Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten: Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht [1 ed.] 9783428514281, 9783428114283

Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten gehört zu den grundlegenden Fragen der europarechtlichen Dogmat

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German Pages 253 Year 2005

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Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten: Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht [1 ed.]
 9783428514281, 9783428114283

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Schriften zum Europäischen Recht Band 110

Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht

Von Kara Preedy

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KARA PREEDY

Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 110

Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht

Von Kara Preedy

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11428-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Herbst 2002 abgeschlossen und im Juni 2003 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Aufgrund neuerer Rechtsprechung wurde sie leicht überarbeitet und befindet sich nun auf dem Stand von Frühjahr 2004. Mein erster Dank gebührt Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Brun-Otto Bryde. Seiner Unterstützung und Förderung bereits während der Arbeit als studentische Hilfskraft an seinem durch Offenheit und Diskussionsfreude geprägten Lehrstuhl schulde ich viel, nicht nur im Zusammenhang mit dieser Arbeit. Herrn Prof. Dr. Thilo Marauhn danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Die ersten Ansätze zu dieser Arbeit sind während meines LL.M.-Studiums am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstanden. Dort haben insbesondere Gespräche mit Herrn Prof. Dr. Christian Joerges sowie mit Frau Prof. Graínne de Búrca, Frau Prof. Joanne Scott und Dr. Diamond Ashiagbor Überlegungen in die richtige Richtung ausgelöst. Weitere Teile der Arbeit entstanden während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Zivilrecht und Verfahrensrecht (Herrn Professor Dr. Manfred Wolf) der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. In dieser Zeit haben viele weitere anregende Gespräche zum Fortgang dieser Arbeit beigetragen. Dafür möchte ich Herrn Prof. Dr. Michael Bäuerle, Dr. Jochen Kaiser, Uwe Säuberlich, Timo Tohidipur, Dr. Felix Arndt und Dr. Patrick Gödicke sehr herzlich danken. Michael Bäuerle, Michael Joos und Dr. Alexander Hanebeck haben sich darüber hinaus die Mühe gemacht, die gesamte Arbeit zu lesen. Mein besonderer Dank gilt Marga Pfeffer, die das Manuskript in der ihr eigenen sorgfältigen und gründlichen Weise überarbeitet hat. Tanja Pleyer und Christiane van Lieshaut möchte ich für die vielen wohlwollenden Fragen zum Fortgang der Arbeit danken, die ihren Teil zu deren Abschluss beigetragen haben. Alexander Hanebeck war und ist mir in jeglicher Hinsicht eine unentbehrliche Begleitung, für die ich zutiefst dankbar bin. Seine uneingeschränkte Unterstützung und die meiner gesamten Familie bedeuten mir sehr viel. Ihr widme ich daher diese Arbeit. Frankfurt, im Juli 2004

Kara Preedy

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Ungenauigkeit der „Drittwirkungs“-Terminologie . . . . . . . . . . . . 2. Bedenken gegen die Übertragung der „Drittwirkungs“-Terminologie auf die europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bindung Privater als adäquate Problembeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 19

III. Weitere begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private als Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaft – Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22 23

IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

I.

20 21

Kapitel 1

I.

Bindung Privater an die Grundfreiheiten – Bestandsaufnahme

25

Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten 1. Die Rechtsprechung zu Artikel 28 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung Dansk Supermarked . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung van de Haar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidung Vlaamse Reisebureaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidung Bayer/Süllhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Entscheidung Kommission/Französische Republik . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schutzpflichttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit durch Gewaltanwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Entscheidung Schmidberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit . . . bb) Schmidberger als Weiterführung von Kommission/Frankreich . . . . g) Zusammenfassung der Rechtsprechung zu Artikel 28 EG . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung Walrave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung Donà . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidung van Ameyde/UCI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidung Haug-Adrion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 26 26 29 29 30 31 32 35 35 37 38 39 39 40 43 44 44

10

Inhaltsverzeichnis e) Die aa) bb) cc)

Entscheidung Bosman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkung statt Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigungsgründe im Sinne des Artikels 39 Abs. 3 EG . . . . . Erlass von Regelungen als Ausübung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Entscheidungen Deliège und Lehtonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die Entscheidung Angonese/Cassa di Risparmio di Bolzano SpA . . . . . h) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsgeschäftliches Handeln als Hauptanwendungsbereich privater Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Differenzierungen zwischen den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Differenzierung zwischen Diskriminierung und Beschränkung . . . . . . . . II. Literaturansichten zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . 1. Bindung nur bei staatsähnlichen Regelungen Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestehende Konzepte zum Umgang mit privaten Gefährdungen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Theorie der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . b) Theorie der mittelbaren Drittwirkung oder Schutzpflichttheorie . . . . . . . 3. Wesentliche Übereinstimmung der Drittwirkungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . a) Mit den Grundfreiheiten kollidierende Gemeinschafts-Grundrechte . . . . b) Erhalt der vertikalen Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kohärenz der nationalen Privatrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 47 48 49 50 51 52 55 55 55 56 58 58 60 62 62 63 64 65 66 68 69

Kapitel 2 Auslegung des Europarechts

71

Grundsätzliches zur europarechtlichen (Auslegungs-)Methodik . . . . . . . . . . . . . 1. Notwendigkeit einer europäischen Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kompetenzen und Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Häberles „Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ . . . . . . . . . . . . . . 4. Die „offene Gesellschaft der EG-Vertragsinterpreten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 72 74 77 80 84

II. Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Systematisch-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84 87 88 89 89 92 93

I.

Inhaltsverzeichnis

11

Kapitel 3 Annäherungen an den Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

94

Wortlaut der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

II. Rahmenvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begleitvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmeregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96 96 97 98

III. Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wettbewerbsrecht in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung zu Artikel 28 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsprechung zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literaturansichten zum Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkte Aussagekraft des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98 99 99 101 103 103 106 110

IV. Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierungsverbote als Argument für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfassende Bindungswirkung der Artikel 12 und 141 EG . . . . . . . . . . . b) Vergleichbarkeit der Differenzierungskriterien als Voraussetzung . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

114 115 120 123 123

V. Verwirklichung des Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Binnenmarkt in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwirklichung des Binnenmarktes durch umfassende Bindungswirkung . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 124 125 126

I.

111

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kapitel 4

I.

Bindungswirkung der Grundfreiheiten und das gemeinschaftsrechtliche Ziel des Individualschutzes

128

Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gründungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unmittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinschafts-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128 129 131 134 137

12

Inhaltsverzeichnis 5. Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6. Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten als Förderung des Individualschutzes 1. Grundfreiheiten als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einteilung der Grundfreiheiten in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten 3. Abgestufter individualschützender Charakter der Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundfreiheiten als Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirtschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundrechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Wirtschaftsgrundrechte als Grundrechtsgehalt aller Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Recht auf Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundrechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Recht auf Freizügigkeit als Grundrechtsgehalt der Personenfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das allgemeine Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundrechtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Diskriminierungsverbot und Produktverkehrsfreiheiten . . . . . . . (3) Das allgemeine Diskriminierungsverbot als Grundrechtsgehalt allein der Personenfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Förderung des Individualschutzes durch Bindung Privater an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144 144 146

III. Bindung Privater an die Grundfreiheiten als Gefährdung des Individualschutzes 1. Beeinträchtigungshandlungen als Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit a) Rechtsgeschäftliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatsächliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsbeschränkung als Gefährdung des Individualschutzes . . . . . . . .

161 162 162 162 163 164 164 165 167 169 170 172 172 172

148 148 152 153 153 154 155 155 156 157 157 158 160 160 161 161

Inhaltsverzeichnis IV. Effektiver Individualschutz durch Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten . . . . . . . . . a) Rechtsgeschäftliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatsächliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auflösung der Kollisionslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang der Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorrang der Gemeinschafts-Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Notwendigkeit einer Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Allgemeine Vorgaben für die Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichwertigkeit der Interessen im Rahmen der Abwägung . . . . . . . . . . b) Differenzierter Grundrechtsgehalt als wesentliches Kriterium im Rahmen der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheit bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen: Privatautonome Konfliktlösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dispositionsbefugnis des Berechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Deutsche Grundrechtsdogmatik als Anhaltspunkt . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragung auf die europäische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatsächliche Ausübung der Privatautonomie als Voraussetzung . . . . . . . aa) Deutsche Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragung auf die europäische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 172 173 174 175 176 176 176 177 177 179 179 180 181 182 182 184 185 185 189 189 190

V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Kapitel 5 Systematik einer differenzierten Bindungswirkung der Grundfreiheiten 192 I.

Rechtsgeschäftliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diskriminierungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . a) Wirksame Zustimmung zur Diskriminierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Möglichkeit einer Zustimmung zur eigenen Diskriminierung? . . . . bb) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Absoluter Vorrang des Diskriminierungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abschlussfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhaltsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . a) Privatautonom vorgenommener Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192 192 193 193 194 195 196 196 197 197 198 198 198

14

Inhaltsverzeichnis bb) Tatsächliche Ausübung von Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindung Privater an die Grundfreiheiten und Wesensgehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung der Rechtsprechung: Bindung Privater bei kollektiven Regelungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beeinträchtigungen der Produktverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abschlussfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tatsächliche Ausübung von Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wettbewerbsrecht als gesetzgeberisches Abwägungsergebnis . . . . . . . . . d) Bewertung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199 201

203 205 205 206 207 207 208 210 210

II. Tatsächliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Boykottaufrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Blockadeversammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konkrete Ausgestaltung der Versammlung als entscheidendes Kriterium b) Bewertung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Streiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewaltanwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfassende Bindungswirkung mangels Kollisionslage . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211 212 214 214 216 217 219 219 220 220

201

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Abkürzungsverzeichnis AcP AGB AJIL AK-GG

ArbuR ARSP Bd. BverfG Camb. LJ CDE CMLR Col. JEL DB DöV DVBl. EHRLR ELJ ELR EMRK EPL ERPL EuGH EuGMR EuGRZ EuR EuZW EWS GRUR GRUR Int. Harv. Int. LJ Harv. JM WP

Archiv für die civilistische Praxis Allgemeine Geschäftsbedingungen American Journal of International Law Alternativkommentar zum Grundgesetz, siehe im Literaturverzeichnis unter Denninger, Erhard/Hoffmann-Riem, Wolfgang/Schneider, HansPeter/Stein, Ekkehart, Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentar), Bd. 1, 3. Aufl., Neuwied 2001. Arbeit und Recht Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Band Bundesverfassungsgericht Cambridge Law Journal Cahiers du Droit Européen Common Market Law Review Columbia Journal of European Law Der Betrieb Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt European Human Right Law Review European Law Journal European Law Review Europäische Konvention für Menschenrechte European Public Law European Review of Private Law Europäischer Gerichtshof Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Harvard International Law Journal Harvard Jean Monnet Working Papers

16 HbEWR

Hrsg. ICLQ Industrial LJ JCMS JöR JuS JZ LQR MLR NJW NVwZ OJLS RabelsZ RdA RIW RMC Rs. RTDE S. Slg. VerwArch VfGH VVDStRL Yale LJ ZBB ZEuP ZEuS ZHR ZRechtsSoz

Abkürzungsverzeichnis Handbuch des Europäischen Wirtschaftsrechts, siehe im Literaturverzeichnis unter Dauses, Manfred (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Wirtschaftsrechts, München 1996, Stand 2001. Herausgeber International and Comparative Law Quarterly Industrial Law Journal Journal of Common Market Studies Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Juristische Zeitschrift Law Quarterly Review The Modern Law Review Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oxford Journal of Legal Studies Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der internationalen Wirtschaft Revue du Marché Commun Rechtssache Revue Trimestrielle du Droit Européen Seite Sammlung Verwaltungsarchiv Österreichische Verfassungsgerichtshof Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Yale Law Journal Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für europäische Studien Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Rechtssoziologie

Einleitung I. Problemstellung Die europäischen Grundfreiheiten, die Freiheit des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, die Niederlassungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind fundamentale Grundlagen der Europäischen Union. Sie bedeuten einen weitgehenden Verzicht auf mitgliedstaatlichen Protektionismus zugunsten eines europäischen Binnenmarktes. Ziel der Grundfreiheiten ist hauptsächlich die Beseitigung mitgliedstaatlicher Maßnahmen, die zu einer Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Verkehrs führen oder führen könnten. Die Abschaffung der Zölle im Bereich des Warenverkehrs ist ein einfaches und deutliches Beispiel für die angestrebte wirtschaftliche Integration der EU-Mitgliedstaaten. Allerdings wird zunehmend deutlich, nicht zuletzt durch einige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass nicht nur staatliche Hindernisse und Schranken der Verwirklichung eines freien Handelsraums entgegenstehen, sondern dass auch private Maßnahmen den grenzüberschreitenden Verkehr gefährden können. Einige Aufsehen erregende Entscheidungen des EuGH haben das rechtswissenschaftliche Interesse auf derartige private Beeinträchtigungen gelenkt: Im Urteil Kommission/Frankreich1 befasste sich der Gerichtshof mit gewaltsamen Blockaden der Grenze, mit denen französische Bauern die Einfuhr spanischer Erdbeeren verhinderten. In der Entscheidung Bosman2 wurden die Ausländer- und Transferklauseln des internationalen Profi-Fußballs einer Überprüfung unterzogen. Die weitreichenden Folgen dieser Rechtsprechung, die insbesondere im Sportbereich zu erheblichen finanziellen und organisatorischen Veränderungen geführt und weitere klärende Urteile ausgelöst haben,3 verstärken die Bedeutung eines überzeugenden Umgangs mit privaten Gefährdungen. Schließlich zeigt das Urteil Schmidberger4 als jüngstes Beispiel der Rechtsprechung des EuGH, in dem zu der Rechtmäßigkeit der privat organisierten Brennerblockaden Stellung genommen wurde, die Notwendigkeit, gerade auch den Mitgliedstaaten klarere Vorgaben für den Umgang mit privaten Beschränkungen der Grundfreiheiten an die Hand zu geben.

1 2 3 4

EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Französische Republik, Slg. 1997, S. I-6959. EuGH, Rs.C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921. Siehe unten S. 51 ff. EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694 ff.

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Einleitung

Behinderungen der Grundfreiheiten durch Private sind in vielfältiger Weise denkbar: Wenn der Inhaber einer Pizzeria nur Italiener einstellt, beeinträchtigt er damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit einer dänischen Bewerberin? Wenn für deutsche Autos mit dem Zusatz „Qualität aus Deutschland“ geworben wird, gefährdet dies bereits die Grundfreiheiten anderer europäischer Autohersteller? Darf eine holländische Unternehmerin nur Portugiesen einstellen, weil sie der Ansicht ist, diese arbeiten besonders effektiv? Oder anders herum, darf sie es ablehnen, Portugiesen anzustellen, weil sie einmal mit einem Portugiesen schlechte Erfahrungen gemacht hat? Die rechtliche Behandlung privater Gefährdungen der Grundfreiheiten wirft komplexe Probleme auf, die noch nicht hinreichend geklärt worden sind. Ausgangspunkt ist die Frage, ob private Störungshandlungen mit staatlichen Maßnahmen gleichgesetzt und am Maßstab der Grundfreiheiten überprüft werden sollen. Sind also Private in ihrem Handeln an die Grundfreiheiten gebunden? Die vorliegende Untersuchung will eine Antwort auf diese Frage geben. Dabei ist das grundsätzliche Verständnis der Grundfreiheiten von entscheidender Bedeutung. Es herrscht inzwischen die Auffassung vor, es bestünde eine „Konvergenz“ der Grundfreiheiten.5 Danach wären Funktion und Ziele der Grundfreiheiten einheitlich zu bestimmen. Eine solche Betrachtungsweise, welche in vielerlei Hinsicht angemessen sein mag, läuft jedoch gerade in dieser Frage, wie sich zeigen wird, Gefahr, fundamentale Unterschiede zwischen den Grundfreiheiten zu verdecken. Insofern soll hier gleichzeitig ein Beitrag zur allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten geleistet werden.

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten Für das Problem der Verpflichtung Privater aus den Grundfreiheiten wird in der Literatur eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe verwendet. So ist von der Horizontalwirkung der Grundfreiheiten die Rede,6 von ihrer individualverpflichtenden Wirkung7 oder ihrer unmittelbaren Wirkung.8 In der deutschen Literatur wird die Bindung Privater an die Grundfreiheiten in Anlehnung an das deutsche 5 So bereits im Titel Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, Europarecht 1992, S. 145 ff.; Eberhartiger, Konvergenz und Neustrukturierung der Grundfreiheiten, EWS 1997, S. 43 ff; Vgl. auch Jarass, EuR 1995, S. 202; Classen, EWS 1995, S. 97 ff.; Nettesheim, NVwZ 1996, 342 ff.; Baquero Cruz, ELR 1995, S. 603 (604); ebenso Kühling, NJW 1999, S. 403 (404); Fernández Martín, ELR 1996, S. 313 (322 ff.); Grundmann, JuS 2001, S. 946 (947); vgl. aber Mortelmans, CMRL 2001, S. 613 (617 f.), mit einer richtigen Einschränkung hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Personen und Waren. 6 Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 121. Im Englischen als „horizontal (direct or indirect) effect“ (siehe nur Kapteyn/Verloren van Themaat/Gormley, Introduction, S. 346 ff.), im Französischen als „applicabilité horizontale“ bezeichnet. Kritisch dazu Baquero Cruz, ELR 1999, S. 603 (604 f.).

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten

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Verfassungsrecht überwiegend als „Drittwirkung“9 bezeichnet. Gegen die Übernahme des Begriffs „Drittwirkung“ in die europäische Diskussion lassen sich jedoch ernsthafte Einwände anführen. Einige sind bereits im Rahmen der deutschen Diskussion aufgekommen, andere ergeben sich aus der Übertragung der deutschen Terminologie auf die europäische Rechtsordnung. 1. Allgemeine Ungenauigkeit der „Drittwirkungs“-Terminologie In der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik sind die Theorien von der „Drittwirkung der Grundrechte“ fester Bestandteil. Im Hinblick auf die hier allein interessierende Frage der Terminologie lässt sich der Stand der Diskussion wie folgt zusammenfassen: Der Begriff der „Drittwirkung“ wird heute in der deutschen Grundrechtsdogmatik als allgemeiner Begriff für das Problem der Wirkung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr verwendet. Er entwickelte sich als Reaktion auf einen grundlegenden Aufsatz von Hans C. Nipperdey, der annahm, dass es eine „absolute Wirkung gewisser Grundrechte“ gebe und daraus folgerte, dass auch Private diese zu beachten hätten.10 Günter Dürig wandte sich vehement gegen diese These Nipperdeys. Dabei verwendete Dürig den Ausdruck der „Drittrichtung“, um das Verhältnis der Grundrechte gegenüber Privaten – „Dritten“ – von ihrer ursprünglichen Stoßrichtung gegen den Staat abzugrenzen.11 Dürig vertrat dabei die Ansicht, die Grundrechte wirkten nur mittelbar in der Privatrechtsordnung, nicht aber unmittelbar als Maßstab privaten Handelns. Dieser Ansatz wurde im Folgenden als „mittelbare Drittwirkung“ bezeichnet.12 In Abgrenzung dazu wurde die These Nipperdeys „unmittelbare Drittwirkung“ genannt, ein Begriff, der von Nipperdey selbst vermieden wurde. Er sprach vielmehr von einer absoluten Wirkung der Grundrechte oder der Bindung Privater an die Grundrechte.13 Dies ist insofern konsequent, als der Begriff der „Drittwirkung“ bereits beinhaltet, dass die Wirkung der Grundrechte gegenüber Priva7 Im Englischen entspricht das der Formulierung „to impose obligations upon individuals“, so Quinn/MacGowan, ELR 12 (1997), S. 163 ff. Ähnlich Milner-Moore, Harv. JM WP 9/95. 8 Schaefer, Die unmittelbare Wirkung des Verbots nichttarifärer Handelshemmnisse (Artikel 30 EWG) zwischen Privaten, 1987. 9 So bereits im Titel bei Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, Berlin 2000; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997; Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, FS Schmidt, S. 29 ff.; Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Bd. 2, S. 1231 ff.; Steindorff, Drittwirkung der Grundfreiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS Lerche, S. 575 ff.; Burgi, Mitgliedstaatliche Garantenpflicht statt unmittelbarer Drittwirkung der Grundfreiheiten, EWS 1999, S. 327; U. Forsthoff, Drittwirkung der Grundfreiheiten: Das EuGH-Urteil Angonese, EWS 2000, S. 389; Körber, Innerstaatliche Anwendung und Drittwirkung der Grundfreiheiten?, EuR 2000, S. 932. 10 Grundrechte und Privatrecht, S. 15. 11 Dürig, FS Nawiasky, S. 157 (173). 12 Zuerst von H. P. Ipsen, Gleichheit, in: Die Grundrechte II, S. 111 (143).

20

Einleitung

ten als „Dritten“ besteht.14 „Dritte“ bedeutet jedoch, dass sie gerade keine Normadressaten sind. Voraussetzung für eine „Drittwirkung“ ist also, dass Normadressaten nur der Staat und seine Organe, nicht aber Private sind. Bei der so genannten „unmittelbaren Drittwirkung“ wird aber gerade behauptet, dass gewisse Grundrechte aufgrund ihrer absoluten Wirkung für alle bindend, also auch Private Adressaten der Norm seien. Der Begriff ist daher ein Widerspruch in sich,15 der nur als Abgrenzung zur mittelbaren Drittwirkung verständlich ist. Die damit einhergehende Ungenauigkeit hat sich in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik durch einen Wechsel der Terminologie nicht auflösen lassen. Im Folgenden wurde immer wieder versucht, den Begriff der „Drittwirkung“ zu vermeiden und von einer „Horizontalwirkung“ oder allgemeiner von der „Geltung“ der Grundrechte in der Privatrechtsordnung zu sprechen.16 Der Begriff der „Drittwirkung“ hat sich aber als Kurzformel derart eingebürgert, dass ein konsequenter Verzicht auf ihn in der deutschen Dogmatik nicht (mehr) realistisch ist. Gerade dies birgt aber ein weiteres Problem. Die erforderliche Genauigkeit in Bezug auf die unterschiedlichen Ebenen der Wirkungsweise der Grundrechte kann durch die Verwendung eines solchen Begriffs nicht geleistet werden.17 Der Versuch, die Vielschichtigkeit der Problematik durch die jeweiligen Zusätze „mittelbar“ und „unmittelbar“ zum Ausdruck zu bringen, ist dabei kaum ausreichend.18 2. Bedenken gegen die Übertragung der „Drittwirkungs“-Terminologie auf die europäische Ebene Auch bei der Untersuchung der Verpflichtungen Privater aus den Grundfreiheiten hat sich die „Drittwirkungs“-Terminologie in der deutschen Literatur bereits verfestigt. Keine Auseinandersetzung mit der Problematik verzichtet auf diesen prägnanten Begriff.19 Damit werden die oben angerissenen Ungenauig13 Insbesondere Nipperdey, Grundrechte, S. 15, anders aber Leisner, Grundrechte, S. 356 ff. 14 Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 173; deutlich auch Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (169 f.). 15 So auch Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HbStR V, § 117 Rz. 59. Ähnlich Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (169 f.). 16 Vgl. nur Saladin, Grundrechte, S. 307 ff., 310; Denninger, in: AK-GG, vor Art. 1 Rz. 31; die Diskussion zusammenfassend Stern, Staatsrecht Bd. III/1, § 76 I 2 mit umfangreichen Nachweisen. 17 So deutlich Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 I 2 (S. 1514). Kritisch auch LübbeWolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 159. 18 Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 3 Rz. 191, bezeichnet die Begriffe als „wenig geeignet“; Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rz. 100 nennt die Begriffswahl „unglücklich“; Badura, FS Molitor, S. 1 (3) nennt sie „konstruktivistisch mißdeutbare Ausdrücke“; Rüfner, in: HbdStR V, § 117 Rz. 58, spricht von einer „Verlegenheitslösung, die in der Sache nicht weiterhilft“.

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten

21

keiten und Probleme, die bereits im Hinblick auf die deutsche Grundrechtsdogmatik bestehen, fortgeführt. Darüber hinaus bestehen aber weitere Bedenken gegen eine Verwendung des Begriffs der „Drittwirkung“ im Europarecht. Mit der „Drittwirkungs“-Terminologie wird zugleich auch die deutsche Dogmatik auf die europäische Ebene übertragen. Der Begriff dient dort als Kürzel für eine sehr differenzierte Diskussion, die vor einem bestimmten historischen Hintergrund geführt wurde bzw. wird. Insbesondere die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung wird dabei stets mitgedacht.20 Die Übertragung der deutschen Terminologie birgt die Gefahr, dass eine spezifisch nationale Debatte auf die europäische Situation übertragen wird. Dabei können zum einen nationale Probleme, die auf europäischer Ebene nicht existieren, als Ballast mit getragen werden. Zum anderen können umgekehrt europäische Probleme übersehen werden.21 Eine solche Gefahr besteht insbesondere dann, wenn die Begrifflichkeiten, wie hier, als Kurzformel einer umfangreichen Diskussion fungieren. Dies spricht zwar nicht generell dagegen, auf nationale Dogmatik zurückzugreifen – es kann sich im Gegenteil als hilfreich und fruchtbar erweisen, dies zu tun. Allerdings muss es unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung geschehen. Der „Drittwirkungs“-Begriff erschwert eine solche differenzierte Vorgehensweise, so dass er sich für eine Beschreibung europäischer Phänomene nicht anbietet. 3. Bindung Privater als adäquate Problembeschreibung Im Rahmen dieser Untersuchung soll daher der Begriff der „Drittwirkung“ vermieden werden. Stattdessen wird von einer „Bindung Privater an die Grundfreiheiten“ oder allgemeiner von ihrer „Bindungswirkung“22 die Rede sein. Andere adäquate Beschreibungen des Problems sind die Frage nach den Adressaten der Normen oder den Verpflichtungen Privater aus den Grundfreiheiten. Damit wird deutlich, dass es ganz allgemein darauf ankommt, ob Private in ihrem Verhalten an die Verbote und Gebote der Grundfreiheiten gebunden sind, ob sich also für sie Verhaltensanforderungen aus den Grundfreiheiten ergeben. Es ist zu betonen, dass „Bindung“ nicht bereits einem Verbot der Handlung entspricht, 19

Siehe dazu die Nachweise in Fn. 9. Entsprechend wird auch bei den Grundfreiheiten von der unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung gesprochen. Vgl. nur Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, der bereits im Titel die Unterscheidung anspricht. Auch für Ganten, Drittwirkung, S. 26 ff., ist die Unterscheidung wesentlich. Ebenso Körber, EuR 2000, S. 932 (940 ff.); U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396 f.); Burgi, EWS 1999, S. 327 (318 ff.); Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (464 ff.). 21 Vgl. nur Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 121. Zu den Problemen einer Übertragung der deutschen Grundrechtsdogmatik auf die europäische Ebene auch Suermann, EuR 2003, S. 390 (392). 22 So auch Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 50 EGV Rz. 44. 20

22

Einleitung

sondern lediglich bedeutet, dass private Maßnahmen an den Maßstäben der betroffenen Grundfreiheit gemessen werden. Sie werden also wie staatliche Maßnahmen den Grundfreiheiten unterstellt. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs erlaubt aber ebenso die Möglichkeit einer Rechtfertigung der (privaten) Maßnahme.23 Eine Bindung Privater ist nur der erste Schritt in Richtung eines Verbots und nicht gleichzusetzen mit einem Verbot selbst, das erst nach Prüfung möglicher Rechtfertigungsgründe angenommen werden kann.

III. Weitere begriffliche Klärungen Nachfolgend sollen kurz weitere Begrifflichkeiten klargestellt werden, die wesentlich für die Untersuchung sind. 1. Private als Verpflichtete Zunächst ist zu klären, wer vorliegend unter den Begriff „Private“ gefasst wird. Die Bezeichnung „Private“ erfolgt in Abgrenzung zu Trägern hoheitlicher Gewalt. Dabei ist eine funktionale Bestimmung entscheidend.24 Nur wenn das Verhalten Privater nicht dem Staat zugerechnet wird, ist eine gesonderte Prüfung der Verpflichtung Privater aus den Grundfreiheiten überhaupt sinnvoll.25 Anderenfalls ergibt sich die Bindung bereits aus der Zuordnung zum Staat. Der EuGH hat – zum Teil sehr weitgehend – einen Einfluss des Staates auf Private, sei es durch die Einräumung gewisser Rechte26 sei es durch die finanzielle Unterstützung27, durch Benennung der Mitglieder der privaten juristischen 23 Zu den Problemen der Anwendung der Rechtfertigungsgründe des EG-Vertrags auf Private, siehe unten S. 48 ff. 24 Schindler, Kollision, S. 36. 25 Nicht gefolgt wird hier dem früher zum Teil vertretenen Ansatz, mit dem jegliches Verhalten Privater dem Staat zugerechnet wurde, um auf diese Weise das Problem der sog. Drittwirkung zu lösen. Vor allem Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung, S. 16 ff.; 62 ff.; 154 ff., hat in Bezug auf die deutschen Grundrechte angenommen, dass der Staat, der ein Privatrechtssystem zur Verfügung stellt und durchsetzt, bereits damit an Beeinträchtigungen von Grundrechten durch Maßnahmen Privater beteiligt sei. Denn wenn er private Eingriffe nicht verbiete, erlaube er sie. Daraus resultiere für den Beeinträchtigten eine Duldungspflicht, die als staatliche Beteiligung an der Störungshandlung gesehen werden müsse. Diese Beteiligung führe entsprechend zu einer Zurechnung der Beeinträchtigung zum Staat. Die bloße Tatsache, dass ein privates Handeln nicht verboten ist, kann jedoch nicht bereits zu einer Zurechenbarkeit der Handlung zum Staat führen (siehe dazu nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik, S. 36 f. m. w. N.). Eine andere Frage ist, ob bei Annahme einer Verpflichtung Privater aus den Grundfreiheiten den Staat – gleichzeitig – ebenfalls Verpflichtungen treffen (dazu näher unten S. 32 ff.). 26 EuGH, Rs. 222/82, Apple and Pear Development Council Slg. 1983, S. 4083; Verb. EuGH, Rs. 266 und 267/87, Royal Pharmaceutical Society, Slg. 1989, S. 1295; EuGH, Rs. 31/87 Beentjes/Niederländischer Staat, Slg. 1988, S. 4635 Rz. 11.

III. Weitere begriffliche Klärungen

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Person,28 oder durch die Schaffung einer (privaten) Vereinigung durch eine gesetzliche Grundlage,29 als Begründung dafür genommen, das Verhalten der so beeinflussten Privaten dem Staat zuzurechnen. Diese Fälle bleiben entsprechend bei der folgenden Untersuchung unberücksichtigt. Unter „Privaten“ werden nur diejenigen natürlichen und juristischen Personen verstanden, die nicht als Teil eines Mitgliedstaates anzusehen sind.30 2. Gemeinschaft – Union Ferner ist kurz zur Abgrenzung Gemeinschaft und Union und der vorliegenden Verwendung der Begriffe Stellung zu nehmen. In dieser Untersuchung geht es hauptsächlich um die Grundfreiheiten. Diese sind ausschließlich im EG-Vertrag angesiedelt, es handelt sich bei ihnen formal also um Gemeinschafts-, nicht um Unionsrecht. Dabei beruht diese Gegenüberstellung auf der Annahme einer Trennung zwischen Europäischer Gemeinschaft und Union. Diese Trennung wird vor allem seit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags angegriffen; stattdessen wird ein einheitliches organisatorisches Verständnis zugrunde gelegt. Danach seien die Gemeinschaften in der Union verschmolzen, so dass nunmehr von einer einzigen Organisation ausgegangen werden könne.31 Hier kann nicht im Einzelnen auf die Diskussion um das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Union eingegangen werden.32 Im Hinblick auf die Terminologie kann es nur um die Frage gehen, ob übergreifend von Unionsrecht gesprochen oder ob weiterhin zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht unterschieden werden soll. Eine einheitliche Terminologie entspräche der Tatsache, dass in vielfacher Hinsicht der Unionsvertrag auch Auswirkungen auf das Gemeinschaftsrecht hat. Gerade die in Artikel 2 EU normierten Ziele sind dabei von Bedeutung.33 Für die Grundfreiheiten relevant ist ferner, wie sich herausstellen wird, vor allem Artikel 6 EU.34 Zwar hat Artikel 6 EU weitgehend deklaratorische Wirkung,35 dennoch führt er zu einer Verstärkung der bereits vorhandenen Werteordnung.36 Insofern 27 EuGH, Rs. 249/81, Kommission/Irland („Buy Irish“) Slg. 1982, S. 4005 Rz. 23 ff; EuGH, Rs. 31/87 Beentjes/Niederländischer Staat, Slg. 1988, S. 4635 Rz. 11. 28 EuGH, Rs. 67, 68 u. 70/85, Van de Kooy/Niederländischer Staat, Slg. 1988, S. 219 Rz. 36 f.; EuGH, Rs. 31/87 Beentjes/Niederländischer Staat, Slg. 1988, S. 4635 Rz. 11. 29 EuGH, Rs. C-325/00, Kommission/Deutschland („CMA“), EWS 2002, Rz. 17. 30 So auch Ganten, Drittwirkung, S. 29. 31 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 41. 32 Einen Überblick über die verschiedenen Aspekte und Positionen bieten von Bogdandy/Ehlermann (Hrsg.), Konsolidierung und Kohärenz des Primärrechts nach Amsterdam, EuR Beiheft 2/1998. 33 Koenig, EuR Beiheft 2/1998, S. 139 (142). 34 So auch von Bogdandy, EuR Beiheft 2/1998, S. 165 (170). 35 Siehe Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 46 EU Rz. 7. 36 Siehe dazu unten S. 137 ff.

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Einleitung

lässt sich die Einwirkung des EU-Vertrags in diesen Bereich nicht durch den Hinweis auf seine nur klarstellende Funktion leugnen. Damit spielt auch im ureigenen Bereich der Gemeinschaft – dem Binnenmarkt – das Recht der Union hinein. Trotz der Vielfalt an Verflechtungen zwischen Gemeinschaft und Union und dem jeweiligen Recht wurde ihre Trennung allerdings teilweise aufrechterhalten.37 Für die hier interessierenden Fragen einer Systematik der Grundfreiheiten kommt es ferner auf die Methodik des EuGH an, die nicht zwingend in derselben Weise für den gesamten EU-Vertrag gelten kann.38 Schwerer wiegt für die Frage der Begriffswahl allerdings ein anderer, eher praktischer Aspekt: Eine terminologische Einheit durch den alleinigen Gebrauch des Begriffs „Unionsrecht“ führt leicht zu Problemen der Zuordnung der jeweiligen Normen. Während durch die Begriffe „Gemeinschaftsrecht“ und „Unionsrecht“ klargestellt ist, ob es sich um Vorschriften aus dem EG- oder dem EU-Vertrag handelt, geht diese leichte Zuordnungsmöglichkeit durch einen einheitlichen Begriff verloren. Daher sollen die Begriffe Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht für die nachfolgende Untersuchung beibehalten werden.

IV. Gang der Untersuchung In einem ersten Kapitel wird die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten dargestellt und systematisiert sowie die Rezeption der Rechtsprechung durch die Literatur untersucht werden. Daran schließt sich ein Überblick über von Autoren vorgeschlagene Konzepte zum Umgang mit privaten Gefährdungshandlungen an. Um die Bindungswirkung der Grundfreiheiten zu klären, werden zunächst in einem 2. Kapitel Vorüberlegungen zur europarechtlichen (Auslegungs-)Methodik angestellt, wobei versucht werden soll, diese auch im Hinblick auf ihre Legitimation zu untermauern. Im 3. Kapitel erfolgt dann auf dieser methodischen Grundlage eine Annäherung an die Bindungswirkung der Grundfreiheiten unter Berücksichtigung der bisher in Rechtsprechung und Literatur verwandten Argumentationen. Die sich im 4. Kapitel anschließende Untersuchung des Individualschutzes wird zeigen, dass dieser als gemeinschaftsrechtliches Ziel anzuerkennen ist und das Verständnis der Bindungswirkung der Grundfreiheiten entscheidend prägt. Abschließend wird in Kapitel 5 auf der Grundlage des herausgearbeiteten Verständnisses am Beispiel relevanter Fallgruppen eine Systematik einer differenzierten Bindungswirkung der Grundfreiheiten entwickelt, die zugleich eine Bewertung der Rechtsprechung ermöglicht. 37 So auch Everling, EuR Beiheft 2/1998, S. 185 (193); Koenig, EuR Beiheft 2/ 1998, S. 139 (141). 38 Der eher völkerrechtliche Charakter der zweiten und dritten Säule legt es nahe, auch bei der Auslegung eher auf völkerrechtliche Methoden zurückzugreifen, die sich teilweise von den Methoden des EuGH unterscheiden. Siehe dazu unten S. 71 ff.

Kapitel 1

Bindung Privater an die Grundfreiheiten – Bestandsaufnahme Der Gerichtshof hatte sich bisher mit einer Reihe unterschiedlicher Konstellationen zu beschäftigen, in denen die Frage nach einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten relevant wurde. Dabei ging er nicht in einer einheitlichen Weise mit den privaten Störungen um. Die Rechtsprechung ist vielmehr durch Differenzierungen in mehrfacher Hinsicht geprägt. Zunächst wird ein Überblick über diese Rechtsprechung gegeben (I.). Sodann soll diese Rechtsprechung im Hinblick auf die Differenzierungen analysiert und systematisiert werden (II.). Die Reaktionen in der Literatur und die dabei vorgeschlagenen Lösungen zum Problem privater Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten werden im Anschluss (III.) vorgestellt.

I. Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten Bei einer Betrachtung der Entscheidungen des EuGH zur Frage der Bindung Privater an die Grundfreiheiten lässt sich eine deutliche Unterscheidung zwischen der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit und der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit ausmachen. Dieser Unterscheidung, die noch näher zu erörtern sein wird, soll auch die nachstehende Darstellung folgen. Zur Kapitalfreiheit aus Artikel 56 EG ist bisher keine Entscheidung im Hinblick auf ihre Wirkung für Private ergangen. Dies mag vor allem daran liegen, dass aufgrund der notwendigen Durchführungsmaßnahmen eine unmittelbare Wirkung zunächst nicht in Betracht kam,39 so dass Private bereits gegen den Staat keine Rechte unmittelbar aus der Norm geltend machen konnten. Zur Begründung stützte der EuGH sich auf das Fehlen einer einforderbaren Verpflichtung seitens der Mitgliedstaaten, die in der Formulierung in Artikel 71 Abs.1 a. F. EWGV „werden bestrebt sein“ zum Ausdruck kam.40 Mit der Aufhebung der Artikel 67–73 a. F. EWGV seit dem 1.1.1994 ist dies anders zu beurteilen.41 39 Dazu EuGH, Rs. 203/80 Strafverfahren gegen Guerrino Casati, Slg. 1981, 2595. Ebenso Kiemel, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl., Artikel 67 bis 73 Rz. 3; Hahn/Follak, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, F.II Rz. 5 (Stand 2001).

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

Nimmt man nun richtigerweise eine unmittelbare Wirkung des Artikels 56 EG an, wird auch eine Bindung Privater an die Kapitalfreiheit zu diskutieren sein. Soweit sich Autoren bislang zu der Frage der Bindung Privater an die Kapitalfreiheit geäußert haben, haben sie diese entweder mit den übrigen Grundfreiheiten gleichgesetzt42 oder von ihrer Untersuchung ausgenommen.43 Eine Gleichsetzung kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn man die Bindungswirkung der Grundfreiheiten einheitlich beurteilt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, besteht eine solche Einheitlichkeit aber nicht. Wie die Frage der Bindung Privater an die Kapitalfreiheit zu beurteilen ist, kann daher erst nach einer eingehenden Analyse der übrigen Grundfreiheiten geklärt werden. Aus diesem Grund wird sie zunächst nicht weiter behandelt. Erst im Rahmen einer Systematisierung der Grundfreiheiten wird zur Bindungswirkung der Kapitalfreiheit Stellung genommen.44 1. Die Rechtsprechung zu Artikel 28 EG Die Warenverkehrsfreiheit hat in Artikel 28 EG ihre Grundlage. Dort ist das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung normiert. Zentral für die Frage ihrer Bindungswirkung sind dabei folgende Entscheidungen: a) Die Entscheidung Dansk Supermarked 45 Im Fall Dansk Supermarked hatte ein dänisches Unternehmen, Imerco, in Großbritannien anlässlich seines Firmenjubiläums spezielle Steingutservices bestellt. Da Imerco die Services nur an seine eigenen Aktionäre verkaufen wollte, war es mit dem britischen Hersteller übereingekommen, dass alle Services, die es selbst wegen Qualitätsmängeln aussortieren würde, zwar vom Hersteller verkauft werden könnten, jedoch nicht in skandinavischen Ländern. Trotz dieser Vereinbarung zwischen Imerco und dem britischen Hersteller gelang es Dansk Supermarked, einem ebenfalls dänischen Unternehmen, einige der aussortierten 40 EuGH, Rs. 203/80 Strafverfahren gegen Guerrino Casati, Slg. 1981, S. 2595 Rz. 19. 41 So Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 30, Fn. 62; Weber, EuZW 1992, S. 561, 562; Streinz, Europarecht, Rz. 705. Vgl. auch Klauer, Europäisierung des Privatrechts, S. 23, Fn. 23. 42 So Jaensch, Drittwirkung, der die Kapitalfreiheit bei seiner Untersuchung prüft, v. a. S. 92, 104, 110, 129, 133, 260 und in seinen Ergebnissen wie die anderen Freiheiten behandelt. 43 Ganten, Drittwirkung, S. 22, hält dies „wegen verschiedener Eigenarten“ für richtig. 44 Siehe unten S. 192 ff. 45 EuGH, Rs. 58/80, Dansk Supermarked A/S gegen A/S Imerco, Slg. 1981, S. 181.

I. Die Rechtsprechung des EuGH

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Services zu kaufen, die es dann in Dänemark in seinen Supermärkten weiterverkaufte. Imerco beantragte und erhielt auf der Grundlage des dänischen Gesetzes über die Vermarktung von Waren46 eine einstweilige Verfügung, die es Dansk untersagte, den Verkauf fortzusetzen. Gegen diese Entscheidung legte Dansk Berufung ein, wozu es sich insbesondere auf Artikel 28 und 81 EG stützte.47 Diese europäischen Vorschriften würden verbieten, so Dansk, dass dänisches Recht ein Verbot von Parallelimporten begründe. Das nationale Gericht legte daraufhin gemäß Artikel 234 EG dem EuGH die Frage vor, ob die Vorschriften des EG-Vertrags tatsächlich eine entsprechende Anwendung der dänischen Gesetze ausschlösse. Der EuGH bejahte dies, mit der Folge, dass damit der Rechtsstreit zwischen den privaten Parteien Imerco und Dansk entschieden war. In seiner Entscheidung führte er aus: „Überdies ist darauf hinzuweisen, dass Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Vorschriften des Vertrages über den freien Warenverkehr abweichen dürfen.“48

Damit schien das Gericht sich ausdrücklich für eine Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit auszusprechen. Diese Aussage ist in der Literatur auch überwiegend so verstanden worden.49 Jedoch muss man zur richtigen Einordnung der Aussage des Gerichtshofs den Sachverhalt genauer betrachten. Die Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit erfolgte in Dansk nicht durch eine private Maßnahme, denn Imerco hatte nicht durch eine eigene Handlung den Verkauf verhindert. Die Anrufung des Gerichts stellt in diesem Sinne keine Störungshandlung dar, sie aktiviert lediglich die vom Staat vorgegebene rechtliche Situation.50 Anders wäre dies, wenn Imerco mit Dansk einen Vertrag abgeschlossen hätte, der den Verkauf verböte, denn dann hätte die Anrufung des Gerichts der Durchsetzung einer privat vorgenom46

Gesetz Nr. 297 vom 14.7.1974. Daneben berief sie sich auf die VO Nr. 67/67 der Kommission, auf die es hier nicht ankommt. 48 EuGH, Rs. 58/80, Dansk Supermarked, Slg. 1981, S. 181 Rz. 17. 49 Ganten, S. 35 m.w.N; E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 282; ders., FS Lerche, S. 578; Waelbroeck, LA Pescatore, S. 781 (785); Moench, NJW 1982, S. 2689 (2690); Hauschka, DB 1990, S. 873 ff.; Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 128; interessanterweise nimmt zwar Bleckmann, Europarecht, S. 269 an, dass die Rechtsprechung des EuGH eine unmittelbare Drittwirkung von Artikel 28 EG befürwortet, er vermeidet jedoch einen Hinweis auf Dansk Supermarked. 50 Ebenso Jaensch, Drittwirkung, S. 56 ff. m. w. N. auf S. 46, Fn. 77; Fabis, Freizügigkeit, S. 119, Fn. 87; Oliver, Free Movement of Goods, S. 45; Müller-Graff, in Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 28 EG Rz. 303; Grabitz, FS Ipsen, S. 645 (657 ff.); Ullrich/Konrad, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, C III Rz. 2; Füller, Warenverkehrsfreiheit, S. 35; Leible, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 28 EGV Rz. 6; Joliet, GRUR Int. 1989, S. 177 (178); Ullrich, GRUR Int. 1975, S. 291 (296); Schödermeier, GRUR Int. 1987, S. 85 (87); Daniele, RMC 1984, S. 477 (478 f.); a. A. Steindorff, FS Lerche, S. 575 (581 f.). 47

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

menen Behinderung des Warenverkehrs gedient. Hier existierte eine solche private Vereinbarung zwar, sie war aber zwischen Imerco und dem britischen Servicehersteller geschlossen. Für Dansk konnte die Vereinbarung selbst daher keine Behinderung darstellen, behindernd war allein die Verfügung des Gerichts, die auf der Grundlage des dänischen Rechts, nicht auf der Grundlage der privaten Vereinbarung getroffen wurde.51 Konsequenterweise hatte das nationale Gericht um eine Auslegung von Artikel 28 EG im Hinblick auf nationales Recht gebeten. Insofern ist auch der Nachsatz des Gerichtshofs ausschlaggebend: „Daraus folgt, dass eine Vereinbarung, mit der die Einfuhr einer Ware in einen Mitgliedstaat verboten wird, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden ist, nicht geltend gemacht oder berücksichtigt werden kann, um den Absatz dieser Ware als eine unzulässige oder unlautere Handelspraxis zu qualifizieren.“52

Damit stellt der EuGH nichts anderes fest, als dass nationales (Privat-)Recht nicht so ausgelegt oder angewendet werden darf, dass es ein Verbot von Parallelimporten aufstellt. Dies ist auch dann unzulässig, wenn anhand des Verbotes private Vereinbarungen beurteilt werden. Die Überprüfbarkeit des Zivilrechts an der Warenverkehrsfreiheit ist von der Frage der Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit aber zu trennen. Trotz der missverständlichen Aussage des Gerichtshofs ist in Dansk keine Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit angenommen worden. Die nachfolgenden Urteile sind daher nicht als Widerspruch zu Dansk zu sehen. Selbst wenn man Dansk allerdings – entgegen der obigen Erörterungen – als Fall einer Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit begreift, so wird durch die nachfolgenden Entscheidungen des Gerichtshofs klar, dass eine solche Linie wieder aufgegeben wurde.

51 Diese Unterscheidung zwischen privater und staatlicher Beeinträchtigung entspricht der gefestigten Rechtsprechung des EuGH zu den Immaterialgüterrechten. Dabei geht es um die Möglichkeit, sich gegen die Einfuhr von Waren zur Wehr zu setzen, die dem gewerblichen Schutzrecht des Klägers unterfallen. Das private Handeln, das eine Einfuhr verhindern und damit den freien Warenverkehr beeinträchtigen könnte, ist allein die Anrufung des Gerichts mit dem Antrag, wegen des bestehenden Schutzrechts die Einfuhr zu verbieten. Der Kläger beruft sich damit nur auf ein von staatlicher Seite gewährleistetes Recht, das durch staatliche Organe durchgesetzt werden soll. Allein die Anrufung des Gerichts kann aber nicht aus der staatlichen Grundlage der Beeinträchtigung eine private machen. Vgl. nur EuGH, Rs. 78/70, Deutsche Grammophon/Metro, Slg. 1971, S. 487 Rz. 12 f.; deutlicher bereits in EuGH, Rs. 55 u. 57/80, Membran/ GEMA, Slg. 1981, S. 147 Rz. 18; EuGH, Rs. C-76/90, Säger/Dennemeyer, Slg. 1991, S. I-4221 Rz. 21; EuGH, Rs. C-10/89, SA CNL-SUCAL NV/HAG GF AG, Slg. 1990, I-3711 Rz. 9 ff. Weitere Nachweise bei Jaensch, Drittwirkung, S. 46 ff. 52 EuGH, Rs. 58/80, Dansk Supermarked, Slg. 1981, S. 181 Rz. 17.

I. Die Rechtsprechung des EuGH

29

b) Die Entscheidung van de Haar 53 In van de Haar wurde der EuGH mit der Auslegung von Artikel 28 EG und seiner Abgrenzung zur kartellrechtlichen Vorschrift des Artikels 81 EG54 befasst. Es ging dabei um die Vereinbarkeit des niederländischen Gesetzes über die Verbrauchssteuer auf Tabakerzeugnisse mit Artikel 28 EG bzw. 81 EG. Die Gesellschaft Kaveka und ihr Geschäftsführer Jan van de Haar waren angeklagt, gegen dieses Gesetz verstoßen zu haben, weil sie Tabak an nichtautorisierte Personen zu einem niedrigeren Preis verkauften, als durch dieses Gesetz erlaubt war. Sie verteidigten sich mit der Behauptung, das Gesetz dürfe wegen Unvereinbarkeit mit Artikel 28 EG und 81 EG ohnehin keinen Bestand haben. In der Entscheidung ging es unter anderem um das Verhältnis zwischen diesen beiden europarechtlichen Normen. Das Gericht führte dazu aus: „Artikel 85 EWG-Vertrag [81 EG]55 gehört zu den Wettbewerbsregeln, deren Adressaten die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind und die einen wirksamen Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes aufrechterhalten wollen. (. . .) Artikel 30 [28 EG] gehört demgegenüber zu den Regeln, die den freien Warenverkehr gewährleisten und die nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten beseitigen sollen, die geeignet sind, diesen Verkehr in irgendeiner Weise zu behindern (. . .).“56

Damit war eine klare Trennung aufgebaut zwischen dem Anwendungsbereich des Artikels 81 EG, der sich an Private (Unternehmen) richtet, und dem des Artikels 28 EG, der nur „Maßnahmen der Mitgliedstaaten“ betrifft. Dem EuGH genügte als einziges Abgrenzungskriterium zwischen diesen Normen der Adressatenkreis. Im Umkehrschluss heißt dies, dass Artikel 28 EG auf private Maßnahmen keine Anwendung findet. Obgleich es in dem Fall nicht um eine unmittelbare Anwendung der Warenverkehrsfreiheit auf private Regelungen ging, wurde, wie die nachfolgenden Entscheidungen zeigen, bereits hier die Grundlage einer ständigen Rechtsprechung gelegt. c) Die Entscheidung Vlaamse Reisebureaus 57 In Vlaamse Reisebureaus ging es um Provisionen, die Reiseveranstalter an Reisevermittler zahlen. Nach belgischem Recht war die Weitergabe solcher Pro53

EuGH, Rs. 177 u. 178/82, van de Haar, Slg. 1984, S. 1797. Artikel 81 EG legt ein Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen für Unternehmen fest. 55 Die Nummerierung der Artikel in Zitaten wurde unverändert übernommen. Zum besseren Verständnis ist die Nummerierung, die seit dem Amsterdamer Vertrag gültig ist, in Klammern eingefügt. 56 EuGH, Rs. 177 u. 178/82, van de Haar, Slg. 1984, S. 1797 Rz. 11 und 12. 54

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

visionen an die Kunden der Vermittler aus Gründen des Wettbewerbs untersagt. Dieses Verbot war ferner in den Regeln der Berufsverbände der Reisebüros sowie in den Rahmenvereinbarungen zwischen Reisevermittlern und den Veranstaltern von Charterflügen festgelegt. In einem Rechtsstreit um eine dennoch erfolgte Weitergabe von Provisionen bat das nationale Gericht den EuGH unter anderem um Klärung der Frage, ob „[. . .] die Bestimmungen des innerstaatlichen belgischen Rechts und die möglicherweise in Anwendung dieser Bestimmungen getroffenen Vereinbarungen mit den Artikeln 30 [28 EG] und 34 [29 EG] EWG-Vertrag vereinbar [sind].“58 Der EuGH differenzierte in seiner Antwort: „Da sich Artikel 30 [28 EG] und 34 [29 EG] EWG-Vertrag nur auf staatliche Maßnahmen und nicht auf Verhaltensweisen von Unternehmen beziehen, ist nur zu prüfen, ob nationale Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit diesen Artikeln vereinbar sind.“59

Damit wurde die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit auf private Vereinbarungen deutlich abgelehnt: Einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit an Artikel 28 EG unterliegen nur staatliche Maßnahmen, nicht solche privaten Ursprungs. Die Deutlichkeit, mit der das Gericht hier die Anwendung des Artikels 28 EG auf private Vereinbarungen ablehnt, überrascht insofern, als es ohne Schwierigkeiten dieser Frage insgesamt hätte aus dem Weg gehen können. Generalanwalt Lenz hatte in seinen Schlussanträgen festgestellt, dass nicht die Warenverkehrs-, sondern die Dienstleistungsfreiheit betroffen sei.60 Auf diese Weise hatte er eine Aussage zur Anwendbarkeit des Artikels 28 EG auf private Vereinbarungen vermieden. Der EuGH war der Annahme des Generalanwaltes, dass Artikel 28 EG nicht betroffen sei, sogar gefolgt. Dennoch hatte er die oben zitierte Feststellung getroffen, dass nur staatliches Recht daran zu überprüfen sei. d) Die Entscheidung Bayer/Süllhofer 61 Im Fall Bayer/Süllhofer bestätigte der EuGH diese Haltung. Dort ging es um eine Nichtangriffsabrede und deren Vereinbarkeit mit Artikel 28 EG. Die Parteien hatten einen Vertrag geschlossen, in dem sich die Beklagten verpflichteten, Angriffe auf bestimmte gewerbliche Schutzrechte des Klägers zu unterlassen. Bei einer Überprüfung des Vertrags legte das nationale Gericht dem EuGH die Frage vor, ob die Nichtangriffsklausel mit Artikel 28 EG und Artikel 81 EG 57 58 59 60 61

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

Rs. Rs. Rs. Rs. Rs.

311/85, Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. 311/85, Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. 311/85, Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. 311/85, Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. 65/86, Bayer/Süllhofer, Slg. 1988, S. 5249.

3801. 3801, 3805. 3801 Rz. 30. 3801l, 3820 Rz. 66 ff.

I. Die Rechtsprechung des EuGH

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vereinbar sei. Generalanwalt Darmon lehnte die Anwendung des Artikels 28 EG auf die streitige Klausel aus verschiedenen Gründen ab. Sein Hauptargument dabei war, dass „sie, da es sich um einen Privatvertrag handelt, nicht mit einer ausdrücklich durch Artikel 30 EWG-Vertrag [28 EG] erfassten staatlichen Maßnahme gleichgesetzt werden [könne].“62 Das Gericht griff allein dieses Argument auf und stellte, wie bereits in van de Haar, Artikel 28 EG und 81 EG gegenüber: „Im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Klausel [. . .] mit den Artikeln 30 ff. EWGVertrag [28 ff. EG] ist darauf hinzuweisen, dass diese Artikel zu den Vorschriften gehören, durch die der freie Warenverkehr gesichert werden soll und durch die zu diesem Zweck die Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die den freien Warenverkehr in irgendeiner Weise behindern können, beseitigt werden sollen. Dagegen gelten für Vereinbarungen zwischen Unternehmen die durch Artikel 85 ff. EWG-Vertrag [81 ff. EG] aufgestellten Wettbewerbsregeln, die die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken.“63

Der Gerichtshof grenzte diesen Fall sogar ausdrücklich von dem Fall ab, in dem Artikel 28 EG anwendbar gewesen wäre: Artikel 28 EG wäre demnach anwendbar, wenn es um die Anwendung einer nationalen, also einer staatlichen Regelung über die Ausübung eines gewerblichen Schutzrechts ginge.64 Damit wird erneut deutlich, dass der EuGH nach dem Urheber einer Maßnahme differenziert und nicht allein auf ihre Wirkung abstellt. e) Die Entscheidung Kommission/Französische Republik 65 Eine andere Perspektive erlangt die Frage nach der Bindung Privater an Artikel 28 EG dann allerdings im Fall Kommission/Frankreich. Privatpersonen und Protestbewegungen französischer Landwirte hatten mehr als zehn Jahre lang die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gewaltsam gestört oder sogar verhindert. Die Kommission forderte daraufhin mehrfach die französische Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um dieses Verhalten Privater zu unterbinden. Als keine nennenswerte Verbesserung der Situation eintrat, leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Französische Republik ein, mit der Begründung, diese verletze ihre Pflichten aus Artikel 10 EG in Verbindung mit Artikel 28 EG. In seiner Entscheidung betonte der Gerichtshof zunächst die Bedeutung der Warenverkehrsfreiheit und führte dann aus, dass Artikel 28 EG nicht nur eigene Handlungen des Staates erfasse, sondern auch dann Anwendung finden könne, „wenn ein Mitgliedstaat keine Maß62 63 64 65

EuGH, Rs. 65/86, Bayer/Süllhofer, Slg. 1988, S. 5249, Rz. 4. Ebenda, Rz. 11. Ebenda, Rz. 12. Vgl. dazu auch Jaensch, S. 45 ff. EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Französische Republik, Slg. 1997, S. I-6959.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

nahmen ergriffen hat, um gegen Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs einzuschreiten, deren Ursachen nicht auf den Staat zurückzuführen sind.“66 Denn der Handelsverkehr könne ebenso durch diese Untätigkeit des Mitgliedstaates gestört werden, wenn dadurch Handlungen von Privatpersonen, die sich gegen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten richteten, nicht verhindert würden. Dies bedeutete nach Ansicht des Gerichtshofs, dass: „Artikel 30 [28 EG] verbietet den Mitgliedstaaten somit nicht nur eigene Handlungen und Verhaltensweisen, die zu einem Handelshemmnis führen könnten, sondern verpflichtet sie in Verbindung mit Artikel 5 EG-Vertrag [10 EG] auch dazu, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung der Grundfreiheit sicherzustellen.“67

Dabei stehe den Mitgliedstaaten grundsätzlich ein Ermessen zu, welche Maßnahmen sie in einer bestimmten Situation für geeignet hielten, derartige private Beeinträchtigungen zu unterbinden.68 Der Gerichtshof sei aber berechtigt, unter Berücksichtigung dieses Ermessens zu prüfen, ob denn tatsächlich geeignete Maßnahmen seitens des Mitgliedstaates ergriffen worden seien.69 Nach Ansicht des EuGH hatte sich die französische Regierung geweigert, ausreichende und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die privaten Störungen zu unterbinden, so dass die Französische Republik damit gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 28 EG i.V. m. Artikel 10 EG verstoßen hatte. aa) Schutzpflichttheorie Damit ergibt sich ein neuer Ansatz für den Umgang mit Handlungen Privater, die die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigen. Dies ist in der deutschen Literatur in Anlehnung an neuere Grundrechtsdogmatik auch als Schutzpflichttheorie bezeichnet worden.70 Im Grundsatz stellt sich dasselbe Problem wie in den bisher behandelten Fällen: Privatpersonen bzw. private Organisationen behindern die Warenverkehrsfreiheit anderer Privater. Statt nun aber gegen die privaten Störer vorzugehen, wird der Mitgliedstaat, aus dem die Störer stammen bzw. auf dessen Gebiet sie operieren, zur Verantwortung gezogen, allerdings nicht wegen eigenen aktiven Tuns, sondern wegen Unterlassens.71 Eine Verantwortung des Staates war bisher nur bei solchen Handlungen Privater angenommen 66 EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Französische Republik, Slg. 1997, S. I-6959 Rz. 30. 67 Ebenda, Rz. 32. 68 Ebenda, Rz. 33. 69 Ebenda, Rz. 35. 70 U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396); Burgi, EWS 1999, S. 327 (329 f.); Meurer, EWS 1998, S. 196; Szczekalla, DVBl. 1998, S. 219 ff.; Schärf, EuZW 1998, S. 617 ff. 71 Dazu ausführlich Schindler, Kollision, S. 31 ff.

I. Die Rechtsprechung des EuGH

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worden, die man im weitesten Sinne dem Staat auch zurechnen konnte, es musste also eine irgendwie geartete Beteiligung des Staates an den Handlungen selbst vorliegen.72 Daran fehlte es hier: Die französischen Bauern handelten vollkommen autonom, ohne eine Beteiligung oder einen Einfluss des französischen Staates.73 Um dennoch eine staatliche Verantwortung annehmen zu können, entwickelte der Gerichtshof eine eigenständige Verpflichtung des Mitgliedstaates aus Artikel 28 i.V. m. Artikel 10 EG, grundfreiheitsbehinderndes Verhalten Privater zu unterbinden. Die so genannte Schutzpflicht bedeutet folglich, dass den Mitgliedstaat die Verpflichtung trifft, die Warenverkehrsfreiheit auch vor Beeinträchtigungen zu schützen, die nicht staatlichen, sondern privaten Ursprungs sind.74 Damit wird auch das Verhältnis zwischen Privaten vom Schutzbereich des Artikels 28 EG umfasst. Artikel 28 EG gewährleistet demnach die Freiheit, ungehindert – auch von Beeinträchtigungen Privater – Waren grenzüberschreitend zu handeln. Die Schutzpflicht betrifft dabei die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Staat eingreifen muss, um entsprechende Handlungsvorgaben für (potentielle) private Störer zu statuieren bzw. durchzusetzen. Die unbedingte Pflicht des Mitgliedstaates, privaten Behinderungen der Warenverkehrsfreiheit entgegen zu treten, beinhaltet im Ergebnis zugleich eine inhaltliche Verpflichtung Privater aus Artikel 28 EG.75 Sie setzt voraus, dass die Grundfreiheiten im Verhältnis zwischen Privaten zwar keine Abwehrrechte entwickeln, aber „einen Maßstab für die Beurteilung dieses Rechtsverhältnisses bilden.“76 Oder andersherum formuliert: Eine Pflicht des Mitgliedstaates, Behinderungen durch Private zu unterbinden, bedeutet, dass diese Behinderungen der Privaten auch unterbleiben müssen, d.h. europarechtlich unzulässig sind.77 Die Schutzpflichttheorie 72

Siehe oben S. 22 f. Frankreich hatte keinerlei strukturelle, personelle oder finanzielle Steuerungsmöglichkeiten auf die Bauern. Zu diesen Kriterien oben S. 22 f. 74 Einige Autoren sehen im Schutz vor menschlichen Störungen den einzigen Fall staatlicher Schutzpflicht, Isensee, HbStR V, § 111 Rz. 112; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 231 f. Überzeugender ist es aber, diesen nur als den Hauptanwendungsfall anzusehen, vgl. Kleindiek, Wissenschaft, S. 225; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124; Stern, Staatsrecht III/1, § 67 V 2 (S. 733, 735). Denn andere Störungen sind denkbar, so beispielsweise Naturgewalten. Mit Nachweisen zu weiteren Differenzierungen Floren, Grundrechtsdogmatik, S. 38 Fn. 166. Unstreitig ist jedenfalls, dass menschliche Störungen Schutzpflichten auslösen können. 75 Ganten, Drittwirkung, S. 71; Schindler, Kollision, S. 171 ff. In Bezug auf die deutschen Grundrechte ähnlich Klein, NJW 1989, S. 1633 (1939 f.). 76 So Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (939), für die deutschen Grundrechte. 77 Eine parallele Überlegung findet sich in der Diskussion um die Thesen von Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung, 1971. Dieser hielt das Problem einer Drittwirkung der Grundrechte für ein Scheinproblem, da im Prozess ein Gericht zu entscheiden habe und dies unmittelbar an die Grundrechte gebunden sei. Zu Recht wurde ihm entgegengehalten, „das Gericht hat Grundrechte zu beachten, soweit sie gelten, nicht etwa gelten sie, weil ein Gericht entscheidet“ (Doehring, Staatsrecht, S. 209). Die inhaltli73

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hängt damit untrennbar mit der sog. (mittelbaren) Drittwirkung zusammen,78 ihre Verbindung ist „sachlich zwingend“.79 Beide behandeln im Kern dasselbe Problem, nämlich die Frage nach einer, wie auch immer durchzusetzenden Verpflichtung Privater, die Rechte und Freiheiten anderer zu beachten. Sie sind verschiedene Aspekte dieses Problems, der Unterschied zwischen ihnen ist lediglich eine Frage der Perspektive.80 Dies lässt sich anschaulich an dem von Robert Alexy entwickelten „Drei-Ebenen-Modell“81 zeigen: Auf das europäische System übertragen, bedeutet dieses Modell, dass die Grundfreiheiten ihre Wirkung auf drei Ebenen entfalten: Die erste Ebene betrifft die Pflichten des Mitgliedstaates, die Grundfreiheiten zu beachten und zu schützen.82 Auf der zweiten Ebene spielt sich das Verhältnis der Privaten zum Mitgliedstaat, also die Feststellung ihrer Rechte gegenüber dem Staat, ab. Dies ist auf der Seite des Opfers der Beeinträchtigung eine Schutzpflicht, auf der Seite des Störers ein eventueller Abwehranspruch gegen ein Verbot seines (störenden) Verhaltens.83 Die dritte Ebene schließlich bestimmt die rechtlichen Relationen zwischen den Privaten. Hier findet die tatsächliche Beeinträchtigung statt, die den „Ursprung des Konflikts“84 zwischen den Rechten und Freiheiten der beteiligten Privatpersonen bildet. Auf dieser Ebene wird entsprechend auch die Auflösung des Konflikts umgesetzt.85 Entscheidend dafür ist, welche Auswirkungen die Grundfreiheiten für das Verhältnis der Privaten haben sollen,86 welche Verpflichtungen Privaten also aus den Grundfreiheiten erwachche Geltung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten zueinander ist folglich Voraussetzung für ihre Beachtung durch den Staat. 78 In Bezug auf die Entscheidung Kommission/Frankreich ausdrücklich Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (20); Kadelbach/Petersen, EUGRZ 2002, S. 213 (218); zweifelnd Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (43). Für die deutsche Grundrechtsdogmatik Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 38 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 183; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 263; Isensee, HbdStR V, § 111 Rz. 129, 134; Floren, Grundrechtsdogmatik, S. 38 ff.; Denninger, in: AK-GG, Vor Art. 1 Rz. 33; Jarass, AöR 120 (1995), S. 345 (353 f.); Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 42; Groß, JZ 1999, S. 326 (331); Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit, S. 144; Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (939); Hermes, NJW 1990, S. 1764 (1978); Lerche, FS Odersky, S. 215 (228); Klein, NJW 1989, S. 1653 (1640); Sachs, Verfassungsrecht II, S. 41; Miener, Drittschützende Wirkung von Grundrechten. S. 90. 79 Badura, in: FS Molitor, S. 1 (9). 80 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 480 ff.; Schindler, Kollision, S. 176. 81 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 484 ff. Auch Schindler, Kollision, S. 171 ff., bedient sich dieses Modells, um die Schutzpflicht und die Drittwirkung der Grundfreiheiten darzustellen, verwendet dabei aber den Begriff des „Drei-Relationen-Modells“. 82 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 485. 83 Ebenda, S. 485 ff. 84 Schindler, Kollision, S. 174. 85 Ebenda. 86 So für die deutschen Grundrechte Lerche, FS Odersky, S. 215 ff.; Möstl, DÖV 1995, S. 1029 (1035).

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sen. Das Zusammenspiel aller drei Ebenen bedeutet, dass die Schutzpflicht des Staates zugleich den Umfang der Rechte und Pflichten der Privaten untereinander (mit-)bestimmt.87 Wenn also der Gerichtshof in Kommission/Frankreich annimmt, dass den Mitgliedstaat eine uneingeschränkte Schutzpflicht trifft, Private gegen Beeinträchtigungen ihrer Warenverkehrsfreiheit durch andere Private zu schützen, so wirkt sich das inhaltlich für den Störer als eine Bindung an die Verpflichtungen des Artikels 28 EG aus. Eine unmittelbare Bindung Privater an Artikel 28 EG wäre nur im Rahmen einer zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Klage der betroffenen Händler gegen die Täter relevant geworden. Eine solche Klage war aber rein tatsächlich nicht möglich, da die Störer nicht identifizierbar waren.88 Die Frage des Inanspruchgenommenen war daher zufällig bzw. eine Frage der Praktikabilität. Damit ist in dieser Entscheidung die Ablehnung einer Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit entscheidend relativiert. Bei bestimmten Handlungen jedenfalls müssen sich danach auch Private an die Vorgaben des Artikels 28 EG halten. bb) Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit durch Gewaltanwendungen Als Besonderheit des Falles Kommission/Frankreich ist zu berücksichtigen, dass es dabei um tatsächliches Handeln ging, welches aggressiv und zerstörerisch war. Es bestand in Gewaltausübungen gegen fremde Sachen, die zu deren Vernichtung führten. Die beeinträchtigten spanischen Hersteller hatten auf die Störung keinerlei Einflussmöglichkeiten, erst recht lag kein Mitwirken zu ihrer eigenen Beeinträchtigung vor. Eine Rechtfertigung der privaten Handlungen bzw. ein Geltendmachen von Gründen, die es Privaten – im Gegensatz zum Staat – erlauben könnten, derartige Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit auszulösen, wurde weder vorgetragen noch geprüft. f) Die Entscheidung Schmidberger 89 In der Konstellation ähnlich, in wesentlichen Aspekten jedoch unterschiedlich war der vom Gerichtshof zu entscheidende Fall Schmidberger. Dort hatte die internationale Transportfirma Eugen Schmidberger gegen die Republik Österreich auf Ersatz des Schadens geklagt, der ihm aufgrund einer mehrtägigen 87 Ähnlich auch GA Cosmas in seinen Schlussanträgen zum Fall Ferlini, dazu näher unten Fn. 491. Zu möglichen Abwehrrechten aufgrund eigener Grundrechte des Störers, siehe unten S. 161 ff. 88 Vgl. hierzu die Ausführungen des GA Lenz, Slg. 1997, S. I-6961 Fn. 71. 89 EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694 ff.

