnehmungen seien bzw. „sämtliche Eigenschaften, welche die Mystiker ihrem Herrn zuschreiben, unpassend seien.“99 Mystik kennzeichnet dann hier eine besondere Form der Gotteserkenntnis, die der sinnlichen Wahrnehmung entgegengesetzt und durch Ekstase und Visionen gekennzeichnet ist. Während Müller weiter vorschlägt, den buddhistischen achtfachen Pfad als Ethiklehrbuch zu verstehen, ist seine Einschätzung des Heilszieles negativ : Alle diese Vorschriften könnte man als einen Theil eines einfach moralischen Lehrbuchs verstehen, das mit einer Art mystischen Sinnens über das höchste Object des Denkens und mit einer Sehnsucht nach Befreiung von allen weltlichen Banden beschliesst. Aehnliche Systeme haben in vielen Welttheilen den Vorrang gewonnen, ohne dass sie die Existenz eines absoluten Wesens leugnen, oder eines Etwas, dem der Menschengeist zustrebt, in dem er aufgeht oder selbst zum Nichts wird. Wie entsetzlich ein solcher Mysticismus auch erscheinen mag, er lässt immer ein Seiendes übrig, er erkennt ein Gefühl der Abhängigkeit im Menschen an. […] Aus dieser Wüste ist eine Rückkehr möglich. […] Vom Nirvna des buddhistischen Metaphysikers aber giebt es keine Rückkehr.100
Das „mystische Sinnen“ und den „Mysticismus“, die Müller hier bescheinigt, werden zugleich einem „buddhistischen Metaphysiker“ zugeschrieben. Zwei Beobachtungen sind nun offenbar : Mystik und Metaphysik werden miteinander identifiziert, die Existenz eines Abhängigkeitsgefühls würde – so denn vorhanden – positiv bewertet. Hinsichtlich dieser Einschätzung mag eine direkte Anlehnung an Schleiermachers Konstrukt eines „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ vermutet werden, hinsichtlich jener eine Nähe zur protestantischen liberalen Theologie, derer prominente Vertreter oben behandelt wurden. Mystik sei nun, so Müller, auch nicht für die Masse, sondern einem kleinen Kreise vorbehalten geblieben:
99 Müller (1869), 199 f. 100 Müller (1869), 218. Dieselben Gedanken dann noch einmal 242 – 252, bes. 244 – 246.
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2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen
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Die Metaphysik des Buddhismus lag, wie die Metaphysik der meisten Religionen, unseren eignen [d.h. christlichen] Gnosticismus und Mysticismus nicht ausgeschlossen, ausserhalb des Bereiches Aller, mit Ausnahme einiger weniger abgehärteter Philosophen oder verzückter Schwärmer.101
Wiederum wird die Mystik, zudem jetzt auch die Gnosis, als Metaphysik verstanden. Doch wird der Mystiker auch hinsichtlich seiner sozialen Rolle charakterisiert: er sei einer der Wenigen, ein Schwärmer. Zu überlegen wäre, inwieweit Müller bewußt eine Unterscheidung zwischen Mystik und Mystizismus bzw. Gnosis und Gnostizismus trifft; leider läßt sich kein Anhaltpunkt für eine bewußte Differenzierung finden. Es darf vermutet werden, daß Müller die Teile beider Begriffspaare synonym verwendet.102 Zum Schluß bleibt noch einmal zu bedenken, ob Müllers Ablehnung dessen, was er als Metaphysik bezeichnen mochte, sich in der Tat so stark darstellt wie zunächst angenommen. Müller bemerkt zu den Lehren des Konfuzius: Bei Gegenständen, welche die Gränzen der menschlichen Fassungskraft überschreiten, ist Confucius weniger mittheilend; indessen ist gerade seine Schweigsamkeit bemerkenswerth, wenn wir an die Sorglosigkeit denken, mit der sich orientalische Philosophen so gern in die tiefen Wasser der religiösen Metaphysik stürzen.103
Hier spricht zwar der Post-Kantianer, allein ist die Metapher „tiefe Wasser der religiösen Metaphysik“ interessant. Weiter ist die Metaphysik qualifiziert, es ist eine „religiöse Metaphysik“, die sich logisch dann von anderen Arten, zumindest von einer nicht-religiösen Metaphysik, abgrenzen lassen müßte. Liest man diese Stelle zusammen mit der Aussage, daß eine Metaphysik, die ein transzendentes Bezugsobjekt – möglicherweise allein „das Seiende“ – habe (s. o.), immer noch besser sei als die, der ein solches Bezugsobjekt fehle, dann dürfte man vielleicht vermuten, daß Müllers Ablehnung der Metaphysik nicht so stark sei, wie die Ablehnung seitens der rationalen liberalen Theologie. Festzuhalten bleibt, daß – wie eingangs besprochen – Mystik weder als systematische Kategorie noch als Gegenstand der Forschung für F. Max Müller von Bedeutung ist. Dies ist umso verwunderlicher, als er doch gerade in seinem Verständnis von Religion die Erfahrung – hier : die Wahrnehmung – des religiösen Individuums eine zentrale Rolle spielt: „Religion consists in the perception of the infinite under such manifestations as are able to influence 101 Müller (1869), 221. 102 Hinsichtlich Gnosis und Gnostizismus wurde im 20. Jahrhundert – und es wird wohl noch heute – um eine Differenzierung gestritten; s. Bianchi (1970), Böhlig/Markschies (1994), Tröger (2001), Markschies (2001). Hinsichtlich Mystik und Mystizismus will etwa Schmid (2000), 26; 35 – 41, jene als ,wahr‘ von diesem abgrenzen; später spricht er von einem Verhältnis wie von Mensch und bloßem Spiegelbild. 103 Müller (1869), 271.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
the moral character of man.“104 In der bekannteren deutschen Fassung ist ihm Religion: […] jene allgemein geistige Anlage, welche den Menschen in den Stand setzt, das Unendliche unter den verschiedensten Namen und den wechselndsten Formen zu erfassen, eine Anlage, die nicht nur unabhängig von Sinn und Verstand ist, sondern, ihrer Natur nach, im schroffsten Gegensatz zu Sinn und Verstand steht.105
Diese „geistige Anlage“ erinnert an Schleiermachers „Provinz im Gemüte“.106 Dabei gilt Müllers Interesse doch nicht etwa psychologischen Bewußtseinszuständen, wie etwa bei William James, der uns weiter unten beschäftigen wird. Wenn er von „perception of the infinite“ spricht, dann ist damit zunächst nur die erkenntnistheoretische Funktion der Wahrnehmung angesprochen: es geht darum, wie Wahrnehmung in (begriffliche) Konzepte überführt wird, die in summa Religion konstituieren.107 Und so dürfte man wohl fragen, ob der Schlüssel zum Verständnis dieses Versuches einer Religionsdefinition und der sprachwissenschaftlichen Grundlegung einer Religionswissenschaft zuallererst in Müllers Beschäftigung mit epistemologischen Fragestellungen gesucht werden muß, derer er sich durch Einleitung und Übersetzung von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ verpflichtet zeigt.108 2.3.2 William James (1842 – 1910) Mit William James sei ein Seitenblick auf die Religionspsychologie gestattet, auf eine Gestalt, welche die religionswissenschaftliche Theoriebildung beeinflußt hat. Gerade sein Werk „The Varieties of Religious Experience“ scheint aus drei Gründen besonders geeignet: (1) es geht aus einer neuen und originär nordamerikanischen philosophischen Tradition hervor, (2) eignet sich zur Illustration eines einflußreichen psychologischen Ansatzes der Religionsforschung und ist (3) darüber hinaus auf Grund seiner systematisch-methodologischen Vorentscheidung hinsichtlich des Umganges mit dem Begriff ,Religion‘ erwähnenswert.109 Besonderes Augenmerk liegt, wie bereits der Titel andeutet, auf der religiösen Erfahrung des Individuums; John E. Smith hat das 104 Müller (1889), 188. So auch in Müller (1890), 294 – 296, mit der Begründung seiner Restriktion auf moralische Aspekte gegenüber seinen früheren Definitionsversuchen. 105 Müller (1874), 15. 106 Schleiermacher (1799), 37. 107 Müller (1890), 296ff: „Nihil est in fide quod non ante fuerit in sensu“. Müller knüpft explizit an Lockes „Nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu“ an. 108 Dazu Müller (1881). 109 Anders als Harmless (2008), 242; 245 f, tendiert der Verfasser hier nicht dazu, William James ausschließlich die Verantwortung für den Erfahrungszentrismus zuzuschreiben, sondern sieht diese Tendenz – zumindest für die Religionswissenschaft – in der protestantischen Theologie seit Schleiermacher begründet; James wäre dann ein – wenn auch wichtiges – Glied in einer Kette.
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noch einmal hervorgehoben.110 Als Individuen, deren religiöse Erfahrung er erforschen will, wählt James religiöse „geniuses“ aus, auf deren Erfahrungen er anhand ihrer Berichte, z. B. autobiographischer Aufzeichnungen, oder durch Berichte über sie, etwa von Zeitgenossen, zugreifen will.111 Zunächst jedoch sei ein Blick auf James’ Begriff von Religion geworfen. James will Religion als einen Sammelbegriff verstehen, keinesfalls essentialistisch definieren: Most books on the philosophy of religion try to begin with a precise definition of what its essence consists of. Some of these would-be definitions may possibly come before us in later portions of this course, and I shall not be pedantic enough to enumerate any of them to you now. Meanwhile the very fact that they are so many and so different from one another is enough to prove that the word ‘religion’ cannot stand for any single principle or essence, but is rather a collective name.112
Dagegen lehnt er gerade dieses Axiom – es existiere ein Wesen von Religion, also gelte es, dieses zu finden – ab: Let us not fall immediately into a one-sided view of our subject, but let us rather admit freely at the outset that we may very likely find no one essence, but many characters which may alternately be equally important in religion.113
An diese Überlegung schließt James eine Exemplifikation anhand des Wortes „government“, hier mit Regierung übersetzt, an, um zu zeigen, daß damit je nach Anlaß und Kontext unterschiedliche Dinge assoziiert würden, die allerdings alle konstitutiv für eine Regierung seien: z. B. Polizei, Autorität, Armee oder Gesetze. In gleicher Weise geht James vor, wenn er auf das religiöse Empfinden zu sprechen kommt: das „religiöse Empfinden“ stellt für ihn ebenfalls lediglich eine Sammelkategorie dar, in welche verschiedene Gefühle eingeordnet werden, die er religiös nennt; diese Sammelkategorie weist auf nichts über sich selbst hinaus. Als pragmatischer Philosoph denkt James bei der Beschreibung des religiösen Empfindens vom Individuum her.114 Es gebe 110 Smith (1983), hier 247. 111 Dies illustriert in seinem einführenden Kapitel eine erste Auseinandersetzung mit der Person des George Fox. James (1901/02), 15 f. 112 James (1901/02), 30. 113 Ebd. 114 Bei der Entwicklung seiner psychologischen sowie philosophischen Position setzt James sich etwa mit Wilhelm Wundt und dessen experimenteller und Völkerpsychologie auseinander. Während er zunächst begeistert sogar versucht, Wundt in Heidelberg zu besuchen, nimmt er später eine kritischere Haltung zu Wundt ein, den er nur noch als Kommentar zur idealistischen Philosophie sehen will – als James später in Leipzig Wundt hört, ist er nicht begeistert, so Richardson (2006), 93; 176 f; 226. Wie Wundt in Deutschland gründete James in Harvard ein psychologisches Laboratorium und setzte sich in Berufungsangelegenheiten für Wundt in die USA ein, weil er gerade die Verbindung von experimenteller Psychologie und Philosophie für notwendig hielt; so Richardson (2006), 323; 167 f Zu dieser Verbindung von experimenteller Psychologie und Philosophie bei James s. Seibert (2009), 24.
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das menschliche Gefühl, welches dadurch zum spezifisch religiösen Gefühl werde, daß es auf eine spezifische Art von Objekten gerichtet sei. Liebe, ein bekanntes menschliches Gefühl, werde genau dann zur religiösen Liebe, wenn sie sich auf ein religiöses Objekt beziehe. So gebe es dann auch nicht „das“ religiöse Gefühl, sondern nur einen Fundus von Gefühlen, die sich auf religiöse Objekte bezögen.115 Die Definition von Religion, die James für seine Untersuchung generiert, trägt diesen Überlegungen Rechnung: Religion, therefore, as I now ask you arbitrarily to take it, shall mean for us the feelings, acts, and experiences of individual men in their solitude, so far as they apprehend themselves to stand in relation to whatever they may consider the divine.116
Ein berechtigter Einwand an dieser Stelle könnte sein, daß James in seiner Definition die Bereiche der religiösen Lehren oder Doktrinen, der theoretischen Lehrgebäude, genauso ausklammert wie soziologische Überlegungen. Allerdings ist er sich der Möglichkeit dieser Kritik durchaus bewußt und bemerkt bereits im nächsten Satz prophylaktisch: Since the relation [to whatever individual men may consider the divine] may be either moral, physical, or ritual, it is evident that out of religion in the sense in which we take it, theologies, philosophies, and ecclesiastical organizations may secondarily grow. In these lectures, however, as I have already said, the immediate personal experiences will amply fill our time, and we shall hardly consider theology or ecclesiasticism at all.117
James nimmt sehr wohl zur Kenntnis, daß es neben der individuellen Erfahrung noch weitere Aspekte gibt, die auf der allgemeinen Sprachebene gemeinhin unter Religion subsumiert werden. Dennoch betont er wiederum sein Anliegen, zunächst beim Individuum zu beginnen und dessen religiöse Erfahrung zu beschreiben. Eine weitere Anfrage an James’ Religionsdefinition soll nicht unerwähnt bleiben, nämlich, was er unter „the divine“ verstehe. Anlaß bietet ihm der Buddhismus, bei dem ein Gott oder mehrere Götter nicht im Zentrum des religiösen Lebens stehen, der aber dennoch gemeinhin als Religion bzw. religiös bezeichnet wird. Aus diesem Grunde unternimmt James ein theoretisches Experiment, in welchem er den Begriff „the divine“ auf alles ausdehnt, was vom Menschen (1) als höchste Wahrheit empfunden werde und (2) eine Reaktion darauf hervorrufe, also handlungsrelevant werde.118 Dies erscheint James allerdings in der Konsequenz doch ein zu weiter Begriff zu sein, den er, obwohl nach eigener Auffassung empirisch und logisch vertretbar, wieder 115 116 117 118
James (1901/02), 31. James (1901/02), 34. Ebd. James (1901/02), 34 – 38.
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einzuengen versucht, da er sich vom Sprachgebrauch der Objektebene leiten läßt und feststellt, daß der alltägliche Sprachgebrauch („ordinary use of language“) und das Verständnis des gewöhnlichen Menschen („common men“) dagegen stünden. Ausgehend von diesem Alltagsgebrauch des Wortes Religion ergänzt James die Reaktion um drei wichtige Prädikate: feierlich („solemn“), ernsthaft („serious“) und zart/zärtlich („tender“), so daß seine Definition letztlich lautet: „The divine shall mean for us only such a primal reality as the individual feels impelled to respond to solemnly and gravely, and neither by a curse nor a jest.“119 Die Entscheidung für eine Definition, die auf der Alltagssprache beruht, hat für James pragmatische Gründe. Er stellt zunächst fest, es gäbe im religiösen Erfahrungsbereich keine klar abgrenzbaren Begriffe. Daraus zieht er die Konsequenz, trotz einer etwaigen Unschärfe einer Definition den Kernbereich des Begriffes, in diesem Fall „the divine”, so zu wählen, daß anhand der von ihm festgelegten Kriterien ein Bewußtseinszustand genau dann religiös genannt werden und analysiert werden könne, wenn niemand auf der Ebene der Alltagssprache der Idee verfallen könnte, nicht von einem religiösen Bewußtseinszustand zu sprechen.120 Dies gibt James die Möglichkeit, der Unmöglichkeit einer Definition zum Trotz auf der Basis eines alltagssprachlichen allgemeinen Begriffskonsensus seine Untersuchungen durchzuführen. Für James ist es unerheblich, ob es ein „the divine“ gibt oder nicht, relevant seien die Erfahrung und das Erleben des Menschen und die Manifestation der Erfahrung in der wahrnehmbaren Welt. In der Frage, ob Gott real ist und wie sich diese Realität begründen läßt, schwankt James zwischen einer empirizistisch-perzeptiven und einer pragmatisch-konsequentionalistischen Begründungsrichtung, so Matthias Jung; im ersten Fall wäre Gott real, wenn er als real erfahren würde, im zweiten Fall, wenn der Glaube an Gott Konsequenzen auf der Handlungsebene hätte.121 Wird dieser pragmatistische Umgang mit der Frage nach der Realität Gottes nicht akzeptiert und wird nicht hinreichend berücksichtigt, daß James bewußt zwischen Metakategorien und Begriffsverwendung auf der Objektebene unterscheidet, muß eine Suche nach „dem religiösen Objekt“ bei ihm unbefriedigend enden.122 Zwei Dinge werden an dieser Stelle deutlich. Zum einen wird in philosophischer Hinsicht erkennbar, wie sehr sich James dem Idealismus entgegenstellt. Zum anderen wird im Hinblick auf die christliche Theologie sichtbar, wie Rainer Diaz-Bone und Klaus Schubert zeigen, daß James’ Gottesbegriff sich vom christlichen Gottesbegriff soweit entfernt, daß er Gott nicht als das „Universelle, Absolute und Vollkommene“, also als präexistenten und allmächtigen Allerlöser anerkennt, sondern nur als wahr insofern er (1)
119 120 121 122
James (1901/02), 39. James (1901/02), 39 f. Jung (1999), 151 – 183. Eine solche Suche unternimmt Luh-Hardegg (2002), bes. 141 ff.
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real erfahren wird oder (2) Konsequenzen für die Handlungen des Individuums hat.123 Seine Deskription der individuellen religiösen Erfahrung führt James schließlich auch zu dem Bereich ,Mystik‘. Aufgrund des Umfanges und der Stellung des Mystikkapitels in seiner Arbeit kann vermutet werden, daß es die Kulmination und das Ziel der gesamten Untersuchung ist, so Richard Niebuhr.124 Diese These wird zudem durch die Aussage James’ gestützt, daß individuelle religiöse Erfahrung zugleich ihre Wurzel und ihr Zentrum in mystischen Bewußtseinszuständen habe: „One may say truly, I think, that personal religious experience has its root and centre in mystical states of consciousness; […]“125 James geht in seinem Kapitel zur Mystik mit dem Mystikbegriff ähnlich um wie mit dem gerade untersuchten Religionsbegriff.126 Er versteht Mystik als eine Sammelkategorie, in welche mystische Bewußtseinszustände eingeordnet werden. Die Bewußtseinszustände, die er mystisch nennen will, sind durch vier Merkmale gekennzeichnet: Unaussprechbarkeit („ineffability“), noetische Qualität („noetic quality“), Flüchtigkeit („transiency“) und Passivität („passivity“).127 Liegen Unaussprechbarkeit und noetische Qualität als Merkmale eines Bewußtseinszustandes vor, so spricht James bereits von Mystik.128 In den meisten Fällen jedoch kämen noch die beiden übrigen Merkmale hinzu. Alle vier Merkmale sollen nun kurz vorgestellt werden. Die Unaussprechlichkeit ließe sich, so James, auf Grund der Feststellung des Erlebenden ermitteln, der erkläre, er könne das Erfahrene nicht verbal ausdrücken. Die noetische Qualität bezeichne einen bestimmten Zustand der Erkenntnis („state of knowledge“), in welchem der Erlebende den Eindruck habe, eine tiefere Einsicht in die Wahrheit zu erlangen, welche nicht durch den Gebrauch des diskursiven Verstandes erlangt werden könne. Flüchtigkeit soll heißen, daß der Bewußtseinszustand nicht temporal weit ausgedehnt werden könne; James spricht von einer maximalen Obergrenze von ein bis zwei Stunden. Passivität schließlich meine, daß der Erlebende zwar seinerseits durch verschiedene Handlungsweisen, wie z. B. das Bündeln der Aufmerksamkeit oder körperliche Übungen, zum Erreichen des mystischen Bewußtseinszustandes beitragen könne, allerdings im Moment des Erlebens selbst das Gefühl habe, daß eine höhere Macht ihn ergreife: „[…] yet when the characteristic sort of consciousness once has set in, the mystic feels as if his own will were in abeyance, and indeed sometimes as if he were grasped and held by a superior power.“129 123 124 125 126 127 128
Diaz-Bone/Schubert (1996), 119 f. Niebuhr (1997), hier 230. James (1901/02), 301. James (1901/02), 301 – 339. James (1901/02), 302 f. An anderer Stelle nennt James die Nichtmitteilbarkeit den Schlüsselbegriff aller Mystik: „This incommunicableness […] is the keynote of all mysticism.“ James (1901/02), 321. 129 James (1901/02), 303.
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Die Bewußtseinszustände, welche sich anhand der genannten Merkmale in eine Gruppe der mystischen Zustände („mystical group“) einordnen ließen, seien jedoch nach James noch keinesfalls religiös zu nennen („claim no special religious significance“).130 Dies ist in der Tat bemerkenswert; denn Mystik ist für James damit auch außerhalb der spezifisch religiösen Erfahrung denkbar, wenn die mystischen Bewußtseinszustände nur die erforderlichen Merkmale aufweisen. James entwirft in seinen weiteren Ausführungen eine Stufenleiter, auf der er mystische Bewußtseinszustände ansteigend nach ihrem religiösen Anspruch einordnet.131 Diejenige Stufe der Leiter, mit der James seine Beschreibung beginnt, sei eine plötzliche Einsicht oder das plötzliche tiefe Verstehen einer Formel, eine weitere Stufe nach oben seien D¦j-vu-Erlebnisse.132 James selbst verwendet den Begriff ,D¦j-vu‘ nicht. Peter Widmer zeigt aber, daß es sich bei den von James auf dieser Stufe seiner Mystikleiter beschriebenen Phänomenen um die Erlebnisse handelt, „hier schon einmal gewesen zu sein“ oder „irgendwann in der Vergangenheit genau an diesem Ort zu genau diesen Leuten schon einmal genau diese Dinge gesagt [zu] haben“; am Ende des 19. Jahrhunderts sei die Bezeichnung ,D¦j-vu‘, die genau diese Erlebnisse umfasse, erstmals von Boirac verwendet worden. Widmer kritisiert in diesem Zusammenhang, daß James fälschlicherweise Erlebnisse, die eigentlich in die darunter liegende Kategorie gehörten, in die Kategorie ,D¦j-vu‘ einordne;133 dies ist jedoch für uns unerheblich. Würde man James’ mystischer Stufenleiter hingegen abwärts folgen, so würden Zustände des Wahnsinns („insanity“) auf den unteren Stufen folgen, die er nur am Rande untersucht.134 Die nächsthöhere Stufe freilich verwundert zunächst, denn James rechnet auch Alkoholzustände sowie andere Intoxikationen durch Gifte oder spezielle Anästhetika zu Zuständen des mystischen Bewußtseins: „The drunken consciousness is one bit of the mystic consciousness, and our total opinion of it must find its place in our opinion of that larger whole.“135 Allerdings ist diese Annahme nur konsequent, denn, wie James darlegt, erfüllen die Erfahrungen während Alkoholzuständen oftmals durchaus die notwendigen Kriterien, um unter seine Rubrik der mystischen Bewußtseinszustände subsumiert zu werden. Die Form des mystischen Bewußtseins, die er als die spezifisch religiöse klassifiziert, ist die von ihm auch kosmisches Bewußtsein genannte. Indem er 130 Ebd. 131 James benutzt die Wendungen „a step forward on the mystical ladder“, „to follow it along the downward ladder“ oder „to pursue the upward ladder“. James (1901/02), 304 f. Der Übersetzungsvorschlag „Stufenleiter“ scheint trefflich zum Ausdruck zu bringen, was James ausdrücken will: ein schrittweises Ansteigen, siehe die Übersetzung von Herms/Stahlhut in James (1997), 387. 132 James (1901/02), 303 f. 133 Widmer (2004), 73. 134 James (1901/02), 305. 135 James (1901/02), 307.
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den kanadischen Psychiater Bucke zitiert und sich seine Ansicht zu eigen macht, nennt James die wichtigsten Charakteristika dieses kosmischen Bewußtseins. Dazu zähle zunächst das Bewußtsein des Kosmos, des Lebens und der Ordnung des Universums. Ferner würden eine intellektuelle Erleuchtung und das Gefühl der Unsterblichkeit beschrieben. Das wichtigste Charakteristikum jedoch nennt er mit Bucke einen besonderen moralischen Erhebungszustand („moral exaltation“), der sich durch ein generelles Erhebungsgefühl („elevation“), Überschwang („elation“) und Freude („joyousness“) auszeichne.136 Einige dieser Zustände illustriert James anhand von Berichten, kommt aber abschließend zu dem Ergebnis, daß es viele verschiedene Arten dieser Erfahrungen gebe, bedingt durch die einmalige Besonderheit jedes Individuums: „So many men, so many minds: I imagine that these experiences can be infinitely varied as are the idiosyncrasies of individuals.“137 Einige der Zustände zeichneten sich nach James durch ihre besondere Köstlichkeit („deliciousness”) aus, die sogar in organischen Empfindungen vom Individuum erfahren würden. Diese Zustände nennt James höchste Zustände der Ekstase („highest states of ecstasy“).138 Für das weitere Leben der Menschen, die Erfahrungen des mystischen Bewußtseins machen, könne sich das Gefühl einstellen, nicht „von dieser Welt“ zu sein, welches, so James, durch die ekstatischen Zustände noch verstärkt würde. Für das Leben der Mystiker könne dies zwei Konsequenzen haben: The ‘otherworldliness’ encouraged by the mystical consciousness makes this overabstraction from practical life peculiarly liable to befall mystics in whom the character is naturally passive and the intellect feeble; but in natively strong minds and characters we find quite opposite results. The great Spanish mystics [James bezieht sich wahrscheinlich auf die bei ihm häufig zitierten Personen der Theresa von Avila, des Ignatius von Loyola und des Johannes vom Kreuz], who carried the habit of ecstasy as far as it has often been carried, appear for the most part to have shown indomitable spirit and energy, and all the more so for the trances in which they indulged.139
Die Mystiker, die einen schwachen Intellekt und einen passiven Charakter aufwiesen, zögen sich aus der Welt zurück; diejenigen aber, die einen starken Intellekt und einen energiegeladenen Charakter besäßen, tendierten zum Gegenteil: dem Engagement in der Welt. Nach James sind also Aktivität in der Welt oder Passivität durch Weltflucht nicht als Charakteristika von Mystikern anzusehen, sondern lediglich für eine durch den Charakter des Mystikers bedingte Folge der mystischen Erfahrungen. Soweit die für die Religionswissenschaft relevanten Ausführungen James. Eine Beschäftigung mit seinen 136 137 138 139
James (1901/02), 316. James (1901/02), 324. James (1901/02), 327. James (1901/02), 328.
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weitergehenden philosophischen und theologischen Erwägungen in späteren Werken, z. B. angeregt von Gustav Theodor Fechner, führten hier zu weit.140 James’ Position, Religion sei eine bloße Sammelkategorie, blieb keineswegs singulär. So versucht Benson Saler, den Begriff Religion angesichts der Kritik an einer essentialistischen Definition aufrechtzuerhalten und durch die Schaffung der Sammelkategorie Religion, einer multifaktoralen Charakterisierung, im Hinblick auf einen religionswissenschaftlichen Vergleich in transkultureller Forschung zu erhalten. Dabei lehnt er sich an Wittgensteins Theorie der ,Familienähnlichkeiten‘ an, die wiederum deutlich an James’ Spiel mit dem Wort ,government’ erinnern.141 Michael Bergunder hat angemerkt, daß Saler sich zwar auf Wittgenstein beziehe, aber seine Nähe zu taxonomischen Modellen der Biologie nicht hinreichend berücksichtigt werde; dabei bestreitet Bergunder nicht die generelle Anwendbarkeit solcher Taxonomien, sondern bemängelt, daß die empirische Plausibilität der Merkmale für eine solche Kategorisierung fehle – diese Kritik zielt in erster Linie auf Salers Musterbeispiele.142 Die Kritik ist nicht ganz unberechtigt, weil bei Saler die Materialbasis hinter die Diskussion der Metasprache zurücktritt.143 Hinsichtlich Bergunders Kritik an der „Stufenkategorie“ („graded category“) Religion – sie erlaube in der Konsequenz keine Abgrenzung zu Nicht-Religion – allerdings glaube ich, daß diese so nicht zutreffend ist.144 Es geht Saler lediglich um relative Größen bzw. Ähnlichkeiten und eben nicht um die Zuordnung zu fixen Stufen bzw. Kategorien; Salers Beispiele „tall person“ und „rich person“ sind ja selbst keine Kategorien, sondern lediglich Unterkategorien von „person“ oder – wenn man im streng aristotelischen Sinne will – Beschreibungen der Akzidenzien von Personen.145 Das deutet aber wieder auf den Ausgangspunkt zurück: Saler will ja gar nichts über das Sein (die Essenz) von Religion aussagen, deshalb muß die Frage, was denn Nicht-Religion sei (d. h. nach dem Abgrenzungskriterium) ins Leere führen. Anders: die Frage nach Nicht-Religion ist letztlich essentialistisch. So will ich ausgehend vom Material und mit Hilfe des literaturwissenschaftlichen Kanonbegriffes über den Begriff Religion hinausgehend Mystik als eine solche offene Kategorie verwenden (siehe dazu auch S. 26 f, 78 – 83, 102). Die Kritik Sloterdijks nun, eine Jamessche Vielfalt sei „[…] kein seriöser 140 141 142 143 144 145
Siehe dazu Seibert (2009), 297 – 311; Richardson (2006), 497 – 506. Saler (1994). Bergunder (2011), bes. 7 – 9. Jedenfalls in Saler (1993) und somit auch in (2000). So liest Bergunder (2011), 8, die Ausführungen von Saler (2000), xiiif. Saler (2000), xiiif, stellt das in seinem Vorwort zur Tachenbuchausgabe von Saler (1993) deutlich heraus: „I advocate that ,religion‘ be conceptualized as a ,graded‘ category, on the model of ,tall person‘ or ,rich person‘. Some tall persons are taller than others and some rich persons are richer than others. And while various individuals or public agencies may suggest guidelines, there are, insofar as I know, no sure, sharp, and universally accepted criteria for making off the tall from the not tall, or the rich from the not rich.“ Die Taxonomie dient also bloß dazu, den Grad der Familienähnlichkeit zu bestimmen.
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Konvent der Erscheinungen unter dem Vorsitz des Begriffs, sondern ein Auflauf der Dinge, der mehr mit Vari¦t¦ als mit systematischer Gliederung zu tun hat“146, ist aus Sicht der modernen Religionswissenschaft unzutreffend; die Offenheit ist weniger ein Nachteil, als vielmehr ein Vorteil der Jamesschen Philosophie, der sich in seiner Methode niederschlägt. Sloterdijk spricht von einer „Tapferkeit vor dem Ungewöhnlichen“, mit der James im Angesichte seiner kopfschüttelnden Kollegen sich dem „Paranormalen“, wie etwa Telepathie oder Hellsichtigkeit, nicht verschlossen, sondern es in Betracht gezogen habe.147 Diese „Tapferkeit“ kann der Religionswissenschaft nicht schaden, läßt doch die methodische Offenheit des Begriffes im Gegensatz zu einer ontologischen Fessel ein heuristisches Potential sich erst entfalten, im Sinne des von Rudolph, Seiwert oder Hanegraaff geforderten dialektischen Vorgehens, wie eingangs dargestellt. Es bleibt noch das Problem einer sehr selektiven Auswahl der zu untersuchenden Personen, also des Materials. Dies ist Ausgangspunkt einer Kritik am fehlenden Empiriebezug. James’ Thesen lassen sich nicht zu einer generellen Theorie religiöser Erfahrung machen, sie lassen sich nur auf eine bestimmte Menge von Probanden anwenden, die James selbst ausgewählt hat. Was James erforscht, ist zudem tatsächlich gar nicht die religiöse Erfahrung selbst, sondern sind vielmehr Ausdrücke von religiöser Erfahrung, die bereits eine Reflexion und Interpretation vorhergegangener Erfahrung darstellen.148 Dieses Problem ist bereits vielfach und erschöpfend behandelt worden, wie John E. Smith darstellt.149 Dennoch weist James’ Vorgehensweise auf etwas hin, das noch einmal nachdrückliche Erwähnung finden soll: bei der Beschäftigung mit Mystik und mit Mystikern haben wir immer nur den Ausdruck einer Erfahrung zur Verfügung, die Erfahrung selbst bleibt verborgen. Es gibt jedoch neurobiologische Ansätze, einen Beweis transzendenter Erfahrungen anzutreten und den dabei stattfindenden neurologischen Prozeß zu beschreiben.150 Dazu ist zu bemerken, daß hinsichtlich der Methodik sowie der Ergebnisse der neurobiologischen Hirnforschung Skepsis angebracht zu sein scheint.151 Hingewiesen sei der Vollständigkeit halber auch darauf, daß es seitens der philosophischen Phänomenologie eine intensive kritische Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus gab. Auf Grund der rein philosophischen Art dieser Kontroverse und ihrer tiefen Einbindung in gnoseologi-
146 147 148 149 150
Sloterdijk (1997), 25. Ebd. James (1901/02), 248. Smith (1983). Newberg/d’Aquili (1999), Newberg (2001), Newberg/d’Aquili/Rause (2001), Newberg (2003), Kraft (2003) oder zuletzt Newberg/Waldman (2006) u. (2009). 151 Übersicht kritischer Literatur bei Newberg (2001); dazu aus dem Feuilleton, aber auch für Nicht-Neurologen verständlich, Wenzel (2004).
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sche Diskurse scheint jedoch eine Auseinandersetzung an dieser Stelle nicht weiterführend.152 2.3.3 Rudolf Otto (1869 – 1937) Um Rudolf Ottos Verständnis von Mystik zu umreißen, ist zunächst ein Blick auf sein Werk „West-östliche Mystik“ naheliegend; entscheidend ist dort, daß die Gottesidee allein der Unterschied zwischen Mystiker und Nicht-Mystiker sei: Nicht, daß der Mystiker ein anderes und neues Verhältnis dem Gotte gegenüber habe, ist der Ausgangspunkt und das Wesentliche, sondern daß er einen andersartigen ,Gott’ hat, daß das religiöse Objekt, das er meint, selber andersartig ist. Die Andersartigkeit des Objektes hat eine Andersartigkeit der Beziehung zur Folge.153
Und so könne dann Mystik in der Einigung mit diesem Gott enden, allein entscheidend sei diese für die Mystik nicht: Und nicht erst die Einigung, sondern schon ganz und überwiegend das Leben in dem Wunder dieses ,Ganz Anderen‘ Gottes ist Mystik. Der Gott selber ist ,mystisch‘, nämlich mysteriös, und das Erleben desselben ist geheimnisvoll und darum mystisch.154
Otto bestimmt an dieser Stelle „mystisch“ als „mysteriös“, als „geheimnisvoll“. Etwas später wird bei ihm – von der Etymologie ausgehend – von der theologia mystica die Rede sein: ihr Wesen liege darin, daß sie „Geheimnisse lehrte, Tiefen aufzeigte, die man sonst nicht kannte“.155 Dabei, so Otto selbst, knüpfe der Sprachgebrauch in erster Linie an den eines „mystischen Schriftsinnes“ an, der im Rahmen der Allegorese hinter einer biblischen Passage identifiziert werden sollte. Entgegen einer negativen Theologie – nach Art der theologia mystica des Ps.-Dionysios Areopagita – liegt die Suche nach dem verborgenen Sinn in der Allegorese Ottos Verständnis von Mystik näher. Dies muß näher erläutert werden. Für Otto ist das Eintreten von „irrationalnuminosen Momenten“ des Beziehungsobjektes eines religiösen Gefühls Maßeinheit für Mystik.156 Diese Momente traktiert Otto intensiv in seinem Buch „Das Heilige“. Am Anfang seiner Überlegung steht das „numinose Objekt“, welches zunächst einmal nur als ein „Objekt außer mir“ bestimmt werden könne. Werde dieses Objekt als gegenwärtig erlebt, entstehe im Gemüt 152 Kita (1977) analysiert die Auseinandersetzung des Phänomenologen Max Scheler mit dem Pragmatismus und William James. Jung (1999) verfolgt das Anliegen, eine hermeneutischpragmatische Theorie religiöser Erfahrung vor dem Hintergrund von William James und Wilhelm Dilthey zu entwickeln. 153 Otto (1926), 163. 154 Ebd. 155 Otto (1926), 164. 156 Ebd.
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des Individuums als „Reflex“ das „Kreaturgefühl“.157 Auf die Frage, was oder wie dieses Numinose sei, gibt Otto die Antwort, daß es nur „durch die besondere Gefühls-reaktion [,] die es im erlebenden Gemüte auslöst“, angebbar sei.158 Das Kreaturgefühl sei, so Otto, „das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist“.159 Eine konkretere positive Definition des Kreaturgefühls ist Otto nicht möglich, da für ihn dieses Gefühl selbst ein Grund-Datum in der Seele des Menschen ist und nicht mit rationalen Begriffen, sondern nur durch sich, das Gefühl selbst, in der eigenen Erfahrung faßbar werde.160 An dieser Stelle deutet sich bereits ein Grundproblem für die Religionswissenschaft an. Der Wissenschaftler selbst solle – und müsse sogar – ein solches Gefühl kennen: „Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.“161 Wie aber soll man ein solches Gefühl „messen“ oder, was ein empirisches Erfordernis ist, zu jeder Zeit an jedem Ort unter den gleichen Bedingungen reproduzieren? Wie soll die wissenschaftliche Gemeinschaft darüber kommunizieren, wenn das Kreaturgefühl oder andere Momente des Numinosen begrifflicher Fassung nicht zugänglich sind?162 Zudem entzieht sich, was ungleich schwerer wiegt, das Numinose der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Unter der (berechtigten) Forderung des Empiriebezuges der Religionswissenschaft, wie Hubert Seiwert ihn formuliert hat,163 ist ein solcher Zugang wie der Ottos klar abzulehnen. Weiter entfernt sich Otto von der kantischen Philosophie: während bei Kant Erfahrung nur möglich ist, weil a priori Kategorien unsere Erfahrung schematisieren, ist die Kategorie „das Heilige“ bei Otto aus der Erfahrung destilliert und wird als a priori angenommen; die religiöse Erfahrung erscheint als sui generis, so Gregory Alles.164 Otto geht von der Erfahrung aus, um die Kategorie des „Heiligen“ zu bestimmen, die er dann als sui generis, quasi a priori, ansieht; er trennt sich mit dieser induktiv-empirischen Vorgehensweise von der kantischen logischen Deduktion, so Søren Holm.165 Er unterscheidet sich an dieser Stelle auch fundamental von William James’ pragmatischem Ansatz, der, wie oben gezeigt, sich auf die Analyse der Erfahrung weitgehend beschränkt, ohne ihre Realität bzw. ihren ontologischen Status zu reflektieren: Otto postuliert die reale Erfahrung des – ebenfalls realen – Nu-
157 158 159 160 161 162 163
Otto (1917), 11. Otto (1917), 13. Otto (1917), 10. Otto (1917), 9 f. Otto (1917), 8. Otto spricht von einem %qqgtom bzw. einem ineffabile. Otto (1917), 5. Seiwert (1977), 16 – 18. Aber auch Mensching (1959), 304, spricht von ,religionswissenschaftlich, d. h. empirisch‘. 164 Alles (1997), bes. 206. 165 Holm (1971).
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minosen, während es für James lediglich auf die Konsequenzen im Handeln des Menschen ankommt. Neben dem Kreaturgefühl wäre als weiteres Moment das „mysterium tremendum“ zu nennen. Otto bezeichnet es auch als das „schauervolle Geheimnis“.166 Drei Dinge seien es, die das „tremendum“ ausmachten. Erstens sei es das Moment des „Schauervollen“.167 Es handele sich um ein der Furcht ähnliches Gefühl, das Otto mit Schrecken bzw. Scheu beschreibt. Diese Scheu könne mehr oder weniger intensiv sein, sogar so stark, „daß sie durch Mark und Bein geht, daß sich die Haare sträuben und die Glieder schlottern, aber sie kann auch in ganz leichter Regung und als kaum bemerkte und flüchtige Anwandlung des Gemütes auftreten.“168 Dieses Erleben der Scheu vor etwas Schauervollem und Großem löse das Kreaturgefühl der eigenen Nichtigkeit seinerseits als Begleitreflex aus.169 Neben das Schauervolle trete dann das Moment der „majestas“, des „Übermächtigen“.170 Dieses Gefühl beschreibt Otto auch als „schlechthinnige Übermacht“.171 Gemeint ist damit das Gefühl der eigenen Nichtigkeit im Kontrast zu der erlebten Größe des religiösen Bezugsobjektes. In der Formel „Ich nichts, Du alles!“ sei dieses Gefühl kurzgefaßt.172 Schleiermachers ,Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‘ greift Otto zu kurz, kämen doch die besonderen „Hochgefühle“, wie er sie in den numinosen Momenten zu fassen glaubt, zu kurz.173 Ein dritter Aspekt des tremendum sei das „Energische“, auch bezeichnet als die „Energie des Numinosen“.174 Besonders im Zorn des Numinosen werde dieses Moment für das Gemüt fühlbar, als „Lebendigkeit“, „Leidenschaft“, „affektvolles Wesen“, „Wille“, „Kraft“, „Bewegung“, „Erregtheit“, „Tätigkeit“ oder auch „Drang“. Dies „energische“ Moment sei es, so Otto, welches die Irrationalität am deutlichsten zeige: der rasende Gott als Gegenbild zu dem rationalen Gott, der bloß philosophische Spekulation oder Definition herausfordere. Das mysterium bezeichnet Otto zunächst als das „Ganz Andere“.175 Vom tremendum sei es besonders daher zu unterscheiden, weil mysterium und tremendum verschiedene Momente des Numinosen seien, die gelegentlich auch getrennt voneinander eintreten könnten. Um das mysterium zu charakterisieren, wählt Otto als Analogie den stupor, das „starre Staunen“, das „völlig auf den Mund geschlagen sein“ oder das „absolute Befremden“, welches durch das „Ganz Andere“ im Gemüt hervorgerufen werde. Dieses bereits erwähnte „Ganz 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175
Otto (1917), 13. Otto (1917), 14 – 22. Otto (1917), 18. Otto (1917), 19 f. Otto (1917), 22 – 27. Otto (1917), 23. Otto (1917), 24. Otto (1926), 170. Otto (1917), 27 – 28. Hier und im weiteren Otto (1917), 28 – 37.
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Andere“ wecke das „starre Staunen“ deshalb, weil es vollständig gegensätzlich zu allem sei, was in die Bereiche des Gewohnten, Verstandenen und Vertrauten falle. Das „Ganz Andere“ liege folglich im „Irrationalen“, dem Bereich, der außerhalb der begrifflich faßbaren Sphäre liege und nur durch das Gefühl zu erfahren sei.176 Zudem verdient auch das „fascinans“ besondere Betrachtung, ist es doch für Otto dasjenige, welches neben dem mysterium tremendum die zweite Hälfte des Doppelcharakters des Numinosen ausmache: das Faszinierende, was anziehend, eben „faszinierend“ wirke. Otto sieht gerade diesen Doppelcharakter als das „seltsamste und beachtlichste Vorkommnis überhaupt in der Religionsgeschichte“ an. Er schreibt: So grauenvoll-furchtbar das Dämonisch-Göttliche dem Gemüte erscheinen kann, so lockend-reizvoll wird es ihm. Und die Kreatur die vor ihm erzittert in demütigstem Verzagen hat immer zugleich den Antrieb sich zu ihm hinzuwenden, ja es irgendwie sich anzueignen. Das Mysterium ist nicht bloß das Wunderbare, es ist auch das Wundervolle. Und neben das Sinn-verwirrende tritt das Sinnberückende, Hinreißende, seltsam Entzückende, das oft genug zum Taumel und Rausch sich Steigernde, das Dionysische der Wirkung des numen.177
Im Hinblick auf die Mystik sei zu beobachten, daß das tremendum nach und nach dem fascinans weiche.178 Der Vollständigkeit halber seien noch die drei weiteren Momente des Numinosen genannt, die Otto beschreibt: zum einen gäben die numinosen Hymnen als Dichtung einen Eindruck vom Irrationalen.179 Zum zweiten ist das Moment des augustum zu nennen, welches einerseits das Gefühl von Profanität des Menschen, der das Numinose erfährt, und andererseits das sanctum als objektiven höchsten Wert, der aufgrund dieser Erfahrung der eigenen Profanität vom Menschen dem Numinosen zugeschrieben wird, umfasse.180 Zum dritten schlägt Otto das Ungeheuer als Ausdruck für das Moment des Numinosen nach den Momenten des mysterium, des tremendum, der majestas, des augustum und des energicum als auch des fascinans vor.181 Diese Momente nun seien es, die, träten sie denn überwiegend ein, den Mystiker ausmachten;182 der Übergang von gläubiger zu mystischer Fröm176 Otto schreibt über das Irrationale: „Wir meinen mit ,rational‘ in der Idee des Göttlichen dasjenige was von ihr eingeht in die klare Faßbarkeit unseres begreifenden Vermögens, in den Bereich vertrauter und definibeler Begriffe. Wir behaupten sodann, daß um diesen Bereich begrifflicher Klarheit her eine geheimnisvoll-dunkle Sfäre liege, die nicht unserem Gefühl wohl aber unserem begrifflichen Denken sich entziehe und die wir insofern ,das Irrationale‘ nennen.“ Otto (1917), 76. 177 Otto (1917), 42. 178 Otto (1923a). 179 Otto (1917), 38 – 41. 180 Otto (1917), 66 – 74, bes. 66 – 69. 181 Otto (1917), 53 – 55. Er schreibt über das Ungeheuer (55): „Endlich, geradezu und ganz ein Name für unser Numinoses […].“ 182 Otto (1926), 164.
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migkeit sei fließend und durch ein vermehrtes Auftreten der irrationalen Momente gekennzeichnet.183 Und so geht es nicht wie in der mystischen Theologie eines Ps.-Dionysios darum, daß man eben nichts über einen ,Gott‘ aussagen könne, sondern vielmehr darum, daß das Göttliche, über welches nach den Grenzen post-kantischer Wissenschaftstheorie gerade nichts aussagbar wäre (s. o.), erfahrbar sei – und darüber hinaus in Bildern, die der menschlichen Sinnes- und Gefühlswelt entnommen sind, angedeutet werden könne. Und so entspricht Ottos Gebrauch von ,mystisch‘ eher dem Konzept der durch Allegorese zu suchenden verborgenen Schriftsinne, geht es doch gerade darum, die Grenzen des ,Gott‘-Erkennens weit zu stecken. Der Begriff ,Gott‘ nun bereitet Otto hinsichtlich des Yoga und des frühen Buddhismus Probleme, kann er doch dort nicht auf eine Gottesidee zurückgreifen. Dieser Umstand läßt ihn neben der Gottesmystik eine weitere Art von Mystik beschreiben: die Seelenmystik, exemplifiziert am anı¯´svara-Yoga und dem frühen Buddhismus mit seinem nirva¯n. a.184 Während Ottos Untersuchung auf einen Vergleich von S´ankara und Meister Eckhart zielt, der dann auch Übereinstimmungen zeigt,185 betont die neuere Forschung – so etwa Annette Wilke – in der Stoßrichtung des cultural turn die Unterschiede der beiden.186 Weitere religionswissenschaftliche Kritik an Otto zielt hauptsächlich auf sein Konzept von Religion, seine Frage nach dem Wesen der Religion und ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Daneben werden häufig seine positive Voreingenommenheit gegenüber dem Christentum, sein Christozentrismus oder seine bereits erwähnte Forderung, der Religionswissenschaftler müsse selbst religiös sein und religiöse Erfahrungen vorweisen können, kritisiert.187 Dennoch wird in der neuesten philosophischen Auseinandersetzung mit Otto trotz aller Kritik an seinem philosophisch-theologischen Ansatz hervorgehoben, daß es ihm durchaus gelungen ist, Grundbefindlichkeiten des religiösen Menschen zu beschreiben; dies gilt besonders, wenn man bedenkt, daß die Deskription dieser religiösen Grundbefindlichkeiten ohnehin auf eine ideogrammatische Schilderung begrenzt sein muß, so Tomislav Tribuljak.188 Die Grundbefindlichkeiten an sich können schließlich nicht, zumindest nicht vollständig, ausgedrückt und wiedergegeben werden. Mensching schreibt 183 Otto (1923b), bes. 71 f. 184 Otto (1926), bes. 164 – 167. 185 Otto (1926), 177: „Seelenmystik kann sich aber mit Gottesmystik verbinden. Und dann tritt wieder ein durchaus eigener Typus von Mystik auf. Einen solchen Typus stellen sowohl Eckhart als auch S´ankara dar.“ 186 Wilke (1995); es wäre allerdings zu diskutieren, ob Wilke scharf genug zwischen Vergleichbarkeit, das bedeutet ein Abwägen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Erkenntnisgewinn, und Gleichsetzung, die sie zutreffend für die frühe Orientalistik nachweist, unterscheidet. Zum religionswissenschaftlichen Vergleich siehe zuletzt Freiberger (2009). 187 Almond (1984) versucht zu zeigen, daß Ottos Theorie sich als „philosophical theology“ um den philosophischen Idealismus herum entwickelt hat. 188 Tribuljak (2000), 321 – 340, bes. 334 f.
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daher, Otto habe „in einzigartiger Weise eine Einfühlungsfähigkeit“ besessen.189 Schon Walter Baetke kritisierte, Otto ignoriere fälschlicherweise, daß die religiöse Erfahrung durch kulturell bedingte Erwartungen hervorgerufen werde. Zudem ignoriere Otto den Aspekt der Gemeinschaft und betrachte verkürzend nur das religiöse Subjekt.190 Dagegen führte Werner Schilling zur Verteidigung Ottos zu Recht an, daß es trotz dieser Bedingtheit das religiöse Erleben und Erkennen des Subjekts gebe, und zwar intuitiv-gefühlsmäßig und nicht bloß reflexionsmäßig. Nicht das Wissen um die Heiligkeit sei es, das den Menschen auf die Knie zwinge, es sei das Wissen in Verbindung mit dem Erleben dieser Heiligkeit.191 Zudem wies Schilling richtig darauf hin, daß hier verschiedene Auffassungen von Religion vertreten werden, aus denen sich verschiedene Methoden zur Erforschung derselben ergäben. Otto sehe im Gegensatz zu Baetke Religion nicht in den Grenzen einer nationalen Kultreligion, er suche nach dem Wesen der Religion als solcher. Diese Suche sei es, die andere Methoden als eine bloß historisch-philologische Vorgehensweise erfordere.192 Die hermeneutische Schwierigkeit, Erfahrungen mit Hilfe historisch-philologischer Vorgehensweise aus historischen Quellen zu extrahieren, sieht auch Gregory Alles.193 Dieser Einwand greift jedoch dann nicht, wenn es nicht das Ziel einer Untersuchung ist, die Erfahrung zu rekonstruieren, sondern lediglich die Ausdrücke von religiöser Erfahrung zu kategorisieren; das hat etwa Dirk Johannsen jüngst für nordische Quellen versucht.194 Ein wichtiger Hinweis soll jedoch der Kritik entnommen werden: die Kontextgebundenheit, die sprachlichen Mittel, die es dem Erfahrenden ermöglichen, seinen Erfahrungen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, müssen berücksichtigt werden. Dies gilt es besonders zu bemerken, denn Erfahrungsberichte werden auch im weiteren Gegenstand der Erörterung sein. Dabei wäre es allerdings unredlich, zu behaupten, daß Otto blind gegenüber der Kontextgebundenheit gewesen wäre, wie ein nochmaliger Blick auf eine in dieser Hinsicht zentrale Passage in der „West-östlichen Mystik“ zeigt: Immer ist noch die Meinung sehr allgemein, daß Mystik, auf wie verschiedenem Grunde sie sich auch erheben möge, im Grunde eines und dasselbe sei, und als solche zeitlos, raumlos, unabhängig von Umständen und Gelegenheitsbedingungen. Dieses scheint mir aber den Tatsachen zu widersprechen. Vielmehr scheint mir bei allem Gleichklang der Formeln, der in der Tat verblüffend genug sein kann, eine Besonderung auch des mystischen Gefühls stattzuhaben, die nicht minder groß ist, als die 189 190 191 192 193 194
Mensching (1971), bes. 50. Baetke (1942). Schilling (1949/50), hier 422. Schilling (1949/50), 414 f. Alles (1997), 210. Johannsen (2008).
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Besonderung religiösen Gefühles überhaupt. Gewiß ist ,Mystik‘ eines und dasselbe, ihrem ,Wesen‘ nach. Sonst gäbe es den Begriff von Mystik nicht, und die Anwendung des Namens wäre unmöglich, denn denselben Namen können wir für mehrere Gegenstände logisch mit Recht nur verwenden, wenn das jeweils Genannte in bestimmbarer Hinsicht jedesmal ,dasselbe‘ ist. Aber der Fall ist hier nicht anders als etwa mit ,Religion‘ überhaupt. Wir nennen Buddhismus, Hinduismus, Islam, Christentum ,Religionen‘ und meinen damit, daß sie unter eine und dieselbe Wesensklasse von ,Religion‘ zu subsummieren sind. Das schließt aber nicht aus, sondern soll gerade einschließen, daß ,Religion’ sich in jeder von ihnen besondert, und daß innerhalb einer und derselben Wesensklasse in sich sehr verschiedene geistige Gebilde gegeben sind.195
Rudolf Otto sieht sehr wohl historische, kulturelle d. h. kontextuelle Differenzen, obgleich er sich doch von der Rede eines ,Wesens‘ der Mystik oder Religion nicht trennen mag. Damit ist sein Ansatz keineswegs a-historisch, jedoch von der ontologischen Aussage getragen, es existiere eine Mystik quasi wesenhaft. Ein anderer Vorwurf an Otto, ist der, daß Otto bei seiner weiteren Arbeit zu einer Mischung von religionswissenschaftlicher Deskription und normativen theologischen Aussagen gelangt, indem er den Rang einer Religion danach bestimmt, in welchem Maße innerhalb einer Religion die der Religion immanente Idee des Heiligen verwirklicht sei, so Gustav Mensching.196 Das kann natürlich keinesfalls dem Anspruch einer Religionswissenschaft entsprechen, die gerade Normativität ausschließen will, wie Oliver Freiberger ihren Anspruch beschreibt.197 Doch Otto will trennen zwischen „religionskundlichen und theologischen Aussagen“, die im ersten Falle normativ, im zweiten deskriptiv ausfallen sollen.198 Dieses spannungsvolle Ineinander von Theologie und Religionswissenschaft begegnet uns im Werk Friedrich Heilers wieder, dessen Arbeiten zur Mystik prägend für die religionswissenschaftliche Theorie waren und noch immer nachwirken.
2.3.4 Friedrich Heiler (1892 – 1967) Mit Friedrich Heiler haben wir einen „Grenzgänger zwischen den christlichen Konfessionen“ vor uns, so Heinz Röhr,199 zu dem Michael Pye – der sehr wohl Heilers Bedeutung für die Etablierung des Faches Religionswissenschaft würdigt – bemerkt, „[i]mmer wieder ha[be] seine eigene geniale Religiosität 195 196 197 198 199
Otto (1926), 161 f. Mensching (1971), 61 – 64. Freiberger (2000). Otto (1932). Röhr (2003), 313 – 15.
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seine Religionswissenschaft verraten“.200 Da der Katholik Heiler aus der Reihe der Protestanten herausragt, soll später wenigstens eine kurze Bemerkung zu seiner Reaktion auf den Antimodernismus und zu seinem Verhältnis zu Friedrich von Hügel folgen (S. 63). Heilers systematische Bemerkungen zum Mystiker in seinem Klassiker „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ sind knapp.201 Das „mystische Leben“ sei durch „irreguläre psychologische Phänomene“ – etwa Ekstase, Vision, Audition – gekennzeichnet. Ziel des Mystikers seien „schweigende Kontemplation des Unbegreiflichen und Unaussprechlichen“,202 ferner die „Einigung mit dem Unendlichen“. „Gipfelpunkt der Mystik“ sei, so Heiler, ein „Tabor-Erlebnis“. Diese Ausführung Heilers ist in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen zeigt sich der christliche, genauer : ostkirchliche203, Referenzrahmen Heilers, wenn er die Verklärung Jesu in Mk 9,2ff als Interpretationshorizont mystischen Erlebens bestimmt.204 Zum anderen greift er die Berg-Metapher, die Mk vorgibt, auf: das Gipfelerlebnis impliziert den Aufstieg, die Bewegung von unten nach oben auf ein Ziel – nämlich den Gipfel – hin zu; intensiv wird dieselbe beliebte Metapher des Weges zum Gipfel etwa von Francesco Petrarca in seiner „Besteigung des Mont Ventoux“ gebraucht.205 Zu der Gotteinigung, so fährt Heiler fort, geselle sich zudem die kosmische Einigung. Wichtiger sei jedoch der Blick auf das Leben des Mystikers: dieser kehre „vom Tabor in die Niederungen des Lebens zurück“, um sein Erlebnis anderen mitzuteilen; dies geschehe esoterisch an einzelne Jünger oder exoterisch an einen weiten Personenkreis. Während die zweite Variante von Heiler mit dem religionshistorischen Beispiel des Buddha illustriert wird, exemplifiziert er die erste Variante durch Nennung der vedischen Upanischaden, eines pythagoräischen Schülerkreises oder schriftlicher Aufzeichnungen für Gleichgesinnte. Auf den ersten Blick scheint diese Typologie sich an Beispielen aus der außereuropäischen, zumindest außerchristlichen Religionsgeschichte abzuarbeiten. Bei genauerem Hinsehen folgt Heiler hier jedoch vielmehr der markinischen Erzählung: nach der Verklärung kehrt Jesus in der Wundergeschichte Mk 9, 14 – 29 sofort in die Niederungen des Lebens zurück, nicht ohne vorher die Jünger zur Geheimhaltung zu ermahnen (Mk 9, 9). Der Buddha, der hier als Beispiel für eine exoterische Form mystischen Lebens gilt, wird in 200 Pye (1997), 287. 201 Heiler (1961), 403 – 404. Folgende Ausführungen beruhen auf dieser Stelle. 202 Zum silentium mysticum in der griechischen Philosophie siehe Casel (1919), der explizit an Heiler u. a. anknüpft. 203 Insbesondere im ostkirchlichen Hesychasmus spielt die Taborepisode eine zentrale Rolle; s. etwa Gregorios Palamas, Triade I 3, 35 = Meyendorff 184 f. oder III 1,12 – 23 = Meyendorff 580 – 601und passim. 204 Während in Heiler (1919), 20, im Sohnschaftsverhältnis Jesu zum Vater das ,Mystische‘ gerade nicht liege; in Heiler (1961) wird offenbar stärker auf eine Erfahrung bzw. auf mystisches Erleben abgestellt als auf den theologischen Gehalt von Jesu Heilsbotschaft. 205 Petrarca (1995). Die hier zitierte Reclam-Ausgabe folgt dem Text der kritischen Edition von Vittorio Rossi, Florenz 1968.
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Heilers 1919 gehaltenem Vortrag ,Die Bedeutung der Mystik für die Weltreligionen’ näher beschrieben: „Der große Mystiker [Buddha] wurde zum Propheten, der sein Evangelium unablässig verkündete und seine Jünger als Apostel nach allen Richtungen aussandte […].“206 Wieder zeigt sich, wie sehr die Erzählung des christlichen Mythos im NT zur Schablone für die Interpretation fremder Religion wird. Anhand dieses frühen Aufsatzes kann noch präziser Heilers Verständnis von Mystik analysiert werden, besser noch als anhand seiner Dissertation, die zugleich zum dritten Kapitel seines im selben Jahre erschienen Werkes „Das Gebet“ avancierte.207 Zwischen diesem als Aufsatz erschienenen Vortrag und den beiden genannten Schriften besteht kein inhaltlicher Unterschied.208 Bernard McGinn geht leider nicht hinreichend auf diesen Text ein,209 dabei ist gerade – wie ich weiter unten zeigen möchte – die gegenseitige Abhängigkeit von Mystiker, Mystik und der Kirche ein entscheidendes Kriterium für Heilers Wertschätzung. Mystiker charakterisiert er dort als die „,Stillen im Lande‘, diese Beter und Schweiger, die abgewandt vom äußern Leben und Treiben das Ewige suchen und finden“.210 Seine Herleitung der Begriffsbestimmung von Mystik ist etymologisch: ausgehend von der ursprünglichen Wortbedeutung von l¼y [„ich (ver-)schließe (die Augen)“]211 und seines im Kontext antiker Mysterienreligion verwendeten Substantives lust^qiom bestimmt er Mystik als esoterische Religion, deren vornehmstes Merkmal das Verborgene, Geheime sei.212 Hinzu käme, so Heiler, der neuplatonische Gebrauch von l¼y, welcher zusätzlich die Abkehr von der äußeren Welt, das Abwenden von den sinnlichen Dingen, meinen würde; zudem rekurriert er auf Ps.-Dionysios Areopagita und seine lustijµ heokoc_a, der in der „Gottesschau und Gotteinigung“ die Krone des beschriebenen Prozesses von Geheimhaltung und Absonderung sehe. Es folgt also: Mystik ist jene Form des Gottesumganges, bei der die Welt und das Ich radikal verneint werden, bei der die menschliche Persönlichkeit sich auflöst, untergeht, versinkt in dem unendlichen Einen der Gottheit. Mystik ist, wenn man es in den Schlußworten von Plotins Enneaden ausdrücken will, die vucµ l|mou pq¹r l|mom, „die Flucht des einen Einsamen zum einen Einsamen“. Die beiden Wesenselemente der Mystik, die Loslösung von der Außenwelt und menschlichen Gesellschaft und die 206 Heiler (1919), 11. 207 Heiler (1918a); ders. (1918b). 208 Fritsche (1992) und Röhr (2003), 15 f. betonen einen Wandel des Mystikbegriffs Heilers von der „enthusiastischen Betonung des evangeliumgemäßen Glaubens (zu ungunsten der Mystik)“ hin zu „einer alle Hochreligionen vereinigenden und übergipfelnden Religionsform“. Daß Heiler Mystik als pervasives und notwendiges Element von Religion versteht, wird aber doch bereits in Heiler (1919) deutlich, seine Kritik an der liberalen Theologie ebenfalls. 209 McGinn (1994), 464 – 466; auf 465 wird der Votrag Heiler (1919) nur erwähnt, McGinn stützt sich auf Heilers ,Gebet‘. 210 Heiler (1919), 3. 211 Liddell/Scott/Jones (1996), 1157. Heiler (1919) gibt nur die Bedeutung „verschließen“ an (4). 212 Heiler (1919), 4.
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unmittelbare Berührung des einsam gewordenen Menschen mit dem einen Göttlichen, sind in dieser Formel treffend zusammengefaßt.213
Mystik sei, so bemerkt Heiler in der Einleitung, die „Religiosität der suchenden Bildungsmenschen“ – eine sicherlich gewollte Anspielung auf Schleiermachers Reden, die an die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ gerichtet sind.214 Doch welche sind nun diese Bildungsmenschen, die Heiler vor Augen hat? Es sind die, „die sich unbefriedigt fühlen von Kulturarbeit und wissenschaftlicher Forschung, von philosophischer Weltanschauung und traditionellem Kirchenwesen“.215 Das Programm, welches sich hinter dieser Aussage verbirgt, wird deutlicher, wenn man Heilers Überlegung betrachtet, wie eine ,höhere Religiosität‘ ohne Mystik aussehe: „Sobald sie dieses mystische Element preisgibt, erstarrt sie entweder in äußerem Ritualismus oder versandet in blutlosem Intellektualismus, mag dieser Intellektualismus scholastisch-theologisch oder liberal-rationalistisch sein.“216 Heilers Anliegen ist also nicht bloß kulturkritisch, er zielt offensichtlich auf akademischer Ebene gleichermaßen gegen eine präkonziliare katholische Theologie auf der einen und eine liberale protestantische Theologie auf der anderen Seite. Denkt man an Ritschl und Harnack, dann sind die Objekte der Kritik Heilers – Ritualismus, Scholastik und Rationalismus – den ihren durchaus ähnlich, nur trennt er davon die Mystik als Positivum und religiöse Lebensquelle ab. Heiler sieht die Aufgabe der Mystik darin, „alle Intoleranz, durch welche die christliche Kirche aller Jahrhunderte so viel gesündigt hat, [zu] entwurzeln; sie muß die Brücke schlagen hinüber zu den höchsten Formen der außerchristlichen Religiosität“.217 So wird dann die Intention des Autors klarer : Heiler bezieht Position für Toleranz und interreligiösen Austausch; dies fügt sich in den Rahmen seiner ökumenischen Bemühungen und seines interreligiösen Interesses; Michael Pye hebt das in seiner Kurzvorstellung Heilers besonders hervor.218 Während Harnack und Ritschl das Christentum eher von den neuplatonischen Einflüssen ,reinigen‘ wollen, ist für Heiler gerade diese Synthese das Ideal: „eine schöpferische Synthese zwischen beiden religiösen Großmächten: Mystik und Offenbarungsreligion“.219 Sowohl Mystik als auch Religion erscheinen hier als Akteure auf dem Schlachtfeld der Religionsgeschichte, wenn man die Metapher der Großmacht betrachtet. So wird denn auch ihr Verhältnis zueinander in einer weiteren interessanten Metapher beschrieben, die Erinnerungen an das christlich-europäische Umfeld evoziert: 213 214 215 216 217 218 219
Heiler (1919), 6. Mit Bezug auf Plotin so auch Heiler (1961), 404. Schleiermacher (1799). Heiler (1919), 3 f. Heiler (1919), 4. Heiler (1919), 29. Pye (1997), passim. Heiler (1919), 27, die Metapher Mystik und Religion als Mächte auch bereits 26.
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Sie [die Mystik] braucht das schützende Kirchendach, um ungestört in ihrer kontemplativen Ruhe zu verweilen; aber sie darf es nicht selbst aufbauen, weil sie ihre ganze Kraft für das Innenleben braucht und für die Schaffung äußerer Formen keine Zeit mehr übrig hat.220
Die Mystik, die nicht als Arbeiter auf der Baustelle Kirche tätig werden darf, handelt wiederum als Akteur. Für das Verhältnis von Mystik und Religion ist offenbar entscheidend, daß jene die religiösen Institutionen brauche, um gedeihen zu können, selbst jedoch keine solchen ausbilden dürfe. Diese Symbiose wird von Heiler durch die Religionsgeschichte verfolgt: „Die Mystik hat sich im Verlauf ihrer Geschichte mit allen großen Weltreligionen verbunden, sie innerlich durchsetzt und umgestaltet, geläutert und verfeinert.“221 Hier wäre tatsächlich zu überlegen, inwieweit Friedrich von Hügel und Heiler in diesem Punkt voneinander abhängig sind; Peter Neuner zeigt, wie sehr Hügel mit dem Verhältnis von Kirche und Mystik ringt und die Bedingungen ihrer Koexistenz beschreibt.222 Für Heiler persönlich sei die Konsequenz aus der Verurteilung des Modernismus die „Suche nach der Kirche und ihrer Katholizität außerhalb und unabhängig von Rom“ gewesen.223 Für Heiler ist weiter einzig der Buddhismus die Ausnahme: dieser sei nicht von der Mystik durchdrungene Universalreligion, sondern zur Universalreligion gewordene Mystik,224 während „die dem Hellenismus entsprungene Mystik zu einem Wesensbestandteil des Christentums geworden“ sei.225 Neben der erwähnten Differenz in der Ausbildung religiöser Institutionen liege ein wesentlicher Unterschied zwischen ,Mystik‘ und ,Offenbarungsreligion‘ im Gottesbild: während jene die Grenze zwischen Gott und Mensch in der unio verwische, so betone diese gerade das ontologische Gott-Mensch-Schisma; die Mystik löse sogar in letzter Konsequenz das Menschliche zu Gunsten des Göttlichen auf.226 Heiler jedoch favorisiert das „jüdisch-urchristliche Heilsziel“ einer „universalen Gottesherrschaft“; es gelte, „die beiden polaren Typen des höheren religiösen Lebens […] in einer Synthese zu vereinigen.“227 Denn, so Heiler : Wie nichts anderes ist die Mystik geeignet, unser Geschlecht, das im Drange, diese vergängliche Welt umzugestalten, das Ewigkeitsbewußtsein zu verlieren droht, zur Innerlichkeit zu rufen und zu wecken. Im geheimnisvollen Gottesumgang der Seele 220 Heiler (1919), 12. 221 Heiler (1919), 11. Als Illustration dieses phänomenologischen Zugangs mag auch die Anlage des von ihm zu großen Teilen gestalteten und edierten Büchleins „Die Religionen der Menschheit“ dienen: Heiler (1959). 222 Neuner (2009), 81 – 83. 223 Neuner (2009), 140. 224 Heiler (1919), 11. 225 Heiler (1919), 26. 226 Heiler (1919), 25 f. 227 Heiler (1919), 28. Gleich im Preise eines Ideals des Urchristentums auch Müller (1869), XXII f.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
liegt des Menschen höchster Wert und Adel, sein immerwährender Trost und seine nie versiegende Kraft.228
Ein theologisches, wohl weniger – nach heutigen Begriffen – religionswissenschaftliches Fazit, das sich wohl aber mit einer Vision F. Max Müllers deckt: Die Religionswissenschaft mag die letzte der Wissenschaften sein, welche die Menschheit auszuarbeiten hat; ist sie aber erst ausgearbeitet, so wird sie der Welt einen neuen Anblick verleihen, ja selbst dem alternden Christenthum ein neues Leben einhauchen.229
2.3.5 Gustav Mensching (1901 – 1978) Gustav Menschings Verständnis von Mystik, das sich eng an das seiner Lehrer Rudolf Otto und Friedrich Heiler anlehnt, läßt sich am besten ausgehend von seiner Religionsdefinition darstellen: „Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.“230 Diese Gegenstandsbestimmung legt zwei notwendige Blickfelder fest: religiöses Erleben und religiöses Handeln; die Frage nach dem Wesen des Heiligen und dem Erleben desselben wird dabei mit dem Verweis auf Rudolf Otto beantwortet.231 Betrachtet man zunächst das religiöse Erleben in der Mystik,232 so bemerkt Mensching hierzu: Ihr [der Mystik] Grunderlebnis erfaßt die Einheit der Welt und der mannigfaltigen menschlichen Seelenkräfte in Erkenntnis und Schau des neutralen einen Seins. Das Eine wird als numinose Wirklichkeit schlechthin ergriffen. Davor versinken ebenfalls die vielen Götter wie die vielen Dinge der Welt. Die Göttervielheit verliert ihre selbständige Realität und wird zur Manifestationsform des einen göttlichen Seins, mit dem der einzelne sich in seiner mit dem Göttlichen identischen Seelenschicht verbindet.233
Es wird sowohl das Ausgangserlebnis der Mystik konkretisiert, als auch die Gotteserfahrung präzisiert: im Sinne Friedrich Heilers (s. o.) werde dem Mystiker die Welt „hinsichtlich ihrer Wirklichkeit und ihrer Wertigkeit verdächtig“, die Gotteserfahrung sei „impersonal“; dies gelte auch für Formen personaler Mystik, da es sich auch dabei um ein Aufgehen im Göttlichen 228 229 230 231 232
Heiler (1919), 29. Müller (1869), XVII. Mensching (1959), 18 f. So auch Mensching (1957), 3 und passim. Mensching (1957), 3. Diese Vorgehensweise eignet sich aus Gründen der Darstellung schon daher am besten, da Mensching (1968), 28 f., Gemeinschaftsbildung als Epiphänomen religiösen Erlebens verstehen will. 233 Mensching (1959), 178.