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Sperrung der Brennerautobahn entstanden war. Die Sperrung ging im Wesentlichen auf eine etwa 30-stündige Demonstration zurück, mit der verschiedene private Organisationen auf die zunehmende Belastung der Umwelt durch den Verkehr auf der Brennerautobahn aufmerksam machen wollten.90 Der Kläger behauptete, Österreich habe durch die Genehmigung der Versammlung die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigt und für den ihm dadurch entstandenen Schaden zu haften. Das Oberlandesgericht Innsbruck legte, nach einem klageabweisenden Urteil des Landgerichts Innsbruck, dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen zu Beantwortung vor, unter anderem die hier allein interessierende Frage, ob „der Grundsatz des freien Warenverkehrs etwa in Verbindung mit Artikel 5 [10] EGVertrag einen Mitgliedstaat dazu verpflichte, wichtige Transitrouten freizuhalten, und ob diese Verpflichtung auch Grundrechten wie der durch die Artikel 10 und 11 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (nachfolgend: EMRK) gewährleisteten Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit vorgehe.“91

Dabei fragte das österreichische Gericht sowohl nach legislativem Unrecht durch eine unzureichende Ausgestaltung des Versammlungsrechts als auch nach administrativem Unrecht durch unzureichende Berücksichtigung der unmittelbar geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Artikel 10 EG und den Anforderungen des freien Warenverkehrs.92 Wie in den Entscheidung Kommission/Frankreich 93 betonte der Gerichtshof unter Verweis auf Artikel 3 und 14 EG die Bedeutung des freien Warenverkehrs als einen der tragenden Grundsätze der Gemeinschaft und wiederholte seine Annahme, dass die Freiheit des Warenverkehrs auch durch eine Untätigkeit des Mitgliedstaates angesichts privater Hemmnisse verletzt werden könne.94 Im Ergebnis stellte der Gerichtshof fest, dass die Nichtuntersagung der Blockade als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen sei.95 Anders als bei Kommission/ Frankreich sei das Handeln der staatlichen Stellen aber aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt und damit nicht unvereinbar mit den Artikeln 28 und 34 EG in Verbindung mit Artikel 10 EG.96

90 Die mehrtägige Sperrung war Folge eines der Demonstration vorhergehenden Feiertags und eines nachfolgenden Wochenendes, an dem für LKWs über 7,5 t ein Fahrverbot galt. 91 C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 20. Genauer aufgegliedert in die konkreten Fragen in Rz. 25. 92 Ebenda, Rz. 22. 93 Siehe oben S. 31 ff. 94 Ebenda, Rz. 59. 95 Ebenda, Rz. 64. 96 Ebenda, Rz. 94.

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aa) Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit Der Gerichtshof ging bei der Prüfung, ob die Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit gerechtfertigt sei, auf das Ziel der österreichischen Behörden ein, mit der Genehmigung der Demonstration den Grundrechten auf Meinungsäußerung- und Versammlungsfreiheit Geltung verschaffen zu wollen.97 Zunächst begründete der EuGH ausführlich, dass Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung er zu sichern habe und gelangte damit zu der Frage, „wie die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft mit den aus einer im Vertrag verankerten Grundfreiheit fließenden Erfordernissen in Einklang gebracht werden können.“98

Dabei stellte er fest, dass sowohl der freie Warenverkehr als auch die Gemeinschafts-Grundrechte bestimmten Beschränkungen unterlägen.99 Die Warenverkehrsfreiheit könne dabei nicht nur aus den in Artikel 30 EG genannten Gründen eingeschränkt werden, sondern auch aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses.100 Im Hinblick auf die Grundrechte führte er ebenfalls aus, dass diese beschränkt werden dürften, wenn die Beschränkungen „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den mit den Beschränkungen verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die geschützten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“101 Der Gerichtshof kommt damit zu dem Ergebnis: „Demgemäss sind die bestehenden Interessen abzuwägen, und es ist anhand sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist.“102

Dabei gesteht er den zuständigen Stellen des Mitgliedstaates ein weites Ermessen zu,103 dennoch sieht er sich in der Rolle, die Entscheidungen letztlich darauf zu überprüfen, ob dieses Ermessen überschritten und einer der Rechtspositionen, zu deren Wahrung er berufen ist, dadurch verletzt wurde. Entsprechend prüfte der EuGH anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls, ob eine rechtmäßige Abwägung der kollidierenden Interessen vorgenommen worden war. 97

Ebenda, Rz. 65 ff. Ebenda, Rz. 77. 99 Ebenda, Rz. 78 ff, wobei der EuGH ausdrücklich darauf hinweist, dass das Recht auf Leben und das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe keinen Beschränkungen unterliegen. Insofern sind seine nachfolgenden Überlegungen nicht übertragbar. 100 Ebenda, Rz. 78. 101 Ebenda, Rz. 80. 102 Ebenda, Rz. 81. 103 Ebenda, Rz. 82. 98

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Folgende Umstände berücksichtigte er dabei: Die Demonstranten hätten durch die Versammlung ihre Grundrechte ausgeübt und auch ausüben wollen, die Versammlung hätte nicht den Zweck gehabt, den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft zu beeinträchtigen. Die Blockade sei zeitlich und räumlich begrenzt gewesen und es seien verschiedene Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen worden, um die Störungen gering zu halten. Zudem hätte es sich um eine isolierte Aktion gehandelt, durch die – anders als im Fall Kommission/ Frankreich – keine allgemeine Atmosphäre der Unsicherheit geschaffen wurde. Schließlich wurde anerkannt, dass eine Untersagung die Gefahr schwer beherrschbarer Reaktionen mit sich gebracht hätte (wilde Demonstrationen, Gewalttaten, etc.). Auf dieser Grundlage kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass ein Verbot oder strengere Auflagen die Grundrechte der Demonstranten in nicht hinnehmbarer Weise beschränkt hätten und daher das Ziel – der Grundrechtsschutz – nicht durch Maßnahmen hätte erreicht werden können, die den innergemeinschaftlichen Handel weniger beschränkt hätten.104 bb) Schmidberger als Weiterführung von Kommission/Frankreich Zwar hat damit der Gerichtshof eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit durch die privaten Barrieren, die vom Staat nicht untersagt wurden, letztlich verneint. Der Ansatz des EuGH in dieser Entscheidung entspricht jedoch nicht der Begründung, die der Gerichtshof in seinen früheren Entscheidungen angeführt hat: Während er dort davon ausging, dass Artikel 28 EG kein Maßstab für privates Handeln sei, hat er dies hier nicht problematisiert. Das kann nicht allein auf die Situation zurückgeführt werden, in der staatliches Handeln Gegenstand der Entscheidung war und damit die Schutzpflicht des Mitgliedstaates Anknüpfungspunkt für die Überprüfung privaten Handelns war. Wie oben ausgeführt, kommt es darauf in Ergebnis nicht an, da auch auf diese Weise ein Maßstab für privates Verhalten aufgestellt wird.105 Dieser Maßstab war in den frühen Entscheidungen allein das Wettbewerbsrecht, Artikel 28 EG wurde dabei als irrelevant angesehen. Die Ablehnung einer Verletzung des Artikels 28 EG beruhte hier aber gerade nicht auf der Annahme, dass Artikel 28 EG bei der Überprüfung privaten Handelns nicht herangezogen werden könne, sondern darauf, dass das private Handeln eine Ausübung von ebenfalls gemeinschaftsrechtlich geschützten Grundrechten war und damit einhergehende Beeinträchtigungen der Grundfreiheit gerechtfertigt waren. Insofern stellt die Entscheidung Schmidberger eine konsequente Weiterentwicklung dessen dar, was mit dem Urteil Kommission/Frankreich begonnen worden war. In beiden Entscheidungen wurde inzident geprüft, ob private Barrieren für den Warenverkehr zulässig wa104 105

Ebenda, Rz. 82 ff. Siehe oben S. 32 ff.

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ren oder nicht. Während die gefundenen Ergebnisse dieser Prüfung in den beiden Fällen unterschiedlich ausfielen, bleibt der Ansatz identisch. Dabei ist, wie sich später zeigen wird,106 von Bedeutung, dass es in beiden Entscheidungen um tatsächliches Handeln Privater ging, während die frühen Entscheidungen alle rechtsgeschäftliches Handeln Privater zum Inhalt hatten. g) Zusammenfassung der Rechtsprechung zu Artikel 28 EG Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit lässt sich daher wie folgt zusammenfassen: Private wurden bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen nicht an Artikel 28 EG gebunden. Für solche Handlungen galt allein das Wettbewerbsrecht. Außerhalb des rechtsgeschäftlichen Bereichs wurde hingegen eine Bindung Privater nicht ohne weiteres abgelehnt. Im Fall Kommission/Frankreich ging es um tatsächliches Handeln von Privaten, welches sich in der Ausübung von Gewalt äußerte. Dort wurde der Mitgliedstaat für das Nichtunterbinden des Handelns verantwortlich gemacht, was mittelbar einer Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit gleichkommt. In der nachfolgenden Entscheidung Schmidberger lehnte der Gerichtshof zwar das Vorliegen einer Verletzung der Warenverkehrsfreiheit durch die staatliche Genehmigung der Brennerblockaden ab. Allerdings stützte sich der EuGH dabei nicht wie im rechtsgeschäftlichen Bereich auf eine fehlende Bindungswirkung der Warenverkehrsfreiheit für Private, sondern auf das Überwiegen der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit, die die Genehmigung der Blockaden gerechtfertigt habe. 2. Die Rechtsprechung zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG Artikel 39 EG gewährleistet die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft und fordert hierfür die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. Artikel 43 EG verbietet Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates. Artikel 49 EG enthält eine vergleichbare Regelung für den Dienstleistungsverkehr. Im Rahmen dieser Untersuchung werden die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit gemeinsam behandelt. Trotz der Unterschiede zwischen diesen Freiheiten107 bietet sich eine solche Vorgehensweise für die vorliegende Fragestellung gerade auch aufgrund der Rechtsprechung des EuGH an. In einigen der nachfolgend dargestellten Fällen hat das Gericht die Entscheidung, welche der Grundfreiheiten 106 107

Siehe unten S. 211 ff. Dazu Streinz, Europarecht, Rz. 656.

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betroffen sei, mit dem Argument offengelassen, seine Überlegungen gölten ohnehin sowohl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit wie auch für die Dienstleistungsfreiheit.108 Artikel 43 EG war dabei zwar aufgrund der faktischen Konstellation nicht angesprochen, die Parallelität ergibt sich für diese Freiheit aber ebenso.109 Daher ist für die Frage der Anwendbarkeit dieser Freiheiten auf private Regelungen auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH eine einheitliche Untersuchung angezeigt.110 a) Die Entscheidung Walrave 111 Die erste und grundlegende Entscheidung, die die Frage der Anwendbarkeit dieser Grundfreiheiten auf private Maßnahmen zum Thema hatte, war Walrave: Walrave und Koch, zwei niederländische Staatsangehörige, hatten regelmäßig gegen Entgelt als Schrittmacher an so genannten „Steher“-Radrennen teilgenommen. Rechtliche Grundlage für ihre Leistung waren Verträge, die zwischen ihnen und den Radsportverbänden bzw. Sponsoren abgeschlossen wurden. Die Rennen, unter anderem auch die Weltmeisterschaft, wurden von eben diesen Radsportverbänden veranstaltet. Der Konflikt begann, als der internationale Radsportverband in sein Reglement eine Bestimmung aufnahm, nach der Schrittmacher und Radfahrer dieselbe Nationalität haben mussten. Walrave und Koch, die überwiegend mit Radfahrern nicht-holländischer Nationalität arbeiteten, wandten sich gerichtlich gegen diese Bestimmung. Das nationale Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob, wenn man den Vertrag zwischen einem Schrittmacher und dem Radsportverband bzw. den Sponsoren als Arbeitsvertrag ansähe, Artikel 48 [39] EG und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/68112 so ausgelegt werden müssten, dass die entsprechende Regelung des internationalen Verbandes damit unvereinbar sei. Seine Alternativfrage bezog sich auf die Vereinbarkeit der Regelung mit Artikel 59 [49] EG, falls der Gerichtshof den Vertrag als Dienstleistungsvertrag einordnete. Der EuGH ließ die Frage der Rechtsnatur des Vertrags mit dem Argument offen, dass „Arbeits- und Dienstleistungen in gleicher Weise dem Diskriminierungsverbot unterliegen“,113 seine Argumente seien daher in gleicher Weise für 108

EuGH, Rs. 36/74 Walrave, Slg. 1974, S. 1405. Vgl. die Entscheidung in EuGH, Rs. 90/76, van Ameyde/UCI, Slg. 1977, S. I1091 Rz. 26 ff. 110 Um die Entwicklung einer einheitlichen Dogmatik aller Grundfreiheiten allgemein bemüht sich ausführlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999. 111 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405. 112 Verordnung (EWG) des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, EG Bl. L Nr. 257 v. 19.10.1968, S. 2. 113 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 7. 109

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beide Freiheiten gültig. Er sprach dann das Problem der Anwendbarkeit der Freiheiten auf private Regelungen an: „Es ist eingewandt worden, die in diesen Artikeln aufgestellten Verbote beträfen nur Beschränkungen, die auf staatlichen Maßnahmen beruhten, nicht dagegen Beschränkungen, die von Rechtsgeschäften herrührten, deren Urheber Einzelpersonen oder privatrechtliche Vereinigungen seien.“114

Eben diese Annahme lag seiner eigenen, wenn auch späteren, Rechtsprechung in Bezug auf den Anwendungsbereich des Artikels 28 EG, zugrunde. In diesem Fall jedoch wies das Gericht die Annahme zurück: „Das Verbot der unterschiedlichen Behandlung gilt nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern erstreckt sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten.“115

Das Gericht setzte also mit seiner Aussage staatliche Maßnahmen mit allen sonstigen Maßnahmen „gleich welcher Rechtsnatur“116 gleich. Der entscheidende Anknüpfungspunkt ist damit nicht, wie in seiner Rechtsprechung zu Artikel 28 EG, der Urheber der Regelung, sondern allein deren Eigenart, „kollektive Regelungen“ aufzustellen. Dabei fällt auf, dass der Gerichtshof in diesem entscheidenden Passus die privatrechtliche Natur der Regelung nicht deutlich anspricht, sondern stattdessen die Formulierung „sonstige Maßnahmen“ gebraucht. Diese neutralere Wendung verschleiert zu einem gewissen Grad die weitreichenden Folgen seiner Aussage. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieser Grundfreiheiten auf private Maßnahmen ist dabei umso erstaunlicher, als das Gericht in späteren Fällen bei der Überprüfung der Vereinbarkeit von Vereinssatzungen oder Entscheidungen besonders auf den öffentlich-rechtlichen Charakter dieser Vereinigungen abstellt. So überprüfte der EuGH im Fall Apple and Pear Development Council117 sowie im Fall Royal Pharmaceutical Society ex parte API118 eine Maßnahme dieser Verbände am Maßstab der Grundfreiheiten erst nach einer längeren Diskussion ihrer besonderen Eigenschaften, mit denen ihr öffentlich-rechtlicher Charakter begründet wurde.119 Obwohl es auch hier um kollektive Regelungen ging, wurde dabei auf die Zurechnung der Vereinigung zum Staat abgestellt. Die Schlussanträge des Generalanwalts Warner im Fall Walrave sind in dieser Hinsicht wenig aussagekräftig. Warner führt in Bezug auf Artikel 39 EG 114

EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 14/15. EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 16/19. 116 So die entsprechende englische Formulierung „rules of any other nature“. 117 EuGH, Rs. 222/82, Apple and Pear Development Council, Slg. 1983 S. 4083. 118 Verb. EuGH, Rs. 266 und 267/87, Royal Pharmaceutical Society, Slg. 1989 S. 1295. 119 EuGH, Rs. 222/82, Apple and Pear Development Council, Slg. 1983 Rz. 17 und EuGH, Verb. Rs. 266 u. 267/87, Royal Pharmaceutical Society, Slg. 1989, S. 1295 Rz. 13 ff. 115

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lediglich aus, „es steht fest, dass [Artikel 39 EG] nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch Privatpersonen bindet, soweit sie sich im Gebiet der Gemeinschaft befinden“.120 Da die Frage zum ersten Mal den Gerichtshof beschäftigte, ist fraglich, worauf sich diese nicht näher begründete Überzeugung stützt. Die vorhergehende Bezugnahme auf eine Entscheidung des Gerichts im Fall Kommission/Französische Republik,121 in der eine ummittelbare Wirkung des Artikels 39 EG angenommen worden war, ist insoweit irreführend, als damit noch nichts zur Frage der unmittelbaren Wirkung in Bezug auf private Maßnahmen entschieden war. Etwas interessanter ist allerdings eine Erörterung zu Artikel 49 EG, bei der Generalanwalt Warner sich nicht auf vorhergehende Rechtsprechung stützte. Hier nahm er zu der Frage einer wörtlichen Auslegung des Artikels 49 EG Stellung. Den Bedenken, dass der Wortlaut der Vorschrift einer Anwendung auf private Maßnahmen entgegenstünde, begegnete er mit dem Hinweis, dass Artikel 49 EG gerade keine Einschränkung des Adressatenkreises enthalte, auch wenn die umgebenden Vorschriften dies täten. Ferner könne, da Artikel 49 EG auch gegenüber Artikel 39 EG einen Auffangtatbestand bilde, der Anwendungsbereich im Hinblick auf den zu bindenden Personenkreis nicht enger sein.122 Der Gerichtshof griff diese Argumentation auf. Auf den Einwand, dass sich die Artikel 49 EG umgebenden Vorschriften klar auf staatliche Maßnahmen bezögen, erwiderte er, dass dies aber nicht „gestattet, sich über die allgemeine Fassung des Artikels 59 [49 EG], der nicht auf den Ursprung der Behinderungen abstellt, hinwegzusetzen“.123 Auf diese Weise wird die nahe liegende systematische Auslegung des Artikels 49 EG in ihr Gegenteil verkehrt. In Bezug auf Artikel 39 EG ist die Argumentation des Gerichts, ähnlich der des Generalanwalts Warner, sehr knapp: „Im übrigen steht außer Frage, dass Artikel 48 [39 EG] [. . .] gleichermaßen Verträge und sonstige Vereinbarungen erfasst, die nicht von staatlichen Stellen herrühren.“124 Sodann wird für Artikel 49 EG der Schluss gezogen, hier könne es nicht anders sein. Während diese Argumentation wenig befriedigend ist, wird aus anderen Ausführungen deutlicher, worum es dem Gerichtshof ging: Der wesentliche Grund für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Freizügigkeit auf Private ist der Schutz des effet utile der Artikel 39 bzw. 49 EG, den der EuGH durch die Beschränkung des Anwendungsbereichs auf staatliche Maßnahmen gefährdet sah: „Denn die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr – eines der in Artikel 3 Buchstabe c des Vertrags aufgeführten wesentlichen 120 121 122 123 124

EuGH, Rs. EuGH, Rs. EuGH, Rs. EuGH, Rs. Ebenda.

36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405, 1425. 167/73, Kommission/Französische Republik, Slg. 1974, S. 359. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405, 1425. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 20/24.

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Ziele der Gemeinschaft – wäre gefährdet, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten.“125

Das Argument der Effektivität der Norm klingt auch an anderer Stelle an: „Da im übrigen die Arbeitsbedingungen je nach Mitgliedstaat einer Regelung durch Gesetze und Verordnungen oder durch Verträge und sonstige Rechtsgeschäfte, die von Privatpersonen geschlossen werden, unterliegen, bestünde bei einer Beschränkung auf staatliche Maßnahmen die Gefahr, dass das fragliche Verbot nicht einheitlich ausgelegt würde.“126

Damit ist klar, dass der Gerichtshof die Bindung Privater an die Grundfreiheiten für die Verwirklichung des Binnenmarktes als erforderlich ansah und dies auch im Ergebnis für das entscheidende Argument erachtete. Zu betonen ist, dass Walrave ein klarer Fall einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit war. Das Gericht betont dies durch seine Bezugnahme auf Artikel 12 EG [Artikel 7 EWG a. F.], der durch die besonderen Vorschriften der Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit konkretisiert werde. Während der Gerichtshof in der späteren Entscheidung Bosman127 über das Verbot reiner Diskriminierung hinausging, wurde in Walrave zunächst nur die Ungleichbehandlung durch private kollektive Regelungen für unvereinbar mit den Grundfreiheiten erklärt. b) Die Entscheidung Donà 128 Der EuGH bestätigte die Aussagen aus Walrave zwei Jahre später in der Entscheidung Donà, ebenfalls ein Fall, der Regelungen eines Sportverbands betraf. Gaetano Donà war vom Präsidenten eines italienischen Fußballvereins mit der Suche nach Profifußballern beauftragt worden und hatte zu diesem Zweck in belgischen Zeitungen inseriert. Der Präsident weigerte sich, die Kosten für diese Inserate zu übernehmen mit dem Argument, dass nach der Personalordnung des italienischen Fußballverbands nur Spieler italienischer Staatsangehörigkeit an Spielen teilnehmen dürften. Die Kosten seien daher unnütz und könnten nicht erstattet werden. Herr Donà war der Ansicht, dass die Regeln des Verbandes mit Artikel 12, 39 und 49 EG unvereinbar und daher unwirksam seien. Der EuGH, der hierüber zu befinden hatte, berief sich auf Walrave, um die Überprüfbarkeit der privaten Verbandsstatuten anhand der EG-Normen zu bejahen. Im Hinblick auf Artikel 49 EG führte er weiter aus, dass diese „jedenfalls 125 126 127 128

EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 16/19. Ebenda. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921. EuGH, Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, S. 1333.

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insoweit, als sie zum Gegenstand haben, alle Diskriminierungen (. . .) zu beseitigen“129 unmittelbare Wirkung entfaltete. Damit war zugleich klargestellt, dass der EuGH zu diesem Zeitpunkt keine weitergehende Bindung Privater im Hinblick auf diskriminierungsfreie Maßnahmen befürwortete. c) Die Entscheidung van Ameyde/UCI 130 Die Entscheidung van Ameyde/UCI betraf keinen Sportverband, sondern eine Kraftfahrzeugversicherung. Auch hier ging es aber um private kollektive Regeln, bei denen das Unternehmen van Ameyde der Ansicht war, diese verletzten sie in ihren Rechten aus Artikel 43 EG bzw. Artikel 49 EG. Diese Regeln waren Teil eines komplizierten Systems, das neben den kollektiven privatrechtlichen Regeln, nationale Gesetzgebung, europäische Richtlinien, internationale Vereinbarungen und Individualverträge umfasste, die sich alle auf ein Versicherungssystem für Kraftfahrzeuge bezogen, die in Unfälle außerhalb des Staates, in dem sie versichert waren, verwickelt wurden. Im Ergebnis verneinte der EuGH in seiner Entscheidung das Vorliegen einer Diskriminierung durch die Beklagte, so dass ein Verstoß gegen Artikel 43 EG oder Artikel 49 EG bereits daran scheiterte. Für die Frage des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten ist dieser Fall insofern interessant, als der Gerichtshof feststellte, dass es „unerheblich [ist], ob die Diskriminierung ihren Ursprung in hoheitlichen Maßnahmen oder aber in Handlungen hat, welche den nationalen Versicherungsbüros (. . .) zuzurechnen sind.“131

Dabei berief er sich weder auf Walrave oder Donà noch gab er sonst irgendeine Erklärung für seine Aussage. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, als es sich hierbei um ein obiter dictum handelte. Generalanwalt Reischl hatte sich in keiner Weise zu dem Aspekt der privatrechtlichen Grundlage einer möglichen Diskriminierung geäußert. Ferner ist hervorzuheben, dass der EuGH diesmal nicht ausdrücklich auf kollektive Regelungen abstellt, sondern lediglich das Wort „Handlungen“ verwendet. Damit wird ein sehr weiter Bereich eröffnet, in dem die Grundfreiheiten als Maßstab für private Maßnahmen gelten. d) Die Entscheidung Haug-Adrion 132 Dieser Eindruck wird in der Entscheidung Haug-Adrion zunächst bestätigt. In dem Fall ging es um einen deutschen Staatsangehörigen, der sein Kraftfahrzeug bei der Beklagten haftpflichtversicherte. Da er das Fahrzeug ins Ausland über129 130 131 132

EuGH, Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, S. 1333 Rz. 20. EuGH, Rs. 90/76, van Ameyde/UCI, Slg. 1977, S. I-1091. Ebenda, Rz. 28. EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277.

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führen wollte, wurde ihm bei der Berechnung des Tarifs sein bisheriges Fahrverhalten nicht positiv in Rechnung gestellt, so dass sich für ihn ein höherer Tarif ergab. Die Tarifgestaltung war privatrechtlicher Natur, war aber von staatlicher Stelle genehmigt. Dagegen wandte er sich mit dem Argument, es läge ein Fall der versteckten Diskriminierung vor, der mit den Artikeln 12 und 49 EG unvereinbar sei. Der Gerichtshof lehnte in Übereinstimmung mit Generalanwalt Lenz das Vorliegen einer Diskriminierung ab, so dass eine Überprüfung der Tarifregelung bereits hieran scheiterte; auf die Frage, ob denn private Maßnahmen auch in den Anwendungsbereich der oben genannten Vorschriften fielen, musste er damit gar nicht eingehen. Dennoch traf der Gerichtshof eine sehr weitgehende Aussage, die den Gedanken aus van Ameyde weiter verfolgte: „Was zunächst das Diskriminierungsverbot des Artikels 7 [12] und die dieses Verbot konkretisierenden Artikel 48 [39 EG], 59 [49 EG] und 65 [54] betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen die Beseitigung aller Maßnahmen zum Ziel haben, die auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Dienstleistungsfreiheit Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates strenger behandeln oder sie gegenüber eigenen Staatsangehörigen, die sich in derselben Lage befinden, rechtlich oder tatsächlich benachteiligen.“ 133

Auch hier fällt, wie im vorhergehenden Fall van Ameyde, auf, dass der Gerichtshof weder von „kollektiv“ noch von „Regelungen“ spricht, was durchaus möglich gewesen wäre. Stattdessen verwendet er den sehr viel offeneren Begriff der „Maßnahmen“. Verstärkt wird die darin enthaltene Ausdehnung des Anwendungsbereichs durch die Formulierung, dass das Verbot auf Maßnahmen zielt, die „rechtlich oder tatsächlich benachteiligen“. 134 Darauf, dass der Gerichtshof diese Begriffe bewusst gewählt hat, deutet die in demselben Urteil gewählte Formulierung in Bezug auf Artikel 34 EG hin – dort ist von „nationalen Regelungen“135 die Rede, eine Wortwahl, die sowohl private Handlungen ausschließt, als auch eine rechtliche Verbindlichkeit der Handlung durch den Begriff Regelung andeutet. Damit ist gleichzeitig eine deutliche Differenzierung zwischen der Warenverkehrsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit vorgegeben. e) Die Entscheidung Bosman 136 In der bisher aufsehenerregendsten Entscheidung des EuGH zur Frage der Bindung Privater an die Grundfreiheiten, ging es erneut um Statuten von Sportverbänden. Der sehr komplizierte Sachverhalt lässt sich für die Zwecke dieser Untersuchung knapp zusammenfassen: Jean-Marc Bosman, ein belgischer 133 134 135 136

EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277 Rz. 14. Hervorhebung durch Verf. EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277 Rz. 20 ff. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

Staatsangehöriger, spielte bei einem belgischen Verein professionellen Fußball. Mit Ablauf seines Vertrags wollte er zu einem französischen Verein wechseln. Dieser Wechsel scheiterte an der Zahlung einer Transfersumme. Die Grundlage der Verpflichtung des französischen Vereins zur Zahlung der Transfersumme ergab sich aus einem Zusammenspiel von nationalen, europäischen und internationalen Verbandsstatuten (sog. Transferregeln). Diese Statuten sahen ferner die Beschränkung der Anzahl von ausländischen Spielern vor, die in einer Mannschaft spielen durften (sog. Ausländerregeln).137 Diese Verbandsstatuten galten für die Vereine, die Mitglied im jeweiligen nationalen Verband waren. Sie wurden aber auch in die Verträge zwischen Verein und Spieler einbezogen und waren damit auch für letztere bindend. So bezog auch der Vertrag zwischen Bosman und dem belgischen Verein die Statuten ausdrücklich als Vertragsinhalt mit ein.138 Bosman verklagte wegen des gescheiterten Transfers seinen ehemaligen belgischen Verein sowie den belgischen und europäischen Fußballverband auf Zahlung einer Entschädigung wegen seiner entgangenen Einnahmen. Nach Entscheidungen mehrerer Instanzen wurde dem EuGH schließlich die Frage vorgelegt, ob die Transfer- sowie die Ausländerregeln mit Artikel 39 EG bzw. mit den Artikeln 81 und 82 EG vereinbar seien. Der EuGH äußerte sich im Gegensatz zum Generalanwalt Lenz139 zu möglichen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht nicht, sondern beschränkte seine Ausführungen vollständig auf Artikel 39 EG. Da er die Verbandsregeln als mit der Freizügigkeit unvereinbar ansah, gab der Gerichtshof an, eine Auseinandersetzung mit den Artikeln 81 und 82 EG sei nicht notwendig. Generalanwalt Lenz hatte indes gerade die Möglichkeit betont, dass gleichzeitig beide Vorschriften verletzt sein könnten. Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit mit der Warenverkehrsfreiheit, bei dem der EuGH betont, dass sich diese vom Wettbewerbsrecht über den Adressatenkreis unterscheide, wäre eine Erklärung von erheblichem Interesse gewesen. Hinsichtlich der Frage, ob die Verbandsstatuten dem Anwendungsbereich von Artikel 39 EG unterfallen, verwies der Gerichtshof auf Walrave und wiederholte, zum großen Teil wörtlich, die dort gemachten Ausführungen. Zunächst stellte er fest, dass Artikel 39 EG „nicht nur für behördliche Maßnahmen gilt, sondern sich auch auf Vorschriften anderer Art erstreckt, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen“.140 Damit kehrt der Gerichtshof zu seiner ursprünglichen Formulierung der „kollektiven Regelung“ zurück. Sodann argumentierte er mit der Gefahr, dass die Beseitigung staatlicher Barrieren durch 137 Eine genauere Darstellung und Untersuchung der Regeln findet sich in Blanpain/Inston, The Bosman case, 1996 und in Weatherill, CMLR 1998, S. 991 ff. 138 Blainpain, ArbuR 1996, S. 161 (162). 139 Dessen Ausführungen finden sich auf den Seiten I-4930 ff. 140 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 82.

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ähnliche privat errichtete Hindernisse ins Leere laufen könnte sowie mit dem Problem einer möglichen ungleichen Anwendung der Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten, je nachdem, ob dort Regelungen von staatlicher Seite oder durch Private getroffen wurden.141 Genau diese Argumente hatte er bereits in Walrave zur Begründung herangezogen.142 Allerdings ist die Bosman-Entscheidung in einigen anderen Punkten eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung, die sich zum Teil als Reaktion auf die von den Beteiligten vorgebrachten Argumente, zum Teil als Folge des zu entscheidenden Sachverhalts verstehen lässt. Für die Frage der Bindung Privater an die Grundfreiheiten sind dabei vor allem drei Aspekte von Bedeutung, denen im Folgenden genauer nachgegangen werden soll: Erstens fand eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des Artikels 39 EG statt, mit der sich zwangsläufig Veränderungen im Hinblick auf die der Vorschrift unterfallenden privaten Maßnahmen ergibt (aa). Zweitens wurde die Frage der möglichen Berufung Privater auf die Rechtfertigungsgründe des Artikels 39 Abs. 3 EG, der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, angesprochen (bb) und drittens wurde zum ersten Mal das widerstreitende Grundrecht der Verbände auf Vereinigungsfreiheit erörtert (cc). aa) Beschränkung statt Diskriminierung Die Frage, ob die Grundfreiheiten nur Diskriminierungen verbieten oder darüber hinaus auch diskriminierungsfreie Beschränkungen erfassen, war bislang für Artikel 39 EG vom EuGH noch nicht ausdrücklich entschieden worden. Generalanwalt Lenz leitete aber in seinen Ausführungen eingehend her, dass die bisherige Rechtsprechung, gerade auch bezüglich der anderen Grundfreiheiten, deutlich für die Annahme spreche, dass Artikel 39 EG über ein reines Diskriminierungsverbot hinausgehe.143 Der Gerichtshof schloss sich diesen Ausführungen an und erklärte: „Bestimmungen, die einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden.“144

Ob dies nur im Hinblick auf den Zugang zum Arbeitsmarkt gelten oder darüber hinaus Artikel 39 EG auch auf Bestimmungen der Modalitäten der Arbeit Anwendung finden soll, wurde zwar angedeutet, jedoch nicht weiter ausge141 142 143 144

EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 83, 84. Siehe oben S. 40 ff. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4990 ff. Rz. 165 ff. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 96.

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führt.145 Hierauf kommt es für die vorliegende Untersuchung auch nicht an. Entscheidend ist, dass Artikel 39 EG in seinem Anwendungsbereich deutlich erweitert und von einem reinen Diskriminierungsverbot zu einem Verbot auch nicht-diskriminierender Beschränkungen erklärt wurde.146 Damit erweitert sich auch der Kreis der privaten Maßnahmen, die unter das Verbot des Artikels 39 EG fallen können.147 Auf der Grundlage des Bosman-Urteils werden nicht nur Diskriminierungen von Privaten erfasst, sondern auch sonstige Beschränkungen privater Natur. bb) Rechtfertigungsgründe im Sinne des Artikels 39 Abs. 3 EG Die private Rechtsnatur der angegriffenen Regelungen wird ferner im Hinblick auf die Frage der Anwendung der Rechtfertigungsgründe des Artikels 39 Abs. 3 EG relevant. Die UEFA hatte ausgeführt, dass im Ergebnis eine Anwendung der Freizügigkeitsregeln auf private Maßnahmen zu einer strengeren Bewertung dieser Maßnahmen im Vergleich zu staatlichen Maßnahmen führen würde, da sich Private nicht auf die Rechtfertigungsgründe des Artikels 39 Abs. 3 EG würden berufen können.148 Der EuGH lehnte diesen Einwand ab: „Dieses Vorbringen beruht auf einer unzutreffenden Prämisse. Nichts spricht nämlich dagegen, dass die Rechtfertigungsgründe in Bezug auf die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit von Privatpersonen geltend gemacht werden. Der öffentliche oder private Charakter der betreffenden Regelung hat keinen Einfluss auf die Tragweite oder den Inhalt dieser Rechtfertigungsgründe.“149

Dies erscheint zunächst nicht unproblematisch: Wenn Private sich auf den Vorbehalt des „ordre public“150 berufen können, bringt dies eine Verschiebung der Definitionsgewalt des öffentlichen Interesses mit sich.151 Sinn und Zweck 145 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 102, 103. Vgl. dazu auch die Ausführungen des GA Lenz, S. I-5008 ff. Rz. 204 f. 146 Ausführlichere Erörterungen dieses Aspekts finden sich bei Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (562 ff.). 147 Siehe dazu auch Burgi, EWS 1999, S. 327. 148 So auch noch Völker, Dienstleistungsfreiheit, S. 136 f. 149 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 86. 150 So die französische Version, die englische Version „public policy“ geht in eine ähnliche Richtung. 151 Dazu kritisch Quinn/McGowan, ELR 12 (1987), S. 163 (176); Jaensch, Drittwirkung, S. 126 ff. in Bezug auf Artikel 30 EG und S. 128 ff. in Bezug auf Artikel 39 Abs. 3 EG; Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 168 f. und S. 175 ff., wo der kompetenzielle Aspekt, der sich für das Verhältnis Mitgliedstaaten – Gemeinschaft ergibt, betont wird. Vgl. auch Fernández Martín, ELR 21 (1996), S. 313 (323 f.); Röthel, EuZW 2000, S. 379 (380); Burgi, JZ 2001, S. 1071 (1078), der die Rechtfertigungsgründe der öffentlichen Ordnung und der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung für kaum einschlägig ansieht und damit eine Begrenzung der möglichen Rechtfertigungen für Private annimmt.

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der Rechtfertigungsgründe nach Artikel 39 Abs. 3 EG ist die Erhaltung einer Befugnis der Mitgliedstaaten, für sich Ausnahmen der Grundfreiheiten festzulegen.152 Obwohl diese Ausnahmen wegen der Grundentscheidung der Gemeinschaft für einen Binnenmarkt nur in sehr engen Grenzen zulässig sind, die vom EuGH streng kontrolliert werden,153 können die Mitgliedstaaten in diesem Rahmen Einschränkungen der Grundfreiheiten zugunsten anderer Ziele vornehmen. Diese Kompetenz wird hier nun Privaten zugestanden. Dies bedeutet, dass Private zunächst selbständig für sich in Anspruch nehmen könnten, im öffentlichen Interesse tätig zu sein, um so Beschränkungen der Freizügigkeit anderer zu rechtfertigen. Die darin liegende Kompetenzverschiebung ist allerdings recht begrenzt. Denn der Mitgliedstaat kann in einem eventuellen Gerichtsverfahren diese Rechtfertigung überprüfen und erlangt damit wieder den Zugriff auf die Definition des öffentlichen Interesses. Bei dieser Überprüfung hätte der EuGH der staatlichen Entscheidungsmacht denselben Spielraum einzuräumen, der besteht, wenn es um originär staatliche Maßnahmen geht. Nichtsdestotrotz liegt der Erstzugriff auf die Definition bei Privaten, so dass gewisse Zweifel am Erhalt der eigentlichen Kompetenzordnung bleiben. Dies auch deshalb, weil die Kontrolle der privaten Definition bei der Judikative und nicht bei der Legislative liegt. Das Argument, Private würden sich in der Regel in ihrem Verhalten nicht von öffentlichen, sondern von wirtschaftlichen Interessen leiten lassen,154 überzeugt in diesem Zusammenhang hingegen nicht. Dies ist keine Frage der Anwendbarkeit der im Vertrag vorgesehenen Rechtfertigungsgründe, sondern betrifft die Problematik, private Handlungsmotive und -hintergründe angemessen zu berücksichtigen. Damit ist das grundsätzliche Problem angesprochen, inwieweit sich private von staatlichen Maßnahmen unterscheiden und dementsprechend einem anderen rechtlichen Regime unterworfen werden müssen. Ausgangspunkt ist dabei die Privatautonomie oder, allgemeiner, die Grundrechtsberechtigung privater Akteure. Daher ist der Einwand der unterschiedlichen Handlungsmotivation in diesen Zusammenhang einzuordnen, in Bezug auf die Rechtfertigungsgründe des Artikels 39 Abs. 3 EG jedoch irrelevant. cc) Erlass von Regelungen als Ausübung des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit Das Urteil greift das Problem einer anderen Beurteilung privater Handlungen selbst auf, als zum ersten Mal die Möglichkeit Privater, sich bei der Beurteilung ihrer Handlungen auf Gemeinschafts-Grundrechte zu berufen, angesprochen wurde. Bislang war lediglich auf die Gefahren hingewiesen worden, die von 152 153 154

Vgl. nur Schmitz, Kommerzielle Kommunikation, S. 127 ff. Siehe dazu nur Streinz, Europarecht, Rz. 703. So Körber, EuR 2000, S. 932 (946).

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privaten ebenso wie von staatlichen Maßnahmen ausgehen könnten. Im Verfahren war aber das Argument vorgebracht worden, dass der Erlass der Verbandsstatuten durch Gemeinschafts-Grundrechte gerade geschützt sei. Konkreter Bezugspunkt war Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Vereinigungsfreiheit gewährleistet. Der Gerichtshof betont zunächst die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht, das nach ständiger Rechtsprechung, welche durch den neu eingeführten Artikel F Abs. 2 des EU-Vertrags sowie durch die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte bestätigt worden sei, „in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt [werde]“.155 Trotz der damit anerkannten Bedeutung der Vereinigungsfreiheit für das Gemeinschaftsrecht weist der EuGH allerdings weitergehende Folgen ihrer Geltung für seine Entscheidung zurück: „Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass die von Sportvereinen aufgestellten Regeln, mit denen sich das vorlegende Gericht beschäftigt, erforderlich sind, um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände, die Vereine oder die Spieler zu gewährleisten, oder dass sie eine unausweichliche Folge dieser Freiheit darstellen.“156

Das Gericht fragt demnach, ob die Regeln für die Ausübung der Vereinigungsfreiheit „erforderlich“ und ob sie „eine unausweichliche Folge dieser Freiheit“ sind. Beides wird vom Gericht verneint mit dem Ergebnis, dass die Anwendung des Artikels 39 EG auf das Vereinsstatut durch die Vereinigungsfreiheit nicht verhindert wird. Auf diese Weise wird das Verhältnis des Grundrechts zur Grundfreiheit vom EuGH geklärt. Inwieweit dies eine angemessene Lösung der damit nur angerissenen Problematik des Verhältnisses zwischen Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten ist, wird noch zu untersuchen sein.157 dd) Zusammenfassung Aus der Entscheidung Bosman ergeben sich einige neue Aspekte zur Frage einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten: Am Grundsatz, der bereits durch die Walrave-Entscheidung eingeführt worden war, ändert Bosman nichts. Die darin befürwortete Bindung Privater wird allerdings insoweit erweitert, als nun nicht nur das Diskriminierungs-, sondern auch das Beschränkungsverbot des Artikels 39 EG für kollektive Regelungen gelten soll. Zur Rechtfertigung der Beeinträchtigungen sollen sich Private dafür aber auf die im EG-Vertrag festgeschriebenen Ausnahmen berufen können und somit quasi „im öffentlichen Inte155

EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 79. Ebenda, Rz. 80. 157 Zum Verhältnis Gemeinschafts-Grundrechte – Grundfreiheiten siehe unten S.176 ff. Zur Bewertung der vom EuGH in der Bosman-Entscheidung vorgenommenen Lösung siehe unten S. 203 f. 156

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resse“ von den Verboten der Arbeitnehmerfreizügigkeit abweichen können. Schließlich wurde im Bosman-Fall zum ersten Mal ein Gemeinschafts-Grundrecht eines privaten Verbandes diskutiert, welches zum Erlass der umstrittenen Regelungen hätte berechtigen können. f) Die Entscheidungen Deliège 158 und Lehtonen 159 In den Folgeentscheidungen Deliège und Lehtonen waren erneut Statuten von Sportverbänden Streitgegenstand. Im ersten Fall ging es um Christelle Deliège, eine belgische Judoka, die bei bestimmten Wettkämpfen von ihrem nationalen Judoverband nicht aufgestellt worden war, d.h. keine entsprechende Lizenz erhalten hatte. Nach den Statuten des Europäischen Verbandes konnte eine Sportlerin ohne eine solche Lizenz nicht an Wettkämpfen teilnehmen. Ferner durfte jeder nationale Verband nur eine bestimmte Anzahl von Sportlern aufstellen. Mit der erfolgreichen Teilnahme war aber unter anderem die Qualifikationsmöglichkeit zu den Olympischen Spielen verbunden. Frau Deliège sah durch die beschränkte Anzahl von Sportlern pro nationalen Verband sowie durch das Erfordernis einer Verbandslizenz europäisches Recht, genauer die Artikel 49, 50, 55, 81 und 82 EG, verletzt. Im Fall Lehtonen hatte der finnische Basketballspieler Jyri Lehtonen mit einem belgischen Basketballverein Anfang April einen Arbeitsvertrag geschlossen. Lehtonen spielte unmittelbar danach bereits bei einem nationalen Ligaspiel mit. Der belgische Basketball-Verband wertete dieses Spiel wegen der Aufstellung von Lehtonen als verloren. Im folgenden Spiel wurde Lehtonen aufgestellt, spielte aber nicht. Dennoch wertete der Verband auch dieses Spiel als verloren und drohte weitere Sanktionen bei einem erneuten Einsatz des Spielers an. Daraufhin verzichtete der Verein darauf, Lehtonen nochmals spielen zu lassen. Hintergrund der Maßnahmen war eine Regelung des Statuts des internationalen Basketballverbands, wonach ein Spieler, der während der Saison bereits bei einem anderen Verein gespielt hat, nach einem bestimmten Stichtag in derselben Saison nicht für einen anderen Verein spielen durfte. Dieser Stichtag war dabei für ausländische Spieler grundsätzlich der 31.3. eines Jahres. Für Spieler aus derselben vom Verband festgelegten geographischen „Zone“, in diesem Fall aus der „europäischen Zone“, galt hingegen bereits der 28.2. als Stichtag. Der Kläger war der Ansicht, diese Fristenregelung verletze Artikel 12 und 39, sowie Artikel 81 und 82 EG. In beiden Fällen bestätigte der Gerichtshof die Ausführungen, die er in Walrave und Bosman gemacht hatte. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der von den Klägern jeweils angeführten Grundfreiheiten auf private Regelungen berief sich der Gerichtshof ausdrücklich auf diese beiden Entscheidungen: 158 159

EuGH, Verb. Rs. C-51/96 und 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549. EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

„Was die Natur der streitigen Regeln angeht, so ergibt sich aus den Urteilen Walrave und Koch sowie Bosman, dass die Gemeinschaftsbestimmungen über die Freizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr nicht nur für behördliche Maßnahmen gelten, sondern sich auch auf Vorschriften anderer Art erstrecken, die zur kollektiven Regelungen unselbständiger Arbeit und der Erbringung von Dienstleistungen dienen.“160

Auch das nachfolgende Argument der Gefährdung des Binnenmarktes hatte er bereits in diesen Urteilen verwendet. Im Fall Deliège kam der EuGH zum Ergebnis, das Auswahlsystem des Verbandes sei nicht diskriminierend, sondern eine diskriminierungsfreie Beschränkung. Jedoch sei diese nicht verboten, da sie zur Durchführung der Wettkämpfe notwendig sei.161 Der Verband habe daher lediglich in Ausübung seiner Aufgabe, geeignete Regeln zur Durchführung von Turnieren aufzustellen und umzusetzen, gehandelt. Auch wenn der Gerichtshof damit einen Verstoß gegen Artikel 49 EG ablehnt, ist durch die Überprüfung zum Ausdruck gebracht, dass auch das Beschränkungsverbot der Dienstleistungsfreiheit grundsätzlich durch Private verletzt werden kann. Im Fall Lehtonen hingegen hielt der Gerichtshof eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für möglich, denn die Beschränkung des Einsatzes eines Spielers bedeute gleichzeitig auch eine Beschränkung seiner Beschäftigungsmöglichkeiten.162 Damit ist die Anwendbarkeit des Beschränkungsverbots auf kollektive Regelungen nochmals deutlich bestätigt. Im Folgenden ging er auf Möglichkeiten einer Rechtfertigung ein, auf die es hier aber nicht ankommt. Mit den Entscheidungen Deliège und Lehtonen kann die Anwendbarkeit des Verbots diskriminierungsfreier Beschränkungen auf kollektive Regelungen als gefestigte Rechtsprechung angesehen werden.163 g) Die Entscheidung Angonese/ Cassa di Risparmio di Bolzano SpA 164 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der EuGH fast ausschließlich mit Regelungen von Verbänden, insbesondere Sportverbänden, beschäftigt. Er konnte daher seine Aussagen zur Bindung Privater nahezu durchweg auf „kollektive Regelungen“ beschränken. In der Entscheidung Angonese kam es nun zum ersten Mal entscheidend darauf an, ob Grundfreiheiten auch auf individuelle Maßnahmen Privater anwendbar sind. 160 EuGH, Verb. Rs. C-51/96 und 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 Rz. 47; Ebenso EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 35. 161 EuGH, Verb. Rs. C-51/96 und 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 Rz. 64. 162 EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 50. 163 Vgl. dazu auch Streinz, JuS 2000, S. 1015 (1016 f.); Röthel, EuZW 2000, S. 357. 164 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139.

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In dem Fall ging es um eine private Bank, die eine Stellenanzeige aufgegeben hatte. Darin wurde als Bewerbungsvoraussetzung der Besitz eines sog. „patentino“ verlangt, welches von Behörden der Provinz Bozen nach Bestehen mehrerer Prüfungen ausgestellt wird. Das patentino belegt als offizielles Dokument die Zweisprachigkeit des Inhabers, genauer die Befähigung der italienischen sowie der deutschen Sprache. Herr Angonese, ein italienischer Staatsangehöriger, beherrschte beide Sprachen fließend, besaß aber kein patentino und war daher zum Bewerbungsverfahren der Bank nicht zugelassen worden. Dagegen wandte er sich mit dem Argument, die Voraussetzung des patentinos, welches nur in Bozen ausgestellt werde, sei eine indirekte Diskriminierung und daher mit Artikel 39 EG unvereinbar. Generalanwalt Fennelly lehnte die EG-rechtliche Relevanz des vorgetragenen Sachverhalts ab, da es sich bei Herrn Angonese um einen italienischen Staatsbürger handelte. Damit kam es auf die Frage der Unvereinbarkeit der Maßnahme mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht mehr an.165 Dennoch nahm er hierzu kurz Stellung. Seine Überlegungen konzentrierten sich dabei auf die Frage, ob private Arbeitgeber eine Verpflichtung zur Nicht-Diskriminierung hätten, oder anders ausgedrückt, ob Artikel 39 EG auch private Maßnahmen, vor allem Maßnahmen Einzelner umfasse. Der Generalanwalt sah im Ergebnis davon ab, diese Frage näher zu behandeln. Seine Aussage ging aber eindeutig dahin, bei direkter Diskriminierung, parallel zu der Rechtsprechung bezüglich Artikel 141 EG,166 auch private Individualmaßnahmen an Artikel 39 EG zu messen.167 Der EuGH ging in seiner Entscheidung über diese Aussage des Generalanwalts hinaus, da er für die Frage nach der europarechtlichen Relevanz auf das nationale Gericht verwies und nur kurz feststellte, dass es nicht offensichtlich an einem Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht fehle.168 Damit war aber die Frage entscheidend, inwieweit die Maßnahmen der Bank gegen Artikel 39 EG verstießen. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass das Diskriminierungsverbot des Artikels 39 EG vom Wortlaut her nicht speziell an die Mitgliedstaaten gerichtet, sondern allgemein formuliert sei.169 Sodann verwies er auf Walrave und Bosman und die dort verwendeten Argumente, um zu erklären, dass kollektive Regelungen ebenso wie staatliche Maßnahmen dem Diskriminierungsgrundsatz unterlägen.170 Um den Übergang von der kollektiven zur individuellen Re-

165 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139, Schlussanträge, S. I-4142 Rz. 14 ff. 166 EuGH, Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, S. 455, vor allem Rz. 30 bis 40. 167 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 40 f. 168 Ebenda, Rz. 18 f. 169 Ebenda, Rz. 30. 170 Ebenda, Rz. 32 f.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

gelung zu begründen, bediente sich der Gerichtshof einer wenig überzeugenden Überlegung: Er berief sich auf seine Rechtsprechung, in der er zwingenden Vertragsvorschriften einen subjektiv-rechtlichen Charakter zugewiesen hatte: „Auch hat der Gerichtshof entschieden, dass die Tatsache, dass bestimmte Vertragsvorschriften ausdrücklich die Mitgliedstaaten ansprechen, nicht ausschließt, dass zugleich allen an der Einhaltung der so umschriebenen Pflichten interessierten Privatpersonen Rechte verliehen sein können.“171

Damit ist aber nicht gesagt, dass ein solches Recht auch gegenüber anderen als den ausdrücklich verpflichteten Mitgliedstaaten besteht. Ein Recht kann ebenso relativ nur gegen den Staat gerichtet sein, wie es auch absolut gegen alle gelten kann. Die Möglichkeit der Relativität eines Rechts blendete der Gerichtshof aus und ging ohne weitere Begründung oder Erklärung von einer absoluten Wirkung aus. Aus dieser Perspektive bedurfte er keiner weiteren Argumentation, um aus dem Recht auf Nicht-Diskriminierung ein ebensolches Verbot für alle Privatpersonen zu folgern. In eine ähnliche Richtung geht letztlich auch ein Verweis des Gerichtshofs auf Defrenne.172 In der Defrenne-Entscheidung hatte der Gerichtshof Private im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung zwischen Männern und Frauen für verpflichtet erklärt. Den Einwand der Privatautonomie hatte er dabei als „unhaltbar“ bezeichnet, da Artikel 141 EG zwingenden Charakter habe. Diese Norm sei daher sowohl auf kollektive Arbeitsregelungen als auch auf individuelle Arbeitsverträge anwendbar.173 Die Übertragung dieser Rechtsprechung erfolgte mit einem „Erst-Recht-Schluss“, da Artikel 39 EG sowohl eine Grundfreiheit formuliere als auch eine spezifische Anwendung des allgemeinen Diskriminierungsverbots sei.174 Die Ausführungen des EuGH mündeten in dem Satz: „Das in Artikel 48 [39 EG] des Vertrags ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt somit auch für Privatpersonen.“175

Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung um einen weiteren Schritt vorangetrieben.176 Auf der Basis dieses Urteils unterliegen alle privaten Handlungen, ob kollektiv oder nicht, die Arbeitnehmer betreffen, dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die private Natur der Maßnahme führt dabei zu keinerlei Einschränkungen der Anwendbarkeit.

171 172 173 174 175 176

EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 34. Ebenda. EuGH, Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, S. 455 Rz. 38/39. EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 35. Ebenda, Rz. 36. Dazu auch Lane/Shuibhne, CMLR 2000, S. 1240 ff.

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h) Zusammenfassung Alle bisherigen Urteile zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG hatten private Verträge oder Regelungen zu beurteilen. Die Rechtsprechung dabei ist ein deutlicher Gegensatz zu der grundsätzlichen Ablehnung einer Bindung Privater bei ähnlichen Maßnahmen im Rahmen von Artikel 28 EG. In allen Fällen bejahte der Gerichtshof grundsätzlich eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten, auch wenn im Einzelfall eine Verletzung abgelehnt wurde. Auffällig ist, dass eine Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit nicht erfolgt. Die Gegenüberstellung von privaten und staatlichen Maßnahmen, wie sie dort als Argument gegen eine Bindung Privater verwendet wird, unterbleibt ebenfalls. Der private Ursprung der Maßnahme wird nicht als wesentliches Kriterium angesehen. Zunächst wurde eine Bindung Privater an diese Freiheiten auf kollektive Regelungen beschränkt. In Bosman bestätigt durch Deliège und Lehtonen, wurde dann neben dem Diskriminierungsverbot auch das Verbot diskriminierungsfreier Beschränkungen für bindend erklärt. In einem nächsten Schritt wurde in der Entscheidung Angonese eine generelle Bindung Privater – ohne die Begrenzung auf kollektive Regelungen – an das Diskriminierungsverbot dieser Normen niedergelegt. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass nach der Rechtsprechung Private bei allen rechtsgeschäftlichen Maßnahmen an das Diskriminierungsverbot der Artikel 39, 43 und 49 EG gebunden sind. Darüber hinaus sind sie an das Verbot diskriminierungsfreier Beschränkungen gebunden, wenn es sich bei der privaten Maßnahme um eine kollektive Regelung handelt.

3. Ergebnis Die Untersuchung der Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Grundfreiheiten zeigt, dass der Gerichtshof keine auf den ersten Blick klare und einheitliche Linie verfolgt. Es lassen sich vielmehr deutliche Unterschiede erkennen, vor allem zwischen den einzelnen Grundfreiheiten sowie zwischen den Beschränkungsformen. Ferner zeigt sich, dass nahezu alle Urteile sich auf rechtsgeschäftliches Handeln Privater beziehen. a) Rechtsgeschäftliches Handeln als Hauptanwendungsbereich privater Beschränkungen Im Bereich des rechtsgeschäftlichen Handelns werden sowohl vertragliche Vereinbarungen als auch kollektive Regelungen eingeordnet. Die Urteile zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG behandeln ausschließlich Fälle rechtsgeschäftlicher

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

Maßnahmen. Zwar kann die Rechtsnatur von Vereinssatzungen nicht ohne weiteres als Vertrag eingeordnet werden.177 Ihre Geltung kann aber aufgrund ihrer privaten Natur nur auf rechtsgeschäftlichem Wege herbeigeführt werden, da ein Verein keine Normsetzungsbefugnis gegenüber anderen Privaten innehaben kann.178 Auch bei Artikel 28 EG behandeln die Mehrheit der Urteile rechtsgeschäftliches Handeln. Allerdings hatte der Gerichtshof im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zwei Fälle von Beschränkungen tatsächlicher Art zu entscheiden: das gewaltsame Aufhalten und Zerstören von ausländischen Produkten an der Grenze und die Blockade des Transitverkehrs durch Versammlungen auf einer Autobahn. Das Übergewicht rechtsgeschäftlicher Beschränkungen überrascht insofern nicht, als die Ausübung der Grundfreiheiten immer auf den Abschluss eines Vertrages gerichtet ist. Damit ist rechtsgeschäftliches Handeln im Bereich der Grundfreiheiten von fundamentaler Bedeutung. Anders als der Staat, der üblicherweise nicht Vertragspartner im Rahmen einer Wahrnehmung der Grundfreiheiten ist, sondern vielmehr dafür Verantwortung trägt, dass durch staatliche Regelungen keine Barrieren für das Zustandekommen derartiger Vertragsabschlüsse bestehen, sind Private unmittelbar beteiligt an der Verwirklichung nicht nur ihrer eigenen Grundfreiheiten, sondern auch der Grundfreiheiten anderer. Damit haben Private im rechtsgeschäftlichen Bereich Einflussmöglichkeiten, die dem Staat in dieser Weise nicht oder jedenfalls nicht primär gegeben sind. Private Beschränkungen in diesem Bereich sind daher von besonderer Bedeutung. Es sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass im rechtsgeschäftlichen Bereich, anders als bei tatsächlichem Handeln, eine weitere Besonderheit besteht, auf die an anderer Stelle näher einzugehen sein wird: Beinträchtigungen der Inhaltsfreiheit werden nicht einseitig von einer privaten Partei durchgeführt, sondern beruhen auf einer Willenserklärung der anderen betroffenen Partei. Die Zustimmung des Beeinträchtigten zu der Einschränkung seiner eigenen Grundfreiheiten erfordert daher eine spezifische Auseinandersetzung.179 b) Differenzierungen zwischen den Grundfreiheiten Unter Berücksichtigung der oben vorgenommenen Unterscheidung zwischen rechtsgeschäftlichen und tatsächlichen Maßnahmen ergibt sich deutlich eine Differenzierung in der Rechtsprechung des EuGH: Während im Bereich der Warenverkehrsfreiheit eine Bindung Privater bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen ab177 Vgl. zur deutschen Diskussion, ob es sich bei Vereinssatzungen um Verträge oder Normen handelt, nur Reuter, in: MüKo, Bd. 1, § 25 BGB Rz. 16 ff. 178 Reuter, in: MüKo, Bd. 1, § 25 BGB Rz. 18; Helms, Vereinsmitgliedschaft, S. 29 m. w. N. 179 Siehe hierzu ausführlicher unten S. 193 ff., 198 ff., 206 ff.

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gelehnt und stattdessen auf das Wettbewerbsrecht verwiesen wird, misst der Gerichtshof solche Maßnahmen an der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit. Diese unterschiedliche Behandlung privater Maßnahmen hat der EuGH zeitlich parallel aufrechterhalten. Die Urteile van de Haar, Vlaamse Reisebureaus und Bayer/Süllhöfer, die im Hinblick auf Artikel 28 EG ausdrücklich die Anwendbarkeit für private Maßnahmen verneinen, wurden zeitlich nach den Urteilen Walrave und Donà getroffen, die dies in Bezug auf Artikel 39 und 43 EG entgegengesetzt entschieden. Bosman, Deliège, Lehtonen und Angonese wiederum ergingen danach, so dass man nicht annehmen kann, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung in die eine oder andere Richtung revidieren wollte.180 Es fehlen auch jegliche wechselseitige Bezugnahmen. Damit ist klar, dass die Differenzierung aufrechterhalten werden soll: Rechtsgeschäftliche Maßnahmen Privater werden nicht an Artikel 28 EG überprüft, sie werden aber an den Artikeln 39, 43 und 49 EG gemessen. Im Bereich tatsächlichen Handelns lässt sich eine solche Differenzierung schon deshalb nicht erkennen, weil sämtliche Entscheidungen hierzu zur Warenverkehrsfreiheit ergangen sind. Allerdings klingt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs durchaus an, dass auch bei tatsächlichen Beschränkungen der Artikel 39, 43 und 49 EG eine Bindung Privater angenommen werden würde. So führte der EuGH bereits in Haug-Adrion aus, dass die Artikel 39 und 49 EG das Ziel hätten, „alle Maßnahmen [zu beseitigen], die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates [. . .] gegenüber eigenen Staatsangehörigen, die sich in derselben Lage befinden, rechtlich oder tatsächlich benachteiligen.“ 181

Damit ist jedenfalls angedeutet, dass auch bei faktischem Handeln die Grundfreiheiten beachtet werden müssen.182 Ob sich bei tatsächlichen Maßnahmen daher die Differenzierung zwischen den Grundfreiheiten, die sich im rechtsgeschäftlichen Bereich erkennen lässt, fortsetzt, ist auf der Grundlage der Rechtsprechung daher noch offen, wird sich aber bei der genauen Untersuchung der Grundfreiheiten klären lassen.183

180 Roth, FS Everling, S. 1230 (1239) konnte noch davon ausgehen, dass die Rechtsprechung zu den Personenverkehrsfreiheiten durch die nachfolgenden Entscheidungen zu Artikel 28 EG relativiert wurde, da zu dem Zeitpunkt die Entscheidung Bosman noch nicht ergangen war. 181 EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. 4277 Rz. 14. 182 Hierzu näher unten S. 211 ff. 183 Siehe unten S. 211 ff.

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c) Differenzierung zwischen Diskriminierung und Beschränkung Innerhalb der Artikel 39, 43 und 49 EG lässt sich eine weitere Differenzierung feststellen. Diese bezieht sich auf die unterschiedlich starke Bindung Privater bei ihrem Handeln, je nachdem, ob es um Diskriminierungen oder um Beschränkungen im Bereich der Grundfreiheiten geht. Bei Diskriminierungen fallen alle privaten Maßnahmen jedenfalls im rechtsgeschäftlichen Bereich in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Dies wurde in Angonese klar festgestellt. Für diskriminierungsfreie Beschränkungen findet sich eine so weitgehende Bindung aller Privaten nicht. Der Gerichtshof, der in Bosman zum ersten Mal überhaupt diskriminierungsfreie Beeinträchtigungen von Artikel 39 EG erfasst sah, nahm die Bindungswirkung nur für „kollektive Regelungen“ an. Da er diese Formulierung zuvor in den Entscheidungen van Ameyde und Haug-Adrion nicht benutzt hatte und auch später in Angonese nicht wieder verwendete, spricht viel dafür, dass die Begrenzung des Anwendungsbereichs bewusst gewählt war und für das Beschränkungsverbot eine Voraussetzung für eine Bindung Privater darstellt. Umgekehrt heißt das, dass Individualvereinbarungen durchaus Beschränkungen auch dieser Grundfreiheiten enthalten dürfen.

II. Literaturansichten zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten In der Literatur wurde das Problem einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten zunächst nicht als Gesamtproblem erörtert, sondern im Rahmen von Bearbeitungen einzelner Verkehrsfreiheiten behandelt. Dabei wurde vor allem Artikel 28 EG einer Prüfung unterzogen.184 Erst im Anschluss an die Bosman-Entscheidung wurde die sog. Drittwirkung der Grundfreiheiten generell als Problem entdeckt.185 Dabei wurde meist versucht, ein einheitliches Konzept zu erarbeiten, welches die Bindungswirkung für alle Grundfreiheiten in derselben Weise bestimmt.186 Aus dem Blickwinkel einer einheitlichen Betrachtung der Freihei184 Schaefer, Unmittelbare Wirkung, passim, Quinn/McGowan, ELR 12 (1987), S. 163 ff.; Milner-Moore, Harv. Jean Monnet WP 9/95. 185 Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung, 1997; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000; Schindler, Kollision, 2001; Kluth, AöR 122 (1995), S. 557 ff.; Baquero Cruz, ELR 1999, S. 603 ff.; Burgi, EWS 1999, S. 327 ff.; U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 ff.; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 ff. Davor allerdings Roth, FS Everling, 1995, S. 1231 ff.; Steindorff, FS Lerche, 1993, S. 575 ff. und ders., EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 277 ff. 186 Ganten, Drittwirkung, S. 54 f., kündigt ausdrücklich an, ein „in sich stimmiges Gesamtkonzept“ entwickeln zu wollen. Im Ansatz ebenso Burgi, EWS 1999, S. 327 (328); Baquero Cruz, ELR 1999, S. 603 (604); Jaensch, Drittwirkung, S. 80; Kluth, AöR 122 (1995), S. 557 (566 f.); Roth, FS Everling, S. 1231 (1246); Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 152; Steindorff, FS Lerche, S. 575 (579).

II. Literaturansichten

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ten ist die unterschiedliche Rechtsprechung des EuGH als verfehlt angesehen worden.187 Ted O. Ganten spricht von einer „gewissen Unsicherheit“ des EuGH im Umgang mit dieser Frage.188 Ernst Steindorff erkennt einen krassen und kaum verständlichen Widerspruch.189 Auch Michael Jaensch sieht seit der Bosman-Entscheidung190 kein nachvollziehbares Kriterium mehr für die unterschiedliche Rechtsprechung.191 Allerdings gilt diese Kritik an der Rechtsprechung nur insoweit, als sich die Untersuchungen allgemein auf die „Drittwirkung“ beziehen. Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn sich Autoren speziell nur mit einer Freiheit beschäftigt haben. Dann wird die Rechtsprechung des EuGH überwiegend für überzeugend gehalten.192 Ein Widerspruch zwischen den Urteilen wird dabei nicht angesprochen.193 Dies legt die – wie sich später herausstellen wird – richtige Vermutung nahe, dass die Entscheidungen des EuGH im jeweiligen Sachgebiet durchaus eine überzeugende Lösung darstellen, dass also in den Grundfreiheiten selbst eine Differenzierung angelegt ist. Der einheitliche Blick auf die „Drittwirkung“ als Gesamtproblem versperrt dabei den Zugang zu den unterschiedlichen Sachlogiken der einzelnen Freiheiten. Bei dem Versuch, eine allgemeine Systematik der Bindungswirkung der Grundfreiheiten zu erarbeiten, ist in der überwiegend deutschen Literatur der Rekurs auf deutsche Grundrechtsdogmatik zentral. Dies offenbart sich vor allem 187 Anders Quinn/McGowan, ELR 12 (1997), S. 163 (178). Siehe hingegen Roloff, Beschränkungsverbot, S. 222 f. Nur feststellend Streinz, in: FS Rudolf, S. 199 (221); Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (22) nehmen schließlich an, dass sich eine Angleichung der Rechtsprechung zu Art. 28 EG ergeben wird. 188 Drittwirkung, S. 54. 189 FS Lerche, S. 575, 579. So auch Körber, EuR 2000, S. 932 (944). 190 Durch diese Entscheidung sieht er das Differenzierungskriterium Diskriminierung oder Beschränkung, welches Roth, FS Everling, S. 1231 ff., noch für entscheidend halten konnte, als überholt an. Hierauf wird näher einzugehen sein (siehe unten S. 120 ff.; 158 ff.) 191 Drittwirkung, S. 80. 192 Zu Artikel 28 EG: Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 28 EG-Vertrag, Rz. 46; Dauses, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, C I Rz. 93; Ullrich/Konrad, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, C III Rz. 2; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 35 f.; Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 28 EGV Rz. 13, der ein mögliche Einschränkung bei Verbänden sieht. Allgemein für eine Bindung Privater an Artikel 28 EG Schaefer, Unmittelbare Wirkung, passim, Waelbroeck, LA Pescatore, S. 781 (786); Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 87. Zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG: Holoubeck, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 49 EGV Rz. 40 f.; Hailbronner in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, D I Rz. 41e; Roth, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, E I Rz. 17 f.; Randelzhofer, in: G/H, Art. 52 Rz. 39; Brechmann, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 39 EG-Vertrag Rz. 51; Fabis, S. 101 ff.; Mulas, Freizügigkeit, S. 72; Eyles, Niederlassungsrecht, S. 27 f. Weitere Nachweise finden sich bei Schindler, Kollision, S. 9 Fn. 179 f. 193 Anders nur Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 50 EG-Vertrag Rz. 46, dessen Kommentierung aber sein ausführlicher Aufsatz zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten allgemein (AöR 122 [1997], S. 557 ff.) zugrunde liegt.

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in dem Versuch, die Rechtsprechung in Fälle von unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung zu systematisieren und dem Bestreben, die Anwendung dieser Drittwirkungslehren – dies gilt vor allem für die Lehre der mittelbaren Drittwirkung – für die Grundfreiheiten auch normativ zu begründen. Es zeigt sich indes, dass die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung jedenfalls für die europäische Ebene wenig gewinnbringend ist. Im Folgenden werden die in der Literatur bestehenden Konzepte zum Umgang mit privaten Gefährdungen der Grundfreiheiten dargestellt. Dabei wird zunächst die in der Literatur ebenfalls vielfach angenommene aber abzulehnende Beschränkung des Adressatenkreises auf „staatsähnliche“ Private erörtert (1.). Sodann soll die vorgeschlagene Differenzierung zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten dargestellt (2.) und kritisch beleuchtet werden (3.). 1. Bindung nur bei staatsähnlichen Regelungen Privater Nur wenige Autoren nehmen an, dass alle Privaten an die Grundfreiheiten gebunden werden. Auf der Basis der Rechtsprechung des EuGH, der den Begriff der „kollektiven Regelungen“ prägte, wird stattdessen versucht, eine Eingrenzung der zu bindenden Privaten zu definieren.194 Dabei wird eine Bindung an die Grundfreiheiten auf „intermediäre Gewalten“,195 „sozial mächtige“196 oder „quasi-staatliche Private“197 beschränkt.198 Mit der Entscheidung Angonese199 ist indes die Grundlage, die diese Ansicht in der Rechtsprechung gefunden hatte, ins Wanken geraten.200 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung wird dann aber konsequenterweise davon ausgegangen, dass das Diskriminierungsverbot für alle Privaten gelte, das Beschränkungsverbot jedoch 194 Siehe nur Jaensch, Drittwirkung, S. 266; Jarass, FS Everling, Bd. I, S. 593 (594); Klose, Europäischen Einigung, S. 174, speziell für Sportverbände. Ähnlich Fabis, Freizügigkeit, S. 124 ff.; Matthies, GS Sasse, S. 115 (124). Differenziert Roth, FS Everling, Bd. I, S. 1231 (1246). Eine Bindung Privater insgesamt eher ablehnend Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 7 III 3 (S. 163), Pache in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 11 III 1 (S. 280 f.). 195 Jaensch, Drittwirkung, S. 263 ff.; Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 94. 196 Fabis, Freizügigkeit, S. 124 ff.; Matthies, GS Sasse, S. 115 (124); Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (22), Röthel, ZEuP 2002, S. 58 (73); Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 95 spricht von „faktischer Machtstellung“. 197 Jaensch, Drittwirkung, S. 266; Klose, Europäischen Einigung, S. 174, speziell für Sportverbände. Ähnlich auch Epiney, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 8 II 1 (S. 190). 198 Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 38 EGV Rz. 94 spricht davon, dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis zugunsten privat- oder öffentlichrechtlicher Institutionen zurücknimmt. 199 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139. 200 Vgl. Canaris, FS Schmidt, S. 29 (64).

II. Literaturansichten

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weiterhin nur auf kollektive Regelungen anwendbar sei.201 Während zur Begründung der allgemeinen Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots vor allem auf Artikel 12 EG verwiesen wird,202 wird bei der Überprüfbarkeit kollektiver Regelungen insbesondere die Vergleichbarkeit zu staatlichen Maßnahmen betont.203 Die Diskussion erinnert an die frühen Versuche der deutschen Grundrechtsdogmatik, die Anwendung der grundgesetzlichen Grundrechte auf besonders mächtige Private zu erstrecken.204 Die Frage der Drittwirkung wurde zu Beginn mit ähnlichen Argumenten und der Einführung einer Kategorie der Staatsähnlichkeit diskutiert, wie es jetzt für die Grundfreiheiten erfolgt. Dieser Ansatz hat sich in Deutschland zu Recht nicht durchsetzen können. Insofern erstaunt, dass die Argumente der deutschen Diskussion, die gegen diese Kategorie angeführt wurden, kaum Beachtung gefunden haben205, zumal die europäischen Diskussion der „Drittwirkung“ der Grundfreiheiten ansonsten sehr stark von der deutschen Grundrechtsdogmatik beeinflusst wird. Ausgangspunkt der Überlegungen muss die Privatautonomie bzw. die Grundrechtsträgerschaft sein, die Private vom Staat unterscheidet.206 Dieser Unterschied gilt aber als Grundsatz für alle Privaten, unabhängig von ihrer sozialen Mächtigkeit.207 Auch wenn die Abgrenzung zwischen privat und staatlich oft schwierig ist und in Grenzbereichen verschwimmt, bleibt die Privatautonomie doch als Grundsatz bestehen.208 Das bedeutet nicht, dass die Privatautonomie nicht für bestimmte Private bzw. unter bestimmten Voraussetzungen für Private allgemein eingeschränkt werden kann. Dabei kommt es aber darauf an, solche Einschränkungen bewusst vorzunehmen und handhabbare Kriterien hierfür zu finden. Die oben genannten Kategorien sind dabei wenig hilfreich,209 es wird sich vielmehr zeigen, dass andere 201 In allen Besprechungen des Angonese-Urteils wird hierauf verwiesen. So bei Körber, EuR 2000, S. 932 (949 f.); U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (393); Streinz/ Leible, EuZW 2000, S. 459 (467). Im Ergebnis ähnlich Jaensch, Drittwirkung, S. 254 ff. und 268 ff.; Müller-Graff, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl. Art. 30 Rz. 305, inzwischen weitergehend in der 6. Aufl., Art. 28 EG Rz. 305; vgl. auch Roth, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, E I Rz. 17. 202 Siehe nur U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (393). Vgl. Roth, FS Everling, S. 1231 (1245); Jaensch, Drittwirkung, S. 263 ff. 203 Fabis, Freizügigkeit, S. 124 ff.; Jaensch, Drittwirkung, S. 263 ff. 204 Vgl. dazu Canaris, FS Schmidt, S. 29 (36 f.), m. w. N., der ebenfalls die deutsche Diskussion im Rahmen der europäischen Debatte um die „Drittwirkung“ der Grundfreiheiten heranzieht. Allgemein zur deutschen Diskussion Stern, Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 76 IV 8 (S. 1586 ff.). 205 Lediglich Canaris, FS Schmidt, S. 29 (48 f.) führt diese Argumente auch unter Bezug auf die deutsche Debatte an. 206 So auch deutlich Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 76 IV 8 (S. 1591 ff); Roloff, Beschränkungsverbot, S. 214 ff. Vgl. auch Canaris, FS Schmidt, S. 29 (37), der vor allem auf das Fehlen rechtlicher Befugnisse abstellt. 207 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 76 IV 8 (S. 1592). 208 Dazu schon Preedy, ERPL 2000, S. 125 (131 f.).

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

Ansätze gewinnbringender eingesetzt werden können, um das eigentliche Problem zu bewältigen, welchem sich bisher vor allem durch die Berufung auf die „Staatsähnlichkeit“ zu nähern versucht wird.210 2. Bestehende Konzepte zum Umgang mit privaten Gefährdungen der Grundfreiheiten Im Folgenden sollen nun kurz die Ansätze, die in der Literatur zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten vertreten werden, dargestellt und auf ihre Überzeugungskraft untersucht werden. Dabei lassen sich die Vorschläge grob in zwei Gruppen einteilen, die der Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung – in Anlehnung an die deutsche Grundrechtsdogmatik – folgen. Neben den Bedenken, die bereits im Hinblick auf die Übertragung der deutschen Terminologie auf die europäischen Ebene geäußert wurden,211 stellt sich hier vor allem die Frage, inwieweit die Unterscheidung für das europäische System hilfreich ist. a) Theorie der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten Auf der Basis der Rechtsprechung zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG wird in der Literatur eine „unmittelbare Drittwirkung“ der Grundfreiheiten vertreten.212 Danach sollen alle Grundfreiheiten unmittelbar gegenüber Privaten gelten; sie können daher von Privaten gegenüber anderen privaten Akteuren geltend gemacht werden. Sie wirken unmittelbar in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten, ohne dass es einer Umsetzung der Norm ins nationale Recht bedürfte. Die Verhaltenspflichten ergeben sich danach direkt aus den Grundfreiheiten selbst. Sie können im Wege von Unterlassungs- oder Beseitigungsklagen, oder durch sekundäre Schadensersatzansprüche durchgesetzt werden.213 Dabei wird überwiegend eingeschränkt, dass eine unmittelbare Drittwirkung nur gegenüber bestimmten Privaten in Betracht komme, solchen nämlich, die „staatsähnlich“ seien.214 209 Deutlich Canaris, FS Schmidt, S. 29 (48), der die genannten Begriffe als „viel zu unscharf und auch zu pauschal“ bezeichnet; ähnlich Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 76 IV 8 (S. 1592): „“Soziale Macht“ und „private Gewalt“ ist keine juristisch abgrenzbare Kategorien. Sie verschwimmen im Nebel des Ideologischen.“ 210 Siehe unten S. 181 ff., vor allem S. 185 ff. 211 Siehe oben S. 19 ff. 212 Ganten, Drittwirkung, passim; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 295 ff.; für Artikel 28 EG Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 189 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rz. 1517; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 234 f. Dagegen deutlich Ehlers, in ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 7 IV 3 (S. 166 f.), ohne sich dabei einer mittelbaren Drittwirkung anzuschließen. 213 Hierzu ausführlich Ganten, Drittwirkung, S. 199 ff.

II. Literaturansichten

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b) Theorie der mittelbaren Drittwirkung oder Schutzpflichttheorie Demgegenüber wird von der Gegenansicht eine unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten gegenüber Privaten abgelehnt und stattdessen einen „mittelbare Drittwirkung“ befürwortet,215 die auch als Schutzpflichttheorie bezeichnet wird.216 Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Entscheidung Kommission/Frankreich, bei der eine Pflicht des Mitgliedstaates zum Schutz vor privaten Behinderungen des freien Warenverkehrs angenommen wurde.217 Diese den Grundfreiheiten entstammende Schutzpflicht biete die Möglichkeit, privaten Störungshandlungen Herr zu werden. Die Mitgliedstaaten hätten ihre Rechtsordnungen so zu gestalten und durchzusetzen, dass ein Schutz der Grundfreiheiten vor privaten Eingriffen gewährleistet werde.218 Damit erfolge eine Anwendung der Grundfreiheiten nicht unmittelbar auf privates Verhalten, sondern mittelbar im Rahmen der nationalen Rechtsordnungen. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Privaten kommt es dabei auch und vor allem auf das Zivilrecht an. Zwar waren in den Fällen Kommission/Frankreich und Schmidberger vor allem verwaltungsrechtliche Maßnahmen relevant. Es ist aber ebenso gut denkbar, dass die Schutzpflicht der Mitgliedstaaten sich in der Ausgestaltung und Anwendung des Privatrechts verwirklicht.219 Entscheidend für die Wahl der Rechtsmaterie ist die konkrete Handlungssituation des Mitgliedstaates: Geht es um die tatsächliche Verhinderung privater Zwangsmaßnahmen, geschieht dies vor allem mit den Mitteln des Polizeirechts. Klagt hingegen 214 Jaensch, Drittwirkung, S. 266; Jarass, FS Everling, Bd. I, S. 593 (594); Klose, Europäischen Einigung, S. 174, speziell für Sportverbände. Ähnlich Fabis, Freizügigkeit, S. 124 ff.; Matthies, GS Sasse, S. 115 (124). Differenziert Roth, FS Everling, Bd. I, S. 1231 (1246).Vgl. zur Bewertung dieser Einschränkung näher oben S. 60 f. 215 Burgi, EWS 1999, S. 327 ff.; Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 98, Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (465 ff.); U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396); Canaris, in: FS Schmidt, S. 29 ff.; in Ansätzen Körber, EuR 2000, S. 932 (945 ff.); für Artikel 28 EG auch Streinz, Europarecht, Rz. 709 f. 216 Allgemein zu Schutzpflichten auch im europäischem Recht, Szczekalla, Grundrechtlichen Schutzpflichten, 2002. Zum Verhältnis zwischen mittelbarer Drittwirkung und Schutzpflichttheorie allgemein, vgl. Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (227 f.), der die Schutzpflichten auch als mittelbare Drittwirkung bezeichnet sowie speziell für die Grundfreiheiten, derselbe, FS Schmidt, S. 29 (49 ff.). S. aber Klein, NJW 1989, S. 1633 (1940): „Über die grundrechtlichen Schutzpflichten erschließt sich der Umfang der „Drittwirkung der Grundrechte“.“ Ähnlich Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 39; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 201 f. Hier werden die beiden Ansätze, entsprechend ihren europarechtlichen Vertretern, einheitlich behandelt. Europarechtlich wird eine Trennung gar nicht erst versucht, so deutlich Schindler, Kollision, S. 175 f. 217 Näher dazu oben S. 32 ff. 218 Dabei wird eine grundfreiheitsfreundliche Auslegung des nationalen Privatrechts auch von Anhängern einer unmittelbaren Drittwirkung nicht geleugnet, siehe nur Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 300. 219 So Burgi, EWS 1999, S. 327 (330); Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (466); Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213 (218).

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

ein Privater auf Unterlassen der Beeinträchtigung oder macht einen Anspruch auf Schadensersatz gegen die privaten Störer geltend, kommt es auf das Privatrecht an. Ein qualitativer Unterschied ergibt sich dabei nicht.220 Denn für die Frage nach der Bindung Privater an die Verhaltensvorgaben der Grundfreiheiten kommt es im Ergebnis nicht darauf an, ob diese mit den Mitteln des öffentlichen oder des Privatrechts durchgesetzt werden. Entscheidend ist allein, ob die Verbote bzw. Gebote der Grundfreiheiten für Private gelten oder nicht. Im Hinblick auf die Abgrenzung der mittelbaren von der unmittelbaren Drittwirkung kommt es allerdings nur auf die Auswirkungen im Privatrecht an, da dieses unmittelbar das Verhältnis zwischen Privaten regelt. Die Vertreter der mittelbaren Drittwirkung geben den Anhängern einer unmittelbaren Wirkung zu, dass die mittelbare Wirkung möglicherweise gegenüber der unmittelbaren Drittwirkung weniger effektiv sei.221 Sie befürchten aber, dass bei einer unmittelbaren Drittwirkung die Grundrechte, speziell die Privatautonomie der verpflichteten Privaten, nicht angemessen berücksichtigt werde.222 Darüber hinaus meinen sie, dass die mittelbare Drittwirkung die vorgegebene Kompetenzordnung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft besser beachte.223 Schließlich sind sie der Ansicht, dass sie die Kohärenz des nationalen Privatrechts erhalte, da so die Wirkung der Grundfreiheiten „stimmig in die Systematik des nationalen Privatrechts integriert“224 werden könne.225 3. Wesentliche Übereinstimmung der Drittwirkungstheorien Es stellt sich hinsichtlich dieser Ansätze die Frage, ob sie wirklich so weit auseinander liegen, wie die zum Teil scharfe Abgrenzung durch ihre Vertreter nahe legt. Nur wenn sich wesentliche Unterschiede ergeben, ist es überhaupt sinnvoll, der Diskussion über das vorzugswürdigere Konzept beizutreten. Es sollen daher die vorgebrachten Argumente genauer untersucht werden, wobei, soweit dies für das Verständnis sinnvoll ist, auf die deutsche Dogmatik Bezug genommen wird. Dabei wird gleichzeitig deutlich werden, welche wirklichen Probleme die Bindung Privater an die Grundfreiheiten aufwirft.

220 221 222 223 224 225

Vgl. dazu auch Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (212). Burgi, EWS 1999, S. 327 (328); Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (466). Dazu nachstehend unter 3.a), S. 64 ff. Dazu nachstehend unter 3.b), S. 66 ff. U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396). Dazu nachstehend unter 3.c), S. 68 ff.

II. Literaturansichten

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a) Mit den Grundfreiheiten kollidierende Gemeinschafts-Grundrechte Die Berücksichtigung der Gemeinschafts-Grundrechte bei einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten ist in der europäischen Diskussion erst spät als Problem offen zu Tage getreten.226 Es wird dabei vereinzelt als Argument gegen eine unmittelbare Drittwirkung verwendet.227 Überwiegend wird allerdings die Berücksichtigung der Gemeinschafts-Grundrechte, so sie überhaupt als relevantes Problem erkannt wird, ohne Bezug zu einer bestimmten Drittwirkungslehre angemahnt.228 Sowohl Vertreter einer unmittelbaren als auch solche einer mittelbaren Drittwirkung erkennen grundsätzlich die Notwendigkeit an, die Grundrechte bzw. die Privatautonomie229 der Privaten zu beachten.230 Die Frage dabei ist eher, ob die Gemeinschafts-Grundrechte bereits auf der Tatbestandsebene als „immanente Grenzen“ der Grundfreiheiten231 oder erst im Rahmen der Rechtfertigungsgründe Eingang finden sollten232 und inwieweit sie sich im Ergebnis tatsächlich auswirken. Als entscheidendes Argument für oder wider eine mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten werden die Grundrechte von diesen Autoren nicht angeführt. Dies spiegelt sehr viel genauer, als es zum Teil in der deutschen Dogmatik der Fall ist, wider, dass die kollidierenden Rechte und Freiheiten privater Akteure, unabhängig von der jeweiligen Theorie, in jedem Fall zu berücksichtigen sind. Allerdings war auch in der deutschen Diskussion die Frage der Privatautonomie ein wenig überzeugendes Argument, denn selbst die Vertreter der unmittelbaren Drittwirkung gingen davon aus, dass die „Wirkungsstärke der Grund-

226 Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 219 ff., hat den Konflikt der Grundfreiheiten und der Grundrechte als erster angesprochen. 227 Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (561); Canaris, FS Schmidt, S. 29 (44 ff.), Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 98 speziell für die Privatautonomie, vgl. auch U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396); Burgi, EWS 1999, S. 326 (329). 228 Anders wohl nur Canaris, FS Schmidt, S. 29 (45 ff.). 229 Grundsätzlich ist unter Privatautonomie zu verstehen, dass der Einzelne seine privaten Rechtsverhältnisse selbstverantwortlich und frei, d.h. ohne staatliche Intervention, gestalten darf. Als wichtigster Anwendungsfall fällt darunter die Vertragsfreiheit. Zu Unterschieden in der Definition und damit verbundenen Problemen ausführlich Busche, Privatautonomie, S. 13 ff. 230 Ausführlich Schindler, Kollision, passim; ebenso Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 230 ff.; Ganten, Drittwirkung, S. 174 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rz. 1517; Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (570 ff.); Gramlich, DÖV 1996, S. 801 (810); Streinz/ Leible, EuZW 2000, S. 459 (467); U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396); Burgi, EWS 1999, S. 327 (329); anders Jaensch, Drittwirkung, S. 138 f., der allerdings eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten grundsätzlich ablehnt. 231 Ganten, Drittwirkung, S. 174 ff.; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 232 ff. 232 So im Grundsatz Jaensch, Drittwirkung, S. 138 f.; GA Lenz in den Schlussanträgen zu Bosman, Slg. 1995, S. I-5013 Rz. 216. Jetzt auch der EuGH im Urteil Schmidberger, Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5694 Rz. 65 ff.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

rechte im Verhältnis des Einzelnen zum Staat eine etwas andere ist als im Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander.“233 Im Ergebnis gibt keine der Theorien vor, wie der Ausgleich der betroffenen Rechte gefunden werden kann oder wie er im Einzelnen auszusehen hat.234 Die Bedeutung der mittelbaren Drittwirkungslehre liegt vor allem darin, dass durch die Betonung der nur mittelbaren Anwendung die Notwendigkeit des Ausgleichs kollidierender Rechte deutlicher zum Ausdruck gebracht wird.235 Die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung bietet für das Problem einer möglichen Grundrechtsberechtigung Privater und die daraus folgende Notwendigkeit, die Rechtspositionen der betroffenen Privaten zu berücksichtigen, keine relevante Hilfestellung. b) Erhalt der vertikalen Kompetenzordnung Sehr viel stärker wird in der Literatur dann auch das Problem der vertikalen Kompetenzverteilung als Argument gegen eine unmittelbare und für die mittelbare Drittwirkung eingesetzt. So behauptet beispielsweise Martin Burgi, dass bei einer unmittelbaren Drittwirkung den Mitgliedstaaten die Kompetenz geraubt würde, die Beziehungen der privaten Wirtschaftsteilnehmer untereinander zu regeln bzw. sie der Privatautonomie anzuvertrauen.236 Auch Rudolf Streinz und Stefan Leible sehen bei einer unmittelbaren Drittwirkung das „Kompetenzgefüge [. . .] zu Lasten der Mitgliedstaaten verschoben [. . .].237 In der Tat sind bei einer unmittelbaren Bindung die Grundfreiheiten selbst die Verbotsnormen, an denen sich privates Handeln orientieren muss, während bei einer mittelbaren Bindung Privater das eigentliche Verbot für Handlungen Privater aus dem nationalen Recht folgt. Die konkreten Handlungsanweisungen für Private ergeben sich bei einer unmittelbaren Drittwirkung also nicht aus dem nationalen, sondern aus dem europäischen Recht. Unzweifelhaft wird damit ein (weiterer) Bereich des Privatrechts zu einem europäischen Regelungsgebiet.238

233

Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 18; so auch BAGE 1, 185 (196). Für die deutsche Debatte Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 164; Lurger, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1995, S. 17 (20 f.). Zur europäischen Situation vgl. Schindler, S. 95 ff.; 174 ff. 235 Preedy, ERPL 2000, S. 125 (132); Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 171 f.; Hager, JZ 1994, S. 373 (377), betont dies als bleibenden Verdienst, allerdings unter Vernachlässigung der Differenziertheit der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung. 236 EWS 1999, S. 327 (330). 237 EuZW 2000, S. 459 (466). Ähnlich Jaeckel, Schutzpflichten, S. 231; Kühling, NJW 1999, S. 403; Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 175 f.; im Ansatz Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2002, S. 213 (218). 238 Bedenken hiergegen äußert Körber, EuZW 2001, S. 353. 234

II. Literaturansichten

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Allerdings unterliegen auch nach der bestehenden Kompetenzordnung nicht alle privaten Rechtsbeziehungen (allein) der Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten, wie sich beispielsweise am Wettbewerbsrecht unschwer zeigen lässt.239 Die Artikel 81 f. EG stellen bereits ihrem Wortlaut nach unmittelbare Handlungsanweisungen für private Unternehmen auf. Ähnliche Handlungsanweisungen auch bei den Grundfreiheiten anzunehmen, kann nur dann zu einer Beschneidung von Kompetenzen der Mitgliedstaaten führen, wenn eine solche Annahme vertragswidrig erfolgt. Den Mitgliedstaaten werden keine Kompetenzen genommen, wenn die Auslegung des EG-Vertrags dazu führt, dass private Maßnahmen von den Grundfreiheiten erfasst werden. Dann handelt es sich, wie bei den Artikeln 81 f. EG, lediglich um die Umsetzung der im EG-Vertrag vorgegebenen Kompetenzordnung. Wie zu zeigen sein wird, beruht jedenfalls die abgestufte Anwendung der Grundfreiheiten auf privates Handeln, so wie sie vom EuGH vertreten wird, auf einem legitimen Verständnis des europäischen Rechts, so dass ein „Raub“ von Kompetenzen gerade nicht vorliegt. Insofern ist die verbleibende Frage, ob das Argument der Kompetenzerhaltung auch unabhängig von der eigentlichen Kompetenzverteilung im EG-Vertrag die Bevorzugung einer mittelbaren Drittwirkung rechtfertigt. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich an den Kompetenzen der Mitgliedstaaten durch eine nur mittelbare Drittwirkung substantiell etwas ändert. Dies zeigen die Entscheidungen des EuGH, in denen die Bindung Privater mittelbar über die Schutzpflichten der Mitgliedstaaten angenommen wurde: In der Entscheidung Kommission/Frankreich, dem ersten Fall einer „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundfreiheiten, wurden private Maßnahmen, ohne Einschränkungen, „unzweifelhaft“ als Hemmnisse für den freien Warenverkehr angesehen.240 Entsprechend musste der Mitgliedstaat für die „Beachtung der Grundfreiheit“ sorgen,241 sie also gegenüber Privaten durchsetzen. Von denselben Thesen ging der Gerichtshof auch in der Folgeentscheidung Schmidberger242 aus. Entscheidend ist dabei, dass der Gerichtshof den Mitgliedstaaten keinerlei Spielraum gelassen hat, ob private Behinderungen in den Anwendungsbereich des Warenverkehrs fallen.243 Allerdings wurde in der SchmidbergerEntscheidung dann das weite Ermessen des Mitgliedstaates bei den Rechtfertigungsgründen betont. Im Ergebnis kommt den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH inhaltlich durchaus eine eigene Entscheidungskompetenz zu, allerdings erst auf einer zweiten Stufe: Dass für Private Handlungsanweisungen aus den Grundfreiheiten folgen, ist dabei auch im Rahmen dieser mittelba239 240 241 242 243

Vgl. dazu Franzen, Privatrechtsangleichung, passim. EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 Rz. 38. Ebenda, Rz. 32. EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 57 ff. Anders Kühling, NJW 1999, S. 403.

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

ren Konstellation klar. Die Mitgliedstaaten haben damit einen Spielraum zum einen hinsichtlich der Mittel, mit denen die Beachtung der Grundfreiheiten zu erreichen ist, also hinsichtlich des „Wie“. Sie haben aber auch ein weites Ermessen hinsichtlich des „Wie weit“ der Bindung Privater an die Grundfreiheiten, das aus einer vom Mitgliedstaat vorzunehmenden Abwägung der kollidierenden Freiheiten resultiert, wie in der Entscheidung Schmidberger deutlich wurde.244 Dies zeigt, dass es für die Kompetenzordnung der Mitgliedstaaten nicht auf die Konstellation ankommt, sondern dafür allein der inhaltliche Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Anwendung des Tatbestandes und seiner Ausnahmen zählt. Die Unterschiede zwischen einer mittelbaren und unmittelbaren Bindungswirkung liegen nur in der konkreten Konstellation begründet, d.h. darin ob der Staat Klagegegner ist oder der handelnde Private selbst. Dies bedeutet aber nicht einen Unterschied in den Kompetenzen der Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere gegenüber dem EuGH. c) Kohärenz der nationalen Privatrechtsordnungen Der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten wird als Argument auch im Hinblick auf die „Kohärenz der nationalen Rechtsordnung“ angeführt.245 Den Mitgliedstaaten bleibe bei der mittelbaren Drittwirkung überlassen, auf welchem Weg sie die Beachtung der Grundfreiheiten durch Private herbeiführten. Damit könne die Bindung Privater an die Grundfreiheiten so umgesetzt werden, dass direkte Eingriffe in die nationalen Privatrechtssysteme vermieden würden.246 Dieses Argument war bereits in der deutschen Grundrechtsdogmatik ein wesentlicher Einwand gegen die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte.247 Bedenken bestehen bereits beim Ausgangspunkt – der Existenz eines in sich stimmigen Privatrechtssystems.248 Bereits die zahlreichen, außerhalb des BGB 244

Siehe dazu oben S. 35 ff. Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (466); U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (396); vgl. dazu auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 51 f.; Canaris, FS Schmidt, S. 29 (51 f.). Zur Bedeutung der nationalen Privatrechtsordnung für die kulturelle Identität sehr weitgehend Legrand, MLR 1997, S. 44 ff.; zurückhaltender Collins, ERPL 1995, S. 353 ff. 246 Ebenda. 247 Dürig, FS Nawiasky, S. 157 (183), bezeichnete „die Erhaltung der privatrechtlichen Eigenständigkeit vor Übernahme von Verfassungsrechtssätzen“ als eigentliches „Grundanliegen“ seiner Ausführungen. In der Sache ebenso Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 171 (206 ff.; 242); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 76 III 2 (S. 1556); Schapp, ZBB 1999, S. 30 (36); Oeter, AöR 119 (1994), S. 529 (562); im Ansatz Larenz/Wolf, § 4 Rz. 51 (S. 107 f.). 248 Grundsätzliche Zweifel an einer Einheit(lichkeit) der Rechtsordnung legt Hanebeck, Der Staat 41 (2002), S. 429 ff., mit umfangreichen weiteren Nachweisen, überzeugend dar. 245

II. Literaturansichten

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geregelten Bereiche des sog. Sonderprivatrechts zeigen, dass ein geschlossenes System zur Regelung aller privaten Rechtsverhältnisse seit langem keine realistische Vorstellung mehr ist, so sie es denn jemals war. Durch europäische Vorgaben, insbesondere durch detaillierte Richtlinien,249 wird eine möglicherweise bestehende homogene Struktur der Privatrechtsordnung weiter aufgelöst. In der Kohärenz der Privatrechtsordnung ein entscheidendes Argument für eine mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten zu sehen, ist daher von vornherein höchst problematisch. Nur wenn man unter der Kohärenz einer nationalen Privatrechtsordnung versteht, dass bestehende nationale Rechtsfiguren herangezogen werden, um die Bindung Privater dogmatisch zu begründen, dass also auf nationale rechtliche Konstruktionen zurückgegriffen werden kann, hat das Argument eine gewisse Berechtigung. Diese ist allerdings begrenzt. Die dogmatische Einordnung in das bestehende Privatrechtssystem, ohne dass damit zugleich inhaltliche Konsequenzen verbunden sind, ist lediglich auf einer formalen Ebene von Bedeutung. Darüber hinaus zeigt die Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH, dass diese Einordnung in nationale Strukturen auch bei einer unmittelbaren Bindung Privater von den nationalen Gerichten vorgenommen wird und werden kann: Die deutsche Rechtsprechung hat in den Fällen, die auf der Grundlage von Bosman zu entscheiden waren, das Ergebnis über § 138 BGB unter Berücksichtigung von Artikel 12 GG und Artikel 39 EG begründet.250 Die Gerichte haben damit trotz der unmittelbaren Bindung Privater an Artikel 39 EG, die der EuGH angenommen hat, ihre bisherige Dogmatik zur mittelbaren Drittwirkung aufrechterhalten. Da sich dabei im Ergebnis, wie dargelegt, nichts ändert, ist dieses Vorgehen unproblematisch. Ein entscheidender Vorteil der mittelbaren gegenüber der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten ergibt sich daraus nicht. d) Ergebnis Obgleich die Theorien der mittelbaren und der unmittelbaren Drittwirkung stets in Abgrenzung zur jeweils anderen vertreten werden, ist der Unterschied zwischen ihnen nicht so stark ausgeprägt, wie dies vermittelt wird.251 In der 249 Vgl. nur die Haustürwiderrufs-Richtlinie 85/577/EWG v. 20.12.1985, ABl. Nr. L 372, 31; Verbraucherkredit-Richtlinie 87/102/EWG v. 22.12.1986, ABl. Nr. L 42, 48, geändert durch RiL 90/88/EWG v. 22.12.1999, ABl. Nr. L 61, 14; Fernabsatz-Richtlinie 97/7/EWG v. 20.5.1997, ABl. Nr. L 144, 19; Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie 1999/44/EG v. 25.5.1999, ABl. Nr. L 171, 1. Dazu insgesamt ausführlich Möllers, JZ 2002, S. 121 ff. 250 BGH, NJW 2000, S. 1028 (1028, 1030); BGH, NJW 1999, S. 3552 (3552; 3554); OLG Oldenburg, NJW-RR 1999, S. 422 (423). 251 So deutlich zur deutschen Grundrechtsdogmatik Starck, in: von Mangoldt/Klein, GG, Bd. 1, Artikel 1 Abs. 3 Rz. 194; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Vorb. Rz. 96 ff.;

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Kapitel 1: Bindung Privater an die Grundfreiheiten

Literatur zur deutschen Grundrechtsdogmatik wird der Unterschied zwischen ihnen zum Teil sogar als reine Formulierungsfrage angesehen.252 Dies trifft auch für die europäische Ebene zu. Die Berücksichtigung der mit den Grundfreiheiten kollidierenden Grundrechte hat notwendigerweise zu erfolgen, ohne dass dabei eine nur mittelbare Drittwirkung wesentliche Vorteile böte. In Bezug auf die Kompetenzverteilung besteht zwar ein potentieller vertikaler Konflikt zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. Allerdings geht die Annahme, den Mitgliedstaaten würden durch eine unmittelbare Drittwirkung Kompetenzen „geraubt“, fehl. Darüber hinaus ergeben sich aber auch unter Berücksichtigung der bestehenden Kompetenzordnung keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Drittwirkungstheorien. Der für eine Kompetenzerhaltung relevante Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten unterscheidet sich bei beiden Ansätzen nicht. Dem dritten Argument der Vertreter einer mittelbaren Drittwirkung, die Erhaltung einer Kohärenz der nationalen Privatrechtsordnung, ist eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Sie beschränkt sich jedoch auf die Möglichkeit, bestehende rechtliche Konstruktionen einer nationalen Rechtsordnung zu nutzen. Dies ist vor allem ein formales Argument, welches noch dadurch an Relevanz verliert, dass nationale Gerichte auch eine unmittelbare Drittwirkung in national bekannte Strukturen umsetzen (können). Die angeblichen Vorteile einer mittelbaren Drittwirkung gegenüber einer unmittelbaren Drittwirkung sind damit entscheidend relativiert. Die aus der deutschen Literatur übernommene Diskussion um die unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung stellt sich weitgehend als ein Scheingefecht dar. Im Folgenden soll es daher nicht um die unmittelbare oder mittelbare Bindung gehen. Stattdessen ist unabhängig von der Art und Weise der Durchsetzung gegenüber Privaten allgemein die Bindungswirkung der Grundfreiheiten zu untersuchen.

Böckenförde, Grundrechtsdogmatik, S. 34 (37); Nickel, Gleichheit, S. 137. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 481 ff., spricht von Ergebnisäquivalenz. Kritisch gerade deshalb Diederichsen, AcP 198 (1998), S. 171 (230). 252 Säcker, in: MüKo, Bd. 1, Einl. Rz. 56. Ähnlich Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 58; vgl. auch Flume, Bd. II, § 1 10b, S. 21 Fn. 25a.; Zöllner, AcP 196 (1996), S. 1 (11).

Kapitel 2

Auslegung des Europarechts Die Frage nach der Bindungswirkung der Grundfreiheiten kann nur durch eine genaue Untersuchung der Grundfreiheiten selbst beantwortet werden. Damit ist zugleich das grundsätzlichere Problem der Auslegung des Europarechts aufgeworfen. Im Folgenden soll daher kurz auf einige wesentliche Probleme der (Auslegungs-)Methodik sowie auf die Auslegungsmethoden im Einzelnen eingegangen werden. Dabei beschränken sich die Überlegungen auf die Auslegung des europäischen Primärrechts. Gegenüber der Auslegung des Sekundärrechts bestehen Unterschiede.253 Eine Verallgemeinerung der Thesen erscheint zwar weitgehend möglich, bedürfte aber einer genaueren Prüfung. Da es hier nicht auf das Sekundärrecht ankommt, wird darauf verzichtet.

I. Grundsätzliches zur europarechtlichen (Auslegungs-)Methodik Eine europarechtliche Methodenlehre und damit auch eine europarechtliche Methodik der Auslegung ist bisher kaum entwickelt. Im Wesentlichen beschränkt sich die Rechtswissenschaft darauf, bestimmte Auslegungskriterien in Entscheidungen des Gerichtshofs herauszuarbeiten und zu systematisieren. Der Ansatzpunkt ist eher deskriptiver denn normativer Natur. Von der Verwendung bestimmter Methoden durch den Gerichtshof wird in der Regel aber nicht nur auf deren Geltung, sondern auch auf deren Zulässigkeit und Richtigkeit geschlossen.254 253

Siehe nur Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 185 ff. So in den zahlreichen Monographien, die gegen Ende des letzten Jahrzehnts zu diesem Thema erschienen sind: Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, 1993; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, Eine vergleichende Untersuchung der Auslegungspraxis des Europäischen Gerichtshofs und der österreichischen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, 1994; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1994. Zur früheren Diskussion vgl. Zuleeg, EuR 1969, S. 97 ff.; Bernhardt, FS Kutscher, 1981, S. 17 ff.; Everling, in: Kruse (Hrsg.), Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Bd. 11, S. 51 ff. 254

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Kapitel 2: Auslegung des Europarechts

Von der Praxis des Gerichtshofs unabhängige normative Ansätze zur Begründung einer Methode der Auslegung existieren kaum.255 Ob dies daran liegt, dass es unmöglich ist, solche zu entwickeln, wie Hjalte Rasmussen behauptet hat,256 erscheint eher fraglich. So gibt es durchaus kritische Auseinandersetzungen mit den Grenzen der Zulässigkeit der Auslegung, insbesondere also zu der Frage der Zulässigkeit und Reichweite der richterlichen Rechtsfortbildung.257 Im Ergebnis überwiegen aber auch hier die Stimmen in der Literatur, die vom „Ist-Zustand“ auf den „Soll-Zustand“ schließen.258 Damit ergibt sich ein „EuGH-Positivismus“259 im Hinblick auf die Methodik. Im Folgenden soll zunächst kurz die Notwendigkeit einer eigenständigen europäischen Methodik begründet werden (a). Daran schließt sich eine Darstellung der potentiellen Probleme an, die mit der Möglichkeit des EuGH, seine eigene Methodik zu bestimmen, verbunden sind (b). In den nachfolgenden Abschnitten (c) und (d) soll mit Hilfe des Häberleschen Modells der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ versucht werden, die Legitimität eines Rückgriffs auf die vom EuGH entwickelten Auslegungsmethoden zu begründen. 1. Notwendigkeit einer europäischen Methodik Die Annahme der Notwendigkeit einer speziell europarechtlichen Methodik ist nicht vollkommen unumstritten. Zum Teil wird angenommen, es lasse sich die Methodik anderer Rechtsgebiete auf das Europarecht übertragen. So wurde an255 Einen Ansatz vor allem zum speziellen Fall der Analogie bietet Langenbucher, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999, S. 65 ff. Zur juristischen Dogmatik und europäischen Rechtskultur speziell im Hinblick auf das Zivilrecht, Gödicke, Bereicherungsrecht und Dogmatik, S. 284 ff. 256 Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986 behauptete, dies sei aufgrund der stetigen Entwicklung der Gemeinschaft und ihres Rechts auch nicht möglich. Jedoch schrieb er 1993 eine Monographie „Towards a normative theory of interpretation of Community law“. 257 Siehe insbesondere Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, passim, Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung; Möllers, EuR 1998, S. 20 ff.; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. 1, S. 205 ff.; ders., RIW 1992, S. 733 ff.; Edward, FS Mackenzie-Stuart, S. 21 (66), der behauptet, judicial activism sei ein Mythos; Hartley, LQR 112 (1996), S. 95 ff.; dagegen direkt Arnull, LQR 112 (1996), S. 411 ff.; Nettesheim, in: GS Grabitz, S. 447 ff. (466), weist darauf hin, dass eine eindeutige Bestimmung der Schranke zur unzulässigen Rechtsfortbildung auf verfassungstheoretische und methodische Probleme stößt, die es verbietet, ohne weitere Begründung eine solche anzunehmen. 258 Dabei fällt auf, dass insbesondere ehemalige Richter des Gerichtshofs sich vehement für eine Zulässigkeit der Rechtsfortbildung aussprechen. S. nur Zuleeg, JZ 1994, 1 ff.; Pescatore, GS Constantinesco, S. 559 (576 ff.); Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-12 und passim; Everling, JZ 2000, S. 217–227. 259 Der ursprüngliche Begriff des „BVerfG-Positivismus“ stammt von Schlink, Der Staat 28 (1989), S. 161 (163).

I. Grundsätzliches zur europarechtlichen (Auslegungs-)Methodik

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fangs die Auffassung vertreten, eine Auslegung der Gründungsverträge müsste, da es sich bei ihnen um völkerrechtliche Verträge handelt, auch nach völkerrechtlichen Auslegungsprinzipien erfolgen.260 Nach anderer, auch heute noch vertretener, Ansicht handelt es sich bei ihnen, jedenfalls inzwischen, um „quasiVerfassungsrecht“, so dass eine Auslegung den Grundsätzen folgen müsse, die auch für nationales Verfassungsrecht gelten.261 Zwischen diesen beiden Auffassungen gibt es vermittelnde Ansätze.262 Schließlich wird ein autonomistischer Ansatz vertreten, der eine völlig eigenständige Methodik fordert.263 Obwohl damit verschiedene Positionen durchaus existieren, unterscheiden sie sich im Ergebnis wenig. Denn sowohl die völkerrechtliche als auch die verfassungsrechtliche Methodik sollen nach Ansicht ihrer Vertreter nicht ohne Änderungen angewandt werden, die der Eigenart der Gemeinschaft Rechnung tragen.264 Die entscheidende Eigenart des Europarechts, die im Rahmen der Auslegungsmethodik eine Anpassung der bestehenden Methoden erfordert, ist die Bedeutung der Ziele und Aufgaben.265 Ihre Festschreibung im Vertrag selbst, sowohl in der Präambel als auch im Ersten Teil des Vertrags, in dem die Grundsätze der Gemeinschaft niedergelegt sind, bedeutet, dass ihnen auch in der Auslegung eine besondere Rolle zukommt.266 Die Normierung von auf Entwicklung angelegten Zielen hat zu einer Betonung der teleologischen Auslegung in einer besonderen Ausprägung geführt, nämlich mit einer Verbindung von systematischen, dynamischen und teleologischen Aspekten.267 Durch die Berücksichtigung der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts nähern sich die völkerrechtliche und nationalstaatliche Position so weit an, dass sich ein Konsens jedenfalls in den wesentlichen Punkten erkennen lässt. Die Relativierungen und Änderungen der jeweiligen Positionen, die dabei vertreten werden, legen es im Ergebnis nahe, dann auch von einer eigenständigen europarechtlichen Auslegungsmethodik zu sprechen, auch wenn nationalstaatliche oder völkerrechtliche Methoden letztlich Grundlage einer solchen europarechtlichen Methodik bleiben.268

260

Bindschedler, Rechtsfragen der europäischen Einigung, S. 201. Im Ansatz Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 445. 262 Oppermann, Europarecht, Rz. 577; vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 79 f. 263 Im Ansatz Schlochauer, FS Hallstein, S. 431 (447 f.). 264 Buck, Auslegungsmethoden, S. 133 ff. 265 Zu dieser und den anderen Eigenarten, näher unten S. 84 ff. 266 So die ganz herrschenden Meinung, vgl. nur Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 341 ff.; Anweiler, S. 198 f.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 221 f.; Pescatore, Misc. Ganshof van der Meersch, S. 325 (327 f.); Bleckmann/Pieper, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, B I 15; Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-6, 31; ders., EuR 1981, S. 400 ff.; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 220 EGV Rz. 42 ff.; Slynn, ICLQ 33 (1984), S. 409 (421). 267 Dazu näher unten S. 89 ff. 261

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Kapitel 2: Auslegung des Europarechts

2. Kompetenzen und Vorverständnis Mit der Frage der (Auslegungs-)Methodik ist zwangsläufig die Frage nach der Abgrenzung von Kompetenzen verbunden.269 Je weiter man mittels zulässiger Auslegungsmethoden den Handlungsspielraum eines Gerichts ausdehnt, desto mehr kann dies zu einer Beschränkung des Spielraums anderer Organe, insbesondere des Gesetzgebers, führen.270 Diese Frage ist vor allem im nationalen Verfassungsrecht ein altbekanntes Problem, welches unter dem Stichwort des „judicial self-restraint“ zusammengefasst werden kann.271 Im Hinblick auf den EuGH ergeben sich aber zusätzliche Probleme, da neben dem horizontalen auch ein vertikaler Kompetenzkonflikt besteht: Zum einen muss auf europäischer Ebene horizontal zwischen rechtsprechendem und legislativem Organ abgegrenzt werden. Obwohl sich die klassische Vorstellung von Gewaltenteilung im europäischen System nicht undifferenziert nachzeichnen lässt,272 bedeutet eine Ausweitung des Spielraums des Gerichtshofs durch Auslegung zwangsläufig auch eine Begrenzung der Rolle des europäischen Normgebers. Dies verfestigt sich auf der europäischen Ebene umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass eine Änderung der Rechtsprechung durch gesetzliche Klarstellungen oder Korrekturen aufgrund der erforderlichen Mehrheitsverhältnisse schwieriger ist als auf nationaler Ebene. Je mehr man also den Spielraum des Gesetzgebers betont, desto mehr Zurückhaltung ist bei der Auslegung gefragt. Dies ist bei der Wahl und der Ausgestaltung der Methoden zu berücksichtigen. Ähnliches gilt auch im 268 Dies entspricht auch der allgemeinen Annahme, dass jedes Rechtsgebiet seine eigene Methodik erfordert. So insbesondere F. Müller, Methodik, S. 26; Rückert, in: ders. (Hrsg.), Methodik des Zivilrechts, S. 10 (18). Siehe auch Schapp, der eine spezielle „Methodenlehre des Zivilrechts“ beschreibt bzw. entwickelt. Ein Überblick über verschiedene Ansätze der (deutschen) Verfassungsinterpretation findet sich bei Schlink, Der Staat 1980, S. 73 ff. 269 Siehe dazu auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 89; Starck, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 1 (7); Lerche, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 333 (336); Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-12; Möllers, EuR 1998, S. 20 (21 ff.); Badura, in: FG BVerfG, Bd. II, S. 1. 270 Vgl. nur Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 333 ff. (insbes. 335); E. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 35 (v. a. 54, 59 ff.); Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 35, der sich aber vor allem gegen die Beliebigkeit der Auslegungsmethoden wandte. 271 Vgl. zur deutschen Diskussion Zuck, JZ 1974, S. 361 ff.; Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rz. 22 ff.; Lerche, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 333 (336). Zur US-amerikanischen Debatte Tushnet, Taking the Constitution away from the Courts, 2000. Zur Situation in Dänemark Mors, EuGRZ 2001, S. 201 ff. (205 ff.). Für den EuGH fordernd Streinz, Europarecht, Rz. 497. Dazu auch Canor, Judicial Discretion in the ECJ, S. 208 ff.; Dehousse, The European Court of Justice, S. 148 ff.; Rasmussen, ELR 13 (1988), S. 28 ff. 272 Siehe dazu jüngst Horn, JöR 49 (2001), S. 287 ff.; Harratsch, in: Demel/Hausotter/ Heibeyn/Hendrischke u. a. (Hrsg.), Funktionen und Kontrolle der Gewalten, S. 199 ff. Vgl. auch Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Art. 1 EG Rz. 44; Bryde/Randelzhofer, in: Winkelmann (Hrsg.), S. 271 (346 ff.).

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Verhältnis zur Verwaltung und dem ihr zustehenden Ermessen. Im „Mehrebenensystem“273 der Europäischen Union besteht daneben aber auch ein vertikales Konfliktfeld zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Eine extensive Auslegung seitens des EuGH kann dazu führen, dass Zuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane, und damit also auch die des EuGH, auf Kosten der nationalen Kompetenzen ausgedehnt werden.274 Ist es aber dem Gerichtshof möglich, seine eigenen Kompetenzen durch eine extensive Auslegung zu erweitern, dann birgt dies zugleich auch das Risiko, dass er auf diese Weise seine eigene Vorstellung von der Gemeinschaft in nicht unerheblicher Weise umsetzt und damit ihre Gestalt entscheidend beeinflusst.275 Die Auslegung des europäischen Rechts, insbesondere der Verträge, hängt sehr eng mit dem Verständnis der Ziele und Aufgaben der Gemeinschaft zusammen. Die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union sind in besonderem Maße auf Entwicklung angelegt und damit auf Veränderung auch ihrer rechtlichen Ausgestaltung. Wie indes diese Entwicklung genau aussehen soll, ist bis in die Grundsätze hinein umstritten, wie beispielsweise die seit längerem geführte Debatte über eine Verfassung der EU zeigt.276 Wenn aber die Richter in ihren Entscheidungen ihre persönlichen Vorstellungen von der Gemeinschaft zugrundelegen und mit Hilfe vor allem der teleologischen Methode einfließen lassen, dann ist das für die Legitimität dieser Entscheidungen durchaus problematisch.277 Dass dies eine reelle Gefahr ist, lässt sich anhand einer Vielzahl von Entscheidungen des Gerichtshofs nachweisen. Gerade die als bahnbrechend angesehenen Urteile, in denen beispielsweise der Vorrang des Europarechts278 oder die unmittelbare Wirkung von europäischen Normen279 festgeschrieben wurden, lassen sich als Beleg für eine Rechtsprechung anführen, die stark von 273 Dieser Begriff wurde zunächst von Politikwissenschaftlern geprägt, vgl. nur Scharpf, Journal of European Public Policy 1996, S. 219 ff., und wurde dann von Rechtswissenschaftlern aufgegriffen, vgl. Joerges, in: ders./Gerstenberg (Hrsg.), Private Governance, S. 69 ff. (v. a. 79 ff.). Der Begriff charakterisiert ein System mit Regierungs-, Rechtssetzungs- und Verwaltungsstrukturen, die auf mehr als einer Ebene angesiedelt sind und nicht klar durch Hierarchie gekennzeichnet sind. Die damit verbundenen Probleme sind noch weit von zufrieden stellenden Lösungen entfernt. 274 Everling, LA Slynn, Bd. I, S. 29 (41). 275 Zur Verbindung von verfassungsrechtlicher Hermeneutik und materialer Verfassungstheorie grundsätzlich Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (64); Riedel, FS Schneider, S. 382 (391). 276 Dazu aus rechtswissenschaftlicher Sicht die Beiträge in 2, German Law Journal Nr. 14 und 15 (http://www.germanlawjournal.com); Joerges/Weiler/Mény (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Polity?; Grimm, JZ 1995, S. 581 ff.; Habermas, ELR 1 (1995), S. 303 ff.; Frankenberg, ELJ 2000, S. 257 ff. m. w. N.; Rodríguez Iglesias, EuGRZ 1996, S. 125 ff.; Anzon, JöR 49 (2001), S. 103 ff. 277 So insbesondere Rasmussen, On Law and Policy, S. 14, der auf Pescatores Ausspruch verweist, dass die Richter bei ihren Entscheidungen „une certaine idée de l’Europe“ verfolgten. 278 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64 Costa/Enel, Slg. 1964, S. 585 ff.

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den Vorstellungen der Richter über die Richtung, die die Gemeinschaft nehmen sollte, geprägt ist.280 Das in diesen Urteilen einfließende „Vorverständnis“281 der Richter ist somit von entscheidender Bedeutung. Josef Esser, der diesen Begriff für die juristische Methodik fruchtbar gemacht hat, verstand dabei unter Vorverständnis im Zusammenhang mit juristischer Auslegung, dass „mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Lösungsmöglichkeit von Konfliktfragen an jene zu interpretierenden Texte herangetreten wird und dass diese Erwartung die Interpretationsmöglichkeiten begrenzt und erschließt“.282 Darin bringt Esser seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Auslegung und die dazu verwandten Methoden sich vom zu erzielenden Ergebnis her bestimmen und nicht umgekehrt in ihrer neutralen Anwendung zu objektiv richtigen Ergebnissen führen.283 Vor diesem Hintergrund erschließt sich das Kompetenzproblem.284 Wenn in juristische Entscheidungen Wertentscheidungen der Richter einfließen,285 legt dies die Frage nach der Legitimation der Richter zu solchen Entscheidungen nahe. Dabei spielt die Verpflichtung der Gerichte, den Rechtssuchenden ein Urteil nicht zu verwei279 Grundlegend in Bezug auf das Vertragsrecht ebenfalls EuGH, Rs. 26/62 van Gend en Loos, Slg. 1963, S. 1 ff. und EuGH, Rs. 6/64 Costa gegen Enel, Slg. 1964, S. 585 ff., ferner EuGH, Rs. 2/74 Reyners gegen Belgien, Slg. 1974, S. 631; EuGH, Rs. 43/75 Defrenne, Slg. 1976, S. 455; für Richtlinien EuGH, Rs. 41/74 van Duyn/ Home Office, Slg. 1974, S. 1337; EuGH, Rs. 8/81 Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, S. 53; EuGH, Rs. 152/84 Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, S. 723. 280 Dazu allgemein und sehr anschaulich Lord Beloff: „To find self-restraint among the judges of the two European Courts [EuGH und EGMR – Anm. der Verf.] is as impossible as to find alcoholic self-restraint among the practitioners of association football.“ (Zitat abgedruckt nach ZEuP 1998, S. 459). 281 Dieser Begriff wird auf Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 270 ff., zurückgeführt, der allerdings von „Vor-Urteil“ gesprochen hatte. 282 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 139. Vgl. dazu Ladeur, RabelsZ 2000, S. 60 (69 f.). Zur deutschen Verfassungsinterpretation vgl. auch Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat, S. 48 ff. 283 Näher dargelegt vor allem in Kapitel 5, Die Interpretation, S. 116 ff. Ähnlich Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 169. So jedenfalls seit der 2. Aufl. vgl. Dreier, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), S. 12 (29, Fn. 69). 284 Hierauf verweist auch Rüthers, Rechtstheorie, S. 397 ff. 285 In diesem Sinne vgl. nur Limbach, Bundesverfassungsgericht, S. 32; s. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 177 ff.; Dworkin, in: Aarnio/MacCormick (Hrsg.), Legal Reasoning, Bd. II, S. 527 (548 f.). Zurückhaltender wohl Steiner, NJW 2001, S. 2919 (2923). Sehr anschaulich zu der damit verbundenen Frage der Rechtschöpfung Lord Reid: „There was a time when it was thought almost indecent to suggest that judges make law – they only declare it. Those with a taste for fairy tales seem to have thought that in some Aladdin’s cave there is hidden the Common Law in all ist splendour and that on a judge’s appointment there descends on him knowledge of the magic words Open Sesame. Bad decisions are given when the judge has muddled the pass word and the wrong door opens. But we do not believe in fairy tales any more“ (zit. nach ZEuP 1997, S. 231).

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gern, eine wichtige Rolle. Der Verweis auf das Verbot der Rechtsverweigerung, mit dem oft eine sehr weitgehende Auslegung bis hin zur Rechtsschöpfung für zulässig erachtet wird, ist indessen nicht immer ausreichend.286 Denn es bleibt durchaus die Frage, ob nicht das Gericht im Einzelfall eine Klage abweisen muss, wenn kein Anspruch besteht – mit dem Hinweis auf das Fehlen einer gesetzgeberischen Entscheidung. Allerdings trägt eine (faktische) Alleinzuständigkeit des EuGH im Hinblick auf die Auslegungsmethodik287 dem Einfluss anderer Akteure nicht genügend Rechnung. Die kontrollierende Wirkung, die durch andere Akteure ausgeübt werden kann, ist für die Frage der Legitimation von enormer Bedeutung. Diese Überlegung hat Peter Häberle für das deutsche Verfassungsrecht in dem Modell der sog. „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“288 genauer ausgeführt. Auch für das europäische System bietet sein Ansatz die Möglichkeit, die Legitimität von Entscheidungen des EuGH und damit auch seiner Methoden zu untersuchen.289 3. Häberles „Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ Häberle hat bereits 1975 in Bezug auf die nationale Verfassung darauf hingewiesen, dass eine Sichtweise, die die Verfassungsinterpretation allein in den Händen des Verfassungsgerichts sieht, eine verkürzte ist.290 An der Interpretation der Verfassung sei im Gegenteil eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Dabei sei Interpretation nicht nur die Auslegung im Streitfall, sondern genauso auch das eigentliche „Leben“ der Normen, das Aktualisieren ihrer Inhalte.291 Dies zeige sich in der gesetzgeberischen oder verwaltungstechnischen Ausge286 So aber beispielsweise Pescatore, GS Constantinesco, S. 559 (576 ff.); Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-37 f.; ausführlich auch T. Stein, FS Heidelberg, S. 619 (626 ff.). Dieses Argument hat seinen Ursprung in dem französischen Konzept des „déni de justice“, vgl. hierzu Slynn, ICLQ 33 (1984), S. 409 (416 f.). Der EuGH hat dieses Argument sehr früh verwandt, siehe nur EuGH, Rs. 7/56 und 3–7/57, Algera u. a./gemeinsame Versammlung der EGKS, Slg. 1957, S. 85 (118). 287 Zum Einfluss des EuGH gerade in Zeiten der politischen Stagnation, die zu seiner Beschreibung als „Motor der Integration“ geführt haben, vgl. allerdings Weiler, Constitution, S. 10 ff.; Bryde, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte, S. 79 (83 ff.). 288 So der Titel seines Aufsatzes in der JZ 1975, S. 297 ff., der mit Nachtrag in seiner Monographie, Verfassung als öffentlicher Prozess, S. 155 ff. wiedergegeben ist. Im Folgenden liegt den Fundstellen die Monographie zugrunde. 289 So auch Bleckmann, EuR 1979, S. 239, (256 Fn. 36 und 259), der in ähnlicher Weise auf Häberles Modell der „Offenen Verfassungsinterpretation“ verweist. 290 Häberle, Offene Gesellschaft, S. 155 f. 291 Ders., Offene Gesellschaft, S. 155. Kritisch zur Terminologie Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 21, der unter dem Interpretationsbegriff nur die bewusste Auseinandersetzung mit dem Norminhalt versteht und für die Frage der Fortbildung des Verfassungsrechts allgemeiner den Begriff der „Verfassungsentwicklung“ bevorzugt.

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staltung der Normen ebenso wie im schlichten Verwirklichen der in der Verfassung angelegten Rechte und Pflichten.292 Aber auch im Hinblick auf den eigentlichen Verfassungsgerichtsprozess seien nicht allein die Richter an der Interpretation beteiligt, sondern alle Prozessbeteiligten sowie die den Prozess begleitende Öffentlichkeit, insbesondere die Fachöffentlichkeit, seien für das Verständnis und die Anwendung der Verfassung von Bedeutung.293 Brun-Otto Bryde hat ausführlich die an einer „Fortbildung des Verfassungsrechts“294 beteiligten Akteure und deren Einfluss untersucht.295 Dabei verliert die Vorstellung, dass eine kleine Gruppe von Richtern allein den Verfassungsinhalt determiniert, stark an Überzeugungskraft. Zwar ist richtig, dass sie im Konfliktfall jedenfalls ein Letztentscheidungsrecht haben, sie haben also zunächst das „letzte Wort“.296 Das Zustandekommen ihrer Entscheidung steht aber zum einen unter dem Einfluss der übrigen Beteiligten; Bryde betont entsprechend den Einfluss des „ersten Wortes“ anderer Akteure.297 Zum anderen und vielleicht noch entscheidender ist, dass ihre Entscheidung nicht in einem Vakuum besteht, sondern umgesetzt, öffentlich diskutiert, durch Gesetzgebung möglicherweise sogar außer Kraft gesetzt wird. Diese Reaktionen können wiederum bei nachfolgenden Entscheidungen eine Rolle spielen, als sie dann bereits im Vorfeld auf die Richter einwirken und deren Überzeugungen beeinflussen. Häberle spricht anschaulich davon, dass der „Instanzenzug der Verfassungsinterpretation ins Unendliche“ gehe.298 Dies bedeutet, dass Reaktionen auf Urteile, sei es in der breiteren Öffentlichkeit, sei es in juristischen Fach-Diskussionen, das Vorverständnis der Richter in folgenden Verfahren und damit auch deren Entscheidungen entscheidend mitprägen können.299 Statt den Einfluss der Öffentlichkeit als Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit zu sehen, betont Häberle den legitimierenden Faktor zum einen aus 292

Ders., Offene Gesellschaft, S. 157 f. Ders., Offene Gesellschaft, S. 160 ff. Ähnlich Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 293. Vgl. auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (71 f.), der als Grundlage der Verfassungsinterpretation den Konsens aller „Vernünftig- und Gerecht-Denkenden“ ansieht. 294 Zur Terminologie vgl. Fn. 291. 295 Verfassungsentwicklung, S. 111 ff. 296 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 147; 190; ders., ZRechtsSoz 1984, S. 325 (326), spricht sogar anschaulich davon, dass „im Chor der Verfassungsinterpreten das BVerfG selbst die stärkste Stimme [ist]“. 297 Ossenbühl, BVerfG und Gesetzgebung, S. 33 (35 f.), spricht im Verhältnis Gesetzgeber und Rechtsprechung von Erst- und Zweitinterpret. 298 Häberle, Offene Gesellschaft, S. 173; ebenso Benda, in: Hattenhauer/Kaltefleiter (Hrsg.), S. 61 (73); zustimmend auch Larenz, Methodenlehre, S. 362 f.; ähnlich Esser, Vorverständnis, S. 10. Vgl. aber Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 85 m. w. N., der die Notwendigkeit der Elemente der Entscheidung und Herrschaft betont. 299 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 351 f., betont dabei insbesondere die Rolle der Wissenschaft. Ebenso Menzel, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 39; Stone Sweet, Governing, S. 146 ff.; Oppermann, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 421 ff. 293

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verfassungstheoretischer, zum anderen aus demokratietheoretischer Sicht.300 In verfassungstheoretischer Hinsicht erklärt sich die Mitwirkung vieler Beteiligter an der Interpretation der Verfassung aus der Tatsache, dass die Verfassung nicht nur den Staat, sondern auch die Gesellschaft „verfasst“.301 Durch ihre Einbeziehung in die Regelungen der Verfassung wird gleichzeitig ihr Einfluss auf die Interpretation im obigen Sinn begründet. Dabei spielt nach Ansicht Häberles die Wissenschaft eine besondere Rolle, da sie zum einen methodisch reflektiert, zum anderen die „amtsmäßigen“ Interpreten ausbildet.302 Seinem demokratietheoretischen Ansatz liegt ein Verständnis von Demokratie zugrunde, welches sich nicht auf den formalen Delegations- und Verantwortungszusammenhang zwischen dem Volk und den Staatsorganen konzentriert. Häberle betrachtet Demokratie weniger als Herrschaft des Volkes als einer einheitlichen Größe, sondern vielmehr als Herrschaft der Bürger, wobei „Bürger“ den pluralistischen Aspekt der Gesellschaft betont. Bei einer Herrschaft der Bürger kommt es aber im Hinblick auf die Verfassung gerade auf die Diskussion von Normen und richterlichen Entscheidungen dazu an.303 Das Argument, damit würde die Normativität der Verfassung ebenso aufgelöst wie die Methodik an sich,304 ist jedenfalls für den demokratietheoretischen Ansatz irrelevant. Gerade die Methodik als Mittel zur Rechtfertigung der gefundenen Entscheidung wird durch die Einbeziehung einer breiteren kontrollierenden Öffentlichkeit eher gefördert als aufgegeben. Für die (nachträgliche) Legitimation ist die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung bzw. -begründung mit methodisch sauberer Vorgehensweise ein wesentliches Kriterium. Für Häberle ist es damit die Ermöglichung eines gesellschaftlichen Konsenses über die Richtigkeit einer Entscheidung, die zum ausschlaggebenden Kriterium der richterlichen Begründungsarbeit wird.305 Die Legitimation eines Gerichts, weitgehende Rechtsauslegung zu betreiben, gründet sich dann vor allem

300 Häberle, Offene Gesellschaft, S. 166 ff.; die verfassungsrechtlichen Überlegungen beginnen auf S. 167, die demokratietheoretischen auf S. 169. Vgl. dazu auch Frankenberg , Die Verfassung der Republik, S. 233, der ebenfalls auf die Bedeutung einer „multikulturellen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ im Rahmen einer demokratische Republik hinweist, wenn ein Verfassungsgericht sich als (zwangsläufig) politischer Akteur betätigt. 301 Häberle, Offene Gesellschaft, S. 167. 302 Ebenda. Einschränkend aber Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 208. 303 Ders., Offene Gesellschaft, S. 171. Kritisch hinsichtlich einer „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation“ hingegen E. Forsthoff, Staat der Industriegesellschaft, S. 69. 304 So Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 80 ff.; Schlink, Der Staat 1980, S. 73 (85); ähnlich Starck, in: HbdStR VII, § 164 Rz. 25. Dazu Riedel, FS Schneider, S. 382 (397). 305 Ähnlich auch Esser (Fn. 282), S. 15; Limbach, FS Blankenburg, S. 207 (217 ff.); Menzel, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 20.

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in der Nachvollziehbarkeit und Anerkennung der Argumentationen im gesellschaftlichen Diskurs. Sie ergibt sich damit ex post.306 4. Die „offene Gesellschaft der EG-Vertragsinterpreten“ Grundlage des Häberleschen Modells ist die Offenheit nicht nur der Gesellschaft und der Verfassungsinterpreten, sondern auch des Verfassungstextes selbst.307 Dies erlaubt eine gewinnbringende Übertragung auf das europäische System.308 Die Gründungsverträge sind in ähnlicher Weise offen wie es nationale Verfassungen sind309 und die Gesellschaft, die hierdurch „konstituiert“ wird oder werden soll, ist sogar in noch stärkerem Maße als nationale Gesellschaften plural. Hinzu kommt die besondere Situation der Mitgliedstaaten, die mit der Akzeptanz der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen Verlust an nationaler Souveränität hinnehmen. Es erscheint daher für das Europarecht ein sinn-

306 Insofern relativiert sich auch ein Hauptargument der Kritiker des Häberleschen Modells. Vor allem Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 70 (Hervorhebung im Original), hat kritisiert, Voraussetzung für das Modell sei ein bereits existierender Konsens über die Inhalte der Verfassung. Sei ein solcher nicht vorhanden, stünde das Verfassungsgericht „nicht mehr jenseits, sondern inmitten der politischen Konfrontation“. Ähnliche Bedenken äußerte auch Schlink, Der Staat 1980, S. 73 (86), der nach der genauen Bestimmung des Konsenses fragte und darauf hinwies, dass beispielsweise Grundrechte gerade auch gegen einen Konsens der Mehrheit geschützt werden müssten. Dabei kann aber der Wille der Mehrheit nicht schlicht mit dem von Häberle geforderten Konsens gleichgesetzt werden. Der Unterschied zeigt sich auch daran, dass beide Autoren die legitimierende Bedeutung eines Konsenses nicht leugnen können. Sie siedeln ihn allerdings, in scheinbarer Abgrenzung zu Häberle, nicht vor der Interpretation, sondern nach ihr, im Sinne einer Anerkennung der Entscheidung an (Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 84 f.; Schlink, Der Staat 1980, S. 73 [92 ff.]. Dazu auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 293 f.; Schuppert, Funktionellrechtliche Grenzen, S. 29 ff. Starck, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 1 [26] beschränkt den erforderlichen Konsens auf einen Grundkonsens, der eine Einigkeit nur in grundlegenden Fragen bedeutet). Dies ist aber von den Vorstellungen Häberles durchaus mitumfasst, sie beschränken sich nur nicht darauf. Insoweit auf die politische Rolle des Verfassungsgerichts hingewiesen wird, kann dies kein Argument gegen das Modell Häberles sein, denn diese lässt sich ohnehin weder leugnen noch vermeiden. 307 Hier bestätigt sich die These, dass verschiedenen Rechtsgebieten auch verschiedene Methoden zugrunde gelegt werden müssen, vgl. nur E. Stein, Die rechtswissenschaftliche Arbeit, Tübingen 2000, S. 45. Auch wenn das Häberlesche Modell sich möglicherweise in Ansätzen auch für das Zivilrecht oder das Strafrecht fruchtbar machen lässt, so ist doch die Offenheit dieser Texte nicht in demselben Maße gegeben. Vgl. zur sprachlichen im Vergleich zur normativen Offenheit Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 263 f. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 78 ff., unterscheidet zwischen struktureller, sprachlicher und materieller Offenheit. Nicht alle Normen des GG können allerdings überhaupt als offen bezeichnet werden, vgl. näher Bryde, FS Blankenburg, S. 491 (498); Limbach, FS Blankenburg, S. 207 (210). 308 Im Ansatz Häberle selbst, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 181. 309 So auch Bleckmann, EuR 1979, S. 239 (259).