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2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen
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handele, wobei die personale Gestalt der Gottheit lediglich vorläufig sei.234 Diese „Erlebnis- und Vorstellungsform des Numinosen“ bezeichnet Mensching als Theiomonismus, eine Wortschöpfung aus tý heı˜om, die ganz bewußt dem Terminus Monotheismus (von b heûr) entgegengesetzt wird, um für die Mystik an Stelle der Verehrung eines persönlichen Gottes die Verwirklichung eines neutralen Göttlichen unter Ausschaltung der eigenen Persönlichkeit anzunehmen.235 Höhepunkt der Mystik sei diese unio mystica, die „intuitive erlebnishafte Erkenntnis und Verwirklichung der Einheit des individuellen Selbst mit dem Göttlichen“.236 Die mystische Gottesbegegnung erscheine als Erleuchtung und Erkenntnis, die vom Handeln des Göttlichen ihren Ursprung nehme, während der Mystiker, der sich zwar durch meditative und asketische Praktiken vorbereiten könnte, im eigentlichen Moment des mystischen Erlebens passiv bleibe. Zu diesem mystischen Erleben gehöre Ekstase, das Gelöstsein vom eigenen Seelenleben und Erfülltsein von einer numinosen Macht.237 Askese und Meditation erscheinen hier nur als vorbereitende Handlungen des Mystikers, eine Art Prophase des Gipfels mystischer Erfahrung. Deutlich bezeichnet Mensching Kult und Ethik als periphere Akte, die hinter das „Wirklichwerden des Numinosen in der Gesamtexistenz“ zurückträten.238 Auch im Hinblick auf die soziologische Dimension der Mystik – und damit wären wir beim zweiten Teil von Menschings eingangs referierter Religionsdefinition, dem Handeln des Menschen – folgt er der Analyse Friedrich Heilers und dessen Typologie: die mystische Religion wird als Strukturtyp der prophetischen Religion gegenübergestellt.239 Dem metaphysischen Anti-Individualismus der Mystik stehe in ihr gleichermaßen ein Individualismus anderer Art gegenüber, suche doch der Mystiker nach seinem Heilsziel allein und für sich allein.240 Weltflucht und Askese kennzeichneten so die mystische im Gegensatz zur prophetischen Religion: „Mystik ist eine Sache der einzelnen und des Einsamen, sie strebt nicht nach Gewinnung der Vielen; denn sie hat keine Tendenz zur Verkündigung auf Gassen und Märkten wie die prophetische Religion.“241 Diesen Ansatz hat Menschings Schüler Udo Tworuschka weiter verfeinert, indem er Formen der Einsamkeit herausgearbeitet hat.242 Es sei dabei – nun wieder Heiler – im Hinblick auf die Welt generell pessimistische Haltung 234 Mensching (1959), 116 f, der Gegensatz „personaler Theismus“ – „impersonale Mystik“ so auch 292. 235 Mensching (1959), 178; dazu auch 172. Ebenso Mensching (1968), 205. 236 Mensching (1959), 117; 74. 237 Mensching (1959), 240. 238 Mensching (1959), 254 f. 239 Mensching (1959), 115 – 120. 240 Mensching (1968), 305 f. 241 Mensching (1959), 178 f, zur Askese 118 f. 242 Tworuschka (1974).
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
festzustellen, die in dieser Weltflucht und Askese münde. Prägnant ist dabei die Formel: „Ethik ist deshalb in der Mystik Askese.“243 So seien auch manche Formen der Mystik von einer „Entmächtigung des Stoffes durch völlige Entwirklichung“ gekennzeichnet, so bliebe etwa im indischen Theiomonismus lediglich die numinose Realität der Seele.244 Hinsichtlich der Bedeutung von (äußeren) Wundern diagnostiziert Mensching, daß die (innerliche) Mystik darauf kein Gewicht lege, liege doch ihre Lebensmitte im verborgenen Innenleben.245 So sei dann auch die Offenbarung des Mystikers von anderer Art: zwar gehöre zu ihrem Wesen die „Spontaneität der Sphäre des Numinosen“, jedoch vollziehe sie sich im Subjekt und trete nicht „objektiv“ von außen an den Mystiker heran. Diese subjektive Offenbarung nehme nun eine Vorrangstellung vor der objektiven Offenbarung ein und werde – entgegen der prophetischen Offenbarung – nicht verkündigt.246 Hinsichtlich der Sozialstruktur dann habe man es bei der Mystik allenfalls mit kleinen, exklusiven Gemeinschaften zu tun: Sie [die Mystik] neigt im Gegenteil [zur prophetischen Religion] zur Geheimhaltung ihrer esoterischen Heilslehren, wie z. B. die indischen Upanishaden jahrhundertelang nur vom Lehrer zum Schüler in geheimen Sitzungen weitergegeben wurden. Daher ist die Mystik auch nie zu einer Massenreligion geworden. Allenfalls schlossen sich Eremiten und Asketen zu Klostergemeinschaften zusammen, die im Buddhismus, im Klostertaoismus, im Christentum und im islamischen Sufismus Pflegestätten der Mystik wurden.247
Insbesondere Mönchtum sei auf dem Boden mystischer Universalreligion aufgetreten, daher verortet Mensching dieses zunächst in indischen Religionen; im Christentum sei das Mönchtum außerchristlichen Einflüssen zuzuschreiben. Dem Mönchtum seien Askese und systematische Selbstabtötung eigen, was selbiges als typisch mystisch kennzeichne; charakteristisch am Mönchtum sei, „daß der Mönch die anderen Menschen meidet oder nur mit Gleichgesinnten in einer losgelösten Sonderwelt der Klostergemeinschaft leben mag“.248 Mystik aber habe keine Tendenz zur Organisationsbildung über solche – nach Menschings Ansicht – spontan sich bildende Wahlgemeinschaften hinaus.249 Mystik sei asozial, da sie extrem individualistisch sei, prophetische Religion dagegen sozial, weil der Mensch in ihr zur Arbeit an und in der Gemeinschaft berufen werde. Der Verkündigungszwang des Propheti243 Mensching (1959), 195 – 198; Mensching unterscheidet dort religiöse, ethische und ontologische Abwertung der Welt seitens des Mystikers. 244 Mensching (1959), 205; dazu noch differenzierter 246 – 248 und 251 f. 245 Mensching (1957), 55. 246 Mensching (1959), 101 ff. 247 Mensching (1959), 179. 248 Mensching (1968), 245 f. 249 Mensching (1968), 250 f; 306.
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2.3 Klassische religionswissenschaftliche Positionen
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schen stehe im Gegensatz zur Esoterik der Mystik.250 Dies schlage sich denn auch im Missionsverhalten nieder : während der prophetischen Religion das „Entweder-Oder“ zugrunde liege, zeichne sich Mystik durch das „Sowohl-AlsAuch“ aus.251 Dazu heißt es: Reine Mystik treibt keine Propaganda, aber sie breitet sich dennoch aus. Sie neigt zur Geheimhaltung (Arkandisziplin). Ihre Ausbreitungsform ist das Wandern durch lebendiges Beispiel. Man könnte geradezu sagen, daß sie sich durch ,Ansteckung‘ ausbreitet.252
Die angenommene Toleranz der Mystik zeige sich zudem darin, daß es in der Mystik anders als in prophetischer Religion möglich sei, als Jünger mehrere Meister zu haben, daß mehrere Wege zum gleichen Ziel anerkannt würden. Die Toleranz sei von einem „inklusiven Absolutheitsanspruch“ getragen, was meint, daß andere religiöse Traditionen mit der eigenen Wahrheit des Mystikers identische Wahrheit besäßen, diese jedoch kraft dieser Identität in der eigenen Tradition inbegriffen sei. Es ginge dabei aber eigentlich um das Erleben, daher seien logische Kategorien wie „wahr“ und „falsch“ hinsichtlich der Doktrin einer anderen Religion für den Mystiker inadäquat;253 nicht die Form, sondern das Wesen sei entscheidend.254 Auch der Menschlichkeit stünden – anders als in der prophetischen und institutionalisierten Religion – keine ideologischen Barrieren im Wege;255 sie lehne den Krieg ab.256 Mystik berge hinsichtlich der eigenen jeweiligen religiösen Tradition kritisches Potential, das sich durch eigene traditionskritische Formen der Exegese kanonischer Schriften und mystischer – d. h. einen anderen, tieferen Sinn suchenden – Uminterpretation von Lebensformen und Ritualen konstituiere. Zudem weist Mensching auf die Kritik der christlichen Laienmystik an etablierten Religionsformen hin; diese ziele insbesondere auf die Veräußerlichung und Verweltlichung der organisierten Religionsform.257 Mystik sei die Religion derer, die kulturell übersättigt wieder zur Naivität strebten, während prophetische Religion auf dem Boden der Naivität gedeihe.258 Bei aller Kritik 250 Mensching (1959), 120. Zu dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen Mystik als gemeinschaftsablehnend und prophetischer Religion als gemeinschaftsbejahend siehe auch Mensching (1968), 107 – 109; 207; 306; 307. 251 Mensching (1959), 123ff; so auch 372. 252 Mensching (1959), 125. Gegen die Annahme einer „öffentlichen und werbenden Verkündigung“ dann auch 213. 253 Mensching (1959), 205. Dieser Gedanke auch 352. Zum „inklusiven Absolutheitsanspruch“ 358 ff. Mensching (1968), 346. 254 Mensching (1968), 307; 346. 255 Mensching (1968), 144 f; Menschlichkeit versteht Mensching als „ein Handeln aus dem Bewußtsein, in jedem Menschen einem Wesen gegenüberzustehen, das in gleicher Weise Anspruch auf ein sein Wohl erstrebendes Verhalten hat.“ 256 Mensching (1968), 153. 257 Diese verschiedenen Aspekte bei Mensching (1959), 330ff; 337 f; Mensching (1968), 306 f. 258 Mensching (1968), 169 f.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
an der eigenen Tradition stehe die Mystik zumindest im Hinduismus als „Hochreligion“ anderen Religionsformen („Primitivreligion“) innerhalb der eigenen Tradition tolerant gegenüber, da diese als Vorstufen eines höheren Glaubens angesehen würden.259 Mystische Frömmigkeit verortet Mensching regelmäßig in dieser sogenannten „Hochreligion“, die er als „mystische Hochreligion“ von „primitiver Volksreligion“ unterschieden wissen will.260 In den „Händen der Masse“ werde in religionsgeschichtlicher Entwicklung aus dem impersonalen Göttlichen der Mystik die „Entartungsform“ einer „magischen Zauberkraft“.261 Nicht nur die positive Wertung der Mystik fällt dabei ins Auge, sondern auch die Abwertung von Zauberei und Magie, welche negativ besetzt der Mystik gegenübergestellt werden. Dabei fällt der Blick unwillkürlich zurück auf insbesondere Adolf von Harnacks negative Bewertung der Mystik, die in Zauberei umschlage (s. o.). Zauberei dient bei Mensching als Pejorativum zur Beschreibung eines Schrittes der Entwicklung von der „reinen“ Mystik hin zur Religiosität einer größeren Gruppe („Massenreligion“), die keinen Zugang zu dieser wahren Mystik habe. Die Differenz zu Harnack liegt in Menschings positiver Beurteilung eines angenommen wahren Wesens der Mystik, das Harnack als Rationalisierung eines der ratio nicht zugänglichen Bereiches zugunsten einer Wahrheit aus der historischen Offenbarung in Jesus ablehnt (s. o.). Dieser von Harnack vertretene rationale Charakter wird von Mensching selbstredend abgelehnt, ist doch gerade das Erleben des Numinosen, das er im Gefolge Rudolf Ottos – wie wir oben gesehen haben – für die Mystik als wesenskonstituierend ansieht, das gänzlich Irrationale.262 Wie die Mystikbegriffe Ottos und anderer Phänomenologen birgt auch der Menschings Probleme. Zunächst einmal ist die Fixierung auf die religiöse Erfahrung die Fokussierung auf einen Bereich, welcher dem empirischen Zugriff verborgen bleiben muß. Der ganz wesentliche Kritikpunkt an dieser phänomenologischen Herangehensweise wird noch weiter unten aufgegriffen werden: die Annahme eines Wesens der Mystik führt zu einer ahistorischen und zu wenig kontextualisierenden Betrachtungsweise. Dies mag im Hinblick auf die weitere Untersuchung an einem Beispiel aus der Religionsgeschichte des Christentums verdeutlicht sein: die in Quellen beschworene Abgeschiedenheit von Klöstern als losgelöste Gemeinschaft entlarvt gerade die neuere Forschung, etwa Elizabeth Freeman am Beispiel von Zisterzienserklöstern im England des 12. Jahrhunderts, als lediglich idealisierten Topos der Literaturgattung ,Gründungslegende‘; ganz im Gegensatz sei gerade eine komplexe
259 Mensching (1957), 19. 260 Mensching (1959), 41 (Hinduismus); 47 (Shintoismus und Buddhismus in Japan); 85 (allg.); Mensching (1957), 19 f (wiederum Hinduismus); Mensching (1968), 309. 261 Mensching (1959), 181. Ebenso Mensching (1957), 20 f, am Beispiel des Taoismus. 262 Dazu bes. Mensching (1959), 239ff: es handele sich bei der Mystik gerade nicht um rationales Erkennen (240). Siehe dazu den von Otto (1917) gewählten Untertitel: „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen.“
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2.4 Neuere Ansätze
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Vernetzung der Ordensgemeinschaften mit der Welt zu finden.263 Dieses Ergebnis kann man jedoch nur erzielen, wenn die historische Forschung bereits methodisch bei einer möglichst genauen Rekonstruktion des Kontextes ansetzt, ohne den ein Text kaum historisch ertragbringend interpretiert werden kann. Daß der kulturelle und historische Kontext Berücksichtigung finden muß, wurde bereits früh, aber wohl doch nicht weitgehend genug (noch keine Aufgabe der Trennung von Wesen und Erscheinungsform), bereits von Gunther Stephenson am Beispiel des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit in der deutschen Mystik angedeutet.264 Mensching selbst sieht im übrigen, daß seine Strukturtypen „mystische“ und „prophetische Religion“ in der historischen Wirklichkeit nicht auftreten;265 dennoch zieht er nicht die notwendige Konsequenz, sich von der Behauptung eines Wesens der Mystik zu trennen. Das Postulat einer hermeneutischen Funktion von Idealtypen muß sich der Prüfung unterziehen, ob und inwieweit sie zur Erkenntnis beitragen oder aber gerade selbige erschweren. Dies kann an verschiedenen Fragen, die hier nur angedeutet werden sollen, im weiteren erörtert werden: verstellt der Topos des Mystikers als des Asozialen, Weltflüchtigen den Blick auf Massenbewegungen, die andere mystische Züge zeigen? Hier müßte man etwa Bernhard im Kontext der zisterziensischen Reformbewegung des zwölften Jahrhunderts sehen. Auf der anderen Seite wäre nochmals zu fragen, ob nicht die Suche nach eben solchen strukturtypischen Charakteristika in Texten (etwa der unio mystica) gerade den Blick auf andere interessante Aspekte verstellt. Zu nennen wären etwa die Rolle des Rituals, die wiederum mit der Frage nach der Bedeutung von Gemeinschaft zusammenhängt, oder Körperkonzepte. Zudem muß die Frage nach der praeparatio des Mystikers weiter in den Fokus gerückt werden, könnte doch die Konzentration auf das Erlebnis als solches und seine Epiphänomene im Handeln gerade diesen wichtigen Teil monastischen Lebens ausklammern. Zuvor jedoch ist es notwendig, das Augenmerk neueren Ansätzen in der Mystikforschung zu widmen und weitere Konsequenzen für Begriffsinstrumentarium, Methode und Gang der Untersuchung zu ziehen.
2.4 Neuere Ansätze In der post-phänomenologischen Religionsforschung läßt sich eine Vielzahl von neuen Ansätzen der Mystikforschung finden. Ein Ansatz ist die Untersuchung des Sprachgebrauches. Dabei sind zwei Typen zu unterscheiden. Zum einen kann der alltägliche gegenwärtige Sprachgebrauch untersucht werden. So zeigen Ergebnisse der Erforschung religiöser Gegenwartskultur, so 263 Freeman (2005). 264 Stephenson (1967). 265 Mensching (1959), 115.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
bei Christoph Bochinger und Martin Engelbrecht, daß der alltagssprachliche Gebrauch auf der religiösen Objektebene einer eigenen Dynamik unterliegt: „Mystik“ wird hier als Gegenhorizont zu „Dogmatik“ aufgebaut, obgleich aus religionswissenschaftlicher (Meta-)Perspektive offenbar wird, daß dieser Mystik dann wiederum selbst das „Dogma des Undogmatischen“ zu Grunde liegt.266 Daneben ist auch der ganz alltägliche, nicht notwendigerweise religiöse Sprachgebrauch zu unterscheiden, in welchem als „mystisch“ etwas bezeichnet wird, was auf dieser Sprachebene auch vage mit „mysteriös“ umschrieben werden könnte, so Richard King.267 Zum anderen wird oft eine Annäherung über die Etymologie und die historische Analyse des Wortfeldes versucht.268 Diese Perspektive ist der religionshistorischen Forschung nicht unbekannt, ist doch die Untersuchung des Wortfeldes Mystik und seiner Verwendung auf der Textebene stets im Fokus der Forschung gewesen,269 wie gerade auch am Beispiel Heilers illustriert. Diese Ebene wäre dann – ebenso wie die vorher beschriebene – die des Gegenstandes religionswissenschaftlicher Forschung, die Objektebene. Problematisch ist lediglich die verschiedentlich zu beobachtende Tendenz, die etymologischen Ableitungen mittels eigenem Vorverständnis zu instrumentalisieren und ein ,Hineinlesen‘ in die eigene Bedeutungserklärung zu betreiben, wie Gebhard Löhr dies herausgearbeitet hat.270 Das bedeutet, die Begriffsbestimmung einer metasprachlichen Kategorie in die Bedeutung des Begriffes auf der Objektebene zu projizieren. Diese Bedeutung muß dann mit der Bedeutung, die der Begriff auf der Objektebene hat, nicht übereinstimmen, schlimmstenfalls folgt – im Hinblick auf philologisch arbeitende Religionswissenschaft – die Fehlinterpretation des objektsprachlichen Diskurses. Analysen zur Verwendung des Mystikbegriffes bzw. Formen aus der Wortgruppe liegen bereits zahlreich vor, sowohl in kleinerem als auch in größerem Umfang.271 Diese Untersuchungen des ob266 267 268 269
Bochinger/Engelbrecht (2002). King (2005), 306. Löhr (2006), 116 ff. So etwa als Ausgangspunkt verschiedener lexikalischer Darstellungen: bei B. Thum (1956); auf die besondere Problematik dieses Erscheinungsortes „Religionswissenschaftliches Wörterbuch“ im Hinblick auf seine z. T. theologischen, z. T. phänomenologischen Intentionen bzw. Implikationen soll hier nicht gesondert eingegangen werden. Ebenso setzen z. B. Cancik (1998), bes. 174 – 175, und Brück (2002) mit etymologischer Herleitung bzw. Begriffsgeschichte ein. 270 Siehe dazu Löhr (2002), bes. 153 – 154. Deutlich etwa, wie auch Löhr konstatiert, im Vergleich von Elsas (1992) und Gerlitz (1994). 271 Lubac (1949), bes. im Hinblick auf die Eucharistie im Mittelalter. Maaß (1972) zur protestantischen und katholischen deutschsprachigen Theologie nach 1918. Bouyer (1980) zum christlichen Verständnis in Spätantike und Mittelalter. Bouyer (1990), das wohl umfangreichste Werk, welches den Bogen der Untersuchung von der Antike – christlich und pagan – bis zur Moderne spannt. Certeau (1992) im Hinblick auf das 16. und 17. Jahrhundert. Löhr (2002), 164, weist auf Kippenberg und Bochinger hin: Kippenberg (1997), 40 (zu Arthur Schopenhauer); 69 (zu F. Max Müller); 150 – 152 (zu Erwin Rohde und Ernst Troeltsch); 176 (wiederum Troeltsch); 191 f (zu Wilhelm Dilthey); 245 – 249 (zu Emil Hammacher, Eugen Dietrichs u. a., William
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2.4 Neuere Ansätze
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jektsprachlichen Gebrauches des Wortfeldes Mystik liefern wichtige historische Einsichten, tragen aber nicht zu einer systematischen Begriffsbildung auf der Metaebene bei bzw. wollen zu einer solchen nicht beitragen. Wenden wir uns systematischen Ansätzen zu. Ein solcher wäre, auf den Mystiker in seinem sozialen Kontext abzustellen. So nähert sich etwa Jacques Waardenburg dem Begriffsfeld ,Mystik‘ über die soziale Rolle des Mystikers an. Die Verinnerlichung seiner Erfahrung führten zu einer Veränderung der Person; diese erlange besondere Autorität, ihr würden oft charismatische Züge zugeschrieben, während sein soziales Verhalten nach den Vorstellungen der Gemeinschaft dem eines Heiligen entsprechen könne. Dabei bilde der Mystiker Gemeinschaft von innen heraus, nicht von außen: „die mystische Erfahrung ,steckt an‘“.272 Neben dieser religiösen Rolle habe aber der Mystiker, wie andere religiöse Autoritäten auch, weitere soziale Rollen.273 Diese Betonung der sozialen Rolle findet sich auch bei Victor Turner, der innerhalb von komplexen Gesellschaften im Gefolge Max Webers Priester und Prophet als Formen religiösen Expertentums unterscheidet. Während die Autorität des Priesters auf Amt und Tradition beruhe, gründe sich die des Propheten auf Offenbarung und persönlichem Charisma.274 Werde der Priester nun zum Propheten für seine Anhänger, so stünde er seitens der vormaligen Oberen in Häresieverdacht.275 Der Mystiker sei ein Spezialfall eines Trägers von persönlichem Charisma, neben anderen Fällen wie „contemplative“, „ascetic“, „preacher“, „teacher“ oder „administrator“.276 Der katholischen Kirche nun sei es gelungen, die Mystiker und Visionäre innerhalb der kontemplativen Orden unter Kontrolle zu bringen; als Mystiker werde dabei derjenige bezeichnet, der den Anspruch erhebt, ein „experimental knowledge of God’s presence“ zu haben.277 Dabei wird deutlich, daß der Mystiker von Turner zum einen über seine behauptete Erfahrung, zum an-
272 273 274 275 276 277
James); 252 f (zu Rudolf Otto); Bochinger (1995), 92 – 99 (zu Ernst Troeltsch). Weiter bei Stolz (2001), 55 (zu Max Weber); 67 (zu Paul Radin); sein eigenes Verständnis von Mystik dann 133. Auch Hock (2002), 85; 97 f (im Hinblick auf den Mystiker als einen Typ religiöser Autorität die Linie Max Weber – Joachim Wach – Günter Lanczkowski); 91 (zu Lucien L¦vy-Bruhls „participation mystique“); hingegen 130 (ohne weitere Untersuchung der Bedeutung des Begriffes Mystik bei diesem zu William James); 135 (zu Abraham H. Maslow). Schmidt (2003), mit einer Darstellung des Mystikdiskurses von der Kritik der englischen Aufklärung bis zur Wiederbelebung in transzendentarischen unitarischen Kreisen in den USA im 19. Jh.; Schmidt versucht die Lücke zwischen Certeau (1992) und den Studien zu schließen, die lediglich den Diskurs seit Mitte/Ende des 19. Jh. nachzeichnen. Interessant im Hinblick auf unser Interesse an der modernen Konstruktion und Verwendung des Konzeptes ,Mystik‘ seitens des religiösen Subjekts die Fallstudie zu Mary Butts vorgelegt von Foy (2000). Haas (2004) zum Begriff der unio mystica. Waardenburg (1986), 183. Waardenburg (1986), 180. Turner (1997), 78 – 79. Turner (1997), 80. Turner (1997), 83. Turner (1997), 84.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
deren über seine soziale Rolle, die ihm dadurch zukommen kann, bestimmt wird. Seine soziale Rolle wiederum führe ihn dabei direkt in die Gefahr, als Häretiker betrachtet zu werden. Damit kehrt Turner etwa Menschings Ansatz um: auch er sieht Erfahrung und soziale Rolle als die zwei tragenden Aspekte von Mystik, konzentriert sich jedoch – anders als Mensching – auf die soziale Rolle des Mystikers. Diese Perspektive, die gerade die soziale Rolle des Mystikers in den Blick nimmt, hat den Vorzug, das von der Phänomenologie nahegelegte Bild des Mystikers als des Einsamen und Asozialen in Frage zu stellen und gerade sein notwendiges Bezogensein auf eine soziale Umwelt zu analysieren. Ein weiterer moderner Zugriff auf mystische Texte gründet sich auf eine literaturwissenschaftliche ästhetische Analyse; hier wäre z. B. die wenig rezipierte Arbeit von Rainer Topitsch zu nennen: „Mystische Texte“ rangieren hier (neben „prophetischen“, „alchimistischen“ und „religiösen“ Texten) als besonderer Fall „halluzinatorischer Texte“. Die mystischen Texte werden insoweit behandelt, als sie vom „standardisierten religiösen und esoterischen Denken“ abweichen.278 „Intensivierte, radikale, andere Formen von Körperlichkeit“ würden durch solche Texte zum Ausdruck gebracht.279 Der halluzinatorischen (und somit auch der mystischen) Literatur scheine die ritualisierte Form der sinnlichen Gotteserfahrung unglaubwürdig, es manifestiere sich der „Wunsch nach authentischer und sinnlicher Wahrnehmung“280 – dies berührt sich etwa mit Heilers Vorstellung vom „suchenden Bildungsmenschen“, der mit traditionellen Formen religiöser Praxis unzufrieden sei (s. o.). Obgleich natürlich hinsichtlich der Kategorien ,Mystik‘ und auch ,Religion‘ eine gewisse Naivität durchscheint, die sich in der Ausblendung der Notwendigkeit einer zumindest provisorischen, pragmatischen Begriffsabgrenzung von Religion, Mystik und Prophetie zueinander manifestiert,281 so ist doch die Stoßrichtung, die Texte in Hinblick auf Körperlichkeit zu lesen, durchaus heuristisch wertvoll. 278 Topitsch (2002). Topitsch will „halluzinatorisch“ nicht als Gattungsbegriff, sondern als Strukturprinzip verstanden wissen (20). „In halluzinatorischen Texten wird eine hochgradig ,andere‘ – zur gewöhnlichen Wirklichkeit differente – Realität dargestellt. Dies geschieht auf sehr undistanzierte Weise: Die Erfahrung der ,anderen‘ Realität wird von Autoren halluzinatorischer Texte als vollkommen wirklich und authentisch beschrieben, so als hätten sie diese tatsächlich erfahren. Halluzinatorische Texte bringen die Präsenz des ,Anderen‘ zum Ausdruck“ (10). Dabei soll halluzinatorisch keinesfalls in die Nähe psychischer Krankheiten rücken (16; 19 f), Körperlichkeit wird positiv bewertet (16), die Frage nach der Pathologie wird bewußt nicht nur ausgeklammert, sondern für obsolet erklärt (17). 279 Topitsch (2002), 14. 280 Topitsch (2002), 250. 281 Wesentliche Literatur zum Problemfeld ,Mystik‘ wird nicht herangezogen; zum Religionsbegriff findet sich nicht ein religionswissenschaftlich einschlägiger Titel. S. das Literaturverzeichnis Topitsch (2002), 465 – 508. Dabei wird sich ganz direkt auf die „Religionswissenschaften“ bezogen (10) – siehe dazu die negative Einschätzung zum Gebrauch des Plurals „Religionswissenschaften“ bei Rudolph (1988), 38 f.
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2.4 Neuere Ansätze
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Damit rückt der Komplex religiöser Erfahrung in den Vordergrund, der in der modernen Mystikforschung weiterhin prominent ist, wir haben diese Tradition von Schleiermacher an verfolgen können. In den modernen Diskussionen ist dabei vor allem die Zugänglichkeit bzw. Genese mystischer Erfahrungen in den Vordergrund gerückt. So hat z. B. Steven T. Katz mit einer Reihe von vier Sammelbänden auf die Kontextgebundenheit mystischer Erfahrung hingewiesen.282 Dieser Ansatz unterscheidet sich von einem essentialistischen Zugang – wie oben im Hinblick auf die Religionsphänomenologie dargestellt – im wesentlichen dadurch, daß er mystische Erfahrung durch ihren soziokulturellen, historischen und religiösen Hintergrund bedingt ansieht und daher nicht von der Prämisse ausgeht, eine ,reine‘ mystische Erfahrung sei in allen Religionen diesselbe, so Katz selbst.283 Während der erste Band (1978) das epistemologische Argument entfaltet, wendet sich der zweite Band (1983) der Frage nach Mystik und religiöser Tradition zu, der dritte Band (1992) der Sprache und der vierte Band (2000) der Interpretation ,Heiliger Schriften‘ in verschiedenen mystischen Traditionen. Ein besonderes Augenmerk widmet er der Rolle von Idealen und Modellen in der mystischen Literatur.284 Dabei muß allerdings wohl der Kritik Bernard McGinns an Katz (2000) dahingehend zugestimmt werden, daß zunehmend die vergleichende Reflexion des theoretischen Rahmens in Form eines Konzeptes ,Mystik‘ einer Fülle von Studien zu Einzelproblemen weicht.285 Der Beitrag der Religionswissenschaft müßte und kann hier darin liegen, beides miteinander zu verbinden: Reflexion des systematischen Inventars und exakte historische Arbeit. Auch Wayne Proudfoot behandelt religiöse Erfahrung: gestützt auf eine Analyse des Diskurses über religiöse Erfahrung286 zeigt er, wie sehr diese nicht nur von doktrinalen, konzeptuellen oder epistemologischen Vorannahmen abhängt, sondern auch, durch welche dieser Konzepte die religiöse Erfahrung – selbst als ein Konzept – bei Schleiermacher, Otto, James oder Barth eine solch zentrale Rolle einnehmen konnte.287 In seinem Kapitel zur Mystik kommt er dann zu dem Ergebnis, daß die Berichte religiöser Subjekte über ihre mystische Erfahrung nicht als Berichte über die Erfahrung selbst gelesen werden könnten, sondern vielmehr nur Aussagen darüber zuließen, von welchen philosophischen oder theologischen Grundannahmen ausgehend
282 Katz (1978); (1983); (1992); (2000a). 283 Im Vorwort seines vierten Sammelbandes Katz (2000), 3. 284 Katz (1982); ders. (2004), 194 f. Dies ist genauso wichtig wie die Einsicht Proudfoots, (1985), daß es sich bei der Verwendung von (auto-)biographischen Erfahrungsberichten selbst um Topoi des mystischen Literaturbetriebs handele; dazu auch Peters (1988). 285 McGinn (2002). 286 Mystik wird z. B. bei Monk/Hofheinz/Lawrence (1980), 81 – 84, als Spezialfall religiöser Erfahrung gehandelt. 287 Proudfoot (1989).
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
eine irgend geartete Erfahrung seitens des religiösen Subjekts interpretiert werde: The observer must cite the subject’s description in order to identify the experience adequately, but he need not indorse that description nor the beliefs it assumes. The experiences of mystics do offer hypotheses, but they do not establish a presumption. They are testimonies not to some direct perception but to the beliefs that enter into the identification of the experience.288
Für die historisch arbeitende Religionswissenschaft, die nun einmal auf den Text als solchen angewiesen ist und keinen direkten Zugang zum religiösen Subjekt wie z. B. die sozialwissenschaftlich arbeitende Gegenwartsforschung hat, ist es umso mehr geboten, sich auf diesen als Text – d.h als literarisches Produkt – zu konzentrieren. Die Kategorie Erfahrung – und der endlose Streit darüber, ob es sie gibt, was sie ist, was dann im besonderen mystische Erfahrung ist, ob es mehrere mystische Erfahrungen gibt, oder doch nur eine – ist im Kern bereits für die Religionswissenschaft irreführend, da nicht einmal bestimmbar ist, was Erfahrung als solche eigentlich ist. Spannend ist dann der Blick auf Texte, die über Erfahrung handeln: nämlich als unterschiedliche Beiträge zum Wortspiel (im Wittgensteinschen Sinne) ,Erfahrung‘, so Robert H. Sharf.289 Die Skizze einer Forschungsdebatte zeigt die Dynamik dieses Ansatzes bereits: ein Zugang zu mittelalterlichen und klassischen Texten, der diese als psychologische „accounts“ für außerordentliche Erfahrungen liest, ist substantieller Kritik ausgesetzt.290 So untersucht Denys Turner die Verwendung der zentralen Metaphern „exteriority“, „interiority“ und „ascent“ exemplarisch in christlichen mystischen Texten von der Antike bis zur frühen Neuzeit und kommt zu dem Schluß, daß diese in den als mystisch gehandelten Texten zentral für die Deskription des Aufstieges der Seele zu einem Gott seien. Dabei unterscheidet er Beschreibungen 1. und 2. Grades, nämlich zum einen die kataphatische Verwendung konkurrierender negativ-affirmativer Bilder und zum anderen die apophatische Negation der Negation der ersten Ebene. Dies sei einer Entwicklung unterworfen; so führten Marguerite Porete und Meister Eckhart zu einer Wende: die theologische Apophase sei gesteigert zu einer radikalen apophatischen Anthropologie, die im Falle Eckharts die ontologische Hierarchie des Areopagiten abschwäche.291 Experimentalismus, den Turner kurz als Positivismus christlicher Spiritualität definiert, sei nun nicht der richtige Zugang; gerade die Zuschreibung einer Erfahrung von Negativität sei voreilig im Hinblick auf die Tradition apophatischer Rhetorik.292 Turner betont, daß niemand der von ihm untersuchten Personen 288 289 290 291 292
Proudfoot (1989), 119 – 154, hier 154. Sharf (2000). Turner (1995a); Jantzen (1995); King (1999); King (2005), 320. Turner (1995a), bes. 252 – 259. Turner (1995a), 259. Kritisch dazu Hart (2003), bes. 200 – 202, der wiederum innerhalb von
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2.4 Neuere Ansätze
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,Mystik‘ praktiziert habe, sondern seine jeweilige Religion: Mystik sei ein modernes Konzept.293 Dieses werde nun zusammen mit einem ebenfalls modernen Konzept von Experimentalismus in die mittelalterlichen Texte ,zurückgelesen‘, die gerade schon die Möglichkeit, überhaupt Erfahrungen zu machen, verneinten.294 Dabei mache gerade die Abwesenheit von Erfahrung die apophatische Tradition aus: I have argued that not even in The Cloud of Unknowing (which McGinn cites in support of his position) is the apophatic ‘unknowing’ to be described as the experience of negativity (McGinn’s ‘experience of absence’), rather it is to be understood as the negativity of experience (the absence of ‘experience’).295
Turner hatte McGinns Definition von Mystik kritisiert, mit dem Einwand, daß dessen zentrales definitorisches Kriterium einer „consciousness of the presence of God“ gegenüber einem Experimentalismus ebenso anfällig sei; zudem sei nicht klar, wie der Historiker auf ,Bewußtseinszustände‘ besser zugreifen könne, als auf persönliche Erfahrung.296 Diese Kritik ist so bei näherer Betrachtung nicht haltbar, macht doch McGinn – trotz aller (geschichts-) theologischer Prämissen297 – gerade entschieden deutlich, daß genau dort das Problem läge: Those who define mysticism in terms of a certain type of experience of God often seem to forget that there can be no direct access to experience for the historian. Experience as such is not a part of the historical record. The only thing directly available to the historian or historical theologian is the evidence, largely in the form of written records, left to us by the Christians of former ages. Until recent years, overconcentration on the highly ambiguous notion of mystical experience has blocked careful analysis of the special hermeneutics of mystical texts, which have usually been treated without attention to genre, audience, structure, and even the simplest procedures for elucidating study of the text.298
McGinn macht im folgenden deutlich, daß es ihm zudem dabei nicht darum geht, zu bestimmen, ob eine Person Mystikerin oder Mystiker sei oder nicht, sondern vielmehr, die Relevanz für eine bestimmte theologische Texttradition und deren Entwicklung aufzuzeigen.299 Der entscheidende Punkt ist dabei, daß die Frage, ob der Mystiker bestimmte Bewußtseinszustände erfährt oder nicht, hinter der Analyse der textinternen Hermeneutik und der Kontextualisierung
293 294 295 296 297 298 299
mystischen Texten mit apophatischer Tendenz Erfahrung als „experience of nonexperience“ ausmachen will. Turner (1995a), 260 f. Dazu McGinn (1992), xvi. Turner (1995a), 261. Turner (1995a), 264. Turner (1995a), 262 f. McGinn (1992), xii. McGinn (1992), xiv. So jüngst dann auch Harmless (2008), bes. xi; 228. McGinn (1992), xv.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
des Textes innerhalb einer Tradition zurücktritt. Die Einsicht, daß mystische Erfahrung als solche nicht empirischer Forschung zugänglich ist, hat eine wichtige Konsequenz: die theoretische Trennung zwischen ,Mystik‘ auf der einen und ,mystischer Theologie‘ auf der anderen ist obsolet, da sich ja innerhalb der empirischen Grenzen einer historisch-philologischen Mystikforschung folglich kein Unterschied auf der Objektebene machen läßt.300 Nun führt Turner wiederum ins Feld, daß die Ähnlichkeit zwischen mittelalterlichen Autoren und Mystikern späterer Zeiten bis in die Moderne nur vordergründig sei. Gleichob die bemühte Metaphorik dieselbe sei – die epistemologischen Prämissen seien andere.301 Dazu kann verschiedenes angebracht werden. Zunächst ist es richtig, die verschiedenen Autoren in ihren Kontext einzuordnen. Dabei kommen sicher bisweilen Diskontinuitäten zum Vorschein; allein diese Diskontinuitäten sind nur dann ein Argument gegen die Rede von Mystik (zumindest innerhalb einer Tradition), wenn die Homogenität eines Phänomens behauptet würde und nicht bloß die Existenz einer Tradition, die naturgemäß von Rezeption und Interpretation lebt. Es ist jedenfalls nicht zu erkennen, daß McGinn jenes behauptet.302 Wichtig ist jedoch die hier von Turner noch einmal explizit formulierte Warnung, mittelalterliche Autoren nicht im Sinne eines (modernen) Experimentalismus zu interpretieren.303 In ähnlicher Weise zeigte Ursula Peters, daß die Suche nach einem „Substrat“ persönlicher Erfahrung in frauenmystischen Texten des 13. und 14. Jahrhunderts in die Irre führt und zudem den Prozeß mittelalterlicher Literaturgenese verkennt. So konnte Peters etwa die Abhängigkeit von hagiographischen Topoi gut nachzeichnen sowie den Entstehungsprozeß als den literarischer Werke illustrieren.304 Die Skizze dieser Debatte hat gezeigt, daß eine Konzentration auf religiöse Erfahrung nicht zum Verständnis mystischer Texte beiträgt. Dennoch ist auch in neuerer (zumeist theologischer) Literatur eine Bestimmung von Mystik zu
300 So verstehe ich hier auch McGinn (1992), xiv. Seine Anm. 4 (ebd.) jedoch, die der Dreiteilung Mystik – Mystologie – Mystagogie positiv gegenübersteht, spräche gegen diese Interpretation. Dennoch scheint es schwer, eine andere Lesart des Haupttextes im Hinblick auf seine Konsequenz für die historische Forschung zu entwickeln. Verständlich wird diese scheinbare Ungenauigkeit dann, wenn man McGinn so versteht, daß er theoretisch die Realität von mystischer Erfahrung offenhalten will; dies wäre mit einem methodischen Agnostizismus noch vereinbar, innerhalb der aufgezeigten empirischen Grenzen. S. zu der Position der genannten Dreiteilung Balthasar (1974), 52. 301 Turner (1995a), 266 f. 302 McGinn (1992), xi f läßt – sieht man einmal von den theologischen Intentionen ab – genau den umgekehrten Schluß zu. 303 Turner (1995a), 267 f. 304 Peters (1988), bes. das Resümee 189 – 194.
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2.5 Religionswissenschaftliche Fundamentalkritik
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finden, die auf der Annahme besonderer religiöser Erfahrungen beruht; so macht sich Steven Fanning etwa die Definition Evelyn Underhills zu eigen.305
2.5 Religionswissenschaftliche Fundamentalkritik an der Verwendung des Mystikbegriffes In der Religionswissenschaft wurde seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Forderung erhoben, ,Mystik‘ müsse aus dem Begriffsinstrumentarium der Religionswissenschaft verbannt werden; Gebhard Löhr hat die Debatte zusammengefaßt und dabei besonders die Arbeiten von Hans Penner und Eric Sharpe betont.306 Mystik sei eine Illusion, die verschiedenen defizitären Definitionsversuche ein Indiz dafür, daß es eben keinen Gegenstand ,Mystik‘ an sich gebe, so Penner.307 Allein die Verwirrung, die durch die verschiedenen Verständnisse und Definitionen ausgelöst werde, evoziere das Gefühl, daß der Begriff ,Mystik‘ wenn nicht ausgeschlossen, so doch sehr vorsichtig verwendet werden solle, so Sharpe.308 Und in der Tat ist diese Position nicht unbegründet; die „Encyclopedia of Religion“ etwa stellt hinter das Eingeständnis, daß es keine Definition geben könne, eine mögliche Definition von Mystik und eine Auflistung verschiedenster Sachverhalte309 aus unterschiedlichen Religionen, die als ,mystisch‘ gehandelt würden.310 Ein weiter reichender Vorschlag Löhrs ist es nun, lediglich noch die Verwendung des Begriffes ,Mystik‘ selbst – als religiöse Fremd- oder Selbstbe305 Fanning (2001), 2; in den dortigen Anmerkungen weitere Hinweise auf z. T. neuere Literatur, die es ihm gleichtut. 306 Löhr (2002) und (2006). 307 „[…] ‘mysticism’ is an illusion, unreal, a false category which has distorted an important aspect of religion.“ Penner (1983), 89. Ferner : „The various attempts at defining mysticism clearly suggest that there simply is no identifiable subject for study.“ Ibid., 94. Sowie: „In fact, the term mysticism now covers a host of beliefs and experiences which have no relation to each other whatsoever.“ Ibid., 95. 308 „The term ‘mysticism’ itself permits of no precise definition, and its use in almost any discussion leads to untold confusion – so much so, that I sometimes felt that it ought to be, if not strictly excluded from scholarly discussion, at least used very sparingly and with the greatest of care.“ Sharpe (1983), 98. 309 ,Sachverhalt‘ statt ,Phänomen‘ darf hier als Abgrenzung zu der Art von Religionswissenschaft (,Phänomenologie‘) gelesen werden, die nach einem Wesen von Religion hinter ihren Erscheinungsformen sucht. So verwendet bei Seiwert (1981); dazu auch Rudolph (1992), 47, bes. seine Anm. 14b. Zur Religionsphänomenologie siehe Zinser (1988); Figl (2003), 24 – 27. 310 Dupr¦ (1987) bemüht sich eingangs um eine etymologische Herleitung, erkennt dann aber, daß wohl die ursprüngliche Wortbedeutung nicht mit dem übereinstimmt, was er mit Mystik bezeichnen wird. Er referiert sodann knapp William James’ Charakteristika der Mystik, spricht aber dann en passant von einer „family resemblance“ der als unterschiedlich angenommenen Erfahrungen verschiedener Mystiker bzw. mystischer Schulen (246).
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
zeichnung – zu untersuchen.311 In der Konsequenz hieße dies, die metasprachliche Rede von Mystik zu Gunsten einer Analyse der objektsprachlichen Rede über Mystik aufzugeben. Als gewichtigstes Argument wird ins Feld geführt, daß ein Gegenstand ,Mystik‘, der keine Entsprechung auf der Objektebene habe, nur konstruiert werde.312 Doch dieser Einwand müßte dann gegen eine Vielzahl der Begriffe aus dem religionswissenschaftlichen Instrumentarium ins Feld geführt werden: man denke nur an Religion.313 Dabei muß man zu diesem Standpunkt wohl mindestens zwei verschiedene Gegenpositionen unterscheiden. Im ersten Falle würde eine Wesenhaftigkeit der Mystik behauptet werden (=Phänomenologie). Im zweiten Falle würde Mystik nur als Sammelbegriff verstanden, in welchem bestimmte Phänomene, die eine Ähnlichkeit aufweisen, zusammengefaßt würden, so wie es etwa James und Saler für den Religionsbegriff handhaben (dazu S. 45, 48, 51, 102).314 Das Problem des Verhältnisses von Allgemeinbegriff und Einzeldingen hat die abendländische Philosophie von jeher beschäftigt, man denke etwa an Platons Phaidros (249b–c): Platon beschreibt die Wiedererinnerung an eine Idee, die nicht Bild, nicht Begriff ist, um metaphysisch zu begründen, was etwa bei Wittgenstein sprachlogisch beschrieben und erklärt werden soll. So bemerkt Platon, wenn er im Anschluß an das Gleichnis des Seelenwagens über das Schicksal der menschlichen Seelen spricht, daß es „Aufgabe des Menschen sei […], die Wahrnehmungen denkend in Eines zusammenzufassen“315 : „De? c±q %mhqypom numi´mai jatû eWdor kec|lemom, 1j pokk_m Q¹m aQsh^seym eQr 4m kocisl` numaiqo}lemom.“316 (Wörtlich etwa: „Denn der Mensch muß nämlich das gattungsmäßig Ausgesagte begreifen, welches ausgehend von vielen Sinneswahrnehmungen durch den Verstand zu einem Einzigen zusammengefaßt wird“). Empirisch begründet werden kann diese Annahme sicher nicht mit der platonischen Wiedererinnerung der Seele, wohl aber mit der Tatsache, daß zwischen verschiedenen Dingen auf der Objektebene eine gewisse Ähnlichkeit bestehe, mit Wittgenstein: Familienähnlichkeit. Das bedeute, daß nicht ein Merkmal bei allen Mitgliedern der Familie vorliege, wohl aber eine bestimmte Gruppe aus der Familie ein bestimmtes Merkmal aufweise, eine weitere Gruppe ein weiteres Merkmal usw.; zwischen den verschiedenen Merkmals311 Löhr (2002), 164; (2006), 128 f. Kritik an einer solchen Forderung, lediglich noch eine Geschichte etwa des Begriffes mystical experience, die Ähnlichkeit zu Wilfred Cantwell Smith Demontage von religion zeige, zu schreiben, wurde breits von Proudfoot (1985), 124, formuliert. 312 Zuletzt Löhr (2006), 126; Löhr bezieht sich auf Penner (1983). 313 Zur Problematik der Religionsdefinition siehe nur etwa den schönen Sammelband Platvoet/ Molendijk (1999). 314 James (1901/02); Saler (1994). Für ein ähnliches Vorgehen beim Ritualbegriff siehe Snoek (2006), 4 – 6 und 10 – 14. 315 Dönt (1968), 369. 316 Platon, Phaidros, 249b–c.
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2.5 Religionswissenschaftliche Fundamentalkritik
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gruppen könne es nun Schnittmengen geben. Das Gefühl einer Verwandtschaft entstehe.317 In dieser Lesart ränge Platon dann in gleicher Weise mit dem beobachtbaren menschlichen Streben, Wahrnehmung begrifflich zu ordnen.318 Ähnliche Beobachtungen liegen dem Ansatz zu Grunde, einen ,mystischen Kanon‘ zu untersuchen, wie Bernard McGinn oder Kurt Ruh es vorschlagen und auch Volker Leppin es aufnimmt.319 Mit Kanon meinen sie einfach die Summe der auf der wissenschaftlichen Sprachebene als mystisch gehandelten Texte: es existiert offenbar eine ,gefühlte’ Verwandtschaft zwischen diesen Texten aus verschiedenen Kontexten. Diese Auswahl ist nicht willkürlich, sondern wird von verschiedenen Faktoren bestimmmt, deren wichtigster die Zuschreibung auf der religiösen Objektsprache, hier besonders die europäische Religionsgeschichte, ist. Dementsprechend bemerkt auch jüngst Harmless zu einer allgemeingültigen, abschließenden Definition von Mystik: „Definitions help, but scholarly consensus also plays a role in defining what does and does not fit in a canon of literature.“320 Die Wissenschaftssprache unterliegt der ideogrammatischen Limitation. Die Begriffsbildung erfolgt, wie von Wittgenstein richtig betont, ausgehend von den normalen Mitteln des Sprachgebrauchs. Das Modell ist in der Hauptsache durch eine Metapher gut zu illustrieren: das Begreifen als das gedankliche Fassen (ausschließlich) vermittels Sprache ist nichts anderes als das Greifen eines Balles. Und so wie es viele mögliche verschiedene Ansatzpunkte und Griffe geben kann, sind sich doch alle Zufassenden einig, denselben Ball zu berühren. So entsteht, wissenschaftssprachlich ausgehandelt, dieser mystische Kanon, der hier angenommen wird, der je nach Erkenntnisinteresse aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Dies ist im übrigen nicht nur auf der Ebene des metasprachlichen, religionswissenschaftlichen Sprechens über Mystik der Fall, der Mystiker schafft sich ebenfalls über die Texte, in deren Tradition er sich stellt, einen – wieder literaturwissenschaftlich gesprochen – Kanon mystischer Literatur.321 Wieder mit Wittgenstein gesprochen: eine reine von der Alltagssprache komplett losgelöste Wissenschaftssprache ist nicht möglich.322 Hieran kann wiederum die Dialektik religionswissenschaftlicher Begriffbildung gezeigt werden: ausgehend vom Kanon auf der Objektebene wird der metasprachliche mystische Kanon 317 Bes. Wittgenstein, Phil. Grammatik 1.1.35 = Wittgenstein (1989), 74 – 76; Phil. Grammatik 1.6.74 – 77 = Wittgenstein (1989), 117 – 122. 318 Während bei es für Wittgenstein jedoch bei einem Spiel mit Relationen bleibt, ist das eWdor für Platon das eigentliche Wesen der Dinge. 319 Ruh (1990), 14; McGinn (1992), xiv f; Leppin (2007), 8 f. 320 Harmless (2008), 229. 321 Harmless (2008), 235. 322 Während der frühe Wittgenstein eine solche noch schaffen wollte, kehrte er diesem Unternehmen später aus den genannten grundsätzlichen Erwägungen heraus den Rücken zu, so Krüger (1994).
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
ausgehandelt, nicht etwa in scharfen definitorischen Grenzen, sondern innerhalb der oft nur gefühlten bzw. partiell als Familienähnlichkeit vorhandenen Verwandschaft. Während sich natürlich die Rekonstruktion auf der Objektebene und die sprachliche Analyse derselben an die Grenzen etwa der Semantik des Textes halten muß, kann der metasprachliche Gebrauch diese Grenzen überschreiten. So muß dann hier ein weiterer oft gelesener Einwand gegen die Verwendung des Begriffes ,Mystik‘ für im besonderen hochmittelalterliche Texte angesichts des Gegenstandes noch erörtert werden: der Begriff Mystik erfahre in den lateinischen mittelalterlichen Quellen kaum Verwendung. Wenn aber, dann doch mit einem anderen Bedeutungsgehalt als in der Gegenwart in ,Mystik‘ gelegt werde.323 Dies ist hinsichtlich der Beobachtung ganz korrekt, hinsichtlich der Folge jedoch nicht zwingend, wie Kurt Rudolph gezeigt hat: so wird auch die Kategorie „heilig“ metasprachlich, d. h. seitens der Religionswissenschaft, z. B. für Texte verwendet, die nicht per Selbstdefinition (wie etwa die Reqo· k|coi), sondern nur ihres erkennbaren „sakralen“ Charakters wegen religionswissenschaftlich als „heilig“ bezeichnet werden; „heilig“ werde zum terminus technicus für eine Kategorie von Texten. Der Begriff ist Indikator für eine besondere Dignität, die einem Text – und folgendes ist entscheidend – seitens des religiösen Subjekts zugeschrieben wird, nicht aber seitens des religionswissenschaftlichen.324 Im Falle der Mystik bedeutet dies, daß mystische Texte auf Grund ihrer Verwandtschaft (im Wittgensteinschen Sinne) zu einem Kanon325 zusammengefaßt werden. Dabei ist es zunächst sogar unerheblich, ob der Begriff Mystik in ihnen selbst verwendet wird.326 Die Kritik an einem solchen Kanon, er sei konstruiert, so wie Mystik ein Konstrukt der Nachaufklärung sei,327 trifft wohl zu, verfehlt aber den entscheidenden Punkt: die Konstruktion ist nicht willkürlich, wie oben gezeigt, da Ähnlichkeiten – Verwandtschaften im Wittgensteinschen Sinne – diesem Prozeß zu Grunde liegen. Obgleich Michel de Certeau zeigen kann, daß der Terminus Mystik („la mystique“) ein Produkt des 17. Jahrhunderts ist und Texte erst im nachhinein als mystisch ,kanonisiert‘ wurden, obwohl ihre Autoren mit ,mystisch‘ etwas anderes bezeichneten als ein ex post herangetragenes Verständnis von Mystik, läßt sich nochmals dagegenhalten, daß metasprachliche Begrifflichkeit nicht mit der objektsprachlichen deckungsgleich
323 Sommerfeldt (2004a), 4 – 5: bei Bernhard und anderen sei der Ausdruck theologia mystica gebraucht worden “simply to describe an allegorical meaning assigned to a scriptural passage”. 324 Rudolph (1988), 44 – 47. 325 Ruh (1990), 14; McGinn (1992), xiv f; Leppin (2007), 8 f. 326 Rudolph (1985), 106: „The ‘self-understanding of the believer’ cannot be a criterion for truth or correctness in the history of religions“. So auch Berner (2004), 15, der die Unterschiede und das Verhältnis zwischen dem Gebrauch des Begriffes ,Religion‘ auf der Objektebene und der Metaebene diskutiert. 327 King (1999), bes. 7 – 34. King zielt dabei besonders auf die Konstruktion eines „mystic East“ im kolonialen Zeitalter ab.
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2.6 Konsequenzen
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sein muß, sondern sich dialektisch aus ihr entwickelt.328 Die Konsequenz muß vielmehr sein, das Augenmerk auf Charakteristika des Textes zu legen, die gerade abseits des Klischees liegen. Stephen Katz’ Forderung nach einer Berücksichtigung des Kontextes (s. o.), die etwa in einem Versuch von case studies in neuerer Zeit bei Janet K. Ruffing oder William Harmless offene Ohren fand,329 wird so Rechnung getragen; der Unterschied zu Steven Katz aber liegt vor allem darin, daß hier am Ende nicht darauf abgezielt wird, zu entscheiden, ob es eine oder viele mystische Erfahrungen gibt, sondern lediglich als mystisch gehandelte Texte als Beiträge zum Diskurs über religiöse Erfahrung in ihr Umfeld einzubetten. Damit wird eben nicht mehr auf die Erfahrung, sondern auf den Text als Reden über religiöse Erfahrung abgestellt; damit versuche ich deutlicher die unterschiedlichen Sprachebenen zu betonen: die religiöse Objektebene und die religionswissenschaftliche. Damit löse ich das Problem, daß Erfahrung eben nicht empirisch faßbar ist, anders etwa als Volker Leppin, der eine besondere religiöse Haltung des Mystikers als Kriterium einer besonderen – eben mystischen – Erfahrung vorzieht.330
2.6 Konsequenzen für die folgende Untersuchung Die Darstellung der Geschichte des religionswissenschaftlichen Mystikdiskurses hat seine Wurzeln in theologischen Positionen beleuchtet. Die Fachgeschichte der Religionswissenschaft ist in ihrer Entstehungsphase untrennbar mit der protestantischen Theologie verbunden. Selbst F. Max Müller, dessen Werk kein Interesse an Mystik zeigt, ist im Hinblick auf seine Religionsdefinition zutiefst von Schleiermacher beeinflußt, und er verwendet den Terminus Mystik – wie die liberalen Theologen Ritschl und Harnack – peiorativ. Anders, aber auch in Abhängigkeit – nämlich in Abgrenzung – von Katholizismus wie liberaler Theologie wird Mystik bei Friedrich Heiler Grundbegriff seines Programmes einer Kirchen- und Kulturkritik. Bei Rudolf Otto wird Mystik als gehäuftes Vorliegen numinoser Momente zum Irrationalen par excellence: „das Leben im Wunder des ganz anderen“ (s. o.). Aus diesen theologischen Wurzeln resultiert die Verengung der religionswissenschaftlichen Perspektive auf Stereotypen: auf die Suche nach einem Wesen der Mystik, auf mystische Erfahrung – insbesondere eine unio mystica –, Irrationalität, die Asozialität des Mystikers, sein Spannungsverhältnis zur Institution. Die neuere religionswissenschaftliche Kritik hat zwar – wie dargestellt 328 Dialektisch im Sinne von Hanegraaff (1998), 44 – 46: „Notice that the process of definition is not an analytical but a dialectical one. There is no reason to assume that the process is closed once a reasonably convincing definition has been formulated. Rather, the dialectics between etic theory [Außenbeschreibung] and emic material [Selbstbeschreibung] is an ongoing one.“ 329 Ruffing (2001), Harmless (2008). 330 Leppin (2007), 11.
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2. Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte
– ihre Berechtigung, greift aber in ihrer fundamentalen Ablehnung des Mystikbegriffes zu weit und verkennt die Dialektik religionswissenschaftlicher Begriffsbildung. Ein anderer Zugang ist es, anzuerkennen, daß zunächst einmal der Text als materielle Grundlage vorliegt, ein Zugriff auf die Erfahrung aber unmöglich ist. Sodann sollen mystische Texte nicht phänomenologisch und ahistorisch betrachtet werden, sondern in ihren historischen, kulturellen und sozialen Kontext eingeordnet werden. ,Mystik‘ soll dann nicht essentialistisch definiert, sondern als Wortfamilie im Wittgensteinschen Sinne aufgefaßt werden. Ausgehend vom Sprachgebrauch ist einfach festzustellen, daß aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten Texte in der europäischen Religionsgeschichte unter die Kategorie Mystik subsumiert wurden. Diese Gemeinsamkeiten können genausogut in Texten anderer religiöser Traditionen auftreten, was eine Erweiterung des begrifflichen Rahmens über den europäischen Rahmen hinaus ermöglicht. Diese Gemeinsamkeiten bilden nicht etwa den Kern dieser Texte, der unwandelbar in jedem mystischen Text vorläge, sondern sind Schnittmengen, die nicht abschließend aufgelistet werden können; dabei sind diese nicht beliebig, sondern entspringen den Texten und ihrer Geschichte. Nähert man sich der Familie ,Mystik‘ auf diese Weise an, so wird man am Ende möglicherweise feststellen, daß nicht jedes Familienmitglied mit anderen die gleichen Ähnlichkeiten teilt, mit manchen wiederum viele, mit wieder anderen gar keine. William Harmless sieht die Gefahr, Mystik könne in Mystiken zerfallen, es gäbe am Ende kein Gemeinsames aller Mystik mehr, was wiederum zu reinem Nominalismus führe.331 Es kann dagegengehalten werden, daß es hier ja nicht um die Existenz von Mystik als solcher geht, sondern vielmehr darum, zu erweisen, daß Mystik ein Begriff, eine systematische Kategorie ist, die sich nur allein daran messen lassen muß, ob sie zu einem besseren Verständnis der verhandelten Texte beiträgt. Muß man gelegentlich eingestehen, daß ein Text nach den angelegten Kriterien verwandt erscheint, wird nichts vergeben. Die Frage nach dem „real relationship“ oder „real basis“ ist mehr die Frage des Theologen als dessen, der lediglich versucht, seine Umwelt zu beschreiben.332 Die Wittgensteinsche Sprachphilosophie öffnet hier einen methodischen Zugang, der diesen Universalienstreit obsolet macht. So müssen sich Katz’ Gegner dann auch fragen lassen, was nun mit der Annahme eben doch wieder einer Erfahrung als Kern der Mystik gewonnen ist, was bei Ablehnung eines solchen Kernes verloren ginge. Wie bereits erwähnt, ist auch Katz’ Ansatz nicht vom Erfahrungszentrismus gelöst, behauptet er doch gegen die „perennial philosophy“ (A. Huxley) lediglich einen Erfahrungspluralismus, der durch den Einfluß des Kontextes, der die Erfahrung bestimmt, bedingt sei. Ertragreicher ist es jedoch, von der Frage nach der eigentlichen mystischer Erfahrung abzurücken, und Mystik vielmehr als po331 Harmless (2008), 257. 332 Harmless fordert diese beiden a. a. O.
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2.6 Konsequenzen
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lyphonen Diskurs über besondere religiöse Erfahrung zu begreifen, um dann über den Kontext ein tieferes Verständnis der Texte zu erreichen. Aus diesem methodischen Zugang heraus können sodann verschiedene neue Schnittmengen als Felder für die Mystikforschung geöffnet werden, indem man etwa danach fragt, welche Rolle dem Körper bei der diskursiven Beschreibung von und Anleitung zu dieser besonderen Erfahrung zugewiesen wird. Diese Vorgehensweise ist geeignet, Paradigmen der älteren Forschung entgegenzutreten, die klischeehaft die Beschäftigung mit Mystik betimmmt haben. Im Zentrum dieser Untersuchung soll dabei vor allem die Reflektion über körperliche Sinne und Sinneswahrnehmung in mystischen Texten stehen. Mit dieser Reflektion über die Sinne ist auch die Reflektion über den körperlichen Alltag des Mystikers verbunden. Gerade in der religiösen Praxis entsteht so eine Schnittmenge zwischen dem Alltäglich-Materiellen und Besonderen, die dieser Reflektion bedarf und diese gleichsam herausfordert und speist. So betont auch gerade Katz im Hinblick auf den sozialen Kontext mystischer Erfahrungen die Notwendigkeit, „elitäre“ monastische Gemeinschaften zu betrachten, und dabei besonderes Augenmerk auf ihre praktische Dimension zu werfen.333 McGinn hatte bereits die Verbindung von Theorie, Praxis und Ideal der Mystik im monastischen Rahmen hervorgehoben: „[…] it [the monastic layer of Christian mysticism] was closely tied to the values and practices of monasticism.“334 Von anthropologischer Seite her formuliert Talal Asad in Anlehnung an Marcel Mauss das Desiderat einer Untersuchung des Zusammenhanges zwischen körperlichen Praktiken und Mystik; er verweist auf den Zusammenhang beider in mittelalterlichen christlichen monastischen Gemeinschaften.335 Die Konstruktion eines Beitrags zu Mystik als Diskurs über besondere religiöse Erfahrung und der Rolle der Sinne soll nun exemplarisch anhand der Texte Bernhards von Clairvaux analysiert werden. Bernhard ist Meinungsführer einer textual community, ist in kirchenpolitische wie weltliche Angelegenheiten zutiefst verwickelt, kein Außenseiter und Häretiker, nein, er selbst verfolgt Abweichler. Es ist zu fragen, inwieweit der Topos vom Mystiker als dem Einsamen, dem Häretiker, dem Asozialen par excellence noch Bestand haben kann, ob gerade die Verbindung zwischen Mystik und Innerlichkeit und Bewegungslosigkeit, ja Apathie, bisweilen den Blick auf die Einbettung mystischer Autoren in ihr Lebensumfeld verstellt hat.
333 Katz (2004), 199, spricht von einem „set of practices“. 334 McGinn (1992), xiii. Ähnlich jüngst (2008), xiv; 246 ff. 335 Asad (1993), 76 f, 125 – 167.
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3. Bernhard als mystischer Theologe – Grundzüge 3.1 Einführung 3.1.1 Zur Forschungsgeschichte Eine Geschichte der Bernhardforschung zu schreiben dürfte mittlerweile unmöglich sein, wollte man denn wirklich jeden größeren oder kleineren Beitrag beachten. Ein unschätzbares Hilfsmittel für das 20. Jahrhundert stellt die Bernhardbiographie Peter Dinzelbachers dar, die sorgfältig wesentliche Literatur des deutschen und englischen Sprachraums sowie die Veröffentlichungen der Romania zusammenstellt;1 die Forschungsgeschichte zu Bernhards Nachleben hatte bereits in einem früheren Beitrag Ulrich Köpf skizziert.2 Ein gerade erschienener „Companion to Bernard of Clairvaux“ stellt in einer Reihe von Einzelbeiträgen noch einmal wichtige Linien der Forschung dar, wenngleich sehr selektiv : etwa zu Bernhard und Wilhelm von St. Thierry, Bernhard und Peter Abaelard, Bernhard über die Kunst und in der mittelalterlichen Kunst sowie mit zwei Beiträgen zur Textstruktur.3 Ich möchte mich im folgenden auf einige Beiträge konzentrieren, die den Mystiker Bernhard über die Frage nach mystischer Erfahrung hinaus in einen weiteren Zusammenhang stellen. Versuche der Kontextualisierung bernhardinischer Mystik haben sich in der Vergangenheit häufig psychologisierend auf hochmittelalterliche Liebesund Erotikkonzepte und unterstellte sexuelle Erfahrungen konzentriert. Zu den erotischen Bildern in Bernhards Hoheliedpredigten schreibt Carl Stange in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Für diese Entartung der christlichen Frömmigkeit Bernhards trägt aber auch sein Mönchtum einen wesentlichen Teil der Verantwortung. In der Vermischung der christlichen Liebe mit der Erotik wirkt sich die Verwirrung des mönchischen Gefühlslebens aus.4
1 Dinzelbacher (1998), bes. das „Nachwort zu Quellen und Literatur“, ibid. 363 – 370. Dinzelbacher zählt hier etwa 4500 Veröffentlichungen zu Bernhard und 1000 zur Geschichte der Zisterzienser. Dabei wäre allein die Unterscheidung von wissenschaftlichen und devotionellen Titeln eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Einen hervorragenden Ausgangspunkt bietet für die Literatur bis 1996 auch Dinzelbacher (1996b). 2 Köpf (1994a), als Einleitung in Elm (1994). 3 McGuire (2011). 4 Stange (1954), 19.
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3.1 Einführung
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Diese Interpretation beruht darauf, daß Bernhard in der Beschreibung seines Erlebens Bilder der körperlichen Liebe zwischen Menschen verwendet. Zwar entnehme er sie dem Text des Hohenliedes und wende sie sogleich auf geistige Liebe zwischen Gott und Mensch an, aber dennoch werde er nicht ohne Grund diese Metaphorik als geeignet angesehen haben, so Claudio Leonardi.5 Peter Dinzelbacher weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der größte Teil der kontemporären Zisterzienser aus vornehmen Familien stammte und vormals durchaus erotische Erfahrungen mit höfischen Damen gemacht haben konnte; nun versuchten diese, ihre Erfahrungen auf den himmlischen Bräutigam umzuorientieren, während sie die mönchische Askese pflegten.6 Dinzelbacher erklärt so den Erfolg von Bernhards Hohelied-Predigten innerhalb des Ordens und bei Freunden außerhalb der Zisterzienser. Beachtung verdiene jedoch auch die Tatsache, daß Bernhard selbst nicht etwa als Kind durch Oblation in den Orden gelangte, sondern erst als junger Mann. Seine Erziehung sei durchaus vom monastischen Ideal geprägt, seine Mutter habe ihn schließlich für ein geistliches Leben vorgesehen. Dennoch hätten sich, wie etwa Dinzelbacher aus der Vita Bernhards herausliest, nach dem Tod der Mutter wilde Jahre in einer „Burschen-Clique“ angeschlossen.7 Anzudenken sei deshalb, ob Bernhard nicht vielleicht selbst Erfahrung mit dem Gefühl zwischenmenschlicher Liebe gemacht habe und so einen auch für ihn passenden Vergleichspunkt habe wählen können, so Jean Leclercq.8 Zudem soll Bernhards Liebesmetaphorik eine Entwicklung der Zeit spiegeln: mit der zunehmenden Neubetonung der reflektierten Individualität, so Dinzelbacher, wachse im hohem Mittelalter die Vorstellung, es gebe für jeden den einen unvergleichlichen Menschen, auf welchen das Bindungsbedürfnis ausgerichtet wird. Im religiösen Bereich vollziehe sich diese Ausrichtung analog auf Christus oder etwa Maria.9 Diese Richtung der Kontextualisierung erscheint einseitig. Heuristisch ertragsverheißender erscheint die Tendenz der neueren Forschung, nach Geschlechterkonzepten in der Mystik Bernhards zu fragen. Dabei deutet sich an, daß bei Bernhard nicht nur ein graduelles Genderkonzept (Abstufungen der einen Menschennatur) dem Text unterliegt, sondern auch ein duales, das nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmen muß, wobei ein „Konzept oppositionell sexualisierter Körperlichkeit“ offenbar nicht anzutreffen sei, so Volker Mertens.10 5 Leonardi (1992), 708: „ […] l’¦ros seul peut exprimer la rencontre et l’union de l’homme et de Dieu.“ 6 Dinzelbacher (1994), 116. 7 Dinzelbacher (1998), 7. 8 Solche Erfahrungen deutet Leclercq (1990), 23, launig an: „In dieser Schar lebenslustiger Gefährten wird er sich wohl nicht nur mit dem Minnesang zufriedengegeben haben.“ 9 Dinzelbacher (1996a), 37 – 41. 10 Mertens (2002); siehe zu diesem Fragenkomplex auch Angenendt (1999), ferner Krahmer (2000). Zu Medialität und Geschlechterkodierung Rinke (2006).
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Darüber hinaus müßte man etwa überlegen, inwieweit auch andere Faktoren, wie die Tradition des Hohelied-Kommentars und der Einfluß von Wilhelm von St. Thierry, bereits die Richtung Bernhards bestimmten,11 dazu weiter unten. Eine andere Anregung wären Alois Haas’ Untersuchungen zu Zeitkonzepten in der Mystik, die allerdings nur im Rahmen eines Überblickes vorliegen.12 Dabei wäre allerdings die stärkere Differenzierung zwischen normativen bzw. geschichtstheologischen Zeitkonzepten als Referenzrahmen der Beschreibung des Erlebten einerseits und der im Text beschriebenen Wahrnehmungen der Zeit andererseits aus unserer Perspektive heraus wünschenswert gewesen. In dieser Untersuchung soll jedoch die Verankerung des Mystikers und seiner Texte in der monastischen Lebenswelt und deren aisthetischer Dimension im Mittelpunkt stehen. Dafür deutet die kürzlich erschienene Monographie Harmless’ einen Ansatzpunkt an, ohne diesen jedoch selbst aufzugreifen und zu vertiefen: die Forderung nach Kontextualisierung soll ernst genommen, das soziale Umfeld („mystical community“) wie die Texttradition sollen Berücksichtigung finden. Gerade für die Liturgie als liturgische Performanz, für das Alltagsleben einer monastischen Gemeinschaft, wird mehr Beachtung gefordert.13 Nun wäre es sicher naiv, Bernhards Leben als ein kontemplatives Musterleben zu stilisieren, da er doch als Abt einen großen Teil seiner Zeit auf Reisen verbrachte.14 Doch Bernhard ist trotzdem von der oralen Kultur des Monasteriums zutiefst geprägt. Dies zeigt sich punktuell immer wieder – so etwa an seinem Gebrauch des Imperativs „Höret!“, mit dem auch die Benediktregel eröffnet.15 Um die Oralität monastischer Kultur zu unterstreichen, verweist Harmless auf zentrale monastische Texte wie die Verba seniorum oder Evagrius Ponticus’ Monachus, die von der Bedeutung und Funktion des Gespräches zeugten, obgleich natürlich die literarische Tradition von Dialogen, die uns in den Quellen vorliegen, immer berücksichtigt werden muß.16 Das monastische 11 Zum Einfluß Wilhelms und dessen Vermittlung der Cantica-Schriften des Origenes siehe Ruh (1990), 294 f.; zu Bernhard und Wilhelm auch Elder (2011). 12 Haas (2002). 13 Harmless (2008), 241 f. 14 Dazu John Sommerfeldts pointierte Bemerkung, (1987), 5: „Many – including his contemporaries – must have thought of him as Bernard from Clairvaux, rather than of Clairvaux.“ Während Sommerfeldt etwa auf zwei Drittel kommt, legt ein Überschlag anhand der von De Warren (1953) erstellten Zeittafel einen geringeren Anteil an Reisetätigkeit nahe. 15 Apo 11 = SBO 3, 90, 23 – 24. Nachdem sich Bernhard in den direkt vorausgehenden Sätzen auf die Regel als Autorität bezogen hat, eröffnet er diesen Gedanken nun mit dem Imperativ „Hört!“, mit dem auch die Benediktregel (Prologus Regulae Sancti Benedicti = RSB, 62) eröffnet und deren zentrales Motiv er ist, hier allerdings pl. von audire statt sg. obsculta (wie z. B. Codex Sangallensis 914) bzw. ausculta (wie etwa Codex Oxoniensis). Die Textfamilien des lateinischen Textes und die Abweichungen im Beginn des Prologs sowie die Mss sind beschrieben in RSB 49 – 53, bes. 51; zur Bedeutung des Hörens dort 32. 16 Harmless (2008), 240 f.
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3.1 Einführung
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Leben ist das Zentrum bernhardinischer Erfahrungswelt und Bezugsrahmen seines literarischen Schaffens. Im folgenden wenden wir uns Bernhards Hoheliedpredigten als einem spezifischer Beitrag zum mystischen Diskurs, d. h. zum Diskurs über besondere religiöse Erfahrung, zu, um in einem weiteren Schritt dann nach der Einbindung der Sinne und Sinneswahrnehmungen – der aisthetischen Dimension – zu fragen. Es geht also nicht um eine Semantik von experientia oder experiri, einem Erfahrungsbegriff bei Bernhard, den Ulrich Köpf grundlegend berarbeitet hat,17 sondern um die textuelle Darstellung seiner Gottesbegegnung, um die körperlichen Bilder und Metaphern, die er verwendet, sowie um die Rolle und Funktion der Sinne in Bernhards mystischem Modell.
3.1.2 Zu Bernhards Leben und Werk Bernhards Leben ist Gegenstand zahlreicher biographischer Darstellungen,18 einschlägige Lexika oder Handbücher bringen detailreiche Artikel und Einträge;19 hinsichtlich seiner lateinischen Vitae wird um die Dekonstruktion von Hagiographie zugunsten von Historie gerungen.20 Und angesichts dieser Fülle ist die Versuchung groß, von einer Prominenz Bernhards im kollektiven Wissen der historischen Disziplinen zu sprechen. Bernhard wurde wohl im Jahre 109021 in Fontaines-lÀs-Dijon22 geboren. Als Eltern nennt uns sein Biograph Wilhelm von St. Thierry den Ritter Tescelin und seine Frau Aleth – aus altem Adel23 –, die Bernhard streng erzogen habe.24 Mit etwa sieben oder acht Jahren begann Bernhards Ausbildung in der Schule der Kanoniker von Saint-Vorles in Chtillon-sur-Seine, wo er wohl das Trivium durchlief, den ersten Teil der artes liberales, basierend auf Rhetorik, 17 V.a. Köpf (1980), (1990), (1992a). 18 Grundlegend Vacandard (1895); aus neuerer Zeit siehe etwa nur Leclercq (1990), Wendelborn (1993), Dinzelbacher (1998). Ich folge im weiteren überwiegend Dinzelbacher. 19 Für den dt. Sprachraum etwa Leclercq (1980), Binding (1980), Köpf (1998). 20 Maßgeblich für die Dekonstruktion Bredero (1961a), (1961b), (1963), (1966), (1980), (1992), (1994), (1996); so auch Leclercq (1990), 9 – 12 und Köpf (1996b). Dagegen Goodrich (1987); Piazzoni (1993); Dinzelbacher (1998), 365 f. Zu einer Methodologie der Interpretation der Vita Ia dann Casey (1992); zu den fragmenta Gaufridi Gastaldelli (1989). Zusammenfassend noch einmal Goez (2005). Übersetzungen der Vita Ia etwa Webb/Walker 1960 (englisch) oder Sinz 1962 (deutsch). 21 Dinzelbacher (1998), 3; dagegen nimmt Bredero (1996), 20, das Jahr 1091 an. 22 Diese Ortsangabe folgt mit Dinzelbacher (1998), 3, einer Tradition des 15. Jh. (Migne PL 185, 1495D). 23 Richard (1953), bes. 560 – 63. 24 Wilhelm Vita Ia I.1.1 = Migne PL 185, 227AB: „Pater ejus Tecelinus, vir antiquae et legitimae militiae fuit […]. Mater Aleth, ex castro cui nomen Mons-Barrus; et ipsa in ordine suo, apostolicam regulam tenens, subdita viro, sub eo secundum timorem Dei domum suam regebat […] filios enutriens in omni disciplina“.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Grammatik und Dialektik.25 Nach dem Tode seiner Mutter – Bernhard muß etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen sein – und einer Zeit des Umherziehens in einer Gruppe gleichaltriger junger Männer,26 faßte Bernhard den Entschluß, in Cteaux einzutreten. Sein Biograph Wilhelm illustriert diesen Entschluß mit seiner Erzählung, wie Bernhard, der auf dem Wege zu seinen Brüdern gewesen sei, die im Heer des Herzogs Hugo II. von Burgund die Burg eines aufständischen Ritters belagerten,27 plötzlich zu einer Kirche abgebogen sei: Inventaque in itinere medio ecclesia quadam, divertit, et ingressus oravit cum multo imbre lacrymarum, expandens manus in coelum, et effundens sicut aquam cor suum ante conspectum Domini Dei sui. Ea igitur die firmatum est propositum cordis ejus.28 Als er mitten auf dem Weg eine gewisse Kirche entdeckte, bog er ab, trat ein und betete mit reichem Tränenregen, indem er die Hände zum Himmel ausstreckte und sein Herz vor dem Angesicht des Herrn seines Gottes wie Wasser ausschüttete. An diesem Tage also wurde der Vorsatz seines Herzens gefestigt.
Es folgte 1113 dann Bernhards Aufnahme in das novum monasterium Cteaux, nach dem einjährigen Noviziat 1114 dann die Profeß.29 Mit Kasper Elm kann man festhalten, daß Cteaux den Höhepunkt der monastischen „Verbandsbildung“ der im 10. Jahrhundert begonnenen Reform darstellt,30 der im Kontext der religiösen Umbrüche des 12. Jahrhunderts gesehen werden muß.31 Diese keinesfalls homogene Reformbewegung war von der Gründung Clunys 910 ausgegangen und zielte auf die Wiederherstellung monastischer Ideale wie Askese, Armut oder Handarbeit, sie orientierte sich ferner an den biblischen Beschreibungen des Lebens der Apostel und der Urkirche; am Beispiel der Zisterzienser kann zudem die Bedeutung der Wüstenvätertradition gezeigt werden.32 In dieser Reformbewegung lassen sich drei Richtungen grob unterscheiden: zunächst die Eremitenbewegung, deren Vertreter sich in Nachahmung der Wüstenväter allein in abgelegene Gebiete zurückziehen wollten. Dagegen postulierten die an der Augustinerregel orientierten Gruppen ein monastisches Leben in Gemeinschaft, etwa der Prämonstratenserorden, der 1120 von Norbert von Xanten gegründet wurde. Eine dritte Untergruppe der Reformbewegung waren die Gemeinschaften, die ihr 25 26 27 28 29 30 31
Dinzelbacher (1998), 6. Dazu auch Gastaldelli (1987). Dinzelbacher (1998), 7. Dinzelbacher (1998), 15. Wilhelm Vita Ia I.3.9 = Migne PL 185, 232 A. Dinzelbacher (1998), 20 – 30. Elm (1995), 320. Angenendt (1996), 59: die Veränderungen von Cteaux gegenüber Cluny seien nur ein „ersten Schritt“ bzw. „der kleinste Schritt“ im Gesamt der Veränderungen des 12. Jahrhunderts gewesen. 32 Auffarth (2000).
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Leben an der Regula Benedicti ausrichteten.33 Gerade das zisterziensische Ideal war maßgeblich von einer Rückkehr zu einer strikten Interpretation und Befolgung der Benediktregel bestimmt,34 und hinsichtlich ihrer Ausbreitung und Popularität waren die Zisterzienser überaus erfolgreich.35 1113 wurde Cteauxs erste Filiation, La Fert¦, gegründet, 1114 Pontigny und 1115 Clairvaux; der Abt von Cteaux, Stephen Harding, hatte Bernhard diese Gründung etwa 120 km nördlich von Cteaux anvertraut.36 Die erste Filiation ging 1118 von Clairvaux aus, bis zu Bernhards Tod 1153 kamen 68 umittelbare und 97 mittelbare Tochterklöster zusammen.37 In das bewegte Leben Bernhards als Abt von Clairvaux fallen sein Engagement in innerkirchlichen Angelegenheiten: viele Jahre seines Lebens sind bestimmt von dem seit 1130 währenden Kampf für Innozenz II. gegen Anaklet II. um den Papstthron,38 viel Energie widmet er der nicht immer friedlichen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden wie etwa Petrus Abaelard, Arnold von Brescia oder Heinrich von Lausanne.39 Ab 1146 predigt Bernhard für den Kreuzzug, der nach seinem Scheitern Bernhard 1149 in theologischen Rechtfertigungszwang bringt,40 ihn dennoch nicht davon abbringt, einen weiteren Kreuzzug in Erwägung zu ziehen.41 Bernhard stirbt 1153 in Clairvaux,42 er wird 1174 kanonisiert. Diese unablässige Einbindung in kirchliche Angelegenheiten erforderte ausgedehnte Reisen – unter anderem mehrfach nach Italien, im Osten bis nach Bamberg oder Frankfurt – ließ aber die Entstehung eines umfangreichen und heterogenen literarischen Werkes zu, so Leclercq, der es folgendermaßen datiert: wohl 1119/1120 entstand Bernhards Ep. 1 an seinen Neffen Robert, der von den Zisterziensern zu den Cluniazensern übergetreten war ; der älteste erhaltene Brief ist wohl Ep. 44143 von wahrscheinlich 1116/17. Kurze Zeit später folgen vier Homilien De laudibus Virginis Matris und vor 1122 oder 1125 die Abhandlung De gradibus humilitatis et superbiae. Die Apologia ad Guillelmum abbatem, die Bernhards monastisches Ideal reflektiert und uns später noch beschäftigen wird, entstand nach communis opinio um 1124/1125, dieser folgte um 1127 der Brieftraktat De moribus et officio episcoporum. Vor 1128 entstand dann De gratia et libero arbitrio und zwischen 1126 und 1141 33 Elm (1995), 318 – 320; Eberl (2002), 11 – 19. 34 So Lekai (1977), 21: „During prolonged and occasionally heated debates the future founders of Cteaux had ample opportunity to clarify their intentions and to reduce them to a simple practical formula: Return to the Rule of Saint Benedict.“ 35 Locatelli (1992); Schneider (2000), Eberl (2002), bes. 11 – 46. 36 Dinzelbacher (1998), 30 – 34. 37 Dinzelbacher (1998), 39. 38 Dinzelbacher (1998), 129 – 211. 39 Dinzelbacher (1998), 212 – 283. 40 Dinzelbacher (1998), 284 – 331. 41 Dinzelbacher (1998), 331 – 333. 42 Dinzelbacher (1998), 359 – 362. 43 Ep 441 = SBO 8, 419; zur Datierung siehe die Anmerkungen in Bernhard Werke III, 846 u. 1212 f.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
den Traktat De diligendo Deo. 1135 verfaßte Bernhard den Traktat De laude novae militiae ad milites templi – die theologische Grundlegung eines christlichen Rittertums – und 1135 – 1153 die 86 Sermones super Cantica Canticorum. 1140 folgte aus gegebenem Anlaß ein Brieftraktat (und eine Reihe Briefe nach offenbar derselben Vorlage) über die Irrtümer Abaelards, ebenso wie der Traktat De conversione ad clericos. Vor 1143 – 1144 wird der Traktat De praecepto et dispensatione datiert, sein Papstspiegel De consideratione auf 1145 – 1153. Nach 1148 folgte die Vita des Malachias von Armagh. Über Bernhards Lebensspanne verteilen sich seine annähernd 500 Briefe, seine Predigten zum Kirchenjahr, seine Sermones de diversis, Sentenzen und Parabeln.44
3.2 Bernhards Sermones super cantica als Beitrag zum mystischen Diskurs 3.2.1 Vorbemerkung: Bernhard und die Tradition der Hoheliedauslegung Sed, cum eorum expositiones commentumque tuum studiosis revolvo manibus, nihil te novi dixisse comperio: imo sensum alienum verbis tuis vestitum deprehendo. Supervacua igitur explanatio tua esse videtur.45 Aber, wenn ich mit eifrigen Händen die Ausführungen dieser [Leute] und deinen Kommentar wälze, bringe ich in Erfahrung, daß du nichts Neues gesagt hast. Ich enthülle sogar eine fremde Meinung, die in deine Worte gekleidet worden ist. Überflüssig also scheint mir deine Auslegung zu sein.
So kommentiert Berengar von Poitiers46 Bernhards Predigten über das Hohelied. Im weiteren wirft er ihm vor, seine Gedanken bei Origenes, Ambrosius, Reticius und Beda Venerabilis gestohlen zu haben.47 Dabei verkennt Berengar offensichtlich (und auch bewußt) die Anforderungen des Genres ,Kommentar‘: selbst die Rekombination der biblischen und patristischen Literatur galt 44 Die Datierung folgt Leclercq (1980). Datierungsfragen werden – so sie sich denn stellen und von Tragweite sind – später in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Schrift erörtert; für die Diskussion s. auch die Chronologie und die Hinweise von Lobrichon (1992), der geringfügig abweicht – allerdings ohne Konsequenzen für unser Argument. 45 Berengar von Poitiers: Apologeticus. PL 178, 1863 C. 46 Berengar von Poitiers, ein Schüler des Petrus Abaelard, versuchte, nach Abaelards Verurteilung durch eine polemische Schrift an Bernhard von Clairvaux für seinen Lehrer einzutreten; s. Bautz (1975). 47 Berengar erwähnt hier den Kommentar des Reticius von Autun (4. Jh.), der leider verloren ist. Siehe dazu etwa DThC 13,2: 2571 f; Ohly (1958), 27: Hieronymus erwähnt diesen Kommentar in De viris inlustribus LXXXII = Herding 51 (Z. 15 – 20) und TU 14.1:43 (Z. 20 – 24).
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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als eigenständige und kreative Leistung.48 Bernhard schreitet zwar wie ein Kommentator Vers für Vers durch das Hohelied (er gelangt bis Hld 3,1), wählt aber die Form der Predigt. In der Überlieferung spiegeln verschiedenste Bezeichnungen der Hoheliedpredigten als Buch (liber), Werk (opus), Auslegung (expositio) oder etwa Abhandlung (tractatus) sowie Bernhards Eigenbezeichnung als Predigten (sermones) die Ambivalenz des literarischen Charakters.49 Näher vertraut gemacht wurde Bernhard wohl durch Wilhelm von St. Thierry mit den ,Cantica‘-Schriften des Origenes.50 Zum Verhältnis der beiden zueinander hat E. Rozanne Elder herausgearbeitet, daß Bernhard sein theologisches Denken in erster Linie von der Christologie her, Wilhelm von der Pneumatologie her entwickelt.51 Bernhards Schriftauslegung basiert auf der Vätertradition, wie ein Vergleich mit der Hoheliedauslegung etwa von Origenes und Gregor dem Großen zeigt; er ist dennoch eigenständig und geht über vorgenannte Auslegungen hinaus, wenn er das Hohelied vor dem Hintergrund eigener Erfahrung und dem monastischen Lebensumfeld interpretiert.52 Die Richtung der christlichen Auslegung des Hohelieds wurde bereits durch die allegorische Auslegung durch jüdische Exegeten bestimmt, die die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel in den Bildern der Beziehung zwischen Bräutigam und Braut im Hohenlied wiedererkannten.53 Für die christliche Auslegungstradition war dann die Arbeit von Origenes bestimmend, insbesondere seine Rollenzuweisung: Christus als Bräutigam, die Kirche, sodann die Einzelseele als Braut.54 Die frühmittelalterliche Auslegung wurde von Beda Venerabilis’ ekklesiologischer Deutung bestimmt, der die patristische Auslegungstradition in einem Kommentar zusammengestellt hatte;55 auch Bernhard ist von ihm beeinflußt.56 Doch auch etwa Ambrosius kennt neben der ekklesiologischen Deutung durchaus die Identifikation der Braut mit der Einzelseele, räumt dieser sogar den Vorrang ein;57 zudem ist der 48 Dazu Matter (1990), 6. 49 Köpf (1994b), 28 – 30. 50 Siehe etwa Ruh (1990), 294 f; Verdeyen (1992), bes. 564 – 572. Leider fehlt uns für diese Annahme der sichere Beweis aus Bernhards Briefen, daneben hat nach 1118 kein Treffen der beiden mehr stattgefunden, ebd. 51 Elder (2011), bes. 130 – 32. 52 So Heller (1990a), 139 f. Wie auch Ohly (1958), 136, in seiner immer noch grundlegenden Untersuchung der Geschichte der Hoheliedauslegung bis ins Hohe Mittelalter – zugegeben recht normativ – betont, „führte schon Bernhard die Hoheliedauslegung in steilem Aufschwung auf eine herrscherliche Höhe, wie sie seit Origenes nicht mehr erreicht ist.“ 53 Dazu (in theologischer Perspektive) Chouraqui (1984), ferner jüngst Stern (2008). 54 Dazu Köpf (1986), bes. 509; (1987), 58; (2000), 34; Astell (1990), 2; grundlegend auch Ohly (1958), 19 – 24. 55 Etwa Köpf (1987), 64 f. Beda, In Cantica Canticorum = CCSL 119B, 185 – 189, läßt die vox sinagogae, vox ecclesiae und vox Christi das Hohelied sprechen. 56 Waddell (1984b). 57 Ambrosius, De sacramentis 5,5 = Fontes Christiani 3, 158 – 160: „Venisti ad altare, vocat te
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Einfluß des Origenes – natürlich in der ihm verfügbaren lateinischen Übersetzung – gerade auch auf Bernhard nicht zu unterschätzen.58 Ein Fragment des Bibliothekskataloges der Abtei Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert zeugt von der Präsenz des Origenes,59 die Bibliothek entsprach in ihrem Aufbau dem Standard monastischer Bibliotheken und spiegelt Bernhards breites Interesse an exegetischen Werken wider.60 Durch die Polemik Berengars scheint also durchaus eine gute Analyse der bernhardinischen Bezugstexte hindurch. E. Ann Matter kann zudem sehr gut zeigen, wie die Tradition des Hoheliedkommentares als ein „genre of medieval Latin literature“ verstanden werden muß.61 Die Begründung für dieses Genre unterstützt unsere Annahme, daß wir es hier im Falle von Bernhards Predigten über Cantica Canticorum mit einem Beitrag zu einem Diskurs über religiöse Erfahrung zu tun haben. Sie schreibt: I have described medieval Christian commentary on the Song of Songs as a genre because its cumulative vision, of the understanding of the love poems attributed to Solomon as reflecting the collective or individual spiritual life of Christians, was a vision of reality for Christian writers of many centuries, establishing the horizon of expectations with which they approached the text.62
Texte eben dieses Genres häuften sich im zwölften Jahrhundert,63 und Ulrich Köpf kann zeigen, warum man von der Hoheliedauslegung als Quelle mystischer Theologie sprechen kann.64 Mit Blick auf die Traditionslinie des Hoheliedkommentars werden wir also von einem Feld des mystischen Diskurses sprechen können, in dem Sinne, daß eine Gruppe christlicher Texte, von denen auf der religionswissenschaftlichen Metaebene als mystische Texte die Rede ist (im Sinne eines literaturwissenschaftlichen Kanons, s. o.), aufeinander und auf das Hohelied Bezug nehmen. Einen Eindruck von den Mechanismen dieses Diskurses gibt die Vorrede zum Hoheliedkommentar des
58 59
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dominus Iesus – vel animam tuam vel ecclesiam – et ait: ,Osculetur me ab osculis oris sui.‘ Vis ad Christum aptare? Nihil gratius. Vis ad animam tuam? Nihil iucundius.“ Matter (1990), 20 – 41, bes. 39. Wilmart (1949), 117; er kommentiert: „Cette s¦rie d’ouevres du vieux Docteur alexandrin est la meilleure preuve que l’on entendait former Clairvaux une vaste bibliothÀque patrologique, et que le plus large esprit pr¦sida sa composition.“ Vernet (1979), 349 – 356, übernimmt das Fragment des Bibliothekskataloges von Wilmart (1949) mit Anmerkungen; zu Origenes dort 353. Vernet (1997), 18 f. Matter (1990), bes. 3 – 16. Matter (1990), 201. Dies macht ein Blick in die Übersicht deutlich, die Matter (1990), 203 – 210, über die lateinischen Kommentare des Hohelieds vom dritten bis zum zwölften Jahrhundert gibt. Köpf (1986), 509, spricht von der „hohen Zeit mittelalterlicher Cant-Auslegung“. Köpf (1987).
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Thomas Cisterciensis, wohl Thomas von Perseigne,65 einem Zisterzienser der post-bernhardinischen Generation: Wer glaubte wohl, daß nach den Süßigkeiten des Origenes, den Gewürzen des Gregorius, den Wohlgerüchen Bedas, den Balsamen des seligen Bernhard, deren vielfältiger Nutzen unzählbar ist, den Späteren wenigstens noch ein Tropfen geistlichen Sinnes zum Auspressen übrigbliebe? Deshalb ,werde ich von überallher bedrängt‘ (Philipp. 1, Dan 13,8) ,Ich werde zusammengeschnürt, und ich weiß nicht, welches von beiden ich wählen soll.‘ Denn wenn ich das in Worte fassen sollte, fürchte ich die Verwirrung der Unzulänglichkeit. Wenn ich es aber nicht in Worte fasse, dann entkomme ich nicht der Fallgrube des Ungehorsams. Indem ich mich aus Ehrfurcht vor einer so herausragenden Person dem Spott der Menschen aussetze, und eingedenk jenes Wortes Daniels ,Es werden viele hinübergehen und vielfältig wird das Wissen sein‘ versuche ich mit Ruth der Moabiterin, welche ,geisterfüllt‘ genannt wird, auf dem Acker des Booz, der ,in Tapferkeit‘ genannt wird, welcher ist die Schrift Christi, der der starke Gott ist, nach Origenes und den anderen vorher genannten Schnittern die Ähren, nämlich die Sinne, die in der Spreu des Buchstabens eingewickelt sind, zusammenzusammeln. Ich löse aber die einzelnen Verse aus dem schützenden Hülle der Spreu durch eine kurze oder eine ausführliche Auslegung. Danach ordne ich planvoll die deutlich gemachte Bedeutung in vielfacher Unterscheidung; sodann laufe ich nach Art der planvollen Biene durch die Blumen der Schrift durch und bekräftige das, was ausgelegt und planvoll geordnet ist, durch deren Belege. Wenn dieses dann unserer Noemi, die da heißt ,die Schöne‘, vorgelegt wird, nämlich dem Verlangen eines so großen Vaters, kann es, wenngleich es nicht ausreicht, um dessen Seele zu sättigen, dennoch den Mangel des Verfassers entschuldigen: eine schöne Seele, sage ich, die von so prächtiger Gestalt ist und voll Süße in den Freuden des Bräutigams, daß sie voll Zuversicht ruft: ,Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes.‘66 65 So Leclercq (1948); Ohly (1958), 188 – 197; Bell (1977), 7 – 8; zurückhaltender Brouette (1975). 66 Thomas Cisterciensis, Comment. in Cantica, Praefatio = Migne PL 206, 17 A–C: „Quis enim credat quod post Origenis mella, Gregorii pigmenta, Bedae odoramenta, beati Bernardi balsama, quorum multiplices non numerantur opes, in amurca litterae relinquatur saltem gutta spiritualis intelligentiae posteris exprimenda? Itaque „angustiae mihi sunt undique [Dan 13,22]. Coarctor enim, et e duobus quod eligam ignoro.“ [Phil 1,22 f] „Si enim hoc egero“ [Dan 13,22], timeo confusionem insufficientiae. „Si autem non egero, non effugiam“ [Dan 13,22] foveam inobedientiae. Me igitur ob reverentiam tam excellentis personae, exponens hominum ludibrio, attendensque illud Danielis: „Pertransibunt plurimi et multiplex erit scientia,“ [Dan 12,4] cum Ruth Moabitides quae dicitur inspirata, in agro Booz [Ruth 2], qui dicitur in fortitudine, id est in Scriptura Christi, qui est Deus fortis, post Originem et alios praefatos messores, spicas, id est sententias palea litterae involutas satago colligere. Verum singulos versiculos ab integumento paleae absolvo, brevi sive compendiosa expositione. Deinde enodatam sententiam, multiformi disponens distinctione; postmodum quasi apis argumentosa percurrens flosculos Scripturarum, quae exposita sunt et distincta, eorum roboro attestatione. Quae cum fuerit nostrae Noemi, quae dicitur pulchra, praesentata, scilicet desiderio tanti patris, etsi non sufficiant ejus animam satiare, defectum tamen scribentis poterunt excusare: animam, inquam, pulchram quae tam speciosa forma est et suavis in deliciis sponsi, ut confidenter clamet: „Osculetur me osculo oris sui“ [Hld 1,2].“
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Eine weitere Beobachtung unterstützt die Annahme, daß die Hoheliedpredigten in einem Diskurs über religiöse Erfahrung lokalisiert werden müssen: Bernhard durchbricht die Konvention, daß Exeget und Prediger zwei verschiedene Rollen füllten. Während bis dahin die Exegese der Predigt lediglich als homiletisches Hilfsmittel gedient habe, so Kurt Ruh, setze Bernhard die Erklärung des Textes sogleich in die Verkündigung um. Somit baue er eine Brücke zwischen der Exegese, als wissenschaftlicher Theologie, und der „Seelenführung“ als Spiritualität.67 Neben den theologischen Grundbedingungen zielt Bernhard auf die praktische Dimension im monastischen Alltag. Es kommt uns hierbei darauf an, inwiefern sich der monastische Alltag in Bernhards Predigten über das Hohelied wiederfinden läßt. Daher kann die Frage, ob diese Predigten denn jemals so – und wenn ja wie – zum Vortrage gekommen seien, getrost dahinstehen.68 Zunächst ist es also notwendig, das theologische Grundgerüst der Hoheliedpredigten zu umreißen, um dann in einem zweiten Schritt einige Körpermetaphern, in einem weiteren Schritt die ästhetische Dimension vor dem theoretischen Hintergrund betrachten zu können.
3.2.2 Theologische Grundannahmen der Hoheliedpredigten 3.2.2.1 Vorbemerkung zur Methodik 3.2.2.1.1 Diversa sed non adversa Es soll nun darum gehen, Bernhards Predigten als Beitrag zum mystischen Diskurs zunächst theologiegeschichtlich faßbar zu machen und sodann in ihren monastischen Kontext exemplarisch einzuordnen. Bernard McGinn hatte in seiner eingehenden Auseinandersetzung mit Bernhard in seiner „Mystik im Abendland“ die Bedeutung der dogmatischen Grundlagen für ein Verständnis der bernhardinischen Mystik betont, aber dabei einen anderen Weg eingeschlagen, den John Sommerfeldt bereits früher vorgeschlagen hatte: eine Lesart, die auf Konsistenz in Bernhards Denken abzielt.69 Der Ansatz unserer Auseinandersetzung mit Bernhards Theologie soll sich nach folgendem Prinzip entfalten: es soll nicht eine systematische Kategorie konkordant mit aus dem Kontext gerissenen Belegen untermauert werden, sondern wir 67 Ruh (1990), 250ff; siehe auch Heller (1990), 54 f. 68 Dazu Leclercq (1962 – 92), I:206 f, 212; Holdsworth (1998). Zur liturgischen Dimension der Predigt in zisterziensischen Häusern im 12. Jh. siehe Waddell (1998). 69 McGinn (1996), 254. Zwar sieht er am Beispiel der Anthropologie „signifikante Divergenzen” (258), zieht aber daraus für seine Darstellung keine Konsequenzen. John Sommerfeldt (1985) hatte sich dem Problem früh grundsätzlich in seiner Dissertation von 1960 „Consistency of Thought in the Works of Bernard of Clairvaux“ gestellt, deren Stärke es ist, Bernhard als ernstzunehmenden Theologen mit einem klaren Programm zu präsentieren.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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wollen vielmehr Bernhard über längere Strecken bei der Entwicklung eines Gedankens verfolgen, der sich systematisch einordnen läßt. Dieses Vorgehen trägt der Komposition der Predigten Rechnung, die, obgleich zusammengenommen ein Werk, meist jede für sich eine geschlossene Einheit darstellen. Wir zerlegen nicht Bernhards Text, um ihn in unsere Kategorien zu pressen, wir nutzen vielmehr seine Textur, um uns einen Weg in sein Denken zu erschließen. Dies Vorgehen verlangt eingehendere Begründung. Bei der Beschäftigung mit Bernhards Schriften steht der Interpret einer Schwierigkeit gegenüber, die am Beispiel der älteren und neueren Forschung zu den verschiedenen dogmatischen Positionen Bernhards illustriert werden kann und die für den gesamten Zugang zum Werk Bernhards von Bedeutung ist. Im Kontext der Pneumatologie Bernhards sind für diese Problematik die Beiträge von Raffaele Fassetta und Ephrem Le Huu Tu als Beispiel erhellend.70 Fassetta konstatiert zu Beginn, daß Bernhards pneumatologisches Gedankengut vestreut in allen Schriften und deshalb schwer zu fassen sei; dennoch setzt er sich zum Ziel, eine kohärente Doktrin herauszuarbeiten,71 die sofort Kritik ausgesetzt ist.72 Die Auseinandersetzung zwischen Dagmar Heller und Hildegard Brem illustriert am Beispiel der Anthropologie noch einmal das hier vorliegende interpretatorische Problem. Während Heller Bernhards Gedanken zur Anthropologie in den SC 80 – 83 folgt, ordnet Brem um die Fragestellung zur Anthropologie Textstellen verschiedenster Herkunft aus dem Gesamtwerk Bernhards an, so daß leicht kontroverse Aussagen getroffen werden.73 Dasselbe Problem zeigt sich, wenn man versucht, „die eine“ Anthropologie zu extrahieren, auch bei Bernard McGinn, der selbst Widersprüche aufzeigt, und der Replica von David Bell.74 Auch Denis Farkasfalvy stellt fest, daß Bernhards Anthropologie nicht systematisch stringent zu sein scheint.75 Noch immer zitiert wird zu Bernhards Anthropologie die Arbeit von Wilhelm Hiss, die es sich im Gegensatz dazu zum Ziel gesetzt hat, „aus den Schriften des hl. Bernhard von Clairvaux eine philosophische Anthropologie herauszuarbeiten und darzustellen.“76 Weiter zählt McGinn als Quellen zu den anthropologischen Überlegungen Bernhards zum einen De gratia et libero arbitrio und 70 Fassetta (1990), Le Huu Tu (1990). 71 Fassetta (1990), 349: „Aucun ¦crit de S. Bernard n’est express¦ment consacr¦ l’Esprit-Saint, mais les textes qui le concernent foisonnent en tout son œuvre. Cette pr¦sence diffuse de l’Esprit n’est pas facile cerner.“ Und weiter : „Notre travail visera d’abord faire ressortir la profonde coh¦rence de la doctrine bernardine sur l’Esprit.“ 72 Die Replika von Le Huu Tu (1990). 73 Heller (1990b); Brem (1990). 74 McGinn (1990) und die Replica von Bell (1990), die allerdings primär die Frage aufwirft, ob Bernhard Originalität zeigte oder lediglich als Mediator für Gedanken anderer Autoren wirkte. 75 Farkasfalvy (1997), 11: „Consequently, one must say that his anthropological thought is diffused throughout his writings.“ 76 Hiss (1964), 1.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
zum anderen die letzten Sermones super Cantica. Er konstatiert, daß es signifikante Unterschiede zwischen den beiden Texten gebe, welche die neuere Forschung zu glätten versucht habe.77 In eine andere Richtung weisen die Überlegungen von Christoph Benke: er erkennt in seinen methodischen Erwägungen durchaus die Problematik des Versuches, Bernhard zu systematisieren und zu strukturieren, entscheidet sich dann allerdings doch dafür, aus dem gesamten Werk Textstellen heranzuziehen und um seine Fragestellung zu gruppieren.78 In dieser Hinsicht erscheint die Untersuchung von Alberich Altermatt zur Christologie Bernhards methodisch geeigneter. Er beschränkt sich auf eine Analyse der Sermones per annum, die durch die abschließende Redaktion Bernhards in den Jahren 1148 – 1153 als ein Textkörper angesehen werden können. Diese Auswahl gründet allerdings nicht auf weitreichenden methodischen Erwägungen; er sieht es nur deshalb geraten, die Sermones per annum auszuwählen, da eine größere Quellenbasis den Rahmen seiner Untersuchung sprengen würde bzw. da zum Zeitpunkt seiner Untersuchung die kritische Edition von Bernhards Texten noch nicht bis zum heutigen Stande fortgeschritten war.79 Während McGinn etwa wiederum versucht, durch Anhäufung von Textstellen aus dem Gesamtwerk Bernhards, dessen Ekklesiologie zu erschließen,80 verfolgt etwa Theresa Moritz eine Alternative: sie beschränkt sich bei einer Analyse der Kirche als Braut Christi auf Bernhards Ausführungen in SC 9, und sie kann somit die Entfaltung des ekklesiologischen Gedankens durch die Predigt nachzeichnen.81 Es gibt für die von McGinn benannten Unterschiede von Bernhards Ausführungen zur Anthropologie, die wir oben behandelt haben, in der Schrift zur Gnade und zum freien Willen und in den Hoheliedpredigten naheliegende Erklärungen: zum einen liegt zwischen der Entstehung des Traktates De gratia et libero arbitrio und der letzten Arbeit an den Hoheliedpredigten durch Bernhard ein Zeitraum von 25 Jahren. Berücksichtigt man einen solch großen zeitlichen Abstand, rückt auch der Gedanke einer Entwicklung von Bernhards Denken in den Bereich des Möglichen. McGinn deutet aber auf einen anderen wichtigen Umstand hin, nämlich daß Bernhard offenbar selbst Unterschiede in seinen opera zu sehen meinte:82 In libello, quem de gratia et libero arbitrio scripsi, diversa fortassis de imagine et similitudine disputata leguntur, sed, ut arbitror, non adversa.83
77 78 79 80 81 82 83
McGinn (1996), 258; dort in den Anmerkungen Hinweise zu erwähnter Literatur. Benke (1991), 18 – 22. Altermatt (1977), 25 – 27. McGinn (1996), 272 – 277. Moritz (1980). McGinn (1996), 258. SC 81,11 = SBO II, 291, 13 – 15.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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In dem Büchlein, welches ich über die Gnade und den freien Willen geschrieben habe, lassen sich vielleicht unterschiedliche Dinge lesen, die über das Ebenbild und die Ähnlichkeit gesagt wurden, aber, wie ich meine, keine gegensätzlichen.
Bernhard sieht zwar Unterschiede (diversa), aber, wie er meint, keine Widersprüche (adversa). Letztlich überläßt er den Lesern die Entscheidung: Legistis illa, ista audistis: quaenam magis probanda, vestro iudicio derelinquo; […].84 Jenes habt ihr gelesen, dieses habt ihr gehört: welches nun eher zu billigen ist, überlasse ich eurem Urteil; […].
Und er stellt abschließend noch einmal fest: At quoquo modo illa se habeant, tria […] tenetis: simplicitatem, immortalitatem, libertatem.85 Aber auf welche Weise auch immer jene Dinge sich verhalten mögen, haltet ihr drei Dinge […] fest: die Einfachheit, die Unsterblichkeit, die Freiheit.
Bernhard selbst scheint also nicht nur keine Gegensätze zu sehen, er sieht die Unterschiede selbst als so unbedeutend an, daß er die Aufgabe der Entscheidung, wie die Angelegenheit zu halten sei, auf seine Zuhörer überträgt. Gerade aus der Formulierung „At quoquo modo illa se habeant“, etwa „Aber wie auch immer sich jene Dinge verhalten“, und der nachfolgenden Auflistung der für Bernhard wichtigen Grundprinzipien, ist zu erkennen, wie gering er selbst diese Unterschiede achtete. Jean Leclercq hat die Frage aufgeworfen, ob die Predigten in der schriftlich vorliegenden Form tatsächlich so vorgetragen wurden. Er kommt zu dem Schluß, daß die SC selbst wenn sie abweichend von einer vorgetragenen Form vorliegen, sich dennoch dicht am oralen Stil Bernhards orientieren. Auf jeden Fall aber habe Bernhard die schriftliche Fassung der SC für ein breiteres Publikum als seine monastischen Zuhörer angefertigt. Die SC wenden sich also direkt an Zuhörer oder Leser.86 Bernhard will diese, so Peter Dinzelbacher, „emotionalisieren und mitreißen“.87 Michael Casey hat zur Predigt in zisterziensischen Häusern, die ihre Rolle und Funktion im Kapitel erfüllten, gerade noch einmal betont, daß es sich um ein „quintessential Cistercian genre“ handele.88 Versucht man nun, die Predigten über das Hohelied als Beitrag Bernhards zum mystischen Diskurs zu lesen, scheint es methodisch am sinnvollsten, seine Anthropologie wie auch seine übrigen theologischen Grundansichten aus diesen Texten selbst zu rekonstruieren, um sich innerhalb eines geschlossenen Systems zu bewegen. Wenn Bernhard selbst Unterschiede 84 85 86 87 88
SC 81,11 = SBO II, 291, 15 – 16. SC 81,11 = SBO II, 291, 17 – 19. Leclercq (1962 – 92), I:206ff, bes. I:212. Dinzelbacher (1998), 182. Casey (2011), 85 f.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
zu anderen Schriften beruhigt stehen lassen konnte – wir hatten gesehen, daß er sich auf De gratia et libero arbitrio, sein abstraktestes Werk, das rein akademische Passagen enthält, bezogen hatte – ohne sein gedankliches System in den SC gefährdet zu sehen, sollte der Interpret diesen Chrakteristika bernhardinischen Denkens Rechnung tragen. Bernhard thematisiert das Problem divergierender Aussagen auch an anderer Stelle im Kontext der Auslegung von Hld 2,5: Scio me hunc locum in libro de dilectione Dei plenius explicuisse, et sub alio intellectu: potiorine an deteriori, lector iudicet, si cui utrumque videre placuerit. Non sane a prudente de diversitate sensuum iudicabor, dummodo veritas utrobique nobis patrocinetur, et caritas, cui Scripturas servire oportet, eo aedificet plures, quo plures ex eis in opus suum veros eruerit intellectus.89 Ich weiß, daß ich diese Stelle im Buch über die Gottesliebe vollständiger und unter einem anderen Sinn erklärt habe: ob treffender oder vager, soll der Leser entscheiden, falls es irgendjemandem gefallen sollte, beides anzusehen. Sicher werde ich nicht von einem Klugen für die Unterschiede im Sinn verurteilt werden, solange nur die Wahrheit auf beiden Seiten uns beschützt, und die Liebe, der die Schriften dienen müssen, dadurch mehrere erbaut, daß sie aus ihnen mehrere wahre Sinne zu ihrem Nutzen ausgrabe.
Er illustriert dies dann auch sofort mit einem praktischen Beispiel: Cur enim hoc displiceat in sensibus Scripturarum, quod in usibus rerum assidue experimur? In quantos, verbi causa, sola aqua nostrorum assumitur corporum usus? Ita unus quilibet divinus sermo non erit ab re, si diversos pariat intellectus, diversis animarum necessitatibus et usibus accomodandos.90 Warum nämlich soll dies bezüglich der Schriftsinne nicht gefallen, was wir oft beim Gebrauch der Dinge erleben? Zu wie vielen Zwecken für unsere Körper, um es so zu sagen, wird allein das Wasser herangezogen? So wird jede beliebige göttliche Rede nicht das Ziel verfehlen, wenn sie verschiedene [Schrift-]Sinne hervorbringt, die anzupassen sind an die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Seelen.
Die Variationen in der Auslegung werden von Bernhard wahrgenommen. Er begründet diese Differenz durch die Aufgabe der göttlichen Liebe, zur Erbauung beizutragen. Um diese Aufgabe nämlich wahrzunehmen, bediene sich diese Liebe der verschiedenen Schriftsinne. Die verschiedenen Sinne seien ihrerseits bedingt durch die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten der menschlichen Seelen. Zusammenfassend muß man sagen, daß Bernhard der wirkenden Liebe Gottes zuschreibt, verschiedene Sinne zu extrahieren, 89 SC 51,4 = SBO II, 86, 18 – 23. 90 SC 51,4 = SBO II, 86, 23 – 27; vgl. auch die Interpretationen Hummel (1989), 176 f, Heller (1990), 54, und Diers (1991), 6 – 8.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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um somit ihr Ziel unter Beachtung der Bedürfnisse und Gewohnheiten der Seele zu erreichen. Systematische Erwägungen spielen scheinbar keine Rolle.91 Diesen scheinbaren Widersprüchen im Werk Bernhards von Clairvaux steht nun – wie gerade herausgearbeitet – der Drang vieler Interpreten gegenüber, die eine Lehre Bernhards darzustellen. Dabei wird verkannt, daß Bernhard als monastischer Theologe nicht etwa für einen akademischen Betrieb publiziert. Gert Wendelborn hat ihn deshalb etwa „Gelegenheitsschriftsteller“ genannt,92 und Adriaan Bredero beschreibt Bernhards Tätigkeit als die eines theologischen Schriftstellers, der stets damit beschäftigt war, auf Anfragen zu antworten oder zu anderen Meinungen Stellung zu nehmen. Er sieht Bernhard folglich zutreffend im Gegensatz zu der Arbeitsweise der Scholastiker.93 „Bernhard,“ so auch Ulrich Köpf, „erörtert nicht Probleme im schrittweisen Abwägen des Für und Wider und hat nie eine Zusammenfassung seiner Gedanken versucht, wie man es seit der Scholastik von einem rechten Theologen erwartet.“94 Zu überlegen wäre, inwieweit die Erwartung einer kohärenten, zusammenfassenden theologischen Darstellung den Zugang zu Bernhards Werk versperrt und ob diese Erwartung darin begründet sein könnte, daß dem Unterschied zwischen Bernhards monastischer Theologie und der scholastischen Theologie nicht hinreichend Rechnung getragen wird.95 Michaela Diers bemerkt dazu zutreffend, es sei nicht überraschend, daß Bernhard gattungsfremde Kriterien und Ansprüche, die daraus erwüchsen und welche nicht die seinigen seien, keineswegs erfüllen könnte.96 Bernhards Gelegenheitsschriften sind in anderem Kontext entstanden, erfüllen andere Kriterien als die systematischen theologischen Darstellungen der Scholastik. Die Methode der Bernhardinterpreten scheint dabei dennoch in der Regel dieselbe zu sein: der Bernhardinterpret stellt verschiedene Zitate Bernhards aus verschiedenen Schriften zusammen und erhält dann auch eine Zitatensammlung verschiedener Schriften.97 So entstehen leicht scheinbare Widersprüche oder Inkonsistenzen, die sich aus der Zusammenstellung von Ein91 So auch Diers (1991), 7 f. 92 So Wendelborn (1993), 90. 93 Bredero (1980), 59: „He did not express them in the course of teaching theology to groups, as did the scholastics, but in personal contacts, often also in answer to opinions or questions which others had presented to him in an atmosphere of confidence. Taking this into account, with how much precision can one describe Bernard’s teachings on the subject of Christology, Ecclesiology, or Mariology? What was his doctrine on the angels, his view on the human soul or free will or the moral conscience, and what were his anthropological ideas?“ 94 Köpf (1996a), 98. 95 Dazu Gilson (1934), bes. 10; Leclercq (1953), (1964), (1986), (1991). 96 Diers (1991), 8. 97 So Sommerfeldt (1985), 171, der einen Versuch unternimmt, Bernhards Weltanschauung unter verschiedenen Aspekten zu systematisieren: „[…] any attempt to reproduce Bernard’s thought must, ideally, take into account all of his works in order to help insure that the resulting synthesis is Bernard’s and not the reader’s.“ So auch in Sommerfeldt (2000).
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3. Bernhard als mystischer Theologe
zelaussagen aus Bernhards verschiedenen Werken ergeben und die Bernhard selbst als nur – wie gerade gesehen – unterschiedliche Formulierungen aufgefaßt hat. Die Versuchung zu harmonisieren ist groß, dabei ist es eher geraten, die Spannung unterschiedlicher sprachlicher Ausdrücke, die Bernhard wählt, auszuhalten. Die Konsequenz müßte also für den konkreten Fall lauten, Bernhards Texte zuerst einmal textimmanent zu interpretieren und erst danach Aussagen, die sich auf das Gesamtwerk beziehen, zu tätigen. Im Falle Bernhards scheint es sogar geboten zu sein, zunächst sogar nur einzelne Predigten aus dem corpus der Hoheliedpredigten zu analysieren, das zu Recht als Texteinheit betrachtet werden kann.98 Dies hat den Vorteil, daß man Bernhard bei der Entwicklung eines Gedankens genau verfolgen kann.99 Zuletzt hat auch M.B. Pranger grundsätzlich dieses Problem gesehen und es vorgezogen, es auf unsere Weise zu lösen und Bernhard bei der Komposition des Textes zu begleiten.100 Wollen wir also versuchen, Bernhard bei der Entwicklung jeweils eines Gedankens zu folgen.
3.2.2.1.2 Thick Description und Close Reading Die hier vorgeschlagene Methode zur Interpretation bernhardinischer Texte zeigt durchaus Ähnlichkeiten mit einem interpretativen Verfahren in der Ethnologie, mit dem entscheidenden Unterschied, daß von vornherein Texte das Datenmaterial bilden. Clifford Geertz hat 1973 in einem Essay101 ein Fazit seines interpretativen Verfahrens zur Analyse von Kultur gewagt; sein zentraler Begriff dabei lautet thick description und stammt – so Geertz selbst – von Gilbert Ryle.102 Thick description muß vom close reading abgegrenzt werden: close reading entstammt dem New Criticism und stellt als Reaktion auf eine indo-europäische Philologie und eine soziologisch sowie biographisch orientierte Geschichtswissenschaft methodisch den Text in den Mittelpunkt der Interpretation, so Andrew DuBois.103 Inzwischen ist close reading zum begrifflichen und methodischen Gemeingut geworden, ein gerade erschienener 98 Leclercq (1962 – 92) analysiert die Handschriftentradition (dazu das gesamte Kapitel IVa. a. O.) und kommt zu dem Schluß, daß Bernhard in den Jahren 1148 – 1153 noch einmal selbst eine Gesamtrevision des Textes angefertigt habe (I:241). Bernhard selbst (Ep 153 = SBO 7, 359 – 60) spricht von den sermones als einem opus magnum, so Leclercq (2008), 310. 99 Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommt, im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Origenes und dessen Werk, auch Berner (1981), 99 – 102, in seiner Schlußbetrachtung mit der Forderung, „Origenes bei der Arbeit beobachten!“. Berner war mit dem Problem konfrontiert, daß die Origenesforschung in zwei Lager geteilt war, die Origenes entweder als systematischen Theologen oder aber als Mystiker sehen wollen. 100 Pranger (1994), 16, beobachtet Bernhard „at work as a writer“. 101 Inzwischen ist mit Geertz (2012) der 11. Nachdruck der deutschen Übersetzung (Brigitte Luchesi / Rolf Bindemann) bei Suhrkamp erschienen; ich benutze das engl. Original. 102 Geertz (1973a), 6. 103 DuBois (2003), bes. 1 – 4.
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Cantica-Kommentar braucht close reading gar nicht mehr zu erklären (allerdings ist er in der deutschen Exegese in der Tat noch nicht häufig zu finden).104 Die Zielsetzung scheint mir aber je eine andere zu sein: thick description hilft, übergeordnete Fragestellungen angemessen in einem bestimmten historischen (oder kulturellen, ethischen etc.) Kontext zu studieren, close reading dient in erster Linie einem besseren Verständnis des fokussierten Textes. Beides wird im folgenden auf verschiedenen Ebenen der Textinterpretation verbunden. Da Geertz sowohl Kultur als auch Religion als Symbolsysteme beschreibt, ist sein Verfahren zu ihrer Analyse notwendigerweise interpretativ.105 Ich will im folgenden eine Übersetzungsleistung für die religionshistorische Forschung versuchen. Eine von Geertz’ wichtigen Einsichten ist es, daß die Interpretation sprachlich zwar von der Objektebene ausgeht, aber in dem Moment, wo der Interpret Termini der Objektsprache verwendet, schon die metasprachliche Ebene betritt.106 Für Ethnologen mag dies wie ein Gemeinplatz klingen, aber natürlich sind Wörter, sind Begriffe, die wir auf der Objektebene aufgreifen, in dem Moment, in dem wir sie verwenden, schon nicht mehr die des religiösen Subjekts – es sind bereits Interpretationen zweiter, dritter, usw. Ordnung; aber es sind – müßte man hinzufügen – auch nicht ganz unsere metasprachlichen.107 Das habe ich oben im Hinblick auf den Mystikbegriff diskutiert. Mein Versuch, sich Bernhard zu nähern, ist der thick description ähnlich. Es ist zunächst einmal kein bloßes Stellensammeln, sondern ein Beobachten Bernhards beim Entwickeln seiner Gedanken, ein Nachvollziehen, das bereits interpretativ ist. Aus diesem Grunde habe ich die zitierten Bernhard-Stellen auch noch einmal selbst übersetzt: nur in der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Text ist eine solche Annäherung möglich. Die deutsche Übersetzung108 ist zwar tadellos, aber sie überträgt Bernhards Texte in eine monastische Lebenswelt des 20. Jahrhunderts. Die Zielsprache meiner Übersetzung, die nicht an die literarische Qualität der erstgenannten heranreicht (und heranreichen soll), ist die des religionswissenschaftlichen Diskurses. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß gesagt werden, daß – anders als eine ethnographische Studie – es diese hier in erster Linie mit Texten zu tun hat, die nicht im Zuge des (meist qualitativen) Forschungsprozesses selbst produziert wurden (Tagebücher, Interviews etc.), sondern mit Texten des 12. Jahrhunderts. Es geht daher nicht darum, Handlungen als Symbole eines 104 105 106 107
Barbiero (2011). Geertz (1973a), bes. 10 – 13; (1973b). Geertz (1973a), 15. Hier stimme ich nicht ganz mit Geertz (1973a), 15, überein: das Verhältnis der Sprachebenen ist wahrscheinlich komplexer als sich mit einem Stufenmodell von Interpretationen steigender Ordnung abbilden ließe. Geertz verweist daher zu Recht in seiner Anm. 2 (ebd.) auf die Debatte um das Problem der verschiedenen Ordnungen von Interpretationen. 108 Bernhard Werke deutsch.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Symbolsystems ,Kultur‘ zu interpretieren, aber Bernhards Texte nehmen in einem religiösen Symbolsystem (für die Religionswissenschaft richtungsweisend von Gladigow beschrieben109) Funktionen ein, die man durch diese Interpretationsmethode plausibel erschließen kann. Oben hatte ich – mit Kurt Ruh – den Begriff ,Kanon‘ für eine Gruppe von Texten benutzt, die als mystische Texte sowohl vielfach untereinander aufeinander Bezug nehmen als auch als Forschungsgegenstand auf der Metaebene zusammengefaßt werden. Die Konsequenz lautete, daß sie eine Sammelkategorie bilden, die durch Familienähnlichkeiten konstitutiert wird (Wittgenstein). Ein solcher Kanon und der Bezug der Texte aufeinander lassen ein komplexes Traditionsgeflecht entstehen, das von den Übersichtswerken der Mystikforschung festgehalten wird. Die Vielfalt von Informationen und konzeptionellen Strukturen, die in Handlungen in einem kulturellen System kodiert sind und interpretiert sein wollen, finden sich in diesen mystischen Texten gleichermaßen. Dabei ist der ontologische Status – das sehe ich wieder wie Geertz – unerheblich, da es nur darauf ankommt, ob ein Text Konsequenzen hat, ob andere Handlungen, andere Zeichen auf ihn bezogen sind.110 Kritisch sieht ein solcher Ansatz dann Zugänge, die eine Interpretation ausschließlich auf der Ebene eines zeitgenössischen Verstehenshorizontes versuchen. Jörg Sonntags sehr umfangreiche und verdienstvolle Arbeit zu Gebräuchebüchern des Hochmittelalters ist darauf bedacht, ,Anachronismen‘ zu vermeiden: er lehnt daher eine Kategorisierung ,heilig und profan‘ ab (mit Hinweis auf Mircea Eliade) und lehnt sich an mittelalterliche Symboltheorie statt an moderne Semiotik an.111 Für Sonntag sind die biblischen Schriften ,Drehbücher‘ und die Mehrdeutigkeit der Allegorese Interpretationsschlüssel der aus den Drehbüchern entnommenen Szenen in klösterlichen symbolischen Handlungen.112 Die Kritik setzt bei der Limitation auf die Objektebene des religiösen Subjekts an, die eine religionswissenschaftliche Begriffsbildung zwar berücksichtigen muß, aber dennoch transzendieren kann; im Hinblick auf den Mystikbegriff habe ich das oben ausführlich diskutiert.113 So hielte ich es dann auch für möglich und richtig, eine Fragestellung moderner Semiotik zu entwickeln und gewinnbringend an mittelalterlichen Texten zu diskutieren, wenn der Kontext hinreichend berücksichtigt ist. Im dritten Teil werden neben den Hoheliedpredigten weitere Texte Bernhards und seines Umfeldes im Mittelpunkt stehen, anhand derer wir beob109 Gladigow (1988a). 110 Geertz (1973a), 10. 111 Sonntag (2008), 5 (zu Eliade und den Kategorien ,heilig‘ und ,profan‘) u. dann 6: „Umso mehr ist für eine Typologie des ,vormodernen‘ Zeichens eine Orientierung an zeitgenössischen Begriffen geboten“. 112 Sonntag (2008), 8 f (Bedeutung d. Allegorese) u. 656; 658 (bibl. Drehbücher). Das Fazit dann konsequent (654): „Im symbolischen Handeln hochmittelalterlicher Mönche verkörpern selbige eine in der Tradition gewachsene transzendente Vorstellungswelt“. 113 Zu diesem Problem siehe auch Döbler (2012).
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achten können, wie sich Bernhard in verschiedenen Kontexten zur Sinneswahrnehmung äußert: zur Frage der Ausstattung von Bauwerken und zur Liturgie. Konzepte der systematischen Theologie dienen nur zum Einstieg in Bernhards Denken, um zu einer tragfähigen Interpretation von Bernhards Mystik und der Rolle der Körpersinne zu kommen. Bei diesem Weg in Bernhard Denken gilt das, was von jeder guten Interpretation gelten soll: A good interpretation of anything – a poem, a person, a history, a ritual, an institution, a society – takes us into the heart of that of which it is the interpretation. When it does not do that, but leads us instead somewhere else – into an admiration of its own elegance, of its author’s cleverness, or of the beauties of Euclidean order – it may have its intrinsic charms; but it is something else than what the task at hand – figuring out what all that rigmarole with the sheep [Geertz’ Beispielgeschichte in diesem Essay] is all about – calls for.114
Geertz nennt vier Charakteristika solcher ethnographischen Beschreibung: sie sei (1) interpretierend, (2) sie interpretiere den sozialen Diskurs und (3) versuche, das Gesagte vom Reden zu trennen, also nach dem zu fragen, was tatsächlich ausgesagt wird; ferner sei sie (4) mikroskopisch.115 Das vierte Charakteristikum scheint mir für die beschreibende Methode und die Religionswissenschaft von besonderer Bedeutung. So hat etwa Christoph Auffarth für die post-phänomenologische Religionswissenschaft zu Recht angemahnt, daß die religionswissenschaftliche Begriffsbildung sich irgendwo zwischen phänomenologischer Systematik und Mikroebene finden und ein begriffliches Instrumentarium entwickeln und pflegen muß (eben kein „in meiner Ethnie ist das aber anders…“).116 Eben dieses Problem konstatiert Geertz für die ethnologische Forschung und zeigt einen Weg von der Mikroebene (dies wäre die religiöse Objektebene) hin zur konzeptuellen Ebene (das wäre die religionswissenschaftliche Metaebene mit ihrer Theorie). Geertz gelingt dieser Schritt, weil er dem „microcosmic model“ und dem „natural experiment“ entgegensetzt, daß ja im Einzelfall, in der Mikrostudie, nicht ein Ort, eine Ethnie etc. studiert werde, sondern immer eine weitere, generelle Fragestellung in einem Ort, in einer Ethnie studiert werde – Megakonzepte auf der Mikroebene.117 Das bedeutet bei Geertz dann für die Theorie, daß sie – wenn nicht eine Interpretation nur für sich selbst stehen, sondern in einem Forschungszusammenhang stehen und über sich hinaus Erkenntnisse liefern soll – über die Ethnie (in der religionshistorischen Forschung über den Autor) hinausweisen muß, sich also als Wissenschaft legitimieren muß; doch während die Theorie immer komplexer 114 115 116 117
Geertz (1973a), 18. Geertz (1973a), 20 – 21. Auffarth (2001), bes. 237; s. o. Einleitung. Geertz (1973a), 21 – 23.
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werde, vergrößere sich der Abstand und damit auch die Spannung zwischen Forschungsobjekt und Metaebene.118 Entscheidend in methodischer Hinsicht ist, daß ja nicht wie etwa in der Naturwissenschaft der Weg Hypothese – Experiment – Verifizierung/Falsifizierung (gleich ob induktiv oder deduktiv) vorgezeichnet ist. Das Ziel der ethnologischen Einzelstudie auf der Mikroebene – und ich möchte sagen, auch der religionswissenschaftlichen – ist, wie Geertz schön formuliert, eine Verfeinerung der Fachdiskussion: Anthropology, or at least interpretive anthropology, is a science whose progress is marked less by a perfection of consensus than by a refinement of debate. What gets better is the precision with which we vex each other.119
Wenn ich mich mit einem offenen Konzept von Mystik, das Texte bezeichnet, die religiöse Erfahrung zum Gegenstand haben, nun Bernhard annähere, dann soll zunächst auf der Objektebene eine solche dichte Beschreibung gelingen, um dann Begriffe der aktuellen religionswissenschaftlichen Diskussion aufzugreifen – zu extrapolieren – und zu versuchen, Bernhard mit ihrer Terminologie, mit ihren Konzepten zu interpretieren. Dabei lasse ich mich zunächst auf Bernhards Binnenrationalität ein, folge ihm dicht am Text und führe erst zum Schluß die Diskussion auf die religionswissenschaftliche Metaebene. Das mikroskopische Vorgehen erfordert ein Sich-Einlassen auf den Text, bindet aber gleichzeitig die religionswissenschaftliche Theorie, angewandt in historischer Perspektive, an den Text und seinen Kontext. 3.2.2.2 Bemerkungen zum erkenntnistheoretischen Rahmen Bernhard von Clairvaux ist lange von Philosophiehistorikern nicht ernst genommen worden, und eigentlich hat erst Êtienne Gilson es vermocht, Bernhard einen ihm gebührenden Platz zuzuordnen.120 Dennoch fehlt er in unzähligen Philosophiegeschichten.121 Theo Kobusch deutet an, daß die negative Voreingenommenheit Bernhard gegenüber noch immer durch die Polemik der Aufklärung bedingt sein könnte.122 Kobusch versucht sodann, Bernhards Philosophiebegriff von der christlichen Philosophie (vs. theoretische Philosophie) her zu entwickeln und auf eine „Metaphysik als geistige Übung“ zuzuspitzen.123 Allerdings tendiere ich einerseits doch dazu, dem Begriff „monastische Theologie“ für Bernhards Werk den Vorzug zu geben (s. u. S. 152 f), und würde darüber hinaus betonen wollen, daß die Axiome, die Selbst- und 118 119 120 121 122 123
Geertz (1973a), 24 – 25. Geertz (1973a), 29. Mit seinem Werk „La th¦ologie mystique de saint Bernard“ (1934). So auch Kobusch (2011), 53, der Bernhard immerhin acht Seiten widmet. Ebd. Kobusch (2011), 55 – 59; bes. 59 spricht er von „affektiver Metaphysik”.
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Gotteserkenntnis bei Bernhard zu Grunde liegen, über die geistige Übung hinaus eine praktische Relevanz für den monastischen Alltag, für die Liturgie und die Gestaltung des Klosters bekommen. Andererseits ist es wichtig zu betonen – wie Kobusch das ja tut – daß man Bernhard auch sinnvoll mit Begriffen der Philosophie fassen und ihn in die Philosophiegeschichte einordnen kann.124 Die Anthropologie Bernhards wird von John Sommerfeldt als Schlüssel zur Spiritualität, letztlich in Anlehnung an Jean Leclercq auch als der zur Theologie Bernhards verstanden.125 Im Hinblick auf eine Lesart Bernhards, die seine Predigten über das Hohelied als Beitrag zu einem mystischen Diskurs betrachten will, kann diese Annahme noch einmal präzisiert werden. Ausgangspunkt für deren Verständnis bildet die Erkenntnisfähigkeit des Menschen; recht zu Beginn der Predigten reflektiert Bernhard über erkenntnistheoretische Fragestellungen, die, wie Sommerfeldt (der im Englischen epistemology verwendet) in einer späteren Arbeit zeigt, eine zentrale Rolle in Bernhards Denken spielen.126 Doch Erkenntnistheorie mag wohl zunächst Assoziationen mit philosophischen Diskursen der Neuzeit evozieren. Kann es daher überhaupt zielführend sein, im Falle Bernhards diesen Begriff zu verwenden? Dagegen könnte sprechen, daß Bernhard selbst nie von Erkenntnistheorie spricht. Doch das ist auch der Fall mit Mystik, und wir hatten in diesem Zusammenhang bereits gesehen, daß es sehr wohl möglich, sogar unumgänglich ist, einen objektsprachlichen Begriff des wissenschaftlichen Redens für die Analyse des religiösen Subjekts zu verwenden. Dies muß also auch für Erkenntnistheorie gelten. Man könnte weiters annehmen, daß sich Erkenntnistheorie in einem philosophischen Diskurs bewegt, ja geradezu dem theologischen Diskurs entgegenzusetzen wäre. Daß dies nicht so ist, hat Ulrich Schneider eingehend für Clemens von Alexandrien gezeigt;127 die Verwobenheit beider Diskurse zeigt sich auch z. B. bei Augustinus von Hippo, der in den Confessiones seinen Weg über den Neuplatonismus zu einer christlichen Philosophie beschreibt.128 Zuletzt könnte man noch ins Feld führen, für Bernhard, einen Mönch in seinem ,finsteren Mittelalter‘, könne es grundlegende Reflektion über die Grundlagen und Grenzen des Erkennens nicht gegeben haben. Den Beweis, daß man sehr wohl auch diese mittelalterlichen Denkmodelle in den erkenntnistheoretischen Diskurs einordnen kann, ist Burkhard Mojsisch in der Kampfschrift „Wider das Bild vom ,finsteren‘ Mittelalter“ bereits vor einem Vierteljahrhundert nicht schuldig geblieben; es ging ihm darum: 124 Nebenbei bemerkt tatsächlich eher vor dem Hintergrund neuplatonischer als aristotelischer Motive, vgl. Kobusch (2011), 58 f. 125 Sommerfeldt (1991), 3. 126 Sommerfeldt (2004a), bes. 2 – 4. 127 Schneider (1999). 128 Die maßgebliche Ausgabe ist zur Zeit CCSL 27.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
[…] markante erkenntnistheoretische Denkmodelle des Mittelalters zu skizzieren, die erkennen lassen, daß sie der sich ihrer selbst vergewissernden Vernunft eine mehr oder weniger legitimierte prädominierende Funktion im Erkenntnisprozeß zubilligten und darin fundamentale Marksteine auf dem Weg zur Neuzeit bildeten, auch dann, wenn sie der Neuzeit gar nichts bedeuteten, nur mittelbar zur Geltung kamen oder allein partiell rezipiert wurden, da eine Theorie erkennenden Denkens strenggenommen sogar nur dann grundlegende Geltung beanspruchen kann, wenn sie ihr Eigenwert sie selbst sein läßt.129
Gerade das Moment der Selbstvergewisserung, der Grundlegung einer Gotteserkenntnis, kann aus Bernhards Dialektik von Anthropologie und Theologie erklärt werden, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Dabei wird deutlich, wie sich Bernhard systematisch der erkennenden Funktion der körperlichen Sinne, dann des Geistes vergewissert, und letztlich ist das Postulat, der Gott, den er erkennen wolle, lasse sich in menschlichen Begriffen nicht fassen, der entscheidende Durchbruch: die Begriffe, die das menschliche Denken bildet, formen Gegenstände des Erkennens, reichen aber nicht ins Transzendente. Denken wir so einen Gott, dann muß er selbst sich zeigen „wie er ist“. Damit wird deutlich, daß Bernhard das Problem einer Objekt-SubjektSpaltung kaum anders löst als die neuzeitliche Theorie des Erkennens. Er läßt dennoch implizit eine Hintertür offen: denken wir einen Gott außer der Welt, dann müssen wir strenggenommen mit der Möglichkeit rechnen, Erkenntnis dieses Gottes nicht ausschließlich durch das eigene Denken, sondern außerhalb der eigenen Vernunft zu gewinnen. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung zwischen Bernhard und Abaelard – so David Bell – keine zwischen scholastischer und monastischer Theologie, sondern eine Kontroverse um ein gemeinsames Anliegen: um die Rolle und die Grenzen der ratio.130 Auch Constant Mews hat sich jüngst noch einmal bemüht, den Konflikt zwischen Bernhard und Abaelard ausgehend von Wilhelm von Champeaux, Lehrer Abaelards und später Bischof von Chlons-sur-Marne (1113 – 1122) und Freund Bernhards, zu beschreiben und dabei die Begrifflichkeiten und Zuschreibungen ,mystisch‘ (Bernhard) und ,analytisch‘ (Abaelard) zu überwinden.131 Bernhards Zeitgenosse Adam von St. Viktor hat in seiner Sequenz De Trinitate Bernhards Punkt der Grenzen der ratio (und also auch der Logik) schön gefaßt: Digne loqui de personis vim transcendit rationis, excedit ingenia;132 129 130 131 132
Mojsisch (1985), 161. Pointiert im Überblickswerk Bell (1996), 153. Mews (2011). Adam von St. Viktor, Sequentia de Trinitate 8a = Vecchi 56: „Würdig von den Personen [der Trinität] zu sprechen übersteigt die Kraft der Vernunft, geht über [menschliche] Begabungen hinaus.“
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Das Denken vergewissert sich seiner Grenzen. Uns kann es hier nicht um eine genaue Darstellung einer prima philosophia nach Bernhard gehen; dieser Begründung der Erkenntnis geht Heinrich Storm eingehend nach.133 Vielmehr wollen wir unser Augenmerk allein auf die Predigten über das Hohelied legen. Es sind in SC 4 vorweggenommene Verteidigungen gegen mögliche Vorwürfe, Bernhard zeichne ein anthropomorphes Gottesbild, mit denen er zu der Frage überleitet, ob denn der Mensch eines Körpers bedürfe.134 In SC 5 führt Bernhard diesen Gedanken weiter und beginnt mit einer Einteilung von vier verschiedenen Klassen des spiritus: dem tierischen, dem menschlichen, dem angelischen und dem göttlichen. Während erstere drei Klassen des Körpers bedürfen, habe Gott keine Notwendigkeit für einen solchen: Quatuor sunt spirituum genera; nota sunt vobis: pecoris, noster, angelicus, et qui condidit istos. Non est ex omnibus cui, sive propter se, sive propter alium, sive propter utrumque, necessarium corpus non sit corporisve similitudo, excepto dumtaxat illo cui omnis tam corporalis quam spiritualis creatura merito confitetur et dicit: Deus meus es tu, quoniam bonorum meorum non eges.135 Es gibt vier Arten von Geistern; sie sind euch bekannt: der des Viehs, der unsere, der angelische und der, der jene erschaffen hat. Aus all diesen gibt es keinen, der nicht entweder für sich selbst, oder für etwas anderes, oder für beides, des Körpers oder etwas Körperähnlichen [wörtl. der Ähnlichkeit des Körpers] bedürfte, ausgenommen natürlich jener, den alle sowohl körperliche als auch geistige Kreatur zu Recht bekennt und sagt: „Mein Gott bist du, weil du meiner Güter nicht bedarfst“.