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voller Ansatz zu sein, die Legitimation der Methodik des EuGH in der Rückkopplung an die Gesellschaft, die Politik und auch die Staaten zu suchen.310 Die Beteiligung Vieler im Vorfeld von Entscheidungen ist rechtlich verankert. Artikel 20 des Protokolls der Satzung des EuGH311 sieht beispielsweise in den Verfahren nach Artikel 234 EG neben den Parteien des Rechtsstreits vor dem nationalen Gericht eine häufig in Anspruch genommene Beteiligungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten, der Kommission und gegebenenfalls des Europäischen Parlaments, des Rates und der Europäischen Zentralbank vor. Darüber hinaus spielt der Generalanwalt eine wichtige Rolle. Dieser ist hinsichtlich des Einflusses Außenstehender auf die Willensbildung der Richter besonders interessant, da den Vorschlägen der Generalanwälte bemerkenswert oft vom Gericht gefolgt wird.312 Dieses Einwirken anderer im Vorfeld ist bereits ein legitimierender Faktor für die Rechtsprechung.313 Im Hinblick auf die nachträgliche Legitimation durch öffentliche Auseinandersetzung mit den Entscheidungen sah es in Europa zunächst weniger gut aus. Dies kommt in dem bekannten Zitat von Eric Stein deutlich zum Ausdruck: 310 Ähnlich Hummer/Obwexer, EuZW 1997, S. 295 (300); Bleckmann, in: GS Constantinesco, S. 61 (81), der von einer „nachträglichen Konsensfähigkeit“ spricht. Weiler, The Constitution of Europe, S. 80, nennt diese Art der Legitimation „social (empirical) legitimacy“, die als Gegensatz zu einer „formal (legal) legitimacy“ existiert. Er meint damit eine breite, empirisch nachweisbare, soziale Akzeptanz des Systems, die eventuell mit einem substantiellen Element kombiniert sei, das vorliege, wenn Werte, die in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung seien, aufrechterhalten oder gefördert würden. Gegen eine Verankerung der Legitimität in der „Akzeptanz“ der Rechtsgemeinschaft im Bezug auf Rechtsfortbildung ausdrücklich Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. 1, S. 205 (209 f.). Dänzer-Vanotti geht dabei von einer Notwendigkeit aus, die zukünftige Akzeptanz bereits im Vorfeld der Entscheidung einfließen zu lassen. Zu Recht kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass dies rein faktisch nicht möglich sei. Dabei lässt er jedoch die längerfristige Perspektive vollkommen außer Acht. Auch seine Bedenken, den Kreis derjenigen nicht exakt ausmachen zu können, die akzeptieren müssen, um eine Entscheidung zu legitimieren, überzeugen im Ergebnis nicht. Denn es geht bei der Legitimation im Häberleschen Sinne nicht um eine von klar bestimmten Organen oder Personen ausgehende „Absegnung“, sondern um die Entwicklung einer gesellschaftlichen Akzeptanz, die sich im Laufe der Zeit als Konsens herausbildet. Dänzer-Vanotti ist sicher zuzugeben, dass die Ermittlung eines solchen Konsenses nicht immer leicht ist, das spricht jedoch nicht grundsätzlich gegen ihre Existenz und Legitimationswirkung. Dass der EuGH sich tatsächlich dem Konsens der Rechtsgemeinschaft nicht verschließt, zeigt sich gerade in seiner Reaktion auf die von Dänzer-Vanotti dargestellten (S. 214 ff.) kritischen Stimmen hinsichtlich seines Aktivismus. 311 Satzung des Gerichtshofs des Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft v. 17. April 1957 (BGBl. II S. 1166 v. 19.8.1957), zuletzt geändert durch Artikel 6 III 3 des Vertrags von Amsterdam. 312 Pichler, Der Generalanwalt, S. 118, weist nach, dass zwischen 1970 und 1980 in nur 11,2% der Entscheidungen der EuGH von den Vorschlägen der Generalanwälte abgewichen ist. Zustimmend auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rz. 270. Vgl. auch Borgsmidt, ELR 1988, S. 106 ff. 313 So auch Lenz, in: Kreuzer/Seuing/Sieber (Hrsg.), Europäisierung, S. 161 (163).

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„Tucked away in the fairyland Duchy of Luxembourg and blessed, until recently, with benign neglect by the powers that be and the media, the Court of Justice of the European Communities has fashioned a constitutional framework for a federal-type Europe.“314

Auch Joseph H. H. Weiler hat 1993 noch das Phänomen beschrieben, dass selbst sehr weitreichende Urteile des Gerichtshofs nahezu kritiklos aufgenommen wurden.315 Den entscheidenden Grund für diese unkritische Haltung sah er in der europäischen Tradition, rechtliche Entscheidungen vor allem aus einer „formalistischen“ Sicht zu betrachten. Der „formalism“, den Weiler damit meint, basiert auf der Überzeugung von einer apolitischen und neutralen Natur von Gerichtsurteilen und führte dazu, dass Entscheidungen, die als nachvollziehbare Auslegung der Normen erschienen, als legitim angesehen wurden.316 Das Vorverständnis der Richter und die politische Dimension der Entscheidungen wurden jedenfalls dann außen vorgelassen, wenn die formale Begründung noch irgendwie nachvollziehbar war. Weiler hat jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt richtig vorhergesagt, dass sich diese Haltung wegen verschiedener Veränderungen in der Struktur der Gemeinschaft und der zunehmenden Visibilität des Gerichtshofs in der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit ändern werde.317 Diese von Weiler prophezeite Veränderung lässt sich dann auch in der späteren Entwicklung nachweisen. Sehr vereinzelt, wie im Fall des sog. Barber-Protokolls318 und des Abtreibungs-Protokolls,319 die im Rahmen des Maastricht-Vertrags verabschiedet wurden, oder des Artikels 141 Abs. 4 der Amsterdamer Fassung des EG-Vertrags,320 nahm der Normgeber eine direkte Korrektur der richterlichen Entscheidungen vor. Aber auch ohne solche eindeutigen Maßnahmen lässt sich zeigen, dass der EuGH durchaus auf politische, wirtschaftliche und auch wissenschaftliche Strömungen reagiert.321 So wurde der sehr binnenmarktfreundli314

AJIL 75 (1981), S. 1. Journal of Common Market Studies 31 (1993), S. 417, mit leichten Änderungen wiedergegeben als 5. Kapitel in: The Constitution of Europe, S. 188 ff. So auch Bryde, in: Schäfers (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte, S. 79 (85). 316 The Constitution of Europe, S. 195 ff., 199. 317 Ebenda, S. 214 ff. Dabei verweist er insbesondere auf das Mehrheitsprinzip, mit dem der einzelne Mitgliedstaat seine Möglichkeit verloren hat, alle Entwicklungen der Gemeinschaft politisch durch Veto zu verhindern. 318 2. Protokoll zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. 319 17. Protokoll zum Vertrag über die Europäische Union und zu den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften. 320 Mit dieser Norm sollte die Kalanke-Entscheidung des Gerichtshofs (EuGH, Rs. C-450/93, Slg. 1995, I-3051) eingeschränkt werden. S. dazu Arnull, in: O’Keeffe/Twomey (Hrsg.), Legal Issues of the Amsterdam Treaty, S. 109 (110). 321 Dies ist vielfach getan worden, vgl. nur die knappen Darstellungen bei Everling, JZ 2000, S. 217 (224); Craig/de Búrca, EU Law, S. 86 ff. Ausführlicher Dehousse, The European Court of Justice, S. 135 ff. und 148 ff.; de Búrca, JCMS 36 (1998), S. 217 ff. (S. 221) m. w. N. 315

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che Kurs des Gerichtshofs zugunsten der Regelungsbefugnisse der Mitgliedstaaten nach und nach zurückgenommen, was sich beispielsweise in der Entwicklung der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit von Dassonville über Cassis de Dijon bis hin zu Keck zeigen lässt.322 Ein weiteres Beispiel für den Dialog des EuGH mit nationalen Gerichten ist die Rechtsprechung zum europäischen Grundrechtsschutz, bei der sich die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Solange I,323 Solange II,324 das Maastricht-Urteil325 und die Entscheidung zur Bananenmarktordnung,326 als Reaktion auf den entsprechenden Rechtsprechungsstand des EuGH verstehen lassen.327 Der EuGH zeigt sich damit in seiner Auslegung des EG-Rechts durchaus offen für die Meinungen anderer „Vertragsinterpreten“. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass seine Auslegung nicht „formal“ ist, sondern auch vom „Vorverständnis“ hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Gemeinschaft zusammenhängt. Es liegt nahe, dass eine Bestimmung der Richtung und der Geschwindigkeit der Entwicklung nicht allein und vielleicht noch nicht einmal maßgeblich durch gerichtliche Entscheidungen festgelegt und erzwungen werden kann. Der EuGH ist daher gezwungen, will er nicht an Glaubwürdigkeit und an Autorität verlieren, offen zu sein für die politische und gesellschaftliche Situation.328 Die Auslegung oder Interpretation des europäischen Rechts durch den EuGH ist somit in einen ständigen kontrollierenden Prozess eingebunden. In erster Linie ist davon das Ergebnis der Auslegung betroffen, eng damit verknüpft ist aber auch die Frage der Methodik. Für die Legitimität der Methoden stellt die in der Literatur verbreitete Zustimmung dazu329 einen legitimierenden Faktor dar.330 Aber auch die Zustimmung zu den Ergebnissen der Auslegung, also zu den Entscheidungen selbst, kann eine Legitimation der damit verbundenen Me322 Maduro, We, the Court, S. 30 ff. und passim, hat an diesem Beispiel eindrucksvoll nachgewiesen, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung in einem ständigen „Dialog“ mit nationalen Gerichten, aber auch mit politischen und legislativen Akteuren der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft stand und steht. 323 BVerfGE 37, S. 271 ff. 324 BVerfGE 73, S. 339 ff. 325 BVerfGE 89, S. 155 ff. 326 BVerfGE 102, S. 147 ff. 327 Zum damit verbundenen „Rechtsgespräch“ zwischen BVerfG und EuGH auch Limbach, NJW 2001, S. 2913 (2916 f.); Schwarze, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 223 ff. 328 Vgl. Everling, LA Slynn, S. 29 (43): „In the last instance the acceptance by the ensemble of citizens which are subject to the law is decisive, whether or not judgemade law has succeeded.“ Siehe auch Rasmussen, On Law and Policy, S. 31 ff. und passim. 329 Siehe oben Fn. 254. 330 Auf die Bedeutung der Europarechtswissenschaft für die Entwicklung der Methodik des EuGH verweist Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 115 und passim. Vgl. auch BVerfGE 75, S. 223 (236, 239).

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thodik bedeuten. Da gerade in der vom EuGH präferierten teleologischen Auslegung331 eine bestimmte Vorstellung der Gemeinschaft für die Auslegung entscheidend ist, liegt die Frage, ob diese Vorstellung akzeptiert wird, sehr nahe bei der Frage, welchen Stellenwert und welche Reichweite diese Auslegungsmethode an sich hat oder haben soll. Werden dann aber Entscheidungen anerkannt, so wird dies jedenfalls dann eine Akzeptanz der Auslegungsmethodik bedeuten, wenn nicht ausdrücklich nur das Ergebnis gutgeheißen wird. Nimmt man aber an, dass mit Akzeptanz auch Legitimität einhergeht, dann ist die Aussage, dass der EuGH nicht nur seine eigene Methodik begründet, sondern auch ihre Validität bestimmt, in entscheidender Weise relativiert. Auch die nachfolgende Untersuchung der Grundfreiheiten wird sich daher an den vom EuGH verwendeten und anerkannten Auslegungsmethoden orientieren. 5. Zusammenfassung Eine Übertragung des von Häberle entwickelten Modells der „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ auf das europäische System erlaubt es, die Rolle, die der Europäische Gerichtshof faktisch spielt und die Art der Auseinandersetzung mit seinen Entscheidungen, hier vor allem mit seinen Methoden, hinsichtlich ihrer Legitimität genauer zu beleuchten. Orientiert man sich an einem solchen Modell, ist durch die Vielzahl der Beteiligten am Auslegungsprozess, sowohl im Vorfeld als auch im Rahmen einer nachträglichen Auseinandersetzung mit den erzielten Ergebnissen, die Legitimation der entwickelten Methoden – auch, aber nicht nur aus demokratietheoretischer Sicht – erheblich höher als dies auf den ersten Blick scheint.

II. Auslegungsmethoden Es sollen nun kurz die vom EuGH verwendeten und anerkannten Auslegungsmethoden dargestellt werden, wobei der Zugang vor allem über die in der Literatur bereits durchgeführten Analysen und Systematisierungen geschieht. Üblicherweise folgt, jedenfalls in der deutschen Literatur, eine Beschreibung dieser Methoden der Einteilung in die grammatikalische oder wörtliche, die systematische, die historische, die teleologische sowie die rechtsvergleichende Auslegungsmethode.332 Dabei ergeben sich hinsichtlich der grammatikalischen, der 331

Siehe dazu unten S. 89 ff. So bei Anweiler, Auslegungsmethoden, Buck, Auslegungsmethoden, Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, und Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, (alle Fn. 254); unter Hinweis auf die gewisse Willkür der Einordnung, die auch unter dem Einfluss der juristischen Tradition steht, dem der Einteilende entstammt, Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-15. 332

II. Auslegungsmethoden

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historischen und der rechtsvergleichenden Methode, was ihren grundsätzlichen Inhalt angeht, wenig Probleme.333 Anders ist dies jedoch bei der systematischen und teleologischen Methode. Zunächst bestehen terminologische Abgrenzungsschwierigkeiten. Dabei wird das allgemeine Problem der genauen Begrifflichkeit im europäischen Kontext – schon bedingt durch die sprachliche Vielfalt in der Gemeinschaft – noch potenziert.334 So werden die Begriffe „teleologisch“, „systematisch“, „funktional“ und „dynamisch“ zum Teil synonym,335 zum Teil in Kombination verwendet. In der Literatur wird zum Beispiel von „systematisch-teleologischer Auslegung“,336 „functional-systemic interpretation“337 oder „teleo-systematic criteria“338 gesprochen. Das Bemühen, die systematische und die teleologische oder funktionale Auslegung als eine einzige Methode einzuordnen, spiegelt die enge Verbundenheit dieser beiden Methoden wider339: Im Europarecht verweist der Gerichtshof vielfach auf die allgemeinen Normen des Vertrags, um den telos340 einer spezielleren Norm zu bestimmen. Dies entspricht der bereits festgestellten Besonderheit des Europarechts, dass die Ziele und Aufgaben der Gemeinschaft im Vertrag selbst festgelegt sind. Diese spielen bei der Auslegung eine entscheidende Rolle, da das gesamte Gemeinschaftsrecht der Verwirklichung dieser Ziele dient.341 Die Bedeutung und der Zweck der Norm ergeben sich folglich aus ihrer Einbindung in das Gesamtsystem. Diese Einordnung einer Norm in das Gesamtgefüge des Vertrags ist aber zugleich Anwendung der systematischen Auslegungs-

333

Siehe unten S. 87 f., 92 f. E. Stein, Die rechtswissenschaftliche Arbeit, S. 86. Dies zeigt sich bereits im deutschsprachigen Raum: So gruppiert Potacs in seiner Wiener Dissertation, Auslegung im öffentlichen Recht, die Methoden in die beiden Hauptgruppen Semantik und Pragmatik. Im Ergebnis unterscheiden sich die darin enthaltenen Methoden jedoch nicht von den gerade genannten. 335 Bengoetxea, The Legal Reasoning, S. 233 spricht von „teleological, functional or consequentialist arguments“, die er allerdings als Untergruppen von dynamischen Kriterien ansieht und unterscheidet (S. 251 f.); Tridimas, ELR 1996, S. 199 (204), verwendet „teleological“, „functional“ und „purposive“ synonym. 336 Grundmann. Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 297. 337 Bredimas, Methods of Interpretation, S. 73. 338 Bengoetxea, The Legal Reasoning, S. 250; Guégan, Les Méthodes, S. 468. 339 So auch Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 200 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 221; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 297. Vgl. ferner Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 447. 340 Auch hier wird der v. a. im Rahmen der historischen Methode vorkommende Streit geführt, ob es dabei auf den objektiven telos des Gesetzes oder den subjektiven Willen des Gesetzgebers ankommt. Siehe nur Dreier, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), S. 13 (25) und unten S. 88 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 428 ff. 341 Siehe dazu näher unten S. 89 ff. 334

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methode.342 Eine Unterscheidung in zwei unterschiedliche und klar abgrenzbare Auslegungsmethoden ist daher gerade im Europarecht recht künstlich. Dies stimmt überein mit allgemeinen Überlegungen zur Teleologie. Es stellt sich die grundsätzliche methodische Frage, ob die teleologische Auslegung überhaupt eine eigene Methode ist. Zweifel daran bestehen, weil die Suche nach dem telos der Norm sich naturgemäß an ihrem Wortlaut, ihrer Geschichte und dem systematischen Zusammenhang, in dem sie steht, orientieren muss. Ziel der gesamten Auslegung ist es, den Sinn und Zweck der Norm zu ergründen. Die teleologische Auslegung ist allen anderen Auslegungsmethoden immanent; sie als eigenständige Methode prüfen zu wollen, ist letztlich widersinnig. Damit könnte man generell von „grammatikalisch-teleologischer“, „historischteleologischer“ und „systematisch-teleologischer“ Auslegung sprechen.343 Die Tatsache, dass nur letzteres in der europarechtlichen Literatur als Begriff verwendet wird, betont die besondere Ausprägung, die das grundsätzliche methodische Problem in der Auslegung des europäischen Rechts hat. Die ausdrückliche Benennung der Ziele ermöglicht die Ermittlung des Sinn und Zwecks der nachfolgenden Normen in besonderer Weise. Andersherum bedeutet dies aber auch, dass im Rahmen der Systematik besonderes Augenmerk gerade auf diese Ziele des Vertrags, sprich dem telos des Gesamtvertrags, gerichtet werden muss. Allerdings nicht in allen Fällen: Nur wenn es tatsächlich im Rahmen der systematischen Auslegung um die positivierten Vertragsziele geht, spielt der Zusammenhang zwischen Systematik und Teleologie diese besondere Rolle, die die telos-Suche bei den anderen Auslegungsmethoden nicht hat. Außerhalb des Rückgriffs auf die allgemeinen Vertragsziele besteht zwischen Systematik und 342 Anders für diesen Fall aber Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 201, für den der Rückgriff auf die Vertragsziele „eindeutig teleologische Züge“ aufweist und der darin keinen Anwendungsfall der systematischen Auslegung sieht. Auch Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-43, ordnet die „Ziele“ und „Zwecke“ des Vertrag der teleologischen Auslegung zu, gibt aber zu, dass es sehr schwer sei, zwischen diesen und dem „System“ des Vertrags zu differenzieren. So wie hier hingegen Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 299: „Diese Zielsetzungen sind in den Grundbestimmungen der Verträge positiviert und bilden so eine kaum zu trennende Einheit von einerseits in systematischer Hinsicht den Vertrag in generalklauselartiger Weise zusammenfassenden Bestimmungen, aus denen sich die mehr oder weniger stark konkretisierenden Vertragsnormen ableiten lassen, und andererseits von in teleologischer Hinsicht die Zielsetzung der Verträge in grundsätzlicher Weise vorgebenden Regeln.“ Erstaunlicherweise untergliedert Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 300 ff. und 341 ff., seine Darstellung dennoch in systematische und teleologische Auslegung. Dies führt dann dazu, dass er in beiden Abschnitten die Vertragsziele als Unterpunkt aufführt. 343 Aus diesem Grund verstand beispielsweise von Jhering, der bedeutendste Vertreter der von ihren Gegnern als sog. „Begriffsjurisprudenz“ bezeichnete, auf die der Ausdruck „teleologische Auslegung“ zurückgeht, diese auch nicht als besondere Auslegungsmethode, sondern als durchgängiges Strukturprinzip, vgl. dazu Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 677; Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, S. 80; Coing, Verhandlungen des 43. DJT, Bd. II, B 1 ff. (B7).

II. Auslegungsmethoden

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Teleologie nur der oben angedeutete grundsätzliche Zusammenhang zwischen den speziellen Auslegungsmethoden und der Bestimmung des telos. Es ist also zu unterscheiden. Auf der einen Seite geht es bei allen Auslegungsmethoden um die Ergründung des telos der auszulegenden Norm. Auf der anderen Seite spielt die systematische Auslegung im Europarecht dabei dann eine besondere Rolle, wenn es um eine (systematische) Bezugnahme auf die im Vertrag positivierten allgemeinen Vertragsziele geht. Um dem Rechnung zu tragen, wird die Systematik zweifach geprüft: Erstens, als Untersuchung der umstehenden Vorschriften sowie der Normen anderer Kapitel, soweit diese von Interesse sind. Und zweitens, bei der Heranziehung der allgemeinen Vertragsziele zur Auslegung der Norm. Ersteres wird im Folgenden als „systematische Auslegungsmethode“, letzteres als „systematisch-teleologische Auslegungsmethode“ bezeichnet. Eine Kategorisierung der teleologischen Auslegung als vollständig eigenständige Methode erfolgt nicht. Ebenso wenig wird im Rahmen der grammatikalischen, systematischen, historischen und rechtsvergleichenden Methode explizit auf die teleologische Komponente verwiesen werden. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass sie dort keine Rolle spielt oder spielen soll. Die Bedeutung der Zweckergründung der Norm im Rahmen der Systematik erfolgt jedoch in einer anderen europarechtlich spezifischen qualitativen Ausprägung, die unmittelbar in der Bezeichnung zum Ausdruck kommen soll. 1. Grammatikalische Auslegung Bei der grammatikalischen Auslegung, auch wörtliche oder semantische Auslegung genannt, wird der Wortlaut der relevanten Normen untersucht. Im Europarecht ist dazu grundsätzlich eine Analyse aller verbindlich geltenden sprachlichen Fassungen notwendig, da diese gleichberechtigt nebeneinander stehen.344 Durch die Vielsprachigkeit kann es zu erheblichen Problemen kommen.345 Da eine umfassende Untersuchung aller Sprachversionen im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen kann, wird grundsätzlich die deutsche Fassung Anhaltspunkt sein und nur vereinzelt wird an besonders relevanten Stellen auf andere Fassungen hingewiesen.

344

Artikel 314 EG. Zu den methodischen Problemen Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 217 ff.; Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-18 ff.; Epiney, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 291 f.; Urban, Linguistic diversity and legal determinacy?, passim. 345

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Kapitel 2: Auslegung des Europarechts

2. Historische Auslegung Hinsichtlich der historischen Auslegung besteht Uneinigkeit, ob dabei im Sinne einer subjektiven oder einer objektiven Auslegungstheorie vorgegangen werden soll.346 Die Frage ist, ob der subjektive Wille des historischen Normgebers entscheidend ist oder ob nach dem objektiven Sinn der Norm im Zeitpunkt des Erlasses geforscht werden muss.347 Ob die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Willen des Normgebers überhaupt möglich ist, erscheint bereits fraglich.348 Bisher verlor im Hinblick auf das Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft diese Debatte aber bereits dadurch an Relevanz, dass die Vorarbeiten zu den Verträgen vertraulich waren und bei einer Auslegung nur schwerlich herangezogen werden konnten.349 Inzwischen sind durch das Ablaufen der 30jährigen Sperrfrist allerdings viele Dokumente zugänglich.350 Wichtiger ist daher, dass die Gründungsverträge als völkerrechtliche Verträge auf Kompromissen zwischen den souveränen Vertragsstaaten beruhen, was für eine historische Auslegung Probleme aufwirft.351 Entscheidend ist auf das dynamische Element der Verträge hinzuweisen, das einer historischen Sichtweise entgegensteht.352 Auch der EuGH legt in seinen Entscheidungen nur selten eine historische Betrachtungsweise zugrunde.353 In den Entscheidungen zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten erfolgt eine Bezugnahme hierauf nicht. Eine historische Auslegung der Grundfreiheiten wird daher auch hier nicht erfolgen.

346 Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-22; Buck, Auslegungsmethoden, S. 143 ff. 347 Für die subjektive Theorie Ophüls, in: FG Müller-Armack, S. 279 (286 ff.); für die objektive Theorie Zuleeg, EuR 1969, S. 97 ff. (S. 101). 348 Bleckmann, EuR 1979, S. 239–260 (239), verweist auf die verbreitete Formel, wonach der subjektive Wille der Vertragspartner im Vertrag selbst (Hervorhebung im Original) zum Ausdruck kommen müsse und damit Wortlaut, Systematik und Ziele eines Vertrags in den Vordergrund rückten. Bleckmann bezeichnet die Methode daher als gemischt objektiv-subjektive Auslegungsmethode. 349 Zu der Diskussion, ob nicht-öffentlich einsehbare Dokumente als Belege für den historischen Willen herangezogen werden dürfen, siehe Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 139 ff. Aufgrund der Legitimationsaufgabe der Entscheidungsbegründung, die sich auf die Auslegung einer Norm stützt, kann eine Begründung aufgrund nicht zugänglicher Dokumente nicht zulässig sein. 350 Zusammengefasst bei Schulze/Hoeren, Dokumente zum europäischen Recht, Bd. 1, Gründungsverträge. 351 Epiney, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 292 f.; Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (101). 352 Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-22. Zum dynamischen Charakter der Verträge, siehe unten S. 80 f. 353 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 117, weist auf die wenigen Fälle von gemeinschaftsrechtlichem Gewohnheitsrecht hin, die auf einer gewissen andauernden Übung beruhen und die sich daher auf historische Methode stützen.

II. Auslegungsmethoden

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3. Systematische Auslegung Im Rahmen der systematischen Auslegung ist zwischen den hier als „eng“ und „weit“ bezeichneten systematischen Auslegungen einer Norm zu unterscheiden. Während bei der engen systematischen Auslegung die umliegenden Vorschriften der auszulegenden Norm zu untersuchen sind, soll bei der weiten Auslegung auch der größere Normenkomplex, in dem die Norm steht, berücksichtigt werden. Bei der weiten Auslegung können somit bei der Auslegung des europäischen Primärrechts nicht nur die im selben Kapitel oder Titel stehenden Normen relevant werden, sondern auch Normen, die in anderen Zusammenhängen stehen, aber für das Verständnis der relevanten Norm von Bedeutung sind.354 Bei der engen systematischen Auslegung der Grundfreiheiten werden daher die Begleitvorschriften sowie die Ausnahmeregelungen, die in unmittelbaren Zusammenhang mit der Norm selbst stehen, genauer betrachtet werden. Bei der weiten systematischen Auslegung soll der Zusammenhang der Grundfreiheiten zum Wettbewerbsrecht sowie zu den Diskriminierungsverboten des EG-Vertrags untersucht werden. 4. Systematisch-teleologische Auslegung Die (systematisch-)teleologische Methode wird vielfach als die maßgeblichste Auslegungsmethode angesehen.355 Dabei soll ein Verständnis der Norm mit Hilfe der im Vertrag verankerten Zielbestimmungen erreicht werden. Der Zweck der einzelnen Vertragsnorm soll unter Berücksichtigung des Gesamtzwecks des Vertrags und damit der Gemeinschaft an sich ergründet werden.356 Als generelle Ziele der Gemeinschaft werden die in der Präambel sowie die in Artikel 2 und 3 EGV genannten Ziele angesehen.357 Durch die grundsätzlichen Ziele des Ver-

354 Zu der Unterscheidung auch Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 73. Allgemeiner Bengoetxea, The Legal Reasoning, S. 242 f. 355 Pescatore, in: Misc. van de Meersch, Bd. II, S. 325 ff., insbes. S. 326 ff.; Bengoetxea, The Legal Reasoning, S. 233 f.; Hintersteiniger, Binnenmarkt, S. 28 f.; Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-42; Tridimas, ELRev. 1996, 199 (204); Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 199; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 341; Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl., Artikel 164 Rz. 53. Siehe jedoch Gerber, Harv. Int. LJ 1994, S. 97, der meint, dass die teleologische Auslegung vor allem in der Anfangszeit vorherrschend war, inzwischen vor allem aber durch Verweise auf ständige Rechtsprechung verdrängt sei. Damit ist aber die teleologische Methode keineswegs in den Hintergrund geraten, sondern lediglich verdeckt, gerade durch diese Verweise existent. 356 Everling, JZ 2000, S. 217 (223); Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 199 f.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 341; Epiney, in: Beutler/Bieber/ Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 294 f. 357 Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 2 EGV Rz. 1 f.; Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 2 EG Rz. 1; Bleckmann, EuR 1979, S. 239

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trags lassen sich wesentliche Erkenntnisse für den Sinn und Zweck der einzelnen Norm des Vertrags deshalb ziehen, weil letztere der konkreten Umsetzung dieser Gesamtziele dienen und ihre Verwirklichung ermöglichen sollen.358 Dies erschwert gleichzeitig eine Auslegung. Denn die Gemeinschaft ist bereits in ihren Grundlagen auf Entwicklung und Veränderung angelegt. Die Dynamik der Gemeinschaft findet ihre Grundlage vornehmlich in der Präambel359 und in den Artikeln 2 und 3, in denen die zunehmende Integration der Mitgliedstaaten festgeschrieben ist. Mit der beabsichtigten fortschreitenden Entwicklung der Gemeinschaft verändert sich aber auch zu einem gewissen Grad der Zweck der einzelnen Normen, da sich ihr Verhältnis zu den Zielen in dem Maße ändert, wie die Ziele selbst verwirklicht werden. Der Gerichtshof hat dies betont, als er davon sprach, dass „(. . .) jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrecht, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“360

sei. Zwar gilt dies auch sonst.361 Im Europarecht ist aber das Evolutive aufgrund der Besonderheit, dass der Vertrag selbst die Entwicklung festschreibt, offensichtlicher und stärker ausgeprägt. Daraus resultiert der im Europarecht häufig verwendete Begriff der „dynamischen Auslegung“.362 Unter dynamischer Auslegung wird eine Auslegung verstanden, die genau diesem Charakter der Gemeinschaft als einem auf Fortentwicklung angelegten System Rechnung trägt und daher den jeweiligen Stand der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt.363 Die dynamische Auslegung ist damit keine eigene Ausle(243). Er nennt darüber hinaus auch Einzelbestimmungen des Vertrags, die als generelle Ziele gelten können. 358 Buck, Auslegungsmethoden, S. 203; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 345 bezeichnet die nachfolgende Bestimmungen als „Mittel zur Erreichung [der Grundsätze und Ziele]“. 359 Darin sind vor allem von „einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ die Rede. Auch die Formulierungen „eine[r] stetige[n] Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ und dem Bestreben, die „harmonische Entwicklung“ der Volkswirtschaften zu fördern, betonen die Veränderung, d.h. die Dynamik der Gemeinschaft. 360 EuGH, Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T.u. a./Ministerio della Sanità, Slg. 1982, S. 3415 Rz. 20. 361 Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. 1, S. 205 (210); ausführlich zum deutschen Verfassungsrecht Bryde, Verfassungsentwicklung, v. a. S. 254 ff. (262 f.), jedoch unter Betonung des Wertes einer Verlässlichkeit der Verfassung. 362 Ophüls, FG Müller-Armack, S. 279 (288 f.); Bleckmann, EuR 1979, S. 239 (255 ff.); T. Stein, FS Heidelberg, S. 619 (v. a. 626); Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 238 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 381 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 213; Everling, in: Kruse (Hrsg.), S. 51 (53); Slynn, ICLQ 33 (1984), S. 409 ff. 363 Ophüls, FG Müller-Armack, S. 279 (289); Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-41 f.

II. Auslegungsmethoden

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gungsmethode, sondern ein Charakteristikum der systematisch-teleologischen Auslegung.364 In der folgenden Untersuchung wird daher das Dynamische der Gemeinschaft im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung einfließen. Dasselbe gilt für den Grundsatz des „effet utile“. Zunächst bedeutete dieser Grundsatz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs lediglich, dass eine Norm so auszulegen sei, dass sie nicht „jeder Wirksamkeit beraubt wird“.365 Im weiteren Verlauf steigerte der Gerichtshof die Wirkung und Tragweite des Grundsatzes dahingehend, dass nunmehr diejenige Auslegung einer Norm zu wählen sei, die zu der größtmöglichen Verwirklichung ihres Zwecks führt.366 Eine Auslegung, die diesem Grundsatz Rechnung trägt, muss daher von mehreren Möglichkeiten diejenige bevorzugen, die dem Zweck der Norm zur möglichst vollständigen Wirksamkeit verhilft. Damit kommt es auch beim effet utile entscheidend auf den Zweck der Norm an. Nur wenn dieser feststeht, kann eine Auslegung ihr die bestmögliche Wirksamkeit verschaffen. Daraus folgt aber, dass effet utile nicht den Zweck der Norm selbst bestimmen kann.367 Auch hier zeigt sich der Zusammenhang zu den Zielen der Gemeinschaft.368 Geht man davon aus, dass alle Normen des Vertrags der Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft dienen, dann bedeutet effet utile, dass es auf die bestmögliche Verwirklichung dieser Ziele ankommt, die durch die Auslegung der nachfolgenden Normen erreicht werden kann.369 364 Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, und Buck, Auslegungsmethoden, ordnen die dynamische Auslegung daher auch als Unterpunkt unter die teleologische Auslegung ein. Anders Anweiler, Auslegungsmethoden. 365 Siehe zum Beispiel EuGH, Rs. 2/74 Reyners/Belgien, Slg. 1974, S. 631 (655); fast wortgleich EuGH, Rs. 33/74 Binsbergen/Bestuur van de Bedrijsvereniging voor de Mettalnijverheid, Slg. 1974, S. 1299 Rz. 10/12. 366 Dazu allgemein Streinz, in: FS Everling, Bd. 2, S. 1491 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 372; Buck, Auslegungsmethoden, S. 209, beide mit umfangreichen Nachweisen. 367 Kritisch daher Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 167, der dabei die Gefahr sieht, dass eine politische Agenda unter dem Deckmantel der Effizienz durchgesetzt werden kann. Ähnlich zur effizienten Auslegungsmethode Lerche, FS Odersky, S. 333 (358). 368 Ebenso Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-44; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 372; Buck, Auslegungsmethoden, S. 209. 369 Als rechtstheoretischen Anknüpfungspunkt für den Grundsatz effet utile lässt sich der Prinzipiencharakter der Ziele fruchtbar machen. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 f., hat Prinzipen als „Optimierungsgebote“ definiert. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass es bei Prinzipien nicht auf ihre Erfüllung oder Nichterfüllung ankommt, sondern auf eine Realisierung in möglichst hohem Maße. Genau darin unterscheiden sie sich nach Ansicht Alexys von Regeln, die stets nur erfüllt oder nicht erfüllt, aber nicht „mehr bzw. weniger“ erfüllt werden können. Den Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien demonstriert Alexy am Beispiel des Konflikts mehrerer Regeln bzw. Prinzipien. Bei Regeln ist erforderlich, dass eine der kollidierenden Regeln eine Ausnahmeregelung enthält oder aber eine der Regeln muss für ungültig erklärt werden. Bei einer Prinzipienkollision hingegen wird ein Prinzip Vorrang vor dem anderen haben, ohne dass letzteres aber dadurch ungültig wird (S. 77 ff.). Die Ver-

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Kapitel 2: Auslegung des Europarechts

Effet utile ist folglich keine eigene Auslegungsmethode, sondern eine Art Konkretisierung der Vorgehensweise im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung: Wenn dort auf die Vertragsziele Bezug genommen wird, so sollen diese bestmöglich verwirklicht werden.370 5. Rechtsvergleichende Auslegung Schließlich verwendet der EuGH die so genannte rechtsvergleichende Auslegungsmethode.371 Dazu stützt er sich auf eine Betrachtung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, um hieraus Schlüsse auch für das europäische Recht zu ziehen. Die Ergebnisse einer solchen Betrachtung werden aber vom Gerichtshof dem europäischen System angepasst, so dass auch von einer „wertenden Rechtsvergleichung“ gesprochen wird.372 Im Bereich des geschriebenen Gemeinschaftsrechts wird diese Methode ausdrücklich zumindest nur sehr selten vom Gerichtshof verwandt.373 Bereits deshalb ist die rechtsvergleichende Auslegung in Bezug auf die vorliegende Fragestellung wenig ergiebig. Entscheidend ist hier ferner, dass es sich bei den Grundfreiheiten um genuin europäische Freiheiten handelt, die keine nationalen Entsprechungen haben. Man könnte zwar überlegen, ob der in ihnen enthaltene Grundsatz der Nichtdiskriminierung auch im nationalen Recht der Mitgliedstaaten verankert ist und inwieweit Private daran gebunden sind. Der EuGH hat dies jedoch (noch) nicht getan. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, den Diskriminierungsgrundsatz in seinen nationalen Ausprägungen zu untersuchen, so dass im Folgenden nur vereinzelt auf nationale Rechtsordnungen hingewiesen werden kann.

tragsziele der Gemeinschaft sind in diesem Alexyschen Sinne klar als Prinzipien einzuordnen. Daraus ergibt sich dann aber naturgemäß der Grundsatz der bestmöglichen Verwirklichung, also effet utile. 370 So ausdrücklich Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-44; Hintersteiniger, Binnenmarkt, S. 29. Auch Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 369 ff., und Buck, Auslegungsmethoden, S. 208 ff., prüfen effet utile im Rahmen der teleologischen Auslegung. Krück, in Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl., Artikel 164 Rz. 55 spricht davon, dass der teleologischen Auslegung die Berücksichtigung des effet utile „nahe steht“. 371 Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-23 ff.; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 277 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 121 f.; Pernice/ Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 164 Rz. 47. Erstaunlicherweise erwähnen weder Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, noch Buck, Auslegungsmethoden, noch Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, diese Auslegungsmethode. 372 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 122; Everling, JZ 2000, S. 217 (223); ähnlich auch Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-30. Kritisch hinsichtlich des Nutzens dieser Methode Grabitz, FS Kutscher, S. 215 (218). 373 Siehe dazu die Darstellung bei Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 284 ff. Kutscher, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-30, weist aber auf den beträchtlichen Aufwand hin, mit dem die Rechtsvergleichung intern betrieben wird.

II. Auslegungsmethoden

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6. Zusammenfassung Die Auslegungsmethoden des EuGH lassen sich als grammatikalische, historische, systematische, systematisch-teleologische und rechtsvergleichende Methoden kategorisieren. Bei der grammatikalischen Auslegung besteht als europäische Besonderheit die Gleichberechtigung aller verbindlich geltenden sprachlichen Fassungen, die zu erheblichen Problemen führen kann. Die historische Auslegung verlor bisher im Europarecht aufgrund der Unzugänglichkeit der Vorarbeiten an Bedeutung. Trotz der inzwischen bestehenden Möglichkeit, diese einzusehen, ist zweifelhaft, ob damit bei der Auslegung der Wille der Gründungsgeber an Relevanz zunehmen wird. Insbesondere der Kompromisscharakter der Verträge und die in ihnen angelegte Dynamik sprechen dagegen. Die „wertende“ rechtsvergleichende Methode wird im Bereich des geschriebenen Gemeinschaftsrechts nur sehr selten verwendet. Dies muss auf die Grundfreiheiten, die genuin europäische Normen darstellen, in besonderem Maße zutreffen. Damit kommt der systematischen und der systematisch-teleologischen Auslegungsmethode entscheidendes Gewicht zu. Während die systematische Auslegung nach der hier verstandenen Einteilung die Normen im Gesamtzusammenhang der sie umgebenden Normen betrachtet, nimmt die systematisch-teleologische Auslegung auf die im Vertrag ausdrücklich normierten Ziele Bezug, denen im Europarecht eine besondere Bedeutung zukommt.

Kapitel 3

Annäherungen an den Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten Im Folgenden soll eine Annäherung an den Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten mit Hilfe der dargestellten Auslegungsmethoden erfolgen. Aus den genannten Gründen soll dabei auf eine historische und rechtsvergleichende Auslegung verzichtet werden. Anwendung finden daher die wörtliche, die systematische und die systematisch-teleologische Auslegungsmethode. Dabei werden hier auch die bisherigen Begründungen für bzw. gegen eine Bindung Privater, die vom EuGH und der Literatur vorgebracht wurden, mit Hilfe dieser Auslegungsmethoden auf ihre Überzeugungskraft überprüft.

I. Wortlaut der Grundfreiheiten Die Entscheidungen des EuGH deuten zum Teil an, dass die Bindung Privater an die Grundfreiheiten auch durch den Wortlaut der Normen bestimmt wird. So begründete der Gerichtshof in Walrave die Bindung Privater an Artikel 49 EG mit seiner „allgemeinen Fassung“.374 In den Urteilen zu Artikel 28 EG wird der Wortlaut nicht ausdrücklich bemüht, er klingt aber in der Aussage an, dass „sich die Artikel 30 und 34 EWG-Vertrag nur auf staatliche Maßnahmen (. . .) beziehen“.375 Bei einer ersten Betrachtung des Wortlauts lässt sich feststellen, dass keine der Grundfreiheiten ausdrücklich die Adressaten der Regelung nennt. Die Artikel 39, 43 und 49 EG sind offen gefasst. Artikel 43 und 49 EG nennen das verbotene Verhalten. In Artikel 43 Abs. 1 EG heißt es: „Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. (. . .)“

Artikel 49 EG normiert: „Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten.“

374 375

EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 20/24. EuGH, Rs. 311/85, Vlaamse Reisbureaus, Slg. 1987, S. I-3801 Rz. 30.

I. Wortlaut der Grundfreiheiten

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Artikel 39 Abs. 1 EG schließlich ist noch offener formuliert376: „Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.“

Allein in Artikel 28 EG ist etwas zweideutig von Mitgliedstaaten die Rede. Er lautet: „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.“

Steindorff folgert aus der Formulierung „zwischen den Mitgliedstaaten“, dass nur staatliche Maßnahmen avisiert seien.377 Nahe liegender ist es aber, diesen Zusatz räumlich zu verstehen, d.h. als Bezug zur Grenzüberschreitung.378 Damit ist auch in Artikel 28 EG kein Adressat ausdrücklich benannt. Dem Begriff der „Maßnahme“ könnte aber eine Beschränkung des Adressatenkreises zu entnehmen sein, der sich aus einem Vergleich zu den mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen ergibt.379 Wenn diese nur von staatlicher Seite ergehen können, könnte dies auch für Maßnahmen „gleicher Wirkung“ gelten.380 Allerdings ist bereits fraglich, ob mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen nur vom Staat aufgestellt werden können.381 Auch wenn grundsätzlich eher staatliche Kontingentierungen gemeint sind, ist denkbar, dass zum Beispiel der Hersteller einer Ware einem Händler zur Bedingung macht, dass dieser nur bestimmte Mengen der Ware aus anderen Mitgliedstaaten einführt.382 Damit ist begrifflich eine private mengenmäßige Einfuhrbeschränkung gegeben, so dass entsprechend auch Maßnahmen „gleicher Wirkung“ privaten Ursprungs sein könnten. Zweifelhaft ist der Ausschluss privater Maßnahmen aber aus einem weiteren Grund: Es ist nicht einzusehen, warum bei „Maßnahmen gleicher Wirkung“ der Urheber der Maßnahme herangezogen werden soll und nicht allein auf die Wirkung abzustellen ist. Dahinter steht das Verständnis, dass eine mit mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen vergleichbare Wirkung nur dann gegeben ist, wenn die Maßnahme ebenfalls vom Staat herrührt. Das treibt den Vergleich jedoch zu weit. Geht man lediglich von der Wirkung der Maßnahme aus, wie es der Wortlaut verlangt, kann sich eine vergleichbare Wirkung ebenso durch private wie durch staatliche Maßnahmen ergeben.383 376 Anders aber Abs. 3, deshalb kritisch Michaelis, NJW 2001, S. 1841 (1842). Vlg. Auch Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 97. der dem Wortlaut des Artikels 39 EGV eine grundsätzliche Staatsgerichtetheut zu vernehmen glaubt. 377 EG-Vertrag und Privatrecht, S. 285. 378 So bereits Ganten, Drittwirkung, S. 57, der darauf hinweist, dass es ansonsten besser geheißen hätte „sind den Mitgliedstaaten verboten“. 379 Vgl. Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 106 f. m. w. N. 380 Seidel, NJW 1976, S. 2081 (2083), nimmt daher an, dass der Wortlaut private Maßnahmen vom Anwendungsbereich des Artikels 28 EG ausschließt. 381 Ebenso Jaensch, Drittwirkung, S. 87. Anders Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 107 f.; Ganten, Drittwirkung, S. 57. 382 Jaensch, Drittwirkung, S. 87.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Insgesamt ist daher der Feststellung Jaenschs zuzustimmen, dass die Verwendung des Begriffs „Maßnahme“ im EG-Vertrag tendenziell zwar gegen die Erfassung privaten Handelns spricht, insgesamt aber nur „ein schwaches Indiz“384 für die Frage des Adressatenkreises des Artikels 28 EG ist. Damit ist der Wortlaut der Vorschriften gleichzeitig ein, allerdings nur sehr schwacher, Anhaltspunkt für die Differenzierung zwischen Artikel 28 EG und den übrigen Grundfreiheiten. Er begründet jedoch nicht eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Handlungsformen oder Verletzungstatbeständen.

II. Rahmenvorschriften Für das Verständnis der Grundfreiheiten sind aus systematischer Sicht zunächst die Normen des näheren Umfelds, also die Begleitvorschriften und Ausnahmeregelungen der Grundfreiheiten, zu betrachten. 1. Begleitvorschriften Ein Großteil der Begleitvorschriften ist durch den Amsterdamer Vertrag endgültig aufgehoben worden. Ohnehin galten diese inhaltlich nur bis zum Ende der Übergangszeit, d.h. bis zum 1. Januar 1970. Sie können daher zwar Anhaltspunkte für den Inhalt bzw. die Adressaten der Grundfreiheiten bieten, da sie ursprünglich jedenfalls zu ihrer Ausgestaltung beigetragen haben; eine entscheidende Rolle für das Verständnis der Grundfreiheiten kommt ihnen jedoch nicht (mehr) zu. Bei allen Grundfreiheiten beziehen sich einige der Begleitvorschriften ausdrücklich allein auf die Mitgliedstaaten.385 Bei der Warenverkehrsfreiheit sind das die Artikel 33 und 35 EGV a. F., bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist es Artikel 50 EGV a. F., bei der Dienstleistungsfreiheit Artikel 60 Abs. 3 EGV a. F. und bei der Niederlassungsfreiheit Artikel 53 EGV a. F. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Freiheiten besteht dabei nicht. Der EuGH hat den Begleitvorschriften wenig Bedeutung zugemessen. Als Begründung für seine Entscheidungen in Bezug auf die Bindung Privater an die Grundfreiheiten hat er sie nicht bemüht. Nur einmal hat er sich überhaupt mit ihnen auseinandergesetzt. In Walrave, der Entscheidung, in der zum ersten Mal eine Bindung auch Privater an Artikel 49 [59] EG angenommen wurde, ging er auf das Argument ein, die Staatengerichtetheit der Begleitvorschriften bedeute, dass damit 383

Ebenso Ganten, Drittwirkung, S. 57. Jaensch, Drittwirkung, S. 88. 385 Hieraus folgert Jaensch, Drittwirkung, S. 89 ff., dass die Begleitvorschriften ein klares Indiz für die Staatengerichtetheit auch der Grundfreiheiten selbst liefern. Dagegen Ganten, Drittwirkung, S. 83 f. 384

II. Rahmenvorschriften

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die Dienstleistungsfreiheit insgesamt nur für die Mitgliedstaaten gelte. Er stellte dazu fest: „Ohne Zweifel beziehen sich die Artikel 60 Abs. 3, 62 und 64 im Dienstleistungsbereich speziell auf die Beseitigung staatlicher Maßnahmen; dieser Umstand gestattet es aber nicht, sich über die allgemeine Fassung des Artikels 59, der nicht auf den Ursprung der Behinderungen abstellt, hinwegzusetzen.“386

Die deutliche Ablehnung durch den EuGH, die Begleitvorschriften als wesentlichen Faktor zu berücksichtigen, überzeugt nicht ohne weiteres. Gerade wenn die Grundfreiheiten allgemein gehalten sind, können die in den Begleitvorschriften enthaltenen Hinweise für eine genauere Bestimmung der Adressaten wichtig sein. Entgegen der Aussage des EuGH sprechen die Begleitvorschriften daher eher gegen eine Bindungswirkung der Grundfreiheiten auch für Private. Für eine differenzierte Bindungswirkung bieten sie allerdings keine Grundlage. Die Staatsgerichtetheit der Begleitvorschriften besteht bei allen Grundfreiheiten in vergleichbarer Weise. Insgesamt lässt sich den Begleitvorschriften daher eine gewisse Tendenz gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten entnehmen, wobei ihre Bedeutung nicht sehr hoch einzustufen ist. 2. Ausnahmeregelungen Auch die Ausnahmeregelungen lassen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. Artikel 30 EG sieht als mögliche Ausnahmen zur Warenverkehrsfreiheit unter anderem Regelungen aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen vor. Bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer sind nach Artikel 39 Abs. 3 EG ebenfalls Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit möglich. Das Niederlassungsrecht sieht in Artikel 46 EG dieselben Ausnahmen vor, die gemäß Artikel 55 EG auch für die Dienstleistungsfreiheit gelten. Allerdings beziehen sich diese auf Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so dass bei Art. 39 und 49 EG eine Rechtfertigung für Private danach nicht in Betracht kommt. Dies könnte im Umkehrschluss bedeuten, dass auch das Verbot selbst nicht für Private gilt.387 Ähnlich hatten auch die Sportverbände in Fall Bosman argumentiert388 Sie meinten, da sie sich nicht auf die Ausnahmeregelungen be386

EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 20. So Jaensch, Drittwirkung, S. 124; Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 97, anders Ganten, Drittwirkung, S. 169 f.; Roloff, Beschränkungsverbot, S. 224. 388 Zu den sich daraus ergebenden Fragen, siehe oben S. 48 ff. Kritisch auch Jaensch, Drittwirkung, S. 126 ff. in Bezug auf Artikel 30 EG und S. 128 ff. in Bezug auf Artikel 39 Abs. 3 EG; C. Weber, RdA 1996, S. 107 (108); zweifelnd auch Ehlers, Jura 2001, S. 266 (274); Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 175 ff., betont den kompetentiellen Aspekt, der sich für das Verhältnis Mitgliedstaaten – Gemein387

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

rufen könnten, wären sie im Falle einer Anwendung der Grundfreiheiten auf ihre Regelungen im Ergebnis sogar stärker an die Grundfreiheiten gebunden als die Mitgliedstaaten.389 Der EuGH widersprach dieser Annahme ausdrücklich und erklärte die Geltung der Ausnahmeregelungen auch für Private.390 Damit war gesagt, dass die Ausnahmeregelungen nicht staatsgerichtet sind, sondern allgemein für alle gelten, für die auch die Grundfreiheiten selbst zwingend sind. Tatsächlich folgt aus dem Ziel der öffentlichen Interessen, Sicherheit und Gesundheit nicht, dass Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele nur von staatlicher Seite erfolgen dürfen. Auch Private sind durchaus in der Lage, Handlungen vorzunehmen, die diesen Zielen zugute kommen.391 Dann ist es aber nur konsequent, wenn sie dazu aufgrund der Ausnahmeregelungen auch befugt sind. Eine zwingende Staatsgerichtetheit ergibt sich daher aus den Ausnahmeregelungen nicht, zumal sich durchaus eine analoge Anwendung der Ausnahmeregelung vorstellen lässt. 3. Ergebnis Die Untersuchung der Normen im näheren Umfeld der Grundfreiheiten ergibt keine eindeutigen Ergebnisse. Allerdings sprechen die Begleitvorschriften sowie die Ausnahmeregelungen für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit tendenziell eher gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten, da sie sich zum Teil ausdrücklich auf Verhalten der Mitgliedstaaten beziehen. Den übrigen Ausnahmeregelungen lässt sich eine Staatsgerichtetheit hingegen nicht entnehmen.

III. Wettbewerbsrecht Das Wettbewerbsrecht spielt als der Teil des EG-Vertrags, der sich ausdrücklich an Private richtet, in der Diskussion um eine umfassende Bindungswirkung der Grundfreiheiten eine wichtige Rolle. Es wird zunächst die Argumentation des Gerichtshofs in Bezug auf das Wettbewerbsrecht nachgezeichnet (1). Dann wird kurz die Diskussion in der Literatur aufgearbeitet (2.). Im Anschluss an die Darstellung des Meinungsstandes wird nachgewiesen, dass entgegen der herrschenden Meinung das Wettbewerbsrecht eine nur beschränkte Aussagekraft für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten hat (3.).

schaft ergibt. Eine „Drittwirkung“ aus diesem Grund ablehnend Michaelis, NJW 2001, S. 1841 (1982). 389 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 85. 390 Ebenda, Rz. 86. 391 Siehe auch Ganten, Drittwirkung, S. 162 ff.

III. Wettbewerbsrecht

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1. Das Wettbewerbsrecht in der Rechtsprechung des EuGH a) Die Rechtsprechung zu Artikel 28 EG In den Verfahren zur Warenverkehrsfreiheit wurde der EuGH mit dem Wettbewerbsrecht teilweise bereits durch die Fragestellungen der vorlegenden Gerichte konfrontiert, teilweise nahm er dazu auch ohne konkrete Vorgabe Stellung. In Dansk392 spielten die Regelungen des Wettbewerbsrechts keine größere Rolle. Zwar wurde Artikel 81 EG von der Firma Dansk Supermarked angeführt, jedoch war der Gerichtshof der Ansicht, der Rechtsstreit betreffe diese Vorschrift nicht; er ging daher nicht näher darauf ein.393 Dies ist konsequent, als in der Entscheidung staatliches Recht zu überprüfen war.394 Bereits im nächsten Fall aber, in van de Haar,395 war das Verhältnis zwischen der Warenverkehrsfreiheit und dem Wettbewerbsrecht von erheblicher Bedeutung. Dort ging es um das Verständnis des Begriffs der „Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels“ im Rahmen der Prüfung des Artikels 28 EG. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob es zur Klärung dieses Begriffs auf die ähnliche Formulierung des Artikels 81 EG „Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten“ und die entsprechende Rechtsprechung zurückgreifen dürfe. Die Kommission bejahte in ihrer Stellungnahme diese Frage mit der Begründung, Artikel 28 EG und Artikel 81 bzw. 82 EG seien sich ergänzende Vorschriften, die beide dem Ziel der Einheit des Gemeinsamen Marktes dienten und daher schlüssig ausgelegt werden müssten.396 Generalanwalt Reischl hingegen betonte, dass die Normen unterschiedliche Zwecke verfolgten und auch unterschiedliche Ausnahmeregelungen hätten.397 Der Gerichtshof folgte dem Generalanwalt und stellte fest, dass Artikel 81 f. EG das Ziel eines wirksamen Wettbewerb verfolge und sich dazu an Unternehmen richte, während Artikel 28 EG den freien Warenverkehr gewährleisten wolle und sich daher gegen Handeln der Mitgliedstaaten richte, die diesen Verkehr behinderten. Das Gegenüberstellen beider Normen diente damit dem EuGH zur Abgrenzung ihrer Anwendungsbereiche, die sich auch an den unterschiedlichen Adressaten orientiert.398 Allerdings ging es in dem Fall nicht um die Frage einer Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit, so dass diese Abgrenzung zwar einen gewissen Aussagegehalt hat, jedoch nicht als endgültige Stellungnahme des Gerichtshofs zu dieser Frage gewertet werden kann. 392 393 394 395 396 397 398

EuGH, Rs. 58/89, Dansk, Slg. 1981, S. 181. Ebenda, Rz. 8. Dazu oben S. 26 ff. EuGH, Rs. 177 u. 178/82, van de Haar, Slg. 1984, S. 1797. Ebenda, S. 1804. Ebenda, S. 1820. Ebenda, S. 1797 Rz. 11 f.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Der Gerichtshof bestätigte seine Grundhaltung jedoch im nachfolgenden Fall Vlaamse Reisebureaus,399 in dem die Frage der Bindung Privater an die Grundfreiheiten direkt aufgeworfen war. Der Gerichtshof hielt dabei an seiner Aussage aus van de Haar fest: Artikel 28 beziehe sich nur auf staatliche Maßnahmen, nicht auf Verhaltensweisen von Unternehmen.400 Im Ergebnis war das Verhalten der Privaten nach Ansicht des EuGH wegen Artikel 81 EG unzulässig,401 während die zugrunde liegende staatliche Norm nicht gegen Artikel 28 EG verstieß. Bereits Generalanwalt Lenz hatte angenommen, dass der freie Warenverkehr nicht berührt sei.402 Er hatte hingegen nicht gesagt, dass Artikel 28 EG für Private nicht gelte. Der Gerichtshof war also ohne Grund mit seiner Aussage weiter gegangen als der Generalanwalt. In Bayer/Süllhofer403 bestätigte der Gerichtshof dies erneut,404 obgleich die Kommission davon ausgegangen war, dass eine Anwendung des Artikels 28 EG auf das private Verhalten grundsätzlich möglich sei.405 Die Entscheidungen Kommission/Frankreich und Schmidberger bringen auf den ersten Blick für das Verhältnis Wettbewerbsrecht und Warenverkehrsfreiheit keine Erkenntnisse, da das Wettbewerbsrecht nicht einschlägig war und von keinem der Beteiligten angesprochen wurde. Allerdings fand inhaltlich eine Überprüfung privaten tatsächlichen Verhaltens (indirekt) am Maßstab des Artikels 28 EG statt,406 so dass in diesen Fällen die strikte Trennung der Adressaten aufgelöst wurde. Ausdrücklich hat die Rechtsprechung jedoch bisher ein Exklusivitätsverhältnis beider Regelungsbereiche angenommen. Entweder eine Maßnahme fällt unter Artikel 28 EG oder unter Artikel 81 EG. Sie kann nach dieser Rechtsprechung nicht von beiden Normen gleichzeitig geregelt werden. Da privates Handeln eindeutig von Artikel 81 EG erfasst wird, können Private nicht zugleich Adressaten des Artikels 28 EG sein. Die Entscheidungen Kommission/Frankreich und Schmidberger ändern an dieser Abgrenzung formal nichts, denn dort wurde die Bindung Privater über den Staat durchgesetzt. Inhaltlich liegt jedoch 399

EuGH, Rs. 311/85 Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. I-3801. Ebenda, Rz. 30. 401 Interessanterweise wurde zugleich festgestellt, dass Artikel 81 EG auch den Mitgliedstaaten verbiete, Maßnahmen zu treffen, die die praktische Wirksamkeit der Bestimmung ausschalten könnten, in dem sie Unternehmen wettbewerbswidriges Verhalten vorschreibe oder erleichtere. Hier klingt bereits die Argumentationslinie an, die sich über 10 Jahre später in Kommission/Frankreich noch deutlicher manifestiert (siehe oben S. 32 ff.). 402 EuGH, Rs. 311/85 Vlaamse Reisebureaus, Slg. 1987, S. I-3801, Schlussanträge vom 16.12.1986, S. I-3810 Rz. 67. 403 EuGH, Rs. 65/86, Bayer/Süllhofer, Slg. 1988, S. I-5249. 404 Ebenda, Rz. 11. 405 Ebenda, S. 5254. Sie hatte dann jedoch das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen abgelehnt. 406 Siehe oben S. 31 ff.; 35 ff. 400

III. Wettbewerbsrecht

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eine Aufgabe dieser strikten Zuordnung privaten Verhaltens zu den Regelungen des Wettbewerbsrechts vor.407 Damit wird der Rückgriff auf das Wettbewerbsrecht zur Bestimmung des Adressatenkreises der Warenverkehrsfreiheit bereits fragwürdig. b) Die Rechtsprechung zu den Artikeln 39, 43 und 49 EG Die Rechtsprechung zum Verhältnis des Wettbewerbsrechts zu den übrigen Grundfreiheiten war von Anfang an weniger deutlich. In den ersten Fällen Walrave408 und Donà409 spielte das Wettbewerbsrecht keine Rolle, es wurde von keiner Partei angeführt und vom Gerichtshof ebenfalls nicht herangezogen.410 Im Fall van Ameyde411 hingegen war nach einem möglichen Verstoß privater Vereinbarungen auch gegen das Wettbewerbsrecht gefragt.412 Der Gerichtshof nahm entsprechend dazu Stellung und befand, dass der Rechtmäßigkeit dieser Vereinbarungen möglicherweise Artikel 81 f. EG entgegenstehe, dies müsse aber durch weitere Tatsachenfeststellung seitens des nationalen Gerichts geklärt werden.413 Zu der folgenden Frage, ob durch die privaten Vereinbarungen auch ein Verstoß gegen Artikel 43 und 49 EG vorliege, führte er aus, dass eine Diskriminierung im Sinne dieser Normen gegeben sei, unabhängig davon, „ob die Diskriminierung ihren Ursprung in hoheitlichen Maßnahmen oder aber in Handlungen hat, welche den nationalen Versicherungsbüros [. . .] zuzurechnen sind“.414 Allerdings lag nach Ansicht des EuGH in diesem Fall keine Diskriminierung durch die privaten Versicherungsbüros vor. Damit war im Ergebnis das Problem entschärft. Die privaten Vereinbarungen konnten nicht sowohl gegen Artikel 81 EG als auch gegen Artikel 43 bzw. 49 EG verstoßen, da die Tatbestandsvoraussetzungen der letztgenannten Normen nicht gegeben waren. Dennoch ist bezüglich des Wettbewerbsrechts im Vergleich zur Warenverkehrsfreiheit eine grundsätzlich andere Haltung zu erkennen. Der Gerichtshof ging ohne weiteres davon aus, dass sowohl das Wettbewerbsrecht als auch die Dienstleistungs- bzw. Niederlassungsfreiheit einschlägig sein können, wenn es um die Beurteilung privater Maßnahmen geht.

407

Ebenda. EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405. 409 EuGH, Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, S. 1333. 410 Wie der Fall Bosman zeigt (S. 45 ff.), der eine ähnliche Konstellation – mächtige, monopolartige Sportverbände – aufweist, hätte man hier jedoch durchaus an einen Verstoß gegen die wettbewerbsrechtlichen Regelungen denken können. 411 EuGH, Rs. 90/76, van Ameyde, Slg. 1977, S. 1091. 412 Ebenda, S. 1100. 413 Ebenda, Rz. 24. 414 Ebenda, Rz. 28. 408

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Der Fall Haug-Adrion415 wiederum bringt keine weiteren Erkenntnisse für das Verhältnis des Wettbewerbsrechts zu den Grundfreiheiten. Zwar war die Vorlagefrage offen formuliert – es war allgemein nach der EG-rechtlichen Vereinbarkeit einer Regelung gefragt; auch erwähnte die Kommission in ihrer schriftlichen Stellungnahme kurz die Artikel 81 und 82 EG, um dann deren Anwendbarkeit ohne nähere Begründung abzulehnen.416 Jedoch ging der Gerichtshof selbst mit keinem Wort auf das Wettbewerbsrecht ein, was indes durch den Sachverhalt bedingt war, der einen diesbezüglichen Verstoß nicht nahe legte.417 Im Fall Bosman418 wurde das Problem des Verhältnisses von Wettbewerbsrecht und Grundfreiheiten erneut aufgeworfen. Dort hatte das nationale Gericht nach der Vereinbarkeit der Verbandsregelungen mit den Artikeln 39, 81 und 82 EG gefragt. Der Gerichtshof konnte sich der Frage nach dem Verhältnis der beiden Regelungsbereiche daher im Grunde nicht entziehen. Dennoch sind die Aussagen des EuGH zu der Frage wenig ergiebig – was nicht bedeutet, dass sich nicht auch aus der Kargheit der Aussagen gewisse Schlüsse ziehen lassen. Nachdem der Gerichtshof recht ausführlich unter Rückgriff auf Walrave Artikel 39 EG auf die Verbandsregeln anwendete und deren Unvereinbarkeit damit erklärte,419 fiel seine Stellungnahme zu Artikel 81 f. EG bemerkenswert kurz aus: „Da die beiden in den Vorlagefragen genannten Arten von Regeln gegen Artikel 48 [39 EG] verstoßen, braucht über die Auslegung der Artikel 85 und 86 des Vertrages [81 und 82 EG] nicht entschieden werden.“420

Der Gerichtshof vermied damit eine direkte Aussage zur gleichzeitigen Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts und der Arbeitnehmerfreizügigkeit und flüchtete sich stattdessen in das eher formale Argument der fehlenden Notwendigkeit einer Entscheidung. Das ist gerade für den Gerichtshof bemerkenswert, der sich sonst nicht scheut, auch nicht zwingend Notwendiges auszusprechen, um damit eine Auslegung des Vertrags für künftige Fälle vorzugeben. Die Tatsache, dass er dies hier nicht tut, deutet auf eine bewusste Vermeidung der Frage hin. Dies ist insbesondere deshalb auffällig, als Generalanwalt Lenz ausführlich zur Frage der Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts Stellung genommen hatte.421 Lenz hatte keinen Grund gesehen, warum die Verbandsregeln nicht zugleich dem Artikel 39 EG und dem EG-Kartellrecht unterfallen könnten, da das Verhältnis der Anwendungsbereiche dieser Normen nicht, wie sonst 415

EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277. EuGH, Rs. 251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277, 4284. 417 Auch Ganten, Drittwirkung, S. 155, geht davon aus, dass kein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht vorliegt. 418 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921. 419 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 68 ff. 420 Ebenda, Rz. 138. 421 Schlussanträge des Generalanwalts Lenz v. 20. September 1995, Slg. 1995, S. I-4930 (I-5026), Ziff. 253 ff. 416

III. Wettbewerbsrecht

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im EG-Vertrag zum Teil der Fall, ausdrücklich geregelt sei.422 Dies hieß für Lenz, dass eine Anwendung beider Normkomplexe auf den Sachverhalt möglich war. Im Ergebnis nahm Lenz dabei einen Verstoß der Verbandsregeln sowohl gegen Artikel 39 EG als auch gegen Artikel 81 EG an. Auch in den nachfolgenden Sportfällen, Deliège423 und Lehtonen424 gab der Gerichtshof keine Stellungnahme zu einem Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht ab. Allerdings änderte sich seine Begründung. In beiden Fällen gab er an, er könne zur Vereinbarkeit der Verbandsregeln mit dem Wettbewerbsrecht keine Aussage machen, weil keine präzisen Angaben dazu gemacht worden seien.425 Im Fall Lehtonen fügte der EuGH hinzu, er halte sich nicht für ausreichend unterrichtet, um die relevanten Märkte zu bestimmen.426 Wie in der Entscheidung Bosman klingt diese Argumentation nach einem bewussten Ausweichen. c) Ergebnis Insgesamt lässt sich feststellen, dass der EuGH das Wettbewerbsrecht von Artikel 28 EG gerade auch im Hinblick auf die Adressaten abgegrenzt hat. In den Entscheidungen zu den übrigen Grundfreiheiten hat er hingegen eine Stellungnahme zum Verhältnis der beiden Regelungsbereiche vermieden. 2. Literaturansichten zum Wettbewerbsrecht In der Literatur wird die Bindung Privater an die Grundfreiheiten häufig mit einem Verweis auf das Wettbewerbsrecht abgelehnt.427 Das Heranziehen der wettbewerbsrechtlichen Regeln wird dabei in mehrfacher Hinsicht fruchtbar gemacht. Zunächst wird ein Umkehrschluss gezogen: Artikel 81 f. EG benenne private Akteure ausdrücklich als Adressaten. Dies sei in einem völkerrechtlichen Vertrag – und als solcher sei der EG-Vertrag zumindest in seiner Begrün422

Ebenda, Ziff. 253. EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549. 424 EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681. 425 EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 Rz. 37; EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 28. 426 EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 28. 427 So Roth, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, E. I. Rz. 17; ders., FS Everling, S. 1231 (1242 f.); Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (572 f.); Körber, EuZW 2001, S. 353; Streinz/ Leible, EuZW 2000, S. 459 (464); speziell für Artikel 28 EG Dauses, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, C I Rz. 94; Müller-Graff, in: G Art. 30 Rz. 307; Weatherill/Beaumont, EC Law, S. 449 f.; Quinn/MacGowan, ELR 12 (1989), S. 163 (167); C. Weber, RdA 1996, S. 107 (108); Ehlers, Jura 2001, S. 266 (274); Schödermeier, GRUR Int. 1987, S. 85 (87); a. A. Burgi, EWS 1999, S. 327 (329); Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 291 ff.; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 54 ff.; Schroeder in Streinz (Hrsg.), Art. 28 EGV Rz. 27, Müller-Graff, in Streinz (Hrsg.), Art. 49 EGV Rz. 65. 423

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

dungsphase anzusehen – bereits ungewöhnlich, da damit nicht nur die Mitgliedstaaten als die Vertragsparteien verpflichtet würden, sondern darüber hinaus auch Private. Eine solche Verpflichtung könne aber nur angenommen werden, wenn sie ausdrücklich vorgesehen, d.h. dem Normtext eindeutig zu entnehmen sei. Daher könne eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten nicht gegeben sein, da dort eine solche explizite Verpflichtung fehle. Mit anderen Worten, Private seien nur dann an Regelungen des Vertrags gebunden, wenn dies ausdrücklich – so wie im Wettbewerbsrecht – normiert sei.428 Als weiteres Argument gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten werden das Spürbarkeitserfordernis und die Rechtfertigungsgründe, die im Wettbewerbsrecht gelten, angeführt. Dahinter steht folgende Überlegung: Gälten die Grundfreiheiten auch für Private, so würde ein Großteil der Sachverhalte, die dem Wettbewerbsrecht unterfallen, auch durch die Grundfreiheiten erfasst. So könne aber ein Verhalten, welches nach den Regelungen des Wettbewerbsrechts zulässig sei, durch die Grundfreiheiten unzulässig werden. Es bestünde die Gefahr, dass auf diese Weise die Regelungen des Wettbewerbsrechts unterlaufen würden.429 Damit würden die Abwägungen, die dem komplexen System des Wettbewerbsrecht zugrunde liegen, ins Leere gehen. Dies betreffe zum einen das sog. Spürbarkeitserfordernis. Nach ständiger anerkannter Rechtsprechung dürfe die Beeinträchtigung des Wettbewerbs sowie des Handels zwischen den Mitgliedstaaten nicht nur geringfügig sein, damit sie vom EG-Vertrag erfasst werde.430 Damit sei ein Spielraum für privates Handeln eröffnet, in dem die Privatautonomie schwerer wiege als der unverfälschte Wettbewerb. Diese bewusste Entscheidung für die Privatautonomie liefe leer, wenn geringe Verstöße stattdessen über die Grundfreiheiten erfasst werden könnten.431 Ähnliches gelte für die Rechtfertigungsgründe des Wettbewerbsrechts. Diese seien grundsätzlich anderer Natur als die der Grundfreiheiten. Während im Bereich der Grundfreiheiten nicht-wirtschaftliche Interessen zur Rechtfertigung herangezogen werden könnten, seien im Wettbewerbsrecht vor allem wirtschaftliche Interessen von Bedeutung. Maßnahmen, welche dem Wettbewerb insgesamt oder auf lange Sicht zugute kämen oder aber auf andere Weise dem Verbraucher dienten, könnten gerechtfertigt sein, auch wenn sie den Wettbewerb (zunächst) behinderten 428

Meier, ZHR 1970, S. 61 (93). Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (572 f.); Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (464); vgl. auch Quinn/MacGowan, ELR 12 (1987), S. 163, 167 für Artikel 28 EG. Allgemein Jaensch, Drittwirkung, S. 145 ff. 430 EuGH, Rs. 56/65 LTM/MBU, 30.6.1966, Slg. 1966, S. 281, 304; EuGH, Rs. 209–215 und 218/78, Heintz v. Landewyck Särl u. a./Kommission, Slg. 1980, S. 3125 Rz. 154. Schröter, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 81 EG Rz. 194; Weiß, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 81 EG-Vertrag, Rz. 90 und 132. 431 Die Einführung einer Spürbarkeitsregelung bei den Grundfreiheiten wird abgelehnt, siehe nur Jaensch, Drittwirkung, S. 146 f. m.w.N; Ganten, Drittwirkung, S. 142 ff., mit unterschiedlichen Begründungsansätzen. 429

III. Wettbewerbsrecht

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oder beschränkten.432 Diese wirtschaftliche Betrachtungsweise schlage sich vor allem im Instrument der Gruppenfreistellung nieder. Gemäß Artikel 81 Abs. 3 EG könne die Kommission bestimmte Verhaltensweisen pauschal freistellen, also dem Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags entziehen, wenn dies aufgrund einer Gesamtbetrachtung wirtschaftlich sinnvoll erscheine. Die Unterschiedlichkeit der Rechtfertigungsgründe berge die Gefahr, dass das Verhalten zwar im Hinblick auf das Wettbewerbsrecht, nicht aber im Hinblick auf die Grundfreiheiten gerechtfertigt sei. Damit würden die Erwägungen, die hinter den Rechtfertigungsgründen des Wettbewerbsrechts stünden, umgangen.433 Die Gefahr der Umgehung wird schließlich im Zusammenhang mit den Adressaten der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften genannt. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Artikel 81 f. EG sich nicht an alle Privaten wende, sondern nur an Unternehmen, in Artikel 82 EG sogar nur an marktbeherrschende Unternehmen. Dies bedeute, dass das Verhalten aller anderen Privaten noch nicht einmal dem Wettbewerbsrecht unterliegen, sondern insgesamt EG-rechtlich unbeachtlich sein solle. Diese Beschränkung auf bestimmte Private dürfe ebenfalls nicht durch eine Bindung aller Privaten an die Grundfreiheiten unterlaufen werden.434 Aus diesem problematischen Verhältnis der Wettbewerbsregeln und der Grundfreiheiten werden unterschiedliche Schlussfolgerungen für die Drittwirkung gezogen. Die weitestgehende ist, eine (unmittelbare) Bindung Privater an die Grundfreiheiten aus systematischen Gründen völlig abzulehnen.435 Nicht ganz so weit geht es, jedenfalls im Konkurrenzfall, die Wettbewerbsregeln als leges speciales anzusehen und die Grundfreiheiten gegen Private dann nicht zu prüfen, wenn das Wettbewerbsrecht bereits einschlägig ist.436 Ted O. Ganten schlägt schließlich vor, dem möglichen Leerlaufen der Rechtfertigungsgründe des Wettbewerbsrechts durch eine teleologische Reduktion des Beschränkungstatbestandes der Grundfreiheiten zu begegnen: Wenn eine private Maßnahme

432

Vgl. Art. 81 Abs. 3 EG. Allgemein Jaensch, Drittwirkung, S. 158. Vgl. Ganten, Drittwirkung, S. 76 f., 141 ff., Canaris; FS Schmidt, S. 29 (43 f.). 434 Roth, FS Everling, S. 1243; Jaensch, Drittwirkung, S. 141. 435 Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (572 ff.); Roth, FS Everling, S. 1242; Jaensch, Drittwirkung, S. 172; für Artikel 28 EG Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 201 ff.; inzwischen zurückhaltender Müller-Graff, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Art. 28 EG Rz. 301 ff. (307), der in der Vorauflage allerdings noch ablehnender einer Bindung Privater gegenüberstand; im Ansatz Schödermeier, GRUR Int. 1987, S. 85 (88 f.); vgl. auch Joliet, GRUR Int. 1994, S. 1 (13 f.). A. A Steindorff, FS Lerche, S. 575 (587 f.); Quinn/MacGowan, ELR 1987, S. 163 (178). 436 Canaris; FS Schmidt, S. 29 (43 f.); Michaelis, NJW 2001, S. 1841 (1842); Quinn/ MacGowan, ELR 1987, S. 163 (178), Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 201 ff.; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (21); a. A. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 291 ff.; Fezer, JZ 1994, S. 317 (319); Jaensch, Drittwirkung, S. 173 ff.; Ganten, Drittwirkung, S. 148 ff.; krit. auch Schödermeier, GRUR Int. 1987, S. 85 (88 f.). 433

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

zwar den Einzelnen in der Ausübung seiner Grundfreiheiten beschränke, im Ergebnis jedoch dem Binnenmarkt zugute komme, dann soll bereits der Tatbestand der Grundfreiheiten nicht erfüllt sein. Denn deren Ziel sei ebenso wie das der Wettbewerbsregeln die Verwirklichung des Binnenmarktes.437 3. Beschränkte Aussagekraft des Wettbewerbsrechts Das Argument, eine Verpflichtung Privater nur dann anzunehmen, wenn Vorschriften des EG-Vertrages, so wie im Wettbewerbsrecht, sie ausdrücklich als Adressaten nennen, hat eine gewisse Berechtigung. Es geht mit einer Betonung der Rechtssicherheit einher, die durch eine klare Benennung der Verpflichteten gefördert wird. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Vorschriften des Wettbewerbsrechts es nahe legen, dass nicht an eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten gedacht war. Dass heißt jedoch nicht, dass eine Bindung Privater dadurch bereits ausgeschlossen ist, denn durch eine entsprechende Entwicklung des Europarechts kann sich eine veränderte Bindungswirkung der Grundfreiheiten ergeben. Der Vergleich des Wortlauts der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften und der Grundfreiheiten lässt sich daher nur als ein Indiz, nicht aber als das entscheidende Argument gegen eine Bindungswirkung anführen. Das schwerwiegendere Argument ist daher, dass durch eine Bindung Privater das komplexe System des Wettbewerbsrechts leer liefe. Dieses Argument stellt sich jedoch bei genauer Prüfung als weniger relevant heraus, als es zunächst den Anschein hat. Eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten bedeutet, dass sich privates Verhalten sowohl an ihnen als auch am Wettbewerbsrecht orientieren muss. Dass eine Maßnahme an mehreren Vorschriften gemessen wird, ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Für das Handeln Privater gelten oft eine Vielzahl von unterschiedlichen Regeln: So können beispielsweise beim Bau eines Hauses bauordnungs-, bauplanungs- und umweltschutzrechtliche Vorschriften gleichzeitig einschlägig sein. Eine Maßnahme kann dabei zum Beispiel bauordnungsrechtlich zulässig, bauplanungsrechtlich aber unzulässig sein. Damit läuft das Bauordnungsrecht nicht leer. Dieses Beispiel zeigt, dass es entscheidend darauf ankommt, dass alle anwendbaren Vorschriften verschiedene Ziele verfolgen. Dann können sie verschiedene Verhaltensregeln aufstellen, ohne dass sich dabei ein Problem der Umgehung ergibt. Entsprechend kann eine Gefahr, dass das wettbewerbsrechtlich verankerte Gleichgewicht leer läuft, nur dann überhaupt gegeben sein, wenn die Grundfreiheiten und das Wettbewerbsrecht dasselbe Ziel verfolgen, dabei aber unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen festlegen. Die Wettbewerbsregeln müssten also eine Teilmenge der Fälle erfassen, die bei einer Bindung Privater auch unter die Grundfreiheiten fallen würden. Das setzt ein Verständnis voraus, nach dem beide Regelungskomplexe in ähnlicher Weise auf 437

Ganten, Drittwirkung, S. 156 ff.