Anders aber der Mensch, der den Körper zur Erkenntnis benötige, wie Bernhard aus Röm 1,20 liest: Ipsa siquidem quae facta sunt, id est corporalia et visibilia ista, nonnisi per corporis instrumentum sensa in nostram notitiam veniunt. Habet igitur necessarium corpus spiritualis creatura quae nos sumus, sine quo nimirum nequaquam illam scientiam assequitur, quam solam accepit gradum ad ea de quorum sit cognitione beata.136 Denn diese geschaffenen Dinge selbst, das heißt, diese körperlichen und sichtbaren Dinge, gelangen zur unserer Erkenntnis ausschließlich dann, wenn sie vermittels des Werkzeugs des Körpers sinnlich wahrgenommen werden. Folglich hat die geistige Kreatur, die wir sind, notwendigerweise einen Körper [wörtl. einen notwendigen Körper], ohne welchen freilich keinesfalls jenes Wissen erworben wird, welche allein sie als Stufe hin zu den Dingen empfangen hat, durch deren Erkenntnis sie glückselig werden soll. 133 134 135 136
Storm (1977). SC 4,4 – 5 = SBO I, 19, 26 – 21, 5. SC 5,1 = SBO I, 21, 9 – 14. SC 5,1 = SBO I, 21, 19 – 22, 1.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Die sinnlich erfahrbare Welt der Körper stelle aber nur den ersten Schritt auf dem Wege der Erkenntnis dar, leite nur zu Höherem. Es erscheint also nun zutreffender, nicht die Anthropologie, sondern die Epistemologie – insbesondere die Ambivalenz der conditio humana zwischen Geist und Körper – als gedanklichen Ausgangspunkt für Bernhards Sermones super cantica anzunehmen; denn die Frage nach der Beschaffenheit des Menschen wird hier stets in Abgrenzung zur Beschaffenheit Gottes erörtert. Diese Dialektik zwischen Anthropologie und Theologie läßt sich am besten im Hinblick auf Erkenntnis verstehen und darstellen: neben der Erkenntnisfähigkeit des Menschen steht stets auch Gott im Mittelpunkt, der Erkenntnis geben könne und auf den das Suchen des Menschen zugerichtet sei. Aus einem weiteren Grund sei aber der Körper für den Menschen essentiell; die Werke, die an anderen Menschen geübt würden, wirke der Mensch mittels des Körpers. Bernhard hat hier vor allem den Prozeß des Lernens und Lehrens im Blick. Er fragt, wie man denn ohne Zunge lehren und ohne Ohren belehrt werden könne: Porro hominis spiritum, qui medium quemdam inter supremum et infimum tenet locum, usque adeo ad utrumque necessarium habere corpus manifestum est, ut absque eo nec ipse proficere, nec alteri prodesse possit. Nam, ut taceam membra cetera corporis officiave membrorum, quonam modo, quaeso, aut sine lingua instruis audientem, aut sine auribus percipis instruentem?137 Des weiteren ist es offenkundig, daß der Geist des Menschen, der eine gewisse Mittelstellung zwischen dem Höchsten und dem Niedrigsten innehat, den Körper so sehr in beiderlei Hinsicht nötig hat, daß er ohne ihn weder selbst fortschreiten noch einem anderen nützen könnte. Denn, um die anderen Glieder des Körpers und die Funktionen der Glieder zu übergehen: wie, frage ich, belehrst du ohne Zunge den Hörer, oder wie nimmst du ohne Ohren den Lehrenden wahr?
Nun ist noch eine weitere Dimension zu berücksichtigen: Bernhard spielt auf den Lernprozeß des monastischen Lebens an, indem er hier auf den Prolog der Benediktregel insofern rekurriert, als er die Fakultät des Zuhörens (beachtenswert die Doppelbedeutung von obscultare: zuhören bzw. gehorchen) als Grund angibt, weshalb der Mensch des Körpers bedürfe. Dieses Motiv des Hörens ist gleichsam inhaltlich zentrales Motiv und Auftakt der Regula Benedicti: Obsculta, o fili, praecepta magistri, et inclina aurem cordis tui, et admonitionem pii patris libenter excipe et efficaciter comple, ut ad eum per oboedientiae laborem redeas, a quo per inoboedientiae desidiam recesseras.138
137 SC 5,5 = SBO I, 23, 22 – 27 138 Incipit Prologus Regulae Sancti Benedicti = RSB 62.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Höre, mein Sohn, die Weisungen des Meisters, und neige das Ohr deines Herzens und nimm die Ermahnung des frommen Vaters gerne auf und erfülle sie tatkräftig, damit du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurückkehrest, von dem du durch die Trägheit des Ungehorsams abgewichen warst.
Zum Ende der Predigt wird Bernhard dies noch einmal aufgreifen und bekräftigen, daß gerade seine Rede selbst ein Beweis für diese Annahme sei. Gott könne sich des Körpers des Menschen bedienen, um andere zu belehren: Operatur tamen immensa et innumera per subiectam creaturam corporalem sive spiritualem, sed quasi imperans, non quasi mendicans. En, verbi gratia, quod linguam meam corporalem assumpsit nunc in opus suum, docere videlicet vos, cum per se absque dubio facilius et suaviusque id posset; profecto indulgentia est, non indigentia.139 Er wirkt jedoch Unermeßliches und Unzähliges durch die ihm unterworfene körperliche oder geistige Kreatur, aber als Befehlshaber, nicht als Bettler. Siehe, um es so zu sagen, er hat nun meine körperliche Zunge zu seinem Werk zu Hilfe genommen, nämlich euch zu belehren, obwohl er dieses ohne Zweifel durch sich selbst leichter und angenehmer könnte; in der Tat ist dies Huld, nicht Bedürftigkeit.
Die Notwendigkeit und die Funktion der körperlichen Unterstützung für die Seele seien also zweifach, zum einen zur Hilfe für andere, zum anderen zum eigenen Fortschritt: Itaque cum absque corporis adminiculo nec bestialis spiritus servilis conditionis solvere debitum, nec spiritualis caelestisque creatura implere ministerium pietatis, nec rationalis anima tam proximo quam etiam sibi sufficiat consulere ad salutem, liquet omnem creatum spiritum, sive ut iuvet, sive ut iuvetur simul et iuvet, corporeo prorsus indigere solatio.140 Deshalb, da ohne die Unterstützung des Körpers weder der tierische Geist in der Lage ist, das der sklavischen Verfassung Geschuldete abzutragen, noch die geistige und himmlische Kreatur den Dienst der Frömmigkeit zu erfüllen, noch die vernunftbegabte Seele sowohl dem Nächsten wie auch sich selbst zum Heil zu verhelfen, ist es offensichtlich, daß jeder geschaffene Geist, sei es, um zu helfen, sei es, um zugleich Hilfe zu empfangen und zu helfen, durchaus des körperlichen Hilfsmittels bedarf.
Man könnte angesichts der vorangestellten Passage bemerken wollen, daß Bernhard sich als Werkzeug Gottes verstünde, vielleicht im Sinne von Apg 9,15. Im Hinblick aber auf das zur Regel Benedikts Gesagte, untermauert Bernhards Aussage wohl eher die Annahme, er formuliere sein Selbstverständnis als Abt, der lehren will und soll, was seiner Aufgabe als spiritueller Vater entspräche.141 Jean Leclercq sieht in dem reinen Umstand, daß Bernhard 139 SC 5,9 = SBO I, 25, 9 – 13. 140 SC 5,6 = SBO I, 23, 28 – 32. 141 Sommerfeldt (2004b), 20 – 25 (der Abt als Prälat), zur Rolle des Lehrers bes. 22.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
die Hoheliedpredigten überhaupt verfaßte, das entscheidende Argument für die Annahme, kontemplative und eben pastorale Aspekte seien hier stets miteinander verbunden.142 Die Funktion des Körpers wird durch die Formulierung consulere ad salutem hoch gepriesen, geht es doch offenbar um ein ,planvolles Führen zum Heile‘. Hieran schließt sich die Frage, weshalb sich Gott seinerseits denn Bernhards Zunge, d. h. eines Menschen, bemächtige, um durch ihn zu lehren. Diese Frage beantwortet Bernhard christologisch, wie er zum Ende von SC 5 einführt: Aut certe quia [Deus] novit quae per quae convenientius fiant, de servitute corporeae creaturae non efficaciam quaerit, sed congruentiam.143 Oder sicherlich weil [Gott] weiß, was wodurch sinnvoller geschieht, verlangt er vom Dienst der körperlichen Kreatur nicht die Wirksamkeit, sondern die angemessene Übereinstimmung.
Gott habe, so Bernhard, nicht der Wirksamkeit, sondern der Geeignetheit wegen Knechtsgestalt angenommen. Zunächst habe Gott zu allen Zeiten bereits körperlos gewirkt: Docet vel monet sine lingua, praebet vel tenet sine manibus, sine pedibus currit et succurit pereuntibus. Actitabat ista et cum patribus prioribus saeculis: experiebantur homines sedula beneficia, sed latebat eos beneficus. Ille quidem attingebat a fine usque ad finem fortiter, sed disponens omnia suaviter non sentiebatur ab hominibus. Et gaudebant de bonis Domini, et Dominum Sabaoth, eo quod cum tranquillitate iudicaret omnia, nesciebant. Ab ipso erant, sed non cum ipso; per ipsum vivebant, sed non ipsi; ex ipso sapiebant, sed non ipsum, alienati, ingrati, insensati.144 Er lehrt oder ermahnt ohne Zunge, er gibt oder hält ohne Hände, läuft ohne Füße und kommt denen, die verloren gehen, zu Hilfe. Er tat dies immer wieder auch mit den Vätern der früheren Zeitalter : die Menschen erfuhren häufige Wohltaten, aber der Wohltäter blieb ihnen verborgen. Jener reichte freilich machtvoll von dem einen Ende bis zum anderen, aber da er alle Dinge sanft ordnete, wurde er nicht von den Menschen wahrgenommen. Und sie erfreuten sich der guten Gaben des Herrn und kannten dabei den Herrn Zebaoth nicht, da er mit Ruhe alles richtete. Von ihm waren sie, aber nicht mit ihm, durch ihn lebten sie, aber nicht für ihn, aus ihm heraus erkannten sie, aber nicht ihn – Entfremdete, Undankbare, Wahrnehmungsunfähige.
Dieser Abschnitt zeigt eine auffällige Häufung erkenntnisbezogenen Vokabulars, die Heilsgeschichte wird epistemologisiert und pädagogisiert: sie wird rückblickend von Bernhard als ein Prozeß des Lernens und Begreifens konstruiert, der zugleich eine Vertiefung der Gottesgemeinschaft mit sich bringe (ab ipso – cum ipso usw.). Besonders im Verbum sentire scheint das Wahr142 Leclerq (2008), 325. 143 SC 5,10 = SBO I, 25, 25 – 26. 144 SC 6,1 – 2 = SBO I, 26, 18 – 27, 4.
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nehmen Gottes mit allen Sinnen hindurch, das mit der Erkenntnis und dem „Schmecken“ Gottes (sapere) verknüpft ist. Es wird so verständlich, warum die Inkarnation des Gottes in Menschengestalt um der fleischlich gesinnten Menschen willen stattgefunden habe: Obtulit [Deus] carnem sapientibus carnem, per quam discerent sapere et spiritum. Nam dum in carne et per carnem facit opera non carnis, sed Dei, naturae utique imperans superansque fortunam, stultam faciens sapientiam hominum daemonumque debellans tyrannidem, manifeste ipsum se indicat esse per quem eadem et ante fiebant, quando fiebant. In carne, inquam, et per carnem potenter ac patenter operatus mira, locutus salubria, passus indigna, evidenter ostendit quia ipse sit qui potenter, sed invisibiliter saecula condidisset, sapienter regeret, benigne protegeret. Denique dum evangelizat ingratis, signa perhibet infidelibus, pro suis crucifixoribus orat; nonne liquido ipsum se esse declarat, qui cum Patre suo quotidie oriri facit solem suum super bonos et malos et pluit super iustos et iniustos? Hoc enim est quod ipse aiebat: Si non facio opera Patris mei, nolite credere.145 Gott hat denen, die Fleisch schmeckten, Fleisch angeboten, durch welches sie lernen sollten, auch den Geist zu erschmecken. Denn während er im Fleisch und durch das Fleisch Werke, nicht des Fleisches, sondern Gottes vollbringt, auf jeden Fall indem er über die Natur herrscht und das Schicksal besiegt, die Weisheit der Menschen zur Dummheit werden läßt und die Tyrannei der Dämonen niederkämpft, zeigt er augenscheinlich, daß er es sei, durch den dieselben Dinge auch vorher geschahen, wenn sie geschahen. Indem er im Fleisch, sage ich, und durch das Fleisch stark und für jeden offen erkennbar Wunder tat, mit Worten heilte, Unwürdiges erlitt, zeigte er, für jeden sichtbar, daß er selbst es sei, der voll Macht, aber unsichtbar die Welt erschaffen hatte, sie weise regierte und gütig beschützte. Schließlich – wenn er den Undankbaren das Evangelium verkündet, den Ungläubigen Zeichen darbietet und für die, die ihn kreuzigen, betet – zeigt er so nicht klar, daß er es ist, der mit seinem Vater täglich die Sonne über Guten und Bösen aufgehen läßt und Regen ausgießt über die Gerechten und Ungerechten? Dies nämlich ist es, was dieser selbst sagte: Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt nicht!
Bernhard schließt mit Joh 10,37; dies muß mit Bernhards Feststellung, Gott sei von den Menschen vor seiner Inkarnation nicht gespürt worden, zusammengelesen werden. Der Gedanke erinnert an den Johannes-Prolog: der Logos wird, obgleich in sein proprium gelangt, nicht erkannt. Dennoch ist der Gedanke hier anders gefaßt und zentral für Bernhard. Der Logos wird vor der Inkarnation nicht erkannt, nicht einmal gespürt. Anders als der Johannesprolog geht Bernhard davon aus, daß Gott nun durch seine Inkarnation für die Menschen leichter erkennbar geworden und erkannt worden sei. So kann er Joh 10,37 nicht als Klage, vielmehr als Zusage des Inkarnierten auffassen.146 145 SC 6,3 = SBO I, 27, 14 – 25. 146 Zur Bedeutung johanneischer Texte, insb. des 1. Joh-Briefes bei Bernhard siehe auch Gilson (1947), 35 – 38.
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Hier wird Epistemologie zugleich Soteriologie; es lohnt sich, diese Dialektik weiter zu verfolgen.
3.2.2.3 Zur Soteriologie Bernhards in den Hoheliedpredigten Im Hinblick auf die Soteriologie ist SC 20 von besonderem Interesse, da gleich zum Auftakt der Zusammenhang zwischen redemptio und amor Dei offenbar wird.147 Bernhard beginnt SC 20 mit einem Pauluszitat aus dem Ersten Korintherbrief: „Qui non amat Dominum Iesum, anathema sit.“148 Der Schlüssel zum Heil läge also in der Liebe zu Jesus Christus: Valde omnino mihi amandus est, per quem sum, vivo, et sapio.149 Sehr muß ich den lieben, durch den ich bin, lebe und erkenne.
Das Verbaladjektiv amandus, das sich auf Christus bezieht, macht klar, daß Bernhard den Umkehrschluß aus 1 Kor 16,22 zieht: Christus sei zu lieben, er müsse geliebt werden, um nicht dem Tod, sondern dem ewigen Leben anheim zu fallen. Zugleich zeigt sich im sapere wiederum die Verknüpfung der Soteriologie mit der Epistemologie. Nur durch Christus sei Erkenntnis möglich; es zeigt sich abermals die Nähe zu Johannes. Betrachten wir die Liebe, welche zunächst von Christus ausgehe: Ecce quomodo dilexit. Adde quod hanc ipsam dilectionem non reddidit, sed addidit.150 Siehe wie er liebte. Ergänze, daß er dieselbige Liebe nicht erwiderte, sondern hinzufügte.
Christus habe also nicht die Liebe der Menschen erwidert, sondern die Liebe zu den Menschen hinzugefügt. Die Begründung, die Bernhard in einer rhetorischen Frage an Röm 11,35151 angelehnt dafür liefert, basiert zum einen auf der Vorstellung eines schaffenden Gottes, der selbst der erste Geber ist und nicht derjenige, der etwas bekommen müßte: Nam quis prior dedit ei, et retribuetur ei?152 Denn wer hätte sie ihm zuerst erwiesen, auf daß sie ihm erwidert werde? 147 Zur Soteriologie Bernhards siehe – unter vielen – McGinn (1996), 266 – 272. Je nach Fragestellung kann Bernhards Soteriologie auch in anderem als epistemologischem Kontext erörtert werden. Den Zusammenhang zwischen Anthropologie und Christologie etwa beleuchtet Kereszty (1990), der allerdings aus theologischer Perspektive die Bedeutung der bernhardinischen Überlegungen für die heutige Theologie erörtert. 148 SC 20,1 = SBO I, 114, 7 – 8. 149 SC 20,1 = SBO I, 114, 8 – 9. 150 SC 20,2 = SBO I, 115, 11 – 12. 151 Röm 11,35: „aut quis prior dedit illi et retribuetur ei“. 152 SC 20,2 = SBO I, 115, 12 – 13.
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Zuerst sei also die Liebe den Menschen gegeben worden. Zum anderen sei die Liebe des ewigen Sohnes zum Menschen schon bereits vor dem menschlichen Sein vorhanden gewesen, unabhängig von der Akzeptanz der Liebe durch die Menschen: Denique dilexit et non exsistentes; […].153 Ja, er hat schließlich sogar die geliebt, die noch nicht existierten; […].
Die Art der Liebe Christi zu den Menschen zeichne sich insbesondere durch drei Eigenschaften aus, die Bernhard mittels Adverbien aufzählt. Dabei ist auffällig, daß wiederum das Schlüsselwort sapienter fällt, das auf den Erkenntnisprozeß hindeutet. Auch für die Übersetzung Bernhards ist dieser Interpretation meines Erachtens der Vorzug zu geben: Dilexit autem dulciter, sapienter, fortiter.154 Süß, weise und tapfer liebte er aber.155
Diese drei Arten zu lieben ordnet Bernhard sodann drei zentralen soteriologischen Themata zu: Dulce nempe dixerim, quod carnem induit; cautum, quod culpam cavit; forte, quod mortem sustinuit.156 Ich möchte wohl freilich süß sagen, weil er Fleisch angezogen hat; vorsichtig, weil er sich vor Schuld hütete; tapfer, weil er den Tod erduldete.
Christus habe also Fleisch angenommen, sei selbst ohne Sünde geblieben und habe den Tod besiegt. Dem Verdacht, es könnte sich um eine fleischliche Liebe zu Christus handeln, beugt Bernhard sofort vor, indem er betont, es handele sich um eine geistige Liebe. Anstelle des erwarteten sapiens sprach Bernhard eben von cautus, beide Adjektive fließen hier dann in der prudentia wieder zusammen: Nam quos sane in carne visitavit, carnaliter tamen nequaquam amavit, sed in prudentia spiritus.157 Denn welche er freilich im Fleische besuchte, liebte er dennoch niemals fleischlich, sondern in der Klugheit des Geistes. 153 SC 20,2 = SBO I, 115, 14. 154 SC 20,3 = SBO I, 115, 19. 155 Hinsichtlich der Übersetzung von dulcis hatte ich zunächst lieblich vorgezogen, ein Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Marjorie Lange (2012) allerdings hat sehr eindrucksvoll gezeigt, daß es Aelred von Rievaulx in seinen Predigten sehr wohl auf dulcis als süß ankommt, weil er auf den unmittelbaren Sinneseindruck abstellt, wenngleich sein Wortgebrauch nicht mit unserem deckungsgleich ist. 156 SC 20,3 = SBO I, 115, 19 – 21. 157 SC 20,3 = SBO I, 115, 21 – 22.
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In diesem Zusammenhang macht Bernhard noch einmal deutlich, daß der Leib nicht von sich aus sündig sei. Christus habe sich zwar des Leibes bedient, aber nur, um sich dem schwachen Menschen zu nähern158 und gleichsam den Teufel zu täuschen, während er selbst ohne Sünde geblieben sei. Mit der Aussage, Christus nehme die veritas des Fleisches an, spielt Bernhard mit der dogmatischen Aussage, Gott sei wahrhaft Mensch geworden, und unterstreicht nochmals die Klugheit, die im Handeln des Wortes erkennbar wird:159 Carnis quidem assumpsit veritatem, sed peccati similitudinem, dulcem prorsus in illa exhibens consolationem infirmo, et in hac prudenter abscondens laqueum deceptionis diabolo.160 Er nahm freilich die Wahrheit des Fleisches an, aber die Ähnlichkeit der Sünde, so daß er durchaus in jener dem Gebrechlichen süßen Trost erwies, und in dieser klug die Schlinge der Täuschung für den Teufel versteckte.
So habe also Christus die Menschen erlöst, indem er selbst sein Blut für die Erlösung der Menschen vergossen habe: Porro ut Patri nos reconciliet, mortem fortiter subit et subigit, fundens pretium nostrae redemptionis sanguinem suum.161 Ferner, damit er mit dem Vater uns versöhne, erleidet und unterwirft er tapfer den Tod und vergießt als Preis unserer Erlösung sein Blut.
Das Heilsgeschehen gipfelt also für Bernhard im Sinne kirchlicher Lehre in der reconciliatio im Kreuzestod Christi, der so die Menschen wieder mit Gott Vater versöhnt und sie durch seine Auferstehung zum Leben geführt habe. Bernhards eigene methodisch-didaktische Überlegung ist es, zuerst über die Liebe Christi zum Menschen zu reflektieren, damit diese wiederum dem Menschen zum Vorbild werde: Hi sunt modi, quos vobis promiseram; sed praemisi eos in Christo, ut commendabiliores haberetis.162 Diese sind die Arten, welche ich Euch versprochen hatte; aber ich schickte diese in Christus voraus, damit ihr sie für empfehlenswerter haltet.
Während also Christus initiativ das Seinige getan und sich liebend den Menschen zugewandt habe, sollten diese sich nun wiederum liebend Christus 158 Diesen Gedanken formuliert Bernhard in SC 53,7 = SBO II, 100, 12 – 13 noch einmal präzise: „[…] et sic videret omnis caro salutare Dei cum in carne venisset.“ 159 Zu dieser Stelle Javelet (1967), 306 f, der allerdings nicht wie hier die Heilspädagogik im Blick hat. 160 SC 20,3 = SBO I, 116, 7 – 10. 161 SC 20,3 = SBO I, 116, 10 – 11. 162 SC 20,3 = SBO I, 116, 15 – 16.
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zuwenden. Rhetorisch kunstvoll faßt Bernhard diese Überlegung in einem Imperativ noch einmal zusammen: Disce, christiane, a Christo, quemadmodum diligas Christum.163 Lerne, Christ, von Christus, auf welche Weise du Christus lieben sollst.
An dieser Stelle verbinden sich anthropologische und soteriologische Aspekte: die Seele des Menschen, die sich Gott annähern möchte, tue dies, indem sie die Liebe Christi, durch die er die Welt erlöste, erwidere, wie wir im folgenden sehen werden.164 Konsequent ließe sich dieser Imperativ wohl in der schola caritatis, dem Monasterium, verfolgen. Bernhards Gedanken zur Art der Liebe zu Christus haben ihren Ursprung in Deut 6,5: „Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et ex tota virtute tua.“165 Auf diese drei Dinge, nämlich Herz, Seele und Kraft bezieht Bernhard nun die drei Eigenschaften des Liebens Christi. Dabei steht statt sapienter oder caute diesmal prudenter ; diese Semantik stützt einmal mehr die Annahme, daß der Erkenntnisprozeß – in einem über das Theoretische hinausgehenden Sinne – in diesem Zusammenhang zentral für Bernhard ist: Disce amare dulciter, amare prudenter, amare fortiter : […].166 Lerne süß zu lieben, klug zu lieben, tapfer zu lieben […].
Diese drei Arten zu lieben ordnet Bernhard zum einen dem Herzen, d. h. dem Körper, zum anderen der Seele und zum dritten dem ganzen Menschen zu. Jede dieser drei Arten der Liebe habe ihre Aufgabe und ihren Zweck. Die süße Liebe helfe, gegen Versuchungen des fleischlichen Lebens anzukämpfen.167 Die kluge Liebe helfe zum einen, Irrlehren zu erkennen, zum anderen zähme sie ein heftiges Gemüt.168 Die starke Liebe bewirke, daß der Liebende in den anderen beiden Arten zu lieben standhaft bleibe.169 Diese drei Lieben ergänzten und bedingten sich dabei gegenseitig: 163 SC 20,4 = SBO I, 116, 17. 164 So auch Hummel (1989), 164: „Die Rückkehr der Seele zu Gott erfolgt bei Bernhard durch Gleichgestaltung (conformitas) mit dem göttlichen Willen bzw. dem Wort Gottes in Liebe.“ Ebenso ist wohl Benke (1991), 94 – 102, zu verstehen. 165 SC 20,4 = SBO I, 116, 26 – 27. 166 SC 20,4 = SBO I, 116, 17 – 18. 167 „Sit suavis et dulcis affectui tuo Dominus Iesus, contra male utique dulces vitae carnalis illecebras, et vincat dulcedo dulcedinem, quemadmodum clavum clavus expellit.“ SC 20,4 = SBO I, 117, 4 – 6. 168 „Sed sit nihilominus intellectui praevia lux et dux rationi, non solum ob cavendas haereticae fraudis decipulas et fidei puritatem ab eorum versutiis custodiendam, verum ut cautus quoque sis nimiam et indiscretam vehementiam in tua conversatione vitare.“ SC 20,4 = SBO I, 117, 6 – 10. 169 „Sit etiam fortis et constans amor tuus, nec cedens terroribus, nec succumbens laboribus.“ SC 20,4 = SBO I, 117, 10 – 11.
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Ergo amemus affectuose, circumspecte, et valide: scientes amorem cordis, quem et affectuosum dicimus, absque eo qui dicitur animae, dulcem quidem, sed seducibilem, illum vero absque illo qui virtutis est, rationabilem esse, sed fragilem.170 Also wollen wir zärtlich, umsichtig und stark lieben: in dem Wissen, daß die Liebe des Herzens, welche wir auch zärtlich nennen, ohne jene, die als Liebe der Seele bezeichnet wird, zwar süß ist, aber verführbar, jene aber ohne jene, die die Liebe der Tugend ist, vernünftig ist, aber zerbrechlich.
Die süße Liebe ohne die vernünftige sei verführbar, die vernünftige ohne die starke Liebe zerbrechlich. Neben sapienter, caute und prudenter treten nun noch circumspecte und rationabile. Die Liebe zu Christus gipfelt nur in der süßen Sprache des Hoheliedes semantisch zur schwülstigen Brautmystik, theologisch ist in dieser Liebe die durch sie ermöglichte Erkenntnis das Zentrum. Anders als andere mittelalterlichen Ausleger – etwa Dionysios der Karthäuser – problematisiert oder fürchtet Bernhard den Eros der Sprache des Hohenliedes nicht, sondern setzt ihn für seine Interpretation ein.171 Das Verhältnis dieser drei Arten zu lieben ist durch eine Abstufung gekennzeichnet, die für die epistemologische Hierarchie von Körper und Seele von Bedeutung ist. Zuerst habe sich Christus fleischlich denjenigen angenähert, die nur fleischlich, mit der süßen Liebe des Herzens, lieben könnten, um sie gradweise weiter zur geistigen Liebe zu führen: Hanc ego arbitror praecipuam invisibili Deo fuisse causam, quod voluit in carne videri […] ut carnalium videlicet, qui nisi carnaliter amare non poterant, cunctas primo ad suae carnis salutarem amorem affectiones retraheret, atque ita gradatim ad amorem perduceret spiritualem.172 Dies, denke ich, war ein herausragender Grund für den unsichtbaren Gott dafür, daß er im Fleische gesehen werden wollte […], damit er nämlich die ganze Zuneigung der fleischlich Gesinnten, die nur fleischlich lieben konnten, zuerst zu der heilsamen Liebe seines Fleisches zurückzöge und so stufenweise zu einer geistigen Liebe hinführte.
Die nächste Stufe der Liebe ist für Bernhard immer noch fleischlich und knüpft an Joh 6,63173 an: Monstrabat autem postea eis altiorem amoris gradum, cum diceret: Spiritus est qui vivificat, caro non prodest quidquam.174 Er zeigte ihnen aber später eine höhere Stufe der Liebe, als er sagte: Der Geist ist es, der Leben schafft, das Fleisch nutzt gar nichts. 170 171 172 173 174
SC 20,4 = SBO I, 117, 11 – 14. Turner (1995b), 166. SC 20,6 = SBO I, 118, 21 – 26. Joh 6,64 Vlg. (= Joh 6,63 NVlg.). SC 20,7 = SBO I, 119, 4 – 5.
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Zwar werde erkannt, daß das Fleisch ohne den Geist nichts sei, erfüllt sei der Mensch aber noch immer von fleischlicher Liebe zu Christus. Diese fleischliche Liebe zu Christus solle dann auch exklusiv auf ihn bezogen sein und keine anderen fleischlichen Lieben zulassen: Bonus tamen amor iste carnalis, per quem vita carnalis excluditur, contemnitur et vincitur mundus.175 Dennoch ist diese fleischliche Liebe gut, durch welche das fleischliche Leben ausgeschlossen wird, die Welt geringgeschätzt und besiegt wird.
Voran schreite die Liebe, wenn sie auch vernunftgemäß sei, was Bernhard vorher die Liebe der Seele nannte; auch als weise, vorsichtig, klug und umsichtig hatte er sie bezeichnet: Proficitur autem in eo, cum sit et rationalis; perficitur, cum efficitur etiam spiritualis.176 Man schreitet jedoch in ihr fort, wenn sie auch vernunftgemäß ist; man wird [in ihr] vollendet, wenn sie auch geistlich wird.
Bernhard führt im darauffolgenden Satz noch einmal aus, was er unter rationalis, hier mit ,vernunftgemäß‘ wiedergegeben, verstehen will: Porro rationalis tunc est, cum in omnibus quae oportet de Christo sentiri, fidei ratio ita firma tenetur, ut ab ecclesiastici sensus puritate nulla veri similitudine, nulla haeretica seu diabolica circumventione aliquatenus devietur. Itemque cum in propria conversatione illa cautela servatur, ut discretionis meta nulla superstitione vel levitate vel spiritus quasi ferventioris vehementia excedatur.177 Ferner ist sie dann vernunftgemäß, wenn in allen Dingen, welche geziemend über Christus angenommen werden, die Regel des Glaubens so fest gehalten wird, daß von der Reinheit des kirchlichen Verständnisses durch keine Wahrscheinlichkeit, keine häretische oder teuflische Verführung auch nur einen Deut abgewichen wird. Dies gilt auch, wenn in allem persönlichen Umgang vorsichtig darauf geachtet wird, daß an dieser Unterscheidungsfähigkeit durch keine abergläubische Vermessenheit, keinen Leichtsinn oder die Heftigkeit des allzusehr lodernden Geistes gefrevelt werde.
Zu bemerken ist, daß Bernhard hier die vernunftgemäße Liebe als frei von Häresie definiert: kirchliche Dogmatik gibt der Vernunft den Rahmen, innerhalb dieser Schranken der Vernunft ist jedoch die Unterscheidungsfähigkeit der Seele gefragt, um ,wahren‘ und ,falschen‘ Glaubensinhalt zu unterscheiden. Die fleischliche Liebe hatte Bernhard mit der geistlichen verglichen, und er beschreibt letztere so näher : 175 SC 20,9 = SBO I, 120, 22 – 23. 176 SC 20,9 = SBO I, 120, 23 – 24. 177 SC 20,9 = SBO I, 120, 24 – 29.
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Licet vero donum et magnum donum Spiritus sit istiusmodi erga carnem Christi devotio, carnalem tamen dixerim hunc amorem, illius utique amoris respectu, quo non tam Verbum caro iam sapit quam Verbum sapientia, Verbum iustitia, Verbum veritas, Verbum sanctitas, pietas, virtus, et si quid aliud, quod sit huiusmodi, dici potest.178 Obwohl aber die so geartete Hingabe an das Fleisch Christi ein Geschenk, und zwar ein großes Geschenk des Geistes ist, würde ich dennoch diese Liebe als fleischlich bezeichnen, besonders im Hinblick auf jene Liebe, durch welche sie nicht mehr so sehr das Wort als Fleisch, als vielmehr das Wort als Weisheit, das Wort als Gerechtigkeit, das Wort als Wahrheit, das Wort als Heiligkeit, Frömmigkeit, Tugend und was man anderes dieser Art [von ihm] sagen kann, erkennt.
Hier zeigt sich einmal mehr die bereits im antiken Judentum angelegte und im Christentum fortgeführte Sapientisierung der biblischen Überlieferung: der Christus wird zur Weisheit, die es eben zu erkennen und zu erschmecken gilt.179 Diese abstrakte Feststellung illustriert Bernhard mit einem Beispiel, welches seine Gedanken für uns durchaus erhellen kann. Bernhard stellt dazu zwei Typen von Christusverehrern gegeneinander : zuerst denjenigen, der mit Christus leide,180 und sodann denjenigen, der in Demut und Askese nach der Wahrheit strebe181. Diese letzte Stufe der Liebe, die geistliche Liebe, sei die178 SC 20,8 = SBO I, 120, 4 – 8. 179 Zum Begriff Sapientisierung s. Feldmeier (2012). 180 SC 20,8 = SBO I, 120, 10 – 13: „An tibi aeque et uno modo affecti videntur, is quidem qui Christo passo compatitur, compungitur, et movetur facile ad memoriam horum quae pertulit, atque istius devotionis suavitate pascitur, et confortatur ad quaeque salubria, honesta, pia; […].“ An dieser Stelle wäre sicherlich ein Vergleich Bernhards mit z. B. Franz von Assisi interessant, da doch letzterer scheinbar gerade im Nachahmen des Leidens Christi den Gipfel des Aufstieges in der Nachahmung Christi gesehen hat; s. Frank (1993), bes. 691. Dinzelbacher (1994), 118 f und (1998), 183, erkennt bei Bernhard Anfänge und Vorlagen der Leidensmystik, indem er verschiedene Anspielungen Bernhards darauf nebeneinander stellt. Köpf (2000), 34 f, sieht in Bernhard den Begründer der Passionsfrömmigkeit. Zutreffend beschreibt Hummel (1989), 152, die Nachahmung des Leidens als „Vorstufe“ auf dem Weg, den Bernhard beschreibt. Dazu Langer (1994), 47: „Die compassio mit Christus, das Mitleid und Mitleiden mit seinen Schmerzen, steht also auf der untersten Stufe der Liebe.“ Und weiter: „Das aus Leib und Seele zusammengesetzte Wesen muß sich erst langsam zu geistigen Formen der Liebe entwickeln […]“. Ruh (1990), 243ff, lehnt die Annahme, Bernhard sei der Begründer der Mystik einer compassio bzw. imitatio passionis, zwar nicht ab, weist allerdings darauf hin, daß die Schriften, die dieser Annahme gemeinhin zu Grunde liegen, Bernhard zu Unrecht zugeschrieben werden. Dennoch seien es von Bernhard gesetzte Akzente gewesen, die der Grund für diese Fehlzuschreibung waren. Deshalb könne man dennoch von Bernhard als einem Begründer der Leidensmystik sprechen. Die Quellen hingegen zeigen deutlich, daß Hummels Einschätzung der Vorzug zu geben ist: die compassio ist nur eine Vorstufe auf dem Weg des (An-)Erkennens Christi als sapientia, epistemisches Propädeutikum. 181 SC 20,8 = SBO I, 120, 13 – 20: „[…] itemque ille, qui iustitiae zelo semper est accensus, qui veritatem ubique zelat, qui sapientiae fervet studiis, cui amica sanctitas vitae et morum disciplina, cuius mores erubescunt iactantiam, abhorrent detractionem, invidiam nesciunt, superbiam detestantur, omnem humanam gloriam non solum fugiunt, sed et fastidiunt et contemnunt, omnem in se carnis et cordis impuritatem vehementissime abominantur et perse-
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jenige Liebe, die sich durch das starke Lieben auszeichne. Sie sei, anders als die beiden ersten Stufen der Liebe, die des Herzens und die der Seele, nicht alleine zu erreichen: Quod si etiam adiuvantis Spiritus vigor tantus accedat, ut nulla vi laborum vel tormentorum, sed nec mortis metu iustitia umquam deseratur, in hoc etiam tota virtute diligitur, et est amor spiritualis.182 Wenn nun auch eine solch große Kraft des helfenden Geistes hinzutritt, daß durch keinen Zwang von Mühen oder Foltern, aber auch nicht durch die Furcht vor dem Tode die Gerechtigkeit jemals aufgegeben würde, dann wird nämlich darin auch mit der ganzen Kraft geliebt, und es ist die geistliche Liebe.
Die höchste Stufe der Liebe könne nicht durch eigenes Tun erreicht werden, sondern nur mit Hilfe des Geistes. Selbst könne man auf dem Wege dorthin Askese üben und demütig nach der Wahrheit streben. Hier verbinden sich wichtige Elemente. Die Erlangung des Heiles sei dem Menschen selbst nicht möglich. Er müsse dazu die Stufen der Liebe durchlaufen, die Christus ihm als Erlöser vorgezeichnet habe. Der Mensch solle dabei dem Vorbild Christi nacheifern. Dieser Weg, der in der Nachfolge Christi verlaufe, sei gekennzeichnet durch Askese, Demut und der Suche nach der Wahrheit. Dennoch ist am Ende Gott der Handelnde, nicht der Mensch. Obgleich Ninian Smart religiöse Gipfelerfahrungen, wir doch hingegen den weiteren Kontext im Auge haben, faßt er dieses Grundprinzip treffend zusammen: “He [Bernard] felt, with Augustine, that the achievement of this ineffable and ecstatic state was not due to the work of man, but to the grace of God entering into and possessing him.“183 Anders und über Smart hinaus müßte man wohl sagen, daß dieses Prinzip gleichermaßen für den Erkenntnisprozeß und Heilsweg gilt, die bei Bernhard, wie oben gezeigt, zusammengenommen werden müssen.
3.2.2.4 Zur Gottesvorstellung Bernhards in den Hoheliedpredigten Wenn Braut und Bräutigam sich nun im Hohelied treffen, sich küssen und umarmen, wirft dies natürlich wiederum die Frage auf, inwiefern diese menschlichen Handlungen in der Exegese auf das Wirken Gottes bezogen werden können; anders gefragt: inwieweit und auf welche Weise distanziert sich Bernhard auch hier wieder von Anthropomorphismen?184 quuntur, omne denique tamquam naturaliter et malum respuunt, et quod bonum est amplectuntur?“ 182 SC 20,9 = SBO I, 121, 1 – 4. 183 Smart (1991), 449. 184 So auch McGinn (1996), 256.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
In der Erläuterung der „Küsse des Mundes“185 holt Bernhard in SC 8,1 weit aus und offenbart so seine trinitarischen Vorstellungen. Seine Überlegungen beginnen bei Mt 11,27186, und Bernhard erläutert das Verhältnis zwischen Vater und Sohn: Pater enim diligit Filium, et singulari dilectione amplectitur, summus aequalem, aeternus coaeternum, unus unicum.187 Der Vater nämlich liebt den Sohn und umarmt ihn mit einer einzigartigen Liebe, der Höchste den Gleichrangigen, der Ewige den Gleichewigen, der Eine den Einzigen.
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in der Trinität sei folglich gekennzeichnet durch Liebe. Der Vater sei der Höchste, summus, der Sohn gleich hoch, aequalis, mit ihm. Der Vater sei ewig, aeternus, der Sohn gleich ewig, coaeternus, mit dem Vater. Der Vater sei der Eine, unus, der Sohn der Einzige, unicus, worin zum einen das Paradoxon von Einheit und Vielheit anzuklingen scheint und zum anderen die Ausschließlichkeit und Einzigartigkeit der Existenz eines Vaters und eines Sohnes angedeutet ist. Zur Erklärung des Heiligen Geistes bezieht Bernhard das Bild von Braut und Bräutigam auf Vater und Sohn: Nempe si recte Pater osculans, Filius osculatus accipitur, non erit ab re osculum Spiritum Sanctum intelligi, utpote qui Patris Filiique imperturbabilis pax sit, gluten firmum, individuus amor, indivisibilis unitas.188 Denn wenn richtigerweise der Vater als Küssender, der Sohn als Geküßter aufgefaßt wird, wird es nicht verfehlt sein, unter dem Kuß den Heiligen Geist zu verstehen, der nämlich der untrübbare Friede des Vaters und des Sohnes ist, fester Leim, unteilbare Liebe, untrennbare Einheit.
Der Vater sei der Bräutigam, der Sohn die Braut, der Vater der Küssende, der Sohn der Geküßte. Der Heilige Geist aber sei der Kuß zwischen den beiden. Der Genitiv Patris Filiique zeigt deutlich, daß der Heilige Geist somit gleichsam vom Vater und vom Sohn ausgeht; Bernhard deutet hier semantisch auf die in der römischen Kirche gebräuchliche Fassung des Nicaeno-Constantinopolitanums. Das Bild von Braut und Bräutigam bemüht Bernhard ein zweites Mal, und zwar für die Beziehung zwischen Christus und der Kirche. Bernhard beginnt bei Joh 20,22 und deutet diese Stelle vor dem Hintergrund von Hld 1,1: 185 Hld 1,1: „osculetur me osculo oris sui quia meliora sunt ubera tua vino“. 186 Mt 11,27: „omnia mihi tradita sunt a Patre meo et nemo novit Filium nisi Pater neque Patrem quis novit nisi Filius et cui voluerit Filius revelare“. Bernhard zitiert hier allerdings eine alte Textform, wie sie sich bei Augustinus, Sermo 142, 6 findet: „,Nemo cognoscit Patrem, nisi Filius.‘ Noli desperare: veni ad filium. Audi quod sequitur: ,Et cui voluerit Filius revelare‘.“ PL 38, 778 – 784, hier 782. 187 SC 8,1 = SBO I, 36, 18 – 20. 188 SC 8,2 = SBO I, 37, 15 – 18.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Insufflavit, inquit, eis, haud dubium quin Iesus Apostolis, id est primitivae Ecclesiae, et dixit: Accipite Spiritum Sanctum.189 Er sagte: ,er hauchte ihnen ein‘, zweifellos Jesus den Aposteln, das heißt der frühen Kirche, ,und er sagte: nehmt hin den Heiligen Geist.‘
Dennoch sei dieses Einhauchen nicht ein Kuß zwischen den Lippen von Vater und Sohn, sondern ein Kuß mit dem Kuß der Lippen von Vater und Sohn, also ein Kuß des Heiligen Geistes. Bernhard beschrieb, wie wir oben sahen, den Heiligen Geist als Kuß zwischen Vater und Sohn. Hld 1,1 spricht aber vom Küssen mit dem Kuß des Mundes: „osculetur me osculo oris sui“. Diese Differenzierung ermöglicht es Bernhard, den Kuß, also den Heiligen Geist, exklusiv auf Vater und Sohn zu beziehen, den Kuß mit dem Kuß aber der Kirche zukommen zu lassen.190 Bernhards Begründung für Joh 20,22 rundet dann nochmals den Rahmen der Orthodoxie ab: […] invisibilis Spiritus, qui propterea in illo dominico flatu datus est, ut per hoc intelligeretur et ab ipso pariter tamquam a Patre procedere […].191 […] der unsichtbare Geist, der deshalb in jenem Herrenodem gegeben wurde, damit dadurch verstanden würde, daß er auch von ihm selbst gleichermaßen wie vom Vater ausgehe […].
Der Kuß zwischen Gott Vater und Sohn führt zu der Frage, ob Gott überhaupt einen Mund habe, das heißt nach Anthropomorphismen im Gottesbild. Ausgangspunkt der Überlegungen Bernhards ist Joh 4,24;192 Bernhard formuliert von diesem Vers ausgehend die mögliche Gegenposition zu seinen Ausführungen: Verum quia spiritus est Deus, et nullis simplex illa substantia membris distincta corporeis, erit forsan qui nullatenus de illo recipiat tale aliquid, sed a me sibi Dei manus vel pedes flagitet demonstrari, sicque probari quod de osculo pedum manusve diffinio.193 Weil aber Gott Geist ist, und jene einfache Wesenheit durch keine körperlichen Gliedmaßen unterschieden ist, wird es möglicherweise jemanden geben, der keineswegs über ihn eine solche Behauptung annehmen wird, sondern von mir ungestüm fordern wird, daß ihm die Hände und die Füße Gottes nachgewiesen werden, und so bewiesen werde, was ich über den Kuß der Füße oder der Hand behaupte.
Dennoch habe Gott für Bernhard sehr wohl Mund, Hand und Fuß, aber im übertragenen Sinn: 189 190 191 192 193
SC 8,2 = SBO I, 37, 7 – 9. So auch Hummel (1989), 121 f. SC 8,2 = SBO I, 37, 10 – 11. Joh 4,24: „spiritus est Deus et eos qui adorant eum in spiritu et veritate oportet adorare“. SC 4,4 = SBO I, 19, 26 – 29.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Haec, inquam, habet Deus omnia per effectum, non per naturam.194 Diese alle, sage ich, hat Gott durch seine Wirkkraft, nicht durch seine Natur.
Bernhard verbindet dann auch Mund, Hand und Füße mit den Wirkungen Gottes in der Welt: Sed enim et os habet Deus quo docet hominem scientiam, et manum habet qua dat escam omni carni, et pedes habet quorum terra scabellum est, ad quos nimirum peccatores terrae conversi atque humiliati satisfaciant.195 Gott aber hat nämlich sowohl einen Mund, durch den er den Menschen Wissen lehrt, als auch eine Hand, durch die er allem Fleische Speise gibt, und auch Füße, deren Fußschemel die Erde ist, zu denen sich die Sünder der Erde bekehren und so gedemütigt Buße tun.
Bernhard benutzt Anthropomorphismen im Gottesbild hier lediglich als Allegorie für die Wirkungen, die Gott mit seinem Handeln erzielt. Gott ist für Bernhard das unerfaßliche Sein aller Dinge: Non quod longe ab unoquoque sit qui esse omnium est, sine quo omnia nihil, sed, ut tu plus mireris, et nil eo praesentius, et nil incomprehensibilius.196 Nicht, daß er, der das Sein aller ist, fern von irgendeinem sei, ohne den alles nichts wäre, sondern, damit du mehr staunest: nichts ist gegenwärtiger als er und nichts ist unerfaßlicher.
Interessanterweise fügt Bernhard daraufhin noch ein Erklärungsmodell ein: Esse est ergo omnium quae facta sunt, ipse factor eorum, sed causale, non materiale.197 Das Sein aller Dinge, die geschaffen sind, ist er also; er selbst ist deren Schöpfer, aber ursächlich, nicht stofflich.
Hier steht wahrscheinlich die aristotelische Ursachenlehre im Hintergrund.198 Diese ist als Topos durchaus verbreitet, wie zwei Beispiele aus dem Pariser Milieu leicht zeigen: Thierry von Chartres199 und Adam von St. Victor200. 194 195 196 197 198
SC 4,4 = SBO I, 20, 5 – 6. SC 4,4 = SBO I, 20, 2 – 5. SC 4,4 = SBO I, 20, 12 – 14. SC 4,4 = SBO I, 20, 17 – 18. So Winkler (1994), 594 (Anm. 24); Winkler geht nicht auf den unpräzisen Ausdruck Bernhards und den unmittelbaren philosophiehistorischen Kontext ein. 199 „Nam Pater est efficiens causa Filius vero formalis Spiritus sanctus finalis quatuor vero elementa materialis.“ Thierry von Chartres: Tractatus, 556. Der Trinität werden die causa efficiens, formalis und finalis zugeschrieben, die causa materialis hingegen sind die vier Elemente. Diese Unterscheidung scheint auch Bernhard zu treffen, indem er Gott implizit die ersten drei Ursachen zuordnet, die Materie aber von Gott getrennt wissen will. 200 „Effectiva vel formalis/causa deus et finalis/sed nunquam materia.“ Adam von St. Victor, Sequentia de trinitate 7b = Vecchi 56.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Bernhard scheint an dieser Stelle dieses Philosophoumenon zu verkürzen, er kann es wohl beim Leser bzw. Hörer als bekannt voraussetzen oder drückt sich einfach unpräzise aus. Dagegen fügt er vielmehr ein weiteres Bild für die Größe Gottes ein.201 Es geht es ihm offenbar vorrangig darum zu zeigen, daß Gott immateriell ist und daß sein Schöpfungsakt, obwohl sich dieser auf Materie beziehe, dennoch selbst immateriell sei. Zum Ende der Predigt hält Bernhard denn auch noch einmal fest, daß Gott keiner körperlichen Werkzeuge bedürfe und er allein durch das Wort die körperlichen und geistigen Dinge geschaffen habe: Et in his omnibus creandis, gubernandis, administrandis, movendis, promovendis, innovandis, firmandis, nulli corporeis indiget instrumentis, qui omnia solo verbo et corpora creavit et spiritus.202 Und zu dieser aller Erschaffung, Regierung, Verwaltung, Bewegung, Förderung, Erneuerung, Festigung benötigt er keine körperlichen Werkzeuge, der er alles allein durch das Wort, Körper wie Geister, geschaffen hat.
Diese Fähigkeit trenne Gott wiederum scharf von den Menschen, deren Seelen, wie oben gesehen, durchaus des Körpers und der körperlichen Sinne bedürften, durch welche sie sich gegenseitig erkennten und wirkten.203 Gott hingegen bedürfe dennoch nicht einmal den Dienst eines zurückmeldenden Sinnes, damit er irgend etwas erkenne.204 Das Gottesbild Bernhards ist also zum einen geprägt von orthodoxen trinitarischen Vorstellungen.205 Gott Vater und Sohn seien gleich hoch, gleich ewig und aus beiden gehe der Heilige Geist hervor. Gott bedürfe keines Leibes und keiner Sinne um zu wirken oder wahrzunehmen, daher verwendet Bernhard Anthropomorphismen nur als Metaphern, um das Wirken Gottes verständlich zu machen. Das Begreifen Gottes könne jedoch nie vollständig gelingen, denn es gebe, so Bernhard, nichts, was unbegreifbarer, incomprehensibilius, als Gott sei.206
201 SC 4,4 = SBO I, 20, 18 – 21. 202 SC 4,5 = SBO I, 20, 22 – 24. 203 „Animae corporibus et corporeis egent sensibus, per quae sibi invicem innotescant et valeant.“ SC 4,5 = SBO I, 20, 24 – 25. 204 „[…] nec tamen, ut agnoscat aliquid, necessarium habet renuntiantis sensus ministerium.“ SC 4,5 = SBO I, 21, 1 – 2. 205 Stickelbroeck (1994), der eine theologische Analyse der Trinität in Bernhards Werk versucht, betont (120), daß Bernhard gerade das Geheimnis Gottes für die Verehrung erschließen wolle und hebt (336) die liturgische Bekenntnisgebundenheit Bernhards hervor. 206 Ähnlich Adam von St. Victor (Seq. de trinit. 6a = Vecchi 56): „Non humana ratione/capi possunt he persone/nec harum discretio.“
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3. Bernhard als mystischer Theologe
3.2.2.5 Zur Anthropologie Bernhards in den Hoheliedpredigten Eine gute Grundlage für die Rekonstruktion von Bernhards Anthropologie innerhalb der SC bieten die Sermones 80 und 81, da die Gedanken Bernhards zur Anthropologie, die für seine Konzeption religiöser Erfahrung und (Gottes-)Erkenntnis grundlegend sind, sich anhand seines Gedankenganges in diesen beiden Predigten ausgezeichnet illustrieren lassen.207 Bernhard nimmt in Sermo 80 den Ausgangspunkt bei Kol 1,15208 und Gen 1,27209, wenn er das Wort, Christus, von der Seele abgrenzt. Seine Ausgangsfrage lautet: Quid tu duo ista coniungis? Quid enim animae et Verbo?210 Was verbindest du diese beiden? Was haben Seele und Wort miteinander zu schaffen?
Er antwortet darauf: Primo quidem quod naturarum tanta cognatio est, ut hoc imago, illa ad imaginem sit.211 Zuerst freilich weil die Naturen eine so große Verwandtschaft besitzen, daß dieses das Ebenbild, jene nach dem Ebenbilde ist.
Damit greift Bernhard ein zentrales Theologoumenon auf, das etwa von Origenes maßgeblich geprägt und in der Theologie des zwölften Jahrhunderts diskursprägend war, wie Robert Javelet in seinem monumentalen Werk „Image et ressemblance au douziÀme siÀcle“ gezeigt hat.212 Während also Christus Ebenbild sei, sei die Seele nur nach dem Ebenbilde geschaffen, was allerdings trotzdem eine Verwandtschaft bedeute. Diese werde durch die Ähnlichkeit von Seele und Christus bezeugt: 207 McGinn (1996), 261 – 266 und Heller (1990b), bes. 125, wählen daneben SC 82 als Quellenbasis; allerdings hat letztere Untersuchung zum Ziel, die biblischen Grundlagen von Bernhards Anthropologie zu beleuchten. Zur Ebenbildlichkeit siehe auch Heller (1990a), bes. 67 – 69 und 74, die verschiedenste Stellen kompiliert. Hummel (1989), 155 – 165, setzt sich mit den SC 80 – 86 auseinander. 208 Kol 1,15: „qui est imago Dei invisibilis primogenitus omnis creaturae“. Gemeint ist hier Christus. 209 Gen 1,27: „et creavit Deus hominem ad imaginem suam ad imaginem Dei creavit illum masculum et feminam creavit eos“. 210 SC 80,2 = SBO II, 277, 21 – 22. 211 SC 80,2 = SBO II, 277, 22 – 23. 212 Javelet (1967); zu den hier behandelten Stellen siehe dort insbesondere 189 – 196. Zu „Bild und Ähnlichkeit bei Bernhard“ auch Magnard (1993). Hummel (1989), 160, hält dies für augustinisch, kennt aber Javelet nicht; in diesem Zusammenhang ist auch fraglich, ob die pauschale Aussage, Augustinus richte sein Augenmerk anders als Dionysios Areopagita nicht primär auf die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern auf die Ähnlichkeit (260), so haltbar ist.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Deinde quod cognationem similitudo testetur.213 Weiter weil die Ähnlichkeit die Verwandtschaft bezeugt.
Die sich anschließende Frage ist auch die Frage, die Bernhard stellt: In quo similis sit, quaeris?214 Du fragst, worin sie ähnlich ist?
Zuerst äußert er sich zum Ebenbild, also zu Christus: Verbum est veritas, est sapientia, est iustitia: et haec imago. Cuius? Iustitiae, sapientiae, veritatis. Est enim Imago haec iustitia de iustitia, sapientia de sapientia, veritas de veritate, quasi de lumine lumen, de Deo Deus.215 Das Wort ist Wahrheit, es ist Weisheit, es ist Gerechtigkeit: und dies ist das Ebenbild. Wessen? Der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Wahrheit. Es ist nämlich dieses Ebenbild Gerechtigkeit von Gerechtigkeit, Weisheit von Weisheit, Wahrheit von Wahrheit, gleich wie vom Lichte das Licht, vom Gotte Gott.216
Christus ist für Bernhard also Wahrheit, Weisheit und Gerechtigkeit. Doch alle diese Attribute ordnet Bernhard ebenfalls der gesamten Trinität zu. Zu bemerken ist abermals der Rückgriff auf die Formulierung des NicaenoConstantinopolitanums: Bernhard beruft sich auf die Bekenntnisformel, um das Verhältnis zwischen Christus als 2. Person der Trinität und der Trinität als Ganzes zu beschreiben. Nachdem Bernhard also mit dieser Bemerkung die Gefahr gebannt hat, sich außerhalb des Dogmas zu bewegen, grenzt er nun die Seele von Christus scharf ab: Harum rerum nihil est anima, quoniam non est imago.217 Die Seele ist keines von diesen Dingen, da sie nicht Ebenbild ist.
Auch hier begibt sich Bernhard keineswegs in Bereiche, die von anderen als häretisch gedeutet werden könnten: das Göttliche, das Wort, welches Ebenbild sei und für Christus stehe, sei von der Seele, welche menschlich sei, scharf geschieden. Die Trennung zwischen Gott und Mensch wird aufrechterhalten. Bernhard stellt die Erschaffung des Menschen, also auch der Seele, aus Gnade und die Geburt Christi aus dem Vater gegenüber : 213 214 215 216
SC 80,2 = SBO II, 277, 23 – 24. SC 80,2 = SBO II, 277, 25. SC 80,2 = SBO II, 278, 1 – 3. Die einfache Satzkonstruktion sowie die Anspielungen auf das Nicaenum lassen in der Hauptsache keine andere Übersetzung zu als die schon von Cassian Lauterer in Bernhard Werke deutsch VI, 571, vorgelegte. 217 SC 80,2 = SBO II, 278, 3 – 4.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Huic utrumque [magnitudinem et rectitudinem] aut creatio, aut dignatio contulit; illi generatio.218 Diesem [dem Menschen] hat beides [die Größe und Integrität] entweder die Schöpfung oder der Gnadenerweis gebracht, jenem [Christus] die Zeugung.
Doch die Seele, die nach dem Bilde geschaffen sei, müsse dennoch in etwas mit Gott übereinstimmen, etwas, das die Verwandtschaft begründe: Oportet namque id, quod ad imaginem est, cum imagine convenire, et non in vacuum participare nomen imaginis, quemadmodum nec imago ipsa solo vel vacuo nomine vocitatur imago.219 Es ist nötig, daß das, was nach dem Ebenbilde ist, mit dem Ebenbild zusammenpasse, und es nicht nur am leeren Namen des Ebenbildes teilhabe, so wie auch das Ebenbild selbst nicht mit dem bloßen oder leeren Namen Ebenbild genannt wird.
Dieses sei laut Bernhard das Streben der Seele nach Gerechtigkeit, Weisheit und Wahrheit und ihr Vermögen, diese zu fassen: Est tamen earumdem [iustitiae, sapientiae, veritatis] capax, appetensque: et inde fortassis ad imaginem.220 Sie [die Seele] ist aber derselben Dinge [Gerechtigkeit, Weisheit, Wahrheit] fähig, und sie strebt nach ihnen: und daher vielleicht nach dem Ebenbilde.
Nachdem nun das Verhältnis von Seele und Christus, also Gott, als streng voneinander geschieden, aber doch ähnlich, bestimmt wurde, bleibt zu fragen, wie es mit der Seele des Menschen selbst aussehe. Si enim, ut supra docui, eo anima magna est quo capax aeternorum, eo recta quo appetens supernorum, quae non quaerit nec sapit quae sursum sunt, sed quae super terram, non plane est recta, sed curva, cum tamen pro huiusmodi magna esse non desinat, manens utique etiam sic aeternitatis capax.221 Wenn denn, wie ich oben gelehrt habe, die Seele insofern groß ist, als sie die ewigen Dinge fassen kann, insofern gerade, als sie nach den oberen Dingen trachtet, dann ist diejenige, die nicht sucht und auch nicht kennt, was oben ist, sondern das, was auf Erden ist, offenkundig nicht gerade, sondern krumm, obwohl sie dennoch aus diesen Gründen nicht aufhört groß zu sein, da sie jedenfalls auch so der Ewigkeit fähig bleibt. 218 SC 80,3 = SBO II, 278, 24. 219 SC 80,2 = SBO II, 278, 8 – 10. Bernhard streift hier en passant den Universalienstreit und spricht sich offenbar gegen den Nominalismus aus. Damit würde er einmal mehr in Opposition zu Petrus Abaelard stehen. 220 SC 80,2 = SBO II, 278, 4 – 5. 221 SC 80,3 = SBO II, 279, 3 – 7.
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Die Seele also könne hinsichtlich des Strebens nach dem Göttlichen ihre Integrität verlieren, ihre Aufnahmefähigkeit jedoch behalte sie bei. Darin unterscheide sich die Seele, ad imaginem geschaffen, wiederum von Christus, dem beides zugeschrieben wird.222 Die Seele aber habe ihre rectitudo verloren, weil sie nach Irdischem strebe, die magnitudo jedoch behalten. Dies erklärt sich durch die bereits oben erwähnte Verschiedenheit der Seele und Christi: während die Seele als geschaffene hinzugewinnen und verlieren könne, habe Christus, als der eingeborene Sohn und Wesensgleiche mit dem Vater, bereits wesenhaft und unveräußerlich magnitudo und rectitudo. Bemerkenswert ist wiederum, daß der Seele quaerere und sapere der überirdischen und ewigen Dinge als wesentliche Voraussetzung für die rectitudo gelten sollen. Der Zustand der Seele bestimmt sich hier normativ über den tatsächlichen Erkenntniswillen, nicht über die generelle Erkenntnisfähigkeit. Die Seele zeichne sich weiter durch drei Eigenschaften aus. Die erste Eigenschaft sei die Einfachheit. Während die Tiere und Bäume aus den Elementen bestünden, die Sein hätten, und erst nachdem sie aus diesen zusammengesetzt worden seien, das Leben bekämen, bestehe die dem Menschen eigene Seele aus nichts anderem als dem Sein. Sie sei einfach Sein und unterscheide sich von den Bäumen und Tieren. Diese könnten auch nicht zu der Stufe des guten oder seligen Lebens fortschreiten, zu der die Seele fähig ist: Sola, quae in ipso stare cognoscitur, anima hominis in eo dignitatis creata est, vita a vita, simplex a simplici, immortalis ab immortali, ut non sit longe a summo gradu, ubi scilicet id esse quod beate vivere est, in quo solus stat beatus et solus potens, Rex Regum et Dominus dominantium.223 Allein die Seele des Menschen, von der wir wissen, daß sie auf der selbigen [d. h. der Stufe, wo Leben und Sein zusammenfallen], steht, ist in diesem Grad der Würde geschaffen, Leben vom Leben, Einfache vom Einfachen, Unsterbliche vom Unsterblichen, so daß sie nicht weit entfernt ist von der höchsten Stufe, wo nämlich Sein das Gleiche ist, wie selig zu leben, auf welcher Stufe allein der Selige und einzig Mächtige, der König der Könige und der Herr der Herrscher steht.
Auch hier betont Bernhard deutlich, daß die Seele unter Gott stehe, sich diesem nähere, aber nicht auf einer Stufe mit ihm stehe: Neque enim vel ipsi, ut supra diximus, hoc erit aliquando esse quod beatam esse, nec quando beata erit. Fatemur similitudinem, aequalitatem renuimus.224 Denn auch nicht für sie, wie wir oben gesagt haben, wird jemals Sein dasselbe sein, wie selig sein, auch nicht, wenn sie selig sein wird. Wir bekennen die Ähnlichkeit, weisen die Gleichheit zurück. 222 „[…] quia et huic magnum rectumque assignamus?“ SC 80, 3 = SBO II, 278, 22. 223 SC 81,4 = SBO II, 286, 6 – 10. 224 SC 81,4 = SBO II, 286, 12 – 14.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Zum zweiten sei die Seele unsterblich: Alias autem immortalis est anima, et in hoc nihilominus Verbo similis quidem, sed non aequalis.225 Anders aber ist die Seele unsterblich, und darin nichtsdestotrotz dem Worte freilich ähnlich, aber nicht gleich.
Die Differenz in der Art der Unsterblichkeit läge darin, daß die Seele sich verändere, während Gott keiner Veränderung oder Verfinsterung unterworfen sei. Man bemerke in erkenntnistheoretischer Hinsicht, daß diese Eigenschaft der Seele durch sie selbst erkannt werden soll; Selbst- und Gotteserkenntnis sind miteinander verbunden: Verum cum constet suis affectibus mutari eam, agnoscat ita se Deo in immortalitate similem, ut sciat sibi deesse non modicam immortalitatis partem, soli cedens absolutam perfectamque immortalitatem, apud quem non est transmutatio nec vicissitudinis obumbratio.226 Aber weil es feststeht, daß sie durch ihre Affekte verändert wird, soll sie erkennen, daß sie Gott so in der Unsterblichkeit ähnlich ist, daß sie wisse, daß ihr kein geringer Teil der Unsterblichkeit fehlt, und allein dem die absolute und vollkommene Unsterblichkeit überlasse, bei welchem es keine Veränderung oder Verdunkelung durch Wandel gibt.
Zum dritten zeichne sich die Seele durch freien Willen aus, der ihr, von Gott geschenkt, die Wahl zwischen Gut und Böse ermögliche: Arbitrii libertas haec est, plane divinum quiddam praefulgens in anima, tamquam gemma in auro. Ex hac nempe inest illi inter bonum quidem et malum, nec non inter vitam et mortem, sed et nihilominus inter lucem et tenebras, et cognitio iudicii, et optio elegendi […].227 Dies ist die Freiheit des Willens, offenkundig etwas Göttliches, das in der Seele erstrahlt wie ein Edelstein in der Goldfassung. Daraus besitzt jene sowohl die Erkenntnis des Urteils als auch die Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse und auch zwischen Leben und Tod und um nichts weniger zwischen Licht und Finsternis […].
Dieser freie Wille ermögliche es dann also, Verdienste zu erwerben: Inde homo ad promerendum potis: omne etenim quod feceris bonum malumve, quod quidem non facere liberum fuit, merito ad meritum reputatur.228 225 226 227 228
SC 81,5 = SBO II, 286, 27 – 28. SC 81,5 = SBO II, 287, 8 – 12. SC 81,6 = SBO II, 287, 17 – 20. SC 81,6 = SBO II, 287, 24 – 26.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Daher ist der Mensch zum Verdienst befähigt: denn alles Gute oder Böse, das du getan hast, obwohl es freistand, es nicht zu tun, wird verdientermaßen als Verdienst angerechnet.