III. Wettbewerbsrecht

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die Verwirklichung des Binnenmarktes ausgerichtet sind.438 Allerdings gewährleisten die Grundfreiheiten dabei den ungehinderten Freiverkehr zwischen den Mitgliedstaaten durch Aufhebung der staatlichen Barrieren, während die Wettbewerbsregeln innerhalb des so errichteten Binnenmarktes den redlichen, unverfälschten und freien Wettbewerb gegen private Beeinträchtigungen schützen.439 Die Grundfreiheiten und die wettbewerbsrechtlichen Regeln sind dabei zwei von einander getrennte Normkomplexe, denen eine jeweils eigene Sachlogik zugrunde liegt.440 Ihre Ziele können nicht ohne weiteres pauschal auf die Verwirklichung des Binnenmarktes beschränkt und gleichgesetzt werden.441 Die Unterschiede zeigen sich besonders auffällig bei einer Betrachtung der individualrechtlichen Zielrichtung der Normenkomplexe. Durch die zunehmende Subjektivierung, also die stärkere Berücksichtigung des einzelnen Unionsbürgers, die das Europarecht inzwischen erfahren hat,442 haben sich die Funktionen und die Ziele der beiden Regelungsbereiche verändert. Sie haben im Laufe der Zeit neben ihrer objektiven Zielsetzung443 eine individualrechtliche Funktion entwickelt. Nach ständiger Rechtsprechung schützen die Artikel 81 und 82 EG nicht nur den Wettbewerb allgemein, sondern auch die Individualinteressen der Marktteilnehmer, die durch das verbotene Verhalten in ihrer Marktstellung beeinträchtigt werden.444 Die Wettbewerbsregeln sollen also vor einer Schädigung der Handelspartner und der Verbraucher schützen.445 Es geht um die Sicherung

438 So ausdrücklich Ganten, Drittwirkung, S. 156 ff.; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 201. 439 Siehe nur Schröter, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 81 EG Rz. 84 ff. 440 So auch Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 202, der allerdings unmittelbar vorher (S. 200 f.) von einer Übereinstimmung der Ziele ausgeht. Ebenso Ganten, Drittwirkung, S. 77 ff. 441 Deutlich GA Reischl, in Rs. 177 u. 178/82, van de Haar, Slg. 1984, S. 1797, 1820. Vgl. auch Jaensch, Drittwirkung, S. 180. 442 Dazu ausführlich unten S. 128 ff. 443 Bzgl. der institutionellen Garantie der Wettbewerbsregeln siehe nur EuGH, Rs. 6/72 Continental Can, Slg. 1973, S. 215 Rz. 25; EuGH, Rs. 85/76 Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, S. 461 Rz. 38; Jung, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 82 EGV Rz. 7. 444 Siehe nur EuGH, Rs. 155/73, Sacchi, Slg. 1974, S. 409,Rz. 18 speziell für Artikel 82 EG. Für die Artikel 81 und 82 EG EuGH, Rs. 127/73 BRT/SABAM, Slg. 1974, S. 51 Rz. 15/17; EuGH, Rs. C-234/89, Delimitis, Slg. 1991, S. I-935,Rz. 45 f.; EuGH, Rs. 37/ 79 Estée Lauder, Slg. 1980, S. 2481, 2500. Ebenso Brinker, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Artikel 81 Rz. 64 und Artikel 82 Rz. 2; Weiß, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 81 Rz. 149 und Artikel 82 Rz. 72; Geiger, Artikel 81 Rz. 37 und Artikel 82 Rz. 14; Jung, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 82 EGV Rz. 7; Korah, EC Competition Law, S. 11 f. Zur deutschen Debatte um die Schutzobjekte des Wettbewerbsrechts Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 122 f.; Mestmäcker, AcP 168 (1968), S. 235 (245 f.); Hönn, Vertragsparität, S. 110; BGHZ 29, S. 344 (350). 445 Jung, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 82 EGV Rz. 7; krit. Whish, Competition Law, S. 16 ff.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit der Beteiligten.446 Die Wettbewerbsregeln haben somit eine zweifache Zielrichtung: den Schutz des Wettbewerbs als Institution und den Individualschutz bestimmter Handelsteilnehmer. Die Grundfreiheiten sind in ähnlicher Weise doppelt ausgerichtet. Sie umfassen die Herstellung des Binnenmarktes als institutionelles Ziel447 sowie die Gewährleistung individueller Freiheitsrechte.448 Im Hinblick auf die individualschützende Funktion der Normkomplexe können sich entscheidende Unterschiede ergeben, die hauptsächlich auf die zu schützende Person zurück zu führen sind. Dies lässt sich am Beispiel des Falles Bosman verdeutlichen. Generalanwalt Lenz ging in seinen Ausführungen, im Gegensatz zum Gerichtshof, ausführlich auf die Artikel 81 und 82 EG ein. Dabei nahm er im Ergebnis eine Verletzung von Artikel 81 EG an. Jedoch kam es nicht auf die wettbewerbsrechtliche Stellung des Spielers Bosman an – dessen Rechte bei der Prüfung des Artikels 39 EG die entscheidende Rolle spielten –, sondern auf den Wettbewerb zwischen den Vereinen, der durch die Regeln der Verbände beeinträchtigt sein könnte.449 Damit war der Berechtigte des Rechts auf Freizügigkeit nicht zugleich derjenige, der durch eine gleichzeitig vorliegende Wettbewerbsbeschränkung benachteiligt wurde. Durch die Freizügigkeit wird die Freiheit des Arbeitnehmers geschützt, er ist Berechtigter dieser Grundfreiheit. Die Rechte und Interessen des Arbeitnehmers werden jedoch nicht vom Wettbewerbsrecht erfasst. Er ist keiner der dort avisierten Marktteilnehmer: Der Arbeitnehmer als solcher ist nicht im Sinne von Artikel 81 EG „Unternehmer“, da hierzu nur selbständige wirtschaftliche Einheiten gehören,450 die ein Arbeitnehmer aufgrund seiner ihm definitionsgemäß gegebenen wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht darstellen kann.451 Ebenso wenig kom446 Schroeter, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 81 Rz. 7; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 123 f.; Shoda, in: Gutzler/Herion/Kaiser (Hrsg.), Wettbewerb im Wandel, S. 107 (112 ff.). 447 Siehe zum Ziel des Binnenmarktes unten S. 123 ff. 448 Hierzu ausführlich unten S. 128 ff. 449 GA Lenz wies sogar ausdrücklich das Argument des Herrn Bosman zurück, der behauptet hatte, er sei auch wettbewerbsrechtlich verletzt worden. EuGH, Rs. C-415/ 93, Bosman, Slg. 1995, S. I-5029 Rz. 262 ff. v. a. 263. Vgl. zu der Relevanz von Art. 81 EG im Profi-Fußball und dem Konflikt zur Tarifautonomie aber Fischer, EuZW 2002, S. 97. 450 EuGH, Rs. C-41/90 Höfner und Elsner/Macroton, Slg. 1991, I-1979, Rz. 21; Schröter, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Vorbem. zu den Artikeln 81 bis 85 EG Rz. 24; Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 81 EGV Rz. 51; Weiß, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 81 Rz. 31 f.; Brinker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 81 EG Rz. 24; vgl. auch Baquero Cruz, ELR 1999, S. 603, 619. Siehe auch Roloff, Beschränkungsverbot, S. 216 ff. 451 EuGH, Verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73, Suiker Unie/ Kommission, Slg. 1975, S. 1663 Rz. 473 ff.; GA Lenz, in Rs. C-415/93, Bosman, Slg.

III. Wettbewerbsrecht

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men Arbeitnehmer als wettbewerbsrechtlich geschützte Personen gemäß Artikel 82 EG in Frage. Dort geht es um die Ausübung einer vorherrschenden Marktstellung zum Nachteil von Wettbewerbern, Abnehmern oder Verbrauchern.452 Schutz genießen daher nur diejenigen Marktteilnehmer, die sich in diese Gruppen einordnen lassen. Arbeitnehmer fallen in keine dieser Kategorien.453 Obgleich daher die gleichzeitige Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts und der Freizügigkeit auf einen konkreten Fall gegeben sein kann, sind die jeweils Schutzberechtigten nicht identisch.454 Die gleichzeitige Anwendbarkeit beider Normkomplexe beruht darauf, dass in dem Fall beide jeweiligen Ziele relevant sind. Dieser Fall zeigt, dass eine pauschale Gleichsetzung der Ziele von Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht sich verbietet. Das Argument eines Leerlaufens vermag daher nicht zu überzeugen.455 Entsprechend lässt sich daraus kein umfassender Grund gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten ableiten. Allerdings ist eine Überschneidung der Zielrichtung nicht ausgeschlossen. Das Wettbewerbsrecht ist damit zwar kein Argument für einen allgemeinen Ausschluss der Bindung Privater an die Grundfreiheiten, aber es könnte möglicherweise ein Grund für eine differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten sein. Dies ist jedoch weniger eine Frage des Wettbewerbsrechts an sich als vielmehr eine Frage des Schutzzwecks der Norm. Es kommt dann darauf an, ob durch das Wettbewerbsrecht ein ausreichender Schutz der jeweiligen Rechtspositionen gegeben sein kann. Um zu bestimmen, wann ein Schutz angemessen ist, ist aber die individuelle Zielrichtung der beiden Normenkomplexe, d.h. die Bedeutung des Individualschutzes entscheidend.456 Entsprechend wird diese Frage im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung vertieft.457

1995, S. I-I-5030 Rz. 263; Bellamy/Child/Rose, Artikel 85 (1) Rz. 2-006; Gleiss/ Hirsch/Burkert, Artikel 85 (1), Kap. A, Rz. 19; Schröter, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Vorbem. zu den Artikeln 81 bis 85 EG, Rz. 24. 452 EuGH, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461 Rz. 38. 453 Ebenso GA Lenz, in Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-I-5030 Rz. 286. 454 Vgl. auch Matthies, FS Sasse, S. 115 (124), der annimmt, dass die Wettbewerbsregeln nicht die interne Bindung der Beteiligten schützt, sondern dass die „Drittwirkung“ der Vereinbarung auf die Marktpartner entscheidend ist. Ob das in allen Fällen stimmt, ist allerdings fraglich. 455 Ähnlich Müller-Graff, EuR-Beiheft 1/2002, S. 7 (43). 456 Vgl. auch Wiedemann, JZ 1994, S. 411, der in Bezug auf Verträge „individuell missratene Vertragsergebnisse“ durch eine generelle Ordnungspolitik nicht rechtfertigend hält. 457 Siehe unten S. 128 ff.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

4. Zusammenfassung Das Wettbewerbsrecht ist in den meisten Urteilen zur Warenverkehrsfreiheit vom Gerichtshof zur Klärung und Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche herangezogen worden. Dabei werden die Normen nach ihren Adressaten unterschieden – Artikel 28 EG gilt für staatliche, Artikel 81 f. EG für private Maßnahmen. Diese Einteilung findet sich in den Urteilen zu den übrigen Grundfreiheiten nicht. Dort ist bisher auf das Wettbewerbsrecht nicht näher eingegangen worden. Vor allem in den jüngeren Entscheidungen scheint eine Stellungnahme dazu sogar absichtlich vermieden worden zu sein. In der Literatur betonen die Gegner einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten die Bedeutung des Wettbewerbsrechts als Normen, die allein dem privaten Handeln angepasst sind. Dabei weisen sie auf den Wortlaut und auf die Gefahr einer Umgehung der darin enthaltenen Wertungen hin. Während der Wortlaut eine gewisse Indizwirkung hat, geht das Argument eines möglichen Leerlaufens im Wesentlichen fehl. Es setzt voraus, dass die Ziele der beiden Normkomplexe identisch sind. Insbesondere die individualrechtliche Zielrichtung der Grundfreiheiten zeigt indes, dass eine Übereinstimmung der Ziele jedoch nicht pauschal zugrunde gelegt werden kann.

IV. Diskriminierungsverbote Das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG sowie der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen aus Artikel 141 EG spielen bei der systematischen Auslegung der Grundfreiheiten eine wichtige Rolle. Dabei ist vorab eine terminologische Klärung vorzunehmen: Vereinzelt werden sowohl das Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG als auch das aus Artikel 141 EG als allgemeine Diskriminierungsverbote bezeichnet.458 Sowohl Artikel 12 EG als auch Artikel 141 EG enthalten aber ein bestimmtes Differenzierungskriterium, auf der einen Seite das der Staatsangehörigkeit, auf der anderen das des Geschlechts, sind also letztlich beide nicht allgemein. Es ist üblich, nur das Verbot aus Artikel 12 EG als allgemeines Diskriminierungsverbot zu bezeichnen. Grund dafür ist wohl die Tatsache, dass es zu diesem Verbot in den Grundfreiheiten spezielle Ausprägungen gibt. Auch hier soll daher nur das Verbot aus Artikel 12 EG als allgemeines Diskriminierungsverbot bezeichnet werden. Im Gegensatz zu den Wettbewerbsregeln werden die Diskriminierungsverbote vom EuGH und der Literatur nicht im Wege des Umkehrschlusses, sondern als verstärkende Argumente fruchtbar gemacht. Dabei wird angenommen, dass die Diskriminierungsverbote der Artikel 12 und 141 EG für Private bindend seien, und dass dies daher auch für die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten 458

Reich, Bürgerrechte, S. 63 f.

IV. Diskriminierungsverbote

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gelten müsse.459 Zunächst werden im Folgenden die entsprechenden Argumente in der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten dargestellt (1.). Im Anschluss wird die Argumentationskraft der Diskriminierungsverbote für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten überprüft (2.). 1. Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Grundfreiheiten In den Entscheidungen des EuGH zur Verpflichtung Privater aus den Grundfreiheiten spielen die Diskriminierungsverbote eine unterschiedliche Rolle. In keinem der Fälle, in denen die Warenverkehrsfreiheit betroffen war, stellte der EuGH eine Diskriminierung fest. In den meisten Fällen war dies auch nicht behauptet worden. Lediglich in van de Haar berief sich der Kläger auf das Vorliegen einer Diskriminierung. Dort kam der EuGH jedoch zu dem Schluss, dass es sich bei den angegriffenen Vorschriften um unterschiedslos wirkende Normen handele und somit keine Diskriminierung vorliege.460 In Kommission/Frankreich wurde schließlich ein Hemmnis für den innergemeinschaftlichen Handel ohne Ausführungen zum diskriminierenden Charakter der Störungen festgestellt. Der Gerichtshof äußerte sich damit nicht zur Relevanz der Diskriminierungsverbote für die Warenverkehrsfreiheit. Anders war dies hingegen in der überwiegenden Zahl der Fälle zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit. Dort wurde bereits durch die Vorlagefragen ein Zusammenhang zwischen Artikel 12 EG und den Artikeln 39, 43 und 49 EG hergestellt. In Walrave, Donà, van Ameyde, und Lehtonen fragten die vorlegenden Gerichte nach der Vereinbarkeit der privaten Regelungen mit den Artikeln 12, 39 und 49 bzw. 43 EG.461 In den Entscheidungen selbst fällt auf, wie sehr die Verbindung der Grundfreiheiten zum allgemeinen Diskriminierungsverbot betont wird. So führte der EuGH in Walrave aus: „Den Artikeln 7 [12], 48 [39] und 59 [49] ist gemeinsam, dass sie in ihrem Anwendungsbereich jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung verbieten.“462 Ohne weitere Erklärung stellte er dann 459 Roth, FS Everling, S. 1231; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (462); Ganten, Drittwirkung, S. 94 ff.; Jaensch, Drittwirkung, S. 259 ff. 460 EuGH, Rs. 177 u. 178/82, van de Haar, Slg. 1984, S. 1797 Rz. 18. 461 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 (1408); EuGH, Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, S. 1333 (1335); EuGH, Rs. 90/76, van Ameyde, Slg. 1977, S. 1091 (1100); EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681. In EuGH, Rs. 251/83 HaugAdrion, Slg. 1984, S. 4277 (4280) wurde allgemein nach der Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag gefragt; in EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 (5056), Verb. C-51/96 u. 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 (I-2556) und in EuGH, Rs. C281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 15 hingegen wurde nur nach Art. 39 EG bzw. Art. 81 f. EG gefragt. 462 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 16/19.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

fest, dass dieses Verbot der unterschiedlichen Behandlung für alle Maßnahmen gelte, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten.463 Das Verbot der Diskriminierung erscheint dabei als entscheidendes Element der Normen, die eine Bindung für Private entfalten. In Donà stellte der EuGH noch genauer den Zusammenhang dieser Normen klar, in dem er die Artikel 39–42 und die Artikel 49–55 EG als Konkretisierungen des allgemeinen Diskriminierungsverbotes kennzeichnete.464 Die Beschreibung der Grundfreiheiten als Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes wurde in Haug-Adrion aufgenommen, wobei noch weitergehender betont wurde, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot und die dieses Verbot konkretisierenden Artikel 39, 49 und 54 „die Beseitigung aller Maßnahmen zum Ziel haben“, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates diskriminieren.465 Auch in van Ameyde sah der Gerichtshof die Grundfreiheiten als durchführende Normen des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Artikel 12 EG an.466 Allerdings folgerte er dann gleichsam umgekehrt, „dass eine mit Artikel 52 und 59 in Einklang stehende Regelung auch mit Artikel 7 vereinbar ist.“467 Damit wird nicht die Bindung Privater an Artikel 12 EG als Argument gewählt, sondern es werden umgekehrt die Artikel 43 und 49 EG als entscheidend für die Wirkung des allgemeineren Verbots festgestellt. Insgesamt heben aber alle diese Entscheidungen die Bedeutung des Diskriminierungsverbots hervor. Die Bindung Privater an die Grundfreiheiten ist in diesen Fällen nahezu gleichbedeutend mit der Bindung an das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG. Angesichts der steten Betonung dieser Parallele überrascht das Fehlen jeglicher Erwähnung des Artikels 12 EG in Bosman. Obwohl der Gerichtshof wegen der unterschiedlichen Behandlung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch die Ausländerklauseln einen Verstoß gegen Artikel 39 Abs. 2 EG annahm, verwies er zur Begründung weder direkt auf das allgemeine Diskriminierungsverbot noch auf seine vorhergehende Rechtsprechung, wie er es an anderer Stelle tut. Stattdessen nahm er nur auf die Durchführung des Verbots aus Artikel 39 Abs. 2 EG in der VO 1612/68 Bezug. Dieses Vorgehen erweckt den Anschein, als wolle der Gerichtshof den Aspekt der Diskriminierung nicht unnötig 463

Ebenda. EuGH, Rs. 13/76, Donà, Slg. 1976, S. 1333 Rz. 6/7. 465 EuGH, Rs. 252/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, S. I-4277 Rz. 14, Hervorhebung durch Verf. 466 EuGH, Rs. 90/76, Van Ameyde, Slg. 1977, S. 1091 Rz. 27. Jaensch, Drittwirkung, S. 79, nimmt in diesem Fall eine unterschiedslos beschränkende Maßnahme an. Aus der Tatsache, dass der EuGH hierauf nicht einging, schließt er, dass der Gerichtshof dem Beschränkungsverbot keine unmittelbare Drittwirkung zugestehen wollte, und dass zumindest zu diesem Zeitpunkt eine Drittwirkung nur insoweit gegeben war, als Artikel 49 EG eine spezielle Ausformung des Diskriminierungsverbots aus Artikel 12 EG war. Ähnliches sieht er im Fall Haug-Adrion gegeben. 467 Ebenda. 464

IV. Diskriminierungsverbote

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betonen. Eine Erklärung hierfür liegt möglicherweise in der Tatsache begründet, dass in Bosman eine Bindung Privater auch an das Beschränkungsverbot angenommen wurde,468 was nicht über Artikel 12 EG begründet werden konnte. In den folgenden Sportentscheidungen spielte das Diskriminierungsverbot ebenfalls keine Rolle mehr. In Deliège war eine Diskriminierung weder gerügt noch vom EuGH geprüft worden.469 In Lehtonen war zwar nach der Vereinbarkeit der Regeln mit Artikel 12 bzw. 39 EG gefragt. Der EuGH stellte dazu aber lediglich fest, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot nur dann einschlägig sei, wenn es keine besonderen Diskriminierungsverbote gäbe. Artikel 39 EG sei jedoch eine Konkretisierung des allgemeinen Verbots für den Bereich der Arbeitnehmer,470 die der EuGH dann prüfte. Mit dieser kurzen Aussage wurde eine nähere Auseinandersetzung mit der Vereinbarkeit der angegriffenen Regeln mit Artikel 12 EG vermieden. Auch eine argumentative Rolle spielte das allgemeine Diskriminierungsverbot nicht, wobei auch hier wohl entscheidend war, dass es sich nach Ansicht des Gerichtshofs bei den Regeln um Beschränkungen der Freizügigkeit handelte, nicht um Diskriminierungen. Das Vorliegen einer Diskriminierung wurde nicht weiter geprüft. Im Fall Angonese erlangten die Diskriminierungsverbote schließlich wieder eine Bedeutung. Zunächst erklärte der Gerichtshof, dass „das in Artikel 48 des Vertrags [39 EG] ausgesprochene Diskriminierungsverbot allgemein formuliert ist und sich nicht speziell an die Mitgliedstaaten richtet.“471 Er verwies auf Walrave und Bosman, und wiederholte die dort gemachte Aussage, dass das Verbot unterschiedlicher Behandlung nicht nur für Akte der staatlichen Behörden gelte, sondern auch für sonstige Maßnahmen, die kollektive Regelungen enthalten, weil eine andere Handhabung zu Ungleichheiten in der Anwendung führen könne.472 Sodann nahm er auf Artikel 141 EG Bezug. Unter Bezugnahme auf Defrenne führte er aus, dass das Diskriminierungsverbot als eine „Vertragsvorschrift mit zwingendem Charakter“ auch für Tarifverträge sowie alle Verträge zwischen Privatpersonen gelte.473 Den Sprung zu Artikel 39 EG bewältigte er mit einem Erst-Recht-Schluss: „Diese Erwägung muss erst recht für Artikel 48 des Vertrages [39 EG] gelten, in dem eine Grundfreiheit formuliert wird und der eine spezifische Anwendung des in Artikel 6 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG) ausgesprochenen allgemeinen Diskriminierungsverbots darstellt. In diesem Zusammenhang soll er ebenso wie Artikel 119 EG-Vertrag [141 EG] [. . .] eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleisten.“474 468 469 470 471 472 473

Siehe oben S. 47 ff. EuGH, Verb. Rs. C-51/96 u. 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549. EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 37 f. EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 30. Ebenda, Rz. 31–33. Ebenda, Rz. 34.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Mit dieser Vorbereitung gelangte er zu dem entscheidenden Satz: „Das in Artikel 48 des Vertrages [39 EG] ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt somit auch für Privatpersonen.“475

Damit werden sowohl das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG als auch das besondere Verbot des Artikels 141 EG zur Begründung der umfassenden Bindungswirkung des Diskriminierungsverbots aus Artikel 39 EG angeführt. Insgesamt lässt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Entscheidungen zu Artikel 28 EG und denen zu den anderen Grundfreiheiten feststellen. Bei der Warenverkehrsfreiheit erfolgt ein Rückgriff auf die Diskriminierungsverbote nicht. Bei den anderen Grundfreiheiten hingegen wird vor allem Artikel 12 EG zur argumentativen Begründung der Bindungswirkung herangezogen. Lediglich in den Sportverbandsfällen seit Bosman wird, wohl aufgrund der Bindung Private auch an das Beschränkungsverbot, eine Betonung des Diskriminierungsverbots vermieden. 2. Diskriminierungsverbote als Argument für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten Der Verweis des EuGH auf die Diskriminierungsverbote der Artikel 12 und 141 EG zur Begründung einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten legt es nahe, die argumentative Überzeugungskraft dieses systematischen Arguments näher zu prüfen. In der Literatur ist vor allem Artikel 12 EG als wesentliches Argument für eine umfassende Bindungswirkung angeführt worden.476 Voraussetzung dafür, dass das Argument trägt, sind dabei zwei Punkte: Erstens muss eine Bindung Privater an die Artikel 12 und 141 EG anzunehmen und zweitens müssen die dort niedergelegten Diskriminierungsverbote mit denen der Grundfreiheiten vergleichbar sein.

474

Ebenda, Rz. 35. Ebenda, Rz. 36. 476 So vor allem Roth, FS Everling, S. 1231 (1245), der das „Drittwirkungs“-Problem der Grundfreiheiten im Wesentlichen auf Artikel 12 EG zurückführen will. Die Grundfreiheiten seien daneben nur auf intermediäre Gewalten anzuwenden. S. auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 84; Streinz/Leible, EuZW 2000, S. 459 (462); Ganten, Drittwirkung, S. 98 f. Vgl. aber Jaensch, Drittwirkung, S. 71 ff., der eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten über Art. 12 EG begründet im Lichte der Bosman-Entscheidung ablehnt, Private aber an Artikel 12 EG selbst binden will (S. 262). 475

IV. Diskriminierungsverbote

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a) Umfassende Bindungswirkung der Artikel 12 und 141 EG Im Hinblick auf Artikel 141 EG kann eine umfassende Bindungswirkung bejaht werden. Zwar legt der Wortlaut der Norm eine Beschränkung auf die Mitgliedstaaten nahe:477 „Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.“

Der EuGH entwickelte dennoch eine Bindung Privater an die Vorschrift. Diese Entscheidung wurde einhellig akzeptiert und umgesetzt,478 so dass eine Bindung Privater an Artikel 141 EG inzwischen als Teil des acquis communautaire,479 und damit als Bestandteil des geltenden Gemeinschaftsrechts anzusehen ist.480 Grundlage ist dabei die Entscheidung Defrenne,481 in der der Gerichtshof bereits 1976 entschied, dass das Verbot der Diskriminierung zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern nicht nur für öffentliche Behörden gelte, sondern „sich auch auf alle, die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen [erstrecke]“.482 Der EuGH lehnte es im weiteren jedoch ab, Artikel 141 EG im Sinne eines allgemeine Gleichbehandlungsgebots von Männern und Frauen bezüglich ihrer Arbeitsbedingungen zu verstehen und beschränkte stattdessen die Anwendung der Norm auf die spezielle Lohndiskriminierung.483 Gegenüber diesem doch sehr speziellen Verbot des Artikels 141 EG wirkt das Verbot einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Artikels 12 EG sehr viel weiter. Dort steht die Bindung Privater auf einer weniger gesicherten Grundlage. Zwar hatte Artikel 12 EG in den Fällen der Grundfreiheiten eine argumentative Rolle gespielt, er war dabei aber nicht selbst Prüfungsgegenstand. Im Jahr 2001 nahm der Gerichtshof zum ersten Mal explizit zur Frage der Bindung Privater an Artikel 12 EG Stellung. Im Fall Ferlini 484 hatte ein luxembur477 Ebenso Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, S. 347; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 83. 478 So die ganz herrschende Meinung, vgl. nur Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 141 Rz. 5; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 83; Steindorff, RdA 1988, S. 129 (131); Arnull, ELR 11 (1986), S. 200 ff. In den Einzelheiten besteht zum Teil allerdings noch Uneinigkeit, siehe Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 141 Rz. 6; vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts L.A. Geelhoed v. 2.4.2003 in Rs. C-256/01 Allonby ./. Accrington & Rossendale College u. a. 479 Dazu allgemein Pescatore, RTDE 1981, S. 617 ff.; Gialdino, CMLR 1995, S. 1089 ff.; Ott, EuZW 2000, S. 293 ff. 480 Ausdrücklich Gialdino, CMLR 1995, S. 1089 (1099). 481 EuGH, Rs. 43/75, 8.4.1976, Defrenne/Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena (Defrenne II), Slg. 1976, 455. 482 Rz. 38/39. Seither st. Rspr., vgl. nur EuGH, Rs. 96/80 Jenkins/Kingsgate Ltd., Slg. 1991, S. 911 Rz. 9/14. 483 EuGH, Rs. 149/77, Defrenne III, Slg. 1978, S. 1365 Rz. 19/23.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

gisches Krankenhaus von dem Kommissionsbeamten Ferlini knapp 70% höhere Krankenhausgebühren für die Entbindung seiner Frau verlangt, als nach der Gebührenordnung für Pflichtversicherte zu zahlen gewesen wären. Herr Ferlini klagte gegen die Gebührenfestsetzung mit dem Argument, dass nahezu alle Luxemburger dem nationalen System der sozialen Sicherung angeschlossen seien und damit geringere Gebühren zahlen müssten als Ausländer, die in der Regel dem nationalen System nicht angehörten. Hierin sei eine verdeckte Diskriminierung zu sehen. Im Ergebnis nahm der EuGH eine Unvereinbarkeit der höheren Gebühren mit Artikel 12 EG an. Entscheidend hinsichtlich der Anwendbarkeit der Norm auf die Regelung der Krankenhäuser ist dabei folgende Aussage: „Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt Artikel 6 I EGV [12 EG] auch in Fällen, in denen eine Gruppe oder Organisation wie die EHL gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen.“485

Die Einordnung dieser Entscheidung bereitet gewisse Schwierigkeiten. Zunächst ist zu fragen, wann im Sinne der neuen Formulierung eine Gruppe oder Organisation gegenüber Einzelpersonen „bestimmte Befugnisse ausüben oder sie Bedingungen unterwerfen“ kann. Dies ist nur in zwei Fällen denkbar: Erstens, wenn eine Gruppe oder Organisation vom Staat die Rechtsmacht hierzu verliehen bekommen hat, wie beispielsweise Berufsvereinigungen oder Standesorganisationen. In solchen Fällen hat der Gerichtshof aber bisher die Maßnahmen der privaten Organisationen dem Staat zugerechnet, so dass sich das Problem der Bindung Privater nicht stellt.486 Und zweitens, wenn die Privaten dem selbst zugestimmt haben – wie immer man diese Zustimmung dann auch einordnen will. Im Fall Ferlini hatte der Kläger, der den „Bedingungen unterworfen“ wurde, in diese tatsächlich vertraglich eingewilligt.487 Ob durch das Merkmal der „Unterwerfung“ auf sog. Ungleichgewichtslagen verwiesen werden soll, bleibt unklar, ist aber nicht unwahrscheinlich.488 Die in der Literatur vertretene Auffassung, dass nur Private mit Regelungsbefugnissen an Artikel 12 EG gebunden sein sollen,489 bietet hingegen für das Verständnis der neuen Formulierung 484 EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, EuZW 2001, S. 26 ff. 485 Ebenda, Rz. 50. 486 Siehe dazu oben S. 22 f. 487 Weder der Generalanwalt noch der Gerichtshof gehen hierauf ausdrücklich ein. Es ist aber klar, dass die Entbindung und der anschließende stationäre Aufenthalt auf einem, wenn auch möglicherweise konkludent zustande gekommenen, Vertrag beruht hat. Dies wird auch durch die Übersendung der Rechnung direkt an den Kläger deutlich. 488 Siehe dazu unten S. 185 ff. 489 Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, S. 347; Geiger, in: Geiger (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Artikel 12 Rz. 4; Schweitzer/Hummer, Rz. 1057. Einschränkend auch Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 12 Rz. 23;

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wenig Hilfe, da die Bedeutung von „Regelungsbefugnissen“ dabei nicht näher dargelegt wird und damit einer Klärung der gebundenen Privaten nicht hilfreich ist. Der EuGH bemüht sich in Ferlini, durch Verweise auf Walrave, Defrenne II und Bosman, das Urteil als Fortsetzung einer kontinuierlichen Rechtsprechung darzustellen. Die Formulierung ist indes neu und gliedert sich nicht ohne weiteres in die bisherigen Entscheidungen ein. Während in Walrave und Bosman 490 eine Geltung der Verpflichtungen nur für kollektive Regelungen angenommen wurde,491 war in Defrenne II eine solche Beschränkung nicht enthalten. In der kurz zuvor ergehenden Entscheidung Angonese war sogar gesagt worden, dass das Diskriminierungsverbot des Artikels 39 EG für alle Privatpersonen gelte, ohne dass dabei Einschränkungen gemacht wurden. Es ist sehr fraglich, ob durch Ferlini diese weitgehende Aussage wieder zurückgenommen werden sollte, zumal sich kein Hinweis auf eine solche Absicht findet. Für die Entscheidung in Ferlini kam es allerdings auf die Frage einer Bindung aller Privatpersonen nicht an, so dass die neue Formulierung auch als Ausfluss des besonderen Sachverhalts gewertet werden kann. Als Grundsatzentscheidung zur Bindungswirkung des Artikels 12 EG eignet sich Ferlini daher nur bedingt.

Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 12 EG Rz. 17 mit Hinweis auf „die kollektive Macht Einzelner“, Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 44; Bode, Diskriminierungsverbote, S. 299; eher skeptisch Baquero Cruz, ELR 1999, S. 603 (614); a. A. Meier, ZHR 1970, S. 61 (89 ff.). 490 Dies erstaunt bzgl. des Diskriminierungsverbots, siehe dazu im nachfolgenden Abschnitt. 491 Anders sah das hingegen Generalanwalt Cosmas. In Bezug auf Walrave und Bosman kam er zu dem Schluss, dass sich hierauf eine Anwendung des Artikels 12 EG nicht stützen lasse. Dabei argumentierte er, dass die Festsetzung der Gebühren einseitig erfolgt sei, es sich also nicht um kollektive Regelungen handele. Zum anderen sei die Festlegung gegenüber Personen ergangen, die außerhalb des sozialen Systems von Luxemburg stünden, die also am Zustandekommen der Vereinbarung nicht beteiligt waren. Aus dieser Argumentation wird deutlich, dass er eine Vergleichbarkeit der Regelung zu tarifrechtlichen Regelungen zwischen Arbeitnehmern und -gebern als wesentlichen Gesichtspunkt der bisherigen Rechtsprechung ansieht. Damit steht das Element der kollektiven Vereinbarung bei ihm im Vordergrund. Dennoch kam Cosmas zum Ergebnis, dass Artikel 12 EG auf Private anwendbar sei. Zunächst nahm er an, dass der rechtliche Rahmen, der es den Krankenhäusern ermöglicht, diskriminierende Regelungen zu erlassen, den Mitgliedstaaten über Artikel 10 EG anzulasten sei. Damit greift er die Vorgehensweise des EuGH im Fall Kommission/Frankreich auf, der auf diese Weise eine Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates für das Verhalten Privater konstruiert hatte. Er geht dabei aber einen Schritt weiter. Denn in Kommission/Frankreich war es um tatsächliche Maßnahmen gegangen, die der Staat zur Verhinderung der privaten Behinderungen unterlassen hatte. Cosmas hingegen nimmt an, dass die Rechtsordnung selbst als staatliches Handeln eine Zurechnung erlaubt. Das Unterlassen einer Reglementierung könne dem Mitgliedstaat als Verletzung des Gemeinschaftsrechts angelastet werden. Von der Zurechnung des privaten Verhaltens zum Mitgliedstaat schloss er dann auf die Bindung Privater.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Der Rechtsprechung kann folglich keine eindeutige Position entnommen werden. Sie geht aber eindeutig in die Richtung, jedenfalls bestimmte Private an Artikel 12 EG zu binden. Dabei ist insgesamt zu berücksichtigen, dass der EuGH starke Parallelen zu Artikel 12 EG und den Artikeln 39, 43 und 49 EG aufgebaut hat. Untersucht man Artikel 12 EG auf seine Bindungswirkung, lässt sich bereits der Wortlaut für ein extensives Verständnis seines Anwendungsbereichs auch auf private Diskriminierungen anführen. Artikel 12 EG ist nicht an bestimmte Adressaten gerichtet, sondern lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

Dabei spricht das Verbot jeder Diskriminierung dafür, alle Diskriminierungen ungeachtet ihres Ursprungs als unzulässig anzusehen.492 Danach wären auch Diskriminierungen durch Private nach Artikel 12 EG verboten. Eine umfassende Bindungswirkung des Artikels 12 EG wird ferner durch die besondere Stellung dieses Verbots unterstützt: Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist im Ersten Teil des EG-Vertrags, in den „Grundsätzen“, festgeschrieben. Darin kommt eine herausgehobene Bedeutung zum Ausdruck. Artikel 12 EG stellt die „Magna Charta“ der Gemeinschaft dar,493 die Norm, in der Sinn und Zweck der Gemeinschaft besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die Überwindung des Nationalen als ein gerechtfertigtes Kriterium der Ungleichbehandlung ist ein, wenn nicht sogar das wesentliche Ziel der europäischen Integration.494 Das allgemeine Diskriminierungsverbot kann, auch durch seine an anderen Stellen bestehenden Konkretisierungen, als „Leitmotiv“ des EG-Vertrags495 angesehen werden. Diese fundamentale Bedeutung des Diskriminierungsverbots, das die unverzichtbare Grundlage der europäischen Einigungsbemühungen bildet,496 wäre gefährdet, wenn private Diskriminierungen zugelassen würden.497 Der Kern der europäischen „Gemeinschaft“ würde dadurch getroffen. Denn der Verwirklichung des Ziels eines „Zusammenwachsens der 492

Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 84; U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (393). H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 592. 494 Ebenda. Vgl. auch Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, S. 92 f.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 323; Mohr, Gleichheitssatz, S. 8, Tridimas, General Principles of EU Law, S. 77 ff. 495 Wohlfarth/Everling/Glaesner/Sprung, EWG-Kommentar, Komm. 1 zu Art. 7; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 6 EGV Rz. 1 (Stand 2001). 496 Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 85; ausführlich GA Jacobs, Rs. C-92/92, Phil Collins, Slg. 1993, S. I-5160 Rz. 9 ff. 497 Jaensch, Drittwirkung, S. 254 f.; U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (393); Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 242 f.; ähnlich auch Bode, Diskriminierungsverbote, S. 298. Ganten, S. 98 beruft sich allgemeiner auf „den Geist des Vertrags“ (mit Hinweis auf Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 72); a. A. Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 97. 493

IV. Diskriminierungsverbote

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Völker“ würde erheblicher Schaden zugefügt, wenn die Staatsangehörigkeit für Private ein legitimes Differenzierungskriterium darstellte. Ein Verständnis des Artikels 12 EG, welches die Ziele der Union angemessen berücksichtigt, muss daher ein weites sein. Damit spricht viel dafür, auch Private als Adressaten des Diskriminierungsverbots einzubeziehen. Der Einwand, eine Bindung Privater an Artikel 12 EG sei aufgrund ihrer Privatautonomie abzulehnen,498 vermag die Position nicht zu erschüttern. Denn die bestehende Notwendigkeit, die Privatautonomie bei der Anwendung des Artikels 12 EG zu berücksichtigen,499 bedeutet nicht, dass die Bindung Privater an diese Norm auszuschließen ist. Sie ist vielmehr in die Prüfung des Diskriminierungsverbots einzubeziehen.500 Die oben dargestellten Gründe, vor allem die zentrale Bedeutung des Artikels 12 EG für die Union, legen aber zunächst eine Eröffnung des Anwendungsbereichs der Norm auch für privates Verhalten nahe. Entsprechend wird zu Recht überwiegend angenommen, dass private Handlungen am Grundsatz des allgemeinen Diskriminierungsverbots zu messen seien.501 Daher sind sowohl das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG als auch das geschlechtsbezogene des Artikels 141 EG für Private bindend.

498 So aber Holoubeck, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 12 EGV Rz. 27; Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl., Art. 6 Rz. 18, inzwischen zurückhaltender in der 6. Aufl., Art. 12 EG Rz. 17; Meier, ZHR 1970, S. 61 (89 ff.); zurückhaltender Streinz, in ders. (Hrsg.), Art. 12EGV Rz. 39. 499 Allgemein dazu unten S. 172 ff. 500 So auch Bleckmann, Europarecht, Rz. 1770; Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 4. Aufl., Art. 7 Rz. 19 Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 6 EGV Rz. 30 (Stand 2001). Dies kann unter Umständen zu einer anderen Beurteilung privater Maßnahmen im Vergleich zu staatlichen Maßnahmen führen, deshalb kritisch Holoubeck, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 12 EGV Rz. 27. Dazu aber ausführlich unten S. 172 ff. 501 Bleckmann, Europarecht, Rz. 1247; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 6 EGV Rz. 31 (Stand 2001); H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 599; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 84; U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (393); Ganten, Drittwirkung, S. 98; Jaensch, Drittwirkung, S. 254 f.; implizit T. Möllers, EuR 1998, S. 20 (37); Mulas, Freizügigkeit, S. 72; Roth, FS Everling, S. 1231, 1240; Steindorff, FS Lerche, S. 575; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 69; Nicolaysen, EuR 1984, S. 380 (386); Völker, Dienstleistungsfreiheit, S. 134 f.; Ullrich, Beil. 23 zu RIW 1990, S. 1 (7); Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil (Hrsg.), Die Europäische Union, S. 242 f.; Prasch, Die unmittelbare Wirkung, S. 113. Vgl. auch Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, S. 93; Tridimas, General Principles of EU Law, S. 78; Eine „vorsichtige Drittwirkung“ wollte auch Zuleeg, in: Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 4. Aufl., Art. 7 Rz. 18, annehmen, zurückhaltender allerdings in der 5. Aufl., in der 6. Aufl. nunmehr für eine „eng begrenzte Drittwirkung“; einschränkend auf Private mit „autonomen Regelungsbefugnissen“ Schweitzer/Hummer; Europarecht, S. 324.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

b) Vergleichbarkeit der Differenzierungskriterien als Voraussetzung Die zweite Voraussetzung des systematischen Arguments, die Bindung Privater an Artikel 12 und 141 EG spreche für eine ebensolche Bindung an die Grundfreiheiten, ist die Vergleichbarkeit der Differenzierungskriterien. Artikel 141 EG verbietet eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts, Artikel 12 EG aufgrund der Staatsangehörigkeit. Bei beiden handelt es sich um personenbezogene Kriterien. Artikel 39 Abs. 2, Artikel 43 und 50 EG enthalten ebenfalls ein ausdrückliches Verbot, wegen der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren, wobei Artikel 39 Abs. 2 EG dies am deutlichsten formuliert.502 Die Warenverkehrsfreiheit benennt ein Diskriminierungsverbot nicht. Allerdings ist in der Ausnahmeregelung des Artikels 30 EG bestimmt, dass Verbote nicht ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung darstellen dürfen. Es ist auch unbestritten, dass im Bereich der Warenverkehrsfreiheit Diskriminierungen als Maßnahmen gleicher Wirkung unzulässig sind.503 Jedoch entspricht das unzulässige Kriterium der Differenzierung bei Artikel 28 EG nicht dem der Staatsangehörigkeit. Bei Artikel 28 EG spielt die Person, die die Waren im- oder exportieren will, und ihre Staatsangehörigkeit keine Rolle,504 es kommt vielmehr allein auf die Herkunft der Waren an.505 Es sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass diese 502 Artikel 43 und 50 EG normieren ein Gleichbehandlungsgebot, d.h. eine positive Pflicht der Behandlung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“. Artikel 39 Abs. 2 EG legt hingegen ausdrücklich fest: „Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.“ 503 Siehe nur Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 40 ff.; Streinz, in: FS Rudolf, S. 199 (206); Marenco, CDE 1984, S. 291 ff.; ausführlich aus rechtstheoretischer Sicht Poiares Maduro, We, the Court, S. 35 ff. Am Verbot der Diskriminierung hat sich auch durch die Wende in der Rechtsprechung, ausgelöst durch die Keck-Entscheidung (EuGH, Rs. C-267 und 268/91, Slg. 1993, S. I-6097) kaum etwas geändert. Sowohl bei produktbezogenen als auch bei vertriebsbezogenen Maßnahmen bleiben offene und versteckte Diskriminierungen verboten, die Veränderung in der Rechtsprechung betrifft vor allem diskriminierungsfreie vertriebsbezogene Maßnahmen. Vgl. dazu aus der unübersehbaren Literatur Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 54 ff., Steindorff, ZHR 158 (1994), S. 149 (153); Moore, ELR 1994, S. 195 ff.; Basedow, EuZW 1994, S. 225; Matthies, FS Everling, Bd. 1, S. 803 ff. 504 Hintersteiniger, Binnenmarkt, S. 76, Fn. 246, offener allerdings S. 24, Fn. 74. Dort sieht sie eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Herstellers als denkbar an, will diese aber als materielle Diskriminierung der eingeführten Waren erfassen. Ungenau Eberhartiger, EWS 1997, S. 43 (45 f.). Wie hier Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 84; Ehlers, in ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 7 III 3 (S. 163), der damit auch Drittstaatlern das Recht zugesteht, sich auf die Warenverkehrsfreiheit zu berufen. 505 Leible, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Art. 28 EGV Rz. 50; Hintersteiniger, Binnenmarkt, S. 14, nimmt dabei ferner dazu Stellung, inwieweit es auch bei Dienstleistungen auf die Herkunft der Dienstleistung statt auf die Staatsangehörigkeit des Dienstleistenden ankommen kann. Dabei betont sie die fehlende Körperlichkeit als Begründung dafür, dass in der Regel auf die Person des Dienstleistungserbringers abgestellt wird

IV. Diskriminierungsverbote

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Überlegung auch für bestimmte Fälle der Dienstleistungsfreiheit gilt, wenn nicht der Dienstleistende als Person, sondern die Dienstleistung als Produkt ähnlich der Ware im Vordergrund steht.506 Teilweise wird versucht, ein einheitliches für alle Grundfreiheiten geltendes Differenzierungskriterium zu finden. Thorsten Kingreen weist zu Recht darauf hin, dass es ohnehin sehr selten Fälle gibt, in denen unmittelbar aufgrund der Staatsangehörigkeit unterschieden wird. Ausschlaggebend seien viel eher Kriterien wie Wohnsitz, Niederlassungs-, Ausbildungs-, Geburts- oder Herstellungsort.507 Er schlägt daher vor, als verbotenes Differenzierungskriterium den Grenzübertritt zu wählen, welches sich nicht „auf Merkmale einer Person oder einer Sache [bezieht], sondern auf das Verhalten einer Person; sei es, dass sie Waren oder Dienstleistung grenzüberschreitend anbietet, sei es, dass sie selbst – dauerhaft die Grenze überschreitet“.508

Kingreen wählt damit in Übereinstimmung mit seinem grundsätzlichen Anliegen, eine gemeinsame Struktur der Grundfreiheiten herauszuarbeiten, ein Differenzierungskriterium, welches auf alle Grundfreiheiten zutrifft. Auch Margit Hintersteiniger fasst sowohl die Staatsangehörigkeit als auch die Herkunft unter ein gemeinsames Differenzierungskriterium, das der „Andersstaatlichkeit“.509 Ein Unterschied zwischen der Warenverkehrsfreiheit und den übrigen Verkehrsfreiheiten besteht dabei nicht. Diese übergreifenden Kriterien lassen sich jedoch nicht unter das Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG fassen und verdecken damit einen wesentlichen Unterschied zwischen den Grundfreiheiten. Das Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG ist ausdrücklich auf Diskriminierungen „aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ beschränkt. Darin kommt ein personeller Bezug des Diskriminierungsverbots zum Ausdruck.510 Die Staatsangehörigkeit ist ein Charakund nicht auf die Dienstleistung an sich. Etwas anders Jarass, EuR 1995, S. 202 (212), der darauf abstellt, ob die Ware eine innergemeinschaftliche Grenze überschreitet. 506 Zu dieser Unterscheidung näher unten S. 146 ff. 507 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 138, 142. Ähnlich Bleckmann, Europarecht, Rz. 1213; Tietje/Troberg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 43 EG Rz. 74 ff. Vgl. aber Jaensch, Drittwirkung, S. 72 f., der annimmt, dass das Kriterium der Ansässigkeit in Artikel 43 und 49 EG weiter geht als das der Staatsangehörigkeit. Siehe dazu auch die Entscheidung EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, S. 2007 Rz. 7, in der der Gerichtshof zur Regelung des Nachtbackverbots ausdrücklich feststellte, dass eine Regelung, die nicht nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach dem Ort der Niederlassung unterscheidet, nicht an Artikel 12 EG zu messen sei. So auch Mohn, Gleichheitssatz, S. 9. 508 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 138. 509 Hintersteiniger, Binnenmarkt, S. 69. 510 So schon H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 594. Vgl. dazu Bryde/ Kleindiek, Jura 1999, S. 36 (43), die die „Ausländer“-Eigenschaft zu den besonders „suspekten“ personenbezogenen Differenzierungskriterien zählen. Vgl. dazu auch Fn. 827.

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

teristikum, welches sich auf den Bürger an sich bezieht und mit seiner Person unmittelbar verbunden ist. Das ist aber bei der Warenherkunft gerade nicht der Fall.511 Damit spricht die in Artikel 12 EG zum Ausdruck kommende Betonung des personenbezogenen Kriteriums der Staatsangehörigkeit gegen ein Vereinheitlichung des Differenzierungskriteriums bei den Grundfreiheiten. Die Bedeutung der Staatsangehörigkeit als verbotenes Kriterium einer Unterscheidung muss sich vielmehr bei der Auslegung der Grundfreiheiten und des darin enthaltenen Diskriminierungsverbots widerspiegeln. Die Abstufung der Bedeutung der Diskriminierungsverbote klingt auch bei Norbert Reich an: „Diese primärrechtlichen Rechte [Grundfreiheiten] enthalten ein Diskriminierungsund Beschränkungsverbot. Es handelt sich allerdings nicht um strikte, sondern um abgestufte und differenzierte Verbote, die umso stärker sind, je mehr eine mitgliedstaatliche Regelung die Staatsangehörigkeit zum Ausgangspunkt der Beschränkung macht.“512

Damit stellt auch Reich eine unterschiedliche Bedeutung der Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten fest, je nachdem, ob das verbotene Differenzierungskriterium die Staatsangehörigkeit oder ein anderes Kriterium ist. Es ist also von entscheidender Bedeutung, das Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit beizubehalten und nicht durch ein übergreifendes Kriterium aufzulösen. Eine Vergleichbarkeit der Differenzierungskriterien liegt folglich nur bei Artikel 12 EG und den Artikeln 39, 43 und 49 EG vor. Bei Artikel 28 EG hingegen führt das Fehlen einer Personenbezogenheit des Kriteriums zu einer Ablehnung der Vergleichbarkeit. Aus demselben Grund kann auch Artikel 141 EG als Argument bezüglich der Artikel 39, 43 und 49 EG herangezogen werden, denn auch das Kriterium Geschlecht ist personenbezogen. Ein Vergleich zu Artikel 28 EG lässt sich wiederum nicht herstellen. Als systematisches Argument für eine Bindungswirkung kann der Vergleich zu den Artikeln 12 und 141 EG daher nur für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit fruchtbar gemacht werden. Für die Warenverkehrsfreiheit hingegen kommt diesem Vergleich keine Bedeutung zu. Auch für die Artikel 39, 43 und 49 EG trägt das Argument jedoch nicht umfassend: Die Bezugnahme auf die Artikel 12 und 141 EG spricht nur für eine Bindung Privater an die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten. Eine Verpflichtung Privater, auch das Verbot diskriminierungsfreier Beschränkungen zu beachten, kann damit nicht begründet werden. Dabei lässt sich das Problem nicht lösen, indem alle Beschränkungen unter einen weiten Begriff der Diskriminierung gefasst werden.513 Obwohl die Abgrenzung von (versteckter) Diskrimi511 Ungenau daher Kischl, EuGRZ 1997, S. 1 (3); Kapteyn/VerLoren van Themaat, Law of the European Communities, S. 96 f. 512 Reich, Bürgerrechte, S. 63.

V. Verwirklichung des Binnenmarktes

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nierung und Beschränkung oft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist,514 haben die Sportverbands-Fälle515 gezeigt, dass es Beschränkungen geben kann, die eindeutig keinerlei diskriminierende Elemente enthalten.516 c) Ergebnis Das Heranziehen der Diskriminierungsverbote der Artikel 12 und 141 EG spricht für eine Bindung Privater auch an die Diskriminierungsverbote der Artikel 39, 43 und 49 EG. Im Hinblick auf eine Bindung Privater an das Verbot diskriminierungsfreier Beschränkungen im Bereich dieser Freiheiten sowie an die Verbote der Warenverkehrsfreiheit führt die Bezugnahme auf Artikel 12 und 141 EG hingegen nicht weiter. 3. Zusammenfassung Sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur werden die Diskriminierungsverbote des EG-Vertrags, d.h. Artikel 141 EG, vor allem aber Artikel 12 EG, als verstärkende Argumente für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten bemüht. Beide Vorschriften sprechen in der Tat für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten, da sie selbst eine umfassende Bindungswirkung erzeugen. Allerdings trägt das Argument nur insoweit, als eine Vergleichbarkeit der Vorschriften mit den Grundfreiheiten gegeben ist. Das ist nur bei den Diskriminierungsverboten der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit sowie in bestimmten Fällen der Dienstleistungsfreiheit der Fall.

V. Verwirklichung des Binnenmarktes Die Verwirklichung des Binnenmarktes ist eines der wichtigsten Ziele der Gemeinschaft. Im EU-Vertrag ist der Binnenmarkt in Artikel 2 EU als Ziel der Union ausdrücklich genannt. An dieser Stelle wird aber bereits deutlich, dass die Errichtung eines Binnenmarktes kein Ziel an sich ist, sondern weitergehenden wirtschaftlichen und sozialen Interessen dient. Letztendlich geht es um die „Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, [. . .] eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie der Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung“ (Artikel 2, 1. Spiegelstrich EU).517 Dies klingt auch in der 513

So aber Ganten, Drittwirkung, S. 99. Vgl. dazu Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, 58 ff. 515 Siehe oben S. 40 ff. und S. 45 ff. 516 Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 72, bezeichnet den Bosman-Fall dann auch als einen der wenigen, die sich nicht mit einem materiellen Diskriminierungsbegriff erfassen lassen. 514

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Präambel des EG-Vertrags an, in der es heißt, dass durch die Beseitigung der Europa trennenden Schranken der wirtschaftliche und soziale Fortschritt gesichert werden soll. Im EG-Vertrag ist die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes in Artikel 2 EG als Aufgabe der Gemeinschaft an erster Stelle erwähnt, ferner ist in Artikel 3 (1) lit. c) EG der Binnenmarkt unter den Tätigkeiten der Gemeinschaft aufgeführt. Die Grundfreiheiten sind gemäß Artikel 14 EG Teil der Definition des Binnenmarktes, der einen „Raum ohne Binnengrenzen [umfasst], in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistung und Kapital [. . .] gewährleistet ist.“ Für das Verständnis der Grundfreiheiten kommt es daher nicht auf den Streit um die genaue Definition des Binnenmarktes bzw. seine Abgrenzung zum Gemeinsamen Markt518 an. Auch nach einem engen Verständnis des Begriffs sind sie jedenfalls Wesensmerkmale des Binnenmarktes.519 Damit weist eine am Ziel des Binnenmarktes orientierte systematisch-teleologische Auslegung der Grundfreiheiten in gewisser Hinsicht tautologische Züge auf – denn der Binnenmarkt selbst wird ja gerade durch die Grundfreiheiten definiert. Wie die Betrachtung der Rechtsprechung zeigt, können sich dennoch, vor allem unter Hinzunahme des effet utile, wichtige Anhaltspunkte für die Auslegung der Grundfreiheiten ergeben. Beim Verständnis der Grundfreiheiten ist folglich ihre Funktion im Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarktes zu berücksichtigen. Ihre Auslegung muss sich daher (auch) daran orientieren, wie das Ziel des Binnenmarktes am besten zu fördern ist. 1. Der Binnenmarkt in der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH stützt sich in den Entscheidungen, in denen er eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten bejaht, auf Argumente, die sich auf das Binnenmarktkonzept zurückführen lassen. Bereits in Walrave berief er sich auf Artikel 3 (1) lit c) EG als eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft. Dieses Ziel, also die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr, sei gefährdet, wenn „die Beseitigung staatlicher Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen [. . .] derartige Hindernisse aufrichteten.“ 520

517 So auch deutlich GS Trabuchi in der Rs. 7/75, Eheleute E./Belgien, Slg. 1975, S. 679 (697). 518 Strittig ist vor allem, ob der Gemeinsame Markt und der Binnenmarkt identisch sind, oder ob einer der beiden Begriffe weitergehend ist. Siehe dazu nur Schubert, Der Gemeinsame Markt, S. 141 ff. 519 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (266 Fn. 15). 520 EuGH, Rs. 36/74, Walrave, Slg. 1974, S. 1405 Rz. 18.

V. Verwirklichung des Binnenmarktes

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Auch das folgende Argument, dass Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt seien, also zum Teil vom Staat durch Gesetze oder Verordnungen, zum Teil von Privaten durch Verträge oder andere Rechtsgeschäfte und bei Ablehnung einer Bindung Privater die Gefahr einer unterschiedlichen Anwendung des Verbots von Hindernissen bestünde,521 erlangt im Zusammenhang mit dem Ziel des Binnenmarktes seine Bedeutung. Durch ein unterschiedliches Vorgehen gegen Hindernisse wäre das Ziel eines im gesamten Binnenmarkt ungehinderten Freiverkehrs gefährdet. Beide Argumente werden in den folgenden Entscheidungen mit Verweis auf Walrave wiederholt.522 Während der EuGH in den Fällen zu Artikel 39, 43 und 49 EG auf die Gefahr für die Verwirklichung des Binnenmarktes durch private Maßnahmen abstellt, erwähnt er in den meisten Fällen des Artikels 28 EG dieses Ziel nicht. Lediglich in der Entscheidung Kommission/Frankreich523 geht er ausführlich auf den Zusammenhang zwischen Artikel 28 EG und dem Ziel des Binnenmarktes ein, unter Betonung, dass der Binnenmarkt auch den freien Verkehr von Waren umfasse.524 2. Verwirklichung des Binnenmarktes durch umfassende Bindungswirkung Die Einbeziehung privater Maßnahmen in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fördert den ungehinderten Verkehr durch die Beseitigung jeglicher Schranken und Hindernisse. Es kommt dabei allein auf die Auswirkung einer Handlung, nicht auf ihren Urheber an. Das Ziel des Binnenmarktes unter Berücksichtigung des effet utile spricht für eine möglichst umfassende Wirkung der Grundfreiheiten, denen eine wesentliche Funktion für seine Verwirklichung zukommt. Es würde dieser Funktion zuwiderlaufen, wenn die Grundfreiheiten nur deshalb Maßnahmen nicht umfassen, weil sie privaten Ursprungs sind; vor allem, wenn dieselbe Maßnahme, vom Staat ausgehend, ohne weiteres erfasst würde. Die Argumente des EuGH vermögen in dieser Hinsicht zu überzeugen. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich jedoch keine Anlass für eine Differenzierung bei der Bindungswirkung. Ein Grund, zwischen den Grundfreiheiten zu differenzieren, folgt nicht aus ihrem Verhältnis zum Ziel des Binnenmarktes, da dessen Verwirklichung auf einem ungehinderten Verkehr aller Güter und Personen beruht. Auch hinsichtlich der übrigen Differenzierungen stellt das Ziel einer Ver521

Ebenda, Rz. 19. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 83; EuGH, Rs. C-281/ 98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 32; EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, S. I-2681 Rz. 47. 523 EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, S. I-6559. 524 Ebenda, Rz. 24 ff. 522

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Kapitel 3: Umfang der Bindungswirkung der Grundfreiheiten

wirklichung des Binnenmarkts keine überzeugende Grundlage dar. Für den Abbau aller Hindernisse kann es letztlich nicht darauf ankommen, ob eine Gefährdung durch rechtsgeschäftliche oder durch tatsächliche Maßnahmen erfolgt. Dasselbe gilt für die Unterscheidung zwischen Diskriminierungen und Beschränkungen. Auch hierfür lässt sich eine Begründung aus dem Binnenmarktziel nicht herleiten, da es für dessen Verwirklichung nicht auf die Art des Hindernisses ankommt. 3. Ergebnis Eine systematisch-teleologische Auslegung unter Berücksichtigung des Ziels der Verwirklichung des Binnenmarktes legt eine umfassende Bindungswirkung der Grundfreiheiten nahe. Damit wären auch Maßnahmen Privater an diesen Vorschriften zu messen. Allerdings bietet das Binnenmarktziel keine Grundlage für eine differenzierte Bindung Privater, da alle Grundfreiheiten bei allen Gefährdungshandlungen und in Gestalt aller Verletzungstatbestände für die Verwirklichung des Binnenmarktes hinderlich sind.

VI. Zusammenfassung Weder der Wortlaut noch die Rahmenvorschriften der Grundfreiheiten ergeben eindeutige Aussagen für bzw. gegen eine Bindung Privater. Eine Betrachtung der Begleitvorschriften sowie einiger Ausnahmeregelungen spricht eher gegen eine Bindung Privater, da diese zum Teil eindeutig staatsgerichtet sind. Allerdings ist dies als nur schwaches Indiz zu werten. Die übrigen Ausnahmeregelungen geben keine zwingenden Hinweise auf die Adressaten der Grundfreiheiten. Eine Untersuchung des Wettbewerbsrechts hat gezeigt, dass diese Regelungen weniger als in der bisherigen Diskussion angenommen gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten herangezogen werden können. Der Umkehrschluss zu den Artikeln 81 f. EG, der vielfach gemacht wird, um eine fehlende Bindung Privater an die Grundfreiheiten zu beweisen, überzeugt aufgrund einer fehlenden Identität der Ziele beider Regelungskomplexe nicht. Die Diskriminierungsverbote der Artikel 12 und 141 EG hingegen lassen sich als verstärkende Argumente für eine solche Bindung durchaus fruchtbar machen. Sie vermögen allerdings nur eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten zu unterstützen, soweit es um das Verbot von diskriminierenden Maßnahmen aufgrund der Staatsangehörigkeit geht. Auch das Ziel des Binnenmarktes ist ein schwerwiegendes Argument und wird vom EuGH zu Recht für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten herangezogen. Die Berücksichtigung dieses gemeinschaftsrechtlichen Zieles führt jedoch, anders als der Bezug zu den Diskriminierungsverboten, zu einer umfassenden Bindungswirkung der Grundfreiheiten. Angesichts des deutlichen Über-

VI. Zusammenfassung

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gewichts der teleologischen Auslegung bei der Inhaltsbestimmung europarechtlicher Normen spricht damit viel für die Annahme, dass alle Grundfreiheiten eine umfassende Bindungswirkung auch für Private erzeugen. Es wird sich indes zeugen, dass bei einem solchen Verständnis ein wesentlicher Aspekt nicht ausreichend beachtet wird.