Der Wille des Menschen sei es auch, der ihn zur Sünde führe, es sei nicht die Natur. Doch selbst die Sünde beraube den Menschen nicht des freien Willens: Et tamen, interveniente peccato, patitur quamdam vim et ipse, sed a voluntate, non a natura, ut ne sic quidem ingenita libertate privetur.229 Und dennoch erleidet auch er, weil die Sünde dazwischentritt, einen gewissen Zwang, aber vom Willen, nicht von der Natur, so daß er nicht einmal auf diese Weise seiner angeborenen Freiheit beraubt wird.
Dies könnte Bernhard durchaus in Abgrenzung gegen den Dualismus der Katharer formuliert haben, mit denen er sich auseinandersetzen mußte.230 Die Sünde sei nicht als Prinzip wie das Gute in Gott präexistent, sondern die Sünde entstehe erst in der freien Entscheidung des Menschen gegen das Gesetz.231 Also sei auch der Leib nicht von sich aus sündig: Et quidem peccato factum, ut corpus quod corrumpitur aggravet animam, sed amore, non mole.232 Und es geschah freilich durch die Sünde, daß der Körper, der dem Verfall ausgesetzt ist, die Seele beschwert, aber durch die Liebe, nicht durch die Last.
Der Körper selbst sei also keine Last, nur die Liebe, besser Lust, der Seele in Beziehung zum Körper, lasse diesen wiederum zur Last für die Seele werden. Insofern ist Bernhards Askese folgerichtig: die Liebe zum Körper und die Förderung der Lust müsse unterbunden werden, um die Last des Körpers von der Seele zu nehmen. So bleibt also als Bernhards Fazit festzuhalten: At quoquo modo illa se habeant, tria quaedam in praesentiarum praecipua commendata tenetis: simplicitatem, immortalitatem, libertatem. Et hoc vobis liquido apparere iam arbitror, animam pro ingenita atque ingenua similitudine, quae in his tam eximie claret, non parvam cum Verbo habere affinitatem, sponso Ecclesiae, Iesu Christo Domino nostro, qui est super omnia Deus benedictus in saecula. Amen.233 229 SC 81,7 = SBO II, 288, 7 – 9. 230 In den SC 63 – 66 setzte Bernhard sich bereits, als Antwort auf den Brief Evervins von Steinfeld (Ep. 472 in der PL Ausgabe der Briefe an Bernhard), mit den Katharern und ihrer Lehre auseinander. Siehe dazu Manselli (1953), 89 – 109; Brenon (1995); Kienzle (1995); Dinzelbacher (1998), 265 – 269; Sanchez (2001). 231 Javelet (1967), bes. 189 – 195 oder 291 – 295, betont die Bedeutung des freien Willens für Bernhard anhand der SC und De gratia et libero arbitrio. 232 SC 81,7 = SBO II, 288, 9 – 10. 233 SC 81,11 = SBO II, 291, 17 – 22.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Aber wie auch immer jene Dinge sich verhalten, haltet ihr drei Dinge jetzt als besonders anempfohlen fest: die Einfachheit, die Unsterblichkeit, die Freiheit. Und ich meine schon, daß euch folgendes klar erscheint, daß die Seele wegen der angeborenen und freigeborenen Ähnlichkeit, die in diesen Dingen derart außerordentlich zu Tage tritt, eine nicht geringe Verwandtschaft zu dem Worte hat, dem Bräutigam der Kirche, Jesu Christo, unserem Herrn, der über alles in Ewigkeit gepriesener Gott ist. Amen.
Gerade das Ideal der Einfachheit in seiner vielgestaltigen Ausformung im monastischen Alltag, d. h. in Liturgie und Arbeit, Architektur und Kunst will Bernhard hier betonen und stellt somit die Verbindung zur Lebenswelt her.234
3.2.2.6 Zur Ekklesiologie Bernhards in den Hoheliedpredigten An dieser Stelle soll es vornehmlich darauf ankommen, die Rolle der Kirche mit dem Ziel zu beleuchten, die Beziehung zwischen Christus, der Kirche und der Einzelseele zu erhellen. Daher erfolgt eine Auseinandersetzung mit SC 68 und SC 69, in denen die schrittweise Beobachtung von Bernhards Gedankengängen in dieser Frage Aufschluß geben kann. Bernhard beginnt seine Ausführungen in SC 68, indem er das Bild von Braut und Bräutigam des Hohenliedes aufgreift. „Quae est sponsa, et quis est sponsus?“ fragt Bernhard, um sich sogleich die Antwort zu geben: Hic Deus noster est, et illa, si audeo dicere, nos sumus, cum reliqua quidem multitudine captivorum, quos ipse novit.235 Dieser ist unser Gott, und jene sind, wenn ich es wage zu sagen, wir, freilich mit der übrigen Menge der Gefangenen, welche er selbst kennt.
Der Bräutigam sei also Gott, die Braut eine Menge von Gefangenen, die Gott kenne. Gott wende sich folglich zuerst an eine Gruppe von Menschen (zu der Bernhard sich durch die 1. Pers. pl. zählt), wie Bernhard noch einmal expliziert: Gaudeamus, gloria nostra haec est: nos sumus in quos intendit Deus.236 Wir wollen uns freuen, dies ist unser Ruhm: wir sind es, denen Gott sich zuwendet.
Das nächste Problem, das Bernhard thematisiert, ist, warum ein solcher Vergleich zulässig sein könne; denn Menschen und Gott seien doch streng voneinander geschieden: 234 Eine moderne monastische Interpretation dieser simplicitas bietet Merton (1980), 107 – 157; zu den Wurzeln des christlichen Ideals der Einfachheit, vor allem auf der literarischen Ebene, Auksi (1995). 235 SC 68,1 = SBO II, 196, 21 – 22. 236 SC 68,1 = SBO II, 196, 23.
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Quanta tamen disparitas! Quid terrigenae et filii hominum coram illo?237 Dennoch, welch großer Unterschied! Was sind die Erdgeborenen und die Söhne der Menschen vor ihm?
Bernhard begründet dies mit der besonderen Vorzugsstellung der Braut, welche keine andere als die Kirche sei: Ipsa est enim Ecclesia electorum, de quibus Apostolus: Omnia, inquit, propter electos.238 Diese ist nämlich die Kirche der Auserwählten, über die der Apostel [Paulus] sagt: ,Alles für die Auserwählten.‘
Bernhard ist es noch einmal wichtig zu betonen, daß diese Liebe ursprünglich vom Bräutigam ausgehe; bereits im Hinblick auf die Soteriologie hatten wir gesehen, daß dieses initiale Handeln Gottes stets seine Grundannahme ist. Dazu greift Bernhard nun auf 1 Petr 5,7 zurück: „Omnem sollicitudinem vestram proicientes in eum, quoniam ipsi cura est de vobis.“239 Die kausale Konjunktion quoniam, ,da ja‘, zeigt für Bernhard, daß erst die fürsorgliche Zuwendung Gottes überhaupt die Grundlage für eine Gottesbeziehung schaffe: Nempe non ait: omnem sollicitudinem vestram proicientes in eum, ut sit ipsi cura de vobis, sed quia ipsi cura est de vobis, aperte perinde monstrans, Ecclesia sanctorum non modo quam dilecta, sed et quod prius dilecta fuerit.240 Denn er sagt freilich nicht: „werft alle Sorgen auf ihn, damit er für euch Sorge trage,“ sondern „weil er ja selbst Sorge trägt für euch“; dadurch zeigt er offen, nicht nur wie sehr die Kirche der Heiligen geliebt wurde, sondern auch, daß sie vorher geliebt wurde.
Dennoch sei die Liebe Gottes nicht einseitig: Non enim ille intendit huic, et non ista illi.241 Nicht wendet sich jener nämlich dieser zu und diese nicht jenem.
Die Kirche sei Gott genauso zugeneigt, wie er ihr zuerst zugetan gewesen sei. Die Zuneigung sei jedoch exklusiv zwischen diesen beiden Partnern: […] ille mihi, et non alteri, quoniam una sum columba eius; ego illi, et non alteri […].242 237 SC 68,1 = SBO II, 196, 23 – 24. 238 SC 68,2 = SBO II, 197, 12 – 14. Bernhard bezieht sich auf 2 Tim 2,10: „ideo omnia sustineo propter electos ut et ipsi salutem consequantur quae est in Christo Iesu cum gloria caelesti“. 239 SC 68,2 = SBO II, 197, 19 – 20. 240 SC 68,2 = SBO II, 197, 23 – 26. 241 SC 68,3 = SBO II, 198, 15 – 16. 242 SC 68,3 = SBO II, 198, 19 – 20.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
[…] jener mir und nicht einer anderen, weil ich seine einzige Taube bin; ich zu jenem und nicht zu einem anderen […].
Während nun Bernhards Soteriologie vorsieht, daß der Mensch, der anthropologisch gesehen ad imaginem geschaffen worden sei, sich der imago, Christus, annähere, wende sich Gott allerdings der Gesamtheit der Christen, der Kirche, exklusiv zu. Dies Problem scheint auch er an dieser Stelle gesehen zu haben, und er fragt danach, wie es um den Einzelnen bestellt sei: „Quid singulus quisque nostrum?“243 Denn das Erlösungswerk in Christus sei doch nicht wegen einer Seele, sondern der gesamten Kirche wegen vollbracht worden: Denique non propter animam unam, sed propter multas in unam Ecclesiam colligendas, in unicam adstringendus [sic!] sponsam, Deus tam multa et fecit et pertulit, cum operatus est salutem in medio terrae.244 Schließlich hat Gott so viel nicht wegen einer einzigen Seele, sondern wegen vieler, die in einer Kirche zu versammeln und zu einer einzigen Braut zusammenzufügen waren, getan und durchlitten, als er das Heil mitten auf Erden gewirkt hat.
Christus habe nämlich die Kirche in seinem Blut erworben: Nec modo quaesivit, sed acquisivit. Adde et de modo acquisitionis in sanguine acquisitoris.245 Er suchte sie nicht nur, er erwarb sie. Füge auch hinzu bezüglich der Art des Erwerbes, daß es im Blute des Erwerbers geschah.
Was die Erlösung beträfe, sei das Heil der Menschen untrennbar mit der Kirche verbunden: Nonne de statu et consummatione Ecclesiae finis omnium pendet?246 Hängt das Ziel aller etwa nicht am Zustand und an der Vollendung der Kirche?
Und sein daran angeschlossener Imperativ macht es noch einmal deutlich: Tolle hanc, et frustra inferior ista creatura revelationem filiorum exspectat.247 Nimm sie weg, und vergeblich erwartet diese untere Kreatur die Offenbarung der Söhne. 243 SC 68,4 = SBO II, 198, 23. 244 SC 68,4 = SBO II, 198, 26 – 29. Mit Corrigendum von J. Leclercq und Migne PL 183, 1110 A: adstringendas statt adstringendus. 245 SC 68,4 = SBO II, 199, 3 – 4. 246 SC 68,4 = SBO II, 199, 9 – 10. 247 SC 68,4 = SBO II, 199, 10 – 11. Bernhard bezieht sich auf Röm 8,19: „nam expectatio creaturae revelationem filiorum Dei expectat“.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Ohne die Kirche erwarte die Schöpfung vergeblich das Offenbarwerden, das Heil; denn die filii Dei, die Menschen, die Kinder Gottes sind, müssten am Jüngsten Tage offenbar werden und damit das Heil für die gesamte Welt einleiten. Bernhard betont daher die Seligkeit der Kirche als Gesamtheit, begründet auf der eschatologischen Spannung zwischen der erfolgten Erlösung und der noch zu erfüllenden Verheißung: Felix proinde in sua universitate Ecclesia, cuius omnis gloriatio impar est causae, non pro his tantum quae illi iam facta sunt, sed pro his quoque quae de illa adhuc oportet fieri.248 Daher ist die Kirche in ihrer Gesamtheit glücklich, deren ganzes Rühmen ungleich ist dem Grund, nicht nur für diese Dinge, die schon getan sind für jene [die Kirche], sondern auch für die Dinge, die hinsichtlich jener noch geschehen müssen.
Angesichts dieser Erlösung bleibt noch die Frage offen, wie es um die Verdienste bestellt sei. Für das Verdienst nämlich sei es nötig zu wissen, daß es allein mit dem Verdienst nicht getan wäre: Sufficit ad meritum scire quod non sufficiant merita.249 Es genügt zum Verdienst zu wissen, daß die Verdienste nicht ausreichen.
Kinder hätten durch die Taufe die Verdienste Christi. Dennoch sei es später scheinbar nötig, Verdienste selbst hinzuzufügen, da man sich sonst der Verdienste Christi unwürdig machte. Es stelle aber einen Unterschied dar, ob man nicht in der Lage sei, Verdienste hinzuzufügen oder es vernachlässige. Im ersten Fall gingen die Verdienste nicht durch Unwürdigkeit verloren, im zweiten Fall sehr wohl: […] porro infantium renatorum neminem carere meritis, sed Christi habere merita. Quibus se tamen indignos reddunt, si sua iungere non nequiverint, sed neglexerint […].250 […] ferner, daß keines der wiedergeborenen Kinder Verdienste entbehrt, sondern daß es Verdienste Christi hat. Dieser werden sie aber selbst unwürdig, wenn sie eigene Verdienste durchaus hinzufügen könnten, es aber vernachlässigen sollten […].
Anders als der Mensch habe die Kirche sowohl die Erlösung bereits in Christus vorweggenommen, als auch die Verdienste, die nötig zur Erlösung seien. Während sie sich der Verheißung rühmen könne, gewinne sie Verdienste gerade dadurch, daß sie sich ihrer Verdienste nicht rühme.251 Gott wende sich also der Kirche zu. Die Frage ist nun, ob und auf welche Weise diese Zuwendung auch der Einzelseele gelte. Bernhard betont, daß 248 249 250 251
SC 68,6 = SBO II, 200, 6 – 8. SC 68,6 = SBO II, 200, 14. SC 68,6 = SBO II, 200, 16 – 18. Dazu SC 68,6 – 7 = SBO II, 200, 24 – 201, 8.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
grundsätzlich gelte, daß die Einzelseele nicht auf sich beziehen dürfe, was die Gesamtheit der Kirche auf sich zu beziehen wage: De anima proposita quaestio est, quia non potest sibi arrogare una quod universitas audeat, nec aliquo modo ad se trahere illam.252 Die vorstehende Frage betrifft die Seele, weil eine einzige sich nicht anmaßen kann, was die Gesamtheit wagen darf, und auch nicht jene auf irgendeine Weise an sich ziehen darf.
Er signalisiert jedoch, daß er der Annahme eines Bezuges zwischen Gott und Einzelseele nicht abgeneigt sei, allerdings nur unter der Einschränkung, daß dies nicht für alle gelten könne: Quod si quis licere putat, et ego non abnuo; sed interest cui: non enim cuicumque.253 Wenn nun irgend jemand glaubt, daß es erlaubt ist, bin auch ich nicht abgeneigt; aber es ist wichtig, wem: nämlich nicht jedem beliebigen.
Es gelte „nämlich nicht jedem beliebigen“. Der Personenkreis, den Bernhard im Auge hat, besteht aus besonderen Menschen, „spirituales“. Damit kann Bernhard eigentlich nur Mönche meinen: Prorsus habet Ecclesia Dei spirituales suos, qui non modo fideliter, sed et fiducialiter agant in eo, cum Deo quasi cum amico loquentes, testimonium illis perhibente conscientia gloriae huius.254
Überhaupt hat die Kirche Gottes ihre Geistbegabten, die nicht nur einen treu untergebenen, sondern auch einen freien Umgang mit ihm pflegen, die mit Gott wie mit einem Freund sprechen, wobei ihnen das Gewissen ein Zeugnis dieses Ruhmes liefert.
Die Auswahl dieser Menschen, die sich durch so einen Umgang mit Gott auszeichneten, behalte sich Gott selbst vor: 252 SC 69,1 = SBO II, 201, 25 – 202, 1. 253 SC 69,1 = SBO II, 202, 4 – 5. 254 SC 69,1 = SBO II, 202, 5 – 8. Bernhard bezieht sich zum einen auf Ps 11,6: „propter miseriam inopum et gemitum pauperum nunc exsurgam dicit Dominus ponam in salutari fiducialiter agam in eo“ und zum anderen auf Röm 9,1: „veritatem dico in Christo non mentior testimonium mihi perhibente conscientia mea in Spiritu Sancto“. Der Psalm legt Gott das Wort fiducialiter in den Mund, das die Handlung derjenigen beschreibt, die auf Gott hoffen. Paulus beruft sich auf die Wahrheit und belegt sie mit seinem besonderen Angesprochensein von Christus. Damit wären diese beiden Bibelstellen prädestiniert für die nähere Beschreibung einer besonderen Gottesbeziehung, in der sich das feste Hoffen und die Zuversicht des Psalms und die besondere Berufung des Apostels zeigen. In diesem Sinne gebraucht Bernhard wohl fiducialiter, wiedergegeben als freier Umgang mit Gott, um eine Grenze zu fideliter, wiedergegeben als treu untergeben, zu ziehen, welches wahrscheinlich eine eher „gewöhnliche“ Beziehung zu Gott ausdrücken soll. Fidelis impliziert auch „Getreuer, Lehnsmann“ bzw. „Untertan, Vasall“. Nach Georges, Sp. 2749 – 50, kann fideliter auch neben „getreu, ehrlich und zuverlässig“ die Bedeutung von „treuherzig“ implizieren.
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Quinam illi sint, id quidem penes Deum; […].255 Wer nun jene sind, das liegt selbstverständlich bei Gott; […].
Die Voraussetzungen dafür allerdings schließt Bernhard direkt an: Da mihi animam nihil amantem praeter Deum et quod propter Deum amandum est, cui vivere Christus non tantum sit, sed et diu iam fuerit, cui studii et otii sit providere Dominum in conspectu suo semper, cui sollicite ambulare cum Domino Deo suo, non dico magna, sed una voluntas sit, et facultas non desit, da, inquam, talem animam, et ego non nego dignam Sponsi cura, maiestatis respectu, dominantis favore, sollicitudine gubernantis; […].256 Gib mir eine Seele, die nichts liebt außer Gott und was Gottes wegen zu lieben ist, für welche Christus nicht nur das Leben ist, sondern auch lange schon war, für welche es zu der Mühe und Muße gehört, den Herrn immer vor Augen zu sehen, für welche mit dem Herrn ihrem Gott bemüht zu wandeln nicht nur ein großer, sondern der einzige Wille ist, und der die Fähigkeit nicht fehlt, gib, sage ich, eine solche Seele, und ich leugne nicht, daß sie würdig der Sorge des Bräutigams ist, der Beachtung durch die Majestät, der Gunst des Herrschers, der Fürsorge des Regierenden; […].
Im wesentlichen werden hier vier Voraussetzungen für die Seelen der besonderen Menschen genannt. Zum ersten sei dies die ausschließliche Liebe zu Gott, zweitens das schon lange bestehende Leben der Seele durch Christus.257 Die dritte Voraussetzung sei der Eifer und das Vergnügen, Gott immer vor Augen zu haben. Die vierte Voraussetzung sei der alleinige Wunsch der Seele, mit Gott allein zu gehen. Nachdem also die Voraussetzungen der Seele geklärt sind, bleibt die Frage offen, aus welchem Grund die Seele überhaupt hoffen dürfe, daß sie als Einzelne angesprochen werden könnte. Bernhard sieht hinsichtlich der Kirche die bereits genannten, hinsichtlich der Seele eine doppelte Begründung: Nempe sanctam multitudinem causae supradictae fidentem faciunt, sanctam animam duplex quaedam ratio.258 Freilich machen die vorgenannten Gründe die heilige Vielheit zuversichtlich, die heilige Seele ein doppelter Grund.
Der erste Grund sei die Tatsache, daß Christus per naturam die Vielheit (multos) als einen (unum) ansehen kann, aber auch einen als Vielheit: 255 SC 69,1 = SBO II, 202, 8. 256 SC 69,1 = SBO II, 202, 10 – 16. 257 Bernhard bezieht sich auf Phil 1,21: „mihi enim vivere Christus est et mori lucrum“. Paulus, der in Gefangenschaft ist, drückt sein Vertrauen zu Christus darin aus, daß Christus vivere, „das Leben“, ist und mori, „das Sterben“, Gewinn ist, da es sich nur um das fleischliche Sterben handele, das ewige Leben der Seele allerdings durch Christus sicher sei. Diese Überzeugung der Seele ist es, um die es Bernhard geht. 258 SC 69,2 = SBO II, 202, 19 – 20.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Primo quidem quod habeat in natura simplicissima Sponsi divinitas quasi unum respicere multos, et quasi multos unum.259 Zuerst freilich, daß die überaus einfache Göttlichkeit des Bräutigams es in ihrer Natur hat, die Vielen wie Einen zu betrachten und als Viele den Einen.
Christus sehe also entweder den Einzelnen als Vielheit oder die Vielheit als Einzelnen an. So sei entweder auf der Objektseite beim Einzelnen oder der Vielheit, oder auf der Betrachterseite desjenigen, der den Einzelnen oder die Vielheit sehe, ein Kollektiv vorhanden. Der Gedanke des Kollektivs wird also nicht verworfen, sondern in einem Kunstgriff per definitionem auch auf den Einzelnen ausgeweitet: Christus sehe den Einzelnen quasi multos, als Kollektiv, an. Die Heilsgeschichte wird somit nicht vom Kollektiv auf den Einzelnen verlagert, sondern vielmehr lediglich ausgeweitet. Anders als etwa auch Dinzelbacher vermutet,260 scheint es hier eher so zu sein, daß Bernhard weniger das Prinzip des Kollektivs durchbricht. Er ersetzt nicht die Identifikation der Braut mit der Kirche durch die Identifikation mit der Seele, er läßt lediglich zugleich beide Möglichkeiten zu. Man muß vermuten, daß Bernhard bewußt auf dieses Paradoxon zurückgreift, um die Zuwendung zur Einzelseele zu beschreiben.261 Dies durchbricht jedoch nicht, wie gezeigt, das Kollektivprinzip, sondern es illustriert vielmehr das unerklärliche Handeln Gottes, das für den Menschen nicht vollständig zu begreifen sei. Dabei stellt die kollektive Zuwendung zur Kirche für Bernhard lediglich den Rahmen für die Möglichkeit der individuellen religiösen Erfahrung dar, zugleich aber eine conditio sine qua non – er ist eben kein a-sozialer, einsamer Häretiker, anders als die oben problematisierten Topoi vom Mystiker es nahelegen würden. Der zweite Grund für das Hoffen der Einzelseele sei, so Bernhard, ein Gnadengeschenk für die Seele, begründet in der Gnade Christi und in der Güte des Vaters: Deinde quod ut probare suavissimum, ita rarissimum probasse est, tanta est dignatio Verbi, tanta benevolentia Patris Verbi erga bene affectam et bene compositam animam […] ut […] sua quoque dignentur praesentia, et ita ut non modo ad eam veniant, sed etiam mansionem apud eam faciant.262 259 SC 69,2 = SBO II, 202, 20 – 22. 260 Dinzelbacher (1994), 110 f. 261 Ein Paradoxon konstatiert in seiner Replica auf Kereszty auch Pennington (1990), 306, in diesem Zusammenhang: „Finally, there is the paradox developed in Bernard’s eschatological humanism. In losing ourselves, giving ourselves completely to Christ in love and becoming fully identified with his Spouse, the Church, we come fully into our own beauty in Christ and in the Church.“ 262 SC 69,2 = SBO II, 202, 25 – 30. Bernhard bezieht sich auf die Stelle in den Abschiedsreden bei Joh 14,23, in welcher Jesus den Weg zum Vater beschreibt. Dort heißt es: „respondit Iesus et dixit ei si quis diligit me sermonem meum servabit et Pater meus diliget eum et ad eum veniemus et mansiones apud eum faciemus“.
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Ferner – und das erfahren zu haben ist so überaus selten, wie die Erfahrung übersüß ist – ist der Gnadenerweis des Wortes so groß, die Güte des Vaters des Wortes so groß gegenüber einer gut eingestellten und wohl geordneten Seele […], daß […] sie sie auch ihrer Gegenwart würdigen und so nicht nur zu ihr kommen, sondern auch Wohnung bei ihr nehmen.
Die Braut des Hohenliedes sei also die Kirche, der Bräutigam Jesus Christus. Aus der Liebe für die Kirche, die von ihr erwidert werde, jedoch von Christus ausgehe, sei das Erlösungswerk für die Kirche durch Christus vollbracht worden, nicht für den Einzelnen. Christus sei aber in der Lage, sich nicht nur der Kirche als Kollektiv, sondern auch dem Einzelnen so zuzuwenden, als sei dieser Einzelne das Kollektiv. Dies geschehe aus der Gnade und der Güte allein. Ferner müssten bezüglich der Einzelseele, der er sich zuwende, bestimmte Voraussetzungen vorliegen: die ausschließliche Liebe zu Gott, das feste Vertrauen auf das ewige Leben durch Christus, Eifer und Vergnügen, Gott vor Augen zu haben und der Wunsch, mit Gott allein zu gehen. Das heiße die vollständige Fixierung auf Gott durch Lieben, Vertrauen, Wunsch nach Nähe und Wunsch nach Gemeinschaft mit ihm.
3.2.3 Die Begegnung der Seele mit Gott in SC 23 Nachdem wir den theologischen Referenzrahmen skizziert haben, wollen wir zu einem Kernbereich des mystischen Diskurses vordringen. Zunächst soll der Weg der Seele zu Gott nachvollzogen werden. Diesen beschreibt Bernhard detailliert und systematisch in SC 23.263 Danach wird in 3.2.4 die Flüchtigkeit der Begegnung und ihre Unverfügbarkeit anhand von SC 74 in den Blick genommen, um dann schließlich in 3.2.5 auf die Metaphern der Gottesbegegnung einzugehen.
3.2.3.1 Vom Garten durch den Keller ins Brautgemach Bernhard greift das Bild eines Hauses auf, dessen Elemente er aus dem Text des Hohenliedes entlehnt: Et quaeramus, si placet, tria ista in Scripturis sanctis, hortum, cellarium, cubiculum.264 Und wir wollen, wenn es genehm ist, diese drei Dinge in den heiligen Schriften suchen: den Garten, den Keller und die Kammer. 263 Ebenso McGinn (1996), 288. Auch Hummel (1989), 129 – 134, wählt SC 23 als Grundlage, wenn sie versucht, auf die Darstellung des Höhepunktes ihrer Mystikkonzeption, der unio mystica (14), hinzuarbeiten. Für eine Analyse der literarischen Komposition und der rhetorischen Strategien siehe Pranger (1994), 51 – 84. 264 SC 23,3 = SBO I, 140, 16 – 17.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Diese drei Orte, den Garten, den Keller und die Kammer ordnet er Aufenthaltsorten, d. h. Zuständen der Seele zu: In ipsis nempe libenter Deum sitiens anima versatur et moratur, sciens se ibi absque dubio inventuram quem sitit.265 In denselben hält sich freilich die Seele, die nach Gott dürstet, gerne auf und verweilt allda, denn sie weiß, daß sie dort zweifelsohne denjenigen finden wird, nach welchem sie dürstet.
Die nach Gott „dürstende“ Seele suche Gott an diesen drei Orten. Diese drei Orte wiederum ordnet Bernhard drei verschiedenen Stadien der Seele auf dem Weg zu Gott zu, die drei der verschiedenen klassischen Schriftsinne266 entsprechen: Sit itaque hortus plana ac simplex historia, sit cellarium moralis sensus, sit cubiculum arcanum theoricae contemplationis.267 Es sei deshalb der Garten die schlichte und einfache Geschichte, es sei der Keller der moralische Sinn, und es sei die Kammer das Mysterium der betrachtenden Kontemplation.
Diese drei Ebenen, den Garten, den Keller und die Kammer, betrachtet Bernhard sodann näher. Der Garten entspräche der Geschichte, weil tugendhafte Männer darin gefunden werden könnten: Et primum quidem historiam ad hortum puto non immerito deputavi, quod in ea inveniantur viri virtutum, tamquam ligna fructifera in horto sponsi et in paradiso Dei, de quorum bonis actibus ac moribus quot sumis exempla, tot carpis poma.268 Und als erstes habe ich freilich, wie ich glaube, nicht unbillig, die Geschichte dem Garten zugeordnet, weil sich in ihr Männer von Tugend finden lassen, gleichsam wie Obstbäume im Garten des Bräutigams und im Paradies Gottes; wie viele Beispiele du Dir an deren guten Taten und Sitten nimmst, so viel Obst pflückst du.
Die tugendhaften Männer werden also mit Bäumen verglichen, die Früchte tragen. Diese Metapher führt Bernhard im folgenden weiter aus. An forte quis ambigat Dei esse plantationem bonum hominem?269 Wer würde denn etwa bezweifeln, daß ein guter Mensch eine Pflanzung Gottes ist? 265 SC 23,3 = SBO I, 140, 17 – 19. 266 Die Ebenen des sog. vierfachen Schriftsinnes sind: historisch, moralisch, allegorisch und anagogisch; dazu weiter unten in diesem Abschnitt. 267 SC 23,3 = SBO I, 140, 19 – 20. 268 SC 23,4 = SBO I, 140, 21 – 24. 269 SC 23,4 = SBO I, 140, 24 – 25.
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Diese rhetorische Frage unterstreicht Bernhard mit Schriftstellen aus den Psalmen und Propheten, in denen ein guter Mensch mit einem fruchtbaren Baum verglichen wird.270 Die Geschichte selbst sei dreigeteilt: Est ergo historia hortus, et ipsa tripertita. Continetur namque in ea caeli et terrae creatio, reconciliatio, reparatio: creatio quidem, tamquam horti satio sive plantatio, reconciliatio autem, quasi germinatio satorum vel plantatorum. […] Porro reparatio futura est in fine saeculi. Erit enim caelum novum et terra nova, et colligentur boni de medio malorum, tamquam fructus de horto, in Dei promptuaria reponendi.271 Die Geschichte ist also der Garten, und dieselbe ist dreigeteilt. Es sind nämlich in ihr enthalten die Erschaffung des Himmels und der Erde, ihre Wiederversöhnung und ihre Wiederherstellung: die Erschaffung freilich, wie das Ansäen und die Anpflanzung des Gartens, die Wiederversöhnung aber, wie das Keimen der Saat oder der Setzlinge. […] Weiterhin wird die Wiederherstellung am Ende der Zeit stattfinden. Es soll ein neuer Himmel und eine neue Erde werden, und die Guten werden versammelt aus der Mitte der Bösen, so wie die Frucht aus dem Garten; sie sollen in die Speicher Gottes eingestellt werden.
Mit historia meint Bernhard hier die Heilsgeschichte, die er mit Saat, Wachstum und Ernte im Garten gleichsetzt. Die Erde werde geschaffen, wie im Garten die Aussaat und Pflanzung stattfinde. Mit der Erlösung, dem Kommen Christi in die Welt, sei das Keimen der Saat und das Sprießen der Pflanzen zu vergleichen. Die Ernte schließlich stehe noch bevor: diese sei das Endgericht, bei dem die Guten von Gott ausgewählt würden, so wie der Gärtner die Ernte einfahre. Der moralische Sinn ist die sittliche Unterweisung, die ebenfalls wieder dreigeteilt ist, drei Keller in einer Kellerei.272 Diese drei Keller nennt Bernhard Weinkeller, Gewürzkeller und Salbenkeller.273 Alle Dinge, die heilsam und angenehm sind, würden in den Kellern gefunden. Nunc autem adverte cuncta apud sponsum salubria, cuncta suavia reperiri: vinum, unguenta, aromata.274 Nun aber bemerke, daß beim Bräutigam alle heilsamen, alle süßen Dinge gefunden werden: der Wein, die Salben, die Gewürze.
Nun ist nicht nur klar, was in den drei Kellern gelagert werde, daß diese Dinge heilsam und süß seien, sondern auch, daß der Keller dem Bräutigam gehöre. Bernhard führt nun noch andere drei Namen für die drei Keller ein: 270 SC 23,4 = SBO I, 140, 25 – 141, 3. 271 SC 23,4 = SBO I, 141, 3 – 12. 272 „In morali quoque disciplina tria aeque advertere est, cellas quasi tres in cellario uno.“ SC 23,5 = SBO I, 141, 15 – 16. 273 SC 23,5 = SBO I, 141, 16 – 21. 274 SC 23,5 = SBO I, 141, 22 – 23.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Et ut suo ordine nominentur, primam nuncupaverim Disciplinae, secundam Naturae, postremam Gratiae.275 Und damit sie entsprechend ihrer Ordnung benannt werden, möchte ich den ersten [Keller] der Disziplin, den folgenden [Keller] der Natur und den letzten [Keller] der Gnade nennen.
Diese drei Namen, Disziplin, Natur und Gnade, stehen für im Leben des Mönches typischen Stufen: In priori discis, iuxta ethicae partis rationem, inferior esse, in sequenti par, in posteriore superior; hoc est: sub alio, cum alio, super alium; vel sic: subesse, coesse, praeesse. Primo igitur discis esse discipulus, secundo socius, tertio magister.276 Im ersten [Keller] lernst du, gemäß der Regel des ethischen Teils, Unterer zu sein, im folgenden Gleicher, im letzten Oberer. Das heißt: unter einem anderen, mit einem anderen, über dem anderen. Oder folgendermaßen: untergeordnet sein, gleichgeordnet sein, übergeordnet sein. Zuerst also lernst du Schüler zu sein, zum zweiten Kollege und zum dritten Lehrer.
Das Grundproblem, welches Bernhard mit den Bezeichnungen für die Keller illustriert, ist folgendes: alle Menschen seien zwar von der Natur gleich geboren,277 allerdings lehnten sich die Menschen aus Hochmut gegen die naturgegebene Gleichheit auf und strebten nach Herrschaft über andere. Daher müsse erst das Gute, das dem Menschen ursprünglich von der Natur gegeben war, durch Gehorsam wiedererlangt werden.278 Nicht jeder sei für jeden Keller geschaffen: der eine benötige stets Disziplin als Untergebener, ein anderer gehe im Leben unter Gleichen auf, und der dritte sei dazu befähigt, den ersten beiden vorzustehen.279 Gott teile ihnen nämlich in unterschiedlichem Maße Gnade zu.280 Nach dieser Gnade bemesse sich auch der Stand in der Gemeinschaft. Derjenige, der auf der höchsten der drei Stufen angelangt sei, habe damit ein Merkmal der Perfektion erlangt, welches ihn als Braut auszeichne. So sagt Bernhard: […] qui in nullo prorsus aut resistat prioribus, aut invideat paribus, aut subiectis vel desit in cura, vel in superbia praesit; praelatis oboediens, sociis congruens, utiliter 275 276 277 278
SC 23,6 = SBO I, 142, 1 – 2. SC 23,6 = SBO I, 142, 2 – 5. „Equidem omnes homines natura aequales genuit.“ SC 23,6 = SBO I, 142, 5 – 6. SC 23,6 = SBO I, 142, 6 – 15. Der Gedanke, das die personifizierte Natur den Menschen gut gebiert, dieser aber sich gegen ihre guten Gesetze auflehnt, findet sich wiederholt im 12. Jh., z. B. bei Alanus ab Insulis: De planctu naturae VIII = Häring 832 – 42. 279 Dieses Modell gesellschaftlicher, aber besonders monastischer Ordnung, führt Bernhard ausgiebig aus: SC 23,7 – 8 = SBO I, 142, 23 – 144, 18. 280 „[…] sicut eis mensuram gratiae partitus est Deus […].“ SC 23,8 = SBO I, 143, 26.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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subditis condescendens: quod quidem perfectionis insigne haud dubius sponsae annuerim.281 […] derjenige, der sich in keiner Weise den Oberen widersetzt, oder die Gleichen beneidet, oder es an Sorge für die Untergebenen mangeln läßt oder ihnen mit Hochmut vorsteht: den Vorstehern gehorsam, mit den Kollegen harmonierend, sich den Untergebenen zum Nutzen zuneigend. Diesen Ausbund an Vollkommenheit darf ich freilich ohne Zweifel der Braut zusprechen.
Mit Braut meint Bernhard hier, wie bereits im Kontext der Ekklesiologie erläutert, die Einzelseele in der Nachfolge Christi, die von diesem, dem Bräutigam, gleichsam als die gesamte Kirche angesehen werden könne. Das dritte Gemach sei nun die Kammer, das Brautgemach, wo sich Braut und Bräutigam träfen. Hier rekurriert Bernhard auf die eigene Erfahrung: er verneint zu Beginn seiner Ausführungen über die Kammer, „Erfahrung in einer so hohen Sache zu haben“.282 Dieses schränkt er jedoch gleich darauf wieder ein: Tamen si nihil omnino scirem, nihil dicerem.283 Dennoch würde ich, wenn ich überhaupt nichts wüßte, nichts sagen.
Da es uns nicht auf die Rekonstruktion einer wie auch immer gearteten Erfahrung ankommt, kann dahingestellt bleiben, ob Bernhard hier lediglich einen Bescheidenheitstopos eingefügt hat, keine oder nur wenige Erfahrung hatte, oder wie diese beschaffen gewesen sein möge. Für uns belegt diese Passage nur die feste Einbindung der Predigten Super cantica in den Diskurs über religiöse Erfahrung. Und so wolle Bernhard dann das sagen, was er wisse; für das, was er nicht wisse, verweist er auf Gott: Quod scio, non invideo vobis, nec subtraho; quod nescio, doceat vos qui docet hominem scientiam.284 Was ich weiß, neide ich euch nicht, und ich unterschlage es auch nicht; was ich nicht weiß, möge euch der lehren, der den Menschen Wissen lehrt.
Die contemplatio sei also der Weg, auf dem das Brautgemach gefunden werden könne: Dixi, et meministis, in theoricae contemplationis arcano Regis esse quaerendum cubiculum.285 281 SC 23,8 = SBO I, 144, 12 – 16. 282 „Minime mihi tantae rei arrogo experientiam, nec glorior in praerogativa quae soli servatur beatae sponsae […].“ SC 23,9 = SBO I, 144, 20 – 21. 283 SC 23,9 = SBO I, 144, 22 – 23. 284 SC 23,9 = SBO I, 144, 23 – 24. 285 SC 23,9 = SBO I, 144, 24 – 25.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Ich habe gesagt, und ihr erinnert euch, daß im Geheimnis der betrachtenden Kontemplation die Kammer des Königs zu suchen ist.
Was Bernhard mit dieser contemplatio, dem „business of monks“, meint, rekonstruiert John Sommerfeldt als ein monastisches Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit neben Glauben und charismatischem Wissen.286 Dieses Suchen sei „in arcano“, „im Geheimnis“, zu tätigen; es sei also nicht etwas, das offen daliege, sondern geheim und verborgen sei. Brautgemächer habe der König viele, nicht nur eines.287 Denn es gebe nämlich nicht nur eine Königin, sondern ebenfalls viele.288 Neben der Königin existierten also noch viele Konkubinen und unzählige Mädchen. Dennoch finde jede von diesen vielen Frauen ihr Geheimnis mit dem Bräutigam, die Beziehung zum Bräutigam sei also individuell, und jede der Frauen habe ihr eigenes Geheimnis: Et unaquaeque invenit secretum sibi cum sponso, et dicit: Secretum meum mihi, secretum meum mihi.289 Und eine jede findet für sich ein Geheimnis mit dem Bräutigam und sagt: Mein Geheimnis ist für mich, mein Geheimnis ist für mich.
Predigt 23 über das Hohelied illustriert Bernhards exegetische Methode. Im Bild des Gartens legt Bernhard historisch aus, im Bild des Kellers moralisch und zuletzt fragt er nach dem mystischen Sinn. Dies entspräche nicht der klassischen Reihenfolge der ex¦gÀse m¦di¦vale, die in der Reihenfolge historischer, allegorischer und moralischer Schriftsinn auszulegen gewohnt gewesen sei.290 Dagmar Heller verneint jedoch die generelle schematische Anwendung eines Stufenmodells des mehrfachen Schriftsinnes im hohen Mittelalter, indem sie neben Bernhard auch Hugo von St. Victor als Gegenbeispiel anführt.291 Es dürfte wohl ein leichtes sein, diese Reihe noch zu verlängern.
3.2.3.2 Die verschiedenen Stufen der Gotteserfahrung Im Hinblick auf die individuelle religiöse Erfahrung gehe das Handeln wiederum von Gott aus. Dies muß man parallel zu dem Initialhandeln Gottes, das uns aus Bernhards Soteriologie vertraut ist, lesen. Anders als die Erkenntnisfähigkeit und damit Erlösungsfähigkeit, die ja potentiell allen Menschen 286 Sommerfeldt (2004a), 5; 22 – 29. 287 „[…] sic quoque non unum puto cubiculum Regi esse, sed plura.“ SC 23,9 = SBO I, 144, 28 – 29. 288 „Nam nec una est regina profecto, sed plures; et concubinae sunt multae, et adolescentularum non est numerus.“ SC 23,9 = SBO I, 144, 29 – 30. 289 SC 23,9 = SBO I, 144, 30 – 31. Bernhard bezieht sich hier auf Jes 24,16: „a finibus terrae laudes audivimus gloriam iusti et dixi secretum meum mihi secretum meum mihi vae mihi praevaricantes praevaricati sunt et praevaricatione transgressorum praevaricati sunt“. 290 Altermatt (1977), 18. 291 Heller (1990a), 183 bzw. 171 – 176.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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gegeben sei, werde der Genuß der Präsenz des Bräutigams nur nach Maßgabe des Vaters zuteil: Non omnibus uno in loco frui datur grata et secreta sponsi praesentia, sed ut cuique paratum est a Patre ipsius.292 Nicht allen ist es gegeben, an einem Ort die beglückende und heimliche Gegenwart des Bräutigams zu genießen, sondern so wie es jeder vom Vater desselben zubereitet wurde.
Gott wähle die geeigneten Menschen aus, und er weise ihnen einen Platz zu: Non enim nos eum elegimus, sed ipse elegit nos, et posuit nos; et ubi ab eo quisque positus est, ibi est.293 Nicht wir nämlich haben ihn uns gewählt, sondern er selbst hat uns gewählt und auf unseren Platz gestellt. Und wohin ein jeder von ihm gestellt worden ist, dort steht er.
Obwohl verschiedene Arten der innigen Beziehung zum Bräutigam möglich seien, die durch die Metaphern der Mädchen, Konkubinen und Königinnen angedeutet werden, stehe damit nicht jedem automatisch das Brautgemach offen, „welches der Bräutigam einzig jener seiner Taube, Schönen, Vollkommenen, Einen bewahrt“.294 Auf diesem Wege sei aber durch Gottes Gnade ein Voranschreiten möglich: […] et sive regina, sive concubina, sive etiam sit de numero adolescentularum, congruum quaeque pro meritis accipit locum terminumque, quousque liceat sibi contemplando procedere, et introire in gaudium Domini sui, et rimari dulcia secreta sponsi.295 […] und sei sie Königin oder Konkubine oder auch von der Zahl der Mädchen, eine jede empfängt nach ihren Verdiensten einen angemessenen Platz und eine Grenze, bis wohin es ihr erlaubt ist durch die Betrachtung voranzuschreiten und ,einzugehen in die Freude ihres Herrn‘ [Mt 25,23] und die süßen Geheimnisse des Bräutigams leidenschaftlich zu durchwühlen296.
Das Voranschreiten, procedere, bis zum Eintritt in die Freude des Herrn, gaudium Domini, und bis zum Erforschen der Geheimnisse des Bräutigams, 292 SC 23,9 = SBO I, 145, 1 – 2. Das Verbum frui ist von der Vulgata (Spr 7,18) her eindeutig sexuell konnotiert: „veni inebriemur uberibus donec inlucescat dies et fruamur cupitis amplexibus“, dazu Dinzelbacher (1998), 181. Die vielfältige Verwendung von frui und die sexuelle Konnotation in Verbindung mit amor belegt Thesaurus 6,1,2: Art. fruor, bes. Sp. 1424. Zur Bedeutung im Kontext des asketischen Vokabulars bei Wilhelm von St. Thierry s. Sergent (2009). 293 SC 23,9 = SBO I, 145, 2 – 3. Bernhard bezieht sich auf Joh 15,16: „non vos me elegistis sed ego elegi vos et posui vos ut eatis et fructum adferatis […]“. 294 „[…] quod suae illi columbae, formosae, perfectae, uni, unicum sponsus servat.“ SC 23,10 = SBO I, 145, 19 – 20. 295 SC 23,10 = SBO I, 145, 12 – 16. 296 Leidenschaftlich durchwühlen will das Ungestüme des Ausforschens von rimari wiedergeben.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
secreta sponsi, werde gewirkt von Gott, der Ort und Grenze bestimme, locum terminumque; Bernhard verwendet in der gesamten Predigt 23 lokale Metaphern. Verliehen werde dieser Fortschritt nach den Verdiensten, pro meritis. Wieder steht Bernhard fest auf dem Boden der Orthodoxie, wenn er das Zusammenwirken von Gottes Gnade und den menschlichen Verdiensten als Motor des Voranschreitens beschreibt. Bernhard charakterisiert nun die verschiedenen Stadien beim Fortschreiten in der Erfahrung göttlicher Gegenwart, bis hin zur Erfahrung des Bräutigams im Brautgemach. Der erste Ort, auf den Bernhard zu sprechen kommt, unterscheide sich vom Schlafgemach darin, daß in jenem nicht die absolute Ruhe des Schlafgemachs gefunden werde: Non igitur locus iste cubiculi, ubi nequaquam per omnem modum quiescitur.297 Dieser Ort ist also nicht der des Brautgemaches, wo man auf keinen Fall auf jede Art und Weise ruht.
Vielmehr hatte Bernhard diesen Ort vorher als den beschrieben, an dem der Bräutigam als allmächtiger Schöpfergott betrachtet wird: Est locus apud sponsum, de quo sua iura decernit et disponit consilia ipse universitatis gubernator, leges constituens omni creaturae, pondus, et mensuram, et numerum.298 Es gibt einen Ort beim Bräutigam, von welchem aus der Regierer des Universums selbst sein Recht setzt und Ratschlüsse fällt. Er stellt Gesetze auf für alle Kreatur: Gewicht, Maß und Zahl.
In einem solchen Zustand werde die Seele von diesem Aspekt des Bräutigams zu stets weiterem Forschen animiert, welches sie einerseits ermüden lasse; andererseits bewirke diese Faszination jedoch einen Zustand der Unruhe, der die Seele auf ihrem Weg vorantreibe: […] sed mirabiliter, quamvis delectabiliter, rimantem et admirantem fatigat, redditque inquietum.299 […] aber auf wundersame, obgleich angenehme Weise läßt er den Forschenden und Staunenden ermüden und macht ihn unruhig.
Bernhard rekurriert wieder auf die eigene Erfahrung, wenn er einen weiteren Ort beschreibt, welcher der Ort des Schreckens sei: Terribilis est locus iste, et totius expers quietis. Totus inhorrui, si quando in eum raptus sum, illam apud me replicans cum tremore sententiam: Quis scit si est dignus amore an odio?300 297 298 299 300
SC 23,11 = SBO I, 146, 14 – 15. SC 23,11 = SBO I, 145, 26 – 28. SC 23,11 = SBO I, 146, 2 – 4. SC 23,13 = SBO I, 147, 6 – 9. Bernhard gibt Pred 9,1 frei wieder: „omnia haec tractavi in corde
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Schrecklich ist dieser Ort und gänzlich ohne Ruhe. Ich erschauderte völlig, als ich manchmal zu ihm entrückt wurde, und ich wiederholte zitternd jenen Satz: Wer weiß, ob er der Liebe oder des Hasses würdig ist?
Mit Zittern überdenke der dorthin Entrückte diese Frage aus dem Kohelet und stelle den Aspekt des richtenden Gottes in den Vordergrund: Habet haec visio tremorem iudicii, non securitatem cubiculi.301 Diese Vision hat das Zittern des Gerichts, nicht die Sicherheit des Brautgemaches.
So fragt Bernhard dann zu recht, wer an diesem Orte wohl Ruhe suchen würde.302 Und dennoch kämen an diesem Ort sowohl der Schrecken als auch die Heiligkeit und die Herrlichkeit Gottes zusammen: Hic nempe timeri dicitur Deus; hic sanctum et terribile nomen eius, et tamquam ingressus gloriae: initium plane sapientiae timor Domini.303 Hier wird nämlich gesagt, daß Gott gefürchtet wird. Hier ist sein heiliger und furchtbarer Name und gleichsam der Eingang zur Herrlichkeit: denn offenkundig ist der Anfang der Weisheit die Furcht des Herrn.
Diese Schau des Schreckens, die Furcht auslöse, sei notwendig, damit der Aufgeblasenheit des Stolzes, elationis tumor304, Einhalt geboten werde.305 Beobachten läßt sich, daß die Gotteserfahrung hier als Furcht charakterisiert wird.306 Diese Furcht beuge dem Hochmut vor und fördere die Demut, sie sei somit ein notwendiges Zwischenstadium. Der dritte Ort bringe der Seele die ersehnte Ruhe: Sed est locus ubi vere quiescens et quietus cernitur Deus: locus omnino, non iudicis, non magistri, sed sponsi […].307 Aber es gibt einen Ort, wo Gott wahrlich ruhend und ruhig erblickt wird. Ein Ort, der gänzlich nicht dem Richter, nicht dem Lehrer, sondern dem Bräutigam gehört […].
Gerade die Ruhe und das Ruhende seien es, die diesen Ort von dem Ort des Lehrers, dem ersten beschriebenen Ort, und dem Ort des Richters, dem zuletzt beschriebenen Ort, unterschieden. Der gnädige Gott des Ps 102,17 ist es, der
301 302 303 304 305 306 307
meo ut curiose intellegerem sunt iusti atque sapientes et opera eorum in manu Dei et tamen nescit homo utrum amore an odio dignus sit“. SC 23,13 = SBO I, 147, 6. „[…] quis hoc loco requiem quaerat?“ SC 23,13 = SBO I, 147, 5 – 6. SC 23,13 = SBO I, 147, 18 – 20. Bernhard bezieht sich auf Ps 110,10: „initium sapientiae timor Domini intellectus bonus omnibus facientibus eum laudatio eius manet in saeculum saeculi“. SC 23,14 = SBO I, 148, 10 – 11. SC 23,14 = SBO I, 147, 21 – 148, 16. Gott als Richter macht auch Dinzelbacher (1998), 184, als Bild in den SC aus. SC 23,15 = SBO I, 148, 17 – 18.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
sich für Bernhard in diesem Ort zeige.308 Gerade das Erbarmen, misericordia, zeichne Gott hier aus. Er sei nicht mehr furchtbar, terribilis, oder bewunderungswürdig, admirabilis, sondern liebreizend, amabilis, heiter, serenus, und angenehm, placidus. Ferner sei er auch süß, suavis, und milde, mitis.309 Und einem solchen ruhigen, angenehmen Ort könne Bernhard dann auch verdientermaßen den Namen des Schlaf- oder Brautgemaches geben: O vere quietus locus, et quem non immerito cubiculi appellatione censuerim […].310 O wahrlich ruhiger Ort, welchem ich nicht unverdientermaßen den Namen des Brautgemaches zumessen möchte […].
Bernhard spricht von den drei beschriebenen Orten als von einer triplex visio oder einer triplex contemplatio.311 Dies zeigt zum einen seinen lockeren Umgang mit der Terminologie, zum anderen aber, daß es ihm auf eine unio hier nicht ankommt, vielmehr aber auf drei verschiedene, zusammengehörige und gestufte (triplex) Facetten einer Gotteserfahrung; die höchste Stufe ist gekennzeichnet durch absoluten Gottesfrieden, in dem sinnliche Eindrücke, Sorgen und Schuld verschwinden.312
3.2.4 „Doch der Bräutigam kommt und geht, wann er will“ „Revertere“, „Kehr um!“, so beginnt Bernhard Predigt 74 über das Hohelied; es ist der Imperativ aus Cantica 2,17.313 Die Braut, so Bernhard, spreche diese Worte. Doch wen bittet die Braut umzukehren? Es ist natürlich der Bräutigam; und, so Bernhard, nicht lange sei es her, daß er zugegen gewesen sei, gerade im Weggehen sei er begriffen. Der Umstand, daß die Braut den Bräutigam sogleich zurückruft, ist ihm Indiz für die große Liebe der beiden. Und in der Tat, die Braut sagt nicht: ,Liebling, ich glaube wir brauchen Abstand!‘. Die Liebe wird jetzt für Bernhard zum handelnden Subjekt des Satzes: der Bräutigam wird von der Liebe verfolgt – persequitur –, sie von ihr gedrängt – amor urget: Revertere, inquit. Liquet non adesse quem revocat; affuisse tamen, idque non longe ante: quippe qui, dum adhuc abiret, revocari videtur. Intempestiva revocatio, magni 308 „Clare ibi agnoscitur misericordia Domini ab aeterno et usque in aeternum super timentes eum.” SC 23,15 = SBO I, 148, 20 – 21. 309 „At vero tertio isto in loco non plane terribilis, nec tam admirabilis quam amabilis apparere dignatur, serenus et placidus, suavis et mitis, et multae misericordiae omnibus intuentibus se.“ SC 23,16 = SBO I, 150, 8 – 10. 310 SC 23,16 = SBO I, 149, 16 – 17. 311 SC 23,16 = SBO I, 150, 4 (triplex visio) und 150, 14 (triplex contemplatio). 312 Hummel (1989), 129 – 134, skizziert auch SC 23, legt aber den Schwerpunkt auf das schon im Diesseits mögliche Erlebnis einer unio. 313 SC 74,1 = SBO II, 239, 22. Für eine assoziative Analyse des Gebrauches von revertere siehe Pranger (1994), 317 – 329.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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unius amoris, magnae alterius amabilitatis indicium est. Qui sunt isti caritatis cultores, amatoriique tam indefessi sectatores negotii, quorum alterum prosequitur, alteram urget tam inquietus amor?314 „Kehr’ um!“ ruft sie. Offenbar ist der, den sie zurückruft, nicht anwesend, aber er war zugegen – und das nicht lange zuvor; denn sie scheint diesen, während er noch im Weggehen begriffen ist, zurückzurufen. Der unzeitige Rückruf ist Zeichen ihrer großen Liebe und seiner großen Huld. Wer sind diese Anbeter der Liebe, diese so unermüdlichen steten Besucher des Liebesgeschäftes, von denen beiden er verfolgt, sie von der so ruhelosen Liebe bestürmt wird?
Doch wie kann der Bräutigam der Seele – das Wort Gottes, Christus – (weg) gehen? Ist er Gott, so muß er doch unbeweglich sein: Abibat, revocatur. Quis mihi huius reseret mutabilitatis sacramentum? Quis mihi digne explicet ire et redire Verbi? Numquid mutabilitate utitur Sponsus? Unde, quo venire seu denuo ire queat, qui totum implet? Quem denique motum habere localem possit, qui spiritus est? Aut quem postremo vel cuiuscumque generis motum das illi, qui Deus est? Est quippe incommutabilis.315 Er ging, er wird zurückgerufen. Wer wird mir das Geheimnis dieser Veränderlichkeit offenbaren? Wer erklärte mir auf angemessene Weise das Weggehen und Wiederkommen des Wortes? Bedient sich der Bräutigam etwa einer Veränderlichkeit? Woher, wohin kann er kommen oder von neuem gehen, der alles erfüllt? Welche räumliche Bewegung kann der überhaupt ausführen, der Geist ist? Oder welche Bewegung gleich welcher Art schreibst du am Ende jenem, der Gott ist, zu? Er ist natürlich unveränderlich.
Die Vulgata gibt Bernhard den Text vor (revertere), doch er legt sogleich aus: es ist doch keinesfalls die Bewegung des Wortes, sondern lediglich der sensus der Seele, der die Seele wahrnehmen lasse, daß das Wort gehe. Obgleich dies deutlich dem Wortlaut widerspricht, ist es doch die allegorische Auslegung, die hier den mystischen – d. h. den verborgenen – Sinn der Schrift erschließt. Die Schrift, so Bernhard, bediene sich eben dieser Bilder, um dem Menschen das, was er eigentlich nicht fassen kann, zugänglich zu machen: Nos autem in expositione sacri mysticique eloquii caute et simpliciter ambulantes, geramus morem Scripturae, quae nostris verbis sapientiam in mysterio absconditam loquitur; nostris affectibus Deum, dum figurat, insinuat; notis rerum sensibilium similitudinibus, tamquam quibusdam vilioris materiae poculis, ea quae pretiosa sunt, ignota et invisibilia Dei, mentibus propinat humanis.316 Wir aber, die wir bei der Auslegung der heiligen und den verborgenen Sinn tragenden Worte uns bedacht und bieder halten, wir wollen uns nach der Sitte der Schrift halten, 314 SC 74,1 = SBO II, 239, 22 – 240, 1. 315 SC 74,1 = SBO II, 240, 11 – 16. 316 SC 74,2 = SBO II, 240, 17 – 22.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
die mit unseren Worten die im Geheimnis verborgene Weisheit spricht: indem sie Gott für unsere Affekte ausmalt, teilt sie ihn mit. Sie schenkt dem menschlichen Geist mit bekannten Gleichnissen sinnlich wahrnehmbarer Dinge das, was wertvoll ist – die nicht wahrnehmbaren und unsichtbaren Dinge Gottes –, gleichsam in gewissen weniger wertvollen Gefäßen ein.
Mit einiger Vorsicht kann man durchaus eine Nähe zum Konzept des unbewegten Bewegers Aristoteles’ erkennen, das seit der späteren Antike als Topos philosophischen Theologie anzutreffen ist:317 Gott ist – so Bernhard – unveränderlich und damit unbeweglich, es ist eigentlich die Seele, die in ihrer Wahrnehmung schwankt. Das Kommen und Gehen findet zwar in der Seele statt, aber das Wort bewegt sie, ist selbst unbewegt: […] dicamusque Verbum Dei, Deum, sponsum animae, prout vult et venire ad animam, et iterum dimittere eam: tantum ut sensu animae, non Verbi motu, ista fieri sentiamus. Verbi causa, cum sentit gratiam, agnoscit praesentiam; cum non, absentiam queritur, et rursum praesentiam quaerit, dicens cum Propheta: Exquisivit te facies mea; faciem tuam Domine, requiram.318 Wir können also sagen, daß das Wort Gottes, Gott, der Bräutigam der Seele, nach seinem Belieben zur Seele gelangt und sie wieder verläßt: nur daß wir dieses Geschehen durch den Sinn der Seele und nicht durch eine Bewegung des Wortes wahrnehmen. Zum Beispiel, wenn die Seele die Gnade spürt, erkennt sie seine Gegenwart. Wenn sie diese nicht erspürt, beklagt sie sein Abhandensein und fordert mit den Worten des Propheten von neuem seine Gegenwart: „Mein Antlitz hat Dich gesucht, Dein Angesicht, Herr, werde ich suchen.“ Vivum et efficax [Verbum] est, moxque ut intus venit, expergefecit dormitantem animam meam; movit et emollivit, et vulneravit cor meum, quoniam durum lapideumque erat, et male sanum.319 Es [das Wort] ist lebendig und wirksam, und bei seinem Eintritt erweckte es sogleich meine einnickende Seele; es bewegte und erweichte, es verwundete mein Herz, weil dieses hart und steinern und krank war.
Doch warum dieses Hin und Her, dieses Kommen und Gehen? Bernhard vermutet, das Verlangen der Seele solle gesteigert werden: Et forte ideo subtraxit se, quo avidius revocaretur, teneretur fortius.320 Und daher hat er sich möglicherweise entfernt, damit er umso leidenschaftlicher zurückgerufen, umso fester gehalten würde. 317 Freilich ohne daß in jedem Falle die tatsächliche Quelle, Aristoteles’ Metaphysik, vorgelegen hätte, also indirekt und nicht direkt intertextuell. 318 SC 74,2 = SBO II, 240, 23 – 28. 319 SC 74,6 = SBO II, 243, 10 – 12. 320 SC 74,3 = SBO II, 241, 13 – 14.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Bernhard illustriert mit Stellen aus dem NT: im Emmaus-Geschehen stellt sich Jesus zunächst so hin, als ob er weitergehen wolle (Lk 24,28), läßt sich dann aber bitten, bei Kleopas und dem anderen Jünger zu bleiben. In Mk 6,48 – Jesus wandelt über den See Genezareth – will er zunächst an den wild rudernden Jüngern vorbeigehen, sie erschrecken sich, erkennen ihn. Bernhard parallelisiert das Verhalten des Wortes als Leib und des Wortes als Geist: Ergo istiusmodi piam simulationem, immo salutarem dispensationem, quam tunc corporaliter Verbum corpus interdum exhibuit, non cessat identidem Verbum spiritus, modo sui spirituali, cum devota sibi anima sedulo actitare.321 Deshalb hört das Wort als Geist nicht auf, wiederholt solches fromme Als-ob – vielmehr eine heilsame Maßnahme –, welches das Wort als Körper damals manchmal körperlich zeigte, auf seine geistige Art mit einer ihm sich hingebenden Seele eifrig zu betreiben.
Das Wort in verschiedenen Modi zeigt sich auf die dem Modus angemessene Weise. Bernhard spielt mit der Polysemie des Substantives verbum. Die grammatische Funktion der verschiedenen Modi des Verbes dient ihm zur Verdeutlichung, wie sich Christus als das Wort kontextangemessen verschiedener Darstellungsformen bedient – hier zeigt sich Bernhard genauso gewandt wie ein Alanus ab Insulis, der etwa die Steigerungsformen des Adjektives zur Illustration des Vermögens Gottes, der Natur und der Seele benutzt.322 Während das Wort vorbeigehe, wolle es gehalten werden, wenn es weggehe, zurückgerufen werden. Das Gehen, so Bernhard, sei vorausschauend beabsichtigt, das Zurückkommen freiwillig.323 So bringt Bernhard dann auch zwei Stellen aus den Abschiedsreden des Johannesevangeliums: „Ich gehe hin und komme wieder zu euch“ (Joh 14,28) und „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen“ (Joh 16,17).324 Die Seele sehnt sich nach der Gegenwart des Wortes, durch das Kommen und Gehen wird dieses Verlangen geschürt – das Wort ist es, welches das Verlangen der Seele steigert. Doch wie nun wird die Seele der Gegenwart des Wortes gewahr? Bernhard bekennt, selbst solche Erfahrungen gemacht zu haben und gibt an, weder das Kommen noch das Gehen, sondern lediglich die Präsenz des Wortes wahrgenommen zu haben: 321 SC 74, 3 = SBO II, 241, 20 – 23. 322 Alanus ab Insulis: De planctu naturae VI = Häring 830, 162 – 65: „Et sic in quodam comparationis triclinio tres potestatis gradus possumus invenire, ut dei potentia superlativa, Nature comparativa, hominis positiva dicatur.“ 323 SC 74, 3 = SBO II, 241, 23 – 27: „Praeteriens teneri vult, abiens revocari. Neque enim hoc irrevocabile Verbum: it et redit pro beneplacito suo, quasi visitans diliculo, et subito probans. Et ire quidem illi quodammodo dispensatorium, redire vero semper voluntarium est: utrumque autem plenum iudicii. At penes ipsum horum ratio.“ 324 SC 74, 4 = SBO II, 241, 29 – 30.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Fateor et mihi adventasse Verbum, – in insipientia dico –, et pluries. Cumque saepius intraverit ad me, non sensi aliquoties cum intravit. Adesse sensi, affuisse recordor; interdum et praesentire potui introitum eius, sentire numquam, sed ne exitum quidem.325 Ich bekenne – und ich spreche in meiner Torheit –, daß das Wort sich mir wiederholt, ja vielfach, genaht hat. Und obwohl es recht oft in mich hineingetreten ist, so habe ich es mehrfach nicht wahrgenommen, wenn es eingetreten ist. Ich habe das Dasein wahrgenommen, erinnere mich der gewesenen Gegenwart; zuweilen konnte ich den Eingang ahnen – nie wahrnehmen –, aber auch nicht einmal den Ausgang.
Nicht durch die Augen sei es gekommen, sei es doch farblos, nicht durch die Ohren, sei es doch klanglos, nicht durch die Nase, denn es vermische sich nicht mit Luft, nur mit dem menschlichen Geist. Es sei auch nicht durch den Mund gekommen, sei es doch weder eß- noch trinkbar. Ertasten lasse es sich auch nicht, folglich scheide der Tastsinn aus. Es sei keines der äußeren Dinge, eine buchstäbliche Auslegung von 1 Kor 5,12: „Denn was gehen mich die draussen an, daß ich sie richten sollte?“ Von innen könne es auch nicht kommen, da Bernhard wisse, daß in ihm nichts Gutes sei. Doch schaue er in seine Tiefe, fände er das Wort noch tiefer, schaue er nach außen, fände er das Wort noch weiter außen und schaue er nach innen, fände er das Wort noch tiefer in sich. Ein Wort der Apostelgeschichte bietet Bernhard den intepretatorischen Schlüssel für dieses Paradoxon: „In ipso vivimus, movemur et sumus“ (Apg 17,28).326 Bernhard schließt den Gedanken mit der Umkehrung dieses Wortes: […] sed ille beatus est, in quo est ipsum, qui illi vivit, qui eo movetur.327 Jener ist aber selig, welchem das Wort innewohnt, der für dieses [d.h. auf das Wort hin] lebt, der von ihm bewegt wird.
Doch wie könne er wissen, daß es das Wort gewesen sei, fragt sich Bernhard gleich; denn Gottes Wege seien, wie Röm 11,33 sage, doch unerforschlich. Er sucht Schriftbelege, die etwas über die Wirkung Gottes aussagen: Es sei lebendig und wirksam (Hebr 4,12), denn es wecke die Seele auf. Es habe das Herz verwundet und erweicht (Hld 4,9), weil es „hart und steinern und krank war“ (Sir 3,27, Ez 11,19). Es habe begonnen, herauszureißen, zu zerstören, zu erbauen und zu pflanzen (Jer 1,10), das Dürre zu bewässern, Dunkles zu erleuchten, Verschlossenes zu öffnen, Kaltes anzuzünden, Schlechtes zu berichtigen und Rauhes zu ebenen Wegen zu machen (Jes 40,4), so daß die Seele den Herrn lobte und alles seinen heiligen Namen (Ps 102,1).328 Bernhard ist vorsichtig, beschreibt seine Erfahrung in den Bildern, die ihm der Kanon vorgibt, um nicht über etwas, über das man nichts aussagen kann, 325 326 327 328
SC 74, 5 = SBO II, 242, 16 – 20. SC 74, 5 = SBO II, 242, 20 – 243, 7. SC 74, 5 = SBO II, 243, 7 – 8. SC 74, 6 = SBO II, 243, 9 – 16.
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Aussagen zu treffen. Ihm ist es noch einmal wichtig zu betonen, daß es die Seele sei, die sich verändere: […] tantum ex motu cordis […] intellexi praesentiam eius […] – „allein durch die Bewegung des Herzens […] wurde ich seiner Gegenwart gewahr“.329 Doch wie schlimm fühle sich die Seele, wenn sie sich wegbewege! Bernhard nutzt wieder Bilder der Schrift zur Illustration: die Seele sei zu Tode betrübt (Mt 26,38) bis das Wort zurückkehre und sie aufwärme (Ps 108,22). Immer werde ihm der Ruf der Braut vertraut bleiben: „Kehre um!“ Und er schließt diesen Gedanken: reddat mihi seipsum – „möge er sich doch selbst mir zurückgeben“!330 Voll Gnade und Wahrheit (Joh 1,14) solle er zurückkehren, so beginnt Bernhard die nächste Überlegung; Gnade und Wahrheit findet er verborgen in der Fröhlichkeit des Hirschen und den Augen der Gazelle aus Hld 2,17.331 Beides brauche es, Wahrheit und Gnade, denn jene sei ohne diese eine Last, diese ohne jene sei in Gefahr, leichtsinnig zu werden. Mäßigung, temperamentum, solle man von der Wahrheit erhalten, damit die Gnade zum Guten gereiche. Bernhard zielt implizit auf das rechte Maß, modus, das in allen Dingen zu halten sei. Dieser zentrale Begriff ist auch Schlüsselwort seiner Apologia an Abt Wilhelm, einer seiner ersten Schriften, die eine Auseinandersetzung mit der altbenediktinischen Spiritualität ist.332 Wahrheit allein genüge aber nicht: die Weisheit, die sich nicht bescheide, nehme Gott von seiner Ehre – „Nolo decorem, qui mihi sapientiam tollat“, „ich will keine Zier, die mir die Weisheit entwendet.“333 Wie kommt er darauf ? Aus Ez 28,17: „perdidisti in decore tuo sapientiam – durch deine Zier hast du die Weisheit verloren.“ Doch wann wird die Weisheit schändlich? Wenn sie mißbraucht werde, wenn sie für eigene Zwecke und für die Seele allein eingesetzt werde: privatus und proprius.334 Bernhard orientiert sich am Wortlaut Ez 28,17: in tuo decore. In seiner Zier, er betont das Possessivpronomen, nicht in der allgemeinen verliere der Mensch die Weisheit, die doch die Seele mit den Engeln gemein habe. Die Weisheit sei es nämlich, die dem Menschen die Form gebe. Ohne diese sei er elementare, formlose Materie. Bernhard faßt es auch rhetorisch schön in eine Formel: „ea ergo ille non modo formatus, sed et formosus fuit“, – „durch sie [die Weisheit] bekam er nicht nur Form, sondern wurde auch schön.“335 Man denke hier auch an den monastischen Kontext: die formatio bezeichnet die Umgestaltung des Mönches durch die schola caritatis, das monasterium.336 Erst als er diese Schönheit zu seiner Schönheit machen 329 330 331 332 333 334 335 336
SC 74, 6 = SBO II, 243, 19 – 20. SC 74, 7 = SBO II, 243, 28 – 244, 8. SC 74, 7 = SBO II, 244, 9 – 13. Dazu Döbler (2007), 38 – 43. SC 74, 9 = SBO II, 245, 19 – 20. SC 74, 10 = SBO II, 245, 22 – 23. SC 74, 10 = SBO II, 245, 26 – 27. Zur formatio im zisterziensischen Kontext des 12. Jahrhunderts siehe Elder (2012).
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3. Bernhard als mystischer Theologe
wollte, die Weisheit zu seiner Weisheit, habe der Mensch diese verloren. Perdere ist das Schlüsselwort dieses Paragraphen, mit ihm deutet Bernhard auf die Verfassung des postlapsarischen Menschen. In diesem Punkte nun liegt für Bernhard das Verständnis des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen in Mt 25: die törichten hätten sich für weise gehalten, und wären deshalb dumm geworden (er wendet Röm 1,22 an: „Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden“). So brauche es eben Wahrheit und Gnade, die sich beide beim Bräutigam fänden; Bernhard bringt Joh 1,17: „die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“. Und so bittet Bernhard das Wort, Christus, den Bräutigam, einzutreten, doch mit der Wahrheit stets die Freude zu zügeln, die Gnade zu temperieren, wie er es an anderer Stelle ausgedrückt hatte. Er schließt die Predigt mit einer Reihe von Bitten um die Gegenwart des Wortes. Zum Schluß heißt es „Er trete ein, als ob er von den Bergen Beth-els hinabstiege, erhaben und voll Glanz, gleichsam wie er vom Vater ausgeht [Joh 15,26 klingt an], voll Milde und Güte, der es nicht verschmäht, Bräutigam der Seele genannt zu werden und zu sein [hier scheint sicher das Thema des Christusliedes aus Phil 2 durch] – der Seele nämlich, die ihn sucht […].“337 Kommt und geht der Bräutigam der Seele also wann er will? Man müsste vielleicht sagen, Bernhard sagt, er bewege die Seele, wohin er wolle, ließe sie seine Gegenwart fühlen, wann er wolle. Das Hin und Her, die letztlich – in dieser Welt – unerfüllte Liebe, greifen Motive des Minnesangs auf, aber lediglich vordergründig. Bernhard deutet die Bilder des Hohenliedes im Lichte des Kanons – scriptura per scripturam – und zeigt deutlich, wie vertraut er mit der lateinischen Rhetorik und Topoi der griechischen Philosophie ist.338 Durch diese wurde das Christentum im römischen Reich interpretiert und dann tradiert:339 der unbewegte Beweger steht im Hintergrund dieser Predigt. Die Frage der Predigt ist epistemologischer Natur : wie bekommt die Seele Erkenntnis von Gott? Die Antwort ist: er bewegt sie. Doch die Frage berührt notwendigerweise alle fundamentalen theologischen Gebiete: die Gotteslehre (wie ist er beschaffen?), die Anthropologie (wie ist der Mensch beschaffen?) oder die Ekklesiologie (man denke an den kommunalen Aspekt der Weisheit). Die Darstellung orientiert sich an den Adressaten: sie ist erfahrungsbezogen, lebt vom biblischen Text, der den liturgischen Jedentag der monastischen Gemeinschaft prägt, und ist zum lauten Lesen komponiert. Es ist Theologie eines Mönches für Mönche; aber sie zeigt, daß Bernhard alle Register etwa der Rhetorik, Dialektik und Dogmatik beherrscht. Ulrich Köpfs Definition monastischer Theologie zeigt sich einmal mehr als zutreffend:
337 SC 74, 11 = SBO II, 246, 13 – 29. 338 Zu Sprache und Stil bereits Mohrmann (1958), zur Rhetorik jüngst Wollbold (2007). 339 Immer noch hilfreich Bultmann (1984).
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Monastische Theologie ist Theologie von Mönchen für Mönche; sie schließt eine Theologie des monastischen Lebens ein, dringt aber darüber hinaus in die Tiefe christlicher Glaubens- und Lebensfragen vor.340
Volker Leppin sieht mit Recht die Gefahr, daß theologische Differenzen durch den Gegensatz monastische vs. scholastische Theologie überzeichnet werden könnten.341 Eine zutreffende Charakterisierung von Bernhards Hoheliedpredigten in ihrem Kontext (nicht nur der Sprachmodi) bietet der Begriff monastische Theologie aber schon.
3.2.5 Metaphern als Beschreibung der Gottesbegegnungen 3.2.5.1 Vorbemerkung: Metaphern in der kognitiven Linguistik In diesem Abschnitt sollen verschiedene sprachliche Ausdrücke, die Bernhard für sein Erleben wählt, analysiert werden. Dies mag nun auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, da wir doch gerade von der einmaligen, exzeptionellen und individuellen religiösen Erfahrung absehen, die sich unserem empirischen Zugriff entzieht, und uns dem Text und Kontext der Hoheliedpredigten zuwenden wollten. Doch ist der Rekurs auf die persönliche Erfahrung, die Bernhard in den im folgenden behandelten Metaphern präsentiert, zentraler Bestandteil der Predigten über das Hohelied und eröffnet dem Leser einen weiteren Horizont: wie etwa aus der besprochenen SC 23 ersichtlich wird, hält Bernhard bestimmte Erfahrungen für erreichbar auf dem monastischen Weg. Obgleich es also verfehlt erscheint, wie wir eingangs erörtert haben, auf die Rekonstruktion der persönlichen Erfahrung Bernhards abzustellen, ist es lohnenswert zu fragen, ob Bernhard angibt, auf seine Erfahrung zurückzugreifen und mit welchen theologischen Begründungen und sprachlichen Gestaltungsformen er operiert – mit anderen Worten, wie seine Rhetorik der Gottesbegegnung gestaltet ist. Denn Mystikforschung kann nicht Rekonstruktion mystischer Erfahrung sein, sie soll aber einen Diskurs über religiöse Erfahrung auf der Objektebene analysieren. Es soll dann hier auch nicht nach der eschatologischen Dimension geschaut werden (das, was Bernhard als größere Fülle im Jenseits als erfahrbar ansieht342) noch versucht werden, die Funktion und den Sitz der Erfahrung innerhalb des theologischen Denksystems Bernhards zu ergründen.343 Peter Dinzelbacher hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in der Untersuchung der religiösen Praxis sehr wohl zu überlegen wäre, inwiefern von einem buchstäblichen Verständnis von Meta340 341 342 343
Köpf (2002a), 79. Leppin (2007), 69 f. Zu dieser Frage etwa Hummel (1989), 134 – 141. Dazu Köpf (1980), (1990) u. (1992). Kritisch dazu Bonowitz (1990).
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3. Bernhard als mystischer Theologe
phern auszugehen ist.344 Obgleich sich Bernhard, wie bereits gesehen, von einem anthropomorphen Gottesbild distanziert hatte, vollzieht sich das Reden über seine Erfahrungen doch in Bildern menschlicher körperlicher Begegnung, wie sie schon im Hohenlied angelegt sind. Solche Bilder erfüllen in Denken Sprache eine grundlegende Funktion, wie die linguistische Forschung herausgearbeitet hat. So hatten George Lakoff und Mark Johnson in ihrem bereits 1980 erschienenen und 2003 mit einem neuen Nachwort wieder aufgelegten „Metaphors We Live By“ gezeigt, wie sich das Verständnis verschiedenster Objekte durch u. a. das Wissen und Bewußtsein menschlicher Physis vollzieht.345 Jean Pierre van Noppen faßt ihre Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: Lakoff und Johnson stellen die überlieferten Ansichten in Frage, daß die Metapher eine Sache der Sprache und nicht der Gedanken sei, daß unsere konventionelle Sprache im wesentlichen wörtlich ist und daß eine Theorie der Bedeutung in erster Linie die Bedeutungen des wortwörtlichen Gebrauchs erklären müsse. […] Nach Lakoff und Johnson beruhen unsere konventionellen Metaphern daher auf fundamentalen metaphorischen Strukturen in unserem Denken und unserer physischen Wahrnehmung der Welt: Wir strukturieren unsere Erfahrung mit Hilfe bekannter Modelle, die jedoch in einem bedeutenden Ausmaß kulturell geprägt sind.346
Die kognitive Linguistik hat daher traditionelle linguistische Modelle modifiziert, um die Funktionen von Metaphern differenzierter zu beschreiben. Das explicans und das explicandum werden nicht mehr als Versuch einer Gleichsetzung vor einem bestimmten Vergleichshorizont beschrieben, sondern als zwei Konzepte – das explicandum als target concept, das explicans als source concept – zwischen denen Bezüge hergestellt werden; dieser Prozeß wird als mapping bezeichnet.347 Dabei ist zu beobachten, daß das mapping reicher oder magerer ausfällt, je abstrakter das explicandum, je konkreter aber das explicans ist.348 Gesteht man Metaphern einen kognitiven Wert zu, dann darf man sie nicht als bloße rhetorische Ornamente verstehen, obgleich natürlich aus philosophischer Sicht weder über den buchstäblichen Sinn noch im besonderen Falle des religiösen Sprechens über ein transzendentes Zielkonzept der Rede – etwa über einen Gott – gültige Aussagen über Wahrheit oder Falschheit getroffen werden können.349 Zudem ist, wie Mary Hesse betont hat, hinsichtlich des Wahrheitswertes metaphorischer Aussagen nicht zwischen buchstäblichen, universell wahren und metaphorischen, nur innerhalb eines sozialen Netzwerkes wahren Aussagen zu unterscheiden, wenn Sprache immer metapho344 345 346 347 348 349
Dinzelbacher (2007), bes. 51 – 109. Lakoff/Johnson (2003). Van Noppen (1988b), 21 f. Ungerer/Schmid (2006), 114 – 162. Ungerer/Schmid (2006), 127. Dies problematisiert Van Noppen (1988b), 39.
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risch ist.350 Unabhängig von der Wahrheitsfrage lohnt sich aber eine Analyse der von Bernhard verwendeten Metaphern, um zu beschreiben, was sich selbst beschreibend in religiöser Sprache vollzieht.351 Ich will im folgenden versuchen, drei solcher Metaphern der Gottesbegegnung darzustellen, derer sich Bernhard bedient und die den Körper als Quellkonzept (source concept, explicans) bemühen: den Kuß, die Umarmung und die ungestüme Liebe.
3.2.5.2 Der Kuß in SC 9: osculum Nehmen wir uns zuerst die Metapher des Kusses vor. Die Sehnsucht der Braut im Brautgemach sei es, geküßt zu werden. Diese Sehnsucht beschreibt Bernhard: ,Non quiesco‘, ait, ,nisi osculetur me osculo oris sui.‘352 ,Ich habe keine Ruhe‘, sagt sie [die Braut], ,es sei denn, er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes.‘
Es erübrigt sich fast zu sagen, daß das Motiv des Kusses von Bernhard aus Hld 1,1 entlehnt ist: „Osculetur me osculo oris sui […]“. Dieses Bild des küssenden Brautpaares ist passend zum Brautgemach gewählt. Das Verlangen der Braut nach diesem Kuß scheint groß zu sein: Desiderio feror, non ratione. Ne, quaeso, causemini praesumptionem, ubi affectio urget. Pudor sane reclamat, sed superat amor.353 Ich werde von der Sehnsucht getrieben, nicht von der Vernunft. Ich bitte, macht mir nicht Überheblichkeit zum Vorwurf, wo die Leidenschaft drängt. Die Scham freilich tut laut ihren Unwillen kund, aber die Liebe siegt.
Sehnsuchtsvolles Verlangen (desiderium) herrsche dort, wo die Leidenschaft dränge (affectio urget) und wo die Liebe siege (amor superat). Was dieser Kuß bewirke, erklärt Bernhard, zunächst noch im Bild des Brautpaares bleibend: die Braut werde schwanger, sobald sie den Kuß empfangen habe, ihre Brüste schwellen als Zeichen der Fruchtbarkeit an. Bernhard schreibt: Tantae nempe efficaciae osculum sanctum est, ut ex ipso mox, cum acceperit illud, sponsa concipiat, tumescentibus nimirum uberibus, et lacte quasi pinguescentibus in testimonium.354 350 351 352 353 354
Hesse (1988). Dazu Van Noppen (1988b), 41. SC 9,2 = SBO I, 43, 8. SC 9,2 = SBO I, 43, 11 – 13. SC 9,7 = SBO I, 46, 20 – 22.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Der heilige Kuß ist von einer so großen Wirksamkeit, daß die Braut sofort aus demselben empfängt, wenn sie ihn erhalten hat; die Brüste schwellen freilich an und füllen sich gleichsam zum Beweise mit Milch.
Dieses Bild überträgt Bernhard sodann auf die Lebenswirklichkeit der Mönche: Quibus studium est orare frequenter, experti sunt quod dico. Saepe corde tepido et arido accedimus ad altare, oratione incumbimus. Persistentibus autem repente infunditur gratia, pinguescit pectus, replet viscera pietatis inundatio; […].355 Welche den Eifer oft zu beten haben, sind Erfahrene in dem, was ich sage. Mit trockenem und mattem Herz treten wir oft an den Altar heran, wir widmen uns dem Gebet. In die Verharrenden wird aber bald die Gnade eingeflößt, die Brust schwillt, es füllt eine Flut der frommen Liebe das Innerste.
Hier wird deutlich, daß Bernhard eine bestimmte Erfahrung beim Gebet ausgedrückt sieht in dem Bild des Kusses zwischen Braut und Bräutigam des Hohenliedes. So wie die Schwangerschaft im Bild des Hohenliedes sollen das Gefühl des Anschwellens der Brust, das Einfließen der Liebe, die Flut der Liebe durchaus auch körperlich zu verstehen sein. Dieser Kuß sei die Erfüllung der Sehnsucht der Braut, gleichsam die Erfüllung des Verlangens der Seele nach der Gegenwart Christi.
3.2.5.3 Die Umarmung in SC 83: complexus Eine andere Metapher, die Bernhard benutzt, ist die Umarmung. Die Beziehung zwischen Bräutigam Christus und Braut Seele nennt er zunächst Ehevertrag: Vere spiritualis sanctique connubii contractus est iste.356 Dies ist der Vertrag der wahrhaft geistlichen und heiligen Ehe.
Doch der Vertrag scheint ihm dann doch ein ungeeignetes Bild zu sein: Parum dixi, contractus: complexus est.357 Zu wenig habe ich gesagt, ein Vertrag: es ist eine Umarmung.
Und er beschreibt, was diese Umarmung bedeutet: Complexus plane, ubi idem velle, et nolle idem, unum facit spiritum de duobus.358 355 356 357 358
SC 9,7 = SBO I, 46, 22 – 25. SC 83,3 = SBO II, 299, 27 – 28. SC 83,3 = SBO II, 299, 28. SC 83,3 = SBO II, 299, 28 – 29.
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Eine Umarmung ist freilich, wo dasselbe Wollen und Nichtwollen einen Geist aus zweien macht.
Eine Übereinstimmung des Willens ist es, die Bernhard hier zeigen will. Der Wille der Seele, die sich liebend zu Christus hingezogen fühle, und der Wille Christi, der sich auch seinerseits liebend zur Seele hingezogen fühle, deckten sich in der Absicht: nämlich sich nahe zu sein, sich zu umarmen. Dennoch bleibt die Ungleichheit der Personen für Bernhard erhalten, nur im Willen stimmten sie überein: Nec verendum ne disparitas personarum claudicare in aliquo faciat conniventiam voluntatum, quia amor reverentiam nescit.359 Und auch nicht ist zu fürchten, daß die Verschiedenheit der Personen in irgendeinem Punkt die Übereinstimmung der Willen ins Wanken bringen könnte, denn die Liebe weiß nicht um die Ehrfurcht.
Die Verschiedenheit der Personen (disparitas personarum), die trotzdem übereinstimmende Willen (conniventiam voluntatum) hätten, mache das Besondere aus, das in der Umarmung läge. Peter Dinzelbacher vermutet, daß der „Unterschied zwischen dem Herrn und dem Knecht“ verschwinde, daß Bernhard „,honor‘ und ,dignitas‘, die beiden zentralen Begriffe des feudalen Denkens, in Liebe auflöst“.360 Dagegen könnte man meinen, daß dies von Bernhard nicht beabsichtigt ist, der doch gerade den Unterschied der Personen betont, wenn er die Bilder von Braut und Bräutigam übernimmt, die, obgleich ein Fleisch, zwei Wesenheiten bleiben. Lediglich in einem Moment fällt das Wollen der beiden zusammen.361 Der Moment, den Bernhard mit der Umarmung beschreibt, ist der, in welchem die Seele nur noch liebe, nichts als Liebe mehr in ihr sei: Propterea quae amat, amat, et aliud novit nihil.362 Deswegen liebt diejenige, die liebt, und sie kennt nichts anderes.
Und in diesem einen Moment kenne die Seele dann auch keine Ehrfurcht mehr ; denn „die Liebe weiß nicht um die Ehrfurcht“: „amor reverentiam nescit“. Es zähle nämlich nur noch eines, wenn die Liebe Braut und Bräutigam vollständig erfülle, nämlich lieben und geliebt zu werden. Bernhard fragt dann auch folgerichtig: Quam quaeris aliam inter sponsos necessitudinem vel connexionem, praeter amari et amare?363 359 SC 83,3 = SBO II, 299, 29 – 300, 1. 360 Dinzelbacher (1994), 111. 361 Hummel (1989), 158 f, betont den Wesensunterschied und spricht von der „Rückkehr der Seele zu Gott als voluntative[m] Akt“ (260). 362 SC 83,3 = SBO II, 300, 4 – 5. 363 SC 83,3 = SBO II, 300, 6 – 7.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Welchen anderen Drang oder welche andere Verbindung suchst du zwischen Brautleuten, außer geliebt zu werden und zu lieben?
In diesem Moment sei dann aber auch kein Raum dafür da, um über den Platz in der Rangordnung nachzudenken. Trotzdem bliebe dieser Platz dem Einzelnen zugewiesen: der Unterschied der Personen wird nicht aufgehoben. Richtig scheint Ninian Smart zu liegen, der betont, daß Bernhard keine mystische Verschmelzung beschreibe, sondern lediglich eine Vereinigung durch und in Liebe: „Bernard did not see this as actual union with the Godhead: the soul and God remain distinct in substance, though stuck together by ,the glue of love‘.“364 Aber nicht nur das gemeinsame Wollen spielt für Bernhard eine Rolle, wenn er sich für das Bild der Umarmung entscheidet. Er beschreibt daneben ein Gefühl der Einheit in der Liebe: Felix cui tantae suavitatis complexum experiri donatum est! Quod non est aliud, quam amor sanctus et castus, amor suavis et dulcis, amor tantae serenitatis quantae et sinceritatis, amor mutuus, intimus validusque, qui non in carne una, sed uno plane in spiritu duos iungat, duos faciat iam non duos, sed unum, Paulo ita dicente: Qui adhaeret Deo, unus spiritus est.365 Glücklich ist diejenige, der geschenkt ist, die Umarmung von solch großer Süße zu erfahren. Dies ist nichts anderes, als die heilige und keusche Liebe, die süße und liebliche Liebe, die Liebe von ebenso großer Heiterkeit wie Ehrlichkeit, die gegenseitige, innerste und gewaltige Liebe, die nicht in einem Fleisch, sondern offensichtlich in einem Geist die Zwei verbindet, aus Zweien nicht mehr Zwei macht, sondern Einen, da Paulus spricht: Wer Gott anhängt, ist ein Geist.
Einige wichtige Dinge sind an dieser Stelle zu bemerken. Zuerst das Element der Erfahrung. Bernhard spricht vom Erfahren, experiri, der Umarmung; seine Exegese will nicht bloße Theorie sein. Weiter spricht er von der Umarmung, die nichts anderes sei, als die Liebe, die Braut und Bräutigam verbinde. Seele und Christus würden jedoch nicht ein Fleisch, sondern ein Geist. Aber sie würden eins: unus spiritus. Doch auch in diesen Bildern ist impliziert, daß keine vollständige Vermischung stattfindet. Die körperliche Vereinigung ist temporär, obwohl Braut und Bräutigam ein Leib zu sein scheinen, sind sie dennoch stets voneinander zu unterscheiden. Wird dieses Bild auf die Vereinigung von Seele und Christus übertragen, so impliziert es dieses sicherlich ebenfalls. Regine Hummel spricht vorsichtig von einer „grundlegenden Einungsvorstellung“.366 Ein solch vorsichtiger Sprachgebrauch scheint der Problematik durchaus angemessen. Peter Dinzelbacher argumentiert, die 364 Smart (1991), 449. 365 SC 83,6 = SBO II, 302, 16 – 20. Bernhard bezieht sich auf Mt 19,5: „et dixit propter hoc dimittet homo patrem et matrem et adherebit uxori suae et erunt duo in carne una“. Weiter zitiert er Paulus im 1 Kor 6,17: „qui autem adheret Domino unus spiritus est“. 366 Hummel (1989), 127.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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Tatsache, daß Bernhard nicht von „Wesensverschmelzung“ spreche, wiege gegenüber seiner Annahme einer unio nicht schwer ; denn Bernhards Erläuterungen seien lediglich „hinzugefügte theologische Erwähnungen“. In Bernhards Erfahrung selbst, so weiter, würde kein Unterschied zwischen Objekt und Subjekt mehr gefühlt bzw. von Bernhard angegeben.367 Dazu ist einerseits zu bemerken, daß wir auf Bernhards Erfahrung ohnehin keinen Zugriff haben. Was andererseits die Bemerkung betrifft, Bernhard beschreibe keinen Wesensunterschied, sei eingewandt, daß Bernhards Erfahrungsberichte, auf die wir hingegen zugreifen können, von dogmatischen Bemerkungen flankiert werden. Diese theoretischen Anmerkungen sind sehr wohl bei der Interpretation zu berücksichtigen, stellen doch auch sie einen Hintergrund für die Projektion von Bernhards Erfahrungen in den ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen dar, von denen festzuhalten bleibt, daß sie sich zunächst in Bildern von Körperlichkeit vollziehen. Ergebnisse der kognitiven Linguistik zeigen, wie eingangs dargestellt, daß sich sprachlicher Ausdruck – vorausgesetzt wird dabei, daß sprachliche Strukturen den Denkstrukturen entsprechen – grundlegender Metaphern wie denen des Körpers bedient. Bei Bernhard ist dies noch textuell und theologisch temperiert.
3.2.5.4 Die ungestüme Liebe in SC 79: amor praeceps, vehemens, flagrans, impetuosus Um die Liebe, von der Bernhard spricht und die bereits in den beiden voranstehenden Abschnitten eine Rolle spielte, noch weiter zu betrachten, sei nun der Augenmerk auf eine Textstelle gerichtet, die wieder körperliche Liebe zum Referenzrahmen hat: O amor praeceps, vehemens, flagrans, impetuose, qui praeter te aliud cogitare non sinis, fastidis cetera, contemnis omnia prae te, te contentus!368 O kopflose, bedrängende, brennende, ungestüme Liebe, welche du nicht zuläßt, daß etwas anderes außer dir gedacht wird, du verschmähst das Übrige, schätzt alles außer dir gering, du begnügst dich mit dir.
Unglaublich stark muß dieses Gefühl sein, das Bernhard hier beschreiben will; diese Liebe ist nicht nur kopflos und ungestüm, sondern auch noch sich selbst genug, sie nimmt darüber hinaus auch nichts anderes mehr wahr. Und diese starke Liebe ist es auch, die Ordnungen vernichtet: Confundis ordines, dissimulas usum, modum ignoras; […].369 367 Dinzelbacher (1994), 113 f. 368 SC 79,1 = SBO II, 272, 5 – 7. 369 SC 79,1 = SBO II, 272, 7 – 8.
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3. Bernhard als mystischer Theologe
Du zerstörst die Ordnungen, achtest keine Gewohnheit, das rechte Maß ist dir fremd.
Dinzelbacher bemerkt zu Recht, daß ordo, usus und modus die zentralen Begriffe der sozialen Ordnung der Zeit Bernhards waren. Er schließt daraus jedoch, daß deren Dekonstruktion das Transliminale der von Gott ausgehenden Liebe zeige.370 Dies stimmt zumindest vom Menschen aus gesehen. Man muß jedoch bedenken, daß – in theologischer Perspektive – von Gott aus gesehen diese grenzüberschreitende Liebe nur heißt, daß Gott sich nicht an die vorherrschende menschliche Ordnung hält. Es handelt sich nicht um eine Aufhebung ontologischer Grenzen. Und das müßte dann wohl auch Bernhards Punkt sein: Gott wirkt mit Liebe aus Gnade dort, wo er will und wann er will. Gerade mit diesem nicht vorhersehbaren, nahezu irrationalen Handeln Gottes, das dem Menschen seine eigenen Ordnungen aufgelöst erscheinen läßt, charakterisiert Bernhards das Erleben, wenn er seine Brust, die Brust des erlösungsbedürftigen Menschen, beim Gebet von Liebe überflutet spüren will.
3.2.5.5 Fazit Diese kurze Betrachtung ausgewählter Metaphern zeigt, daß ein kognitivlinguistisches Model hilfreich zur deren Analyse im Text der Hoheliedpredigten sein kann. Eine Beschreibung des mappings der source und target concepts (s. o.) hilft, über die Grenzen des Vergleiches, die Bernhard beim Gebrauch dieser Metaphern zieht, nachzudenken, um den Erwartungshorizont abzustecken: abstrakte target concepts erfordern ein reicheres mapping, daher erstaunt nicht, daß mystische Texte eine solche reiche Bilderwelt aufweisen. Insbesondere warnt ein solcher Versuch, religiöses Sprechen in Metaphern zu beschreiben, davor, den Einsatz von Körpermetaphern, die allem Sprechen unterliegt, in der religiösen Sprache überzubewerten.371 Mit Blick auf die Religionsaisthetik hat Anne Koch angemahnt, sorgsam historisch zu kontextualisieren und etwa semantische Felder, Gattungskonventionen und den Diskursrahmen zu bestimmen, um nicht dem Irrtum einer „Emotionskonstanz“, die diesen Kontext ignoriert, zu erliegen.372 Dies gilt hier umso mehr, da durch das Hohelied bereits Bilder des Körpers und der Liebenden vorgegeben sind, die Bernhard aufgreift. Dennoch kann man die korporalen, ja karnalen Metaphern nicht vollständig aus ihrem theologischen Kontext lösen, sondern muß sie gleichsam wieder in diesen zurückführen, wenn man einem Verständnis der Lebenswelt Bernhards näherkommen möchte. Im folgenden möchte ich mich auf die körperlichen Sinne als Werkzeuge zur Gotteserkenntnis konzentrieren, die zentrales Motiv der Hoheliepredigten, 370 Dinzelbacher (1994), 112. Er greift dabei einen bereits früher gefaßten Gedanken aus Dinzelbacher (1981), 195 f, auf. 371 Große Emphase auf den Körper etwa Bynum (1992), Landman (2005). 372 Koch (2007), 44.
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3.2 Bernhards Sermones super cantica
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des monastischen Lebens sind. Welches theologische Konzept der Sinne entwickelt Bernhard? Welche Verbindungen bestehen zur Mystik – diese nicht im Sinne einer besonderen Erfahrung verstanden – sondern nur als Sprechen über Gotteserfahrung als Gotteserkenntnis eingebettet im alltäglichen monastischen Leben seiner primären Adressaten? Die Religionsaisthetik kann dazu theoretische Anstöße liefern.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik 4.1 Religionsaisthetik als Forschungsfeld der Religionswissenschaft 4.1.1 Begriffsbestimmungen Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Religionsphänomenologie entwarfen Hubert Cancik und Hubert Mohr 1988 im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe das Forschungsfeld Religionsästhetik, […] um das, was an Religionen sinnlich wahrnehmbar ist, wie Religion den Körper und die verschiedenen Sinnesorgane des Menschen aktiviert, leitet und restringiert, möglichst einheitlich zu beschreiben und theoretisch zu durchdringen.1
Ihr Ansatz ist z. B. von Burkhard Gladigow in seinem programmatischen Artikel zur Zukunft der Religionswissenschaft als vielversprechend aufgenommen worden, da er eine Wende in der Betrachtung von Religion von den textuellen Elementen hin zu anderen Kommunikationsformen ermögliche.2 Cancik und Mohr beschrieben mögliche Betrachtungsfelder der Religionsästhetik als: (a) die Zeichen, Gegenstände und Handlungen, insofern sie in religiöser Kommunikation wahrgenommen werden; […] (b) die Arbeit der Sinne und den Prozeß der Wahrnehmung der visuellen Zeichen, der Farben, Gerüche und Töne, bzw. das Fehlen der Zeichen und/oder ihrer Wahrnehmung; […] (c) die Empfindungen und Reaktionen der Wahrnehmenden, also die (inneren) Emotionen und ihren Ausdruck in Gesten, Gebärden, in der Produktion (Setzung) von Zeichen, symbolischen Handlungen, Erzählungen (Mythen), Kunstwerken.3
Daniel Münster hat – wie auch Cancik und Mohr – von Alexander Gottlieb Baumgarten ausgehend, noch einmal deutlich Ästhetik von einer Philosophie der Schönheit und der Schönen Künste abzugrenzen und auf sinnliche Erkenntnis und Wahrnehmung einzugrenzen versucht.4 Jürgen Mohn grenzte auf dieser Grundlage einer begrifflichen Engführung die Religionsaisthetik in 1 2 3 4
Cancik/Mohr (1988), 121 f. Gladigow (1988b), 20 f. Cancik/Mohr a. a. O. Münster (2001), bes. 30.
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4.1 Religionsaisthetik als Forschungsfeld
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Unterscheidung zur Religionsästhetik in den Grenzen der Semantik von aQsh\molai ab von einer „Lehre vom Schönen und vom künstlerischen Ausdruck in den Religionen“ oder „dem religionsphilosophischen Diskurs über das Symbol und die symbolischen Formen“. Die Religionsaisthetik soll also sein: der Name für das Programm einer kognitions- und medientheoretisch akzentuierten Grundlagenwissenschaft, die semiotische Systeme (Semiosen) als prozessierende Vermittlungsstrukturen religiöser Orientierungsleistungen zu untersuchen hat.5
Anne Koch weist darauf hin, daß die Rede von Religionsaisthetik in Differenz zur Religionsästhetik auch wieder aufgegeben werden könne, wenn das skizzierte Anliegen einer Religionsaisthetik mitverfolgt werde.6 Um der terminologischen Präzision willen bevorzuge ich jedoch hier Religionsaisthetik. Die Religionsaisthetik hat bereits einige Aufmerksamkeit gefunden, zu nennen wären etwa die Arbeiten Susanne Lanwerds,7 Anne Koch hat in ihrer Monographie die Forschungsgeschichte bereits breit dargestellt,8 weniger intensiv und extensiv darüber hinaus Isabel Laack.9 Als Teildisziplin der Religionsaisthetik hat wiederum Jürgen Mohn eine Religionssomatologie vorgeschlagen, die sich als Geschichte von Körperkonzepten verstehen soll.10 Eine der theoretisch ambitioniertesten Arbeiten in der Religionswissenschaft ist Anne Kochs bereits erwähnte Schrift zum „Körperwissen“.11 Koch geht von derselben Prämisse wie auch diese Arbeit aus: Kulturell geprägte Sinnesprofile bestimmen über die Rangfolge der Sinne oder deren spezifische Abfolge den Einfluss eines Sinnessystems bei der Legitimierung von Wissen. Viele religiöse Auffassungen sind neben dem sprachlichen Ausdruck sinnlich codiert.12
Gerade im Hinblick auf die oben nachgezeichnete religionswissenschaftliche Mystikdebatte, die sich als Diskurs über religiöse Erfahrung entwickelte und von der es sich auf einer deskriptiven Metaebene abzusetzen gilt, ist diese Feststellung Kochs weiterführend, die sich in erster Linie als Konsequenz der Wandelbarkeit von Körperkonzepten gegen einen ahistorischen, phänomenologischen Zugang positioniert; sie versucht mit Begriffen wie „Körpertextur“ die nicht-propositionale Dimension von Körperwissen einzufangen.13 Koch führt in Überlegungen zu einer „Methodologie des geschlechtlichen 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Mohn (2004), 305. Koch (2007), 86; zu Kochs Arbeit ausführlicher unten. Lanwerd (2002), (2003). Koch (2007), bes. 67 – 115. Laack (2011), 42 – 46. Mohn (2007), 55 f. Koch (2007). Koch (2007), 14. Koch (2007), 147 – 153, bes. 149.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
Körpers“ überzeugend zu der naheliegenden Einsicht, daß – ich übersetze das einmal in meine Worte – in historischer Perspektive nicht einfach das kulturell determinierte Körperkonzept des Religionswissenschaftlers in die Vergangenheit projiziert werden könne; vielmehr gelte es, zunächst zu Grunde liegende Körperkonzepte zu bestimmen, um Wandel, Kontinuität oder Divergenz zu erfassen.14 Dabei soll es gerade nicht darum gehen, sinnliche Wahrnehmung epistemologisch vorzuziehen: Die Sinnlichkeit und Wahrnehmungsverarbeitung interessieren nicht vorrangig, um diesen Wirklichkeitszugang zu privilegieren. Nicht ein bestimmtes Körperkonzept steht im Mittelpunkt, sondern die Ablösung, der Übergang und die Auskristallisierungen gewandelter Körperkonzepte. Körper ist nicht nur sinnlich-materialer Körper, sondern auch ein mögliches Symbol und Medium, eine Inszenierungsweise und Performanz.15
In ihrer Auseinandersetzung mit den Arbeiten Burkhard Gladigows zum Kultbild bemerkt Koch, daß Gladigow der Blick für den religiösen Akteur und eine vergleichende Ebene fehle, die „Einsatz der Sinnessysteme und Körpertechniken im Vergleich“ beurteile.16 Diese Kritik wird umso verständlicher, wenn Koch auf eine Deskription der Strategien abzielt „wie Religionen spezifische aisthetische Umwelten erschaffen, die auf Körperwissen basieren, es einsetzen und prägen“.17 Dies entspricht meiner Zielsetzung, Bernhards aisthetische Strategie nachzuzeichnen, mit der er sein Körperkonzept und die daraus folgenden epistemologischen Konsequenzen in der Liturgie und in der Gestaltung des Monasteriums realisieren will. Anders als Isabel Laack in ihrer Arbeit zu „Religion und Musik in Glastonbury“, die sich mit der Gegenwart, der Alltagskultur und zudem in erster Linie mit (religiösen) Identitätsbildungsprozessen beschäftigt,18 versuche ich hier, Fragen, die sich aus der gegenwärtigen religionsaisthetischen Diskussion ergeben, an historisches Material heranzutragen und unter dem Begriff Mystik eine aisthetische Strategie herauszuarbeiten. Der Rückgriff auf die Religionaisthetik ermöglicht einen umfassenderen Ansatz zur Kontextualisierung des Redens über religiöse Erfahrung, die im Mittelpunkt der Hoheliedpredigten stehen, indem nicht nur Teilbereiche – wie etwa Rituale – sondern die gesamte Körperlichkeit in den Fokus gerückt werden kann.
14 15 16 17 18
Koch (2007), 36 – 41. Koch (2007), 40 f. Koch (2007), 87. Koch (2007), 281. Laack (2011), bes. 52 – 54.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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4.1.2 Konsequenzen für die Untersuchung Ziel ist es somit, Bernhards Mystik in ihrem zisterziensischen Kontext des 12. Jahrhunderts eingehender zu beschreiben, indem anhand des theoretischen Modelles ihrer Vermittlung die aisthetische Dimension herausgearbeitet wird. Es geht also darum, Bernhards Strategie aisthetischer Vermittlung nachzuspüren und vor dem Hintergrund der umrissenen Theologie der Hoheliedpredigten in ein System sinnlicher Wahrnehmung einzuordnen. Denn der monastische Alltag, die Körperlichkeit der Mönche und die theologischen Konzepte stehen in einem dialektischen Verhältnis, das in den Hoheliedpredigten greifbar wird. Dabei soll gelten, was Daniel Münster für eine ethnologische Religionsästhetik gefordert hat: sie soll keine erklärende, sondern eine beschreibende Theorie sein, die sowohl offen als auch provisorisch sein muß, „um ein Bewußtsein für die Relevanz der sinnlichen und ästhetischen Dimension religiöser Formen zu wecken“.19 Dabei wäre sowohl über den „kultischen Reizausschluß“ als auch über gezielte „Aktivierung und Nutzung menschlicher Motorik“ – d. h. „Stimulation“ und „Deprivation“ – nachzudenken; Hubert Mohr hat beide Perspektiven skizziert.20 Ich werde mich zunächst Bernhards Körperkonzept nähern, indem ich die erkenntnisbegründende Funktion des Körpers und die Rolle der Sinne nachzeichne, danach werde ich exemplarisch die Bereiche Musik21 und bildende Kunst erschließen. Bernard McGinn hatte in seiner Mystik im Abendland ganz kurz auf die Rolle der geistigen und körperlichen Sinne und die bernhardinische Metaphorik hingewiesen, ohne diese jedoch eingehender zu behandeln.22 Im folgenden will ich versuchen, mich diesem Komplex anzunähern.
4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und natürliche Gotteserkenntnis 4.2.1 Die erkenntnisbegründende Funktion der Sinne Wilhelm Hiss hatte in seiner Studie zur Anthropologie Bernhards entgegen der Ansicht Joseph Ries’ dafür argumentiert, daß sich in Bernhards erkenntnistheoretischen Grundlagen neben peripatetischen wesentliche augustinisch19 Münster (2001), 132. 20 Mohr (2003), (2004). 21 Die Beiträge in Guzy (2008) geben anhand von Material aus verschiedenen Kontexten erste Impulse für das Forschungsfeld Religion – Musik – Aisthetik, ohne für die Analyse Bernhards direkt verwertbare theoretische oder methodische Einsichten zu liefern. 22 McGinn (1996), 286 – 288.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
platonische Elemente fänden;23 das bedeutet u. a., daß dem Körper eine wichtige Bedeutung als erste Stufe eines Aufstiegsmodelles hin zum Geistigen zukäme. John Sommerfeldt hat – ohne auf diese Frage einzugehen – zuletzt die Rolle der körperlichen Sinne kurz besprochen,24 und auch betont, daß der Körper für Bernhard „essentieller Bestandteil der Menschnatur“ sei.25 Bereits in einer seiner ersten Schriften, dem Kartäuserbrief (1116/17?)26, hatte Bernhard 1 Kor 15, 46 – 49 als einen stufenweisen Aufstieg der Liebe ausgelegt: Verumtamen, quia carnales sumus, et de carnis concupiscentia nascimur, necesse est cupiditas vel amor noster a carne incipiat, quae si recto ordine dirigitur, quibusdam suis gradibus duce gratia proficiens, spiritu tandem consummabitur, quia non prius quod spirituale, sed quod animale, deinde quod spirituale, et prius necesse est portemus imaginem terrestris, deinde caelestis.27 Freilich, weil wir fleischlich sind und aus der Begierde des Fleisches geboren werden, ist es notwendig, daß unser Verlangen oder unsere Liebe vom Fleisch ausgeht; dieses wird, wenn es auf rechte Weise gelenkt wird und indem es durch die Gnade geführt in gewissen eigenen Stufen fortschreitet, durch den Geist schließlich vervollkommnet, weil nicht das, was geistig ist, zuerst ist, sondern das, was tierisch ist, dann das, was geistig ist; es ist zuerst nötig, daß wir das Abbild des Irdischen tragen, hierauf dann das des Himmlischen.
Der Hauptteil dieses Briefes wurde von Bernhard dann so als Schlußkapitel von De diligendo Deo – entstanden zwischen 1126 und 1141 – übernommen;28 jene Passage aus Ep 11 findet sich dort im selben Wortlaut. Bernhard hat die beiden Texte aus uns unbekannten Gründen nicht verwoben.29 Man könnte vermuten, daß ihm diese Passage, die die Rolle des Körpers betont, nützlich und gelungen erschien, so daß er sie ohne Änderungen übernehmen konnte.30 Die Bedeutung, die Bernhard dem Körper zumißt, erschließt sich auch aus seiner oben besprochenen 5. Predigt über das Hohelied. Bereits am Ende der 23 Hiss (1964), 126; Ries (1906), 124. 24 Sommerfeldt (2004a), 42 – 43; über den Körper bei Bernhards auch Sommerfeldt (1991), 13 f, 21 – 26 u. 31 – 38. 25 Bes. Sommerfeldt (2000): „Equally foreign to Augustine would have been Bernard’s attitude towards the body, which Bernard sees as a noble, admirable, and essential component of human nature – so much so that the full glories of heaven are denied humans until the end of time when their bodies will be reunited to their souls.“ 26 Ep 11 = SBO 7, 345 – 361. 27 Ep 11, 8 = SBO 7, 58, 15 – 19. 28 SBO 3,118 – 154; der Hauptteil von Ep 11 dort 148 – 154. 29 Farkasfalvy (1990), 64. 30 So könnte man Bernhard selbst lesen; De diligendo Deo XII, 34 = SBO 3, 148, 3 – 6: „Forte autem alia ibi [i.e. in Ep. 11], etsi non aliena, de caritate locutus sum; et ob hoc quaedam huius huic quoque sermoni subiungere non inutile duco, praesertim cum facilius ad manum habeam transcribere iam dictata, quam nova iterum dictare“
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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vorherigen Predigt hatte er festgestellt, daß die Seelen ihrer Körper bedürften, um sich zu erkennen und zu wirken: Animae corporibus et corporeis egent sensibus, per quae sibi invicem innotescant et valeant.31 Die Seelen benötigen Körper und die körperlichen Sinne, durch welche sie sich gegenseitig bekannt werden und handlungsfähig sind.
Doch darüber hinaus erfüllt der Leib für Bernhard eine zentrale erkenntnisbegründende Rolle, wie schon oben besprochen: Verum nos vivimus quidem post corpus, sed ad ea quibus beate vivitur nullus nobis ascensus vel accessus patet, nisi per corpus. Senserat hoc qui dicebat: Invisibilia Dei per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur. Ipsa siquidem quae facta sunt, id est corporalia et visibilia ista, nonnisi per corporis instrumentum sensa in nostram notitiam veniunt. Habet igitur necessarium corpus spiritualis creatura quae nos sumus, sine quo nimirum nequaquam illam scientiam assequitur, quam solam accepit gradum ad ea de quorum sit cognitione beata.32 Doch wir leben zwar nach dem Körper, aber uns steht dennoch kein Aufstieg oder Zugang zu den Dingen offen, durch die man selig lebt, außer durch den Körper. Auch derjenige hatte dies wahrgenommen, der sagte: ,Die unsichtbaren Dinge Gottes werden durch die Dinge, die geschaffen sind, verstanden und erblickt.‘ Denn diese geschaffenen Dinge selbst, das heißt, diese körperlichen und sichtbaren Dinge, gelangen zur unserer Erkenntnis ausschließlich dann, wenn sie vermittels des Werkzeugs des Körpers sinnlich wahrgenommen werden. Folglich hat die geistige Kreatur, die wir sind, notwendigerweise einen Körper [wörtl. einen notwendigen Körper], ohne welchen freilich keinesfalls jenes Wissen erworben wird, welche allein sie als Stufe hin zu den Dingen empfangen hat, durch deren Erkenntnis sie glückselig werden soll.
Aus dieser Auslegung von Röm 1,20 wird offenbar, daß Bernhard – was neuplatonischen Einfluß suggeriert – einen Aufstieg (ascensus) vermittels der körperlich-sinnlich wahrgenommenen Dinge hin zu den invisibilia Dei konstruiert; eine andere Deutung bei Suger von Saint-Denis.33 Die körperlichsinnliche Wahrnehmung ist eine, wenngleich notwendige Stufe der Erkenntnis; das Bild vom stufenhaften Aufstieg gebraucht Bernhard in diesem Zusammenhang später wieder.34 Auch für Engel gelte, so Bernhard, daß sie für ihren Dienst an den körperlichen Menschen eines Körpers bedürften.35 Doch hinsichtlich der Erkenntnis Gottes ist ihnen der Körper keine notwendige 31 32 33 34
SC 4,5 = SBO I, 20, 24 – 25. SC 5,1 = SBO I, 21, 16 – 22, 1. Rudolph (1990), 30 – 35; Frese (2006), 50 – 59. SC 5,4 = SBO I, 23, 7 – 8: „ex consideratione sensibilium proficiens“; „gradatim […] nititur pervenire“. 35 SC 5,2 = SBO I, 22, 5 – 14.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
Voraussetzung, sie könnten durch die Nähe und Lebendigkeit ihrer Natur das Höchste erfassen und in das Innerste gelangen.36 Der Mensch bedürfe aber auch um ihres Wirkens seines Körpers: Illud autem scitote, nullum creatorum spirituum per se nostris mentibus applicari, ut videlicet nullo mediante nostri suive corporis instrumento, ita nobis immisceatur vel infundatur, quo eius participatione docti sive doctiores, vel boni sive meliores, efficiamur. Nullus angelorum, nulla animarum hoc modo mihi capabilis est, nulli ego capax. Nec ipsi angeli ita se alterutrum capiunt.37 Ihr sollt aber dies wissen, nämlich daß keines der geschaffenen Geistwesen sich durch sich selbst unseren Herzen mitteilt, so freilich, daß es sich ohne das vermittelnde Werkzeug unseres oder seines Körpers so in uns mischt oder hineingegossen wird, daß wir durch seine Teilhabe gelehrt oder gelehrter, vielleicht auch gut oder besser gemacht werden. Keiner der Engel, keine der Seelen ist auf diese Weise für mich empfänglich, für keinen [von ihnen] bin ich empfänglich. Nicht einmal die Engel selbst können sich so gegenseitig fassen.
Doch was für die Engel und die Menschen gelte, solle ihm in keiner Weise von Gott gelten: dieser bedürfe in keinem Falle eines Körpers als Werkzeug: Sequestretur proinde praerogativa haec summo atque incircumscripto Spiritui, qui solus, cum docet angelum sive hominem scientiam, instrumentum non quaerit nostrae corporeae auris, sicut nec sibi oris. Per se infunditur, per se innotescit, purus capitur a puris. Solus nullius indiget, solus et sibi et omnibus de sola omnipotenti voluntate sufficiens.38 Dieser Vorrang gebühre weiterhin ausschließlich dem höchsten und unbegrenzten Geist, welcher allein – wenn er einen Engel oder Menschen Wissen lehrt – nicht das Werkzeug unseres körperlichen Ohres sucht, so wenig wie für sich das eines Mundes. Durch sich wird er eingegossen, durch sich wird er bekannt, rein wird er von den Reinen aufgenommen.39 Er allein bedarf keines anderen, und er allein ist sowohl sich als auch anderen aus seinem einzigen allmächtigen Willen heraus genug.
Bernhard betont hier und dann auch zu Beginn der folgenden 6. Predigt über das Hohelied die Allmacht Gottes, der keiner körperlichen Werkzeuge bedürfe, um sich mitzuteilen.40 Da Gott aber von den Menschen nicht wahrgenommen worden sei (non sentiebatur), hätten sie durch ihn, nicht aber ihn selbst wahrgenommen (ex ipso sapiebant, sed non ipsum), seien entfremdet, 36 37 38 39
SC 5,4 = SBO I, 23, 1 – 3 SC 5,8 = SBO I, 24, 26 – 25, 3. SC 5,8 = SBO I, 25, 4 – 8. Ohne eine direkte Kenntnis des platonischen Textes zu postulieren, mag hier eine indirekte Reminiszenz des in der Philosophie der Spätantike geflügelten Wortes aus Phaidon 67b vorliegen: lµ jahaq` c±q jahaqoO 1v\pteshai lµ oq helit¹m ×. 40 SC 6,1 = SBO I, 26, 8 – 20.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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undankbar und wahrnehmungsunfähig (insensati) gewesen.41 Die Inkarnation sei daher – die Stelle ist bereits oben besprochen – auch um der menschlichen Wahrnehmbarkeit erfolgt: Obtulit [Deus] carnem sapientibus carnem, per quam discerent sapere et spiritum. Nam dum in carne et per carnem facit opera non carnis, sed Dei, naturae utique imperans superansque fortunam, stultam faciens sapientiam hominum daemonumque debellans tyrannidem, manifeste ipsum se indicat esse per quem eadem et ante fiebant, quando fiebant. In carne, inquam, et per carnem potenter ac patenter operatus mira, locutus salubria, passus indigna, evidenter ostendit quia ipse sit qui potenter, sed invisibiliter saecula condidisset, sapienter regeret, benigne protegeret. Denique dum evangelizat ingratis, signa perhibet infidelibus, pro suis crucifixoribus orat; nonne liquido ipsum se esse declarat, qui cum Patre suo quotidie oriri facit solem suum super bonos et malos et pluit super iustos et iniustos? Hoc enim est quod ipse aiebat: Si non facio opera Patris mei, nolite credere.42 Gott hat denen, die Fleisch schmeckten, Fleisch angeboten, durch welches sie lernen sollten, auch den Geist zu erschmecken. Denn während er im Fleisch und durch das Fleisch Werke, nicht des Fleisches, sondern Gottes vollbringt, auf jeden Fall indem er über die Natur herrscht und das Schicksal besiegt, die Weisheit der Menschen zur Dummheit werden läßt und die Tyrannei der Dämonen niederkämpft, zeigt er augenscheinlich, daß er es sei, durch den dieselben Dinge auch vorher geschahen, wenn sie geschahen. In dem er im Fleisch, sage ich, und durch das Fleisch stark und für jeden offen erkennbar Wunder tat, mit Worten heilte, Unwürdiges erlitt, zeigte er, für jeden sichtbar, daß er selbst es sei, der voll Macht, aber unsichtbar die Welt erschaffen hatte, sie weise regierte und gütig beschützte. Schließlich – wenn er den Undankbaren das Evangelium verkündet, den Ungläubigen Zeichen darbietet und für die, die ihn kreuzigen, betet – zeigt er so nicht klar, daß er es ist, der mit seinem Vater täglich die Sonne über Guten und Bösen aufgehen läßt und Regen ausgießt über die Gerechten und Ungerechten? Dies nämlich ist es, was dieser selbst sagte: ,Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt nicht!‘
Bernhard trennt – wie wir oben gesehen hatten – ebenso scharf wie Origenes in seiner 1. Homilie über das Hohelied zwischen körperlicher und geistiger Liebe,43 lehnt sich ferner deutlich an dessen Hohelied-Kommentar an, der sich wohl ebenfalls auf 1 Kor 15,46 bezieht, wenn ein Fortschritt a terrenis ad caelestia beschrieben wird: Ita igitur cuncta secundum ea quae praefati sumus ex visibilibus referri possunt ad invisibilia et a corporalibus ad incorporea et a manifestis ad occulta, ut ipsa creatura mundi tali tamquam dispensatione condita intelligatur per divinam sapientiam, quae rebus ipsis et exemplis invisibilia nos de visibilibus doceat et a terrenis nos transferat 41 SC 6,2 = SBO I, 26, 21 – 27, 10. 42 SC 6,3 = SBO I, 27, 14 – 25. 43 Origenes Hom Ia in Cant, 2 = SChr 37, 64 f.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
ad caelestia. […] Et hoc non in scripturis tantum veterum, sed et in gestis Domini et Salvatoris nostri, quae in evangeliis referuntur, invenies.44 So kann alles, gemäß unserer obigen Ausführungen, von den sichtbaren Dingen auf die unsichtbaren zurückbezogen werden, und von den körperlichen auf die unkörperlichen und von den offenbaren zu den verborgenen, so daß man schließlich verstehen kann, daß die Kreatur der Welt nach einer derartigen Ordnung durch die göttliche Weisheit geschaffen ist, die uns mittels der Dinge selbst und [ausgesuchter] Beispiele das Unsichtbare ausgehend vom Sichtbaren lehren und uns vom Irdischen zum Himmlischen hinüberführen möchte. […] Und dies wirst du nicht nur in den Schriften der Alten, sondern auch in den Taten unseres Herrn und Erlösers finden, von denen die Evangelien berichten.
Doch anders als Origenes, der die geistlichen Sinne eher als unabhängige Fakultäten des Geistes bestimmte, scheint Bernhard eine Nähe zu Evagrius Ponticus aufzuweisen, der stärker den Zusammenhang zwischen körperlichsinnlicher und der dann folgenden geistlich-sinnlichen Durchdringung betonte.45 Bei Bernhard findet sich ein durch Paulus präfiguriertes Modell einer Wahrnehmung des Göttlichen mittels der Wahrnehmung der geschaffenen Dinge. Dieses Modell zeigt (neu-)platonischen Einfluß, so etwa in der Idee des graduellen Aufstiegs vom Irdischen zum Himmlischen, vom Körperlichen zum Geistigen. Obgleich es Gottes Allmacht natürlich möglich sei, sich auch geistig zu offenbaren, sei die Inkarnation um der Wahrnehmung Gottes als Inkarniertem willen geschehen, die der Priorität körperlicher Liebe aus der körperlichen Verfaßtheit des Menschen heraus geschuldet sei.46
4.2.2 Die sensus corporis und die sensus animae In der Predigtsammlung Bernhards, die unter dem Namen Sermones de diversis (Div) Eingang in die Ausgabe von Jean Leclercq, Henri Rochais u. a. (SBO) gefunden hat, sind die Predigten 9, 10 und 116 hier von besonderem Interesse. Bernhard entwirft dort – einem „pointierten Augustinismus“47 folgend – ein Modell geistiger Gotteserkenntnis, das die Gedanken entfaltet, die auch in den SC angelegt sind. Deshalb wollen wir im folgenden diese Predigten in unsere Analyse einbeziehen.
44 45 46 47
Origenes Comm In Cant III, 13, 27 u. 29 = SChr 376, 640. Rahner (1975), zu Evagrius bes. 130 – 131. So auch bereits Gilson (1947), 52 – 59. Winkler (1998b), 845, dort Anm. 17.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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4.2.2.1 Die fünf Körpersinne des homo exterior Die sehr kurze 116. Predigt de diversis führt ausgehend von der Prämisse eines Leib-Seele-Dualismus Bernhards Körperkonzept vor Augen. Bernhard entwickelt seinen Gedanken von Kol 3,1 her, einem Vers der in der zisterziensischen Liturgie des 12. Jahrhunderts seinen Platz als Responsorium in der zweiten Nocturne der Ostervigil hat.48 Damit wäre immerhin ein Bezug zum Kirchenjahr hergestellt, wenn auch die genaue Datierung, wie Winkler noch einmal zeigt,49 nicht möglich ist. Hinsichtlich der Authentizität folge ich bei aller Vorsicht hinsichtlich späterer Redaktionen und der ständigen Gefahr apokrypher Bernharddicta der Bewertung Winklers: die Argumente hinsichtlich der inneren Kriterien sind überzeugend, insbesondere da Selbst- und Gotteserkenntnis – wie bereits herausgearbeitet – zentral für Bernhards Theologie sind.50 Bernhard führt auch in Div 116 ausgehend vom Leib-SeeleDualismus und dem zweifachen – d. h. seelischen und leiblichen – Tode und der entsprechend zweifachen Auferstehung wieder zum zentralen Satz von imago und similitudo Dei – beide, Seele und Körper, seien ad imaginem Dei geschaffen. Der Leib sei also wesentlicher Bestandteil der Menschnatur : […] habens vitam et sensum, ut per hunc exteriorem et visibilem, illum interiorem et invisibilem intelligeremus, qui rectus factus est in voluntate, vivus in cognitione, sensibilis in amore.51 […] er hat das Leben und den Sinn, damit wir durch diesen äußeren und sichtbaren [Menschen] jenen inneren und unsichtbaren [Menschen] erkennen mögen, der recht geschaffen ist im Willen, lebendig in der Erkenntnis und wahrnehmungsfähig in der Liebe.
Der Leib hat eine entscheidende Bedeutung für die Gotteserkenntnis, die cognitio ist in der Auslegung von Joh 17,3 sogleich auch vita: Quod autem cognitio vita sit, Veritas attestatur, dicens: Haec est vita aeterna, ut cognoscant te Deum verum et quem misisti Iesum Christum.52 Daß aber Erkenntnis Leben ist, bestätigt die Wahrheit, wenn sie sagt: Dies ist das ewige Leben, daß sie Dich, den wahren Gott, erkennen und den, den Du gesandt hast, Jesum Christum.
Bernhard geht – nicht überraschend – von einem Konzept von fünf Sinnen (visus, gustus, auditus, odoratus, tactus) aus; über die Rangfolge wird später 48 49 50 51 52
Primitive Cistercian Breviary 809, ed. Waddell (2007), 279. Winkler (1998a), 29 f. Winkler (1998a), 32 – 38, bes. 34. Div 116 = SBO VI/1, 393, 11 – 13. Div 116 = SBO VI/1, 393, 16 – 394, 1.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
weiter unten im Kontext der Predigten 9 und 10 de diversis noch zu sprechen sein. Er bildet eine Analogie der fünf Körpersinne des homo exterior und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit für die visibilia Dei und der fünf Wahrnehmungsfähigkeiten der Liebe des homo interior für die invisibilia Dei. So wie der äußere Mensch in seinem Leben nicht aufgeteilt werden könne, so auch der innere nicht. So wie man aber beim sensus die fünf genannten Sinne unterscheide, so sei es auch möglich, die Liebe hinsichtlich des Erfülltwerdens („afficitur“) mit fünf unsichtbaren Dingen Gottes zu unterscheiden: Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe und Ewigkeit.53 Dieser Analogie werden wir weiter unten in Predigt 10 de diversis noch einmal begegnen, zunächst aber will ich kurz auf die natürliche Gotteserkenntnis eingehen, für die die Körpersinne die entscheidende Rolle spielen.
4.2.2.2 Die Schöpfung als liber und speculum der Weisheit Gottes In Div 9 führt Bernhard noch einmal die natürliche Gotteserkenntnis aus: […] est velut communis quidam liber et catena ligatus sensibilis mundus iste, ut in eo sapientiam Dei legat quicumque voluerit.54 […] diese sinnlich wahrnehmbare Welt ist wie ein offen sichtbares und mit einer Kette gesichertes Buch, damit darin – wer auch immer dieses Begehren haben sollte – die Weisheit Gottes lesen könne.
Diese Verbindung von Röm 1,20 und 1 Kor 13,12 erinnert an die bekannten, dem Alanus ab Insulis zugeschriebenen Verse: Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum […].55
Die Annahme, daß das Sichtbare nicht das Absolute selbst sei, aber das Absolute wie in einem Spiegel erscheinen lasse, findet sich nicht nur bei Paulus, sondern bereits bei Platon im Alkibiades (132d4 – 133c3), bei Plotin und im Mittelalter dann z. B. bei Hildegard von Bingen und später etwa auch bei Johannes Trithemius.56 Bis zur Schau Gottes „non per speculum et in aenig53 Div 116 = SBO VI/1, 394, 1 – 7 54 Div 9,1 = SBO VI/1, 118, 5 – 7. 55 Alanus ab Insulis: Rhythmus Omnis mundi creatura = Migne PL 210, 579 – 580, hier 579 A. Und in diesem Sinne läßt Alanus die Natur über die Theologie sagen: „Ego ratione fidem, illa fide comparat rationem. Ego scio ut credam, illa credit ut sciat. Ego consentio sentiens, illa sentit consentiens. Ego vix visibilia video, illa inconprehensibilia conprehendit in speculo“ […]; Alanus, De planctu naturae VI = Häring 829, 154 – 56. 56 So Wenzel (2009), 64 – 70.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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mate, sed facie ad faciem“57 benötige deswegen der Mensch – hier wie in SC 5,4 im Gegensatz zu den Engeln – die Schöpfung als Erkenntnishilfe: Interim vero opus habet humana anima velut quodam vehiculo creaturae, ut ad cognitionem Creatoris assurgat, cum econtra longe beatius perfectiusque angelica natura in Creatore notitiam habeat creaturae.58 Unterdessen aber bedarf die menschliche Seele der Schöpfung wie eines Wagens, damit sie sich zur Erkenntnis des Schöpfers erhebe, während ganz im Gegensatz dazu die Engelsnatur im Schöpfer zu einer bei weitem seligeren und vollkommeneren Kenntnis der Schöpfung gelangt.
Am besten erkenne nun die Seele die invisibilia Dei in sich selbst, da sie selber ad imaginem Creatoris geschaffen sei und auf der höchsten Stufe der Geschöpfe stehe; wie auch in den SC59 stehen Selbst- und Gotteserkenntnis in notwendiger Verbindung: Quaeramus ergo saltem per ea quae facta sunt, intellectum invisibilium Dei, quae si in ceteris creaturis intellecta conspicit anima, necesse est ut longe amplius conspiciat, et intelligat multo subtilius in ea creatura, quae facta est ad imaginem Creatoris, id est in seipsa. Nullus enim Deo vicinior gradus, inter omnes quae sub sole habitant creaturas, quam anima humana […].60 Wir wollen also wenigstens durch die geschaffenen Dinge nach der Erkenntnis der unsichtbaren Dinge Gottes streben; wenn die Seele diese in den übrigen Geschöpfen erblickt und verstanden hat, muß es so sein, daß sie diese Dinge bei weitem weitreichender erblickt und viel scharfsinniger in dem Geschöpf versteht, welches zum Ebenbilde des Schöpfers geschaffen ist: nämlich in sich selbst. Denn es gibt unter allen Geschöpfen, die unter der Sonne ihre Wohnstatt haben, keine Stufe, die Gott näher ist als die menschliche Seele […].
Damit ist Bernhard nah bei Origenes, welcher der unsterblichen, geistigen Seele (er bezieht den ,göttlichen Sinn‘ aus Spr 2,5 auf sie) ob ihrer Ähnlichkeit mit dem Göttlichen Gotteserkenntnisfähigkeit zuschreibt.61 4.2.2.3 Die Sinne der Seele In der 10. Predigt De Diversis expliziert Bernhard die Sinne der Seele. Er spielt zunächst auf den k|cor speqlatij|r an: 57 58 59 60 61
Div 9,1 = SBO VI/1, 118, 9 – 10. Div 9,1 = SBO VI/1, 118, 11 – 13. SC 36, 5 – 7 = SBO 2, 7, 1 – 8, 13. Div 9,2 = SBO VI/1, 119, 3 – 7. Origenes, De Principiis I 1, 7–I 1, 9 = Görgemanns/Karpp 114 – 122; zu imago Dei und similitudo siehe De Principiis I 2, 6 = Görgemanns/Karpp 132 sowie III 6, 1 = Görgemanns/Karpp 642 – 648.
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[…] nimium inexcusabilis est negligentia nostra, qui, cogitationibus otiosis vacantes, tempus amittimus, quibus nimirum nec penetrandae nubes, nec maria transfretanda, ut salubres inveniamus cogitationes, sed prope est, ut ait Moyses, verbum in ore nostro et in corde nostro, et infinitas in nobismetipsis utilium cogitationum occasiones et seminaria possumus invenire.62 […] keinesfalls ist unsere Nachlässigkeit entschuldbar, wenn wir unsere Zeit damit vertun, müßigen Überlegungen nachzugehen; um zu heilsamen Überlegungen zu gelangen, müssen wir nämlich weder Wolken durchstoßen noch über Meere eilen, sondern – wie Moses sagt – nahe ist uns das Wort, in unserem Munde und in unserem Herzen, und wir können in uns selbst unzählige Möglichkeiten und Keime nützlicher Überlegungen entdecken.
Doch auch wenn die Seele zur Introspektion unfähig sein sollte, habe sie dennoch die Möglichkeit, in ihrer Wirkung auf den Körper die Weisheit zu entdecken: Denique si tam inerudita et negligens fuerit anima, ut nec interiora sua sufficiat perscrutari, attendat vel ea quae foris agit palam et in manifesto, et in ipsis quoque, si diligenter quaesierit, inveniet sapientiam.63 Wenn schließlich eine Seele so ungebildet und nachlässig sein sollte, daß sie nicht in der Lage sein sollte, ihre inneren Dinge zu erforschen, so achte sie wenigstens auf die Dinge, die sie nach außen, öffentlich und offenkundig vollbringt, und auch in diesen wird sie, so sie eifrig sucht, die Weisheit finden.
Die Seele erfülle für den Leib zwei Funktionen: sie versorge ihn mit Leben und Fühlen (vitam ei sensumque ministrare).64 Während das Leben nun im gesamten Körper zu finden sei, ließe sich der sensus dort allerdings nicht finden: […] et vitam quidem toto in corpore invenies uniformem, […] sensum vero non ita.65 […] und im gesamten Körper wirst du gleichförmiges Leben finden, […] den Sinn jedoch nicht auf diese Weise.
Die Seele selbst wird wiederum in Analogie zum Körper vorgestellt, sie bezieht ihr Leben und Fühlen nicht aus sich selbst, sondern aus Gott. Während die Seele ohne Erkenntnis der Wahrheit tot sei, sei das Fühlen der Seele die Liebe: animae vita veritas, sensus caritas.66 So besäßen zuweilen auch die animae impiorum Kenntnis der Wahrheit, doch keine Liebe.67 Dies klingt auch in der 69. Predigt über das Hohelied an: 62 63 64 65 66 67
Div 10,1 = SBO VI/1, 121, 3 – 8. Div 10,1 = SBO VI/1, 121, 8 – 10. Div 10,1 = SBO VI/1, 121, 10 – 13. Div 10,1 = SBO VI/1. 121, 13 – 15. Div 10,1 = SBO VI/1, 121, 18 – 19. Div 10,1 = SBO VI/1, 121, 19 – 20.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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Quid faceret absque dilectione eruditio? Inflaret. Quid absque eruditione dilectio? Erraret. Denique errabant, de quibus dicebatur: Testimonium illis perhibeo, quod zelum Dei habent, sed non secundum scientiam. Non decet sponsam Verbi esse stultam; porro elatam Pater non sustinet.68 Was würde Bildung [eruditio] ohne Liebe [dilectio] machen? Sie würde aufblähen. Was machte die Liebe ohne Bildung? Sie würde irren. Schließlich irrten die, von denen gesagt wurde: „Ich bezeuge, daß sie Eifer für Gott haben, aber nicht entsprechend dem Wissen“ (Röm 10,2). Es ziemt sich für die Braut des Wortes nicht dumm zu sein; die überhebliche hingegen erträgt der Vater nicht.
Doch hätten die Unfrommen die Wahrheit lediglich mit Hilfe ihrer natürlichen Vernunft erkannt: Quemadmodum et animae iniquorum veritatis habent notitiam naturali ratione, quae tamen interdum adiuvantur a gratia, cum nullatenus sane animentur ab ea.69 Auf diese Weise haben auch die Seelen der Gottesfeinde Kenntnis der Wahrheit durch ihre natürliche Vernunft, und sie erfahren dennoch hin und wieder von der Gnade Hilfe, obwohl sie offenbar keineswegs von ihr belebt werden.
Im Gegensatz dazu stehen diejenigen, die sowohl Erkenntnis der Wahrheit als auch eingegossene Liebe erhalten: In his autem quibus et cognitionem veritatis, et dilectionem anima spiritualis infundit, non exteriore quolibet modus, sed tamquam anima ipsorum cui adhaerentes unus spiritus fiunt cum ea; in his, inquam, indivisa est cognitio veritatis, secundum quod dictum est de vita corporis. Eadem enim cognitione et minima, et maxima comprehendis.70 Bei denen aber, denen die geistliche Seele sowohl Erkenntnis der Wahrheit als auch Liebe eingießt, nicht aber auf irgendeine äußere Weise, sondern gleichsam als Seele derselben, der sie anhangen und eines Geistes mit ihr werden; bei denen, sage ich, ist die Erkenntnis der Wahrheit ungeteilt, gemäß dem, was vom Leben des Körpers gesagt ist. Denn mit derselben Erkenntnis verstehst du sowohl die kleinsten als auch die größten Dinge.