Kapitel 4

Bindungswirkung der Grundfreiheiten und das gemeinschaftsrechtliche Ziel des Individualschutzes Die bisherige Auslegung der Grundfreiheiten hat die Argumente, die in der Rechtsprechung bzw. in der Literatur aufgekommen sind, aufgegriffen und überprüft. Dabei ist ein wichtiger Aspekt nicht ausreichend berücksichtigt worden. Bei der zunehmenden Betonung individueller Rechtspositionen im Europarecht ist zu fragen, ob nicht auch der Individualschutz als Ziel der Gemeinschaft im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung in seiner Bedeutung für die Grundfreiheiten zu untersuchen ist.525 Der Individualschutz als ein eigenständiges Ziel der Gemeinschaft ist bisher kaum erörtert worden. Zwar besteht hinsichtlich verschiedener individualschützender Aspekte des Europarechts Einigkeit. Eine Gesamtbetrachtung unter dem Gesichtspunkt eines gemeinschaftsrechtlichen Ziels des Individualschutzes steht jedoch, soweit ersichtlich, noch aus. Damit ist die mögliche Bedeutung eines solchen Ziels für das Verständnis des europäischen Rechts ebenfalls kaum untersucht worden. Hieraus kann sich aber ein anderer Blickwinkel ergeben, der insbesondere auch für die Grundfreiheiten relevant ist. Nachfolgend sollen unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung für ein gemeinschaftsrechtliches Ziel des Individualschutzes die Entwicklungen kurz dargestellt werden, auf denen sich ein solches Ziel gründen lässt (I). Dann wird der Individualschutz im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung als entscheidender Faktor für die Frage der Bindungswirkung der Grundfreiheiten untersucht (II.–IV.).

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft Mit „Individualschutz“ ist hier der Schutz des Einzelnen526 oder präziser der Schutz seiner individuellen, subjektiven Rechte und Interessen gemeint.527 Im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft wurde ein solcher Schutz zum ersten Mal als Ziel der Union ausdrücklich vertraglich verankert.528 In Artikel B, 525 Ähnlich schon früh von der Groeben, FS Hallstein, S. 226 (235). Vgl. auch O’Keeffe, Free movement of Persons, S. 265 (274): „When confronted with the free movement of persons, the Court’s vision is now informed by human rights principles, rather than by the strict imperative of socio-economic law promoted by the Treaty.“

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft

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Spstr. 2 des Vertrags über die Europäische Union von Maastricht (jetzt Artikel 2 Spstr. 3 EU) wurde aufgenommen, dass die Union sich „die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft“

zum Ziel setzt. Eine parallele Vorschrift im EG-Vertrag fehlt, obgleich die Unionsbürgerschaft dort geregelt ist. Der Individualschutz auf der Grundlage des Artikels 2 Spstr. 3 EU ist damit auf Rechte beschränkt, die im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft stehen. Als Grundlage eines umfassenden Ziels des Individualschutzes, das auch für das Verständnis der Grundfreiheiten von Bedeutung wäre, reicht diese Vorschrift allein nicht aus. Dennoch hat sie eine Indizwirkung. Die Bedeutung individueller Rechte wird damit als wichtiger Aspekt der Union erkenntlich, auch wenn diese Anerkennung sich (zunächst) auf einige bestimmte Rechte beschränkt. Artikel 2 Spstr. 3 EU stellt allerdings nur einen Teil einer Entwicklung dar, die die Position des Einzelnen immer mehr betont und individuelle Rechte in verstärktem Maße schützt. Den wichtigeren Beitrag zur Stärkung des Individualschutzes hat der Gerichtshof geleistet. Mit der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung und darauf aufbauenden Entscheidungslinien hat eine Subjektivierung des EG-Rechts begonnen, die bis heute andauert. Diese Rechtsprechung wurde zum Teil im Vertrag ausdrücklich aufgegriffen und verankert, zum Teil ist sie als Teil des acquis communautaire Gemeinschaftsrecht geworden. Damit ist eine (vorläufige) Konsolidierung der Entwicklung erfolgt, die sich zur Begründung eines gemeinschaftsrechtlichen Ziels des Individualschutzes heranziehen lässt. 1. Gründungsverträge Bereits in den ursprünglichen Verträgen wurden die Bürger der Mitgliedstaaten (die bekanntlich erst sehr viel später zu Unionsbürgern „aufstiegen“) textlich berücksichtigt. So war in der Präambel des Vertrags zur Gründung der Europäi526 Dabei ist der Einzelne nicht zwangsläufig eine Einzelperson, sondern kann ebenso gut eine Personengemeinschaft oder eine juristische Person sein, soweit diese Träger subjektiver Rechte sein können. 527 Die im deutschen Recht gebräuchliche Terminologie der „subjektiv-öffentlichen Rechte“ ist gegenüber dem Begriff der subjektiven Rechte enger, da sich erstere nur gegen die öffentliche Gewalt richten. Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 23 ff. weist zu Recht darauf hin, dass die unmittelbare Drittwirkung eines Rechts bedeutet, dass es sich dabei um ein weitergehendes subjektives Recht handelt. Daher wäre es gerade in dieser Untersuchung nahe liegend, von subjektiven Rechten zu sprechen. Unabhängig davon ist aber ohnehin im europäischen Recht der Begriff des „subjektiven oder individuellen Rechts“ üblicher, der dem französischen „droit subjectif“ oder „droit individuel“ und dem englischen „individual right“ entspricht. 528 Siehe unten S. 141 ff.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

schen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 nicht von einer Vereinigung der Mitgliedstaaten, sondern von einem „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ die Rede; die „stetige Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingung ihrer Völker“ und „Frieden und Freiheit“ wurden als wesentliche Ziele der Gemeinschaft festgeschrieben.529 Auch in der Präambel des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 wurden „Frieden“ und eine „vertiefte Gemeinschaft unter Völkern“ als Ziele proklamiert.530 Gerade die mehrfache Nennung der „Völker“ macht deutlich, dass bereits zu Beginn die Verbesserung der Situation der Bürger zentrales Anliegen war. Allerdings geschah dies, wie in völkerrechtlichen Verträgen üblich, als Auftrag an die Vertragsparteien, d.h. die Mitgliedstaaten. Die „Völker“ bzw. ihre Mitglieder, die Bürger, sollten dabei von der europäischen Entwicklung profitieren, nicht aber unmittelbar daran beteiligt sein. Ähnlich verhielt es sich mit den subjektiven Rechten. Rechte von Individuen waren bereits in den Gründungsverträgen angelegt. So existierten die heutigen Artikel 12 EG und 141 EG bereits in der ursprünglichen Vertragsfassung. Auch die Grundfreiheiten bezogen sich von Anfang an auf Aktivitäten Privater, deren Zugang zu den Märkten in anderen Mitgliedstaaten auf diese Weise gewährleistet werden sollte. Diese Rechte Einzelner dienten jedoch zunächst nicht – zumindest nicht vorrangig – dem Schutz ihrer individuellen Rechtsposition oder der Verwirklichung ihrer persönlichen Freiheit. Ihre Gewährleistung war vielmehr der Realisierung der Wirtschaftsgemeinschaft an sich gewidmet: Die Grundfreiheiten war auf die Verwirklichung des Binnenmarktes, der sich nur durch die Aktivitäten Privater, d.h. durch deren grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit realisieren ließ, ausgerichtet. Auch die Gleichbehandlungsgrundsätze waren im Hinblick auf den Binnenmarkt und den ungehinderten Wettbewerb eingeführt worden. Selbst Artikel 141 EG, der die Gleichbehandlung des Entgeltes für Männer und Frauen festlegt, war auf Bemühen Frankreichs in den Vertrag aufgenommen worden, weil man befürchtete, ansonsten Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt zu sein.531 Den damit einhergehenden individuellen Rechten kam vor allem eine objektive, binnenmarktorientierte und sehr viel weniger eine subjektivrechtliche Funktion zu. Dies zeigte sich auch daran, dass der Einzelne keine Möglichkeit hatte, sich auf seine Rechte zu berufen, sondern darauf angewiesen war, dass die Mitgliedstaaten bzw. die Organe der Gemeinschaft diese für ihn durchsetzten. Der subjektive Charakter war daher nur Reflex, keineswegs Ziel der Normen.

529 Die ursprüngliche Fassung des Vertrags ist abgedruckt in: Schulze/Hoeren, Dokumente, Bd. 1, S. 1184 ff. 530 Ebenda, S. 385 ff. 531 Vgl. Curall, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), 5. Aufl., Artikel 119 Rz. 14; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (270).

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft

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2. Unmittelbare Wirkung Dieser reflexartige Charakter begann sich durch eine bahnbrechende Entscheidung des Gerichtshofs zu ändern. Obgleich man darin nicht bereits die Begründung eines selbständigen Zieles Individualschutz sehen kann, wurde durch diese Entscheidung doch zumindest die Entwicklung in Richtung eines solchen gemeinschaftsrechtlichen Zieles in Gang gesetzt.532 In van Gend en Loos 533 befand der EuGH: „Das Ziel des EWG-Vertrags ist die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, dass dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. [. . .] Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenzten Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen [. . .].“ 534

Damit änderte der Gerichtshof den Charakter der Gemeinschaft grundlegend. War der Vertrag ursprünglich ein völkerrechtlicher Vertrag, der nur Rechte und Pflichten für die Vertragsparteien, d.h. die Mitgliedstaaten festlegte, konnten sich nunmehr auch einzelne Bürger unmittelbar auf Vertragsnormen berufen. Diese unmittelbare Wirkung535 hatte erhebliche Auswirkungen für die Rechte der Einzelnen. Zwar wurden dadurch die Rechte grundsätzlich nicht verändert – inhaltlich blieben die im Vertrag gewährten Rechte unberührt.536 Es wurde aber 532 Vgl. auch Reich, EuZW 1996, S. 709 (710), der hier bereits die Übernahme der Jellinekschen Konzeption der „subjektiven öffentlichen Rechte“ ins Gemeinschaftsrecht verwirklicht sieht. Ferner Mancini/Feeling, MLR 57 (1994), S. 175 (S. 182 ff.); Pescatore, ELR 1983, S. 155 (158). 533 EuGH, Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, S. 1 ff. 534 Ebenda, S. 24 f. 535 Die unmittelbare Wirkung ist von der unmittelbaren Anwendbarkeit zu unterscheiden. Winter, CMLR 9 (1972), S. 42 ff., hat dies im Hinblick auf die englischen Begriffe „direct effect“ und „direct applicability“ ausführlich dargelegt. Dabei definiert er „applicability“ als die Eingliederung des Europarechts ins staatliche Recht, während „effect“ die Möglichkeit Privater betrifft, sich auf europarechtliche Normen vor Gericht berufen zu können. In diesem Sinne soll daher, wie inzwischen üblich, von „unmittelbarer Wirkung“ gesprochen werden. Allgemein zur unmittelbaren Wirkung vgl. nur Pescatore, 63 (1983) ELR, S. 155; Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988. 536 Insbesondere entstanden die Rechte nicht erst durch die Einführung der unmittelbaren Wirkung. Dies zeigt sich sehr deutlich im Vergleich zu internationalen Verträgen zu Menschenrechten, die in der Regel keine Möglichkeit vorsehen, dass sich Einzelne

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

durch die unmittelbare Wirkung der Schutz dieser Rechte dem einzelnen Berechtigten direkt in die Hand gegeben. Dadurch entstand ein sehr viel effektiverer Schutz als durch das bestehende Vertragsverletzungsverfahren.537 Zu Beginn dieser Rechtsprechung war das Augenmerk allerdings nicht auf den Individualschutz, sondern auf die effektive Durchsetzung der mit den individuellen Rechten korrelierenden Pflichten der Mitgliedstaaten gerichtet.538 So führte der Gerichtshof selbst aus: „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 169 und 170 ausgeübte Kontrolle ergänzt.“ 539

Da sich das Vertragsverletzungsverfahren vielfach als wenig wirksam erwies, rekrutierte der Gerichtshof auf diese Weise die Betroffenen als „Vertreter“ des Gemeinschaftsrechts.540 Es ging vor allem darum, Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Verpflichtungen zu sanktionieren und damit die Einhaltung dieser Pflichten zu kontrollieren und durchzusetzen.541 Im Vordergrund stand demnach die Gewährleistung des effet utile. Die Effektivität des Gemeinschaftsrechts war aber zu dem Zeitpunkt vor allem auf Förderung der europäischen Integration ausgerichtet. Allerdings wurde bereits in dieser Entscheidung auch auf das Interesse der Einzelnen am Schutz ihrer Rechte verwiesen. „Würden die Garantien gegen Verletzungen von Artikel 12 durch die Mitgliedstaaten auf die in den Artikeln 169 und 170 vorgesehenen Verfahren allein beschränkt, so wäre jeder unmittelbare gerichtliche Schutz der individuellen Rechte der Einzelnen ausgeschlossen.“ 542 unmittelbar auf die Normen der Verträge stützen (siehe dazu Brownlie, Principles of Public International Law, 5. Aufl., Oxford 1998, S. 568 ff.; 584 ff.) die aber unzweifelhaft individuelle Rechte enthalten. So auch Weiler, Yale L. J. 100 (1991), S. 2403 (2413 f.); Craig/de Búrca, EU Law, S. 163. 537 Dies zeigt sich allein schon in der Zahl der Verfahren, Weiler, The Constitution of Europe, S. 20. Vgl. auch Mancini/Feeling, MLR 57 (1994), S. 175 (S. 182 ff.). 538 Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (264); Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 44 ff.; von Danwitz, DÖV 1996, S. 481 (484); ders., DVBl 1997, S. 1 (2); Craig, Oxford Journal of Legal Studies 12 (1992) S. 453 ff.; a. A. Classen, VerwArch 88 (1997), S. 645 (649 f.). Speziell zur unzureichenden Umsetzung von Richtlinien Langenfeld, in: Siedentopf (Hrsg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, S. 173. 539 EuGH, Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, S. 1 (26). 540 So auch Craig/de Búrca, EU Law, S. 167; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 51, spricht sogar unter Verweis auf P.-M. Huber, EuR 1991, S. 31 (34), vom Bürger als „eine Art Organ“; ähnlich Weiler, Constitution of Europe, S. 28. 541 Dies wird besonders deutlich in den Fällen der fehlenden oder unzureichenden Umsetzung von Richtlinien, siehe dazu A. Bleckmann, RIW 1984, S. 774 (777); Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, S. 24; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 249 Rz. 69 ff.; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 45 m. w. N. 542 EuGH, Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, S. 1 (26).

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft

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Der EuGH ermöglicht es auf diese Weise dem Einzelnen, seine durch den Vertrag verliehenen Rechte auch wirksam durchzusetzen. Dies ist ein bedeutender Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Verträgen, die zur Durchsetzung individueller Rechte in der Regel auf die Mitwirkung anderer Staaten und/oder die Einsicht des verletzenden Staates angewiesen sind.543 Wenn ein effektiver Rechtsschutz zu einer wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts führt, bedeutet er jedenfalls auch eine stärkere Anerkennung der Bedeutung der subjektiven Rechte an sich.544 Der EuGH selbst verband in einer Analyse seiner bisherigen Rechtsprechung die später eingeführte Unionsbürgerschaft, die deutlich auf den Bürger als schützenswertes Individuum abstellt,545 mit dem Schutz der Rechte, die den Einzelnen aus den Verträgen gewährt wurden.546 Die Verbindung der Unionsbürgerschaft und des effektiven Rechtsschutzes zeigt, dass für den Gerichtshof der Rechtsschutz nicht ausschließlich Vehikel einer wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist. Wenn daher dem Individualschutz gegenüber der Vollzugskontrolle „keine eigenständige oder jedenfalls nur eine nebengeordnete Bedeutung“547 zugewiesen wird, überzeugt dies nicht. Die weiterhin wichtige Sanktionsfunktion bedeutet nicht, dass der Rechtsschutz des Einzelnen nicht ebenfalls und gleichberechtigt von Bedeutung ist.548 Eine Rangordnung der Ziele, die durch die unmittelbare Wirkung verfolgt wurden bzw. werden, ist wenig hilfreich. Eine Trennung der Ziele Individualschutz und Effektivität des Gemeinschaftsrechts lässt sich im Übrigen nicht klar vollziehen, soweit es bei dem Gemeinschaftsrecht, dessen Vollzug kontrolliert und durchgesetzt werden soll, gerade um die Rechte der Individuen geht.549 543 Vgl. nur von Danwitz, DÖV 1996, S. 481; ein Überblick zum Individualschutz im Völkerrecht findet sich bei K. Ipsen, Völkerrecht, S. 668 ff. mit umfangreichen Literaturangaben. Vgl. auch Bryde, in: Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, S. 165 ff. 544 Den Rechtsschutz als Indiz für das Ziel eines Individualschutzes sieht auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 12 ff.; Dauses, ELR 1985, S. 398 (418). Zu weit geht m. E. Classen, VerwArch 88 (1997), S. 645 (650), der hierin die alleinige Begründung für diese Rechtsprechung sieht. Vgl. ferner Reich, Förderung und Schutz diffuser Interessen, S. 38; Weatherill, Law and Integration, S. 99. 545 Siehe unten S. 141 ff. 546 Report of the Court of Justice on Certain Aspects of the Application of the Treaty on European Union, Mai 1995, S. 4, zit. nach de Witte, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, S. 177 (205). 547 So Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 46. 548 Masing selbst nimmt an anderer Stelle an, dass es „selbstverständlich auch – und nicht nur als Reflex – ein Anliegen des Europarechts [ist], den einzelnen Bürger in den Genuss der ihm gesetzlich zustehenden Vorteile gelangen zu lassen“. (Die Mobilisierung des Bürgers, S. 185). Es spricht dann aber nichts dagegen, sowohl die Sanktionsfunktion als auch die Rechtsschutzfunktion nebeneinander als Ziele anzuerkennen. Wie hier Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 155 (191); wohl auch Craufurd Smith, in: Craig/ de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, S. 287 (293).

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

Mit van Gend en Loos ging der EuGH einen ersten Schritt in die Richtung, den Individualschutz als eigenständiges Gemeinschaftsziel anzuerkennen. Er blieb im Folgenden bei der durch van Gend en Loos eingeführten Rechtsprechung der unmittelbaren Wirkung550 und erweiterte sie auf Regelungen aus Verordnungen,551 völkerrechtlichen Verträge mit Drittstaaten,552 Entscheidungen553 und sogar Richtlinien.554 Letzteres stellt dabei die weitreichendste richterliche Entwicklung dar und hat zu einer umfangreichen Auseinandersetzung in der Literatur geführt, die bis heute nicht abgeschlossen ist.555 Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass die unmittelbare Wirkung von gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, die individuelle Rechte und Interessen mit einem effektiven rechtlichen Schutz ausstattet, zu einer erheblichen Stärkung dieser Rechte geführt hat. 3. Staatshaftung Die individualrechtliche Bedeutung der ummittelbaren Wirkung wurde im weiteren Verlauf zudem gestärkt durch die europarechtliche außervertragliche Haftung556 der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht,557 549 In die Richtung geht dann auch die Aussage Masings, „Objektivrechtliche Befugnisse sollen, indem sie die Effektivität des Rechts als solches stärken, auch den Schutz der betroffenen Privatbelange mit sicherstellen“ (Die Mobilisierung des Bürgers, S. 185). 550 Siehe nur EuGH, Rs. 6/64 Flaminio Costa/Enel Slg. 1964, S. 585; EuGH, Rs. 2/ 74 Reyners/Belgien, Slg. 1974, S. 631 Rz. 32; EuGH, Rs. 33/74 Van Binsbergen, Slg. 1974, S. 1299 Rz. 24/26 zum Primärrecht. 551 Siehe nur EuGH, Rs. 39/72 Kommission/Italien, Slg. 1973, S. 101; EuGH, Rs. 50/76 Amsterdam Bulb BV/Produktschap voor siergewassen, Slg. 1977, S. 137. Aufgrund der im Vertrag angelegten unmittelbaren Geltung von Verordnungen (Artikel 249 Abs. 2 EG) lag dies nahe. 552 EuGH, Rs. 21–24/72 International Fruit Company/Produktschap voor Groenten en Fruit, Slg. 1972, S. 1219; EuGH, Rs. 104/81 Hauptzollamt Mainz/Kupferberg I, Slg. 1982, S. 3641 Rz. 26; EuGH, Rs. 12/86 Demirel Slg. 1987, S. 3719 Rz. 13 ff.; dazu von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 131. 553 Siehe z. B. EuGH, Rs. 9/70 Grad/Finanzamt Traunstein (Leberpfennig), Slg. 1970, S. 825 Rz. 5. 554 Vgl. nur EuGH, Rs. 41/74 Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, S. 1337; EuGH, Rs. 148/78 Pubblico Ministero/Tullio Ratti, Slg. 1979, S. 1629; EuGH, Rs. 8/81, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, S. 53. 555 Es sei beispielhaft verwiesen auf Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien, 1984; Heim, Unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien im deutschen und französischen Recht 1999; Schmidt, Der Einfluss europäischer Richtlinien, 1997; Bach, JZ 1990, S. 1108 ff. Weitere Nachweise bei Ruffert, in: Callies/Ruffert, Artikel 249 Rz. 72. 556 Zuvor existierte gemeinschaftsrechtlich lediglich eine vertragliche Haftung nach Artikel 288 EGV. Daneben gab es zwar nationale Haftungsregelungen, die sich aber stark unterschieden, vor allem hinsichtlich der Haftung für legislatives Unrecht, siehe

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft

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die der Gerichtshof im Francovich-Urteil558 einführte. In dieser Entscheidung nahm der Gerichtshof als Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an, dass „die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind“.559

Nur dann sei die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und der Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht begründeten Rechte effektiv gewährleistet.560 Die Schadensersatzpflicht sah der Gerichtshof aus diesen Gründen als dem Vertrag innewohnend an.561 Die Entscheidung ist ein klassisches Beispiel für die systematisch-teleologische Auslegung des EG-Vertrags durch den Gerichtshof, denn die Einführung der Staatshaftung konnte dabei weniger auf eine konkrete rechtliche Grundlage zurückgeführt werden als vielmehr auf das Bestreben des Gerichtshofs, die Ziele des Vertrags effektiv zu verwirklichen.562 Besieht man genauer die Ziele, auf die der EuGH verweist, um die Notwendigkeit einer Haftung zu begründen, steht neben der allgemeinen Effektivität des Gemeinschaftsrechts gleichberechtigt der Schutz der individuellen Rechte: „Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden haben, die volle Wirkung dieser Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht [. . .].“ 563

Konsequenterweise fließt der Schadensersatz dem individuell Betroffenen zu. Der Schadensersatzanspruch stellt als eine Art sekundärer Anspruch eine Umwandlung des ursprünglichen Anspruchs des Einzelnen auf Achtung und Wahrung seiner Rechte dar.564 Ohne einen Schadensersatzanspruch liefe der Betroffene leicht Gefahr, dass seine subjektive Rechtsposition entwertet würde.565 Der dazu Stettner, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, A.IV. Rz. 46. Zum Verhältnis der Haftungsregelungen, siehe Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 288 Rz. 52 ff. 557 Aus der umfangreichen Literatur zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, siehe nur Albers, Die Haftung der Bundesrepublik Deutschland für die Nichtumsetzung von EG-Richtlinien, 1995; C. Wolf, Die Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik für Verstöße gegen das europäische Gemeinschaftsrecht (EGV), 1999; Henrichs, Haftung der EG-Mitgliedstaaten für Verletzung von Gemeinschaftsrecht, 1995; Fetzer, Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht, 1994; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 123 ff. mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 558 EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, Slg. 1991, S. I-5357. 559 Ebenda, Rz. 37. 560 Ebenda, Rz. 33. 561 Ebenda, Rz. 35. 562 Allgemein zur teleologisch-systematischen Auslegung, sieh o. S. 89 ff. 563 EuGH, Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, S. I-5357 Rz. 32. 564 EuGH, verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie, Slg. 1996, I-1029; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 127; Reich, EuZW 1996, S. 709;

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EuGH bestätigte diese Rechtsprechung in der Entscheidung Brasserie du Pêcheur – Factortame II566 und stellte dabei klar, dass nicht nur die fehlende Umsetzung von Richtlinien wie im Fall Francovich zu einer Haftung führen, sondern dass dies bei jedem Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht in Frage komme.567 Voraussetzung für einen Anspruch sei, dass dem Einzelnen durch die Rechtsnorm subjektive Rechte verliehen würden oder dies bezweckt sei,568 die dann durch den Verstoß gegen die Norm verletzt würden.569 Auch hier finden sich Stimmen, die das Ziel der Staatshaftung hauptsächlich in der Förderung der Integration durch eine Sanktionierung der gegen ihre europarechtlichen Pflichten verstoßenden Mitgliedstaaten sehen.570 Wie bei der unmittelbaren Wirkung ist die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ein vom EuGH ausdrücklich genanntes Ziel.571 Dass dies aber nicht uneingeschränkt erfolgen soll, sondern nur, wenn zugleich der Bürger seine eigenen Rechte schützt und verteidigt, zeigt sich am Fehlen einer Popularklagebefugnis.572 Der Schutz der Rechte des Einzelnen steht damit als Zweck der Haftung auch bei der Staatshaftung gleichberechtigt neben dem Sanktionsgedanken.573 Schockweiler, RTDE 1992, S. 27 (42); Hidien, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, S. 15. Differenzierend J. Geiger, Staatshaftung, S. 178 f. 565 C. Wolf, Staatshaftung, S. 110. 566 Verb. Rs. C-46/93 und C/48/93, Brasserie, Slg. 1996, S. I-1029. 567 Allerdings betrafen die Mehrzahl der bisherigen Urteile nicht oder unzureichend umgesetzte Richtlinien, siehe Berg, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 288 EGV Rz. 84. 568 Die Einbeziehung des Zwecks ist vor allem in den Fällen noch nicht umgesetzter Richtlinien wichtig, in denen zwar eine Verleihung subjektiver Rechte als Ziel normiert ist, aber keine hinreichende Bestimmtheit vorliegt, um eine unmittelbare Wirkung auszulösen. Siehe dazu von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 130; C. Wolf, Staatshaftung, S. 121 ff.; EuGH, Rs. C-5/94 Hedley Lomas, Slg 1996, S. I-2553; Rz. 25; EuGH, Rs. C-140/97, Rechberger, Slg. 1999, S. I-3499 Rz. 21 f. 569 EuGH, Rs. C-392/93, British Telecommunications, Slg. 1996, S. I-1631 Rz. 39; EuGH, Verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Dillenkofer, Slg. 1996, S. I-4845 Rz. 30 ff.; Berg, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 288 EGV Rz. 76 ff. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 288 EGV, Rz. 36. 570 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 48 f.; von Danwitz, DVBl. 1997, S. 1 (3); Zenner, Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten, S. 15, 19. Dagegen v. a. wegen einer Parallelisierung der Haftung der Union mit der Haftung der Mitgliedstaaten, von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 11. 571 EuGH, Verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, S. I-5357 Rz. 32. 572 So überzeugend von Bogdandy, Artikel 288 EGV Rz. 16 m. w. N. Für das Umweltrecht Zuleeg, NJW 1993, S. 31 (37); Wegener, in: Lübbe-Wolff (Hrsg.), S. 145 (163). Zur Erweiterung der Klagebefugnis im deutschen Sinne durch ein weites Verständnis des klageberechtigten „Betroffenen“, das sich v. a. im Umweltrecht zeigt, siehe nur Frenz, DVBl. 1995, S. 408 (409 ff.); Steinberg, AöR 120 (1995), S. 549 (585 f.). 573 Vgl. auch die Formulierung des EuGH in Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, S. I-5357 Rz. 32. Vgl. auch C. Wolf, Staatshaftung, S. 73; Schockweiler,

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Die Betonung des Schutzes individueller Rechtspositionen lässt es nicht zu, diese Schutzfunktion als bloßen Reflex der Integrationsförderung anzusehen.574 Die bereits durch die unmittelbare Wirkung erfolgte Stärkung der subjektiven Rechte wird daher durch den komplementären575 Haftungsanspruch in bedeutender Weise weitergeführt. Der Individualschutz erfährt durch die Staatshaftung eine weitere Festigung im gemeinschaftsrechtlichen System. 4. Gemeinschafts-Grundrechte576 Während durch die unmittelbare Wirkung und die Staatshaftung die bereits im Vertrag bzw. im Sekundärrecht positivierten individuellen Rechte gestärkt wurden, entwickelte sich der Grundrechtsschutz innerhalb der Gemeinschaft zunächst ohne eine solche Grundlage. Die Gründungsverträge sahen einen Schutz der Menschenrechte nicht vor.577 Bereits in den Anfangsjahren wurde der EuGH jedoch mit Fragen zu Grundrechten befasst.578 Dabei wurden vor allem natioRTDE 1992, S. 27 (42); Weatherill, Law and Integration, S. 128; Reich, EuZW 1996, S. 709 (716) sowie Zuleeg, NJW 1993, S. 31 (38), der die Rechtsstellung des Bürgers noch vor der Effektivität des Gemeinschaftsrechts betont. 574 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 11 ff., geht sogar davon aus, dass der Individualschutz der bestimmende Zweck der Haftungsregeln ist. Er stützt dies vor allem auf die Annahme, dass eine Parallelisierung der Haftung von Union und Mitgliedstaaten stattgefunden hat, die nicht mit dem Zweck der Integration erklärt werden kann (Rz. 11). Im Ergebnis ebenso Hidien, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, S. 15; Plaza Martin, ICLQ 43 (1994), S. 26 (47 ff.). 575 Zum Verhältnis der unmittelbaren Wirkung und des Haftungsanspruchs, Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 288 EGV Rz. 37; Berg, in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Artikel 288 EGV Rz. 75. 576 Terminologisch werden die Begriffe Menschenrechte, Grundrechte und Grundfreiheiten verwendet. Der EG-Vertrag spricht selbst in Artikel 6 (1) von „Menschenrechten und Grundfreiheiten“, in Artikel 6 (2) von Grundrechten. Dabei bezieht sich der Begriff Grundrechte in Artikel 6 (2) speziell auf die EMRK, so dass mit Menschenrechten und Grundfreiheiten der allgemeinere, übergeordnete Begriff gemeint ist (so auch Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 6 EGV Rz. 13). Üblicherweise ist die Spezialität umgekehrt, Grundrechte ist also der allgemeinere Begriff (siehe Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 291). Diese entspricht auch der gewählten Formulierung der „Grundrechte-Charta“. Im Rahmen dieser Arbeit sollen Menschenrechte und (Gemeinschafts-)Grundrechte synonym verwenden werden; wegen der Verwechslungsgefahr wird hingegen in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Grundfreiheiten verzichtet. 577 Grund für das Fehlen eines Hinweises auf die Menschenrechte ist vor allem das Scheitern der ursprünglich geplanten Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Darin war der Schutz der Menschenrechte als eines der Hauptziele aufgeführt, welches u. a. durch den Einbezug der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verwirklicht werden sollte. Die EPG wurde als zu ehrgeizig abgelehnt. Aus dieser Erfahrung heraus klammerten die Römischen Verträge die Menschenrechte als politisches Ziel aus. Zudem war man sich wohl der Menschenrechtsrelevanz einer zunehmenden Europäisierung damals nicht bewusst (so Dauses, 10 ELR 1985, S. 398 (399); Bahlmann, EuR 1987, S. 1 (3)).

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nale Grundrechte gegen europäische Akte angeführt. Während der Gerichtshof zunächst eine Anwendung von Grundrechten ablehnte,579 änderte sich seine Rechtsprechung zum ersten Mal in der Entscheidung Stauder.580 Dort verwies der EuGH, allerdings in einem obiter dictum, auf die Grundrechte, die zu den Grundsätzen der Gemeinschaft gehören und vom Gerichtshof geschützt würden.581 In den folgenden Entscheidungen Internationale Handelsgesellschaft,582 Nold 583 und Hauer 584 erkannte der Gerichtshof die Geltung der Menschenrechte im europäischen Recht an und maß europäische Rechtsakte daran. Er leitete die Menschenrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK ab, die er als Ausprägung ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft ansah. Grund für die Einführung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes waren nicht zuletzt die Bedenken des BVerfG585 und des italienischen Corte Costituzionale,586 die den fehlenden Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene als Begründung für eine nationale Kontrolle des sekundären Europarechts anführten.587 Während es daher zunächst um eine Kontrolle der europäischen Organe ging, nahm der EuGH im weiteren Verlauf an, dass auch die Mitgliedstaaten am europäischen Grundrechtsmaßstab zu messen seien, soweit sie im Bereich europäischen Rechts handeln.588 Damit entwickelte sich der Grundrechtsschutz von einer Kontrolle europäischer Gewalt zu einem umfassenden Schutz von Grundrechten im Rahmen der Gemeinschaft. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung bekundeten auch die übrigen Organe der Gemeinschaft ihre Anerkennung der Grundrechte als Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung.589 Die Mitgliedstaaten kamen dem in der Einheitlichen 578 Vgl. nur de Witte, in: Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, S. 859 ff.; Clapham, Human Rights and the Euopean Community, S. 29 ff. 579 Zum EGKS-Vertrag EuGH, Rs. 1/58 Stork/Hohe Behörde, Slg. 1959, S. 43 (63 f.). Ob der EuGH damit grds. die Relevanz von Menschenrechten ablehnte oder lediglich die nationalen Rechte wegen des Vorrangs des Europarechts nicht anwenden wollte, ist umstritten, siehe Craig/de Búrca, EU Law, S. 299. 580 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419. 581 Ebenda, S. 425 Rz. 7. 582 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125. 583 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 507. 584 EuGH, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727. 585 BVerfGE 37, S. 271 – Solange I, Siehe dazu nur Grimm, Col. JEL 3 (1997), S. 229 (S. 233 ff.). 586 Frontini ed altri/Administrazione Finanze Stato, EuR 1974, S. 253. 587 Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 6 EUV Rz. 17. 588 Siehe nur EuGH, Rs. 5/88 Wachauf/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1989, S. I2609 Rz. 19. 589 So v. a. in der Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission v. 5.4.1977 (ABl. C 103/1) und der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments (EG ABl. 1989, C 120/51).

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Europäischen Akte (EEA) nach, wo in der Präambel zum ersten Mal auf die Menschenrechte verwiesen wurde. Im Maastricht-Vertrag wurde Artikel F (2) EUV eingefügt, der lautet: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1959 in Rom unterzeichneten europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ 590

Dabei war allerdings eine Zuständigkeit des EuGH ausgeschlossen (Artikel L EUV). Auch in den zwei neuen Säulen des EU-Vertrags wurde in Artikel J.1 (2) und Artikel K.2 (1) auf die Menschenrechte verwiesen, ebenfalls ohne Kontrollmöglichkeit des Gerichtshofs. Im EG-Vertrag fanden die Menschenrechte eher an versteckter Stelle Eingang, in Artikel 130u (2) EGV [jetzt Artikel 177 (2) EG], der die Entwicklungszusammenarbeit der Gemeinschaft regelte. Der Amsterdamer Vertrag verstärkte die Stellung der Grundrechte weiter:591 In Artikel 6 EU wurde nicht nur Artikel F (2) EUV übernommen, der nun gemäß Artikel 46 EU der Kontrolle durch den Gerichtshof unterliegt,592 es wurde darüber hinaus in Abs. 1 festgeschrieben: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“

Die Beachtung dieser Grundsätze ist auch Voraussetzung für einen Beitritt zur Union geworden (Artikel 49 EU). Ferner wurde in Artikel 7 EU ein Verfahren für Fälle der Verletzung des Artikels 6 (1) EU eingeführt, das die Möglichkeiten der Durchsetzung der Menschenrechte weiter verbessert.593 Darüber hinaus wird vereinzelt auf „soziale Grundrechte“ Bezug genommen.594 Und schließlich wurde in Artikel 13 EG, zwar ohne eine Zuordnung zu den GemeinschaftsGrundrechten, aber mit deutlichem Bezug dazu, der Rat ermächtigt, Vorkehrungen gegen Diskriminierungen aus verschiedenen Gründen595 zu treffen, ohne 590 Allgemein zum Maastrichter Vertrag in Bezug auf Menschenrechte, Neuwahl, in: dies./Allan Rosas (Hrsg.), S. 1 ff.; Krogsgaard, Legal Issues of European Integration 1993, S. 99 ff. 591 Siehe dazu Hilf, EuR 1997, S. 347 (354 ff.); Colvin/Noorlander, EHRLR 1998, S. 191; Lenaerts, Col. JEL 6 (2000), S. 1 ff.; Lenaerts/de Smijter, CMLR 2001, S. 273 (276) sprechen von „definitive constitutional recognition“. 592 Dazu Fink, in: Kluth (Hrsg.), Die Europäische Union, S. 57 (70 f.). 593 Siehe dazu Nowak, in: Alston (Hrsg.), The EU and Human Rights, S. 687 (690); Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 7 EUV. Nicht aufgenommen wurde der Vorschlag, den Bürgern im Hinblick auf Artikel 6 EU eine Rechtsschutzmöglichkeit zu eröffnen, siehe Biondi, EPL 5 (1999), S. 245 (247). 594 Vierter Erwägungsgrund zum EUV, Artikel 2 EG und Artikel 136 (1) EG. Vgl. auch die Änderungen in Artikel 141 EG. 595 Des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

dass diesem Diskriminierungsverbot allerdings unmittelbare Wirkung eingeräumt wurde.596 Im Wesentlichen wurde durch die Vertragsänderungen lediglich eine Konsolidierung des bereits durch die Rechtsprechung eingeführten Standards erreicht.597 Dennoch bedeutet vor allem Artikel 6 EU für die Stellung der Individuen und ihrer Rechte im Gesamtsystem der europäischen Gemeinschaft eine enorme Aufwertung. Die Menschenrechte werden damit nicht nur als geltendes europäisches Recht anerkannt, der Individualschutz wird sogar als eine der Grundlagen der Union von den Mitgliedstaaten bezeichnet.598 Im Hinblick auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts erlangt dieser Schutz damit eine stärkere Bedeutung. Inzwischen ist auch die häufig geäußerte Forderung nach einer eigenen Grundrechte-Charta verwirklicht worden. Im Dezember 2000 wurde die EUGrundrechte-Charta gemeinsam vom Europäischen Rat, dem Parlament und der Kommission proklamiert.599 Die Charta nimmt zum Teil die Rechtsprechung des EuGH auf und beruht ebenso wie diese auf den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und internationalen Verträgen, insbesondere der EMRK; zum Teil geht sie auch darüber hinaus. Sie ist jedoch nicht Bestandteil der Verträge, sondern bisher unverbindlich. Dennoch ist zu erwarten, dass ihr in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine wichtige Rolle zukommt. Ein Indiz hierfür ist, dass sie seit ihrer Proklamation mehrfach von Generalanwälten zur Begründung ihrer Anträge hinzugezogen wurde.600 Entsprechend ist zu erwarten, dass sich auch der EuGH bei der Auslegung des Artikels 6 EU auf die Grundrechte-Charta stützen wird.601 Auch wenn daher die Rechte der Charta nicht unmittelbar justiziabel sind, tragen sie doch zur Stärkung der Position der EU596

Colvin/Noorlander, EHRLR 1998, S. 91 (194); Biondi, EPL 1999, S. 245 (249). Zum Einfluss der Politik auf den EuGH, siehe oben S. 80 ff. 598 Vgl. Hirsch, Mélanges Schockweiler, S. 177 (181), der annimmt, die Anerkennung des Schutzes von Gemeinschaftsgrundrechten sei „schlechthin konstitutiv für die Eigenschaft der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft“. 599 ABl. C Nr. 346 vom 18.12.2000, S. 1–22. Vgl. hierzu nur de Búrca, ELR 26 (2001), S. 126 ff.; Lenaerts/de Smijter, CMRL 2001, S. 273 ff.; Schmitz, JZ 2001, S. 833 ff.; kritisch Calliess, EuZW 2001, S. 261 ff. 600 Vgl. nur GA Tizzano, Rs. C-173/99 BECTU/Secretary of State; Slg. 2001 S. I-4881 Rz. 24 ff.; GA Stix-Hackl, Rs. C-131/00 Nilsson/Länsstyrelsen i Norrbottens län, Rz. 18 Fn. 9; GA Léger, Rs. C-309/99 Wouters u. a./Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten, Rz. 173 Fn. 176. Auch das spanische Verfassungsgericht hat auf die Charta bereits Bezug genommen, Entscheidung Nr. 292/2000 v. 30.11.2000, BJC 237 (2001), S. 46. 601 Kritisch dazu Schmitz, JZ 2001, S. 833 (836). Vgl. aber das EuG in der Rs. T-112/98 Mannesmannröhrenwerke AG/Kommission, Rz. 76, wo das Gericht 1. Instanz, die Frage nach der Bedeutung der Charta allein mit dem formellen Hinweis auf das Proklamationsdatum der Charta, welches dem umstrittenen Sachverhalt nachgelagert war, ablehnte. 597

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Bürger bei. Politisch ist damit ein weiteres Signal gesetzt, dass den Rechten der Individuen und ihrem Schutz eine immer wichtigere Rolle zukommt.602 Insgesamt hat die Verankerung der Grundrechte in der Gemeinschaft sowohl durch die Rechtsprechung als auch durch die politischen Akte eine wesentliche Stärkung des Individualschutzes bewirkt. 5. Unionsbürgerschaft Die Unionsbürgerschaft wurde durch den Maastrichter Vertrag eingeführt, um die Rechte und Interessen der Bürger stärker zu schützen (Artikel 2 Spstr. 3 EU).603 Europa sollte von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einem „Europa der Bürger“ werden, und gleichzeitig sollten damit die „Marktbürger“ zu Unionsbürgern avancieren.604 Dies sollte durch eine Erweiterung der politischen Rechte, einen besseren Rechtsschutz und die Förderung einer europäischen Identität erfolgen.605 Inwieweit sich dabei die Rechtsstellung der neuen Unionsbürger tatsächlich verbessert hat, ist umstritten. Einige sehen in der Einführung der Unionsbürgerschaft lediglich einen symbolischen Akt ohne rechtlichen Gehalt.606 Von den Befürwortern der Unionsbürgerschaft wird ebenfalls der symbolische Wert betont.607 Sie schätzen aber nicht zuletzt deshalb die Bedeutung der Unionsbürgerschaft für den Einzelnen positiver ein.608 Obgleich auch sie die Regelungen zum Teil als nicht sehr weitgehend einstufen, betonen sie die in Artikel 22 EU angelegte Dynamik der Unionsbürgerschaft609 und weisen dabei auf die Rolle des Gerichtshofs bei ihrer Entwicklung und Konkretisierung hin.610 602 Vgl. nur Amato, XXIInd Jean Monnet Lecture, 20th November 2000 (http:// www.iue.it/ANN/JML/amatojmlEN.html). 603 Zur Vorgeschichte ausführlich Kotalakidis, Unionsbürgerschaft, S. 147 ff. 604 Reich, Bürgerrechte, S. 422; Everling, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 ff.; Randelzhofer, in: GS Grabitz, S. 581 ff. Den Begriff des „Marktbürgers“ hatte Ipsen geprägt, Gemeinschaftsrecht, Rz. 187, 250 f., 715 ff., 742 ff. sowie Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, S. 340 (341). 605 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 17 Rz. 1. Shaw, MLR 3 (1998), S. 293 (S. 298) weist aber zu Recht darauf hin, dass nicht alle Rechte der Unionsbürger in diesem Abschnitt zu finden sind. 606 Kowar/Simon, CDE 1993, S. 285; Hartley, ICLQ 1993, S. 213 (219); d’Oliveira, in: Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht, S. 147 ff. Kritisch Weiler, Constitution of Europe, S. 325 ff. 607 So insbesondere Everling, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 (50). 608 Everling, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 (50); Fischer, EuZW 1992, S. 566 ff.; Reich, Bürgerrechte, S. 427. 609 Everling, in: Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa, S. 49 (50); Fischer, EuZW 1992, S. 566 (569); Weatherill/Beaumont, EC Law, S. 544; vgl. Shaw, MLR 3 (1998), S. 293 (307 f.) m. w. N. 610 Reich, Bürgerrechte, S. 426.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

Als wichtigste Regelung im Bereich der Unionsbürgerschaft wurde in Artikel 18 EG das Recht jedes Unionsbürgers auf Freizügigkeit niedergelegt. Damit sind die freie Bewegung und der freie Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten erfasst.611 Im Gegensatz zur Freizügigkeit, die als Annex zu den Grundfreiheiten gewährt wird, ist das Recht aus Artikel 18 EG von einer wirtschaftlichen Betätigung unabhängig.612 Obgleich die Grundlage hierfür bereits aufgrund mehrerer Richtlinien bestand, die das mit den Grundfreiheiten verbundene Aufenthaltsrecht auf Nichterwerbstätige und Studenten erweitert hatten,613 und die Norm unter dem Vorbehalt der im EG-Vertrag und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen steht, ist die vertragliche Festschreibung in Artikel 18 EG bedeutsam. Die Norm stellt ein genuin subjektives Recht dar, das keinen binnenmarktorientierten Gehalt hat, sondern um der persönlichen Freiheit der Unionsbürger willen besteht.614 Damit gewinnt die Freizügigkeit auf der Ebene des Primärrechts wesentlich an Bedeutung, was auch für die Auslegung des übrigen Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, wichtig ist. Hierauf wird zurückzukommen sein.615 Die Einführung der Unionsbürgerschaft betont die Bedeutung der Bürger und ihrer Rechte im europäischen Prozess, was in Artikel 2 EU expliziten Niederschlag gefunden hat.616 Darin zeigt sich auch ein politischer Wille zur Stärkung der (Rechts-)Position der einzelnen Bürgerin. Die Unionsbürgerschaft lässt sich daher, zumindest auf der politischen Ebene, als weiteren Beitrag zur Bekräftigung des Individualschutzes verstehen.617

611 Zum genauen Inhalt Kotalakidis, Unionsbürgerschaft, S. 152 ff.; Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 18 EGV Rz. 3 ff.; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 18 EGV Rz. 5 ff. 612 Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.) Artikel 18 EGV Rz. 5; zum Verhältnis von Artikel 18 EG zu den Grundfreiheiten, Rz. 10; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 18 EGV Rz. 12. 613 Richtlinie vom 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht (90/364/EWG), ABl. 1990 Nr. L 180/26, über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen (90/365/EWG), ABl 1990 Nr. L 180/28 und über das Aufenthaltsrecht der Studenten (90/366/EWG), ABl. 1990 Nr. L 180/30 bzw. deren Neufassung (93/96/EWG) nach der Nichtigerklärung des EuGH wegen einer fehlerhaften Rechtsgrundlage (Rs. C-295/90 EP/Rat, Slg. 1992, I-4193), ABl. 1993 Nr. L 317/59. 614 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 18 EGV Rz. 12. Siehe dazu auch Shaw, MLR 3 (1998), S. 293 (303 f.). 615 Siehe unten S. 155 ff. 616 O’Leary, 32 CMLR (1995), S. 519 ff. sieht den Individualschutz dementsprechend als Kernziel der Unionsbürgerschaft an, hat aber Zweifel an der Umsetzung. 617 Ness, 24 Legal Issues of European Integration (1997), S. 47.

I. Individualschutz als Ziel der Europäischen Gemeinschaft

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6. Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa Der Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa ist Ergebnis der Arbeit eines Konvents, der von Europäischen Rat in seiner Erklärung von Laeken am 15. Dezember 2001 eingesetzt wurde, um die wesentlichen Fragen der künftigen Entwicklung der Union zu prüfen und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen. Der Konvent begann seine Arbeit am 28. Februar 2002 und beschloss am 13. Juni 2003 den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa. Dieser wurde dem Europäischen Rat in Thessaloniki überreicht und von ihm am 20. Juni 2003 angenommen. Die endgültige Unterzeichnung des Vertrags sollte ursprünglich vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 erfolgen, wurde jedoch verschoben. Der Entwurf lässt sich als Konsolidierung der bisherigen Entwicklung, aber auch als weiteren Schritt zu einer Betonung der Stellung der einzelner Unionsbürgerinnen und -bürger lesen. Noch stärker als bisher wird in dem Entwurf618 die Bedeutung der Bürger und ihrer Rechte und Freiheiten betont: So sind direkt in Artikel 2 die Werte der Union aufgeführt, die die Menschenwürde, die Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte umfassen und deren Achtung nach Artikel 1 (2) Voraussetzung für die Aufnahme in die Union ist. Auch die Ziele der Union in Artikel 3 betonen die Stellung der Bürger und den Schutz vor Diskriminierungen. Ziel der Union ist danach die Förderung des Friedens, ihrer Werte und das Wohlergehen ihrer Völker. Die wirtschaftliche Funktion ist damit nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu anderen, weitergehenden Zwecken, wie sich besonders klar in Artikel 3 (2) zeigt: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb.“

Dies offenbart, wie sehr sich die Stellung des Individuums von einem Instrument des Binnenmarkts zu dem dadurch berechtigten und geschützten Unionsbürger gewandelt hat. Die Betonung der Grundrechte, deren Anerkennung bereits in Artikel 7 des erstens Teils normiert ist, wird vor allem durch die Eingliederung der Charta der Grundrechte der Union in Teil II erreicht. Diese wird von einer unverbindlichen Proklamation zu einem verbindlichen Teil des Vertragsrechts aufgewertet. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung stellt damit eine politische und rechtliche Bekräftigung der bisherigen Entwicklung des Individualschutzes dar und rückt in noch deutlicherem Maße als bisher das Individuum und den Schutz seiner Rechte und Freiheiten in den Mittelpunkt der europäischen Bemühungen. 618

Der Entwurf von Thessaloniki ist abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 357 ff.

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7. Ergebnis Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung, die Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs sowie die Anerkennung der Menschenrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts bedeuten eine wesentliche Stärkung der Rechtsstellung des Einzelnen in der Union.619 Die politische Entwicklung hat diese Rechtsprechung konsolidiert und ihr damit eine zusätzliche Legitimität verliehen. Darüber hinaus wurde durch die Einführung der Unionsbürgerschaft der Einzelne vom Marktbürger zum Unionsbürger erhoben, mit dem ausdrücklichen Ziel, den Schutz seiner Rechte und Interessen zu stärken. Der Entwurf des Vertrag über eine Verfassung für Europa bestätigt diese Entwicklung ausdrücklich und geht in einigen Punkten sogar darüber hinaus. Der Individualschutz hat damit eine solche rechtliche und politische Verankerung erfahren, dass er als ein wesentliches Ziel der Gemeinschaft angesehen werden kann. 620 Dementsprechend sind gerade bei der systematisch-teleologischen Auslegung der Grundfreiheiten die Gewährleistung und der Schutz der Rechte des Einzelnen in besonderem Maße zu berücksichtigen.621

II. Bindung Privater an die Grundfreiheiten als Förderung des Individualschutzes Bei einer Auslegung der Grundfreiheiten im Lichte des Zieles des Individualschutzes ist zunächst der individualschützende Charakter der Grundfreiheiten allgemein zu erörtern. Damit kommt es darauf an, ob sie (auch) die individuellen Interessen Einzelner schützen. Es wird sich ergeben, dass zwar alle Grundfreiheiten individualschützend sind, dass aber ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Intensität des Schutzes besteht. 1. Grundfreiheiten als subjektive Rechte Der individualschützende Charakter einer Norm kommt in besonderem Maße zum Ausdruck, wenn dem Geschützten durch sie ein subjektives Recht verlie619

Ähnlich Schubert, Der Gemeinsame Markt, S. 147. Für den Individualschutz als Gemeinschaftsziel auch Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Art. 2 EG Rz. 11. In die Richtung gehend, Joerges/Furrer/ Gerstenberg, in: Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. 7, S. 281 (304). 621 So auch Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (289 f.); Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 230 f., sieht speziell die grundrechtskonforme Auslegung als teleologische Auslegung an und befürwortet damit den Grundrechtsschutz als Telos der Gemeinschaft. 620

II. Grundfreiheiten als Förderung des Individualschutzes

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hen wird. Dabei gewährt nicht jede individualschützende Norm zugleich ein subjektives Recht, jedes subjektive Recht ist aber individualschützend.622 Eine genaue Definition des subjektiven Rechts ist schwer zu geben.623 Eine gängige Begriffsbestimmung in der deutschen Dogmatik lautet, dass ein subjektives Recht dem Einzelnen eine Rechtsmacht verleiht, mittels derer er seine Bedürfnisse befriedigen kann.624 Entscheidend ist, dass dem Einzelnen die Möglichkeit der Rechtsverfolgung gewährt wird, wenn seine Interessen verletzt werden.625 So wird auch im Europarecht der subjektivrechtliche Gehalt einer Norm dadurch bestimmt, dass sich der Einzelne auf sie berufen kann,626 dass sie also unmittelbare Wirkung hat.627 Die Grundfreiheiten sind nicht als subjektive Rechte formuliert, vielmehr sind in ihnen Verbote normiert. Soweit aber eine unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten angenommen werden kann, gewähren sie auch subjektive Rechte. Nach den vom EuGH aufgestellten Kriterien muss eine Norm dazu „abschließend, vollständig, und rechtlich perfekt sein, so dass es zu ihrer Anwendbarkeit keiner weiteren Ausführungsakte mehr bedarf“.628 Zunächst war nicht klar, dass die Grundfreiheiten diese Voraussetzungen erfüllen würden. Im Hinblick auf Artikel 28 EG war der Generalanwalt Gand noch 1974 der Ansicht, dass die Norm zu allgemein sei, um unmittelbare Wirkung zu entfalten.629 Bereits 1978 jedoch entschied der Gerichtshof in Ianelli & Volpi sowie ein Jahr später in Pigs Marketing Board, dass Artikel 28 EG unmittelbare Wirkung erzeuge und dem Einzelnen Rechte verleihe, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu schützen hätten.630 Grund sei die zwingende und klare Natur der Vorschrift und die Tatsache, dass deren Umsetzung keiner weiteren Eingriffe seitens der Mitgliedstaaten oder der europäischen Organe bedürfe. Bei Artikel 43 EG hätten die danach erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen eine unmittelbare Wirkung schwierig machen müssen, aber auch hier bejahte der Gerichtshof im Fall Reyners die Möglichkeit von Individuen, sich mit Hilfe dieser Norm gegen staatliches Recht zu wenden, selbst soweit Umsetzungsmaß622

Vgl. nur Thon, Rechtsnorm, S. 177 f. Zu den verschiedenen Bemühungen, siehe nur Larenz/Wolf, § 14 Rz. 10 ff. (S. 272 ff.). 624 Larenz/Wolf, § 14 Rz. 11 (S. 273) m. w. N. 625 Ausführlich Thon, Rechtsnorm, S. 120 ff. 626 Vgl. nur Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 106; Eilmansberger, Rechtsfolgen und subjektives Recht, S. 60. 627 Zur unmittelbaren Wirkung siehe oben S. 131 ff. 628 EuGH, Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, S. 1 (12). 629 EuGH, Rs. 13/68 SpA Salgoil/Außenhandelsministerium der Italienischen Republik, Slg. 1968, S. 680 (700). 630 EuGH, Rs. 74/76 Iannelli & Volpi, Slg. 1977, S. 557 Rz. 13, danach EuGH, Rs. 83/78, Pigs Marketing Board, Slg. 1978, S. 2347 Rz. 66. Später auch EuGH, verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du Pêcheur, Slg. 1996, S. I-1029 Rz. 23. 623

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

nahmen fehlten.631 Seine Begründung hierfür war denkbar knapp und beschränkte sich darauf festzustellen, dass es sich bei dem in Artikel 43 EG enthaltenen Diskriminierungsverbot um einen „der fundamentalen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft“ handele.632 Dasselbe Problem der fehlenden Umsetzungsmaßnahmen stellte sich jedenfalls teilweise im Hinblick auf Artikel 39 und 49 EG. Dort nahm der Gerichtshof zunächst auch nur eine unmittelbare Wirkung in Fällen von Diskriminierung an.633 Im Folgenden weitete er seine Rechtsprechung aber für Artikel 39 EG auf die Bereiche des Freizügigkeit aus, die ausdrücklich Umsetzungsmaßnahmen erforderten.634 Obwohl bisher keine entsprechende Entscheidung zu Artikel 49 EG vorliegt, ist davon auszugehen, dass sich hier keine Unterschiede ergeben. Insgesamt ist heute daher unstrittig, dass alle Grundfreiheiten seit dem Ende der Übergangszeit unmittelbare Wirkung entfalten635 und dem Einzelnen damit die Möglichkeit eröffnen, seine subjektiven Rechte, die sich aus diesen Normen ergeben, unmittelbar geltend zu machen.636 2. Einteilung der Grundfreiheiten in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten Im Folgenden werden die Grundfreiheiten begrifflich in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten unterschieden. Diese Begriffe sind üblich,637 hier sollen sie vor allem dazu beitragen, Kategorien anzubieten, nach denen die Grundfreiheiten unterschieden werden können, was sich im weiteren Verlauf der Untersuchung als hilfreich herausstellen wird. Dies gilt entsprechend für Kapital(produkte), die im Folgenden unter „Produkte“ gefasst werden. Bei den Produktverkehrsfrei631

EuGH, Rs. 2/74 Reyners/Belgischen Staat, Slg. 1974, S. 631. Ebenda, Rz. 24. 633 Für Artikel 39 EG EuGH, Rs. 167/73, Kommission/Französische Republik, Slg. 1974, S. 359 und st. Rspr., siehe nur EuGH, Rs. 41/74, Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, S. 1337 Rz. 7; für Artikel 49 EG EuGH, Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, S. 1299 Rz. 26. 634 So z. B. für Artikel 39 EG EuGH, Rs. 118/75, Lynne Watson und Allessandro Belmann, Slg. 1976, S. 1185 Rz. 11 f. und EuGH, Rs. 248/86, Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1989, S. 1263 Rz. 9 635 Einzig der Kapitalfreiheit wurde vom EuGH eine unmittelbare Wirkung abgesprochen, EuGH, Rs. 203/80 Strafverfahren gegen Guerrino Casati, Slg. 1981, S. 2595. Da aber inzwischen Harmonisierungsmaßnahmen erlassen wurden, dürfte diese Entscheidung heute anders ausfallen, so auch Klauer, Europäisierung des Privatrechts, S. 23 Fn. 23. 636 Vgl. nur Reich, Bürgerrechte, S. 182; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (266); Jarass, EuR 1995, S. 202 (209); Bergmann, in: Bergmann/Lenz (Hrsg.), Der Amsterdamer Vertrag, Kap. 1, Rz. 5; Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 40; Schroeder, in Streinz (Hrsg.), Art. 28 EGV Rz. 27. 637 Vgl. nur Jarass, EuR 1995, S. 202 (205 ff.); Streinz, Europarecht, Rz. 656; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 215 ff. 632

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heiten geht es um die freie Zirkulation von Produkten im Binnenmarkt; es kommt also darauf an, dass Produkte die Grenze ungehindert überqueren dürfen. Bei den Personenverkehrsfreiheiten hingegen ist es die Person selbst, deren Freiheit, sich zur Ausübung der Grundfreiheit im Binnenmarkt frei zu bewegen, geschützt wird. Es geht also um die Freiheit der Person als Marktbürgerin. Die Einteilung der Grundfreiheiten in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten existiert bereits länger, jedoch wird sie in letzter Zeit im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit zum Teil neu bewertet. Ursprünglich wurde lediglich Artikel 28 EG als Produktverkehrsfreiheit angesehen.638 Artikel 39, 43 und 49 EG hingegen wurden als Personenverkehrsfreiheiten bezeichnet. Ausgangspunkt dabei ist, dass bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit der „Träger“ der Freiheit, d.h. eine natürliche oder juristische Person, die Grenze überqueren muss, um die Freiheit in Anspruch nehmen zu können. Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit ist dieser Aspekt nicht problematisch. Ihre Charakterisierung als Personenverkehrsfreiheit ist bei einer solchen Definition zwingend. Bei der Dienstleistungsfreiheit hingegen ist die Einteilung nicht in derselben Weise offensichtlich. Diese Freiheit hat die Besonderheit, dass die Dienstleistung zwar in der Regel durch eine Person geleistet wird, dass es dabei also auf die Freiheit der Person ankommt, die Dienstleistung grenzüberschreitend anbieten zu können. Ebenso gut kann es aber sein, dass nicht die Person, sondern nur das Ergebnis ihrer Tätigkeit, d.h. die Dienstleistung selbst, die Grenze überquert. Zunächst wurde der Schwerpunkt der Dienstleistungsfreiheit auf die Tätigkeit der Person gelegt und damit diese Freiheit als Personenverkehrsfreiheit eingeordnet.639 Inzwischen wird dies überwiegend anders beurteilt.640 Es wird nun bei der Dienstleistungsfreiheit vor allem auf das Ergebnis der Tätigkeit abgestellt. Damit wird die Dienstleistungsfreiheit eher zur produktbezogenen Freiheit. Dieser Wechsel in der Betrachtungsweise hängt stark mit dem veränderten Charakter der Dienstleistungen zusammen. Viele der heute angebotenen grenzüberschreitenden Dienstleistungen 638

Wohlfahrt, in: Fuß (Hrsg.), Verwirklichung des Gemeinsames Marktes, S. 85. O’Keeffe, in: O’Reilly, (Hrsg.), Human Rights and Constitutional Law, S. 263 (265); diff. Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 49 Rz. 4; 10 ff. A.A. Jarass, EuR 1995, S. 202 (207), der für die Personenverkehrsfreiheit darauf abstellt, ob der wirtschaftliche Schwerpunkt in einem anderen Mitgliedstaat verlegt wird; ähnlich Schubert, Der Gemeinsame Markt, S. 176, der die langfristige Integration in einen anderen Mitgliedstaat fordert. 640 Oliver, in: Mélanges Waelbroeck, Bd. II, S. 1377 (1378); Streinz, FS Rudolf, S. 199 (204 f.); Hirsch, ZEuS 1999, S. 503 (508); Seidel, in: Schwarze (Hrsg.), Der Gemeinsame Markt, S. 113 (120f); Keßler, Warenverkehrsfreiheit, S. 275; Jarass, EuR 1995, S. 202 (205), der dabei sowohl die Grenzüberschreitung der Dienstleistung und des Dienstleistenden erwähnt; Troberg/Tiedje, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Vorbem. 13 ff. vor Artikel 49 bis 55 EG; Mülbert, ZHR 159 (1995), S. 2 (29); Basedow, RabelsZ 59 (1995), S. 1 (12); Kommission zum Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes, KOM (85) 310 endg, Brüssel, den 14.6.1985, S. 6 Rz. 13; differenzierend Müller-Graff, FS Lukes, 1989, S. 471 (476 ff.). 639

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sind solche im Bereich der Neuen Medien, wie etwa Telekommunikation oder Internet, bei denen lediglich das Produkt der Leistung die Grenze überschreitet bzw. der Zugriff auf das Produkt über die Staatsgrenze hinweg erfolgt. Auch andere Dienstleistungen, die sich nicht unmittelbar auf die Neuen Medien beziehen, lassen sich mit Hilfe technischer Möglichkeiten erbringen, ohne dass der Dienstleistende beim Kunden vor Ort tätig werden muss, z. B. bei Beratungstätigkeiten oder Versicherungen. Als Folge dieser Veränderungen hat sich bei der Einordnung der Dienstleistungen als Personen- bzw. Produktverkehrsfreiheit die Perspektive durchaus zu Recht verschoben. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass es weiterhin Dienstleistungen gibt, bei denen die direkte persönliche Tätigkeit im Vordergrund steht und bei denen daher eine Person die Grenze überquert. Angemessener erscheint daher eine differenzierende Betrachtungsweise: Bei der Einordnung der Freiheit muss bei der Dienstleistungsfreiheit im konkreten Fall überprüft werden, ob der Dienstleistende selbst, also eine Person, oder nur die Dienstleistung, also ein Produkt, die Grenze überqueren muss.641 Eine pauschale Einordnung der Dienstleistungsfreiheit als Produkt- oder Personenverkehrsfreiheit läuft Gefahr, den eigentlichen Gewinn dieser Klassifizierung zu unterlaufen: Die Möglichkeit, zu berücksichtigen, ob eine Person oder ein Produkt die Grenze überquert, um daraus entsprechende Folgerungen ziehen zu können. Die Grundfreiheiten können demnach in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten eingeteilt werden. Entscheidend für die Einteilung ist, ob durch die jeweilige Norm die Freiheit geschützt wird, dass eine Person oder ein Produkt die Grenze überquert. 3. Abgestufter individualschützender Charakter der Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten Der Einteilung der Grundfreiheiten in Produkt- und Personenverkehrsfreiheiten entspricht ein Unterschied in ihrem individualschützenden Charakter. Dieser entspringt einem abgestuften „Grundrechtsgehalt“ der Grundfreiheiten. Bevor dieser Grundrechtsgehalt näher dargestellt und untersucht wird, ist zunächst kurz dazu Stellung zu nehmen, ob die Grundfreiheiten nicht ohnehin mit Grundrechten gleichzusetzen sind. a) Grundfreiheiten als Grundrechte? Wie oben dargelegt, wurden Gemeinschafts-Grundrechte durch den EuGH entwickelt und später von den legislativen Organen der Gemeinschaft teilweise 641 Vgl. GA Jacobs in Rs. C-76/90, Säger/Dennemeyer, Slg. 1991, S. I-4221 Rz. 24 ff.

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festgeschrieben.642 Dabei wurden (zunächst) unter „Grundrechten“ nur die Rechte verstanden, die sich, wie auch Artikel 6 Abs. 2 EU festschreibt, aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Darunter fielen also nicht die Rechte, die in den Verträgen enthalten sind. Dennoch wurde in der europarechtlichen Literatur darüber diskutiert, ob auch die subjektiven Rechte des EG-Vertrags, insbesondere die Grundfreiheiten, als Grundrechte oder zumindest als grundrechtsähnliche Verbürgungen anzusehen seien.643 Die ablehnende Auffassung wird hauptsächlich mit den unterschiedlichen Verpflichteten begründet: Während die Grundfreiheiten sich an die Mitgliedstaaten wenden, sollen durch die Grundrechte die Gemeinschaftsorgane verpflichtet werden.644 Die Gegenansicht verweist darauf, dass inzwischen auch bestimmte nationale Maßnahmen vom Gerichtshof an den Gemeinschafts-Grundrechten gemessen würden645 und die Grundfreiheiten für das Handeln der Gemeinschaftsorgane relevant seien.646 In der Tat lässt sich eine strikte Trennung anhand der Verpflichteten der Regelungen nicht aufrechterhalten, vor allem seit die Rechtsprechung des EuGH politisch legitimiert wurde: Die GrundrechteCharta der EU hat die Frage des Verpflichteten aufgenommen und entsprechend den Vorgaben des EuGH entschieden. In Artikel 51 Abs. 1 der Charta ist be642

Siehe oben S. 137 ff. Gegen die Einordnung der Grundfreiheiten als Grundrechte Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 6 EUV Rz. 34; Coppel/O’Neill, CMLR 1992, S. 669 (689 f.); beim derzeitigen Stand Behrens, EuR 1992, S. 145 (161 f.); abgeschwächt Schubert, Der Gemeinsame Markt, S. 213 ff.; Bahlmann, EuR 1982, S. 1 (3); dafür Bleckmann, GS Sasse, (1981), Bd. 2, S. 665 ff.; Mattthies, FS Sasse, S. 115 (125); Ullrich, Beilage 23 zu RIW 1990, S. 1 (5); Nothoff, RIW 1995, S. 541 (544 f.); Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 41 f.; Schilling, EuR 1994, S. 50 (55 ff.); Wohlfahrt, in: Fuß (Hrsg.), Verwirklichung des Gemeinsames Marktes, S. 85 (94); GA Lenz, Schlussanträge zu Bosman, Slg. 1995, S. I-4930 (5007 ff.); in Ansätzen Pescatore, EuR 1979, S. 1 (3), der sie als grundrechtsnah bezeichnet; Hirsch, in: Mélanges Schockweiler, S. 177 (178; 195); von der Groeben, FS Hallstein, S. 226 (234 f.); Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rz. 787 ff., der aber zwischen Grundrechten nach den Gemeinschaftsverträgen und „eigentlichen Grundrechten“ unterscheidet. 644 Schilling, EuGRZ 2000, S. 3 (4 f.); Rengeling, S. 172; einschränkend Baumgartner, Grundrechtsschutz, S. 139. 645 EuGH, Rs. 5/88, Wachauf gegen Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1989, S. I2609 Rz. 19; EuGH, Rs. C-260/89, „ERT“, Slg 1991, S. I-2925 Rz. 42 f. Ausführlich Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, der dabei aber ein institutionelles soziales Grundrechtsverständnis zugrundelegt (S. 96); Ruffert, EuGRZ 1995, S. 518 ff. 646 EuGH, Rs. 15/83, Denkavit Nederland B.V./Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1984, S. 2171 Rz. 15; EuGH, Rs. C-51/93, Meyhui NV gegen Schott Zwiesel Glaswerke AG, Slg. 1994, S. I-3879 Rz. 11; Bleckmann, Europarecht, Rz. 755; Jarass, EuR 1995, S. 202 (211); Schubert, Der Gemeinsame Markt, S. 192 ff.; Reich, in: Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. VI, S. 157 (175); Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 49 Rz. 42 f. Einschränkend Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, passim. 643

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stimmt, dass die darin aufgeführten Rechte und Freiheiten für die Organe der Union und für die „Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union“ bindend sind. Die Einschränkung macht allerdings deutlich, dass eine völlige Deckung der Verpflichteten bei den Gemeinschafts-Grundrechten und bei den Grundfreiheiten nicht zu erwarten ist, so dass der Aspekt des Verpflichteten durchaus eine gewisse Berechtigung behält. Es besteht aber ein weiterer Unterschied zwischen den Gemeinschafts-Grundrechten und den Grundfreiheiten, der von wesentlicher Bedeutung ist. Dieser liegt im individualrechtlichen Gehalt der Rechte: Obgleich die GemeinschaftsGrundrechte politisch auch zur Begrenzung der Kompetenzen der Gemeinschaft entwickelt wurden, war ihr Zweck von Anfang an der Schutz des Individuums und seiner Freiheit.647 In ihnen wird die Freiheit des Einzelnen um ihrer selbst willen geschützt. Sie sind daher originär individuelle Garantien.648 Wie der Einzelne sie nutzt und wozu er sie nutzt, ist dabei nicht von Interesse, es zählt allein die Schaffung eines Freiraumes zur individuellen Selbstbestimmung. Die Einzelne kann daher in diesen Schutzbereichen ungerechtfertigte Beeinträchtigungen abwehren, ohne dass dies gleichzeitig auch einem weitergehenden Interesse der Allgemeinheit oder der Staaten entsprechen muss. Es kann natürlich ein Interesse daran bestehen, eine Gemeinschaft zu konstitutionalisieren, die auf bestimmten Werten und Rechte aufbaut. Dies geschieht jedoch gerade auf der Basis des Individuums und seiner Rechte. Interessen, die, unabhängig von der Person des Grundrechtsträgers, mit der Verwirklichung der Grundrechte bestimmte Zwecke verfolgen, bestehen nicht. Ausgangspunkt der Gemeinschafts-Grundrechte ist also allein das subjektive Recht des Einzelnen. Dies ist bei den Grundfreiheiten anders. Wie oben dargestellt, wurden diese zunächst lediglich als Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes entwickelt. Ihnen kam daher eine instrumentelle Rolle zu, die weniger die Person an sich als vielmehr ihre Funktion in der wirtschaftlichen Integration Europas im Auge hatte. Erst im Laufe der Zeit bildete sich bei den Grundfreiheiten durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ein subjektiver, individualrechtlicher Gehalt heraus. Inzwischen bezwecken auch die Grundfreiheiten den Schutz der persönlichen Freiheit des Berechtigten.649 Dennoch handelt es sich dabei um eine „zweckgebundene Freiheit“ 650 in dem Sinne, dass der Integrationszweck Anknüpfungspunkt für die Gewährung des Rechts bleibt.651 Der Einzelne wird da647

Siehe oben S. 137 ff. So auch Schindler, Kollision, S. 149; A. Weber, JZ 1989, S. 965 (968). Anders wohl Limbach, NJW 2001, S. 2913 (2917); Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 30. 649 O’Keeffe, in: O’Reilly (Hrsg.), Human Rights and Constitutional Law, S. 263 (266 ff.); O’Leary, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), Evolution of EU Law, S. 377 (382 ff.), die dabei „conflicting objectives“ erkennen will. Für Artikel 39 EG Fabis, Freizügigkeit, S. 96. 648

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her zwar aus den Grundfreiheiten berechtigt, diese Berechtigung speist sich aber auch aus dem Integrationsinteresse der Gemeinschaft, sein individuelles Recht ist also gleichzeitig ein funktionales Recht.652 Wenn demgegenüber der Begriff des „Grundrechts“ den individual-rechtlichen Charakter einer Norm zum Ausdruck bringt, ist eine pauschale Gleichsetzung von Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten wenig sinnvoll. Diese Unterscheidung von subjektiv-orientierten und integrativ-orientierten Rechten entspricht jedenfalls grob der begrifflichen Differenzierung von „Marktrechten“ und „Bürgerrechten“: Die im EG-Vertrag angelegten Rechte, insbesondere die Grundfreiheiten, werden oft als „Marktrechte“ bezeichnet und der Einzelne entsprechend als „Marktbürger“ charakterisiert.653 Dabei wurde der Marktbürger als einer der Produktionsfaktoren bewertet, deren optimale Allokation durch den Binnenmarkt erreicht werden sollte.654 Die darin zum Ausdruck kommende einseitig wirtschaftliche Ausrichtung der Gemeinschaft wich aber allmählich einem umfassenderen Konzept. Die Einführung der Unionsbürgerschaft stellt eines der deutlichsten Resultate des Willens dar, dem Marktbürger mehr Rechte zu verleihen und ihn aus einer rein wirtschaftlich orientierten Position zu lösen.655 Die Gewährleistung entsprechender „Bürgerrechte“ 656 sollte dazu beitragen, die Rechtsstellung des Einzelnen zu stärken und ihn als Subjekt der Gemeinschaft erkennbarer zu machen. Der Begriff „Bürgerrecht“ verdeutlicht, dass es auf die Person selbst – die Bürgerin – ankommt; dass das Recht seine Grundlage also in einer personenbezogenen Eigenschaft findet. Die Bürgerrechte schützen den Einzelnen um seiner eigenen Freiheit als Bürger willen 650 Schneider/Wunderlich, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 39 EGV Rz. 6; Krüger/Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Artikel 11 Rz. 9. 651 Haag, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 17 EG Rz. 1; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 128.; Lurger, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1995, S. 17 (33); Franzen, in Streinz (Hrsg.), Art. 39 EGV Rz. 4; implizit Mülbert, ZHR 159 (1995), S. 2 (8). 652 Grabitz, Bürgerrecht, S. 68. Ähnlich Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (574), der von einem sachlogischen Vorrang der institutionellen vor der individuellen Gewährleistung spricht. Ebenso Schindler, Kollision, S. 149; vgl. auch Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 126 ff.; Reindl, Dienstleistungsfreiheit, S. 165. 653 Grundlegend Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 187, 250 f., 715 ff.; Ipsen/Nicolaysen, NJW 1964, S. 340 (341); vgl. auch Everson, in: Shaw/More (Hrsg.), New Legal Dynamics, S. 73 ff.; Mülbert, ZHR 159 (1995), S. 2 (8). Vgl. auch Böhm, ORDO 22 (1971), S. 11 (21), der in Bezug auf die Gewerbefreiheit zwar die privatautonome Ausgestaltung anerkennt, aber annimmt, dass diese rechts-, sozial- und wirtschaftspolitisch nur durch den sozialen Nutzen zu rechtfertigen sei und daher von politischen Mitbestimmungsrechten stark abgegrenzt werden könne. 654 Siehe dazu Streil, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, S. 312 ff. 655 Siehe oben S. 141 ff. 656 So nun ausdrücklich die Grundrechte-Charta in Kapitel V. Darin zeigt sich auch, dass Bürgerrechte als eine Untergruppe der Grundrechte angesehen werden.

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und nicht vorrangig als wirtschaftlichen Integrationsfaktor. Während die Bürgerrechte also ihre Berechtigung von Anfang an in der Rechtsstellung des Individuums hatten, haftet den Marktrechten, auch wenn diese sich inzwischen durch die Rechtsprechung zu subjektiven Rechten entwickelt haben, ein „Markt“-Charakter weiterhin an.657 Der Vergleich zu den Begrifflichkeiten von Markt- und Bürgerrechten zeigt, dass der subjektive Gehalt von Gemeinschaftsrechten nicht pauschal bewertet werden sollte, sondern dass er variieren kann. Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten soll den Unterschied hinsichtlich des subjektiven Gehalts und der Zielrichtung der Rechte zum Ausdruck bringen. b) Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten Eine eindeutige Trennung zwischen Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten begegnet allerdings Schwierigkeiten: So hat der EuGH grundrechtlichen Schutz auch solchen Rechten gewährt, die inhaltlich den Grundfreiheiten sehr nahe stehen und sich teilweise mit ihnen decken: zu denken ist dabei insbesondere an die Handels-, die Wirtschafts- und die Berufsfreiheit.658 In einigen Urteilen hat der Gerichtshof zwischen diesen von ihm als Grundrechte bezeichneten Rechten und der jeweils betroffenen Grundfreiheit nicht differenziert.659 Die zum Teil bestehende inhaltliche Übereinstimmung660 bedeutet aber nicht, dass die Trennung zwischen Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten sich erübrigt. Denn den Grundfreiheiten kommt neben der individuellrechtlichen Dimension in sehr viel stärkerem Maße als den Grundrechten eine institutionelle Gewährleistung der wirtschaftlichen Integration zu. Der grundrechtliche Schutz bestimmter in den Grundfreiheiten enthaltener Rechte bedeutet keine Gleichsetzung mit den Grundfreiheiten, sondern vor allem eine Stärkung ihres 657 Vgl. aber Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 174 f., der von Grundrechten des Marktbürgers spricht. 658 Siehe nur EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, S. 491 Rz. 14; verb. Rs. 63 und 147/84, Finsider, Slg. 1985, S. 2857 Rz. 23; Rs. 234/85, Keller, Slg. 1986, S. 2897 Rz. 6–8. Anschaulich auch Schroeder, JZ 1996, S. 254 (256): „[. . .] mit den Insignien eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Berufsfreiheit ausgestatteten Grundfreiheiten [. . .]“. 659 EuGH, Rs. 240/83, ADBHU, Slg. 1985, S. 5321 Rz. 9; zur Abgrenzung aber Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 20 f. 660 Vgl. auch VO 1612/68, bei der in den Begründungserwägungen von der Freizügigkeit als „Grundrecht des Arbeitnehmers“ die Rede ist (VO [EWG] 1612/68 des Rates vom 15.10.1968, ABl. L 257/2 v. 19.10.1968). In EuGH, Rs. 222/86 Unectef, Slg. 1987, S. 4097 Rz. 14 bezeichnet der EuGH den freien Zugang zur Beschäftigung als „Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer [. . .] individuell vom Vertrag verleihen ist“. In EuGH, Rs. C-295/93 Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 129, spricht er ähnlich von einem „individuellen Grundrechte auf freien Zugang zur Beschäftigung“.

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subjektiven Gehalts. Je weitergehend die Rechte der Grundfreiheiten auch durch Gemeinschafts-Grundrechte geschützt werden, desto stärker wird die Rechtsposition des Einzelnen. Die Grundfreiheiten werden dadurch „grundrechtlich aufgeladen“. Genauer muss man also sagen, dass die Grundfreiheiten zwar keine Grundrechte sind, aber Grundrechte verwirklichen können, also einen Grundrechtsgehalt haben. Der Begriff „Grundrechtsgehalt“ geht dabei auf Ingolf Pernice zurück, der allgemeiner davon ausging, dass konkrete Normen des Gemeinschaftsrechts, einbegriffen die Grundfreiheiten, Grundrechtsgehalte besitzen, die es durch „Auslegung und Anwendung zu erkennen, zu aktivieren und zu schützen“ gelte.661 Der Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten ist sogar ein entscheidender Faktor für ihr Verständnis im Lichte des Gemeinschaftsziels des Individualschutzes.662 Denn je stärker der Grundrechtsgehalt ausgeprägt ist, je stärker damit der individualrechtliche Gehalt der Grundfreiheit ist, desto höher ist die Bedeutung der Grundfreiheit für die Verwirklichung eines umfassenden Individualschutzes. Im Folgenden soll nun der Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten untersucht werden. Dabei bilden die wirtschaftlichen Grundrechte eine Art Grundlage, die durch die wirtschaftliche Ausrichtung der Grundfreiheiten nahe liegt. Darüber hinaus können aber auch Gemeinschafts-Grundrechte in den Grundfreiheiten enthalten sein, die weniger wirtschaftlich ausgerichtet sind und sich vielmehr auf die Person an sich beziehen. Es sind zwei Normen entscheidend: Das Recht auf Freizügigkeit aus Artikel 18 EG und das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG. Diese spielen durch ihre besondere Bedeutung im Gemeinschaftsgefüge insgesamt eine herausgehobene Rolle auch für das Verständnis der Grundfreiheiten. aa) Wirtschaftsgrundrechte (1) Grundrechtsqualität Die wirtschaftlichen Rechte der Handels-, Wirtschafts- und Berufsfreiheit sind durch den EuGH in ständiger Rechtsprechung als Gemeinschafts-Grundrechte anerkannt663 und werden inzwischen auch als Teil des acquis communau661 Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 136 und passim. Für die Grundfreiheiten speziell S. 68 ff., 125 ff. 662 Ähnlich Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 136. Siehe auch von der Groeben, FS Hallstein, S. 226 (235), der den grundrechtsähnlichen Charakter der Vertragsnormen bei der Vertragsauslegung berücksichtigt wissen will. Aus jüngerer Zeit Szczekalla, Grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 474; Suerbaum, EuR 2003, S. 390 (396). 663 Zur Handelsfreiheit EuGH, Rs. 230/78, Eridania Slg. 1979, S. 2749 Rz. 20 ff.; EuGH, Rs. 234/85, Strafsache gegen Franz Keller, Slg. 1986, S. 2897 Rz. 8; EuGH, Verb. Rs. C-248 u. 249/95, SAM Schiffahrt GmbH u. a./Bundesrepublik Deutschland Slg. 1997, S. I-4475 Rz. 72; C-200/96, Metronome Musik/Music Point Hokamp, Slg.

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taire angesehen.664 Dabei musste sich der Gerichtshof auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten stützen,665 da die EMRK keine solchen Grundrechte kennt. In Artikel 15 der Grundrechte-Charta wurde dann das Recht der Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten, niedergelegt und damit politisch legitimiert. In Artikel 16 der Charta erfolgte dies auch für die unternehmerische Freiheit, jedoch in eingeschränkter Form. Anerkannt wird dabei die unternehmerische Freiheit „nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“. Diese Einschränkung ist allerdings nicht relevant, soweit es auf die unternehmerische Freiheit im Bereich der Grundfreiheiten ankommt, da diese nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannt ist. (2) Wirtschaftsgrundrechte als Grundrechtsgehalt aller Grundfreiheiten Die Wirtschaftsgrundrechte sind in allen Grundfreiheiten in vergleichbarer Weise enthalten. Bei allen Grundfreiheiten handelt es sich um die Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit, die auf verschiedene Weise realisiert wird. Der grundrechtliche Schutz der wirtschaftlichen Freiheit ist damit Bestandteil aller Grundfreiheiten. Daneben steht die Handelsfreiheit den Produktverkehrsfreiheiten nahe, während die Berufsfreiheit inhaltlich eher den Personenverkehrsfreiheiten entspricht.666 Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich daraus nicht, obgleich durchaus Feinabstufungen bestehen. So kann der grundrechtliche Schutz der Berufsfreiheit bei freien Berufen unter Umständen höher einzustufen sein als der Schutz der Handelsfreiheit. Festhalten lässt sich indes, dass bei der reinen wirtschaftlichen Betätigung in jedem Fall sowohl bei den Produkt- als auch bei Personenverkehrsfreiheiten ein gewisser Grundrechtsgehalt gegeben ist.

1998, S. I-1953 Rz. 21. Zur Wirtschaftsfreiheit EuGH, Verb. Rs. 63/84 u. 147/84, Finsider/Kommission, Slg. 1985, S. 2857 Rz. 23 f.; EuGH, Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/ 88, Zuckerfabrik Süderditmarschen/Hauptzollamt Itzehoe bzw. Zuckerfabrik Soest/ Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991, S. I-415 Rz. 72 ff. Zur Berufsfreiheit EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rz. 14. 664 Ebenso Gialdino, CMLR 1995, S. 1089 (1113f) m. w. N.; Ott, EuZW 2000, S. 293 (295). 665 Vgl. dazu die Übersicht bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 6 EUVertrag Fn. 364; Notthoff, RIW 1994, S. 541 (543 f.). 666 So deutlich in Artikel 15 (2) der Grundrechte-Charta.

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bb) Das Recht auf Freizügigkeit (1) Grundrechtsqualität Das Recht auf Freizügigkeit ist das Recht, sich frei im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaates aufzuhalten und zu bewegen. Seine Grundrechtsqualität findet das Recht auf Freizügigkeit sowohl in Artikel 2 des 4. ZP zur EMRK als auch in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten.667 Auch die Grundrechte-Charta der EU bezeichnet das Recht, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“ in Artikel 45 (1) als „Bürgerrecht“.668 Die Formulierung ist damit fast wortgleich mit Artikel 18 EG, der im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft eingeführt wurde.669 Die Norm ist vom Berechtigten aus formuliert, dessen individuelle Rechtsposition im Mittelpunkt steht. Ein weitergehendes Interesse der Gemeinschaft an wirtschaftlicher Integration, welches eine Instrumentalisierung des subjektiven Rechts zur Folge haben könnte, ist mit ihm nicht verbunden.670 Die allein subjektive Ausrichtung des Rechts auf Freizügigkeit berechtigt daher zu der Annahme, dass es sich hierbei um ein „genuin europäisches“ Grundrecht im oben dargestellten Sinne handelt.671 Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass Artikel 18 EG nach richtiger Auffassung erstens eine unmittelbare Wirkung zukommt,672 zweitens sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Ge667 Ein Überblick über die einschlägigen Verfassungsnormen findet sich bei Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 74 ff. 668 Zur Unterscheidung von Bürger- und Marktrechten siehe oben S. 151 f. 669 Bei Artikel 18 EG steht das Recht allerdings unter dem Vorbehalt „der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“. 670 Die Entstehung eines solchen Grundrechts wurde auch durch die Entwicklung der Freizügigkeitsregeln im Bereich des Artikels 39 EG vorbereitet. Dort wurde das Recht auf Freizügigkeit von der aktiven Berufstätigkeit gelöst und durch drei Richtlinien des Rates v. 28.6.1990 auf Studenten, Rentner und sonstige Nichterwerbstätige ausgedehnt (RL 90/364 über das Aufenthaltsrecht, ABl. Nr. L 180/26 v. 13.7.1990, RL 90/365 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl. Nr. L 180/28 v. 13.7.1990 und RL 90/366 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. Nr. L 180/30 v. 13.7.1990). Der EuGH löste dann auch in der Entscheidung Rs. 85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, S. I-2681 Rz. 60 ff., das Recht auf Aufenthalt von einer wirtschaftlichen Tätigkeit. 671 Mancini, Democracy and Constitutionalism, S. 81; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (277); Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 18 EG-Vertrag Rz. 9; Fabis, Freizügigkeit, S. 95 ff., v. a. 99; Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 139 ff.; Neisser/Verschraegen, Europäische Union, S. 78; ähnlich Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rz. 788; Ophüls, ZHR 124 (1962) S. 136 (151) bezeichnete das Recht als „politisches Quasi-Bürgerrecht“; im Ansatz auch von der Groeben, FS Hallstein, S. 226 (239). 672 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 18 EGV Rz. 5; Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 18 EGV Rz. 9; Haag, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 18 EG Rz. 7, alle mit weiteren Nachweisen. Ausführlich Kotalakidis,

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meinschafts- und Unionsorgane bindet,673 und drittens eine Inländerdiskriminierung verbietet.674 Das Recht auf Freizügigkeit ist folglich ein europäisches Grundrecht. Dabei kommt ihm durch seine spezifische Normierung im EG-Vertrag, die für die Grundrechte insgesamt nicht durchgesetzt werden konnte, ein besonderes Gewicht zu. Auf diese Weise wird die außerordentliche Stellung der Freizügigkeit für die europäische Rechtsordnung ausdrücklich betont. (2) Das Recht auf Freizügigkeit als Grundrechtsgehalt der Personenfreiheiten Das Recht auf Freizügigkeit ist notwendiger Bestandteil der Personenverkehrsfreiheiten. Um diese auszuüben, muss die Berechtigte die Grenze überqueren und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Der (auch kurzzeitige) Wechsel des Aufenthaltsortes in einen anderen Mitgliedstaat ist Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Personenverkehrsfreiheiten, da ansonsten der grenzüberschreitende Faktor fehlt. Bei einer Ausübung der Personenverkehrsfreiheiten ist daher immer auch das Recht auf Freizügigkeit betroffen. Dies ist bei den Produktverkehrsfreiheiten anders. Sie stellen keine Umsetzung des Rechts auf Freizügigkeit dar. Zwar kann es sein, dass der Hersteller bzw. Verkäufer oder der Käufer zum Zwecke des Verkaufs oder Kaufs die Grenze überqueren will. Durch die Produktverkehrsfreiheiten geschützt ist aber nur die „Freiheit der Produkte“, ungehindert die Grenzen zu passieren. Wenn daher z. B. der Verkäufer in einen anderen Mitgliedstaat wechseln will, berührt dies den Anwendungsbereich der Produktverkehrsfreiheit nicht. Das Recht auf Freizügigkeit, das in solchen Fällen für den Verkäufer möglicherweise einschlägig ist, besteht unabhängig von seiner Verkaufstätigkeit und ist damit keine gleichzeitige Verwirklichung der Produktverkehrsfreiheit. Das Recht auf Freizügigkeit ist daher nicht Grundrechtsgehalt der Produktverkehrsfreiheiten. Das Recht auf Freizügigkeit als Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten ist daher bei einer Ausübung der Personenverkehrsfreiheiten immer verwirklicht, nicht aber bei einer Ausübung der Produktverkehrsfreiheiten. Damit besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Grundfreiheiten.675

Unionsbürgerschaft, S. 158 ff. A. A. Degen, DÖV 1993, S. 749 (752); Pechstein/Bunk, EuGRZ 1997, S. 547 ff.; Kaufmann-Bühler, in: Lenz (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Artikel 18 EGV Rz. 1. 673 Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 18 EG-Vertrag Rz. 8; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 18 Rz. 12. 674 Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 18 EG-Vertrag Rz. 8. 675 So auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 88. Blanpain, ArbuR 1996, S. 161 (167) betont dies (unbewusst?) mit seiner Aussage „als menschliches Wesen ist ein Fußballspieler keine Ware“.

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cc) Das allgemeine Diskriminierungsverbot (1) Grundrechtsqualität Unter dem allgemeinen Diskriminierungsverbot ist, wie oben ausgeführt, das Verbot zu verstehen, aufgrund der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren. Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist ein speziell europäisches Recht, dem in nationalen Verfassungen und Menschenrechtsverträgen zwar ähnliche Rechte gegenüberstehen,676 das jedoch keine genaue Entsprechung hat.677 In Artikel 21 (2) der Grundrechte-Charta wurde das allgemeine Diskriminierungsverbot als Grundrecht aufgenommen, in einer Fassung, die Artikel 12 EG inhaltlich entspricht. Wie beim Recht auf Freizügigkeit ist das ein Indiz für den Grundrechtscharakter der Norm. Bei Artikel 12 EG besteht darüber hinaus eine besonders enge Beziehung zu den vom EuGH eingeführten Gemeinschafts-Grundrechten, genauer zum allgemeinen Gleichheitssatz. Der Gerichtshof erkennt den allgemeinen Gleichheitssatz als Gemeinschafts-Grundrecht an und ordnet gleichzeitig Artikel 12 EG als spezielle Ausprägung dieses Grundrechts ein.678 Auch darin kommt der Grundrechtscharakter zum Ausdruck. Aus dieser doppelten Grundlage folgt ferner, dass Artikel 12 EG sowohl für Akte der Mitgliedstaaten als auch für Akte der Gemeinschaft gilt679 und auf Diskriminierungen von Inländern Anwendung findet.680 Damit ist das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG als Gemeinschafts-Grundrecht anzusehen. Wie bei dem Recht der Freizügigkeit handelt es sich dabei um ein „genuin europäisches Grundrecht“,681 welchem, wegen seiner Grundlage im Primärrecht, ein besonderes Gewicht zukommt. 676 Vgl. Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, wo als verbotene Differenzierungskriterien Abstammung, Rasse, Heimat und Herkunft aufgeführt sind; Artikel 13 Abs. 2 der Verfassung der Republik Portugal, wo dies ebenfalls für Rasse und Herkunftsland der Fall ist; § 6 des finnischen Grundgesetzes, wo das Kriterium Herkunft verankert ist; Art. 3 der Verfassung der Republik Italien, Art. 1 der Verfassung des Königreichs der Niederlande und Art. 14 der Verfassung des Königreichs Spanien führen als verbotenes Differenzierungskriterium Rasse auf. 677 Im Überblick Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 143. 678 Vgl. nur EuGH, Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, Slg. 1997, S. I-300 Rz. 14; Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 12 EGV Rz. 5; Sattler, in: FS Rauschning, S. 251 (254). 679 Im Ergebnis ebenso Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 12 EGV Rz. 43; Zuleeg, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Artikel 12 EG-Vertrag Rz. 16; Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 6 EUV Rz. 34; Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 12 EGV Rz. 21 f.; Lenz, in: Lenz (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Artikel 12 EGV Rz. 10. 680 Im Ergebnis ebenso Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 12 EGV Rz. 28. 681 Ebenso Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 6 EUV Rz. 34; Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Artikel 12 EGV Rz. 5; in Ansätzen Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Artikel 12 EGV Rz. 2; Matthies, FS Sasse, S. 115 (117); Baumgartner, Grundrechtsschutz, S. 140, in die Richtung auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rz. 788.

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(2) Diskriminierungsverbot und Produktverkehrsfreiheiten Das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG bezieht sich, wie oben ausgeführt,682 nur auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit, welches aber bei den Produktverkehrsfreiheiten keine Rolle spielt. Hält man sich den Schutzbereich der Produktverkehrsfreiheiten noch einmal vor Augen, ist der ungehinderte Grenzübertritt des Produkts geschützt. Die Person des Verkäufers oder Käufers und deren Staatsangehörigkeit ist für die Anwendung der Produktverkehrsfreiheiten irrelevant. Die Produktverkehrsfreiheiten sind von Diskriminierungen nur betroffen, wenn es um eine Diskriminierung aufgrund der Herkunft der Produkte geht. Damit fallen die Fälle, in denen der Käufer oder Dienstleistungsempfänger aufgrund seiner Staatsangehörigkeit nicht oder nur zu schlechteren Bedingungen Verträge abschließen kann oder umgekehrt die Fälle, in denen der Verkäufer oder Dienstleistende aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert wird, nicht in den Anwendungsbereich der Produktverkehrsfreiheiten. Dies wird deutlich an den nachfolgenden Beispielen, die stark vereinfacht sind, aber die zugrundeliegenden Grundsätze verdeutlichen und sich ohne weiteres auf komplexere Lebenssachverhalte übertragen lassen: Bei einer Diskriminierung im Anwendungsbereich der Produktverkehrsfreiheiten geht es um allein die Herkunft des Produkts: Entscheidet sich also eine belgische Käuferin, spanische Produkte nicht zu kaufen, betrifft das die Warenverkehrsfreiheit, nicht aber Artikel 12 EG, denn die Entscheidung zielt auf die Waren ab und nicht auf die Staatsangehörigkeit des Verkäufers. Das lässt sich leichter erkennen, wenn man annimmt, dass ein Belgier die spanischen Produkte verkauft. Hier ist das allgemeine Diskriminierungsverbot nicht betroffen. Achtet nun aber die Belgierin nicht mehr auf die Herkunft der Waren, sondern allein auf die Staatsangehörigkeit des Verkäufers, dann liegt ein Fall des Artikel 12 EG vor. Es handelt sich aber nicht mehr um einen Fall des Artikel 28 EG, denn es geht der Käuferin nicht um die Herkunft der Ware – also um die Frage der Einfuhr und des Verkaufs eines ausländischen Produkts – sondern allein um die Person des Verkäufers. Auch hier zeigt sich dies deutlicher an dem Gegenbeispiel: Verkauft ein Spanier belgische Produkte, würde die Belgierin in diesem Beispiel auch keine inländischen Produkte kaufen, da es auf die Waren eben nicht ankommt. Nur auf den ersten Blick schwieriger werden diese Fälle, wenn man die Frage der mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit berücksichtigt: Ein Österreicher weigert sich, britische Produkte zu kaufen. Grundsätzlich spielt dann die Staatsangehörigkeit des Verkäufers keine Rolle, der Verkäufer 682

Siehe oben S. 120 ff.

II. Grundfreiheiten als Förderung des Individualschutzes

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kann also Brite, Österreicher oder Franzose sein oder sogar die Staatsangehörigkeit eines nicht-europäischen Drittstaates haben. Eine Diskriminierung findet also nicht in Bezug auf den Verkäufer statt, sondern ausschließlich in Bezug auf die Herkunft des Produkts, welche zwar von Artikel 28 EG, nicht aber von Artikel 12 EG geschützt ist. Wenn man nun annimmt, der Österreicher mache das tatsächlich nur, um damit die Briten als Personen zu diskriminieren, dann kann man die Frage nach einer unzulässigen mittelbaren Diskriminierung nach Artikel 12 EG dennoch stellen. Denn selbst wenn nun auch Verkäufer betroffen sind, die nicht britisch sind, aber britische Produkte vertreiben, kann man argumentieren, dass dies jedenfalls im Ergebnis zu einer Diskriminierung britischer Händler führe, die ja überwiegend diese Produkte verkaufen. Obgleich dies möglich ist und gegebenenfalls eine Beeinträchtigung von Artikel 12 EG vorliegen kann, bedeutet dies nicht, dass die Produktverkehrsfreiheiten in solchen Fällen durch Artikel 12 EG grundrechtlich aufgeladen werden. Vielmehr bleibt es dabei, dass Artikel 28 EG nicht vor Diskriminierungen des Verkäufers schützt, sondern vor einer Beschränkung des Zugangs von ausländischen Produkten zu anderen nationalen Märkten. Handelt es sich um eine Diskriminierung aufgrund der Person des Verkaufenden, geschieht dies unabhängig von der Warenverkehrsfreiheit und ist unabhängig davon ein Fall des Artikel 12 EG. Einer Vermischung der beiden Anwendungsbereiche steht die unterschiedliche Schutzrichtung der Normen entgegen. Beide Vorschriften sind in solchen Fällen vielmehr im Sinne einer Normenkonkurrenz nebeneinander einschlägig. Das gilt ebenso für die passive Produktverkehrsfreiheit, also der Freiheit, Produkte aus anderen Mitgliedstaaten ungehindert in den eigenen Mitgliedstaat einzuführen. Hierunter fallen die Fälle der sog. Ausländerklauseln, also den Fällen, in denen Ausländer keine oder nur ungünstigere Verträge, beispielsweise Versicherungsverträge angeboten bekommen. Dabei kommt darauf an, ob verhindert werden soll, dass das Produkt ins Ausland eingeführt wird oder ob es um die Person des Käufers geht. Geht es allein um die Person des Käufers, dann würden derartige Klauseln auch für Ausländer Anwendung finden, die im Inland wohnen. Bietet beispielsweise eine italienische Versicherung für Ausländer nur teurere Tarife an als für Italiener und gilt dies unabhängig vom Wohnort des Ausländers, dann ist das zunächst kein Fall des grenzüberschreitenden Produktverkehrs, denn der teuere Tarif knüpft nicht an den Grenzübertritt der Dienstleistung an, sondern an die Person des Dienstleistungsempfänger und ist damit allein ein Fall des Artikel 12 EG. Kommt es in diesem Beispiel auch zu einem Grenzübertritt, der den Anwendungsbereich des Artikel 49 EG eröffnet, stehen beide Normen nebeneinander und vermischen sich nicht. Insbesondere wird Artikel 12 EG damit nicht Grundrechtsgehalt der Dienstleistungsfreiheit, da die Ausrichtung beider Normen an unterschiedliche Tatsachen anknüpft. Auch hier kann der umgekehrte Fall zur Verdeutlichung dienen: Unterscheidet die italienische Versicherung in ihren Tarifen zwischen Kunden im Inland und solchen im

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

Ausland, so ist dies ein Fall des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs. Dann liegt aber keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor. Denn auch Italiener, die im Ausland wohnen, müssten danach teurere Tarife zahlen. Anknüpfungspunkt ist hier also allein der Grenzübertritt der Versicherung, nicht die Person des Versicherungsnehmers. Wie bei der aktiven Produktverkehrsfreiheit stellt sich die Frage einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Auch hier ist aber zwischen der Verwirklichung von Artikel 12 EG und einer – möglicherweise gleichzeitig – gegebenen Verwirklichung der Produktsverkehrsfreiheiten klar zu unterscheiden. Artikel 12 EG bildet dabei keinen Grundrechtsgehalt der Produktverkehrsfreiheiten, sondern steht in solchen Fällen eigenständig neben diesen. (3) Das allgemeine Diskriminierungsverbot als Grundrechtsgehalt allein der Personenfreiheiten Das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG ist damit ähnlich dem Recht auf Freizügigkeit nicht in allen Grundfreiheiten in gleicher Weise als Grundrechtsgehalt verankert, sondern findet allein in den Personenverkehrsfreiheiten seinen konkreten Niederschlag,683 wenn die Beeinträchtigung durch eine Ungleichbehandlung erfolgt.684 Artikel 12 EG führt daher zu einem stärkerem Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten nur in den Fällen, in denen es sich um Diskriminierungen im Rahmen der Personenverkehrsfreiheiten handelt.685 dd) Ergebnis Der Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten ist unterschiedlich ausgeprägt. Alle Grundfreiheiten sind durch die wirtschaftlichen Grundrechte grundrechtlich aufgeladen. Bei den Personenverkehrsfreiheiten kommt als Grundrechtsgehalt eine Verwirklichung des Rechts auf Freizügigkeit hinzu. Bei Diskriminierungen im Rahmen der Personenverkehrsfreiheiten ist schließlich Artikel 12 EG als weiterer grundrechtlicher Gehalt gegeben.

683 Zur Konkretisierung des Artikel 12 EG durch die Grundfreiheiten EuGH, Rs. 251/83 Haug-Adrion, Slg. 1984, S. 4277 Rz. 14 für Artikel 39, 43 und 49 EG; allgemein Steindorff, EG-Vertrag, S. 286; vgl. auch Bleckmann, RIW 1985, S. 917 (920); Kischel, EuGRZ 1997, S. 1 (3). 684 Vgl. auch Bryde/Kleindiek, Jura 1999, S. 36 (43), die in Bezug auf Artikel 3 GG annehmen, dass eine Freiheitsbeeinträchtigung durch Diskriminierung besonders schwer wiegt und damit verschärfte Anforderungen an die Gleichheitsprüfung auslöst. 685 Dies wird oft in der Betonung des individualschützenden Charakters der Personenverkehrsfreiheiten deutlich, siehe z. B. bei Shaw, MLR 3 (1998), S. 293 (300); O’Leary, Community Citizenship, S. 69.

III. Grundfreiheiten als Gefährdung des Individualschutzes

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4. Förderung des Individualschutzes durch Bindung Privater an die Grundfreiheiten Unter dem Aspekt des Individualschutzes könnte eine umfassende Bindung Privater an alle Grundfreiheiten sinnvoll sein: Eine solche Bindungswirkung der Grundfreiheiten verwirklicht den Schutz der darin enthaltenen Grundrechte am effektivsten. Wenn daher auch Privaten eine Beachtung der Grundfreiheiten auferlegt würde, dann würden die subjektiven Rechte vor einer Verletzung durch private Maßnahmen bestmöglich geschützt. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, dass der Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten unterschiedlich ist. Auch bei dem geringeren individualrechtlichen Gehalt der Produktverkehrsfreiheiten wäre der Schutz der auch darin enthaltenen Gemeinschafts-Grundrechte durch eine Bindung Privater verstärkt. Eine umfassende Bindung Privater an die Grundfreiheiten wäre damit unter dem Aspekt des Schutzes der in den Grundfreiheiten verwirklichten individuellen Rechte die effektivste Lösung. Eine Differenzierung wäre aus diesem Blickwinkel nicht angezeigt.

5. Zusammenfassung Alle Grundfreiheiten sind individualschützende Rechte, es besteht zwischen ihnen jedoch ein wesentlicher Unterschied in der Intensität ihres subjektivrechtlichen Charakters. Dieser wird bestimmt durch den Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten, der in dreifacher Weise abgestuft ist. Auf der ersten Stufe ist ein geringer Grundrechtsgehalt gegeben, der sich durch die wirtschaftlichen Grundrechte ergibt, die in allen Grundfreiheiten in zumindest vergleichbarer Weise verwirklicht sind. Auf der zweiten Stufe ist der Grundrechtsgehalt verstärkt durch das europäische Grundrecht auf Freizügigkeit, welches nur bei den Personenverkehrsfreiheiten gegeben ist. Auf der dritten Stufe schließlich kommt eine Umsetzung des allgemeinen Diskriminierungsverbots hinzu. Dies ist nur bei Diskriminierungshandlungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten der Fall. Eine umfassende Bindungswirkung der Grundfreiheiten würde die darin enthaltenen subjektiven Rechte stärken und damit den Individualschutz fördern.

III. Bindung Privater an die Grundfreiheiten als Gefährdung des Individualschutzes Durch eine umfassende Bindung Privater an die Grundfreiheiten wird jedoch vernachlässigt, dass damit immer auch eine Freiheitsbeschränkung derjenigen verbunden ist, deren Handeln auf diese Weise vorgeschrieben wird. Das wird zu einem relevanten rechtlichen Problem, wenn die so beschränkte Freiheit grundrechtlich gewährleistet ist. Dann stehen sich die durch die Grundfreiheit ge-

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währleistete grundrechtliche Position einer Person und die ebenfalls grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre einer anderen gegenüber. Um den Konflikt zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten einordnen zu können, wird zunächst geklärt, inwieweit die privaten Handlungen, die zu Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten führen, grundrechtlich geschützt sind. Sodann wird die Kollision der Grundfreiheiten und der in den Beeinträchtigungshandlungen verwirklichten Gemeinschafts-Grundrechte dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die Kollision der Rechte nur mit Hilfe einer Abwägung zwischen den betroffenen subjektivrechtlichen Positionen der privaten Akteure vermieden werden kann. 1. Beeinträchtigungshandlungen als Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit Private Handlungen, die Grundfreiheiten beeinträchtigen, können in unterschiedlicher Weise durch Gemeinschafts-Grundrechte geschützt sein.686 Nachfolgend sollen die dabei hauptsächlich in Betracht kommenden Grundrechte im Hinblick auf ihre europäische Geltung und den dabei relevanten Schutzbereich untersucht werden. Dabei wird, entsprechend der Differenzierung des EuGH, zwischen rechtsgeschäftlichen Maßnahmen und tatsächlichem Handeln unterschieden.687 a) Rechtsgeschäftliche Maßnahmen Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Maßnahmen kommen als schützende Gemeinschafts-Grundrechte die Vertragsfreiheit sowie die Vereinigungsfreiheit in Betracht. aa) Vertragsfreiheit Im Bereich der Grundfreiheiten spielt vor allem die Vertragsfreiheit eine herausragende Rolle. Eine Verwirklichung der Grundfreiheiten erfolgt fast durchweg auf der Basis von Verträgen – speziell auf der Basis von Kauf-, Arbeitsund Dienstverträgen. Die Bedeutung der Vertragsfreiheit besteht dabei in zweifacher Richtung: Auf der einen Seite lassen sich ohne die Vertragsfreiheit die 686 Dies verkennen Reichold, ZEuP 1998, S. 434 (450) und von Wilmowsky, JZ 1996, S. 590 (596). 687 Ähnlich zu vertraglichen und außervertraglichen Rechtsbeziehungen Privater im Hinblick auf die Drittwirkung der deutschen Grundrechte und den Problemen bei mangelnder Unterscheidung Leisner, Grundrechte, S. 319, der aber vor allem auf deliktsrechtliche Maßnahmen abstellt, wenn es um außervertragliche Rechtsbeziehungen geht.

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Grundfreiheiten nicht verwirklichen. Auf der anderen Seite ist durch die Notwendigkeit rechtsgeschäftlicher Beziehungen zur Verwirklichung der Grundfreiheiten die Gefährdung der Grundfreiheiten dabei besonders akut. Die Vertragsfreiheit wird weder im EU-/EG-Vertrag noch in der europäischen Grundrechte-Charta aufgeführt. In der Literatur wird die grundrechtliche Qualität der Vertragsfreiheit dennoch bejaht.688 Der EuGH hat sich bisher nicht ausdrücklich zur europäischen Grundrechtsqualität der Vertragsfreiheit geäußert. In einer Entscheidung Spanien/Kommission hat er den Grundsatz der Vertragsfreiheit jedoch ohne weiteres zugrunde gelegt.689 Ferner hat er in mehreren Entscheidungen Grundrechte anerkannt, die Teilaspekte der allgemeinen Vertragsfreiheit beinhalten bzw. darstellen. Dies gilt insbesondere für die Grundrechte der Handels- und Wirtschaftsfreiheit, die die Vertragsfreiheit voraussetzen.690 Die Vertragsfreiheit wird damit implizit als Gemeinschafts-Grundrecht anerkannt. Eine europarechtliche Grundrechtsqualität der Vertragsfreiheit ist daher zu bejahen. Die Vertragsfreiheit als wichtigste Konkretisierung der Privatautonomie stellt dabei das Recht dar, eigenständig rechtsgeschäftliche Vereinbarungen zu treffen. Private dürfen demzufolge in ihren rechtlichen Vereinbarungen autonom darüber entscheiden, wie sie ihre Rechte und Pflichten festlegen. Dabei ist, wie sich später noch genauer zeigen wird, zwischen der Abschlussfreiheit und der Inhaltsfreiheit zu unterscheiden. Abschlussfreiheit bedeutet die Freiheit einer Person, mit einer anderen Person eine rechtliche Beziehung einzugehen (positive Abschlussfreiheit) bzw. sich zu entscheiden, dies nicht zu tun (negative Abschlussfreiheit). Inhaltsfreiheit meint das Recht, den Inhalt einer Vereinbarung grundsätzlich frei zu bestimmen. bb) Vereinigungsfreiheit Insbesondere durch die Entscheidungen des EuGH zu den Sportverbänden691 wurde das Gefährdungspotential kollektivrechtlicher Regelungen deutlich. Dabei kommt für einen Schutz dieser Regelungen vor allem die Vereinigungsfreiheit in Betracht. In der Entscheidung Bosman bejahte der EuGH ausdrücklich die Geltung der Vereinigungsfreiheit als gemeinschaftsrechtliches Grundrecht.692 Dies 688 Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 21 f.; Oppermann, Europarecht, Rz. 414; Knobel, Vertragsfreiheit, S. 197; Heinrich, Formale Freiheit, S. 160; Ganten, Drittwirkung, S. 181; angedeutet auch bei Müller-Graff, in: Dauses (Hrsg.), HbEWR, A I Rz. 128. 689 EuGH, Rs. 240/97, Spanien/Kommission, Slg. 1999, S. I-6571 Rz. 99. Gegen eine „in bestimmter Form“ (Hervorhebung im Original) gewährleistete europäische Vertragsfreiheit Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 168. 690 Siehe dazu die Entscheidungen in Fn. 663. Vgl. auch Heinrich, Formale Freiheit, S. 160. 691 Siehe oben S. 30 ff., 36 ff.

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wurde inzwischen mehrfach bestätigt und kann als ständige Rechtsprechung angesehen werden, wie der Gerichtshof selbst betont.693 Grundlage dafür ist insbesondere Artikel 11 EMRK. Auch in den Verfassungen fast aller Mitgliedstaaten ist die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht anerkannt.694 Inzwischen ist die Vereinigungsfreiheit in Artikel 12 Abs. 1 der Grundrechte-Charta aufgenommen, was ihre Geltung als Gemeinschafts-Grundrecht unterstreicht. Die Grundrechtsqualität der Vereinigungsfreiheit kann damit auf europäischer Ebene angenommen werden. Die Vereinigungsfreiheit umfasst neben dem Recht des Einzelnen, einen Verein zu gründen, vor allem die Freiheit von Vereinen oder Verbänden, ihre internen Angelegenheiten selbständig zu regeln.695 Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Beeinträchtigungsmaßnahmen ist vor allem letzteres wesentlich. Ähnlich wie bei der Vertragsfreiheit ist dabei zu unterscheiden zwischen dem Recht, Einzelne in eine Vereinigung aufzunehmen bzw. ihre Aufnahme abzulehnen und dem Recht, die internen Regelungen der Vereinigung inhaltlich auszugestalten. cc) Ergebnis Sowohl individuelle als auch kollektive rechtsgeschäftliche Maßnahmen Privater genießen daher europarechtlich grundrechtlichen Schutz. b) Tatsächliches Handeln Für einen grundrechtlichen Schutz möglicher tatsächlicher Beeinträchtigungshandlungen kommen vor allem die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Streikrecht bzw. die Koalitionsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit in Betracht. Die folgende Untersuchung wird sich auf diese hier wesentlichen Rechte beschränken. Zwar sind im Hinblick auf den Schutz von Störungshandlungen andere Grundrechte, wie etwa die Wissenschaftsfreiheit, grundsätzlich ebenfalls denkbar, ihre Relevanz ist jedoch so gering, dass insoweit auf eine Darstellung verzichtet werden kann. 692 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 79; ebenso EuGH, Rs. C-235/92, Montecatini SpA, Slg 1999, S. I-4539 Rz. 137. 693 EuGH, Rs. C-235/92 P, Montecatini/Kommission, Slg. 1999, S. I-4539, Rz. 137; EuGH, Rs. T-222/99, T-327/99 und T-329/99, Martinez, de Gaulle u. a./Europäisches Parlament, Slg. 1999, S. II-3397 Rz. 231. 694 Siehe die ausführliche Übersicht bei Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 59 ff. 695 Vgl. EuGH, Rs. 175/73, Massa und Kortner/Rat (Gewerkschaftsbund), Slg. 1975, S. 917 Rz. 14/16; Röthel, ZEuP 2002, S. 58 (73); Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 58 bzgl. Art. 11 EMRK. Für das deutsche Grundrecht, vgl. nur Bauer, in: Dreier, GG, Art. 9 Rz. 38 ff.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rz. 16; implizit auch Löwer, in: v. Münch, GG, Art. 9 Rz. 16.

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aa) Meinungsfreiheit Die Meinungsfreiheit kann bei solchen Handlungen bedeutsam werden, bei denen eine (potentielle) Beeinträchtigung der Grundfreiheiten auf der Kundgabe von Meinungen oder Informationen beruht. Dabei können negative bzw. positive Äußerungen über ausländische bzw. inländische Personen oder Waren beeinträchtigende Auswirkungen auf das Kauf- oder sonstiges grundfreiheitsrelevantes Verhalten anderer beabsichtigen und erreichen.696 Die Grundrechtsqualität der Meinungsfreiheit steht europarechtlich auf gesicherter Grundlage. Der Gerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung die Meinungsfreiheit als Gemeinschafts-Grundrecht an.697 Dies ist in der Literatur auf Zustimmung gestoßen.698 Politisch fand die Rechtsprechung in Artikel 11 der Europäischen Grundrechte-Charta ihre Bestätigung. Dieser entspricht wörtlich dem Artikel 10 Abs. 1 EMRK,699 der dem EuGH, sehr viel mehr als die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten,700 bisher als Grundlage der näheren Ausgestaltung des Gemeinschafts-Grundrechts diente.701 Artikel 11 der europäischen Grundrechte-Charta lautet: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“

In dieser Form kann die Meinungsfreiheit daher als europäisches Grundrecht angesehen werden. Die Meinungsfreiheit ist sowohl für eine freiheitliche Demokratie als auch für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen von zentraler Bedeutung.702 Sie bie696

Näher zu möglichen Fallgestaltungen unten S. 212 ff. Siehe zuletzt EuGH, Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 79, ferner EuGH, Rs. C-260/89 ERT, Slg. 1991, S. I-2925; EuGH, Rs. C-368/95 Familiapress/Heinrich Bauer Verlag, Slg. 1997, S. I-3689 Rz. 25; EuGH, Rs. C-235/92 P Montecatini SpA, Slg. 1999, S. I-4539 Rz. 137; EuGH, Rs. C-150/98 P Wirtschaftsund Sozialausschuß, Slg. 1999, S. I-8877 Rz. 41. 698 Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 83 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 6 EU-Vertrag Rz. 115 ff.; Kühling, EuGRZ 1997, S. 296 (297). 699 Dazu aus neuerer Zeit Kugelmann, EuGRZ 2003, S. 16 ff. 700 Zu der Bezugnahme auf die ERMK statt auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH, Kühling, EuGRZ 1997, S. 296 (297). Zu der Meinungsfreiheit in der Verfassungen vgl. nur Paczolay/Bitskey (Hrsg.), Bericht zur 10. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, Freedom of Expression in the Jurisprudence of Constitutional Courts, Budapest 1997. 701 EuGH, Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 79, EuGH, Rs. C368/95 Familiapress/Heinrich Bauer Verlag, Slg. 1997, S. I-3689 Rz. 26; ebenso GA Fennelly, Schlussanträge zu Rs. C-376/98 „Tabakrichtlinie“, Slg. 2000 S. I-2247 Rz. 153; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 6 EUV Rz. 118. 702 Vgl. nur EuGH, C-219/91, Ter Voort, Slg. 1992, S. I-5485; Frowein, in: ders./ Peukert, EMRK, Art. 10 Rz. 1. 697

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tet die Gewährleistung einer offenen geistigen Auseinandersetzung, vor allem, aber nicht nur, über politische Auffassungen.703 Der Schutzbereich ist entsprechend weit auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGMR), an der sich der EuGH orientiert,704 verdienen alle Formen der Meinungsäußerung Schutz nach Artikel 10 Abs. 1 EMRK. Darunter fällt auch die Kunstfreiheit, die im Rahmen der EMRK nicht als eigenständiges Grundrecht geschützt ist. Denn die Schaffung, Verbreitung, Interpretation und Ausstellung von Kunstwerken trägt zum Austausch von Ideen und Meinungen bei.705 Als Meinungsäußerungen werden neben politischen Informationen auch solche wirtschaftlicher Natur geschützt, vor allem also Werbung und andere Informationen, die der Verkaufsförderung dienen sollen.706 Ferner werden sowohl Werturteile als auch Tatsachenbehauptungen vom Schutzbereich gedeckt, wobei der EuGMR die Unterscheidung grundsätzlich nicht für relevant erachtet und nur im Rahmen der Rechtfertigungsmöglichkeiten nach der Art der Äußerung differenziert.707 Insgesamt gilt, dass grundsätzlich die Freiheit, eine Meinung zu äußern, ungeachtet ihres Inhalts geschützt wird.708 Daher sind grundsätzlich auch verletzende, schockierende oder beunruhigende Meinungen geschützt.709 Allerdings genießen nach der Rechtsprechung des EuGMR rassistische Äußerungen keinen Schutz durch die Meinungsfreiheit.710 Aufgrund der engen Anlehnung des EuGH an die Rechtsprechung des EuGMR ist anzuneh703

Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 10 Rz. 1. Siehe die Nachweise in Fn. 701. 705 EuGMR, Urteil v. 24.5.1988, Müller u. a. („Fri-Art 81“), Ser. A Nr. 133 = NJW 1989, S. 379. 706 EuGMR, Urteil v. 20.1.1989, markt intern GmbH und Beermann/Bundesrepublik Deutschland, Ser. A Nr. 165 = EuGRZ 1996, S. 302 Rz. 26; GA Fennelly, Schlussanträge zu Rs. C-376/98 „Tabakrichtlinie“, Slg. 2000, S. I-2247 Rz. 153. Dazu auch Laeuchli Bosshard, Meinungsäußerungsfreiheit, S. 19. 707 Laeuchli Bosshard, Meinungsäußerungsfreiheit, S. 18 f. 708 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 6 EUV Rz. 118 m. w. N.; Laeuchli Bosshard, Meinungsäußerungsfreiheit, S. 18. 709 EuGMR, Urteil v. 7.12.1976, Handyside, Ser. A Nr. 24, S. 21 = EuGRZ 1977, S. 38 (42); Urteil v. 29.6.1992, Thorgeirson, Ser. A Nr. 239, S. 27. Dabei kann der Inhalt allerdings im Rahmen der Eingriffsmöglichkeiten relevant werden. Denn eine Beschränkung der Meinungsfreiheit muss sich an den „von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ ausrichten (Artikel 52 Abs. 1 der Grundrechte-Charta). Der EuGMR verlangt, dass eine Beschränkung zur Erreichung des Zwecks in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist (vgl. nur Urteil v. 29.6.1992, Thorgeirson, Ser. A Nr. 239 Rz. 60; Urteil v. 24.2.1994, Casado Coca/Spanien, Ser. A Nr. 285; Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 10 Rz. 26), d.h., dass ein „dringendes soziales Bedürfnis“ nach einer Beschränkung besteht (vgl. nur EuGMR, Urteil v. 24.5.1988, Müller u. a. („Fri-Art 81“), Ser. A Nr. 133 Rz. 32). Auch der EuGH stellt den Bezug zum Demokratieprinzip her (EuGH, C-219/91, Ter Voort, Slg. 1992, S. I-5485 Rz. 38), so dass, insbesondere in Anbetracht der bisherigen Parallelen im Verständnis der Meinungsfreiheit, anzunehmen ist, dass er dem EuGMR insoweit folgen wird. 710 EuGMR, Urteil v. 23.9.1994, Jersild/Dänemark, Ser. A Nr. 298 Rz. 33 ff. 704

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men, dass dies auch für das gemeinschaftsrechtliche Grundrecht der Meinungsfreiheit gilt. bb) Versammlungsfreiheit Durch Versammlungen, insbesondere durch Blockaden, können die Grundfreiheiten ebenfalls beeinträchtigt werden. Dabei ist der Schutz derartiger Beeinträchtigungen durch die Versammlungsfreiheit unterschiedlich zu beurteilen. Der EuGH hat sich zur Grundrechtsqualität der Versammlungsfreiheit nunmehr in der Entscheidung Schmidberger ausdrücklich geäußert.711 Dabei hat er dabei angenommen, dass die Versammlungsfreiheit europarechtlichen Grundrechtsschutz genießt.712 Die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten beinhalten ebenso wie die EMRK ein Grundrecht der Versammlungsfreiheit.713 Gemäß Artikel 6 Abs. 2 EU bilden diese beiden Quellen die Grundlage des unionalen Grundrechtsschutzes, so dass die Versammlungsfreiheit auch europarechtlich als Grundrecht anzuerkennen ist. Entsprechend hat die Europäische Grundrechte-Charta in Artikel 12 Abs. 1 das Recht der Versammlungsfreiheit aufgenommen. Nach Artikel 12 Abs. 1 der Grundrechte-Charta stellt die Versammlungsfreiheit das Recht dar, sich „insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln“. Dies entspricht im wesentlichen Artikel 11 Abs. 1 EMRK, der schlicht besagt: „Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln.“ Eine Versammlung ist das Zusammenkommen von Menschen zum gemeinsamen Zweck der Erörterung oder Kundgabe von Meinungen.714 Sie geht der Meinungsfreiheit in ihrem Anwendungsbereich als lex specialis vor,715 und ist wie diese grundlegend für eine freiheitliche Demokratie und die dafür erforderliche Meinungsbildung.716 Daher ist die Versammlungsfreiheit grundsätzlich weit auszulegen. Allerdings beinhaltet die Norm eine Einschränkung auf 711

C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 77 ff. EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694 Rz. 79; aus der Literatur siehe nur Ganten, Drittwirkung, S. 187 m. w. N.; Schärf, EuZW 1998, S. 617 (618), die dies ausdrücklich vertreten haben; vgl. auch Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 91 ff. 713 Zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten, siehe die Übersicht bei Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 91 ff. 714 EuGMR, Urteil v. 21.6.1988, Plattform für Ärzte, Ser. A Nr. 139 = EuGRZ 1989, S. 522 (524); Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 2. 715 EuGMR, Urteil v. 26.4.1991, Ezelin/Frankreich, Ser. A Nr. 202 Rz. 35. Siehe aber EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694 Rz. 79, 86, der beide Grundrechte nebeneinander prüft. 716 Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 2; Ganten, Drittwirkung, S. 188. 712

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„friedliche“ Versammlungen. Eine Versammlung zur gewaltsamen Durchsetzung von Zielen fällt bereits nicht in den Schutzbereich.717 Für die Unfriedlichkeit einer Versammlung reicht es dabei nicht aus, dass einzelne Teilnehmer gewalttätig oder aggressiv werden.718 Fraglich war bislang, ob europarechtlich Blockadeversammlungen, also Versammlungen, durch die Strassen oder Zugänge derart blockiert werden, dass sie für andere Personen nicht oder nur unter Schwierigkeiten passiert werden können, per se als unfriedlich anzusehen sind.719 Entscheidungen des EuGMR gibt es zu dieser Frage nicht.720 Entsprechend wird das Problem in der Literatur zur EMRK kaum behandelt.721 Hingegen ist die Rechtsprechung zu dieser Frage in einigen Mitgliedstaaten sehr differenziert. Zur Bestimmung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards kann entsprechend darauf Bezug genommen werden. In Deutschland hat das BVerfG entschieden, dass Blockadeversammlungen grundsätzlich als friedlich im Sinne des Artikels 8 GG anzusehen sind.722 In Österreich folgt der VfGH dieser Auffassung.723 Auch in Dänemark wird eine Blockade als friedliche Versammlung gewertet724 und selbst in Großbritannien, wo es bis zur Einführung des Human Rights Act 1998, der im Oktober 2000 in Kraft trat, keine Festschreibung einer grundrechtlichen Versammlungsfreiheit gab, können Blockaden grundrechtlichen Schutz genießen.725 Die Verfassungs717 Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 4. Zum deutschen Recht vgl. zuletzt BVerfG, NJW 2002, S. 1031 ff. Siehe auch EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 86, der darauf hinweist, dass die „öffentliche Demonstration nicht den Zweck hatte, den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft zu beeinträchtigen“. 718 Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 4. 719 Dafür Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 4; ihm folgend Ganten, Drittwirkung, S. 188; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 91. 720 Allerdings hat der EuGMR in Bezug auf Art. 10 EMRK entschieden, dass die Blockade von Nutzmaschinen, die zum Zwecke einer Autobahnerweiterung eingesetzt werden sollten, grds. Schutz genießt, Urteil v. 23.9.1998, Steel u. a./Vereinigtes Königreich, Reports of Judgments and Decisions (RJD) 1998-VII, 2719, 2742, Ziff. 92 iVm 15, dazu Hoffmeister, EuGRZ 2000, S. 358 (359). 721 Eine Ausnahme ist Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 4. 722 BVerfGE 92, S. 1 (16 ff.); E 87, S. 399 (406); zuletzt BVerfG, NJW 2002, S. 1031 ff. (1033). Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser in Deutschland sehr differenziert geführten Diskussion (vgl. nur Hoffmann-Riem, in: AK-GG, Art. 8 Rz. 24; Kunig, in: von Münch/ders., Art. 8 Rz. 28; Bertuleit, Sitzdemonstrationen, S. 82 ff.) muss an dieser Stelle unterbleiben, da die deutsche Grundrechtsdogmatik für die Bestimmung des europarechtlichen Grundrechtsschutzes nur mittelbar und eingeschränkt als eine von mehreren Quellen eine Rolle spielt. 723 VfGH, Urteil v. 26.2.1997, B 2728/96; Urteil v. 30.11.1995 B 262-267/95, Urteil v. 30.11.1995, B 2229/94, Die Zivilgerichte sehen dies zum Teil anders, vgl. nur OGH, Urteil v. 28.4.1999, NBr. 70b49/98a. Alle Entscheidungen sind unter http://www.ris. bka.gv.at/ einsehbar. Vgl. dazu auch Zierl, Blockaden, unter http://www.salzburg.com/ cgi-bin/sn/druckansicht.pl. 724 Siehe nur Gralle, Grundrechtsschutz, S. 351.

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traditionen der Mitgliedstaaten gehen damit, soweit ersichtlich, dahin, Blockadeversammlungen nicht ohne weiteres als unfriedlich zu qualifizieren. Dies überzeugt auch in Anbetracht des Zwecks der Versammlungsfreiheit, der auf die Ermöglichung der kollektiven Meinungskundgabe gerichtet ist. Für diese Kundgabe kann es wichtig oder hilfreich sein, eine Blockade zu veranstalten, sei es, um sich so mehr Gehör bei mehr (blockierten) Personen zu verschaffen, sei es, um der Aussage größeren, unter Umständen auch symbolischen Wert zu geben. Das damit verfolgte Anliegen, Aufmerksamkeit bei Anwesenden und den Medien zu erzielen, ist von der Versammlungsfreiheit grundsätzlich mit umfasst.726 Ob die Blockade im Einzelfall unzulässig ist, hängt von weiteren Faktoren ab, insbesondere von der Dauer und Art der Störung. Von vornherein ist eine Blockade aber nicht dem Schutz der Versammlungsfreiheit entzogen. Entsprechend hat auch der EuGH in der Entscheidung Schmidberger geurteilt.727 Dort hat er festgestellt, dass unstreitig sei, dass es sich bei den Brennerblockaden um eine Versammlung handele, mit der Grundrechte ausgeübt worden seien.728 Eine mögliche Unfriedlichkeit der Versammlung, die sich aus der stundenlangen Blockade der Brennerautobahn ergeben haben könnte, wurde nicht einmal diskutiert. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass friedliche Versammlungen, zu denen grundsätzlich auch Blockadeversammlungen gehören, im Rahmen des Unionsrechts grundrechtlich geschützt werden. cc) Koalitionsfreiheit Die Koalitionsfreiheit, als Sonderfall der Vereinigungsfreiheit, kann speziell in Bezug auf Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, die sich durch Streiks ergeben könnten, relevant werden. Dabei ist zu überlegen, dass Streiks von grenzüberschreitenden Zulieferern, Transportunternehmen oder Abnehmern negative Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr und damit auf die Grundfreiheiten haben könnten.729 Die Koalitionsfreiheit stellt das Recht dar, Vereinigungen, speziell Gewerkschaften, zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zu bilden und sich ihnen anzuschließen. Sie genießt grundsätzlich bereits als Unterfall der Vereinigungsfreiheit ebenso wie diese grundrechtlichen Schutz.730 In Artikel 11 EMRK sowie in den Verfassungen einiger Mitgliedstaaten wird die Koalitionsfreiheit da725 726 727 728 729 730

Dazu Feldman, Civil Liberties, S. 815 ff. So auch BVerfG, NJW 2001, S. 1411 (1413); NJW 2002, S. 1031 (1034). EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 85 ff. Ebenda, Rz. 86. Siehe dazu auch Ganten, Drittwirkung, S. 186. Siehe oben S. 163 f.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

rüber hinaus gesondert als Grundrecht ausgewiesen.731 Dabei kommt dem Recht auf kollektive Maßnahmen, zu denen auch der Streik gehört, besondere Bedeutung zu.732 Entsprechend ist in Artikel 28 der Europäischen Grundrechte-Charta das Recht der Arbeitnehmer(innen) und Arbeitgeber(innen) „bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen“ aufgenommen worden. Angesichts dieser Grundlagen ist auf Unionsebene von einem grundrechtlichen Schutz der Koalitionsfreiheit, der das Recht auf Streik umfasst, auszugehen.733 dd) Allgemeine Handlungsfreiheit Ein Gemeinschafts-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit käme für den Schutz der tatsächlichen Maßnahmen in Betracht, die nicht in den Anwendungsbereich eines speziellen Grundrechts fallen. Dabei ist allerdings bereits die Existenz eines solches allgemeinen Grundrechts ungewiss. Dem Gerichtshof wurde 1987 in der Sache Rau/BALM734 die Frage vorgelegt, ob eine bestimmte gemeinschaftsrechtliche Maßnahme gegen die „Grundsätze der freien Berufsausübung, der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Wettbewerbsfreiheit“ verstoße. Der EuGH verneinte einen Verstoß bereits im Ansatz und brauchte daher nicht näher auf diese Grundsätze einzugehen. Obwohl er zunächst ebenfalls von „Grundsätzen“ sprach,735 formulierte er später, dass daher keine Verletzung der „angeführten Grundrechte“ vorliege.736 Auch in der Entscheidung Hoechst737 klingt die Annahme eines Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit an. Dort führte der Gerichtshof aus, dass Eingriffe in die Sphäre der privaten Betätigung einer gesetzlichen Grundlage bedürften und nicht willkürlich erfolgen dürften.738 Dies setzt eine Rechtsposition voraus, in die die Gemein731 Art. 23 I, II der griechischen Verfassung; Art. 40 der italienischen Verfassung, Art. 58 der portugiesischen Verfassung, Art. 28 II der spanischen Verfassung; Kap. 2 § 17 der schwedischen Verfassung; Art. 14 II der finnischen Verfassung. Im Ansatz Art. 9 Abs. 3 GG, Art. 23 der Koordinierten Verfassung Belgiens. 732 Vgl. nur EuGMR, Urteil v. 6.2.1976, Schmidt u. Dahlström/Schweden, Ser. A Nr. 21, S. 16 = EuGRZ 1976, S. 68 (70); Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 11 Rz. 13. 733 So auch Ganten, Drittwirkung, S. 186 m. w. N.; Fabis, Freizügigkeit, S. 171; offen gelassen Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 62 (69); Hergenröder, in: Heinemann (Hrsg.), Das kollektive Arbeitsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 49 ff. Zurückhaltender Coen, in: FS Bleckmann, S. 1 (6). Schiek, Europäisches Arbeitsrecht, S. 256, und Birk, RdA 1995, S. 71 ff., verweisen auf die Geltung des Rechts auf Arbeitskampf in allen europäischen Mitgliedstaaten. 734 EuGH, Rs. 133–136/85, Walter Rau u. a./Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Slg. 1987, S. 2289. 735 Ebenda, Rz. 18. 736 Ebenda, Rz. 19. 737 EuGH, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, S. I-2859.

III. Grundfreiheiten als Gefährdung des Individualschutzes

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schaft nicht ohne weiteres eingreifen darf. Entsprechend wurde darin zum Teil der Ansatz eines Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit gesehen.739 Dies geht indes sehr weit, zumal der Gerichtshof, soweit ersichtlich, ein solches Recht danach nicht wieder angedeutet oder gar ausdrücklich angenommen hat. Dagegen spricht auch die Grundrechte-Charta, in der nur spezielle Rechte der Person niedergelegt sind; ein Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit findet sich dort nicht.740 Schließlich kennen auch nur wenige Mitgliedstaaten ein Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit,741 so dass auch die europäischen Verfassungstraditionen gegen die Annahme eines solchen Rechts sprechen. Selbst wenn man allerdings davon ausgeht, dass ein Gemeinschafts-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit existiert, steht damit der Schutzbereich nicht fest. Gegen ein weites Verständnis, welches jegliches menschliche Verhalten umfasst,742 spricht neben grundsätzlichen Bedenken743 auch das fehlende Bedürfnis nach einem umfassenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene, da dort geringere Eingriffsmöglichkeiten gegeben sind als auf nationaler Ebene. Damit kann jedenfalls ausgeschlossen werden, dass ein Verhalten, welches sich gegen die Freiheit und das Eigentum anderer richtet und gewalttätig oder aggressiv ist, grundrechtlichen Schutz genießt.744 Es ist daher davon auszugehen, dass ein Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, so es denn – was sehr fraglich ist – überhaupt europarechtlich gewährleistet ist, jedenfalls kein gewalttätiges oder zerstörerisches Verhalten umfasst. 738

Ebenda, Rz. 19. Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 26 spricht davon, dass sich hier ein solches Recht anbahnt. Ebenso Kirchhof, EuR Beiheft 1/1991, S. 24; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 136. Grundsätzlich gegen ein europäisches Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit von Bogdandy, JZ 2001, S. 157 (168); dafür wohl Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (43). 740 Artikel 6 der Charta, der das Recht auf „Freiheit und Sicherheit“ normiert, ist nicht darauf angelegt, ein solches allgemeines Recht zu gewährleisten. Er ist Artikel 5 der ERMK nachgebildet, der sich allein auf „Freiheit“ im Sinne von körperlicher Freiheit bezieht (Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 5 Rz. 4 m. w. N.; Cohn-Jonathan, Convention, S. 315 f.) 741 Nur Frankreich, Griechenland und Deutschland kennen das Recht. Siehe dazu Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 135. 742 In Deutschland, das ein Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit kennt, wird die Frage nach einer „weiten“ oder „engen“ Auslegung seit langem diskutiert, vgl. nur für ein enges Verständnis Grimm, abweichende Meinung zu BVerfGE 80, S. 136 (152 ff.) „Reiten im Walde“; für ein weites Verständnis Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 175 ff. Auf die europäischen Grundrechte bezogen Schmitz, JZ 2001, S. 833 (837). 743 Vgl. dazu nur Duttge, NJW 1997, S. 3353 ff. 744 Vgl. hingegen Ganten, Drittwirkung, S. 184, der auch die Anwendung von Zwang zunächst dem Grundrecht auf Handlungsfreiheit unterwirft, dann aber ein Verbot aufgrund der Grundfreiheiten als verhältnismäßige Beschränkung ansieht. 739

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

ee) Ergebnis Die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit sind als Gemeinschafts-Grundrechte geschützt. Ob ein Gemeinschafts-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit existiert, ist hingegen zweifelhaft, jedenfalls wäre ein solches Recht eng auszulegen und umfasste kein gewalttätiges oder zerstörerisches Verhalten. c) Zusammenfassung Private Handlungen, die zu Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten führen, können sich als Verwirklichung europarechtlich gewährleisteter grundrechtlicher Freiheit darstellen. Bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen ergibt sich ein Schutz durch die Gemeinschafts-Grundrechte der Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit. Bei tatsächlichem Handeln kommen als Gemeinschafts-Grundrechte vor allem die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit in Betracht. Die Annahme eines Gemeinschafts-Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit ist auf europäischer Ebene zweifelhaft oder jedenfalls nur mit einem sehr eingeschränkten Schutzbereich anzuerkennen. 2. Grundrechtsbeschränkung als Gefährdung des Individualschutzes Auch wenn private Handlungen zu einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten führen, muss für den Individualschutz der mögliche Grundrechtsschutz der Handlungen beachtet werden. Eine Einschränkung der Gemeinschafts-Grundrechte durch eine umfassende Bindung Privater an die Grundfreiheiten wirkt in zweifacher Richtung: Zwar wird durch eine umfassende Bindung der Individualschutz ein erhöhter Schutz der Grundfreiheiten gefördert. Andererseits wirkt die damit verbundene Einschränkung der Gemeinschafts-Grundrechte für den Individualschutz nachteilig. Die Bindung Privater an die Grundfreiheiten kann damit als Grundrechtsbeschränkung auch als Gefährdung des Individualschutzes anzusehen sein.