Diese Liebe sei fünffältig: (1) die fromme Liebe (amor pius) den Eltern gegenüber, (2) die fröhliche Liebe (amor iucundus) den Freunden gegenüber, (3) die gerechte Liebe (amor iustus) allen Menschen gegenüber, (4) die Feindes68 SC 69,2 = SBO II, 203, 4 – 8. Bernhard lehnt sich hier an Augustinus an, wie sein Gebrauch von Röm 1,20 andeutet; so Winkler (1995), 681, dort Anm. 84. Zu Winklers Fundstellen dürfte – im Hinblick auf den Inhalt – Augustinus’ Sermo 354,6 (= Migne PL 39, 1566) treten: „Ergo amate scientiam, sed anteponite charitatem. Scientia si sola sit, inflat. Quia vero charitas aedificat [I Cor. VIII,1], non permittit scientiam inflari. Ibi ergo inflat scientia, ubi charitas non aedificat: ubi autem aedificat, solidata est. Non est ibi inflatio, ubi petra est fundamentum.“ 69 Div 10,1 = SBO VI/1, 122, 1 – 3. 70 Div 10,1 = SBO VI/1, 122, 3 – 7. Die anima spiritualis ist Gott; Div 10,4 = SBO VI/1, 123, 25 f.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
liebe (amor violentus) und die heilige oder hingebungsvolle Liebe (amor sanctus sive devotus) zu Gott.71 Diese fünf Arten ordnet er sodann den fünf Körpersinnen zu, während er die Grenzen dieses Vergleiches reflektiert: (1) die Elternliebe entspreche dem Tastsinn, weil dieser das erfasse, was in in der Nähe des Körpers sich befinde und mit ihm in Berührung träte; so wie der Tastsinn auf den ganzen Körper verteilt sei, fände sich die Elternliebe in allen Lebewesen, auch bei Tieren. (2) Die Bruderliebe entspreche dem Geschmacksinn, ob seiner größeren Süße und seiner Bedeutung für das menschliche Leben. (3) Die Menschenliebe vergleicht Bernhard mit dem Geruchssinn, weil dieser auch entferntere Dinge noch wahrnehme. (4) Die Feindesliebe sei dem Gehörsinn ähnlich, weil dieser noch entlegenere Dinge wahrnehme und der, der einen Liebenden nicht liebe, am weitesten von ihm entfernt sei. Außerdem verlasse der Gehörsinn das Fleisch vollständig, während die unteren Formen der Liebe zum Fleisch gehörten; die Feindesliebe sei nämlich nur dem Gehorsam geschuldet. (5) Die Gottesliebe sei deshalb dem Sehen ähnlich, weil es einzigartig sei und aus den anderen Sinnen herausrage: es sei durchdringender und nehme weiter entfernte Dinge wahr. Dies sei zwar auch von Geruch und Gehör gesagt, aber diese schienen dazu Luft anzuziehen (aerem attrahere), während der Gesichtsinn aus dem Körper auf die entfernten Dinge zuzugehen scheine (exire et ad remota procedere). Bei der Liebe verhalte es sich ähnlich: wir zögen den Nächsten an, um ihn so zu lieben wie uns selbst. Zu Gott aber eilten wir hinaus und gingen in ihn ein, wenn wir ihn mit aller Kraft, ganzer Seele und aus ganzem Herzen liebten (Mk 12,30).72 Doch gibt es für Bernhard noch ein weiteres Argument, das sich aus der Anordnung der körperlichen Sinnesorgane ergibt: die Augen lägen zuoberst, dann folgten die Ohren, die Nase, der Gaumen und schließlich die Hände und übrigen Tastsinne.73 Zum Abschluß der Predigt scheint Bernhard wiederum mit der anima animae auf den k|cor speqlatij|r zurückzukommen: […] quemadmodum artus corporis cadere necesse est quam cito desierit eos anima vegetare, sic et eas, quas diximus, affectiones, quae sunt velut quaedam animae membra, sine anima ipsius animae, quae Deus est, cadere omnino necesse est, quatenus videlicet aut ex toto non diligatur quod diligendum est, aut non diligatur ad quod debet aut quomodo debet.74 […] so wie notwendigerweise die Glieder des Körpers sterben, sobald die Seele aufhört, sie am Leben zu erhalten, so ist es ebenfalls notwendig, daß auch die Gefühle, von denen wir gesprochen haben, welche wie Glieder der Seele sind, ohne die Seele 71 72 73 74
Div 10,2 = SBO VI/1, 122, 8 – 12. Div 10,2 – 3 = SBO VI/1, 122, 13 – 123, 13. Div 10,4 = SBO VI/1, 123, 14 – 22. Div 10, 4 = SBO VI/1, 123, 23 – 124, 1.
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4.2 Körperliche Sinneswahrnehmung und Gotteserkenntnis
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der Seele selbst, die Gott ist, vollends sterben; dann nämlich wird nicht aus ganzem Herzen das geliebt, was man lieben muß, oder nicht zum rechten Zweck oder auf die rechte Weise.
Bernhard beschreibt die Sinne der Seele analog zu den fünf Sinnen des Körpers, die ihm als literarisches Motiv bestens bekannt gewesen sein dürften,75 denn bereits Origenes kennt eine solche Identifikation an der schon oben zitierten Stelle in De principiis.76 Ihre inneren Sinne, so wieder Bernhard, kann die Seele nur in ihrer Verbindung mit ihrer eigentlichen Seele (anima ipsius animae) am Leben erhalten. Doch wie vollzieht sich dieser Prozeß?
4.2.3 Erlösender Glaube durch den auditus Die 28. Predigt über das Hohelied beginnt mit einer breit angelegten Allegorese von Hld 1,477. Eine Exegese der dort erwähnten schwarzen Felle Salomos führt Bernhard über die ersten drei Paragraphen von SC 28 hinweg zu deren zentraler Problemstellung: die Menschnatur Christi könne über seine Göttlichkeit hinwegtäuschen, mit den Augen werde sie nicht erkannt, sondern aus dem Glauben: Aliud cernitur, et aliud creditur. Nigrum sensus renuntiat, fides candidum et formosum probat. Niger est, sed oculis insipientium: nam fidelium mentibus formosus valde.78 Das eine wird wahrgenommen und das andere geglaubt. Der Körpersinn meldet den Schwarzen, der Glaube begrüßt den Weißen und Schönen. Er ist schwarz, aber für die Augen der Unverständigen: denn in den Herzen der Gläubigen ist er sehr schön.
Während hier, anders als in den Predigten De diversis, die Anfälligkeit des Gesichtssinnes thematisiert wird, zeigt sich das Gehör den anderen Sinnen überlegen und ermögliche die Glaubenerkenntnis ex auditu: Auditus invenit quod non visus. Oculum species fefellit, auri veritas se infundit. Oculus pronuntiabat infirmum, oculus foedum, oculus miserum, oculus morte turpissima condemnatum: auri Dei Filius, auri formosus innotuit […].79 Das Gehör findet, was das Sehen nicht findet. Die Erscheinungsform täuscht das Auge, dem Ohr aber gießt die Wahrheit sich ein. Das Auge kündete von ihm als Schwachem, als Häßlichem, als Elendem, als zum schimpflichsten Tode Verurteiltem; dem Ohr wurde er als Sohn Gotttes bekannt, als der Schöne […]. 75 76 77 78 79
Zur literarischen Tradition der fünf Sinne Vinge (1975). Origenes, De Principiis I 1, 9 = Görgemanns/Karpp 120. „Nigra sum sed formosa, filiae Ierusalem, sicut tabernacula Cedar, sicut pelles Salma.“ SC 28, 3 = SBO I, 194, 19 – 21. SC 28, 5 = SBO I, 195, 9 – 12.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
Das Hören sei dem Sehen zwar hinsichtlich der Glaubenserkenntnis überlegen, dieses bliebe aber doch der würdigere Sinn (vgl. das oben zu Div 10 Gesagte); denn die Schau Gottes facie ad faciem der visio beatifica vollziehe sich nicht im Diesseits: Dignum quidem fuerat [sic!] per superiorum oculorum fenestras veritatem intrare ad animam; sed hoc nobis, o anima, servatur in posterum, cum videbimus facie ad faciem. Nunc autem unde irrepsit morbus, inde remedium intret, et per eadem sequatur vestigia vita mortem, tenebras lux, venenum serpentis antidotum veritatis, et sanet oculum qui turbatus est, ut serenus videat quem turbatus non potest. Auris prima mortis ianua, prima aperiatur et vitae; auditus, qui tulit, reparet visum: quoniam nisi crediderimus, non intelligemus.80 Würdig wäre es gewesen [ich übers. wie fuisset], wäre die Wahrheit durch die Fenster der höher gelegenen Augen zur Seele eingetreten; dieses ist uns aber, o Seele, für später vorbehalten, wenn wir von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Nun aber soll von da, woher die Krankheit eingedrungen ist, das Heilmittel eintreten, und in denselben Fußstapfen soll das Leben dem Tod, das Licht der Finsternis, dem Gift der Schlange das Gegengift der Wahrheit folgen; und es soll das Auge heilen, das verwirrt ist, damit es heiter den sieht, den es verwirrt nicht sehen kann. Das Ohr ist das erste Tor des Todes, es soll auch als erstes Tor dem Leben geöffnet werden; das Gehör stelle das Sehen, das es zerstört hat, wieder her, weil wir ja, wenn wir nicht im Glauben stehen werden [ich übers. Fut II], nicht erkennen werden.
Bernhard lehnt sich hier offensichtlich an Anselm von Canterbury an,81 und er betont die Notwendigkeit der Glaubenserkenntnis durch das Hören als Grundlage jeder weiteren Erkenntnis höherer Wirklichkeit. Dieses Hören sei das Verdienst, das Schauen in der visio beatifica dann der Lohn: „Ergo auditus ad meritum, visus ad praemium“.82 Die sinnliche Erkenntnis, so Bernhard, ließe sich täuschen, während die geistige Erkenntnis des Hörens im Glauben ihr überlegen sei: Fides nescia falli, fides invisibilia comprehendens, sensus penuriam non sentit; denique transgreditur fines etiam rationis humanae, naturae usum, experientiae terminos.83 Weil er die Täuschung nicht kennt, weil er die unsichtbaren Dinge begreift, spürt der Glaube nicht den Mangel des Körpersinnes; letztendlich überschreitet er sogar die Grenzen menschlicher Vernunft, die Gewohnheit der Natur und die Grenzen der Erfahrung. 80 SC 28, 5 = SBO I, 195, 18 – 25. 81 Proslogion I = SAO 100, 18 – 19: „Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam. Nam et hoc credo: quia ,nisi credidero, non intelligam‘.“ Beide bringen Jes 7,9. 82 SC 28, 5 = SBO I, 195, 25. 83 SC 28, 9 = SBO I, 198, 6 – 8.
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Die Überlegenheit des Gehöres als Sinn des Glaubens setzt bei Bernhard die Annahme eines stofflich vermittelten Sinneseindruckes der visuellen, olfaktorischen, gustatorischen und haptischen Wahrnehmung voraus, während die auditive Wahrnehmung geistig sich vollziehe. Er nimmt das Hören hier aus der Reihe der Körpersinne heraus und spiritualisiert es. Das hatte er im vorhergehenden Text SC 28 mit Beispielen aus der Schrift gestützt:84 Isaak, der sich von Jakobs Wildbret und dem Tasten nach den umgewickelten Fellen täuschen läßt, erkennt Jakobs Stimme sehr wohl (1 Mose 27). Maria Magdalena findet erst Ruhe, nachdem sie den Auferstandenen erblickt hat, will ihn berühren, doch er weist sie zurück (Joh 20): Noli me tangere, inquit, hoc est: Dissuesce huic seducibili sensui; innitere verbo, fidei assuesce.85 „Berühre mich nicht“, sagt er, und das bedeutet: „Löse dich von diesem verführbaren Körpersinn, stütze dich auf das Wort, gewöhne dich an den Glauben.“
Das Ohr soll durch das Hören geweckt und geübt werden (schöne Paronomasie: auditus excitare, exercitare), die Wahrheit zu empfangen (veritatem excipere).86 Bernhards Auslegung des Hauptmannes aus Mk 15,39 mag noch einmal zur Illustration dienen: er erkennt den Gekreuzigten als Sohn Gottes vermittels seiner Worte,87 eine Stelle, auf die Bernhard in SC 28 mehrfach zurückgreift.88 Den Interpretationsschlüssel bietet ihm Paulus in Röm 10,17: Ideoque non despexit quod vidit, quia credidit quod non vidit. Non autem credidit ex eo quod vidit, sed ex eo procul dubio quod audivit quia fides ex auditu.89 Und deshalb hat er das nicht verachtet, was er gesehen hat, weil er geglaubt hat, was er nicht gesehen hat. Er hat aber nicht geglaubt aus dem, was er gesehen hat, sondern zweifelsfrei aus dem, was er gehört hat, weil der Glaube aus dem Hören erwächst (Röm 10,1790).
Der Christus als das Wort wird Bernhard so zum Medium im zweifachen Sinne. Zum einen ist er als Gottmensch zugleich mediator zwischen Gott und Mensch im augustinischen Sinne, zum anderen aber ist die Heilige Schrift Medium der Selbstoffenbarung Gottes, die als Wort zugleich der k|cor des Joh-Prologes ist. So kann das Hören dieses k|cor geübt werden: 84 85 86 87
McGinn (1996), 286 f., hatte nur Bernhards Auslegung von Joh 20,17 in SC 28 kurz gestreift. SC 28, 9 = SBO I, 198, 4 – 5. SC 28, 6 = SBO I, 196, 3 – 4. „Videns autem centurio, qui ex adverso stabat, quia sic clamans exspirasset, ait: ,Vere homo hic Filius Dei erat‘.“ 88 SC 28, 4 = SBO I, 195, 3 – 8; SC 28, 5 = SBO I, 195, 14 – 18; SC 28, 11 = SBO I, 200, 9. 89 SC 28, 5 = SBO I, 195, 16 – 18. 90 „Ergo fides ex auditu, auditus autem per verbum Christi.“
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
Quid intendis oculum? Aurem para. Videre desideras Christum? Oportet te prius audire eum, audire de eo, ut dicas cum videris: Sicut audivimus, sic vidimus. Immensa claritas, visus angustus, et non potest ad eam. Potes auditu, sed non aspectu.91 Was bemühst Du das Auge? Bereite das Ohr vor. Du begehrst, Christus zu sehen? Du mußt ihn zuerst hören, von ihm hören, damit du sagst, wenn du ihn sehen wirst: „So wie wir gehört haben, so haben wir gesehen (Ps 47,9)“. Die Helligkeit ist so gewaltig, das Sehen so eng, und es ist ihr nicht gewachsen. Du kannst es mit dem Gehör, aber nicht durch die Sehkraft.
Das Gleichzeitige des k|cor als Fleisch, als Wort der Schrift und Wahrheit wird auch in einer sentenzhaften Zuspitzung Bernhards deutlich: Solus habet auditus verum, qui percipit verbum.92 Einzig das Gehör, welches das Wort aufnimmt, hat das Wahre.
Die Braut des Hohenliedes nun habe also unter der Schwärze der Menschnatur das Weiß der Göttlichkeit erkannt;93– so endet die Auslegung des allegorischen und anagogischen Sinnes, um kurz den tropologischen (u. a. paenitentia, persecutio, zelum iustitiae, auch zur disciplina) zu streifen.94 Diese herausgehobene Stellung des Hörens als diesseitigen Zugangs zum Göttlichen findet sich so zugespitzt auch ein Jahrhundert später in einem der wenigen liturgischen Werke, die Thomas von Aquin zugeschrieben werden; im eucharistischen Hymnus Adoro te devote95 heißt es: Visus, tactus, gustus in te fallitur, Sed auditu solo tuto creditur. Credo quidquid dixit Dei Filius: Nil hoc verbo Veritatis verius.
Auch hier ist das Gehör den übrigen Sinnen überlegen, die Schau Gottes sei nur in der jenseitigen visio beatifica erreichbar : Iesu, quem velatum nunc aspicio, Oro, fiat illud quod tam sitio; Ut, te revelata cernens facie, Visu sim beatus tuae gloriae.96 91 SC 28, 7 = SBO I, 196, 22 – 25. 92 SC 28, 8 = SBO I, 197, 21. Heller (1990a), 75 f, notiert als auffällig, „[…] wie wenig Bernhard differenziert zwischen dem ,Verbum Dei‘ als Bezeichnung für die Schrift und als Bezeichnung für Christus, den Logos, den Bräutigam, ja auch für den Geist.“ Darin liegt aber gerade der Schlüssel zum Verständnis Bernhards: sie sind zwei Redeweisen des gleichen Logos. 93 SC 28, 11 = SBO I, 199, 22 – 28. 94 SC 28, 12 – 13 = SBO I, 200, 22 – 202, 15. 95 Zur Texttradition Wilmart (1929); zur Urherberschaft Torell (2005), 132 – 135; zur theol. Interpretation etwa Gotia (2004). 96 Dieser Text gibt die Version des Missale Romanum wieder ; eine Rekonstruktion auf der Grundlage der Mss bei Wilmart (1929), 159 – 161.
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4.3 Das monastische Umfeld als sinnlich erfahrbare Welt
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Das Hören ist Bernhard sowohl körperliches Hören als auch Metapher für die Begegnung mit dem Wort, etwa in der Schrift. Er akzentuiert je nach Anlaß verschiedene Eigenschaften der Sinne, weist je dem Hören, je dem Sehen den Primat zu, letzterem aber im insbesondere im Jenseits. Auf der Ebene der monastischen Lebenswelt möchte ich im folgenden untersuchen, wie Bernhard die Konsequenzen aus seiner Konzeption der beiden ihm edlen Sinne, dem Hören und dem Sehen, zieht, indem ich beispielhaft zwei Formen sinnlicher Stimulation, Musik und Kunst, und Bernhards Ausführungen dazu betrachte.
4.3 Das monastische Umfeld als sinnlich erfahrbare Welt – Bernhard, Musik und Kunst 4.3.1 Zur Aisthesis des Hörens: Musik und Gesang Das in der Schrift verkörperte Verbum (den gr. k|cor) kann der Mönch auf verschiedene Weisen suchen. Man könnte etwa an die lectio divina denken.97 Doch ist das Wort der Schrift auch gerade in der multisensorischen Performanz der Liturgie präsent. Im folgenden soll dem divinum officium als Zentrum monastischen Lebens Aufmerksamkeit zukommen.
4.3.1.1 Der monastisch-liturgische Alltag und die Hoheliedpredigten 4.3.1.1.1 Der Bezug zum Kirchenjahr In zweifacher Hinsicht setzt Bernhard bereits in Sermo 2 zum Beginn der Hoheliedpredigten den Text in Bezug zum Kirchenjahr, zum einen real zeitlich und damit zum anderen theologisch: Ardorem desiderii patrum suspirantium Christi in carne praesentiam frequentissime cogitans, compungor et confundor in memetipso. Et nunc vix contineo lacrimas, ita pudet teporis torporisque miserabilium temporum horum. Cui namque nostrum tantum ingerat gaudium gratiae huius exhibitio, quantum veteribus sanctis accenderat desiderium promissio? Ecce enim quam multi in hac eius, quae proxime celebranda est, nativitate gaudebunt! Sed utinam de nativitate! Illorum ergo desiderium flagrans et piae exspectationis affectum spirat mihi vox ista: Osculetur me osculo oris sui.98 97 Zu Medialität und in diesem Zusammenhang zur lectio divina bei Bernhard s. Rinke (2006). 98 SC 2,1 = SBO I, 8, 20 – 9, 3.
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Erschüttert und verwirrt werde ich tief in mir, wenn ich mir ach so oft die Glut des Sehnens der Väter vor Augen führe, die nach der Gegenwart Christi im Fleische schmachteten. Mit Mühe nur kann ich auch nun die Tränen zurückhalten, so schäme ich mich der Lauheit und Schlaffheit dieser jämmerlichen Zeiten. Wem denn der unsrigen schüttet dieses Sichtbarsein der Gnade eine so große Freude ein, wie die Verheißung das Verlangen in den alten Heiligen anfachte? Denn siehe wie viele sich anläßlich dieses Geburtstages Christi, der bald zu feiern sein wird, freuen werden! Aber freuten sie sich doch über die Geburt! Deshalb haucht mir diese Stimme99 das brennende Verlangen jener und die Leidenschaft der frommen Erwartung ein: „Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes!“
Bernhard interpretiert das Verlangen nach dem Kuß, welches in Hld 1,1 zum Ausdruck kommen soll, als Ausdruck des Sehnens der alttestamentlichen Väter, die auf das Kommen des Verheißenen hoffen. Wir wissen, daß dies eine neutestamentliche ex post-Interpretation der Propheten ist, wie sie etwa im Lobgesang des Zacharias in Lk 1,68 – 80 durchscheint; für Bernhard ist diese Lesart aber historische Realität. Diese für ihn heilsgeschichtliche Tatsache setzt er in Beziehung zur zyklischen Zeit des Kirchenjahres: er verortet die Predigt fiktiv im Advent, so daß das Sehnen der alttestamentlichen Väter nach dem Kommen Christi analog zum immer wiederkehrenden adventlichen Sehnen des Christen auf das Heilsgeschehen, welches im Weihnachtfest kommemoriert wird, in dem Verlangen nach dem Kuß des Hld 1,1, d. h. der Gegenwart Christi, interpretiert wird. Für die Einbindung in den rituellen Kontext bedeutet dies die Rückbindung der Hoheliedpredigten in den Advent des Kirchenjahres als Vorbereitung auf die Zelebration der Inkarnation Christi, also eben jenes Grundereignisses, das für Bernhard – wie oben gesehen – Gotteserkenntnis erst ermöglicht. Denn dieser Kuß mit dem Kuß des Mundes ist für Bernhard die Gegenwart des Gott-Menschen Jesu Christi, in dem sich der küssende Mund (Verbum) und der geküßte Mund (caro) vereinen.100 4.3.1.1.2 Ein direkter Bezug auf die Liturgie in SC 1 Die Mönche, zumindest wohl diejenigen, die am Chorgebet teilnahmen, wurden mit dem Hohenlied und seiner erotischen Sprache nicht in erster Linie durch eigene Lektüre oder Studium der Kommentare bekannt gemacht, sondern durch den liturgischen Gebrauch; dabei stehen in Meßliturgie und Stundengebet Bruchstücke aus Cantica canticorum neben Stellen aus dem NT.101 Bereits in Sermo 1 findet sich ein Hinweis, der wiederum auf die tiefe 99 Hier zeigt sich, wie sehr die Wahrnehmung Bernhards von der Tradition geprägt ist, das Hohelied auf Sprecher – voces – zu verteilen; siehe dazu oben 91, Anm. 55. 100 SC 2,3 = SBO I, 9, 30 – 10, 14. 101 Turner (1995b), 162.
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Einbettung von Bernhards Hoheliedkommentar in die tägliche Liturgie hinweist: Arbitror vos in vobismetipsis illa iam recognoscere, quae in psalterio non «Cantica canticorum», sed «Cantica graduum» appellantur, eo quod ad singulos profectus vestros, iuxta ascensiones quas quisque in corde suo disposuit, singula sint cantica depromenda ad laudem et gloriam promoventis. Quonam modo impleatur aliter ille versiculus non video: Vox exultationis et salutis in tabernaculus iustorum; aut certe Apostoli illa pulcherrima saluberrimaque exhortatio: In psalmis, hymnis, et canticis spiritualibus cantantes et psallentes in cordibus vestris Domino.102 Ich denke, daß ihr bei euch selbst jene schon erkennt, die im Psalter nicht ,Lieder der Lieder‘, sondern ,Lieder der Stufen‘ genannt werden, deswegen, weil zu euren individuellen Fortschritten, gemäß der Aufstiege, die jeder in seinem Herzen angeordnet hat, die einzelnen Lieder angestimmt werden sollen zum Lob und zur Ehre desjenigen, der euch vorwärts bewegt. Denn ich sehe nicht, wie sonst jener Vers erfüllt würde: ,Die Stimme des Jauchzens und des Heils ertönt im Zelt der Gerechten‘, oder sicherlich jene wunderschöne und äußerst heilsame Ermahnung des Apostels: ,indem ihr in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern in euren Herzen Gott singt und musiziert‘.
Die ersten neun der fünfzehn sog. Gradualpsalmen (d. h. Ps 119 – 127 der Vulgata) werden von RB 18 den horae minores (d. h. Terz, Sext, Non) zugewiesen, möglicherweise weil sie auf Grund ihrer Kürze einfach zu memorieren sind und während etwa der Feldarbeit im Sommer geeignet sind; der vielfach längere Ps 118 hingegen wird auf Sonntag und Montag verteilt gesungen.103 Bernhard vermutet hier, daß der lateinische Titel des Hohenliedes Cantica canticorum Erinnerungen an diese Graduale (Cantica graduum) hervorrufe. Er weist auf den Aufstieg, den Fortschritt des Einzelnen hin, und er stellt die Verbindung zwischen Hohemlied und den Psalmen her. Beide sind in seiner Erfahrungswelt und seinem vulgatischen Bezugsrahmen Lieder, ihr Gebrauch und Zweck erklärt sich aus der Hl. Schrift.104 Interessant ist Bernhards argumentative Struktur : er belegt die Aufforderung zu singen zunächst mit Ps 117, dann mit Eph 5,19 – zunächst also ein Psalm, dann die Epistel; gerade der Psalm ist ihm aus dem liturgischen Alltag vertraut. Doch, wie er fortfährt, das Hohelied sei die Frucht aller anderen Lieder : 102 SC 1,10 = SBO I, 7, 17 – 24. 103 RB 18: […] Expenso ergo psalmo centesimo octavo decimo duobus diebus, id est dominico et secunda feria, tertia feria iam ad tertiam, sextam vel nonam psallantur terni psalmi a centesimo nono decimo usque centesimo vicesimo septimo, id est psalmi novem. Quique psalmi semper usque dominica per easdem horas itidem repetantur, hymnorum nihilominus, lectionum vel versuum dispositionem uniformem cunctis diebus servatam. Et ita scilicet semper dominica a centesimo octavo decimo incipietur. […]. Dazu Lentini (1980), 226ff; Kardong (1996). 104 Zur Bedeutung der biblischen Schriften für Bernhards Spiritualität siehe z. B. Farkasfalvy (1969).
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Sed est canticum, quod sui singulari dignitate et suavitate cunctis merito quae memoravimus, et si qua sunt alia, antecellit: et iure hoc appellaverim ,Canticum canticorum‘, quia ceterorum omnium ipsum est fructus.105 Doch es gibt ein Lied, das durch seine einzigartige Würde und Süße mit Recht alle, die wir erwähnt haben, und andere, falls es andere noch geben sollte, übertrifft, und mit Fug und Recht dürfte ich dieses ,Lied der Lieder‘ nennen, da dasselbige die Frucht aller übrigen ist.
Das mag als wirklicher Hinweis auf die von Bernhard angestrebte Frucht des benediktinischen monastischen Lebens zu verstehen sein, in welchem den Vorgaben der RB nach die Psalmen jede Woche einmal vollständig zu singen sind. Das wird deutlicher, wenn wir einmal in den Text von RB 18 (Ende) sehen: Hoc praecipue commonentes ut, si cui forte haec distributio psalmorum displicuerit, ordinet si melius aliter iudicaverit, dum omnimodis id attendat ut omni hebdomada psalterium ex integro numero centum quinquaginta psalmorum psallantur, et dominico die semper a caput reprehendatur ad vigilias. Quia nimis inertem devotionis suae servitium ostendunt monachi qui minus a psalterio cum canticis consuetudinariis per septimanae circulum psallunt, dum quando legamus sanctos patres nostros uno die hoc strenue implesse, quod nos tepidi utinam septimana integra persolvamus.106 Wir mahnen besonders an, daß, wenn jemandem vielleicht diese Verteilung der Psalmen mißfallen sollte, er sie ordnen möge, wenn er es anders für besser hält, solange er nur jedenfalls beachtet, daß jede Woche der Psalter mit seiner ganzen Zahl von hundertfünfzig Psalmen gesungen werde; und sonntags soll stets von Anfang an zu den Vigilien wieder begonnen werden. Denn Mönche, die weniger vom Psalter mit den gewohnten Liedern im Wochenkreis singen, legen einen übermäßig trägen Dienst ihrer Hingabe an den Tag, wo wir doch lesen, daß unsere heiligen Väter an einem einzigen Tag das alles wacker erfüllt haben, was wir Lauen doch wenigstens in einer ganzen Woche darbringen sollten.
Die Ordnung der Psalmen stellt Benedikt107 innerhalb vorgegebener Grenzen anheim, jedoch insistiert er auf der vollständigen Verwendung aller Psalmen im Laufe einer Woche. Während Benedikt Trägheit in der Hingabe als Grund für mangelnde Erfüllung dieses Gebotes postuliert, verheißt Bernhard weiteren Aufstieg für den, der diese Vorschrift erfülle, i. e. auch die nötige Hingabe besitze. Anders als die Psalmodie handele es sich beim Hohenlied nicht um ein Lied, das mit den Lippen zu singen sei, nicht um einen Klang des Mundes, nicht um verstimmlichten Gesang, nicht um öffentlich hörbaren Ton, sondern 105 SC 1,11 = SBO I, 7, 25 – 28. 106 RB 18. 107 Auch angesichts der Zweifel an der Realität des historischen Benedikt von Nursia mag Benedikt hier den/die Verfasser bezeichnen. Zur Kritik siehe Fried (2004), 344 – 356.
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um ein Lied, das ausschließlich im Herzen, in Freude, im Willen und in der privaten Beziehung zwischen Christus und der Seele sein Dasein habe. Gesang wird hier zur Metapher für die Gottesbegegnung: Non est strepitus oris, sed iubilus cordis; non sonus labiorum, sed motus gaudiorum; voluntatum, non vocum consonantia. Non auditur foris, nec enim in publico personat: sola quae cantat audit, et cui cantatur, id est sponsus et sponsa.108 Es ist nicht ein Geräusch des Mundes, sondern das Jubeln des Herzens; nicht ein Ton der Lippen, sondern eine Bewegung der Freuden, ein Einklang, nicht der Stimmen sondern der Willen. Es ist nicht äußerlich hörbar, es erklingt ja auch nicht in der Öffentlichkeit: nur die, die singt, hört, und der, für den gesungen wird, also der Bräutigam und die Braut.
Zu diesem Gesang kann jedoch nur die fortgeschrittene Seele voranschreiten, wie Bernhard sofort im Anschluß bemerkt: Ceterum non est illud cantare seu audire animae puerilis et neophytae adhuc, et recens conversae de saeculo, sed provectae iam et eruditae mentis, quae nimirum suae perfectionis, Deo promovente, in tantum iam creverit, quatenus ad perfectam aetatem et ad nubiles quodammodo pervenerit annos, – annos dico meritorum, non temporum –, facta nuptiis caelestis sponsi idonea, qualis denique suo loco plenius describetur.109 Im übrigen ziemt es sich noch nicht für eine kindliche und neu geweihte Seele, die erst kürzlich sich von der Welt bekehrt hat, jenes Lied zu singen oder zu hören, sondern für einen schon fortgeschrittenen und gebildeten Geist, der, von Gott vorwärts bewegt, zu einem solchen Grad seiner Vollkommenheit gewachsen ist, daß er das vollendete Lebensalter und gleichsam die Jahre der Ehefähigkeit erreicht hat – ich meine Jahre der Verdienste, nicht zeitliche –, so daß er der Hochzeit mit dem himmlischen Bräutigam fähig gemacht wurde, welche [sc. Seele] schließlich am geeigneten Ort ausführlicher beschrieben werden wird.
Wir haben bereits oben gesehen, daß Bernhard in SC 23 deutlich die in der monastischen Disziplin formierte Seele anspricht. Dafür spricht im übrigen ganz klar die Formulierung ,anima recens conversa de saeculo‘. Anders als Origenes, der nur die Abkehr vom weltlichen Leben im Fleische vor Augen hat, meint Bernhard hier nicht etwa die innerweltliche Askese – das könnte man bei Origenes noch vermuten –, sondern die Hinwendung zu einer monastischen Lebensweise.110
108 SC 1,11 = SBO I, 7, 30 – 8, 3. 109 SC 1,11 = SBO I, 8, 6 – 11. 110 Zu Origenes siehe bereits die Ausführungen von Ohly (1958), 17 – 26.
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Exkurs: Zu Liturgie und Feldarbeit – ora et labora zwischen Ideal der Regel und Lebenswirklichkeit Landwirtschaftliche Erzeugung zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln ist tief im Kontext der Benediktregel verortet.111 Die zwölfte und letzte Stufe der Demut112 exemplifiziert die stets zu zeigende Demut: […] Duodecimus humilitatis gradus est si non solum corde monachus sed etiam ipso corpore humilitatem videntibus se semper indicet, id est in opere Dei, in oratorio, in monasterio, in horto, in via, in agro vel ubicumque sedens, ambulans vel stans, inclinato sit semper capite, defixis in terram aspectibus […].113 […] Die zwölfte Stufe der Demut ist es, wenn der Mönch nicht nur im Herzen, sondern auch im Körper selbst denen, die ihn sehen, stets Demut zeigt, nämlich während der Liturgie, im Oratorium, im Kloster, im Garten, auf dem Wege, auf dem Acker oder wo immer er sitzt, geht oder steht: immer senke er sein Haupt und halte die Blicke an den Boden geheftet […].
Der Aufenthalt in Garten und Feld steht dabei neben Oratorium, Monasterium und Reisetätigkeit. Man darf vermuten, daß das Messer, das die Regel dem Mönch in der Nacht abzulegen vorschreibt, als essentielles Werkzeug114 für die Garten- und Feldarbeit vorausgesetzt wird.115 Wenn Benedikt mögliche Fehler und das Verhalten, sollten sie denn unterlaufen, beschreibt, wird deutlich, wie wichtig ihm die Selbstversorgung des Klosters ist.116 Obgleich die Benediktregel nicht davon ausgeht, daß die Mönche alle anfallenden Feldarbeiten selbst erledigen – deshalb der Hinweis, die Brüder mögen nicht ob der Mitarbeit bei der Ernte betrübt sein –, schreibt sie bekanntermaßen regelmäßige Handarbeit vor.117 Fachhandwerker sollen nach Möglichkeit ihr Handwerk zum
Zur frühmittelalterlichen Situation in Nordeuropa siehe zur Nieden (2008), 81 – 112. Zu Bernhard, Demut und der Regel siehe Farkasfalvy (1980). RB 7. RB 32 sieht Werkzeuge selbstverständlich als wesentlichen – eigens geregelten – Bestandteil des Klosterbesitzes an: „Substantia monasterii in ferramentis vel vestibus seu quibuslibet rebus praevideat abbas fratres de quorum vita et moribus securus sit, et eis singula, ut utile iudicaverit, consignet custodienda atque recolligenda […].“ 115 RB 22: „[…] Vestiti dormiant et cincti cingellis aut funibus, ut cultellos suos ad latus suum non habeant dum dormiunt, ne forte per somnum vulnerent dormientem; […].“ RB 55 zählt das Messer zur Grundausstattung des Mönches: „[…] omnia quae sunt necessaria, id est cuculla, tunica, pedules, caligas, bracile, cultellum, graphium, acum, mappula, tabulas […].“ 116 RB 46: „Si quis dum in labore quovis, in coquina, in cellario, in ministerio, in pistrino, in horto, in arte aliqua dum laborat, vel in quocumque loco, aliquid deliquerit, […] et non veniens continuo ante abbatem vel congregationem ipse ultro satisfecerit et prodiderit delictum suum, dum per alium cognitum fuerit, maiori subiaceat emendationi.“ 117 RB 48: „Otiositas inimica est animae, et ideo certis temporibus occupari debent fratres in labore manuum, certis iterum horis in lectione divina. […] Si autem necessitas loci aut paupertas
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Nutzen der Gemeinschaft beitragen, solange es ihrer Demut nicht abträglich sei.118 Sollte die anfallende Arbeit schwer sein, sind vergrößerte Speise- und Weinportionen der Diskretion des Abtes anheimgestellt;119 das Mittwochsund Freitagsgebot wird bei schwerer Arbeit und Hitze ausgesetzt,120 Kranken und Schwachen soll nur leichte, angemessene Arbeit zugeteilt werden, auf daß sie nicht davonlaufen.121 Diese Regelungen setzen voraus, das Benedikt tatsächlich mit solcher Arbeit rechnete. Obgleich dem Gebet nichts vorangestellt werden soll, ermahnt Benedikt die Brüder, Vernunft beim Unterbrechen der angefangegen Tätigkeiten walten zu lassen, und nicht in jedem Falle alles sofort aus der Hand zu legen,122 sollte die Arbeit etwa auf einem weit entfernten Feld stattfinden, soll das Stundengebet dort verrichtet werden.123 Zur Unterstützung der Brüder sind dazu im zisterziensischen Exordium parvum Vorschriften für angestellte Arbeiter zu finden.124 In der mittelalterlichen Kunst findet sich eine Fülle von Darstellungen zisterziensischer Handarbeit: bei der Ernte, beim Fischen, beim Kleiderfalten, bei der Wollpflege, beim Holzfällen und beim Bauen und Umbauen der monastischen Anlagen.125 Der Tageslauf nun, der durch die Liturgie strukturiert war, mußte den Gegebenheiten der Landwirtschaft und dabei insbesondere den Jahreszeiten angepaßt werden, ohne dem Gebet zu großen Abbruch zu tun; in der Praxis waren dazu allerhand Regelungen notwendig, deren Komplexität in einer Übersicht der täglichen Gebets- und Arbeitszeiten deutlich wird.126 Ein Zeugnis der konkreten Praxis ist ein kurzer Text, der sich in Handschriften des zwölften Jahrhunderts
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exegerit ut ad fruges recolligendas per se occupentur, non contristentur, quia tunc vere monachi sunt si labore manuum suarum vivunt, sicut et patres nostri et apostoli.“ RB 57: „Artifices si sunt in monasterio cum omni humilitate faciant ipsas artes, si permiserit abbas. Quod si aliquis ex eis extollitur pro scientia artis suae, eo quod videatur aliquid conferre monasterio, hic talis erigatur ab ipsa arte et denuo per eam non transeat, nisi forte humiliato ei iterum abbas iubeat.“ RB 39: „[…] Quod si labor forte factus fuerit maior, in arbitrio et potestate abbatis erit, si expediat, aliquid augere […]. RB 40: […] Quod si aut loci necessitas vel labor aut ardor aestatis amplius poposcerit, in arbitrio prioris consistat, considerans in omnibus ne surrepat satietas aut ebrietas.“ RB 41: „[…] A Pentecosten autem, tota aestate, si labores agrorum non habent monachi aut nimietas aestatis non perturbat, quarta et sexta feria ieiunent usque ad nonam; […] Et sic omnia temperet atque disponat qualiter et animae salventur et quod faciunt fratres absque iusta murmuratione faciant.“ Man beachte, daß hier das Murren laut Benedikt berechtigt wäre. RB 48: „[…] Fratribus infirmis aut delicatis talis opera aut ars iniungatur ut nec otiosi sint nec violentia laboris opprimantur aut effugentur.“ RB 43: „Ad horam divini officii, mox auditus fuerit signus, relictis omnibus quaelibet fuerint in manibus, summa cum festinatione curratur, cum gravitate tamen, ut non scurrilitas inveniat fomitem. Ergo nihil operi Dei praeponatur.“ Dazu RB 50. Ex. parv. 15 = Brem/Altermatt 86 – 91. Einen exzellenten Auszug mit zahlreichen Abb. bietet France (1998), 191 – 204. Bouton (1959), Horaire des exercices quotidiens XIIe – XIIIe – XIVe s. Für einen semiotischen Zugang zum monastischen Alltag, der vor allem auf die symbolische Dimension fokussiert ist, s. Sonntag (2008).
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häufig findet und welcher in der uns vorliegenden Form als Addition zu den Instituta, die hier auf etwa 1147 datiert werden können, überliefert ist.127 Dieser Zusatz regelt die Geschwindigkeit des Gesanges und Details, welche die Liturgie falls notwendig beschleunigen konnten. Der Text lautet: Hec dispositio psalmodie˛ : ita observanda. in utroque tempore. Omni tempore tam estate quam hieme. vigilias. laudes. et omnes horas diei. excepto tempore secationis. et messionis et vindemie. morose cantamus. In estate tamen maxime tempore secationis: Feria IIa. Va. et sabbato. unum aut duos psalmos propter prolixitatem psalmodie˛. citius cantamus. Eodem tempore secationis. Iam. et omnes horas diei. Tempore messionis et vindemie: secundum nocturnum. laudes. et omnes horas diei. Et a festivitate omnium sanctorum usque ad purificationem beate Marie˛ dominicis diebus propter multitudinem monachorum qui communicaturi sunt. Iam. IIIam. VIam. IXam. Et in XLE propter multitudinem conversorum et operariorum qui missam audituri sunt, laudes et Iam. citius cantamus. Ab idibus septembris usque ad adventum domini. primam sic terminamus. aliquando sed raro citius cantando: ut private˛ misse˛ sine candela possint cantari. Ab adventu usque ad purificationem + … + vindemie. aliquando sine lumine misse cantantur. Sciendum est quod + tempore secationis et + messionis et vindemie. dominicis es festis diebus IIum noctur+num citius cantamus+. laudes trahimus nisi sit festivitas XII lectionum in qua laboramus + … fest…+ diebus. Hec omnia sic observamus + … …+128
So sollen etwa zu allen Zeiten – Sommer wie Winter – die Stunden genau befolgt werden, ausgenommen sind jedoch Getreideernte, übrige Ernte und Weinlese. Zu Hochzeiten der Getreideernte z. B. sollen am Montag, am Donnerstag und am Samstag ein oder zwei Psalmen aufgrund der Länge der Psalmodie schneller gesunger werden. Um Zeit zu sparen sollen weiter etwa von Allerheiligen bis zur Reinigung Mariens (=Lichtmess) aufgrund der Menge von Kommunikanten Prim, Terz, Sext und None schneller gesungen werden. Zeit soll durch schnelles Singen der Prim von Mitte September bis zum Advent gespart werden, damit die privaten Messen ohne Kerzen gesungen werden können – naheliegend ist wohl, daß so Kerzen gespart werden sollten; gleiches gilt für die Vorschrift, vom Advent bis zur Reinigung Mariens hin und wieder die Messe ohne Kerzen zu singen. In diesem kleinen Text zeigt sich, wie sehr das Leben mit den Jahreszeiten und die durch diese bedingten äußeren Faktoren die tägliche Liturgie und ihre Ausgestaltung beeinflußten. Ein schnelleres Tempo der Psalmodie gibt Raum 127 So beschrieben bei Waddell (1999) unter Par 3, 4c. 128 Paris BNF ms. lat. N. acq. 430, f. 100r: Er unterscheidet sich in der Hand vom oberen Teil des Folio, auf dem zehn Zeilen der Instituta von 1152 verzeichnet sind (Lampadem tam die […] Omni tempore […] habuerit careat.). Das Format ist different, siebzehn lange Zeilen, die alle durchgestrichen sind; die letzten fünf Zeilen sind stark abgerieben, nur zum Teil ist der Text rekonstruierbar. Es liegt mir neben der Ablichtung ein unveröffentlichtes Transkript von † Chrysogonus Waddell vor ; beide hat mir dieser dankenswerterweise übereignet, und ich schließe mich im wesentlichen seiner Transkription an.
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für längere Arbeitsphasen oder für die benötigte Zeit, um eine größere Menge Kommunikanten zu versorgen. Auch ökonomische Erwägungen spielen eine Rolle: in der dunklen Jahreshälfte muß sparsam mit Kerzen umgegangen werden, derer man natürlich zum Weihnachtsfest durch die aufwendigere Liturgie mehr bedarf. Auch die Benediktregel gibt Hinweise zu liturgischen Gestaltung, allerdings trägt sie dabei mehr den unterschiedlichen Tag- und Nachtlängen im Jahreslauf oder den unabwendbaren natürlichen Bedürfnissen (sogar Digestion) Rechnung;129 auch ein Verschlafen wird berücksichtigt, wenngleich nicht gebilligt.130 Daneben hat Benedikt den Klang der Psalmodie im Blicke, wenn er an Werktagen für kleine Gemeinschaften die Antiphon der Terz, Sext und None erläßt.131 4.3.1.2 Bernhard und die zisterziensische Liturgiereform Bernhard bezieht sich nicht nur metaphorisch auf den Gesang, sondern er wirkt gestalterisch im Rahmen der zisterziensischen Liturgiereform, die seinen Namen trägt. Eine Untersuchung seiner Position in dieser Angelegenheit gibt weiteren Aufschluß darüber, welche Rolle das Hören im monastischen Kontext für ihn spielt. 4.3.1.2.1 Die zisterziensische Liturgie im 12. Jahrhundert Ein Überblick über die Grundzüge der Entwicklung einer zisterziensischen Liturgie im 12. Jahrhundert ist eng mit der Geschichte des Ordens und seiner Ideale verbunden.132 Der Gründungslegende nach zog Robert von Molesme 1098 nach Cteaux, um dort das novum monasterium zu gründen.133 In ersten 129 RB 8: „Hiemis tempore, id est a kalendas Novembres usque in Pascha, iuxta considerationem rationis, octava hora noctis surgendum est, ut modice amplius de media nocte pausetur et iam digesti surgant. Quod vero restat post vigilias a fratribus qui psalterii vel lectionum aliquid indigent meditationi inserviatur. A Pascha autem usque ad supradictas Novembres, sic temperetur hora ut vigiliarum agenda parvissimo intervallo, quo fratres ad necessaria naturae exeant, mox matutini, qui incipiente luce agendi sunt, subsequantur.“ Dazu siehe weiter RB 9 sowie 10. 130 RB 11: „[…] Qui ordo vigiliarum omni tempore tam aestatis quam hiemis aequaliter in die dominico teneatur. Nisi forte – quod absit – tardius surgant: aliquid de lectionibus breviandum est, aut responsoriis. Quod tamen omnino caveatur ne proveniat. Quod si contigerit, digne inde satisfaciat Deo in oratorio per cuius evenerit neglectum.“ 131 RB 17: „[…] Tertia vero, sexta et nona, item eo ordine celebretur oratio, id est versu, hymnos earundem horarum, ternos psalmos, lectionem et versu, Kyrie eleison et missas. Si maior congregatio fuerit, cum antiphonas, si vero minor, in directum psallantur […].“ 132 So Matre (1995), 35 – 64; ferner die Einleitung von Rüffer (2007); einen handlichen Überblick über die Anfänge und die erste Liturgiereform und einen Ausblick auf die späteren Reformen gibt Altermatt (2002). 133 Eberl (2002), 19 – 23.
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Jahren von Cteaux – Chrysogonus Waddell hat dies dargestellt – fanden dort die liturgischen Bücher aus Molesme Verwendung.134 Robert hatte bereits schon Mitte 1099 Cteaux wieder verlassen und nach Molesme zurückkehren müssen, sein Nachfolger als Abt wurde Alberich (†1108).135 Auf der Suche nach authentischen Quellen für das opus Dei wandten sich die Mönche des novum monasterium vermutlich zwischen 1108 und 1113 unter Alberichs Nachfolger Stephen Harding nach Metz, wo sie glaubten, authentische und damit im historischen Sprachgebrauch und ihrer Vorstellungswelt ,gregorianische‘ Liturgie zu finden.136 Wir wissen, daß diese Liturgie nicht auf Gregor den Großen zurückzuführen ist, für die Zisterzienser im 12. Jahrhundert aber war dies unbestrittene Tatsache.137 Als Zeuge und Ergebnis dieser ersten Revision liegt uns seit kurzem eine Edition des Primitive Cistercian Breviary vor.138 Doch die Qualität dieser Überarbeitung wurde bald bezweifelt, und der im folgenden zu besprechende Text zeugt von einer zweiten, der bernhardinischen Revision der Liturgie (vor 1147).139 Diese Überarbeitung der Liturgie wird als bernhardinisch bezeichnet, obgleich Bernhards persönlicher Anteil an dieser Reform schwer zu bestimmen ist; es wird angenommen, daß ihm eine allgemeine Leitungsrolle zuerkannt werden muß.140 Die Zisterzienser waren mit ihrer Unzufriedenheit nicht allein: bereits seit dem 10. Jahrhundert war seitens verschiedener Autoren Kritik an mangelhaften liturgischen Büchern laut geworden. Unter ihnen waren Regino von Prüm (†915): De institutione harmonica, Berno von Reichenau (†1048): Prologus in tonarium, Guido von Arezzo (†1050?): Prologus in antiphonarium oder Johann von Affligem: De musica cum tonario.141 Solutor Rodolphe Marossz¦ki hat dafür argumentiert, daß die zweite Generation der Zisterzienser um Bernhard – beeinflußt von der an den Universitäten gelehrten Musiktheorie, mit welcher die zahlreichen Studienabbrecher oder Kleriker, die in zisterziensische Häuser eingetreten waren, wohl vertraut waren – den authentischen cantus der Metzer Traditionslinie zerstört haben, weil sie ihn auf Grundlage dieser kontemporären Musiktheorie wieder auf die ,wahre Natur‘ der Musik zurückführen wollten.142 Chrysogonus Waddell hat über Marossz¦ki hinaus gezeigt, daß die Bemühungen der bernhardinischen Liturgiereform auch einem anderen Ziel dienten, das unter den Ausführungen zur Musiktheorie verborgen liegt: weil die Metzer Tradition stark vom Stan134 135 136 137 138 139 140 141 142
Waddell (1984a), 7 – 9; (2007), 57 f. Eberl (2002), 24 – 27. Waddell (2007), 60. Waddell (2007), 47. Primitive Cistercian Breviary, ed. Waddell. Eine Zusammenfassung: Waddell (2007), 30 – 32. Waddell (2003), 447 f. Guentner (1974), 10. Marossz¦ki (1952).
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dard des 12. Jahrhunderts abwich und als archaisierend empfunden werden mußte,143 bemühte sich die Reform darum, die zisterziensische Liturgie wieder dem vertrauten Standard des Umfeldes anzupassen und sie aus pastoralen Gründen dem durchschnittlichen Mönch zugänglich zu machen.144 Dies kann man etwa anhand eines wichtigen Aspektes der liturgischen Reform kurz andeuten: der Revision des Hymnariums.145 Das zisterziensische Hymnarium setzte sich, da die Benediktregel verschiedentlich den Begriff ambrosianum gebraucht,146 ausschließlich aus Hymnen zusammen, die dem Mailänder Repertoire entstammten, welches Ambrosius von Mailand zugeschrieben wurde. Kurz gesagt: es bot eher eine schmale Auswahl. So stand z. B. für das Nachtoffizium nur ein Hymnus für das gesamte liturgische Jahr zur Verfügung, die Melodien waren außerhalb des Mailänder Einflußbereiches weitgehend unbekannt, und die Abwesenheit bekannter, traditioneller Hymnen wurde als Mangel empfunden, so fehlten etwa Vexilla Regis, Conditor alme siderum oder Christe Redemptor Omnium, wie Waddell herausstellt.147 Solche Probleme wurden im Zuge der Überarbeitung zu lösen versucht, wobei die bernhardinische Revision angesichts der Autorität der dem Ambrosius zugeschriebenen Texten und Melodien sehr vorsichtig mit diesen Hymnen verfuhr, mit den übrigen zuweilen deutlich rigoroser.148 Im folgenden sollen drei Texte Gegenstand der Betrachtung sein, zum einen Bernhards ,Vorwort zum Antiphonar, das in den Kirchen der Zisterzienser gesungen wird‘, der Traktat Cantum quem, auf den Bernhard in seinem Vorwort affirmativ verweist und Bernhards Brief an Guido von Monti¦ramey (Ep 398); das Tonale Sancti Bernardi – der Titel, unter dem es kursiert, zeigt diesen Sachverhalt an – wurde zwar Bernhard zugeschrieben, entstammt aber der Feder eines anderen, anonymen Autors.149
4.3.1.2.2 Bernhards Prologus in antiphonarium Ein außerhalb der Liturgiewissenschaft wenig beachteter Text Bernhards ist sein ,Vorwort zum Antiphonar, das in den Kirchen der Zisterzienser gesungen wird‘ (vor 1147).150 Nur etwa dreißig Zeilen lang, hat dieses kurze Vorwort doch für die Rekonstruktion der Entwicklung zisterziensischer Liturgie 143 144 145 146 147 148 149 150
Waddell (2011), 354, spricht von einer „miserable sort of Teutonic chant dialect“. Waddell (1970); Waddell (2011), 354 f, betont das Pastorale pointiert. Dazu ausgiebig Waddell (1984a). RB 9; 12; 13; 17. Waddell (2003), 442 f; (2007), 77 f. Zusammenfassend Waddell (2003), 443; eingehend Waddell (1984a). So Katzenschlager (2007), 33. Prologus in antiphonarium quod Cistercienses canunt ecclesiae (=Prol) = SBO III, 515 f. Ed. mit dt. Übers. Brem/Altermatt (2003), 126 – 134.
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enorme Bedeutung.151 Bernhard schildert darin den bereits dargestellten (mißglückten) Versuch der Zisterzienser, durch die Abschrift eines Metzer Antiphonars (vermutlich der Abtei Saint-Vincent de Metz zw. 1108 und 1113152) eine authentische Version frühkirchlicher Liturgie wiederherzustellen: „[…] id […] quod magis authenticum inveniretur“.153 Als authentisch galt er ihnen deshalb, weil er als gregorianisch gehandelt wurde: „gregorianum esse dicebatur“.154 Authentizität, so Alberich Altermatt, läßt sich neben der „integritas Regulae“, der „Einfachheit“ und der „Einheit“ als eines von vier Grundprinzipien der ersten zisterziensischen Liturgiereform beschreiben.155 Jenes Antiphonar hatte sich jedoch – so Bernhard – als unbrauchbar erwiesen, da es fehlerhaft hinsichtlich des Gesanges und des Textes erschien.156 Einer veränderten und verbesserten Version des Antiphonars als Ergebnis der sogenannten bernhardinischen Liturgiereform ist ein Vorwort Bernhards vorangestellt, in welchem er zugleich auf eine weitere Vorrede verweist: Porro mutationis huius causam et rationem, si quem evidentius et plenius nosse delectat, legat subiectam praefatiunculam, quam praefati discussores veteris antiphonarii ad hoc ipsum praeponere curaverunt, ut, palam factis quae in illo erant tam cantus quam litterae vitiis, renovationis et correctionis necessitas atque utilitas clarius appareret.157 Wenn es ferner jemandem gefällt, anschaulicher und ausführlicher den Grund und den Leitgedanken dieser Änderung kennenzulernen, lese dieser die angefügte kurze Vorrede, welche die bereits erwähnten Bearbeiter des alten Antiphonars diesem vorangestellt haben, damit die Notwendigkeit der Neuerung und Verbesserung und auch die Nützlichkeit klarer werde; zu diesem Zwecke haben sie die Fehler aufgedeckt, die wie im Gesang so auch im Text in ihm enthalten waren.
Damit macht Bernhard sich Begründung und Gedankengang dieser Vorrede inhaltlich zu eigen, man wird sogar sagen müssen, daß sein Text als eine Art Vorwort oder Einleitung dieser Vorrede fungiert. Wir wollen im weiteren sehen, unter welchen religionsaisthetisch relevanten Aspekten der Gegenstand Musik – besonders der Gesang – dort behandelt wird.
151 152 153 154 155 156 157
Waddell (1977), 180; der Wert wird etwa deutlich in Waddell (2003). Waddell (2007), 60. Prol = SBO III, 515, 8 – 9. Prol = SBO III, 515, 10. Altermatt (2002), 315 – 319. Prol = SBO III, 515, 12 – 13. Prol = SBO III, 516, 3 – 7.
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4.3.1.2.3 Der Traktat Cantum quem Die Vorrede zum Antiphonar hat den Charakter eines Traktates, behandelt sie doch neben einer kurzen Darstellung musikalischer Grundlagen – wenn auch knapp – anhand entsprechender Beispiele die Prinzipien der textuellen und musikalischen Revisionen. Zur Autorenfrage hat Franciscus J. Guentner die Annahme begründet, daß es sich beim Verfasser um Guido von Cherlieu handele, hinsichtlich der Datierung sei 1150 terminus ad quem.158 Cantum quem ist eine Quintessenz der Regulae de arte musica eines gewissen Guido, vielleicht desselben Autors.159 Der Traktat gliedert sich in eine kurze Einleitung, Erläuterungen zu den textuellen, dann zu den musikalischen Korrekturen; der Schluß betont noch einmal, daß überlegte Prinzipien die Revision geleitet hätten und weist auf weitere mögliche Verbesserungen hin. Am Schluß der Einführung in die Praefatio bietet der Verfasser eine Definition von Musik: Denique cum musica recta sit canendi scientia, omnes huiusmodi cantus a musica excluduntur qui nimirum non recte sed irregulariter et inordinate canuntur.160 Weil schließlich Musik das rechte Wissen um das Singen ist, sind alle solchen Gesänge von der Musik ausgeschlossen, die nicht auf richtige Weise, sondern irregulär und ungeordnet [d.h. gegen die Regeln der Komposition] gesungen werden.
Bernhard hatte in seinem Vorwort bereits von der ars canendi gesprochen,161 sowohl er als auch der Verfasser der Praefatio machen sich die von Augustinus herkommende (musica est scientia bene modulandi162) und z. B. im Dialogus de musica (11. Jh.) an die Bedürfnisse der Chorallehre angepaßte Definition von Musik (veraciter canendi scientia163) zu eigen.164 Für die Praefatio haben daher Text und Ton gleichermaßen Bedeutung, obgleich die Ausführungen zu den textuellen Änderungen vergleichsweise kurz ausfallen. Ein entscheidendes Kriterium für die textuellen Änderungen ist eine Vermeidung von Wiederholung(en) einzelner Versikel: Dedimus ergo operam ut in nulla historia idem versus plusquam semel reperiatur ; immo, nisi fallimur, vix tres versus reperies qui in toto antiphonario vel bis contineantur.165 158 Guentner (1974), 10 (zur Datierung), 14 – 19 (zur Autorenfrage). 159 Dazu Matre (1995), 66. 160 Cantum quem 24:17. Zitiert wird die Seite der Edition, sodann nach dem Doppelpunkt die Satzzählung des Hg. 161 Prol = SBO III, 515, 17. 162 Augustinus, De musica I,2 = Migne PL 32:1083. Leider ist die angekündigte neue, kritische Edition im CSEL noch nicht erschienen. 163 Odo, Dialogus de musica 1 = Migne PL 133:759B. 164 Zu den Musikdefinitionen siehe Diehr (2004), 11 – 19, hier 14 f. 165 Cantum quem 24:20.
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Wir haben uns also Mühe gegeben, daß in keinem Text [eines Offiziums] derselbe Versikel mehr als einmal gefunden werde; vielmehr, wenn wir nicht irren, findest du mit Mühe drei Versikel, die im gesamten Antiphonar überhaupt doppelt enthalten wären.
Ein weiteres Kriterium erwächst offenbar aus der vom Verfasser beschriebenen Unzufriedenheit hinsichtlich der Textauswahl und Zusammenstellung, die bei Novizen mit ekklesiastischer Ausbildung – diese erwähnt der Verfasser hier explizit und hebt sie damit hervor – zu Trägheit und Schläfrigkeit führten: In multis denique locis litteram veteris antiphonarii tantae remissionis atque dissolutionis esse comperimus, ut multis falsitatibus sive apochryphorum naeniis respersa non solum taedium sed et odium sui legentibus inferret, ita ut novitii, qui sub ecclesiastica disciplina eruditi fuerant, ipsum antiphonarium tum pro littera tum pro nota fastidientes et ignorantes, in divinis laudibus tardiores redderentur et somnolentiores.166 An vielen Stellen schließlich haben wir den Text des älteren Antiphonars so nachlässig und schwach vorgefunden, daß er, befleckt mit vielen Fehlern oder Liedchen der Apokryphen, in den Lesern nicht nur Langeweile, sondern Abneigung erregte, so daß die Novizen, die eine kirchliche Ausbildung erhalten hatten, bald wegen des Textes eben dieses Antiphonars, bald der Melodie wegen es verschmähten und nicht beachteten, beim Lobpreis träge und schläfrig wurden.
Hinsichtlich des Tons war es Brauch, so bemerkt der Verfasser, so zu notieren, daß auch ungeübte Sänger in der Lage waren, der Notation zu folgen.167 Die Prinzipien der musikalischen Revisoren werden aus einer Passage ersichtlich, die sich an Bemerkungen über den erlaubten Tonumfang anschließen. Der Verfasser tadelt die bisherige Gestaltungsweise: Quae est ista licentia quae regionem perambulans dissimilitudinis, confusionem adducens incertitudinis, praesumptionis mater et erroris refugium, veritatem deprimit et pertubat iudicium? Quae est inquam haec illicita licentia quae coniungens opposita, metasque naturales transgrediens, sicut inconcinnitatem iuncturae, ita et iniuriam irrogat naturae?168 Was soll diese Freizügigkeit, welche das Gebiet der Unähnlichkeit durchwandert, welche die Verwirrung der Unsicherheit bringt, die Mutter der Anmaßung und die Zuflucht des Irrtums, die die Wahrheit unterdrückt und das Urteil verwirrt? Was soll, frage ich, diese unerlaubte Freizügigkeit, die Gegensätze verbindet, und, indem sie die natürlichen Maße überschreitet, gleichermaßen der Verbindung Disharmonie und auch der Natur Unrecht zufügt? 166 Cantum quem 25:22. 167 Cantum quem 29:60. 168 Cantum quem 34:2 f.
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Zwei Beobachtungen sind besonders hervorzuheben: zum einen die Annahme einer wahren Natur der Musik und zum anderen die Gleichsetzung einer Abweichung von eben dieser wahren Natur mit der regio dissimilitudinis.169 Gerade die Wiederherstellung der similitudo mit Christus als der imago Dei bestimmt, wie wir oben gesehen hatten, als ein zentrales Motiv mittelalterlicher Theologie Bernhards Hoheliedpredigten,170 findet sich aber systematisch entfaltet bereits bei Origenes.171 Ein eindeutiges Zeichen für eine irreguläre Komposition sei die fehlende Hör- und Singbarkeit: Luce siquidem clarius est cantum illum male et inordinate compositum qui vel ita deprimitur quatenus prout decet audiri nequeat, vel ita elevatur ut cantari non valeat. Sic enim debet fieri ut in inferioribus auditorem habeat et in superioribus prolatorem.172 Denn es ist klarer als das Licht, daß jener Gesang schlecht und ungeordnet komponiert ist, der so weit hinuntergeführt wird, daß er nicht – so wie es nötig ist – gehört werden kann oder soweit hinaufgeführt wird, daß er nicht gesungen werden kann. Er muß nämlich so gestaltet werden, daß er im unteren Tonbereich einen Zuhörer, im oberen einen Sänger haben kann.
Doch auch das Zusammenspiel von Ohr und Gedächtnis findet Beachtung. Der Verfasser von Cantum quem begründet die Korrekturen der Neumen, die jedem Modus einer Manerie eindeutig zukommen sollen. Neumen geben grundsätzlich im Gegensatz zu den heute gebräuchlichen Notenzeichen nicht die absolute Tonhöhe, sondern die Richtung der melodischen Bewegung an,173 über den Rhythmus aber ist so noch keine Aussage zu treffen.174 Doch zunächst gibt Cantum quem den Grund für die nicht sofort eingängigen Namen der melodischen Floskeln175, die etwa nona, noe, ane oder noe ais lauten: […] ad hoc tantum ab ipsis Graecis sunt reperta ut per eorum diversos ac dissimiles sonos tonorum admiranda varietas aure simul et mente posset comprehendi.176 […] sie sind von eben diesen Griechen deshalb erfunden wurden, damit durch ihren unterschiedlichen und ungleichen Klang die bewundernswerte Vielfalt ihrer Modi zugleich mit Ohr und Geist erfaßt werden könne. 169 Zur regio dissimilitudinis bei Bernhard u. a. siehe Javelet (1967), 266 – 285. 170 Siehe z. B. oben 3.2.2.5. Zu image and likeness mit besonderem Augenmerk auf Bernhards Freund und Biographen Wilhelm von St. Thierry siehe Bell (1984). 171 Origenes, De Principiis I 2, 6 = Görgemanns/Karpp 132 sowie III 6, 1 = Görgemanns/Karpp 642 – 648. 172 Cantum quem 34:4 f. 173 Zu Terminologie und Funktion der Neumen s. Diehr (2004), 58 – 64. 174 Diehr (2004), 89 – 95. 175 Dazu Diehr (2004), 80. 176 Cantum quem 37:32.
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So soll das Memorieren dieser Namen dazu führen, späterhin die korrespondierenden Gesänge ihren Neumen ebenfalls eindeutig zuordnen zu können: Haec ita maneriam et compositionem suorum modorum debent exprimere, ut postquam tuae diligentius memoriae impressa fuerint, frequentatis aliquandiu cantuum diversitatibus, quibus arrideant cantibus auditu etiam facile cognoscas.177 Sie müssen die Manerie und die Komposition ihrer Töne so auszudrücken, daß du, nachdem sie deinem Gedächtnis ziemlich genau eingeprägt wurden und du eine Zeitlang regelmäßig verschiedene Gesänge praktiziert hast, mit dem Gehör sogar auf leichte Weise erkennst, aus welchen Gesängen sie dich anlächeln.
Es zeigt sich, wie Gehör und Gedächtnis systematisch zur Einübung des Gesanges genutzt werden, um einen von der Notation unabhängigen Gesang zu ermöglichen. Ohne weiter auf die musikalischen Einzelheiten einzugehen, sei die Aufmerksamkeit noch einmal auf den Schlußteil des Traktates gelenkt, in dem das Ziel – Ausrichtung an der wahren Natur der Musik – und die Methode – Gestaltung durch überlegte Überarbeitung – hervorgehoben werden: His et aliis rationum probabilitatibus contra usum omnium ecclesiarum antiphonarium hoc corrigere coacti sumus, magis nimirum naturam quam usum aemulantes. […] Si ergo opus singulare et ab omnibus antiphonariis diversum fecisse reprehendimur, id nobis restat solatii quod nostrum ab aliis ratio fecit diversum; alia vero inter se diversa fecit casus, non ratio, vel aliquid quippiam quod in causa casui non praeponderat.178 Wir waren durch diese und andere Wahrscheinlichkeitserwägungen der Vernunftgründe gezwungen, entgegen dem Brauch aller Kirchen dieses Antiphonar zu korrigieren, weil wir nämlich mehr der Natur als dem Üblichen nachgeeifert haben. Wenn wir also dafür getadelt werden, daß wir ein einzigartiges und von allen Antiphonarien verschiedenes Werk geschaffen haben, so bleibt uns doch die Beruhigung, daß die Vernunft unseres von den anderen verschieden gemacht hat; die anderen jedoch hat der Zufall untereinander verschieden gemacht, nicht die Vernunft oder irgendetwas anderes, das als Ursache nicht schwerer wiegt als der Zufall.
Es seien die Natur und die Vernunft, welche die Revision regiert hätten, und so unterscheide sich eben dieses Antiphonar der bernhardinischen Revision von den übrigen. Im folgenden soll nun der Blick noch einmal von diesen grundlegenden Prinzipien der Revision auf die Grundsätze gelenkt werden, die nach Bernhard dem Gesang zu Grunde liegen. 177 Cantum quem 37 f:33. 178 Cantum quem 40:55 – 57.
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4.3.1.2.4 Bernhards Brief 398 an Guido von Monti¦ramey Nach 1137 ist Bernhards Brief 398 verfaßt, der das von Bernhard für Monti¦ramey geschaffene Offizium für den hl. Viktor179 zum Gegenstande hat.180 Bernhard äußert sich darin zu Gestaltungsprinzipien des Gesanges und zum Verhältnis von Text und Ton.181 Er schreibt: Cantus ipse, si fuerit, plenus sit gravitate: nec lasciviam resonet, nec rusticitatem. Sic suavis, ut non sit levis: sic mulceat aures, ut moveat corda. Tristitiam levet, iram mitiget; sensum litterae non evacuet, sed fecundet. Non est levis iactura gratiae spiritualis, levitate cantus abduci a sensuum utilitate, et plus sinuandis intendere vocibus quam insinuandis rebus.182 Der Gesang selbst soll – so er denn angestimmt würde – voll Ernst sein, weder lasziv klingen, noch unbeholfen. Er soll süß sein, ohne moralisch leicht zu sein,183 so soll er den Ohren schmeicheln, daß er die Herzen bewege. Er soll der Traurigkeit abhelfen, den Zorn besänftigen; den Sinn des Textes nicht entleeren, sondern fruchtbar machen. Die spirituelle Gnade erleidet keinen geringen Verlust, wenn man von der Leichtigkeit des Gesanges vom Nutzen der Sinne entfernt würde und mehr auf die einschmeichelnden Stimmen als auf die anzudeutenden Dinge achtet.
Man könnte deshalb annehmen, daß Bernhard auch als musikalischer Urheber des Offiziums in Betracht kommt, zumal er schreibt: „Deinde, quod ad cantum spectat, hymnum composui, metri negligens, ut sensui non deessem.“184 Ferruccio Gastaldelli erklärt wie Bernhards Bemerkung zum Versmaß (metri negligens) zu verstehen ist. Dieser habe die Regeln des sapphischen Versmaßes mißachtet, insbesondere siebzehnmal die Vermeidung eines dreisilbigen Wortes am Versbeginn.185 Gastaldelli verneint allerdings die Urheberschaft Bernhards im Hinblick auf die Melodie des Hymnus des Offiziums; Bernhards Aussage „hymnum composui“186 bezieht er lediglich auf den Text, nicht auf den Ton, da Bernhard nicht erwähne, die Vorschriften über den Gesang ange179 180 181 182 183
Officium de Sancto Victore = SBO III, 501 – 508. Ep 398 = SBO VIII, 377 – 379. Waddell (1980), 66 f, weist zu Recht darauf hin. Ep 398,2 = SBO VIII, 378, 12 – 16. Im übrigen eine Reminiszenz an Cicero, der in Graeci, Iudices, Amicitia oder auch Sententiae den homo gravis dem homo levis gegenüberstellt. 184 Ep 398,3 = SBO VIII, 378, 24 f. 185 Gastaldelli (1992), 1202; dort zu den Regeln: „In Wirklichkeit sollte die mittelalterliche Metrik in der Stellung der Worte und in der Setzung der Akzente die Struktur der klassischen sapphischen Strophe (drei Elfsilbler und ein Adonius) und die drei Vorschriften beachten, nämlich die Zäsur nach der fünften Silbe, keine einsilbigen Wörter vor der Zäsur und am Versende sowie Versbeginn nicht mit einem dreisilbigen Wort.“ 186 Ep 398,3 = SBO VIII, 378, 25.
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wendet zu haben und sie auch auf den Hymnus selber nicht zuträfen.187 Gerade wegen des allgemeinen Charakters sind Bernhards Bemerkungen aber für uns von besonderem Interesse, spiegeln sie doch die Vorstellungen im zisterziensischen Milieu wieder, die sich durchaus mit der Musiktheorie der Zeit deckten – letzteres erkennt Gastaldelli ja an. Eine Bemerkung sei zur Tradition erlaubt. Martin Klöckener hat einen Überblick zur Liturgiereform in der nordafrikanischen Kirche zur Zeit des Augustinus gegeben, und kommt dabei am Rande auf Confessiones X, 50, zu sprechen, eine Stelle, an der Augustinus die „süßen Gesänge, von denen die Psalmen Davids begleitet werden“ (cantilenarum suavium, quibus Davidicum psalterium frequentatur), negativ beurteilt.188 Mir kommt es hier anders als Klöckener weniger auf die Bedeutung für die Liturgie im einzelnen an, vielmehr ist die Begründung für die Ablehnung des Gesanges aufschlußreich, die Agustinus anführt: deutlich scheint bei ihm die Angst hindurch, durch die Schönheit des Gesanges dazu verleitet zu werden, den leiblichen Genuß statt das geistige Verständnis in den Vordergrund zu stellen – wohl Ausdruck seiner gemeinhin bekannten Leibfeindlichkeit. Er sieht im Gesang hier das periculum voluptatis und setzt das experimentum salubritatis dagegen. Bernhard unterscheidet sich hier von Augustinus, er ist nicht von einer solchen Leibfeindlichkeit getrieben, obgleich er – wie gerade gesehen – das Textverständnis in den Vordergrund rückt; aber gerade die positive affektive Wirkung soll den rechten Ausgangspunkt für dieses Verständnis bieten. Damit orientiert sich Bernhard wiederum deutlich an seinem oben nachgezeichneten Aufstiegsmodell von der körperlichen zur geistigen Wahrnehmung. Entscheidend ist der Hinweis darauf, daß der Gesang den Sinn des Textes nicht entleeren, sondern bereichern soll, der Ton also der sinnlichen Unterstützung einer Erkenntnis des Sinnes des Wortes durch das Hören dient: sensum litterae non evacuet, sed fecundet.189 Dies entspricht den uns vorliegenden Untersuchungen zur Akkustik von Zisterzienserkirchen, die diesen eine Silbenverständlichkeit von 83 % attestieren, die zu einer Wortverständlichkeit von 90 % und einer 100 %igen Textverständlichkeit im Chor führe.190 Die Affekte sollen durch den Gesang in die richtige Bahn gelenkt werden, Traurigkeit gelindert und Zorn besänftigt werden. Durch das Gehör soll der affektive Aspekt der Persönlichkeit stimuliert werden, welcher – neben anderen – Begegnung und Erkenntnis Gottes ermöglichen soll.
187 Gastaldelli (1992), 1202. 188 Klöckener (2002), zu der hier besprochenen Stelle bei Augustinus dort 136. 189 Matre (1995), 58 f, spitzt dies zu: „L’audition n’est qu’un m¦diat. Elle n’est pas intrinsÀquement mauvaise, mais cette capacit¦ sensible ne doit pas devenir un critÀre d’excellence. Le but est de parvenir l’intelligible et la contemplation divine.“ 190 Meyer (2007), 96.
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4.3.1.2.5 Fazit Die zisterziensische Liturgiereform und Bernhards mystische Theologie haben eine Gemeinsamkeit, die ein entscheidendes Charakteristikum der letzteren noch einmal deutlich hervortreten läßt. Ausgehend von einer Theorie der Musik wird der Chorgesang so gestaltet, daß er sowohl der Praxis des Gesanges als auch den musikalischen Prinzipien gerecht wird. Damit zeigt sich die Bedeutung, die der Musiktheorie zukommt. Dabei soll der ideale Sänger etwa in die Lage versetzt werden, anhand der sensuellen Wahrnehmung des Hörens die Tonhöhen und -folgen auf ihre mathematischen Prinzipien (zumindest die entsprechenden melodischen Floskeln) zurückzuführen. Die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der ersten zisterziensischen Liturgierevision zwischen 1109 und 1113 und die ausführlichen musiktheoretischen Begründungen der zweiten, bernhardinischen Revision zeigen, daß maßgeblich theoretische Gründe neben praktischen Erwägungen wie dem durchschnittlichem Stimmumfang der Mönche und dem Perfektionsgrad ihrer Gesangspraxis die Auslöser für diese erneute Überarbeitung der Liturgie waren. Damit waren sie im Konsens der kontemporären musiktheoretischen Tradition, mit der eine große Anzahl der aus den Schulen stammenden Brüder vertraut war : Boethius, dessen Werk grundlegend für die mittelalterliche Musiktheorie war,191 hatte nur den als Musiker gelten lassen, der die Fähigkeit besäße, Musik theoretisch zu reflektieren.192 Heinricus Augustensis’193 (1018 – 1083) Musica etwa übernimmt diese Definition,194 und Achim Diehr weist zurecht noch einmal auf den eingängigen Vers aus Guidos Regulae rhythmicae hin,195 den auch ich dem Leser nicht vorenthalten mag: Musicorum et cantorum magna est distantia, Illi dicunt, isti sciunt, quae componit musica. Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia.196 191 Waddell (1980), 59 f; siehe auch etwa Lütteken (2008), bes. 109 f. 192 Boethius, De institutione musica I,34 = PL 63,1196C: „Isque musicus est cui adest facultas secundum speculationem rationemve propositam ac musicae convenientem, de modis ac rhythmis, deque generibus cantilenarum, ac de permixtionibus, ac de omnibus de quibus posterius explicandum est, ac de poetarum carminibus, judicandi.“ 193 Zum weniger bekannten Heinricus Augustensis siehe Huglo (1967). 194 Heinricus Augustensis, Musica = DMA A/VIII, 36: „D: Qui sunt, qui abusive musici vocantur? M: Metrici, qui certo syllabarum et temporum numero modulandis versibus inserviunt. Post hos vulgares symphoniaci, qui diversa musicorum vasa ferentes, usu tantum, non ratione artem explicant. D: Quis proprie dicitur musicus? M: Qui numerorum, proportionum, consonantiarum, troporum omniumque his accidentium vim et naturam ratione novit et instrumentis perfecte explicare.“ 195 Diehr (2004), 25. 196 Guido von Arezzo, Regulae rhythmicae = DMA A/4, 95. Die neueste Ausgabe Guido d’Arezzo: Regule rithmice, Prologus in antiphonarium, and Epistola ad Michahelem: A Critical Text and Translation with an Introduction, Annotations, Indices, and New Manuscript Inventories. Ed.
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In der bernhardinischen Revision ist Musik als scientia Grundlage der liturgischen Praxis. So soll der Kontext für die Begegnung mit dem Wort geschaffen werden, eine Begegnung, die gleichermaßen die Begegnung mit dem Logos einschließt. Die Revision ist adressatenorientiert und zielt in erster Linie auf musiktheoretisch geschulte Mönche, die auf Mangel in Text oder Ton mit Langeweile oder Desinteresse reagieren könnten. Zum Verhältnis von Musiktheorie und Gotteserkenntnis sei ein Seitenblick auf die Dichtung erlaubt: der dem Zisterzienser Alanus ab Insulis (1120 – 1202) zugeschriebene Rhythmus De incarnatione Christi nähert sich der Inkarnation mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums der sieben artes liberales an, um auch für die Musiktheorie das Scheitern der Möglichkeit eines rein rationalen Begreifens des Geheimnisses der Trinität zu betonen: Dum Factoris et facturae, Mira sit conjunctio, Quis sit modus ligaturae, Quis ordo, quae ratio, Quae sint vincla, quae juncturae Qui gunphi, quae unio, Stupet sui fracto iure Musica proportio. In hac Verbi copula Stupet omnis regula.197
Alanus betont, daß alle artes am Mysterium der Trinität scheiterten. Bei Bernhards Mystik steht nun keineswegs ein bloßes Erfahren oder Erfühlen Gottes im Vordergrund, sondern die Erfahrung Gottes ist eine Option der Gotteserkenntnis in der bernhardinischen Epistemologie; die Analyse der Hoheliedpredigten hatte dies gezeigt. Die artes – hier etwa die Musik – werden bewußt in den Dienst dieser Erfahrung genommen, um die Sinne – hier das Hören – zu stimulieren und die Mönche in den richtigen affektiven Zustand zu versetzen, um ihnen in der Liturgie die Begegnung mit dem in der Schrift sich äußernden Verbum zu ermöglichen. Nicht nur Zorn oder Traurigkeit sollen bekämpft werden, sondern auch Trägheit und Schläfrigkeit, so daß die Teilnehmer das Verbum richtig aufnehmen, d. h. es richtig hören können. Die Bedeutung dieses umfassenden, äußeren und inneren Hörens zeigt der Abschnitt über den auditus weiter oben. In einem weiteren Schritt ist jetzt zu fragen, inwieweit nicht nur die auditive, sondern auch die visuelle Gestaltung des monastischen Umfeldes Bernhard bewegt hat.
Dolores Pesce. Musicological Studies 73. Ottawa Institute of Mediaeval Music 1999 konnte ich leider nicht konsultieren. 197 Alanus ab Insulis, De Incarnatione Christi = Migne PL 210:577 – 580, hier 577C–578 A.
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4.3.2 Zur Aisthesis des Sehens: Bildende Kunst Nachdem im vorhergehenden Kapitel die Liturgie als sinnlich erfahrbare Wirklichkeit des Klosters im Vordergrund der Betrachtung gestanden hat, soll nun der Blick auf die visuell wahrnehmbare Gestaltung des monastischen Umfeldes gerichtet werden. Es kommt hier wieder darauf an, Bernhards Ansicht über Status und Funktion visueller Wahrnehmung vor dem Hintergrund seines Körperkonzeptes darzustellen und in Beziehung zu seiner mystischen Theologie der Hoheliedpredigten zu setzen.
4.3.2.1 Wilhelm von St. Thierry über Bernhard und die Sinne Eine wichtige Quelle, die uns Aufschluß über das Leben Bernhards von Clairvaux gibt, ist die Vita Ia seines Freundes Wilhelm von St. Thierry,198 deren kritische Edition noch immer Desiderat der Forschung ist. Adriaan H. Bredero hat Kritik an der Vita Ia als Quelle für das Leben Bernhards formuliert, indem er eindrücklich zeigt, wie sie sich hagiographischer Topoi bedient und als Instrument im Heiligsprechungsprozeß Bernhards verwendet wird, als dessen Ergebnis 1174 seine Kanonisierung erfolgte.199 Peter Dinzelbacher hingegen mißt der Vita Prima in seiner Biographie des Heiligen wieder einen höheren Stellenwert für ein Lebensbild Bernhards zu und versucht, die Schilderungen Wilhelms – etwa die knappen Ausführungen zu Bernhards wilden Jugendjahren nach dem Tode seiner Mutter200 – zu plausibilisieren: anhand von Bernhards Leben sei eine Führungsrolle auch in einer Gruppe Jugendlicher (Wilhelm bezeichnet Bernhard als honoratior omnium201) wahrscheinlich.202 Betrachtet man den Text nicht unter der Fragestellung, ob es sich um Hagiographie oder authentische Lebensbeschreibung, Fiktion oder Realität handelt, kann er für uns als Zeuge für die Popularität bestimmter religiöser Ideen in den Reihen der literaten religiösen Experten und Eliten zu seiner Entstehungszeit dienen. Für die Einschätzung der Rolle äußerer Sinneseindrücke ist eine Episode interessant, die Wilhelm im vierten Kapitel seiner Vita Ia schildert. Zunächst handelt er von Bernhard und schildert dessen Fähigkeit zur vollständigen sensorischen Autoinhibition oder -deprivation:
198 S. Bernardi Vita Ia = Migne PL 185:226 – 268. 199 Besonders Bredero (1992), (1994), (1996). 200 Unter anderem habe Bernhard suo jam more, suo jure victitare incipiens; Wilhelm, Vita Ia I.3.6 = Migne PL 185:230B. 201 Wilhelm, Vita Ia I.3.7 = Migne PL 185:231 A. 202 Dinzelbacher (1998), hier bes. 7 f.
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[…] totusque absorptus in spiritum, spe tota in Deum directa, intentione seu meditatione spirituali tota occupata memoria, videns non videbat, audiens non audiebat; nihil sapiebat gustanti, vix aliquid sensu aliquo corporis sentiebat.203 […] und er war ganz eingesaugt in den Geist, mit der ganzen Hoffnung auf Gott gerichtet, von geistiger Anstrengung oder geistlicher Meditation war das gesamte Gedächtnis eingenommen, daß er während er schaute [doch] nicht sah, während er hörte [doch] nicht vernahm, vom Genuß nichts erschmeckte, kaum mit irgendeinem Sinn des Körpers etwas wahrnahm.
Dies illustriert Wilhelm sogleich mit einer Erzählung aus Bernhards Leben: Jam quippe annum integrum exegerat in cella Novitiorum, cum exiens inde ignoraret adhuc an haberet domus ipsa testitudinem, quam solemus dicere caelaturam. Multo tempore frequentaverat intrans ex exiens domum ecclesiae, cum in ejus capite, ubi tres erant, unam tantum fenestram esse arbitraretur. Curiositatis enim sensu mortificato, nil hujusmodi sentiebat; vel si forte aliquando eum contingebat videre, memoria, ut dictum est, alibi occupata non advertebat.204 Er hatte freilich schon ein ganzes Jahr in der Novizenzelle verbracht und wußte bei ihrem Verlassen und bis zum heutigen Tage immer noch nicht, ob dies Haus eine Wölbung habe, die wir Dachwölbung zu nennen pflegen. Lange Zeit hatte er, während er ein- und ausging, das Kirchengebäude besucht, und doch glaubte er in seiner Vorstellung, daß dort, wo drei waren, bloß ein Fenster wäre. Er nahm nichts derartiges wahr, weil nämlich der Sinn der Neugierde abgetötet war ; oder wenn er einmal zufällig etwas sehen sollte, dann bemerkte wie gesagt das anderweitig beschäftigte Gedächtnis es nicht.
Tobias Frese hat zuletzt in diesem Zusammenhang nochmals die Konsequenz aus der eingangs besprochenen Kritik Brederos an der Vita Ia als Quelle für Bernhards Leben wiederholt. Frese fragt nach den Inhalten, die durch die Vita transportiert werden sollten, will dabei vom legendären Gehalt der Heiligenvita absehen und überlegt, welche in ihr zum Ausdruck kommenden Überzeugungen Bernhard, welche Wilhelm zuzurechnen wären.205 Gerade die Passagen, die Bernhard mit Hilfe hagiographischer Topoi z. B. als frühchristlichen Eremiten darstellen wollen oder sich an Episoden aus den Lebensbeschreibungen der Kirchenväter anlehnen, zeigen aber doch, daß diese Anforderungen an ein Heiligenleben den Idealen entsprechen, die im Diskurs des 12. Jahrhunderts geteilt werden, an dem Bernhard und Wilhelm gleichermaßen teilhaben. Zudem kann man durchaus überlegen, ob Wilhelm nicht hin und wieder durch die Vita Ia den historischen Bernhard hindurchscheinen läßt: als Bernhard anläßlich einer ernsten Erkrankung und Erschöpfung außerhalb von Clairvaux in einer Art Hütte untergebracht ist, 203 Wilhelm, Vita Ia I.4.20 = Migne PL 185:238C–D. 204 Wilhelm, Vita Ia I.4.20 = Migne PL 185:238D. 205 Frese (2006), 82 – 86.
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begrüßt er seinen auf einen Besuch nahenden Freund Wilhelm freudig, anders als man von einem Eremiten „[…] in deliciis paradisi exsultans […]“ erwarten müßte.206 Denkt man etwa an die Vita Antonii, dürfte man doch von einem idealen Mönch vermuten, daß er sich desto weiter zurückzuziehen versuche, je mehr man versucht, ihm nachzustellen.207 Die Väter des Mönchtums zieht es in die Wüste, aber Bernhard zieht es seinen Freunden entgegen, weil er – und das was wir über sein Leben wissen unterstreicht diese Annahme – soziale Interaktion dringend sucht. Vielleicht möchte Wilhelm auch nur seine Nähe zum prominenten Bernhard betonen. Doch ganz unabhängig von der Frage, ob sich der historische Novize Bernhard an eines oder an drei Fenster erinnern konnte oder ob er die Deckenwölbung wahrnahm oder nicht: die visuelle (Auto-) Deprivation erscheint als hagiographisches Element für Wilhelm so wichtig, daß er sie – wie auch Gottfried in den Fragmenta eine ähnlich gelagerte Erzählung – in seine Lebensbeschreibung Bernhards einfügt, um den Erwartungen an eine Heiligenvita Rechnung zu tragen, die ihrerseits populäre religiöse Ideale der Zeit aufnehmen muß, um ihren Zweck, die Kanonisierung Bernhards, zu erreichen.
4.3.2.2 Die Apologie an Abt Wilhelm Bernhard befaßt sich kaum theoretisch mit der Ausgestaltung des Kirchenraumes oder mit Überlegungen zur Kunst. Einschlägig sind seine knappen Bemerkungen in der Apologia ad Guillelmum abbatem, einem Brieftraktat, der eine der ersten Schriften Bernhards ist und 1124 oder 1125 entstanden sein dürfte.208 In der Apologie wird Bernhards monastisches Ideal greifbar, deshalb soll sie im folgenden im Vordergrund stehen, obgleich Bernhard en passant auch andernorts zum Schönen und zur Kunst Bemerkungen einstreut: diese sind allerdings in De laude novae militiae und De consideratione nicht an ein monastisches Auditorium gerichtet; Diane Reilly hat jüngst noch einmal die Stellen zusammengetragen.209 Es kommt hier aber vor dem Hintergrund der Hoheliedpredigten gerade auf das monastische Publikum an. Hintergrund der Entstehung der Apologie sind Kontroversen zwischen dem traditionellen benediktinischen Mönchtum und den in der Aufbauphase befindlichen Zisterziensern. Conrad Rudolph hat gezeigt, daß die Apologie eben nicht bloß als Auseinandersetzung zwischen Cteaux und Cluny, sondern als Ausdruck einer Kontroverse zwischen altbenediktinischer und reformierter zisterziensischer 206 Wilhelm Vita Ia I.7.33 = Migne PL 185:246D: „[…] Cumque et ipse vicissim nos cum gaudio suscepisset […].“ 207 Athanasius Alexandrinus (?), Vita Antonii. 208 Für die Communis opinio s. Leclercq (1980); für eine Frühdatierung auf 1121 – 22 s. Holdsworth (1994). Reichere Literaturangabe in Döbler (2007), 3, Anm. 10. 209 Reilly (2011), bes. 290 – 96.
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Lebensweise zu betrachten ist.210 Das bereits im Titel formulierte Anliegen Rudolphs, eine „Medieval Attitude towards Art“ ausgehend von der Apologia herausarbeiten zu wollen, ist ambitioniert, eine detaillierte Kritik aber würde an dieser Stelle zu weit führen.211 Seine von Frese als ahistorisch kritisierte Terminologie jedoch, die über die Textebene der Apologia kunsthistorische Begriffe anlegen wolle,212 läßt sich mit den gleichen Argumenten verteidigen, mit denen es schon der Mystikbegriff wurde: Objekt- und Metasprachebene der Forschung müssen sich nicht entsprechen. Obgleich der Text der Apologie aus ursprünglich wohl zwei selbständigen Teilen zusammengesetzt wurde und einige gedankliche Unebenheiten aufweist, wird jedoch Bernhards Autorschaft und Urheberschaft der Redaktion nicht ernsthaft bezweifelt.213 Auch hier wird die Apologie als einheitlicher Text behandelt. Der Gedankengang der Apologie läßt sich in drei Teile gliedern: (1) theologische Grundlagen (Par. 1 – 9), (2) Horizont der korrekten Auslegung der Benediktregel (Par. 10 – 15) und (3) Kritik an einzelnen Aspekten monastischer Lebensweise (Par. 16 – 29).214 Bernhard kommt in Par. 12 auf „Gemälde, Skulpturen, Gold und Silber in den Klöstern“215 zu sprechen. Wollte man eine systematische Überschrift finden, so könnte man wohl „Zur bildenden Kunst“ vorschlagen, die Architektur, Malerei, Bildhauerei, Graphik oder auch Zeichnung umfassen würde.216 Obgleich als terminus technicus Bernhard natürlich wieder vollkommen unbekannt, deutet dieser neuzeitliche Begriff genau auf den Gegenstand dieses Abschnittes der Apologie hin: die visuell wahrnehmbare Gestaltung des Kirchenraumes bzw. des Klosters – Bernhard differenziert hier, wie wir sehen werden. Zunächst bestimmt Bernhard im ersten Teil der Apologie das Verhältnis von Körper (corpus) und Geist (spiritus) bzw. den dem Geist zugehörigen Dingen (spiritualia). Wie bereits im Karthäuserbrief und somit dann in De diligendo Deo (s. o.) begründet hier 1 Kor 15,46 eine Hierarchie des Körperlichen und des Geistigen für Bernhard. Ausgangspunkt sind die geistigen und körperlichen Übungen und die Frage, welchen der Primat zukomme: Neque hoc dico, quia haec exteriora negligenda sint, aut qui se in illis non exercuerit, mox ideo spiritualis efficiatur, cum potius spiritualia, quamquam meliora, nisi per 210 Rudolph (1989); (1990). Siehe auch Döbler (2007), 2, Anm. 7. 211 Mit einigen Aspekten setzt sich Frese (2006) auseinander, dessen Arbeit über weite Strecken parallel und als Reaktion auf Rudolph (1990) angelegt ist. Allerdings mißversteht Frese stellenweise Rudolph, z. B. Frese, 16 f, zu Rudolph, 7 – 9. 212 So Frese (2006), 17. 213 Leclercq (1963), 64; Amerio (1984), 125 – 129, bes. 125 – 129; Köpf (1992b), 139; Dinzelbacher (1998), 83. 214 Döbler (2007), 4, in Auseinandersetzung mit anderen Gliederungsversuchen. 215 So die dt. Übers. der lat. Zwischenüberschriften von J. Schwarzbauer ; in: Bernhard Werke II, 193. 216 Lanwerd (1999), hier 292.
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ista, aut vix, aut nullatenus vel acquirantur, vel obtineatur, sicut scriptum est: Non prius quod spirituale, sed quod animale, deinde quod spirituale.217 Ich sage dieses auch nicht, weil die äußerlichen [d.h. körperlichen] Dinge vernachlässigt werden dürften, oder weil der, der sich nicht in ihnen übe, deswegen bald geistig vollendet würde, wo doch vielmehr die geistigen Dinge, obgleich edler, nicht oder kaum dazuerworben oder in Besitz gehalten werden können, es sei denn durch diese, wie geschrieben ist: Es kommt nicht zuerst das, was geistig ist, sondern das, was tierisch ist, hierauf das, was geistig ist.
Bernhard vertritt hier ein Modell der Ausgewogenheit zwischen körperlichen und geistigen Übungen: Optimus autem ille, qui discrete et congrue et haec operatur, et illa.218 Der beste aber ist jener, der wohlerwogen und angemessen die einen wie die anderen betreibt.
Diese Ausgewogenheit betrifft die von der Benediktregel verordneten körperlichen und geistigen Übungen und ihre Observanz. Bernhard läßt keinen Zweifel daran, daß die geistigen Übungen edler, die körperlichen aber Voraussetzung seien. Dies korrespondiert mit seiner Einschätzung des Verhältnisses zwischen Körper und Geist: Quanto enim spiritus corpore melior est, tanto spiritus quam corporalis exercitatio fructuosior.219 So sehr nämlich, wie der Geist edler ist als der Körper, so ist auch die geistige Übung fruchtbringender als die körperliche.
Diese Ausführungen korrespondieren mit Bernhards Stufenmodell einer Gottesannäherung, die wir wiederholt festgestellt hatten. Im zweiten Teil der Apologie wendet sich Bernhard gegen Überflüssiges im monastischen Leben: im Essen, im Trinken, unnötiges Verweilen im Infirmarium, in der Kleidung, im Aufzug der Prälaten und schließlich in der Ausstattung der Klöster mit Bildern, Skulpturen, Gold oder Silber. Hier sollen seine Angriffe gegen eine Ausstattung der Monasterien mit bildender Kunst im Vordergrund stehen; da es uns insbesondere auf die Rolle und Funktion der Sinne ankommt, muß – obgleich nicht minder wichtig – Bernhards sozialkritische Haltung gegenüber Reichtum hier unberücksichtigt bleiben.220 217 Apo VII, 14 = SBO III, 94, 3 – 7. 218 Apo VII, 14 = SBO III, 94, 9 – 10. 219 Apo VII, 13 = SBO III, 93, 7 – 8. Verkürzend daher die Ansicht Freses (2006), 68 bzw. 75, Bernhard beurteile die Körpersinne grundsätzlich negativ und rate zu keinerlei Formen körperlicher Devotion. 220 Dazu Frese (2006), 35 f, der rhetorische Vorbilder, bes. bei Hieronymus, herausarbeitet. Abwegig erscheint, die pauperes, um die sich laut Bernhard nicht hinreichend gesorgt würde, ausschließlich im spezifischen Sinne als Mönche zu lesen. Clairvaux war zwar nicht als cari-
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Bernhards Kritik richtet sich in diesem Abschnitt zunächst gegen die übermäßige Größe und Ausstattung der Oratorien und zeigt uns den sarkastischen Bernhard: Omitto oratoriorum immensas altitudines, immoderatas longitudines, supervacuas latitudines, sumptuosas depolitiones, curiosas depictiones, quae dum in se orantium retorquent aspectum, impediunt et affectum, et mihi quodammodo repraesentant antiquum ritum Iudaeorum. Sed esto, fiant haec ad honorem Dei.221 Ich lasse die unermessliche Höhe der Oratorien, ihre maßlose Länge, überflüssige Breite, ihren verschwenderischen Glanz und ihre merkwürdigen bildlichen Darstellungen einmal beiseite. Denn diese lenken den Anblick der Betenden auf sich und verhindern damit auch die Leidenschaft und erinnern mich in gewisser Weise an den alten Kult der Juden. Aber so sei es, geschehe auch dies zur Ehre Gottes.
Bernhard bedient sich eines antisemitischen Topos – hier des Tempelkultes –, um seine Polemik zu befeuern, obgleich er andernorts die unabdingbare eschatologische Rolle der Juden betont.222 Er schließt hier mit einem Zitat aus Persius’ Satiren223 : Illud autem interrogo monachus monachos, quod in gentilibus gentilis arguebat: Dicite, ait ille, pontifices, in sancto quid facit aurum?224 Dieses aber frage ich als Mönch Mönche, was ein Heide Heiden vorwarf: Sagt, ihr Priester – spricht jener – was macht Gold im Tempel?
In einem Kloster, so Bernhard, habe Gold nicht seinen Platz. Anders hingegen verhalte es sich in Weltkirchen, da deren Bischöfe Sorge auch für die Ungebildeten trügen: Et quidem alia causa est episcoporum, alia monachorum. Scimus namque quod illi, sapientibus et insipientibus debitores cum sint, carnalis populi devotionem, quia spiritualibus non possunt, corporalibus excitant ornamentis.225 Und freilich eine Sache ist die der Mönche, eine andere die der Bischöfe. Denn wir wissen auch, daß jene [die Bischöfe] den Weisen wie den Ungebildeten Sorge schulden, und so erwecken sie die Andacht des fleischlichen Volkes mit materiellem [wörtlich: körperlichem] Zierat, weil sie es mit geistigem nicht vermögen.
221 222 223 224 225
tative Einrichtung bekannt, Bernhard legt doch aber ganz eindeutig eine Aufgabenteilung zu Grunde, bei der die Sorge um die geistlich Armen Sache des Weltklerus wäre; warum dann nicht die um die materiell Armen? Apo XII, 28 = SBO III, 104, 12 – 16. Etwa in Ep 457 = SBO VIII, 433, 15 f: „[…] et omnem quoque Israel fore salvandum.“ Hier klingt Röm 11,25 – 26 durch. Diesen bemüht er auch an anderer Stelle, etwa in SC 36,2 = SBO II, 4, 15 – 6, 4. Apo XII, 28 = SBO III, 104, 16 – 17. Apo XII, 28 = SBO III, 104, 21 – 105, 1.
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Bernhard greift hier auf Ausführungen Gregors des Großen zurück,226 die – vielleicht sogar als Merksatz pictura est litteratura laicorum227 – ihm wohlbekannt gewesen sein dürften. Von diesem Volke aber seien Mönche fortgezogen, da sie eben nicht mehr dem Fleische nach leben wollten, so Bernhard: Nos vero qui iam de populo exivimus, qui mundi quaeque pretiosa ac speciosa pro Christo reliquimus, quia omnia pulchre lucentia, canore mulcentia, suave ollentia, dulce sapientia, tactu placentia, cuncta denique oblectamenta corporea arbitrati sumus ut stercora, ut Christum lucrificiamus, quorum, quaeso, in his devotionem excitare intendimus? Quem, inquam, ex his fructum requirimus: stultorum admirationem, an simplicium oblationem? An quoniam commixti sumus inter gentes, forte didicimus opera eorum, et servimus adhuc sculptilibus eorum?228 Wir aber, die wir doch das Volk verlassen haben, die wir jedes wertvolle und ansehnliche Gut der Welt für Christus zurückgelassen haben, weil wir alle schön glänzenden Dinge, alle wohl klingenden, köstlich duftenden, süß schmeckenden, wohlgefällig zu berührenden Dinge, kurz gesagt alle körperlichen Vergnügungen für Mist halten, um Christus zu gewinnen – wessen Andacht, frage ich Dich, wollen wir mit diesen Dingen erregen? Nach welchem Ertrag, sage ich, verlangt es uns: der Bewunderung der Dummen oder dem Anerbieten der einfachen Leute? Oder haben wir, weil wir mit den Heiden vermischt wurden, vielleicht ihre Werke erlernt und dienen bis jetzt noch ihren Statuen?
An dieser Stelle erscheint Bernhard als Verächter des Leibes; das Betrachten bildender Kunst in Kirchen mag für ihn nur dann angehen, wenn es der Andacht Ungebildeter dient. Für Mönche, die sich aus der Welt zurückgezogen haben, habe diese sinnliche Stimulation keinen geistlichen Nutzen. Blickt man auch hier hinter den vordergründig polemischen Text, dann fällt neben dem elitären Denken229 auf, daß Bernhard zum einen die wertvolle pastorale Rolle der optischen Sinneseindrücke nicht leugnet und dem Weltklerus deutlich die Sorge, ja sogar die Bringschuld den ungebildeten Gläubigen gegenüber attestiert. Literaten Mönchen aber, und vielleicht hat er hier wiederum die noch besser ausgebildeten ,Studienabbrecher‘ seiner Generation Zisterzienser vor Augen, stehe dies nicht zu Gebote; bei ihnen setzt Bernhard einen Erkenntnisschritt auf dem Weg vom Körperlichen zum Geistigen voraus. Und so insistiert er auf der Nutzlosigkeit bildlicher Darstellungen, die vom Lesen ablenkten:
226 Gregor d. Gr., Brief an Serenus von Marseilles = Registrum Epistularum XI,10; CCSL 140 A, 873 – 876, bes. 873 f. 227 Zur Bedeutung des Merksatzes pictura est litteratura laicorum im Mittelalter siehe etwa Niehr (1990). 228 Apo XII, 28 = SBO III, 105, 1 – 8. 229 Frese (2006), 31 f.
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Ceterum in claustris, coram legentibus fratribus, quid facit illa ridicula monstruositas, mira quaedam deformis formositas ac formosa deformitas?230 Indessen, wozu gereicht in Klöstern – vor den Augen der lesenden Brüder – jene lächerliche Widernatürlichkeit, eine gewisse seltsame mißgestaltete Schönheit und schöne Mißgestalt?
Bernhard zeigt sich hier einmal mehr als begnadeter Rhetor : etwa im Oxymoron deformis formositas ac formosa deformitas zeichnet sich nicht nur ein Chiasmus ab, deutet sich nicht nur eine Alliteration an, diese beiden contradictiones in adjecto illustrieren, wie sehr die von ihm getadelten bildlichen Darstellungen für ihn gegen die Logik, gegen jeden Syllogismus streben, da sich ja Prädikat und Subjekt der Aussage bereits widersprechen. Semantisch erinnert diese Passage im übrigen an Augustinus’ Vergleich des Kultes der Magna Mater mit dem Januskult,231 und müßte als Kritik an heidnischen Bräuchen der Beobachtung einer ,negativen Tabernakelexegese‘ – so bei Tobias Frese232 – beigestellt werden. Bernhard zeichnet dem Leser mit Worten die Darstellungen nach, an denen er Anstoß findet: Quid ibi immundae simiae? Quid feri leones? Quid monstruosi centauri? Quid semihomines? Quid maculosae tigrides? Quid milites pugnantes? Quid venatores tubicinantes? Videas sub uno capite multa corpora, et rursus in uno corpore capita multa. Cernitur hinc in quadrupede cauda serpentis, illinc in pisce caput quadrupedis. Ibi bestia praefert equum, capram trahens retro dimidiam; hic cornutum animal equum gestat posterius. Tam multa denique, tamque mira diversarum formarum apparet ubique varietas, ut magis legere libeat in marmoribus, quam in codicibus, totumque diem occupare singula ista mirando, quam in lege Dei meditando. Proh deo! si non pudet ineptiarum, cur vel non piget expensarum?233 Wozu gereichen dort die schmutzigen Affen? Wozu die wilden Löwen? Wozu die widernatürlichen Zentauren? Wozu die Halbmenschen, wozu die gefleckten Tiger? Wozu die kämpfenden Soldaten, wozu die hornblasenden Jäger? Du magst unter dem einen Kopf viele Körper und wiederum auf einem Körper viele Köpfe sehen. Man erkennt hier an einem Vierfüßler einen Schlangenschwanz, dort an einem Fisch das Haupt des Vierfüßlers. Dort trägt ein Tier ein Pferd voran, während es eine Ziege als hintere Hälfte nach sich zieht. Hier trägt ein Rindvieh hinten ein Pferd. Überhaupt, überall erscheint eine so große und so außerordentliche Vielfalt verschiedener Formen, daß man mehr in Marmorwerken lesen möchte, als in Büchern, den ganzen Tag 230 Apo XII, 29 = SBO III, 106, 14 – 15. 231 Augustinus, civ. VII, 26 = CCSL 47, 208, 8 – 12: „Vicit Matris Magnae omnes deos filios non numinis magnitudo, sed criminis. Huic monstro nec Iani monstrositas comparatur. Ille in simulacris habebat solam deformitatem, ista in sacris deformem crudelitatem; ille membra in lapidibus addita, haec in hominibus perdita.“ 232 Frese (2006), 32 – 34. 233 Apo XII, 29 = SBO III, 106, 16 – 25.
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lieber diese Dinge einzeln bewundern möchte, als über das Gesetz Gottes nachzusinnen. Bei Gott, wenn man sich nicht dieser Ungehörigkeiten schämt, warum wenigstens verdrießen einen nicht die Kosten?
Solche Darstellungen erfüllen für Bernhard nicht einen erläuternden, erklärenden und auf diese Weise erhellenden Zweck, sie setzten nichts ins Licht oder bringen etwas zutage. Im Gegenteil lenken sie von der Lektüre ab, der Leser möchte lieber Bilder betrachten als den Text (ut magis legere libeat in marmoribus, quam in codicibus).234 Bernhard zielt offenbar auf eine sensorische Deprivation, um durch reduzierten optischen Sinneseindruck die Konzentration auf die Texte zu fördern und ein tieferes Verständnis dieser Texte zu ermöglichen; ein Vorbild für diese Überlegungen fände sich durchaus etwa bei Cassian.235 Gerade deshalb nimmt er kritisch zu dem Stellung, was Conrad Rudolph treffend als „sensory saturation“ bzw. „artistic overkill“ bezeichnet hat.236 Hinsichtlich der Wirkung der Apologie ist zu bemerken, daß die Parallelen zwischen der Apologie und den zisterziensischen Ausstattungsvorschriften, wie sie aus den legislativen Texten der Frühzeit sichtbar werden, einen Einfluß Bernhards gegen Stephen Harding als Abt von Cteaux plausibel begründen lassen, gerade wenn man berücksichtigt, daß die von Bernhard in der Apologie vertretene Position sich nach Hardings Rücktritt als Abt 1133 vollständig durchsetzt.237 Hinsichtlich der Ausstattung von Manuskripten zisterziensischer Provenienz hat jüngst Diane Reilly Bernhard gegen die vorherschende Meinung in Schutz nehmen wollen, indem sie versucht, zu zeigen, daß Bernhard nicht gegen eine solche Praxis strebe; James France hält mit der herrschenden Meinung dagegen: Bernhard stemme sich gegen die in Cteaux üblichen Illuminationen.238 4.3.3 Fazit Während Bernhard dem musiktheoretisch fundierten liturgischen Gesang eine entscheidende Rolle zukommen läßt und im Rahmen der Liturgiereform gestalterisch wirkt, lehnt er bildende Kunst im Kloster ab. Die Musik kann als Mittel der Begegnung mit Gott dienen, indem sie den liturgischen Text auf nicht diskursive Weise näher bringt und hinderliche Affekte – nicht aber die nützlichen – bekämpft. Sie soll zum Verständnis des Textes beitragen und die Begegnung mit dem Wort ermöglichen. Gerade die Relation zum Text ist 234 Zu Bernhards Einschätzung des Distraktionspotentials bildender Kunst im monastischen Kontext siehe Rudolph (1990), 104 – 124. 235 Die Parallelen zu Cassian arbeitet Rudolph (1989), 105, 107 und 308 f heraus; wohl in Anlehnung daran auch Frese (2006), 31. 236 Rudolph (1990), bes. 68 f passim. 237 Matre (1995), 58; Frese (2006), 95 – 103. 238 Reilly (2011), bes. 284 – 90, vs. France (2011), bes. 308.
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4. Zur aisthetischen Dimension bernhardinischer Mystik
entscheidend: die Musik wird ihm zum wertvollen Medium, während die bildlichen Darstellungen die Konzentration vom Text auf sich selber lenkten. Literaten Mönchen also, die nicht auf Bilder als Laienbibel angewiesen seien, seien bildliche Darstellungen abträglich. Während bildliche Darstellungen statisch die Umgebung beeinflussen, läßt sich Musik als liturgischer Gesang auf bestimmte Kontexte beschränken und strukturieren, so daß es Zeiten des Schweigens, des Lesens, der Handarbeit oder eben des liturgischen Gebetes abwechselnd geben kann. Während also die Bilder stets stimulieren würden, erlaube der Gesang auf der Grundlage musiktheoretischer Prinzipien eine gezielte Stimulation und Instrumentalisierung des Hörens. Denkt man an Bernhards Diskussion und Bewertung der körperlichen Sinne zurück – die philosophisch-theologisch, nicht praktisch im Hinblick auf Gewissenserforschung oder Gewissensbildung239 begründet ist –, zeigen seine Gestaltungsprinzipien für die monastische Lebenswelt jenen Primat des Hörens, den bereits SC 28 nahelegte: in der Liturgie verschmelzen körperliches Hören der Musik und geistliches Hören des Schriftwortes zu einer zentralen Einheit.
239 Dazu ein Überblick Paul (1993), 64 u. 206 f.
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5. Schlußbetrachtung Mystik ist ein wertvoller systematischer Begriff der Religionswissenschaft. Bei seiner Verwendung ist aber seine fachgeschichtliche Entwicklung zu berücksichtigen und zu transzendieren. Denn, wie der erste Teil dieses Buches zeigt, die Bedeutung und Begriffgeschichte sind eng mit der Entstehung der Religionswissenschaft zum Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. Der liberalen protestantischen Theologie – hier am Beispiel Albrecht Ritschls und Adolf Harnacks dargestellt – dient Mystik zur Bezeichnung eines metaphysisch ausgerichteten Katholizismus, der die historische Offenbarung relativiere; auch beim frühen Paul Tillich schwingt noch immer diese negative Wertung mit. In der Gründungsphase der Religionswissenschaft ist Friedrich Max Müller zwar an einem Gegenstand Mystik wenig interessiert, doch eine semantische Analyse zeigt, daß er von den theologischen Konzeptionen zumindest beeinflußt ist; seine von F.D.E. Schleiermacher abhängige Religionsdefinition unterstreicht diese Annahme. William James, insbesondere seine Arbeit „Varieties of Religious Experience“, war prägend für spätere Versuche, Mystik zu definieren, die alle auf eine besondere Erfahrung abstellen, die es zu rekonstruieren, begrifflich zu fassen gelte. Bei Rudolf Otto, Friedrich Heiler oder Gustav Mensching erfährt Mystik im Vergleich zur liberalen protestantischen Theologie eine positive Umdeutung. Der Mystiker bleibt ihnen zwar der Einsame, der in einem Spannungsverhältnis, aber doch gegenseitiger Abhängigkeit zur Institutiton steht. Aber gerade die ihm zugeschriebene Kritik an religiösen Institutionen, am Ritualismus und am Rationalismus lassen ihnen diesen Typ von Religion als eine Alternative für den modernen Intellektuellen erscheinen, die im Kontext ihrer eigenen Kultur- und Kirchenkritik gesehen werden muß. Für Otto, Heiler und Mensching wird die von Harnack oder Ritschl als mystisch – also katholisch oder neuplatonisch – gegeißelte Metaphysik als Alleinheit, Verschmelzung mit dem göttlichen Sein oder dem Unendlichen zu einer programmtisch aufgewerteten Form von Religion. Die neueren Ansätze in verschiedenen Disziplinen haben es nicht hinreichend vermocht, sich von der Erfahrung als Kern von Mystik zu trennen. Selbst in den Kontextualisierungsversuchen Steven Katz’ steht die konkrete mystische Erfahrung im Zentrum. Die vielfältigen Versuche, eine mystische Erfahrung begrifflich zu fassen, zu definieren, haben zu einer Vielzahl an Definitionen geführt, die etwa Eric Sharpe oder Hans H. Penner fordern lassen haben, Mystik nicht mehr als systematischen Begriff zu verwenden. Gebhard Löhr zieht daraus eine weitergehende Konsequenz, ausschließlich noch die Verwendung des Begriffes Mystik untersuchen zu wollen.
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5. Schlußbetrachtung
Diese Vorschläge lassen sich als Reaktionen auf die konzeptionelle Engführung des Mystikbegriffes auf eine zu definierende mystische Erfahrung erklären, die offenbar in unendlicher Variation mit Inhalt gefüllt werden kann. Doch angesichts der Dynamik der Wissenschaftssprache ist ein anderer Ansatz hermeneutisch vielversprechender. Ein literaturwissenschaftlicher Zugang, wie ihn etwa Kurt Ruh wählt, geht von einem ,mystischen Kanon‘ aus, der sich eben im wissenschaftlichen Konsens ergibt. Es geht um Texte, die miteinander in Beziehung stehen und eine bis in unsere Zeit reichende Traditionslinie bilden, die man auf Grund bestimmter Ähnlichkeiten zusammenfaßt. Der späte Ludwig Wittgenstein konstatiert zu recht in seinen sprachphilosophischen Schriften den unpräzisen Charakter von Begriffen, die sich eben nicht in eine exakte Wissenschaftsprache pressen lassen. Begriffe haben keinen Wesenskern, werden aber doch auch nicht bloß willkürlich gebraucht. Sie sind in Lebens- und Handlungszusammenhänge eingebettet und strukturieren Gegenstände, die miteinander jeweils verwandt, aber nicht identisch sind. Sein Begriff der „Familienähnlichkeiten“ läßt sich auf unseren Gegenstand anwenden und eröffnet die Möglichkeit, nicht nach dem Wesen von Mystik suchen zu müssen, sondern Mystik als einen Diskurs zu begreifen, der besondere religiöse Erfahrung zum Gegenstand hat. Untersucht werden kann dann, wie über diese besondere religiöse Erfahrung gesprochen wird, welche Metaphern verwendet werden, welche philosophischen und theologischen Konzepte den Texten zugrunde liegen und wie diese Texte mit ihrer Umwelt in Beziehung stehen. Anhand eines Autors, der fester Bestandteil des literaturwissenschaftlichen mystischen Kanons ist, läßt sich das Potential dieses Zuganges zeigen. Bernhard von Clairvaux reflektiert in seinen Predigten über das Hohelied die Grundlagen einer Gotteserkennntnis, die nicht-diskursive Elemente umfaßt. Gotteserfahrung ist als Erkenntnis angelegt, die heilsgeschichtlich eingeordnet wird. Sie beginnt beim Körper, bei der Selbstbetrachtung der Seele und endet jenseits des Diskursiven. Die Seele wird metaphorisch zum Körper, ihre Sinne – analog den Körpersinnen – versuchen, Gott zu fassen. Bernhards Gott wird in verschiedenen Facetten erkannt: als Schöpfer, als Richter und eben als Bräutigam, der sich mit der Seele verbindet. Bernhard entwickelt keine theoretische Kosmologie, Eschatologie oder Erkenntnislehre, also keine Theologie, welche die Wahrheit über Gott systematisch-diskursiv entwickeln würde. Sein Erkenntnisweg folgt den Bildern des Hohenliedes und den dazugehörigen Affekten. Dem Schöpfergott nähert sich Bernhard nicht durch kosmologische Lehrgebilde an; dieser läßt sich für Bernhard an seinem Werk erfahren, das die Seele staunend, fasziniert und unruhig betrachte, um sodann zitternd den richtenden Gott zu erfahren, später die Ruhe, Heiterkeit und Süße des liebenden Bräutigams. Die Metaphern, in denen Bernhard diese letzte Stufe beschreibt, entspringen der erotischen, körperlichen Sphäre, machen aber klar, daß es sich nicht um eine Wesensverschmelzung, eine Einung von Gott und Seele handeln soll.
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5. Schlußbetrachtung
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Der Körper ist in zweifacher Hinsicht zentral für Bernhards Denken: er liefert zum einen die Metaphern, die Bernhard dem Hohenlied und dessen Auslegungstradition entnimmt, und mit denen er diese ganzheitliche Erkenntnis Gottes umschreibt. Zum anderen wird Bernhard nicht müde, zu betonen, daß dieser Erkenntnisweg beim Körper und seinen Sinnen beginnen müsse. Die Bedeutung des Körpers für Bernhard erweitert unsere Perspektive auf seine Mystik, indem die Fragen der Religionsaisthetik – insbesondere nach Körperkonzepten – an seine mystischen Texte herangetragen werden können. Berhard läßt sich bei der Gestaltung eines für diesen Weg geeigneten Umfeldes im Monasterium beobachten, indem er gezielt sensorische Wahrnehmung beeinflussen will. Am Beispiel der Musik in Form der Liturgie und der bildenden Kunst konnte dies gezeigt werden: der liturgische Gesang soll die das Verständnis der Worte der Liturgie fördern und falsche Affekte bekämpfen, damit der Mönch zunächst dem Wort auf der Textebene, dann dem Wort im theologische Sinne als Logos begegne. Die bildende Kunst lehnt Bernhard im Kloster ab, soll doch eine Konzentration auf den Text und dessen textuelle Bilder für den literaten Mönch im Mittelpunkt stehen; lediglich die des Lesens Unkundigen sollen in den bildlichen Darstellungen als litteratura laicorum lesen. Dies entspricht auch Bernhards theologischer Hierarchisierung der Sinne, bei denen das Hören den Primat hat und so primärer Sinn der Gotteserkenntnis wird. Bernhard folgt also in der Apologie nicht bloß der Forderung nach Einfachheit im Rahmen zisterziensischer Reformideale, mißtraut auch nicht pauschal den Körpersinnen, wie es Diane Reilly behauptet.1 Durch die Frage nach der Aisthesis in der Mystik öffnet sich ein Horizont, der über die von etwa Talal Asad vorgeschlagene Untersuchung einer Verbindung von religiösen Praktiken und Mystik hinausgeht und nicht bloß auf Rituale fokussiert bleibt. Die Aisthetik eignet sich dazu, das Reden über Mystik in seinen lebensweltlichen Kontext einzuordnen, der von Körperlichkeit notwendig geprägt ist. Mette Bruun nennt die Dynamik vom Körperlichen („carnal“) hin zu Spirituellen („spiritual“) einen ständigen hermeneutischen Antrieb („constant hermeutical driving force“) Bernhards, den sie an der Topographie seiner Parabeln nachzeichnet.2 Man kann aber nicht einfach – wie Bruun es vorschlägt – schließen, Bernhards Topographie sei ja nicht materiell präsent, sei deshalb nicht spatial, sondern nur spirituell, will sagen in der Vorstellung real.3 Ich würde vorschlagen, zu versuchen, auch die Topographie von Bernhards christologischer Grundlegung her zu lesen und als ständige Bewegung zwischen offenbartem Wort und göttlichem Logos zu verstehen. Auch diese Bewegung hat ja einen körperlichen Hintergrund in der monastischen Alltagswelt: man denke nur an den Einzug des Abtes und der Brüder am Palmsonntag, dem Einzug Jesu in Jerusalem nachempfunden, den 1 Reilly (2011), 298 (Mißtrauen gegen Körpersinne) u. 304 (Einfachheit als Reformideal). 2 Bruun (2011), bes. 251, hier verstanden als Quintessenz von Bruun (2004) u. (2007) 3 Bruun (2011), 277 f.
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5. Schlußbetrachtung
Aelred von Rievaulx in seiner Predigt versucht, den Mönchen mit Worten sinnfällig werden zu lassen.4 Christoph Auffarth hat sehr schön gezeigt, wie etwa die Prozession in ein imaginäres Jerusalem die Pilgerfahrt ins irdische Jerusalem körperlich erfahrbar und ersetzbar macht – aber körperlich erfahrbar eben.5 Das Kloster wird als körperlicher Rahmen des Weges zu Gott verstanden. Die vorgeschlagene Herangehensweise kann sich zudem von kulturkritischen Topoi lösen, die den Mystiker zum einsamen, weltflüchtigen Gegner der Institution machen – gerade Bernhard entspricht diesen Klischees nicht, spricht jedoch wie etwa Meister Eckhart über Gotteserfahrung. Auch Mystik als Reden, als Diskurs über die Erfahrung des ,Ganz Anderen‘ kann letztlich Körperlichkeit nicht transzendieren.
4 Aelred von Rievaulx, In adventu Domini I, in CCCM IIA. 5 Auffarth (2002), 108 – 112.
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Index rerum
Akustik (von Zisterzienserkirchen) 198 Allegorese (s.a. Exegese) 53, 57, 80 Anm. 323, 102, 122, 147, 177 – Schriftsinne 98, 138, 142, 180 – jüdische A. 91 anima animae (Deus) 176 Apophase 40, 74f artes liberales 87, 200 Askese 15, 32, 65f, 85, 88, 118f, 129, 143 Anm. 292, 185 Augustinismus 170 außereuropäische rel. Traditionen 12, 60, 82 Benedictusregel s. regula Benedicti Bernhard von Clairvaux – Bibliothek von Clairvaux 92 – interpretatorischer Ansatz 94–104 – textimmanente Interpretation 100 – thick description/close reading 100–104 – „diversa, sed non adversa“ 94–100 – Theologie d. Hoheliedpredigten – Anthropologie 124–130 – Anthropomorphismus 107, 119, 121f, 123, 154 – Christologie 91, 96, 110, 112 Anm. 147, 213 – Ekklesiologie 130–136 – Gotteserfahrung, Stufen 142–146 – Gottesvorstellung 119–123 – Inkarnation 111, 113f, 116, 118, 169f, 180, 182 – Pneumatologie 91, 95
– Seelenlehre (s.a. Anthropologie) 124–130, 135–137 – Soteriologie 112–119, 139 – Trinität 120f, 123, 125 – Vätertradition 88, 91 – Werk 89–90 Bild/Ebenbild (imago/similitudo, image/ressemblance) 124–127, 129, 132, 171, 173, 194f Braut/Bräutigam (himmlisch) 85, 91, 96, 119f, 130–152, 155–160 Brautmystik 116 Buddhismus 42f, 46, 57, 59, 60f, 63, 66 Confessiones (Augustinus) 105, 198 contemplatio 138, 141f, 146 Demut 118f, 145, 186f dialektische Theologie (s.a. Emil Brunner) 37 divinum officium (s.a. Liturgie) 181 Dogmengeschichte 32f Einfachheit (simplicitas) 97, 121, 127, 129f, 136, 147 (simpliciter ambulantes) 192, 213 Ekstase 25, 42f, 50, 60, 65, 144f Encyclopedia of Religion 77 Engel 107, 151, 167f, 173 Erfahrung (experience) 11, 15f, 24f, 27, 31, 40, 43, 44–53, 54, 56, 57f, 60, 64f, 71–77, 81–83, 84, 91, 92, 94, 104, 119, 124, 136f, 141, 142–146, 149f, 153f, 156, 158f, 161, 164, 178, 200, 211f, 214
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Index rerum
– Semantik b. Bernhard 87 – Erfahrungszentrismus 17, 25, 40, 68 Erkenntnis(-theorie, Epistemologie) 11, 13, 24f, 30f, 42, 44, 48, 64f, 73, 76, 104–112, 113, 115, 116, 119, 124, 127f, 142, 152, 160f, 162, 164, 165–181, 182, 198, 200, 207, 212f Erotik (s.a. Liebe) 84f, 182, 212 eruditio 174f, 185, 194 Esoterik 67 Essentialismus 11, 17, 24f, 45, 51, 73, 82 Europäische Religionsgeschichte 12, 18–22 Exegese (Auslegung, s.a. Allegorese) 15f, 67, 90–94, 98, 116, 119, 142, 147, 158, 177, 213 „Familienähnlichkeit“ (L. Wittgenstein) 27, 51, 77 Anm. 310, 78f, 80, 82, 102, 212 „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (F.D.E. Schleiermacher) 36f, 42, 55 Fünf Sinne 171f, 175–177 Gesang 184f, 188, 189–200 Glaubenserkenntnis ex auditu 177–181 Gnosis 43 Gradualpsalmen 183 Häresie/Häretiker 11, 71f, 83, 117, 125, 136 Hellenisierungsthese/Hellenismus 31, 33, 63 Historismus 34f Hoheliedexegese 90–94 Hymnarium (cist., 12. Jh.) 191 Idealismus 36, 39f, 45 Anm. 114, 47, 57 Anm. 187 Ikonoklastik 33 Individuum/Individualismus 29f, 32
Anm. 55, 34, 35, 38, 39, 43f, 44–51, 54, 65f, 85, 92, 136, 142, 153, 183 Introspektion 174 Januskult 208 Johannesprolog 111, 179f „Kirche/Sekte“ (E. Troeltsch) 33f Kataphase 74 Katharer 129 Katholizismus (s.a. Modernismus) 30, 32, 37, 38, 62, 81, 211 Kirchengeschichte (akad. Disziplin) 12, 18–22, 26 Kirchenjahr 90, 171, 181f Körperkonzept 69, 163–165, 171, 201, 213 Körpersinne/körperliche Sinnesorgane (s.a. Fünf Sinne) 103, 162, 171f, 176, 178f, 205 Anm. 219, 212 „Körpertextur“ (A. Koch) 163 kognitive Linguistik s. Metaphern Konsistenz im Denken Bernhards 94–100 Kontextualisierung 11f, 15, 16, 17, 19, 58f, 68, 69, 71, 73, 75f, 81–83, 84–86, 94, 101, 102, 104, 119, 151, 160, 164, 165, 182, 189, 211, 213 Kreuzzug 89 „kultischer Reizausschluß“ (H. Mohr) 165 Kulturgeschichte 20 Kunst 17 Anm. 37, 84, 130, 162f, 165, 181, 187, 213 – Begriff 204 – bildende K. b. Bernhard 201–210 lectio divina 181, 186 Anm. 117 Leib-Seele-Dualismus 171 liberale Theologie 30–33, 37, 42f, 61 Anm. 208, 62, 81, 211 Liebeskonzept (hochmittelalterlich) 85
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Index rerum Liturgie 15, 16f, 86, 94 Anm. 68, 103, 105, 123 Anm. 205, 130, 152, 164, 171, 181–185, 187–189, 209f, 213 – Liturgiereform (cist.) 189–200 lûgos sarkos 32 lûgos spermatikûs 173f, 176 magna mater 208 Marxismus 38f Materialismus Medium 164, 179, 210 mediator 179 Metapher/Metaphorik 11, 60, 62, 74, 76, 79, 85, 87, 94, 123, 138, 143, 144, 153–161, 181, 185, 189, 212f Metaphysik 30–32, 34, 35, 37, 38, 39, 41–43, 65, 104, 211 Modernismus/Antimodernismus 28, 60, 63 Musik (s.a. Gesang u. Liturgie) 164f, 181, 190 – Mnemotechnik 196 – Musikdefinitionen 193 – Neumen/Notation 194f – Text und Ton 193, 197 – Tonumfang 194 – „wahre Natur“ 190, 194, 196 mysterium tremendum et fascinans (R. Otto) 55f Mystik – Begriff (s.a. mystischer Diskurs) 17f, 78–83 – dynamisch-dialektisches Vorgehen/ Dialektik rel.wiss. Begriffsbildung 26, 52, 79–81, 82 – Sammelkategorie (W. James/L. Wittgenstein/B. Saler) 45, 48, 51, 78f, 102 – Etymologie 53, 61, 70, 77 Anm. 310 – M. und Kirche 33–35, 38, 61, 63, 71, 81 – Einsamkeit 11, 35, 61f, 65f, 69, 72, 81, 83, 136, 211, 214
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– Einung/Einungsvorstellung (s.a. unio mystica) 25, 53, 60f, 158, 212 – mystical experience 25, 75, 78 Anm. 311 – mystischer Diskurs 11, 17f, 73, 81–83, 87, 92–94, 97, 105, 137, 141, 153, 163, 212, 214 – „Kanon der Mystik“ (K. Ruh) 26f, 51, 79f, 92, 102, 212 – Kategorisierung d. Begriffsgeschichte 24 – Schau (s.a. contemplatio) 61, 64, 144–146, 172f, 178, 180 – Schweigen 18, 60, 61, 210 – Stufenleiter (W. James) 49 – unio (mystica) 25, 30, 40, 63, 65, 69, 71 Anm. 271, 81, 85 Anm. 5, 137 Anm. 263, 146, 158f Neukantianismus 25 Neuplatonismus 30–33, 38, 61, 62, 105, 166–168, 170, 211 neurobiologischer Ansatz 25 Anm. 9, 52 New Age 33f Nominalismus 82, 126 Anm. 219 novum monasterium (Cteaux) 88f, 189f, 203, 209 Oralität 17 Anm. 39, 86, 97 ordo 87 Anm. 24, 158–160, 166, 193, 195, 200 Ostkirchen 32f, 60 – Palamas (Hesychasmus) 60 Anm. 203 Pantheismus 31, 32 Anm. 54, 33, 38 Performanz 86, 164, 181 Phänomenologie (philosophisch, s.a. Religionsphänomenologie) 52f pictura est litteratura laicorum (Gregor I.) 207 Platon/Platonismus 37f, 78f, 165f, 168 Anm. 39, 170, 172
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Index rerum
Polytheismus 33 Pragmatismus (s.a. W. James) 45, 47, 52, 53 Anm. 152, 54 Primitive Cistercian Breviary 171 Anm. 48, 190 „Provinz im Gemüte“ (F.D.E. Schleiermacher) 29, 36, 44 Psychoanalyse 38f regula Benedicti 86, 89, 108f, 184, 186–189, 191, 204f Rektoratsrede (A. v. Harnack) 19 Anm. 52, 20f Religionsästhetik/-aisthetik s. Religionswissenschaft Religionsbegriff 25, 27, 29f, 36f, 38, 43f, 45–48, 51, 57–59, 64, 72, 78, 80 Anm. 326, 81, 101, 162, 211 – Hochreligion/Primitivreligion 61 Anm. 208, 68 – mystische/prophetische Religion 39, 65–67, 69 – positive Religion 29, 32f – Sammelbegriff s. Mystik/Sammelkategorie – taxonomische Modelle 51 Religionsgeschichtliche Schule 37 Religionsphänomenologie 25, 36, 38, 63 Anm. 221, 68, 69, 70 Anm. 269, 72, 73, 77 Anm. 309, 78, 82, 103, 162, 163 Religionswissenschaft – Verhältnis zur Theologie 18–23, 27f, 29 – Ausdifferenzierung in Subdisziplinen/ Disziplinarität 11f, 22f, 103 – Empiriebezug 26, 52, 54 – Religionsaisthetik/Religionsästhetik – Begriffsbestimmung/kurze Forschungsgeschichte 162–164 – Religionssomatologie 163 Ritualismus 33, 39, 40, 62, 72, 211 Romantik 25
Sapientisierung 118 schola caritatis 115, 151 Scholastik 15, 32 Anm. 54, 33, 62, 99, 106, 153 scholastische/monastische Theologie 15, 99, 104f, 106, 152f Schriftauslegung s. Exegese Selbst- und Gotteserkenntnis b. Bernhard 104f Sprachgebrauch Objektebene/Metaebene 25, 42, 47, 51, 70f, 76, 78–80, 81, 92, 101, 102, 103f, 105, 153, 163, 204 Stundengebet (s.a. Liturgie u. divinum officium) 182f, 187f „Theiomonismus“ (G. Mensching) 65f theologia mystica (Ps.-Dionysios Areopagita) 33 Anm. 58, 53, 57, 80 Anm. 323 Tonale Sancti Bernardi 191 triplex visio/triplex contemplatio 146 unio mystica s. Mystik Universalienstreit 82, 126 Anm. 219 Ursachenlehre (aristotelisch) 122f vita actica/vita contemplativa 14 Anm. 14, 41 Vita Antonii 203 Vita Ia (Bernardi) 14 Anm. 13, 85, 87f, 201–203 Wille, freier 128f Wort-Gottes-Theologie s. dialektische Theologie Yoga 57 Zauberei
33, 68
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Index personarum (Moderne Forschung nur bei Nennung im Haupttext) Adam von St. Viktor 106, 122, 123 Anm. 206 Aelred von Rievaulx 113 Anm. 155, 214 Alanus ab Insulis 140 Anm. 278, 149, 172, 200 Alberich (Abt von Cteaux) 190 Alles, Gregory 54, 58 Altermatt, Alberich M. 96, 192 Ambrosius von Mailand 90f, 191 Anaklet II. 89 Anselm von Canterbury 178 Aristoteles 148 Arnold von Brescia 89 Asad, Talal 83, 213 Auffarth, Christoph 103, 214 Augustinus v. Hippo 32, 105, 120 Anm. 186, 124 Anm. 212, 175 Anm. 68, 193, 198, 208 Baetke, Walter 58 Barth, Karl 37, 73 Baumgarten, Alexander Gottlieb 162 Becker, Gerhold 34 Beda (Venerabilis) 90f, 93, Bell, David 95, 106 Benedikt v. Nursia 184 bes. Anm. 107 (Authentizität), 186f, 189 Benke, Christoph 96 Berengar v. Poitiers 90, 92 Bergunder, Michael 51 Berno v. Reichenau 190 Bochinger, Christoph 33–35, 70 (Anicius Manlius Severinus) Boethius 199 Bredero, Adriaan H. 99, 201f Brem, Hildegard 95 Brunner, Emil 36–38 Bruun, Mette B. 16f, 213
Cancik, Hubert 162 Casey, Michael 97 Certeau, Michel de 80 Colpe, Carsten 20 Corbin, Henry 25 Diaz-Bone, Rainer 47 Diehr, Achim 199 Diers, Michaela 99 Dinzelbacher, Peter 84, 85, 97, 136, 153f, 157f, 160, 201 Dionysios der Karthäuser 116 Drescher, Hans-Georg 34f DuBois, Andrew 100 (Meister) Eckhart 57, 74, 214 Elder, E. Rozanne 91 Eliade, Mircea 25, 102 Engelbrecht, Martin 70 Eucken, Rudolf 28 Evagrius Ponticus 86, 170 Fanning, Steven 77 Farkasfalvy, Denis 95 Fassetta, Raffaele 95 Fechner, Gustav Theodor 51 France, James 209 Frank, Franz H. R. 31 Freeman, Elizabeth 68 Freiberger, Oliver 22f, 59 Frese, Tobias 202, 204, 208 Freud, Sigmund 39 Gantke, Wolfgang 30 Gastaldelli, Ferruccio 197f Geertz, Clifford 100–104 Gilson, Êtienne 104 Gladigow, Burkhard 12, 29, 102, 162, 164
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Index personarum
Goethe, Johann Wolfgang v. 36 Gregor I. (der Große) 91, 93, 190, 207 Guentner, Franciscus J. 193 Guido von Arezzo 190 Guido von Cherlieu 193 Guido von Monti¦ramey 191, 197
Klöckener, Martin 198 Kobusch, Theo 104f Koch, Anne 160, 163f Köpf, Ulrich 15, 84, 87, 92, 99, 152f Krech, Volkhard 27 Kripal, Jeffrey 24
Haas, Alois M. 15, 86 Hanegraaf, Wouter 52 Harmless, William 79, 81f, 86 Harnack, Adolf v. 18–22, 28, 31, 32f, 37, 38, 39, 41, 62, 68, 81, 211 Hasenfratz, Hans-Peter 12 Haug, Walter 15 Heiler, Friedrich 28, 38, 59–64, 65, 70, 72, 81, 211 Heinrich von Augsburg 199 Heinrich von Lausanne 89 Heller, Dagmar 15f, 95, 142 Hesse, Mary 154f Hildegard von Bingen 172 Hiss, Wilhelm 95, 165f Holm, Søren 54 Hügel, Friedrich v. 28, 60, 63 Hummel, Regine 14f, 158 Huxley, Aldous 82
Laack, Isabel 163f Lakoff, George 154 Lanwerd, Susanne 163 Leclercq, Jean 15, 85, 89, 97, 105, 109f, 170 Le Huu Tu, Ephrem 95 Leonardi, Claudio 85 Leppin, Volker 26, 79, 81, 153 Löhr, Gebhard 70, 77f, 211 Luther, Martin 15, 34, 36
Inge, William Ralph 24 Innozenz II. 89 Jamblich 32 Jantzen, Grace 25 James, William 25, 44–53, 54f, 73, 78, 211 Johann von Affligem 190 Johannes Trithemius 172 Johannsen, Dirk 58 Johnson, Mark 154 Julian v. Norwich 25 Jung, Matthias 47 Kant, Immanuel 25, 43, 44, 54, 57 Katz, Steven T. 73, 81–83, 211 King, Richard 38, 70
Markschies, Christoph 22 Marossz¦ki, Solutor Rodolphe 190 Matter, E. Ann 92 Mauss, Marcel 83 McGinn, Bernard 24, 28, 35, 38, 61, 73, 75f, 79, 83, 94, 95f, 165, Mensching, Gustav 57f, 59, 64–69, 72, 211 Mertens, Volker 85 Mews, Constant 106 Mohn, Jürgen 162f Mohr, Hubert 162, 165 Mojsisch, Burkhard 105f Moritz, Theresa 96 Müller, F. Max 18, 26, 40–44, 81, 211 Münster, Daniel 162, 165 Niebuhr, Richard 48 Noppen, Jean Pierre van 154 Norbert von Xanten 88 Origenes 14 Anm. 12, 86 Anm. 11, 90–92, 93, 100 Anm. 99, 124, 169f, 173, 177, 185, 195 Otto, Rudolf 24, 26, 27, 29, 30, 36, 38, 53–59, 64, 68, 73, 81, 211
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Index personarum Penner, Hans. H. 77, 211 (Aulus) Persius (Flaccus) 206 Peters, Ursula 76 Petrarca, Francesco 60 Petrus Abaelard 84, 89, 90, 106, 126 Anm. 219 Platon s. Platonismus Plotin 32, 61, 62 Anm. 213, 172 Pranger, M.B. 17, 100 Proklos 32 Proudfoot, Wayne 73f Ps.-Dionysios Areopagita 32, 53, 57, 61, 124 Anm. 212 Pye, Michael 59f, 62 Regino v. Prüm 190 Reilly, Diane 203, 209, 213 Reticius v. Autun 90 Ries, Joseph 165 Ritschl, Albrecht 30–32, 34f, 37, 38, 41, 62, 81, 211 Robert von Molesme 189f Rochais, Henri 170 Röhr, Heinz 59 Rudolph, Conrad 203f, 209 Rudolph, Kurt 26, 52, 80 Ruffing, Janet K. 81 Ruh, Kurt 26, 79, 94, 102, 212 Ryle, Gilbert 100 Saler, Benson 51, 78 Schilling, Werner 58 Schleiermacher, Friedrich D.E. 27, 29f, 31, 36f, 42, 44, 55, 62, 73, 81, 211 Scholem, Gershon 25 Schweizer, Albert 28 Schubert, Klaus 47f Seiwert, Hubert 27, 52, 54 Sharf, Robert H. 74
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Sharpe, Eric 77, 211 Sloterdijk, Peter 51f Smith, John E. 44f, 52 Söderblom, Nathan 28 Sonntag, Jörg 102 Sommerfeldt, John R. 94, 105, 142, 166 Stange, Carl 84 Stephen (Harding) 89, 190, 209 Stephenson, Gunther 69 Storm, Heinrich 107 Suger v. Saint-Denis 167 Thomas (Cisterciensis) (Thomas von Perseigne?) 93 Thomas v. Aquin 180 Tillich, Paul 38–40, 211 Topitsch, Rainer 72 Tribuljak, Tomislav 57 Troeltsch, Ernst 28, 33–35 Turner, Denys 74–76 Turner, Victor 71f Tworuschka, Udo 65f Underhill, Evelyn 77, Waardenburg, Jacques 71 Waddell, Chrysogonus 190f Wasserstrom, Steven 25 Weber, Max 71 Wendelborn, Gert 99 Weyh, Bettina 36 Wilhelm von Champeaux 106 Wilhelm von St. Thierry 14 Anm. 18, 15, 84, 86, 87f, 91, 143 Anm. 292, 195 Anm. 170, 201–203 Wilke, Annette 57 Winkler, Gerhard B. 170f Wittgenstein, Ludwig 51, 74, 78–80, 82, 102, 212
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