IV. Effektiver Individualschutz durch Abwägung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten Ein effektiver Individualschutz lässt sich daher nur dann verwirklichen, wenn beide Perspektiven – die Förderung des Schutzes individualrechtlicher Gehalte der Grundfreiheiten durch eine umfassende Bindungswirkung und die Gefährdung grundrechtlicher Positionen durch die damit verbundene Einschränkung zulässiger Verhaltensweisen hinreichend berücksichtigt werden.

IV. Effektiver Individualschutz

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1. Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten In der Entscheidung Bosman wurde zum ersten Mal die Kollision745 von Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten vom EuGH angesprochen: Die Sportverbände hatten vorgetragen, ihre streitgegenständlichen Regelungen seien als Teil ihrer Vereinigungsfreiheit geschützt. Der Gerichtshof erkannte die grundrechtliche Geltung der Vereinigungsfreiheit, und damit auch das Recht, interne Regelungen frei festzulegen, grundsätzlich an. Allerdings erklärte er, die Regelungen seien weder erforderlich, um die Ausübung der Freiheit zu gewährleisten noch eine unausweichliche Folge dieser Freiheit und lehnte den Einwand damit ab.746 Der Konflikt zwischen den Gemeinschafts-Grundrechten und den Grundfreiheiten wurde damit zum ersten Mal vom EuGH angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Im Urteil Schmidberger hingegen wurde der Konflikt zwischen Grundfreiheiten, speziell der Warenverkehrsfreiheit, und den Gemeinschafts-Grundrechten in der konkreten Gestalt der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit näher behandelt.747 Nachdem der Gerichtshof zunächst eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit durch die Brennerblockaden bzw. deren Genehmigungen gegeben hielt, prüfte er im Rahmen der Rechtfertigung das Vorbringen der Behörden, mit der Genehmigung der Blockaden das Grundrecht der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit berücksichtigt zu haben. Nachdem der EuGH kurz darlegte, dass die Grundrechte Teil der europäischen Rechtsordnung bilden, kam er zu der Frage, wie „die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft mit den aus einer im Vertrag verankerten Grundfreiheit fließenden Erfordernissen in Einklang gebracht werden können.“748 Der Gerichtshof begründete dann für die Warenverkehrsfreiheit anhand des EG-Vertrags sowie für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit anhand von Artikel 10 und 11 EMRK, dass Beschränkungen aller betroffenen Rechte und Freiheiten grundsätzlich zulässig seien, also keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen könnten.749 Hieraus folgert er: 745 Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 167, hat in Bezug auf deutsche Grundrechte darauf hingewiesen, dass der Ausdruck „Kollision der Grundrechte“ irreführend sei: „Die gegenläufige Bewegung der grundrechtlichen Anforderungen endet stets vor dem Frontalzusammenstoß“. Eine Kollision ergebe sich nicht zwischen den Grundrechten, sondern nur zwischen ihren Schutzbereichen. Der Schutzbereich eines Grundrechts sei aber nicht identisch mit dem Grundrecht selbst. Ähnlich im Ansatz Hesse, Grundzüge, Rz. 317. Aus Praktikabilitätsgründen soll hier dennoch an der üblichen Ausdrucksweise festgehalten werden, wobei diese als Kurzformel für die Kollision der Schutzbereiche der Grundrechte bzw. -freiheiten anzusehen ist. Allgemeiner wird hier auch von „Konflikt“ gesprochen. 746 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 79 f. 747 EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 77 ff. 748 Ebenda, Rz. 77. 749 Ebenda, Rz. 79 ff.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

„Demgemäß sind die bestehenden Interessen abzuwägen und es ist anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist.“750

Während der EuGH in Bosman die Kollision von Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten nur kurz anspricht und im Ergebnis die Geltung der Grundfreiheiten trotz eventuell entgegenstehender Gemeinschafts-Grundrechte ohne Einschränkungen annimmt, ist in Schmidberger die offen diskutierte Kollision der Grundfreiheiten und der Gemeinschafts-Grundrechte zugunsten letzterer aufgelöst. Ob dies eine grundsätzliche Änderung der Rechtsprechung darstellt oder ob sie – im Grundssatz jedenfalls – derselben Systematik folgt, wird sich nachfolgend zeigen.751 Dazu soll der Konflikt zwischen den beiden Normgruppen, der im Hinblick auf einen effektiven Individualschutz besteht, zunächst kurz in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen dargestellt werden, bevor dann eine Systematik entwickelt wird, die eine Lösungsfindung dieses Konflikts erleichtert. a) Rechtsgeschäftliche Maßnahmen Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Maßnahmen sind zwei Konstellationen zu unterscheiden – die im Bereich der Abschlussfreiheit und die im Bereich der Inhaltsfreiheit.752 Die Abschlussfreiheit schützt dabei die Entscheidungsfreiheit einer privaten Partei, mit einer anderen ein Rechtsgeschäft abzuschließen, d.h. einen Vertrag einzugehen oder eine Vereinigung zu gründen (positive Abschlussfreiheit), oder auch dies nicht zu tun (negative Abschlussfreiheit). Die Abschlussfreiheit genießt dabei einen hohen Stellenwert und wird teilweise als Inbegriff der Privatautonomie angesehen. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten können sich nur im Bereich der negativen Abschlussfreiheit ergeben, dadurch also, dass eine Person sich entscheidet, mit einer anderen keine rechtliche Beziehung einzugehen. Auf Vereinigungen bezogen, machen die Mitglieder der Vereinigung von ihrer negativen Vereinigungsfreiheit Gebrauch; dabei ist hier allerdings nur der Fall relevant, dass die Aufnahme einer Person in die Vereinigung durch dessen Mitglieder abgelehnt wird.753 Ist zur Ausübung der Grundfreiheit der Abschluss des Vertrages oder die Aufnahme in die Vereinigung notwendig, stehen sich die Grundfreiheit und das Gemeinschafts-Grundrecht in seiner negativen Form gegenüber. Der Konflikt besteht dann zwischen dem Gemeinschafts-Grundrecht der einen und der Grundfreiheit der anderen Partei. 750

Ebenda, Rz. 81. Siehe unten S. 192 ff. 752 Siehe dazu auch oben S. 56. 753 Der Fall der negativen Vereinigungsfreiheit, in dem ein Einzelner sich entscheidet, einer Vereinigung nicht beizutreten, wirft im Hinblick auf eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten kein Problem auf. 751

IV. Effektiver Individualschutz

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Inhaltsfreiheit beinhaltet, ergänzend zur Abschlussfreiheit, das Recht, den Inhalt der getroffenen rechtlichen Vereinbarung grundsätzlich frei zu bestimmen. Die Inhaltsfreiheit setzt also grundsätzlich754 eine Ausübung der Abschlussfreiheit in ihrer positiven Form voraus. Im Bereich der Inhaltsfreiheit geht es daher in Bezug auf Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten darum, dass zwar eine rechtsgeschäftliche Beziehung zustande gekommen oder die Aufnahme in die Vereinigung erfolgt ist, dass aber der Inhalt der Vereinbarung zwischen den Privaten zu einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten führt. Die Beurteilung derartiger Fälle der Inhaltsfreiheit wird dadurch erschwert, dass formal beide Parteien die Beeinträchtigung durch Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten Inhaltsfreiheit herbeigeführt, der Regelung also zugestimmt haben.755 Hier werden formal zumindest auf der Seite einer Partei Grundfreiheiten und gleichzeitig Gemeinschafts-Grundrechte wirksam, denen die Gemeinschafts-Grundrechte der anderen Partei gegenüberstehen. Es stehen daher im Prinzip die GemeinschaftsGrundrechte beider Parteien mit den Grundfreiheiten einer Partei im Konflikt. Die Grundfreiheiten werden (formal) durch eine privatautonom zustande gekommene Vereinbarung beider Parteien eingeschränkt.756 b) Tatsächliches Handeln Wie oben dargestellt, genießen Zwangsanwendungen keinen grundrechtlichen Schutz.757 Hierbei entsteht folglich auch kein Konflikt zwischen GemeinschaftsGrundrechten und Grundfreiheiten. Soweit allerdings die faktische Handlung grundrechtsgeschützt ist, kommt es, wie bei der Vertragsabschlußfreiheit, zu einem Konflikt zwischen der Grundfreiheit der einen und dem GemeinschaftsGrundrecht der anderen Person. Das Problem einer Zustimmung des Beeinträchtigten zu seiner Beschränkung existiert hier nicht. Zwar ist es theoretisch denkbar, dass auch bei tatsächlichen Handlungen der Verletzte einer Beeinträchtigung seiner Grundfreiheiten zustimmen kann. Im Gegensatz zu rechtsgeschäftlichen Beeinträchtigungen ist eine solche Zustimmung aber keine Voraussetzung für das Wirksamwerden der Beeinträchtigung selbst.

754 Auch bei Fällen des Kontrahierungszwanges ist theoretisch eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch den Inhalt der erzwungenen Vereinbarung denkbar, diese Fälle können aber vernachlässigt werden. 755 Dazu näher unten S. 181 ff. 756 Zur deutschen Drittwirkungsproblematik in solchen Fällen, Leisner, Grundrechte, S. 319 f. 757 Siehe oben S. 170 f.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

c) Ergebnis Bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen besteht im Rahmen der (negativen) Abschlussfreiheit die Kollision zwischen den Grundfreiheiten einer Person mit den Gemeinschafts-Grundrechten der anderen Person. Bei tatsächlichen Handlungen ist es im Grundsatz ebenso, es kollidiert die Grundfreiheit einer Person mit den Grundrechten der anderen Person.758 Bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen im Bereich der Inhaltsfreiheit wird hingegen die Konfliktlage dadurch erschwert, dass die Grundfreiheiten einer Person (formal) durch die Ausübung grundrechtlich geschützter Gestaltungsfreiheit beider Parteien beeinträchtigt werden. Dieser Fall bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. 2. Auflösung der Kollisionslage Um die Kollisionslage aufzulösen, sind zwei Wege denkbar. Zum einen kann ein Vorrang einer Rechtsposition angenommen, zum anderen kann ein Ausgleich zwischen beiden Rechtspositionen gesucht werden. Entscheidend ist dabei das Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten. a) Vorrang der Grundfreiheiten? In Betracht kommt zunächst ein allgemeiner Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber den Gemeinschafts-Grundrechten. Damit wäre im Konfliktfall immer zugunsten der Grundfreiheiten zu entscheiden. In den Verträgen ist ein solches Hierarchieverhältnis nicht normiert: Die Grundfreiheiten gehören zum primären Gemeinschaftsrecht, sind also auf der höchsten Stufe im europäischen Rechtssystem angesiedelt. Die Grundrechte befinden sich jedoch formell, wie sich aus Artikel 6 EU ergibt, auf derselben Stufe wie die Grundfreiheiten. Allerdings könnte bei den Grundfreiheiten deren herausgehobene Stellung im Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen sein. Diese könnte für einen grundsätzlichen Vorrang der Grundfreiheiten sprechen.759 Ein grundsätzlicher Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber den Gemeinschafts-Grundrechten vernachlässigt aber, dass die 758 Der Umstand, dass neben dem Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten auch andere Grundrechte, wie etwa die Kunstfreiheit beim Export von Kunstwerken, zu beachten sind, kann hier zunächst vernachlässigt werden. Sie sind in die anzustellenden Abwägungen ggfs. einzustellen. 759 So implizit GA Lenz, in: Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 (5013). Im Ansatz auch Weiler, Yale LJ 100 (1991), S. 2403 (2478); Hilf, NJW 1984, S. 517 (522), der dazu auf die begrenzte Zahl von Ausnahmen der Grundfreiheiten verweist, deren Ausweitung nicht dem Willen der Vertragsgeber entspreche. Abgesehen von dem durchaus fragwürdigen Verweis auf die Vertragsgeber (siehe oben S. 88 ff.), ist es gerade das Merkmal einer Kollision, dass für sie keine Lösungen vorgegeben sind. Sie sind als „immanente Schranken“ dennoch relevant.

IV. Effektiver Individualschutz

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Gemeinschafts-Grundrechte ebenfalls eine große Bedeutung in der europäischen Rechtsordnung haben. Artikel 6 Abs. 1 EU normiert sie inzwischen sogar als Grundlage der Union.760 Die Grundrechte können daher keineswegs grundsätzlich unterhalb der Grundfreiheiten angesiedelt werden; sie sind vielmehr hierarchisch auf derselben Stufe einzuordnen.761 b) Vorrang der Gemeinschafts-Grundrechte? Eine Ausnahme des Gleichrangs der beiden Normgruppen besteht für das Grundrecht auf Leben und das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe. Der Gerichtshof hat in der Entscheidung Schmidberger darauf hingewiesen, dass, anders als bei allen übrigen Gemeinschafts-Grundrechten, diese nach den Regelungen der EMRK keinen Beschränkungen unterliegen.762 Damit klingt an, dass bei diesen Rechten durchaus ein Rangverhältnis zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten gegeben ist – allerdings anders als eben erörtert – mit einem Vorrang dieser Grundrechte. Dies überzeugt durchaus. Da es sich bei diesen Fällen aber um sehr begrenzte Ausnahmen handelt, wird hierauf nicht weiter eingegangen, denn ein allgemeines Rangverhältnis kann daraus keineswegs entnommen werden.763 c) Notwendigkeit einer Abwägung Damit stehen sich grundsätzlich gleichrangige Rechte gegenüber, deren Spannungsverhältnis aufgelöst werden muss. Im deutschen Verfassungsrecht wurde hierfür die Theorie der „praktischen Konkordanz“ entwickelt. Danach muss versucht werden, die sich widersprechenden Rechte so in Einklang zu bringen, dass im Ergebnis eine größtmögliche Verwirklichung beider Rechte erfolgt.764 Die Bedeutung der konfligierenden Rechte für den spezifischen Konflikt wird geprüft und verglichen, um dann nach Wegen zu suchen, wie das eine Recht so 760 Vgl. auch Hirsch, in: Mélanges Schockweiler, S. 177 (181), der die Grundrechte als „schlechthin konstitutiv“ für die Eigenschaft der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft ansieht. 761 Coppel/O’Neill, CMLR 1992, S. 669 (690): „It would seem then that there is no distinction and hence no hierarchical relationship being posited by the European Court between the basic human rights outlined, for example, in the European Convention on Human Rights and the free market rights arising out of the treaties of the European Communities.“; ebenso Ganten, Drittwirkung, S. 176; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 232; Bleckmann, DVBl. 1978, S. 462; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 89; Szczekalla, Grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 474. 762 EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 80. 763 Vlg. Aber Müller-Graff, in Streinz (Hrsg.), Art. 49 EGV Rz. 69, der die Privatautonomie als immanente Schranke der Grundfreiheiten ansieht und damit im Regelfall einen Vorrang der Gemeinschafts-Grundrechte annimmt, es sei es liegt ein „unverhältnismäßiger“ Eingriff in die Grundfreiheiten vor.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

weit wie möglich geschützt werden kann, während gleichzeitig das andere Recht so wenig wie möglich beschränkt wird und umgekehrt. Dieser Abwägungsprozess ist das zentrale Element bei der Lösung des Konflikts gleichrangiger Rechte. Generalanwalt Lenz wies im Fall Bosman ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Abwägung zwischen der Vereinigungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit hin.765 Er lehnte jedoch die „einfache Güterabwägung“ ab und nahm stattdessen einen Vorrang der Arbeitnehmerfreizügigkeit an, die nur bei „überragend wichtigen Verbandsinteressen“ eingeschränkt werden könne.766 Ohne an dieser Stelle zu dem Ergebnis Stellung zu nehmen,767 ist doch das Vorgehen des Generalanwalts problematisch. Denn es beruht auf der pauschalen Annahme eines grundsätzlichen Vorrangs der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die sich aus den Verträgen gerade nicht ergibt. Inwieweit im Einzelfall ein solcher Vorrang gerechtfertigt ist, bedarf der genaueren Untersuchung, die im Prozess der Abwägung enthalten ist, der damit gerade kein „einfacher“ Vorgang ist.768 Entsprechend hat daher auch der Gerichtshof im Fall Schmidberger ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer Abwägung der bestehenden Interessen Rekurs genommen.769 Es muss daher in einer solchen Abwägung zwischen den Grundfreiheiten und den entgegenstehenden Gemeinschafts-Grundrechten ein Ergebnis gefunden werden, das der Bedeutung aller Rechte im jeweiligen Verhältnis Rechnung trägt und auf diese Weise dem Individualschutz allgemein zu einem effet utile verhilft.770

764 Vgl. nur Hesse, Grundzüge, Rz. 317 ff.; Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 395 ff.; Rüfner, in: FG BVerfG, S. 453 (466 f.); Lerche, in: FS BVerfG, Bd. I, S. 333 (347 ff.); Schlink, Abwägung im Verfassungsstaat, passim. 765 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4930 (I-5013). 766 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 (I-5013). 767 Dazu unten S. 203 ff. 768 Die Abwägung ist allein deshalb kein „einfacher Vorgang“, weil eine Strukturierung der die Abwägung leitenden Regeln und Prinzipien bisher ungelöst ist. Vgl. nur Ladeur, ARSP 1983, S. 463 ff. Nickel, Gleichheit, S. 139, sieht damit eine Flexibilisierung der richterlichen Entscheidungsfähigkeit gegeben. 769 EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 81. 770 Grds. für eine Abwägung, Canaris, Fs Schmidt, S. 29 (53 f.); Szczekalla, Grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 474; Schroeder, Sport und Europäische Integration, S. 198; Gramlich, DÖV 1996, S. 801 (810); Schindler, Kollision, S. 162 ff.; Ganten, Drittwirkung, S. 176 ff.; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 232 f.; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (26 ff.); Hobe/Tietje, JuS 1996, S. 486 (490); im Ansatz Matthies, FS Sasse, S. 115 (126); eher dagegen Jaensch, Drittwirkung, S. 138 f.

IV. Effektiver Individualschutz

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3. Allgemeine Vorgaben für die Abwägung a) Gleichwertigkeit der Interessen im Rahmen der Abwägung Auch Dierk Schindler geht von der Notwendigkeit einer Abwägung zwischen den Grundfreiheiten und den Gemeinschafts-Grundrechten aus. Im Rahmen einer solchen Abwägung nimmt er aber ein unterschiedliches „abstraktes Gewicht“ der Grundfreiheiten und der damit kollidierenden Gemeinschafts-Grundrechte an, das sich in ihrem „materiellen Charakter“ gründet.771 Schindler geht davon aus, dass es sich bei den Gemeinschafts-Grundrechten um primär individuelle Gewährleistungen, bei den Grundfreiheiten hingegen um primär institutionelle Garantien handelt. Daran ändere sich auch nichts, wenn den Grundrechten eine institutionelle und den Grundfreiheiten eine individuelle Dimension zugestanden würde.772 Der ursprüngliche materielle Charakter würde dadurch verstärkt, nicht aber geändert. Es bleibe daher in jedem Fall bei einem unterschiedlichen materiellen Gehalt der Gemeinschafts-Grundrechte und Grundfreiheiten. Dieser materielle Gehalt bestimme zugleich die Eingriffsschwelle für eine Beeinträchtigung. Damit sei im Kollisionsfall ein relevanter Eingriff in die Grundfreiheit erst dann gegeben, wenn durch die Handlung nicht nur ein individuelles Recht des Grundfreiheitsberechtigten, sondern der Bestand der freien Binnenmarktordnung gefährdet werde. Anderenfalls überwiege das Gemeinschafts-Grundrecht, da dieses auch durch individuelle Maßnahmen beeinträchtigt werden könne.773 Obgleich offen bleibt, wann nach dieser Unterscheidung der „Bestand der Binnenmarktsordnung“ gefährdet wäre, ist die Unterscheidung zwischen Gemeinschafts-Grundrechten und Grundfreiheiten als individuelle Gewährleistungen bzw. institutionelle Garantien grundsätzlich ein überzeugender Ansatz. Wie oben dargelegt, ist eben aus diesem Grund eine allgemeine Gleichsetzung von Grundrechten und Grundfreiheiten auch nicht angemessen.774 Allerdings vernachlässigt Schindler den Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten, der ihre institutionelle Ausrichtung im Wesen verändert.775 Schindler sieht diese Möglichkeit zwar, wenn er auf die parallele Anwendbarkeit von Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten zugunsten einer Person hinweist.776 Dabei lehnt er formell ab, dass damit den Grundfreiheiten mehr Gewicht verliehen werde.777 Das Problem löst er sodann über eine „doppelte Abwägung“.778 Wie 771 772 773 774 775 776 777 778

Schindler, Kollision, S. 176 ff. So auch Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (27 f.). Schindler, Kollision, S. 180. Siehe oben S. 148 ff. Siehe oben S. 152 ff. Schindler, Kollision, S. 180. Anders Ganten, Drittwirkung, S. 178. Schindler, Kollision, S. 180.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

dies im Einzelnen aussehen soll, bleibt allerdings offen. Es kann aber nichts anderes bedeuten, als dass neben den Grundfreiheiten mit ihrer institutionellen Bedeutung auch die Gemeinschafts-Grundrechte der beeinträchtigten Person zum Tragen kommen und mit den Gemeinschafts-Grundrechten der anderen Person abzuwägen sind. Damit wird der rein institutionelle Gehalt der Grundfreiheiten zwar nicht selbst angetastet, er wird aber in der Abwägung durch die parallel anwendbaren Grundrechte und ihr individuelles Gewicht verstärkt. Die These eines unterschiedlichen „materiellen Charakters“ der Grundfreiheiten und der Gemeinschafts-Grundrechte ist damit keine hilfreiche Beschreibung. Sie verdeckt im Gegenteil die Bedeutung des Grundrechtsgehalts der Grundfreiheiten bzw. der parallel zu den Grundfreiheiten anwendbaren GemeinschaftsGrundrechte, die bei der Abwägung wesentlich sind. Die Abwägung muss daher differenziert den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt der jeweils betroffenen Gemeinschafts-Grundrechte und Grundfreiheiten berücksichtigen, ohne dass dabei von vornherein eine Gewichtung zwischen diesen beiden Normgruppen vorgenommen werden kann. Auch der Europäische Gerichtshof hat in Schmidberger daher zu Recht keine unterschiedliche Gewichtung der Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechte angenommen, sondern seiner Abwägung die betroffenen Rechte und Interessen in ihrer konkreten Ausgestaltung zugrundegelegt.779 b) Differenzierter Grundrechtsgehalt als wesentliches Kriterium im Rahmen der Abwägung Erst eine Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller konkreten Umständen ermöglicht daher eine Aussage über die Bindungswirkung der Grundfreiheiten gegenüber Privaten. Es lässt sich dennoch eine gewisse Systematik für die Abwägung ausmachen, wie nachfolgend im Kapitel 5 aufgezeigt werden wird.780 Vor dem Hintergrund einer effektiven Verwirklichung des gemeinschaftsrechtlichen Zieles des Individualschutzes ist dabei der differenzierte Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten von entscheidender Bedeutung. Wie oben festgestellt wurde, wäre es – ungeachtet des Grundrechtsgehalts der betroffenen Grundfreiheit – für ihren Schutz sinnvoll, eine umfassende Bindungswirkung auch für Private anzunehmen. Angesichts des damit zugleich gegebenen Gefährdungspotentials für entgegenstehende Gemeinschafts-Grundrechte der zu bindenden Privaten ist dies aber gerade nicht sinnvoll, und steht somit einer effektiven und gleichmäßigen Verwirklichung des Individualschutzes entgegen. Im Rahmen der notwendigen Abwägung zum Ausgleich der betroffenen Rechte und Freiheiten kommt es dann aber in erheblichem Umfang auf ihren jeweiligen 779 780

EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 81 ff. Siehe unten S. 192 ff.

IV. Effektiver Individualschutz

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individualschützenden Charakter an. Auf der Seite der Grundfreiheiten ist damit ihr unterschiedlicher Grundrechtsgehalt zu beachten. Dieser gebietet, entgegen den vielfach in der Literatur laut werdenden Einheitlichkeitsbestrebungen,781 eine Differenzierung zwischen den Grundfreiheiten, erlaubt aber dennoch eine Systematisierung ihrer Bindungswirkung. 4. Besonderheit bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen: Privatautonome Konfliktlösung? Bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen Privater besteht, wie oben bereits angedeutet,782 eine Besonderheit im Hinblick auf die Inhaltsfreiheit. Dort stellt sich vorab die grundsätzliche Frage, ob die notwendige Abwägung zwischen Grundfreiheiten auf der einen und Gemeinschafts-Grundrechten auf der anderen Seite bereits durch die Parteien des Rechtsgeschäfts wirksam vorgenommen wurde und sich damit eine Kollisionslösung seitens des Staates verbietet. Bei allen Vereinbarungen, seien sie individuell oder kollektiv, stimmen die Parteien dem Inhalt zu. Zum Wirksamwerden der Vereinbarung ist eine Ausübung der Privatautonomie auf beiden Seiten sogar Voraussetzung. Der Betroffene führt die vertraglich herbeigeführte Beeinträchtigung seiner Grundfreiheiten damit selbst (mit) herbei.783 Fraglich ist, ob und wie sich eine von den Parteien getroffene Vereinbarung auf die Abwägung auswirkt. Geprüft werden muss zum einen, ob der Interessenausgleich durch die Parteien überhaupt vorgenommen werden darf. Dabei kommt es darauf an, ob die betroffenen Rechte zur Disposition des Berechtigten stehen, ob er also rechtsgeschäftlich über sie verfügen kann. Zum anderen ist entscheidend, unter welchen Umständen eine vertragliche Vereinbarung als privatautonom vorgenommene Abwägung der Interessen und Rechte anzuerkennen ist. Die Bedeutung der privatautonomen Zustimmung des Beeinträchtigten ist bisher vom EuGH nicht behandelt worden. Angesprochen hat das Problem aber Generalanwalt Lenz im Bosman-Fall. Dabei ging es um das von den Verbänden vorgebrachte Argument, die Spieler hätten sich durch die Wahl ihres Berufes den Regeln freiwillig unterworfen bzw. die Regeln unterfielen der Vertragsfreiheit. Beide Einwände lehnte er mit dem Argument ab, „[i]m übrigen scheint mir auch die Erwägung [. . .], eine Rechtsverletzung scheide aus, weil der Betroffene mit der Wahl dieses Berufes sich mit eventuell verbundenen Einschränkungen einverstanden erklärt habe, durchaus fragwürdig zu sein.“784 Ein eventuelles Einverständnis erklärte er entsprechend für unerheblich, wenn Regelungen ge781

Siehe dazu oben S. 58 f. Siehe oben S. 175. 783 Dazu ausführlich Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 169 ff.; Floren, Grundrechtsdogmatik, S. 150 ff. S. auch Klein, NJW 1989, S. 1633 (1640); Leisner, Grundrechte, S. 319 ff.; Medicus, AcP 192 (1992), S. 35 (61). 784 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 (I-5012). 782

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

gen die freie Wahl des Arbeitsplatzes verstießen. Die These ist dabei, dass der Einzelne Beschränkungen seiner Freizügigkeit nicht autonom vereinbaren kann. Auch das Arbeitsgericht Dortmund nahm in einem mit Bosman vergleichbaren Fall an, dass niemand vertraglich auf seine (Grund-) Rechte verzichten könne und verneinte daher die Möglichkeit einer vertraglichen Disposition über die Rechte aus Artikel 39 EG in Verbindung mit Artikel 12 GG.785 Diese Argumentation verkürzt die Problematik zumindest stark. Es wird sich zeigen, dass eine Zustimmung des Beeinträchtigten ein wesentlicher Faktor für die Beurteilung privater Eingriffe in die Grundfreiheiten ist. Für die Untersuchung, welche Bedeutung eine vertraglich vorgenommene Abwägung bzw. eine Zustimmung des Beeinträchtigten hat, wird im Folgenden auf deutsche Grundrechtsdogmatik zurückgegriffen. Dort ist die Diskussion zu dieser Frage bereits in einem Maße ausgereift, wie es im Europarecht (noch) nicht der Fall ist. Die dabei zu Tage tretenden Argumente bieten sich als Ausgangspunkt einer europäischen Diskussion an, wobei natürlich die Besonderheiten der jeweiligen Rechtsordnungen berücksichtigt werden müssen. Dabei sind zwei Aspekte wesentlich – die Dispositionsbefugnis des Berechtigten und die tatsächliche Ausübung der Privatautonomie. a) Dispositionsbefugnis des Berechtigten Zunächst ist nach der Dispositionsbefugnis des Berechtigten über seine Grundfreiheiten zu fragen. Nur wenn diese vorliegt, kann eine private Vereinbarung ein anzuerkennender Ausgleich der betroffenen Rechte sein. aa) Deutsche Grundrechtsdogmatik als Anhaltspunkt Die Verfügung über Grundrechte ist in der deutschen Lehre vor allem aus öffentlich-rechtlicher Sicht behandelt worden.786 Aber auch in der Zivilrechtsliteratur hat die Dispositionsbefugnis über Grundrechte Diskussionen ausgelöst, vor allem mit Blick auf die Vertragsfreiheit.787 Auf der einen Seite wird vertreten, dass die Grundrechte dem Einzelnen nicht zur freien Verfügung stehen, da sie nicht nur seinem Interesse, sondern auch dem Gemeinwohl dienen.788 Sie verkörperten eine soziale Wertordnung und hätten eine soziale Funktion, die bis 785 ArbG Dortmund, 6. Kammer, Urteil v. 19.5.1998, Az.: 6 Ca 1111/98, Bibliothek BAG (Gründe). 786 Vgl nur Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993, Spieß, Grundrechtsverzicht, 1997. 787 Heinrich, Formale Freiheit, S. 137 ff.; Zöllner, AcP 96 (1996), S. 1 (12 f.); Singer, JZ 1995, S. 1133 ff.; Hager, JZ 1994, S. 373 ff. (v. a. 379 ff.). 788 Vgl. Spieß, Verzicht, S. 158 ff. m. w. N.; Sturm, FS Geiger, S. 173 (197 f.); Bussfeld, DÖV 1976, S. 765 (771).

IV. Effektiver Individualschutz

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zur Pflicht der Ausübung gehe.789 Damit könne eine vertragliche Zustimmung zu einem konkreten Rechtsgeschäft nicht als Verzicht auf die Berücksichtigung grundrechtlicher Aspekte bei der gerichtlichen Kontrolle gewertet werden.790 Auf der anderen Seite wird auf der Grundlage eines freiheitlich-liberalen Verständnisses der Grundrechte die grundsätzliche Zulässigkeit eines Verzichts angenommen.791 Während vereinzelt dabei, jedenfalls für den vertraglichen Bereich, keinerlei Grenze anerkannt wird,792 gehen die meisten Autoren nicht so weit. Sie ziehen zum Teil eine Grenze der Dispositionsbefugnis anhand der Wesensgehaltsgarantie,793 zum Teil an der Notwendigkeit, die Freiheit zukünftiger Entscheidungen zu erhalten.794 Überwiegend wird jedoch eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen der grundsätzlich anzuerkennenden Individualentscheidung und der im Einzelfall vorliegenden Ausprägung des betroffenen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes verlangt.795 Dabei müsse der individuellen Entscheidung im vertraglichen Bereich zwischen Privaten ein größerer Spielraum eingeräumt werden als dies im Verhältnis zum Staat möglich sei.796 Auch bei Rechtsverhältnissen zwischen Privaten sei jedoch im Rahmen der Abwägung zum einen die Menschenwürde zu beachten, über die nicht verfügt werden könne,797 zum anderen seien Grundrechte mit stark ausgeprägtem Gemeinschaftsbezug einer individuellen Disposition weniger zugänglich als Grundrechte mit hauptsächlich privater Schutzrichtung.798 Die grundsätzliche Berechtigung, auf subjektive Rechte freiwillig auch anderen gegenüber in Verträgen für den Einzelfall zu verzichten, entspricht sowohl dem Grundanliegen der Grundrechte, nämlich der Schaffung einer Möglichkeit zur freien, privatautonomen Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse, als auch 789 Vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 138. Dagegen Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 161. 790 Heinrich, Formale Freiheit, S. 138. 791 Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 134 ff.; Littwin, Grundrechtsschutz, S. 230 ff.; grundsätzlich zustimmend, jedoch gewisse Ausnahmen annehmend Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 (152). 792 Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 153, behauptet, freiwillig zwischen Privaten abgeschlossene Verträge seien „inhaltlich stets mit den Grundrechten vereinbar“. Wohl auch Zöllner, AcP 96 (1996), S. 1 (13 f.). 793 Bleckmann, JZ 1988, S. 57 (62); Leisner, Grundrechte, S. 384 ff.; Dürig, AöR 81 (1956), S. 117, 152 ff. für besondere Gewaltverhältnisse. 794 Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 160. Vgl. dazu bereits Mill, On Liberty, S. 113 ff. 795 So Pietzcker, Der Staat 17 (1978), S. 527 (542 ff.); Sachs, VerwArch 76 (1985), S. 398, 418 ff., für Verwaltungsrechtsverhältnisse; Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, § 86 I (S. 887 ff.) m. w. N. 796 Heinrich, Formale Freiheit, S. 142. 797 Vgl. dazu Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 160. 798 Stern, Staatrecht, Bd. III/2, § 86 III 3 (S. 923); Heinrich, Formale Freiheit, S. 145.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

der Lebenswirklichkeit. Fast jeder Vertrag beinhaltet eine gewisse Beschränkung von grundrechtlich geschützten Positionen. So bedeutet beispielsweise das Eingehen eines Arbeitsvertrages immer auch eine Beschränkung des Grundrechts der Berufsfreiheit.799 Ein grundsätzliches Verbot der Verfügung solcher grundrechtlicher Positionen wäre daher weder wünschenswert noch praktikabel. Andererseits kann die Gesellschaft ein anzuerkennendes Interesse an einem Ausschluss bestimmter Grundrechtsverzichte haben. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn mit den Grundrechten nicht nur subjektive Rechte, sondern auch objektiv-rechtliche Institutionen oder allgemeine Grundwerte der Gesellschaft geschützt werden sollen. So bedeuten beispielsweise vertragliche Vereinbarungen, die die Teilnahme an Wahlen ausschließen sollen, nicht nur einen Verzicht auf das subjektive Recht der Wahlfreiheit, sondern zugleich eine Gefährdung der demokratischen Basis des Staates. Vertragliche Vereinbarungen, die nicht nur für die vertragsschließende Person relevant sind, sondern zugleich die Grundwerte der Gesellschaft berühren, müssen ebenfalls einer genaueren Prüfung unterzogen werden und können gegebenenfalls unzulässig sein. Ein Verbot derartiger Vereinbarungen ist dann gerechtfertigt. Allerdings kann nicht pauschal auf die Menschenwürde als Grenze von Verfügungen zurückgegriffen werden. Denn es ist durchaus diskutabel, ob nicht die Menschenwürde gerade beinhaltet, seinen eigenen Würdebegriff zu definieren und auszuleben, was auch bedeuten kann, Würdevorstellungen der Mehrheit nicht teilen zu müssen.800 Auch wenn daher die Berechtigung zur Disposition über eigene Rechte grundsätzlich anzuerkennen ist, bleibt eine einzelfallbezogene Abwägung der beteiligten Rechte und Interessen in ihrer jeweiligen Ausprägung notwendig. Nur so kann ein angemessener Ausgleich zwischen den betroffenen Verfassungsgütern erreicht werden. bb) Übertragung auf die europäische Situation Diese grundsätzlichen Überlegungen lassen sich cum grano salis auf die europäische Situation übertragen. Ausgangspunkt bei der Beurteilung des Verzichts auf die subjektiven Rechte der Grundfreiheiten ist auch im europäischen Recht die Privatautonomie.801 Diese ist wesentliche Grundlage des europäischen Wirtschaftssystems, das mehr noch als die nationalen Systeme auf einer freiheitlichliberalen Konzeption beruht. Damit ist ein Verzicht auf die Grundfreiheiten Ausdruck des freien Willens des Berechtigten, der als solcher zunächst akzeptiert 799

So ausdrücklich auch das BVerfG in E 81, 242 (254). Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 1 Rz. 152; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 356 ff.; Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Rz. 46. 801 Zur Geltung der Privatautonomie als Grundlage des europäischen Systems, siehe nur Kluth, AöR 122 (1997), S. 557 (570). Dabei ist ihre wichtigste Ausprägung die Vertragsfreiheit, die europarechtlich Grundrechtsschutz genießt, siehe oben S. 162 ff. 800

IV. Effektiver Individualschutz

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werden muss. Gerade bei den Grundfreiheiten ist jedoch auch deren objektivintegrative Funktion zu berücksichtigen. Anders als die deutschen Grundrechte waren die Grundfreiheiten nicht von vornherein als individuelle Rechtspositionen gedacht, sondern auf eine wirtschaftliche Integration und die Herstellung eines grenzenlosen Binnenmarktes ausgerichtet. Ihre Zielrichtung war daher sehr viel mehr objektiver als subjektiver Natur. Auch wenn sich der Individualschutz als wesentlicher Faktor der Grundfreiheiten entwickelt hat, hat er die objektiv-integrative Funktion nicht ersetzt. Vielmehr stehen beide Ziele gleichberechtigt nebeneinander.802 Gerade diese Besonderheit der Grundfreiheiten rechtfertigt das Erfordernis einer Abwägung zwischen der individuellen Verfügungsbefugnis und dem öffentlichen Interesse am Erhalt der jeweiligen Rechtsposition. Eine solche Abwägung kann nicht pauschal für alle Grundfreiheiten vorgenommen werden. Vielmehr ist dabei zwischen Diskriminierungen und Beschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten sowie der Produktverkehrsfreiheiten zu unterscheiden. Eine Dispositionsbefugnis ist dann anzunehmen, wenn die Privatautonomie mögliche öffentliche Interessen am Erhalt der Rechtsposition überwiegt. Damit kann ein privatautonom vorgenommener Ausgleich der Interessen unter bestimmten Umständen anzuerkennen sein. b) Tatsächliche Ausübung der Privatautonomie als Voraussetzung Allerdings ist weitere Voraussetzung dafür, dass eine vertragliche Vereinbarung als sachgerechter Interessenausgleich angesehen werden kann, die tatsächliche beiderseitige Ausübung der Privatautonomie. Nur wenn beide Parteien selbstbestimmt einen Ausgleich ihrer Rechte vereinbaren, wenn also die Bedingungen der Privatautonomie auf beiden Seiten gegeben sind, kann die Regelung als Abwägungsergebnis anerkannt werden. Die Feststellung, wann das der Fall ist, kann im Einzelnen schwierig sein. Jedoch ist es möglich, gewisse Anhaltspunkte zu geben, um die Beurteilung im Einzelfall zu erleichtern. Auch hierfür soll auf die deutsche Dogmatik zurückgegriffen werden. aa) Deutsche Grundrechtsdogmatik Nach der deutschen Rechtslage liegt bei Zwang, Täuschung, Drohung oder Erschleichung eine privatautonome, d.h. freiwillige Zustimmung zu Vertragsinhalten nicht vor.803 Hingegen kommt es grundsätzlich nicht auf die persönliche 802

Dazu ausführlicher oben S. 144 ff. So auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, § 86 II 6 (S. 914); Heinrich, Formale Freiheit, S. 144, mit Nachweisen aus der deutschen Gesetzgebung. Zur englischen Rechtslage Smith, Cambr. L.J. 56 (1997), S. 343 ff. 803

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

Zwangslage, also auf wirtschaftliche oder soziale Motive an, die für die Zustimmung ausschlaggebend sind.804 Dennoch sind wirtschaftliche oder soziale Faktoren nicht vollkommen irrelevant. Unter bestimmten Umständen können sie für die Beurteilung der Privatautonomie wesentlich sein, wenn sie zur Folge haben, dass zwischen den Parteien kein auch nur annäherndes Gleichgewicht besteht. Das Problem der sog. „Ungleichgewichtslagen“ ist in der deutschen Literatur ausführlich behandelt worden. Der Umgang mit einer wirtschaftlichen und sozialen Disparität zwischen den Parteien ist dabei Ausgangspunkt einer Vielzahl von Theorien, die den Grundsatz der formalen Vertragsfreiheit mit dem Ziel einer materialen Vertragsgerechtigkeit in Einklang zu bringen versuchen.805 Auch die deutsche Rechtsprechung ist mit dem Problem konfrontiert worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Entscheidungen dazu besonders prägnant Stellung genommen – in der Handelsvertreter-806 und der Bürgschafts-Entscheidung.807 Wegen ihrer herausgehobenen Bedeutung innerhalb der Diskussion808 sollen diese Entscheidungen kurz dargestellt werden: In der Handelsvertreter-Entscheidung ging es um entschädigungslos vereinbarte Wettbewerbsverbote für Handelsvertreter und ihre Überprüfbarkeit an Artikel 12 GG. Das Bundesverfassungsgericht stellte zunächst fest, dass jeder Arbeitsvertrag letztlich zu einer Beschränkung der Berufsfreiheit führte, im Austausch mit der ausbedungenen Gegenleistung. Da dies im Rahmen der Privatautonomie erfolge, seien derartigen Regelungen grundsätzlich vom Staat zu respektieren.809 Voraussetzung sei jedoch, dass die Bedingungen einer freien Selbstbestimmung tatsächlich gegeben seien. Fehle es aufgrund typisierbarer Merkmale im Verhältnis der Parteien an einem annähernd gleichen Kräfteverhältnis, so handele eine Partei nicht mehr in Ausübung ihrer Privatautonomie; stattdessen würden die vertraglichen Regelungen faktisch einseitig festgelegt.810

804 Vgl. nur Larenz/Wolf, § 24 Rz. 40 (S. 483); Flume, Allgemeiner Teil, § 45 (S. 52). 805 Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Ansätze hierzu geben Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 139 ff. sowie Heinrich, Formale Freiheit, S. 171 ff. Andere umfangreiche Arbeiten zu diesem Problem haben in jüngerer Zeit vorgelegt Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, sowie Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992. 806 BVerfGE 81, S. 242 ff. (= NJW 1990, S. 1469 ff.). 807 BVerfGE 89, S. 214 ff. (= NJW 1994, S. 36 ff.). 808 Vgl. zur Handelsvertreter-Entscheidung Medicus, AcP 192 (1992), S. 35 (61 f. und 64); Hillgruber, AcP 191 (191), S. 69 ff. Vor allem zur Bürgschafts-Entscheidung Zöllner, AcP 196 (1996), S. 1 ff.; Adomeit, NJW 1994, S. 2467 ff.; Eschenbach/Nielsen, NVWZ 1994, S. 1079 ff. Zur Heftigkeit der Diskussion kritisch Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 21 ff. Auch Schimansky, WM 1995, S. 461 (466) sieht in den Entscheidungen nur Selbstverständliches. 809 BVerfGE 81, S. 242 (254). 810 Ebenda, S. 255.

IV. Effektiver Individualschutz

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In einem solchen Fall müssten staatliche Regeln ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern.811 In der Bürgschafts-Entscheidung ging es um einen Vertrag, durch den eine 21jährige Frau, die ohne Berufsausbildung für monatlich 1150 DM netto in einer Fischfabrik arbeitete, eine Bürgschaft in Höhe von 100.000 DM übernahm, um ihrem Vater dadurch eine Krediterhöhung zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass bei der Beurteilung des Bürgschaftsvertrags durch die Zivilgerichte die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie nicht ausreichend beachtet worden war. Ausgangspunkt sei, dass im Zivilrechtsverkehr gleichrangige Grundrechtsträger einander gegenüber stünden.812 Dabei werde durch den übereinstimmenden Willen zweier Vertragsparteien ein sachgerechter Interessenausgleich gefunden. Habe aber ein Vertragspartner ein so starkes Übergewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen könne, so bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.813 Allerdings sei nicht jede Störung des Verhandlungsgleichgewichts von staatlicher Seite zu korrigieren. Nur, wenn die Fallgestaltung in typisierbarer Weise ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Parteien aufweise und die Folgen des Vertrags für die schwächere Partei ungewöhnlich belastend seien, habe das Privatrecht das Ungleichgewicht auszugleichen.814 Beiden Entscheidungen ist als Ausgangspunkt zu entnehmen, dass auch Beschränkungen der Grundrechte vertraglich vereinbart werden können. Diese sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch nur dann als privatautonome Regelung einer staatlichen Kontrolle entzogen, wenn beide Parteien auch tatsächlich privatautonom der Regelung zustimmen können. Herrscht hingegen eine strukturelle Ungleichgewichtslage zwischen den Parteien derart, dass die Privatautonomie einer Partei ausgeschlossen ist, kann der Inhalt des Vertrags nicht mehr als sachgerechter Interessenausgleich anerkannt werden.815 Aufgrund der Schutzfunktion der Grundrechte müssen dann staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, wenn der Eingriff in die Grundrechte der fremdbestimmten Partei ungewöhnlich belastend sind.816 811

Ebenda. BVerfGE 89, S. 214 (232). 813 Ebenda. 814 Ebenda. 815 Preis/Rolfs, DB 1994, S. 261 (264) sehen darin den Ausgangspunkt einer zivilrechtlichen Dogmatik „kompensatorischer Instrumente zur Reaktion auf Ungleichgewichtslagen“, dazu auch Drexl, Selbstbestimmung, S. 263. Vgl. dazu auch M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 73 f., der in solchen Fällen das Fehlen einer „Richtigkeitschance“ annimmt. Ähnlich schon Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), S. 130 (151), der von „Richtigkeitsgewähr“ gesprochen hatte. Vgl. dazu im Überblick Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 100 ff. 816 Vgl. nur Klein, NJW 1989, S. 1633 (1640); Drexl, Selbstbestimmung, S. 231; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 74. 812

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

Die Definition und Bestimmung einer strukturellen Ungleichgewichtslage begegnet erheblichen Schwierigkeiten, zumal nähere Angaben dazu vom Bundesverfassungsgericht nicht gemacht wurden.817 Anhaltspunkt kann dabei die fehlende Einflussmöglichkeit einer Partei auf die konkrete Ausgestaltung des Vertragsinhalts sein, die sich aus typisierbaren Umständen ergibt. Dabei ist die einseitige Vorgabe von (vorformulierten) Regelungen ein wesentlicher Aspekt.818 Auch von Seiten des Gesetzgebers wird der fehlenden Einflussmöglichkeit für die Frage der Entscheidungsfreiheit Bedeutung eingeräumt, wie sich an den legislativen Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen bzw. zu missbräuchlichen Klauseln zeigen lässt. In der europäischen Richtlinie über missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen wird in Artikel 3 Abs. 1 ein fehlendes Aushandeln als entscheidendes Kriterium für die Eröffnung einer inhaltlichen Überprüfung privater Vereinbarungen festgelegt. § 1 und § 24a AGBG sind demgegenüber enger und verlangen vorformulierte Vertragsbedingungen. Dabei ist aber dieses Kriterium ein „weitgehend zutreffendes Indiz für das Vorliegen von überlegener Verhandlungsmacht“.819 Im Rahmen dieser gesetzlichen Anwendungsgebiete kommt es auf die Möglichkeit, andere Vertragspartner auszuwählen und damit den nachteiligen Vertragsbedingungen auszuweichen, nicht an.820 Außerhalb der Anwendungsgebiete dieser gesetzlichen Regelungen ist hingegen die Möglichkeit eines Ausweichens auf andere Vertragspartner und somit eine Auswahl anderer Vertragsbedingungen relevant. Auf diese Weise lässt sich die Privatautonomie des Einzelnen in ausreichendem Maße realisieren, ohne dass ein kontrollierender Eingriff in die Vereinbarung durch den Staat erforderlich wird.821 Eine strukturelle Ungleichgewichtslage ist folglich gekennzeichnet durch den fehlenden Einfluss einer Vertragspartei auf den Inhalt der Vereinbarung, der auf typisierbaren Umständen beruht und nicht durch eine Alternative an Vertragsmöglichkeiten ausgeglichen werden kann.

817 Besonders kritisch Adomeit, NJW 1994, S. 2647 (2468), der das Ergebnis im Einzelfall aber für richtig hält. Zu den Schwierigkeiten einer Definition auch Hesse/ Kauffmann, JZ 1995, S. 219 f.; Wiedemann, JZ 1994, S. 411 (413); Preis/Rolfs, DB 1994, S. 261 (266); Ackermann, in: Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 524; Drexl, Selbstbestimmung, S. 273 ff. 818 M. Wolf, in: Wolf/Horn/Lindacher, AGB-Gesetz, Einl. Rz. 3 f.; Wiedemann, JZ 1994, S. 411 (412); Preis/Rolfs, DB 1994, S. 261 (266). 819 M. Wolf, in: Wolf/Horn/Lindacher, AGB-Gesetz, Einl. Rz. 17. Ulmer, in: Ulmer/ Brandner/Heuse, AGB-Gesetz, Einl. Rz. 29, stellt hingegen mehr auf die Gefahr der einseitigen Ausnutzung der faktischen Vertragsgestaltungsfreiheit ab. 820 Vgl. aber M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 14, der aufgrund eines fehlenden Wettbewerbs der AGB ein Ausweichen nicht für möglich hält. 821 Ausführlich Bäuerle, Vertragsfreiheit, S. 398. Ackermann, in: Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 527; Canaris, FS Lerche, S. 873 (882).

IV. Effektiver Individualschutz

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bb) Übertragung auf die europäische Situation Auch diese Überlegungen lassen sich auf die europäische Ebene übertragen. Eine Zustimmung zur Beeinträchtigung von Grundfreiheiten ist demnach nur relevant, wenn es sich um eine freiwillig abgegebene Zustimmung handelt. Die Freiwilligkeit einer Zustimmung ist zu verneinen, wenn Zwang, Täuschung, Drohung oder Erschleichung ausschlaggebend für die Erklärung sind. Diese grundsätzlichen Ausschlussgründe sind dabei als faktische Grenzen der Privatautonomie auch europarechtlich anzuerkennen. Im Ergebnis muss dies auch für das Vorliegen einer strukturellen Ungleichgewichtslage gelten. Zunächst gilt die Grundsatzüberlegung, dass private Vereinbarungen nur dann vollen grundrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen können, wenn sie Ausdruck beiderseitiger Vertragsfreiheit sind, ebenso für die europäische Ebene.822 Ferner lösen auch die Grundfreiheiten in ähnlicher Weise eine Schutzpflicht des Staates aus, wie es die Grundrechte im deutschen System tun; dies wurde vom EuGH in der oben dargestellten Entscheidung Kommission/Frankreich823 deutlich gemacht. Entsprechend ist auch im vertraglichen Bereich ein Schutz der Grundfreiheiten von staatlicher Seite zu gewährleisten, wenn die Beeinträchtigung nicht auf einer beiderseitigen Ausübung von Privatautonomie beruht. Damit sind Vereinbarungen, die das Ergebnis struktureller Ungleichgewichtslagen sind und erhebliche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten zur Folge haben, nicht als sachgerechter Ausgleich zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten anzuerkennen. Sie machen eine von staatlicher Seite vorzunehmende Abwägung der betroffenen Rechte nicht überflüssig. c) Ergebnis Bei der Beurteilung von rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen als privatautonom vorgenommener Abwägung sind zwei Faktoren entscheidend: Erstens muss die durch die Vereinbarung beschränkte Rechtsposition zur Disposition des Berechtigten stehen. Dies kann bei den Grundfreiheiten nicht pauschal angenommen werden; notwendig ist vielmehr eine Abwägung zwischen der individuellen Entscheidungsfreiheit und dem zur Disposition stehenden Rechtsgut. Ist die Dispositionsmöglichkeit zu bejahen, müssen zweitens die Bedingungen der Privatautonomie bei beiden Parteien gegeben sein. Dabei ist insbesondere 822 Auch dies lässt sich am Problem der AGB zeigen. Im Gegensatz zum deutschen Gesetz macht die europäische Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln (ABl. EG Nr. L 95/1993, S. 29 ff.) allein ein fehlendes Aushandeln zum Auslöser einer Inhaltskontrolle. Dadurch wird deutlich, dass eine privatautonome Regelung nur dann als solche anerkannt werden soll, wenn sie von beiden Parteien ausgehandelt worden ist. Die grundsätzliche Überlegung lässt sich hier fruchtbar machen. 823 EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1987, S. I-3801, siehe dazu oben S. 31 ff.

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Kapitel 4: Grundfreiheiten und das Ziel des Individualschutzes

auf das Vorliegen von sog. strukturellen Ungleichgewichtslagen zu achten, die faktisch zu einer Fremdbestimmung führen. Eine einseitig bestimmte Vereinbarung kann nicht als sachgerechter Interessenausgleich angesehen werden, wenn durch sie die Grundfreiheiten einer Partei unverhältnismäßig beschränkt werden. Erforderlich ist dann eine von staatlicher Seite vorzunehmende Abwägung der betroffenen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechte. Stellt die Vereinbarung hingegen eine Ausübung beiderseitiger Privatautonomie dar, so ist ihr Inhalt als Abwägungsergebnis zu akzeptieren. Daher kann auf die Frage der Zulässigkeit eines vertraglichen Verzichts auf die Grundfreiheiten keine einheitliche Antwort gegeben werden. Es wird sich aber zeigen, dass gewisse Leitlinien angenommen werden können, die die Möglichkeit einer privatautonom vorgenommenen Abwägung angemessen berücksichtigen. 5. Ergebnis Private Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten können durch rechtsgeschäftliche oder durch tatsächliche Maßnahmen erfolgen. Erstere genießen grundsätzlich immer grundrechtlichen Schutz, da sie eine Verwirklichung der Vertragsbzw. der Vereinigungsfreiheit darstellen. Dies ist grundsätzlich auch bei faktischem Handeln der Fall. Dabei ist vor allem an die Meinungsfreiheit, einschließlich der Kunstfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit zu denken. Ist die private Maßnahme grundrechtlich geschützt, so ergibt sich ein Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten. Ausnahmen bei faktischem Handeln ergeben sich dann, wenn wie bei Gewaltanwendungen kein grundrechtlicher Schutzbereich eröffnet ist. Denn ein Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist bereits in seinem Bestand auf europäischer Ebene zweifelhaft, jedenfalls aber wird die Ausübung von Gewalt davon nicht umfasst. Bei grundrechtsgeschütztem tatsächlichen Handeln ebenso wie bei der Vertragsabschlußfreiheit besteht der Konflikt allein zwischen der Grundfreiheit der einen und dem Gemeinschafts-Grundrecht der anderen Partei. Bei rechtsgeschäftlichem Handeln üben bei der Inhaltsfreiheit hingegen grundsätzlich beide Parteien ihre grundrechtlich geschützte Privatautonomie aus, um die Grundfreiheit einer Partei zu beschränken. Ausgangspunkt ist dabei, dass prinzipiell die Vereinbarung selbst als Lösung des Konflikts anzusehen ist. Voraussetzung ist allerdings, dass über die Grundfreiheit in dem Maße überhaupt vertraglich verfügt werden darf und dass der vereinbarte Interessenausgleich tatsächlich von beiden Seiten privatautonom getroffen wurde. Fehlt es an einem dieser beiden Kriterien, so ist die Vereinbarung nicht als Abwägungsergebnis anzuerkennen. Stattdessen ist der Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten von staatlicher Seite in Verwirklichung einer bestehenden Schutzpflicht im Wege der Abwägung aufzulösen.

V. Zusammenfassung

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V. Zusammenfassung Bei der Auslegung der Grundfreiheiten ist der Individualschutz als gemeinschaftsrechtliches Ziel im Rahmen der systematisch-teleologischen Methode zu berücksichtigen. Die Grundfreiheiten sind individualschützende Vorschriften, deren subjektivrechtlicher Charakter vor allem durch ihren grundrechtlichen Gehalt bestimmt wird. Der Grundrechtsgehalt ergibt sich aus der parallelen Verwirklichung von europäischen Grundrechten und ist bei den einzelnen Grundfreiheiten unterschiedlich ausgeprägt. Zwar würde durch eine umfassende Bindungswirkung aller Grundfreiheiten, also auch gegenüber Privaten, deren individualschützender Charakter bestmöglich geschützt. Gleichzeitig würden jedoch die Gemeinschafts-Grundrechte des Störers beschränkt. Ein effektiver Individualschutz muss beide Positionen berücksichtigen. Ein Ausgleich beider Rechtspositionen ist durch Abwägung zu finden. Bei der Frage der dabei zu berücksichtigenden Rechtspositionen ist der abgestufte Grundrechtsgehalt von erheblicher Bedeutung. Anders als das Ziel des Binnenmarktes, welches allgemein für eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten spricht, gebietet die Berücksichtigung des Individualschutzes daher gewisse Einschränkungen. Eine genaue und umfassende Auslegung der Grundfreiheiten, die sämtliche Funktionen und Ziele einbezieht, führt damit zu dem Ergebnis einer differenzierten Bindungswirkung.

Kapitel 5

Systematik einer differenzierten Bindungswirkung der Grundfreiheiten Im Folgenden soll auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse eine allgemeine Systematik der Bindungswirkung der Grundfreiheiten entwickelt werden. Dabei werden zugleich auch die Ergebnisse der Rechtsprechung zur Frage einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten auf ihre Überzeugungskraft überprüft.

I. Rechtsgeschäftliche Maßnahmen Bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen Privater ist zwischen der Abschlussund der Inhaltsfreiheit zu unterscheiden.824 Bei der Abschlussfreiheit besteht der Konflikt zwischen der negativen Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit auf der einen und der Grundfreiheit auf der anderen Seite, welcher im Wege der Abwägung von staatlicher Seite auszugleichen ist. Bei der Inhaltsfreiheit ist zunächst zu fragen, ob die Vereinbarung selbst bereits eine privatautonom getroffene Abwägung darstellt. Ist dies zu verneinen, ergibt sich grundsätzlich bezüglich der Konfliktlage kein Unterschied zur Abschlussfreiheit, obwohl im Rahmen der Abwägung die unterschiedliche Grundrechtsqualität der Abschluss- und der Inhaltsfreiheit zu anderen Ergebnissen führen kann. Daher soll jeweils zunächst geprüft werden, unter welchen Umständen ein privatautonom vorgenommener Interessenausgleich zulässig und möglich ist. Daran schließt sich eine Bewertung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH an, der zwar zu diesen Fragen keine Stellung nimmt, inzident aber durchaus Entscheidungen hierzu fällt. 1. Diskriminierungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sind nur im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten möglich.825 Für die Abschlussfreiheit bedeutet dies, dass einem EU-Bürger wegen seiner Staatsangehörigkeit das Eingehen eines Vertrags oder die Aufnahme in eine Vereinigung verweigert wird. Eine Diskri824 825

Siehe oben S. 56; 174. Siehe oben S. 158 ff.

I. Rechtsgeschäftliche Maßnahmen

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minierung im Rahmen der Inhaltsfreiheit heißt, dass eine EU-Bürgerin wegen ihrer Staatsangehörigkeit nur Verträge mit schlechteren Konditionen abschließen oder nur zu anderen Bedingungen Vereinigungsmitglied werden kann als jemand mit einer anderen Staatsangehörigkeit. a) Wirksame Zustimmung zur Diskriminierung? Dabei ist für die Fälle der Inhaltsfreiheit vorweg die Bedeutung einer möglichen Zustimmung des Berechtigten zur Diskriminierung zu klären. aa) Möglichkeit einer Zustimmung zur eigenen Diskriminierung? Zunächst ergeben sich bereits Zweifel, ob ein Verzicht auf Rechte aus dem Diskriminierungsverbot überhaupt möglich ist, ob also in einer Vereinbarung, die sich faktisch diskriminierend auswirkt, eine vertragliche Zustimmung zur eigenen Diskriminierung gesehen werden kann. Dabei ist der Vertragsinhalt der entscheidende Punkt. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Eine Arbeitnehmerin findet in ihrem Heimatstaat keine oder nur eine sehr gering bezahlte Arbeit. Sie begibt sich in einen anderen Mitgliedstaat, wo sie eine Arbeit angeboten bekommt, bei der sie sehr viel mehr als in ihrem Heimatstaat verdient. Sie nimmt diese Arbeit daher gern an. Allerdings stellt sich heraus, dass alle ihre inländischen Kolleginnen das Doppelte verdienen.

Man könnte nun sagen, die Arbeitnehmerin habe die Arbeitsbedingungen, zu dem auch der Lohn gehört, akzeptiert, ihrer Diskriminierung also durch Ausübung ihrer Vertragsfreiheit zugestimmt. Jedoch war genau genommen die Diskriminierung nicht Teil der von ihr akzeptierten Arbeitsbedingungen. Zugestimmt hat sie einer Arbeit zu einem bestimmten Lohn. Die Diskriminierung hingegen ergibt sich nicht aus den Vertragsbedingungen unmittelbar, sondern aus dem Vergleich mit den Arbeitsbedingungen der Kolleginnen. Einer Diskriminierung kann sie daher rein tatsächlich in der Regel nicht zustimmen, da diese, jedenfalls in den meisten Fällen, gar nicht Vertragsinhalt ist. Ein Vertrag, dessen Bedingungen im Vergleich zu anderen Verträgen diskriminierend sind, kann daher nicht bereits durch Berufung auf die Zustimmung beider Parteien einer Überprüfung entzogen werden, da die Zustimmung die Diskriminierung selbst nicht umfasst. Für den eher hypothetischen Fall, dass der Vertrag ausdrücklich auf das höhere Gehalt der Kolleginnen verweist, wäre hingegen eine formale Zustimmung zur Diskriminierung gegeben. Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob die Voraussetzungen für privatautonomes Handeln auf beiden Seiten gegeben waren. Dafür kommt es auf die konkreten Umstände an, wobei insbesondere das Vorliegen einer strukturellen Ungleichgewichtslage zu beachten ist. Obwohl eine generelle Aussage damit grundsätzlich nicht möglich ist, kann angenommen werden, dass eine Zustimmung zur eigenen Diskriminierung sich in den seltensten Fällen als freiwillig herausstellen würde.

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bb) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten Für eine wirksame Zustimmung zur eigenen Diskriminierung fehlt es aber darüber hinaus an der Dispositionsbefugnis. Wie oben dargestellt, kann es dem Berechtigten aus Gründen des öffentlichen Interesses versagt sein, über eigene Rechtsgüter frei zu verfügen.826 Dabei können sowohl subjektiv-rechtliche als auch objektiv-rechtliche Faktoren eine Rolle spielen. Bei Diskriminierungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten ist ein besonders hoher Grundrechtsgehalt der Grundfreiheiten gegeben. Der individualschützende Gehalt der Grundfreiheiten ist also in besonders starkem Maße betroffen. Eine Disposition kann bereits deshalb unzulässig sein: Die Gesellschaft kann grundsätzlich eine Entscheidung treffen, die subjektiven Rechte, die sie für das Zusammenleben als wesentlich ansieht, der Disposition des Einzelnen zu entziehen. Allerdings erfolgt dies selten ausdrücklich und selbst Normen wie Artikel 1 Abs. 1 GG oder Artikel 1 der Charta, in denen die Menschenwürde für „unantastbar“ erklärt wird, sind nicht häufig. Dennoch kann sich auch aus der Bedeutung eines subjektiven Rechts ein Dispositionsverbot ergeben. In der Europäischen Union nimmt das Diskriminierungsverbot (der Personenverkehrsfreiheiten) eine solche grundlegende Stellung ein. Zum einen bezieht es sich auf ein Kriterium, dessen Änderung vom Einzelnen nicht verlangt werden kann,827 und berührt damit unmittelbar die persönliche Identität. Das damit verbundene Urteil über die Wertigkeit der Staatsangehörigkeit birgt zugleich die Gefahr eines Urteils über den Wert der Person, welches aus individualschützender Perspektive eine besonders starke Verletzung darstellt. Dies spricht gegen eine Dispositionsbefugnis des Einzelnen. Ferner ist aber auch die allgemein gesellschaftliche Funktion des Diskriminierungsverbotes zu berücksichtigen. Das Diskriminierungsverbot dient in seiner individualschützenden Dimension auch einer „übergreifenden normativen Orientierung“.828 Die Gesellschaft beruht auf dem Anerkenntnis bestimmter Werte und Rechte, die Grundlage des Zusammenlebens sein sollen. Dem Einzelnen eine Verfügung hierüber uneingeschränkt zu ermöglichen, würde damit auch die Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen in Frage stellen. Diese, die Bedeutung für den Einzelnen übersteigende gesellschaftliche Funktion des Diskriminierungsverbots, ist eng verknüpft, aber nicht identisch, mit der vor allem wirtschaftlich ausgerichteten objektiv-integrativen Funktion der Grundfreiheiten. Auch dort ist das Diskriminierungsverbot von fundamentaler Bedeutung, denn es ist unersetzbare Grundlage eines europäischen Binnenmarktes. 826

Siehe oben S. 184 ff. Vgl. dazu Sacksofsky, Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 311, die damit einen Bezug herstellt zu Kriterien, die der Einzelne nicht (oder nur schwer) ändern kann, wie Geschlecht, Rasse, Herkunft. Allgemein zur Bedeutung solcher nicht veränderbaren Kriterien für die Beurteilung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen Bryde/ Kleindiek, Jura 1999, S. 36 (42 f.). Vgl. auch Kokott, FS BVErfG, Bd. 2, S. 127 (133). 828 von Bogdandy, JZ 2001, S. 157 (169). 827

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Die Rolle, die das Diskriminierungsverbot in seiner speziellen Ausprägung in den Personenverkehrsfreiheiten daher in mehrfacher Hinsicht im Rahmen der europäischen Integration spielt, steht einer Dispositionsbefugnis entgegen. Ein „immer engerer Zusammenschluss der Völker“ wäre ebenso wie die „Wahrung und Festigung des Friedens und der Freiheit“829 gefährdet, wenn es Privaten erlaubt wäre, in ihren Beziehungen miteinander aufgrund der Staatsangehörigkeit zu diskriminieren.830 Generalanwalt Fennelly drückte in seinen Schlussanträgen im Fall Angonese ein diesbezügliches Unbehagen anschaulich aus: „Es ist schwer vorstellbar, dass Stellenausschreibungen z. B. nur für Bewerber einer bestimmten Staatsangehörigkeit oder, vielleicht noch schlimmer, bei denen eine bestimmte Staatsangehörigkeit ausgeschlossen wäre, nicht unter das Verbot des Artikels 48 EG-Vertrag [39 EG] fallen würden.“831

Bei einer Abwägung der individuellen Entscheidungsbefugnis und dem öffentlichen Interesse an der Förderung bzw. Aufrechterhaltung einer menschenwürdigen und integrierten Gesellschaft und der Verwirklichung eines diskriminierungsfreien Binnenmarktes, ist daher die individuelle Entscheidung hintan zu stellen. Eine rechtsgeschäftlich vereinbarte Diskriminierung kann einer Überprüfung nicht bereits mit dem Hinweis entzogen werden, dieser sei von beiden Parteien zugestimmt worden. Die staatliche Abwägung zwischen der Grundfreiheit der einen und den Gemeinschafts-Grundrechten der anderen Partei bleibt daher notwendig. Dies gilt für alle Diskriminierungen, gleichgültig, ob sie sich aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarungen oder kollektiver Regelungen ergeben. cc) Ergebnis In der Regel ergibt sich eine Diskriminierung nicht aus einem Vertrag unmittelbar, sondern aus dem Vergleich eines Vertrags mit anderen Verträgen. In solchen Fällen kann einer Diskriminierung bereits faktisch nicht zugestimmt werden, da sie nicht Vertragsinhalt ist. Sollte ausnahmsweise eine konkrete Zustimmung zur eigenen Diskriminierung vorliegen, ist die Regelung aus Gründen des öffentlichen Interesses nicht als privatautonomer Interessenausgleich anzuerkennen. Eine Abwägung zwischen der Personenverkehrsfreiheit auf der einen und der Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit auf der anderen Seite kann daher auch bei der Inhaltsfreiheit nicht aufgrund einer Zustimmung beider Parteien entfallen.

829 830 831

So die Präambel des EG-Vertrages. Ebenso Ganten, Drittwirkung, S. 107 ff. EuGH, Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 41.

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b) Absoluter Vorrang des Diskriminierungsverbotes Dementsprechend ist sowohl für die Abschlussfreiheit als auch für die Inhaltsfreiheit eine Abwägung dieser Grundrechte mit den Personenverkehrsfreiheiten vorzunehmen. aa) Abschlussfreiheit Dabei sind für die Abschlussfreiheit dieselben Gründe von Bedeutung, die bereits für die eben erörterte Dispositionsbefugnis über das Diskriminierungsverbot ausschlaggebend waren.832 Angesichts der oben dargelegten fundamentalen Bedeutung des Diskriminierungsverbots833 ist ein absoluter Vorrang der Personenverkehrsfreiheiten gerechtfertigt. Das „stete Zusammenwachsen der Völker“ kann nur dann erreicht werden, wenn die Staatsangehörigkeit als „Referenzpunkt“ in Rechtsbeziehungen, gerade auch zwischen Privaten, aufgehoben wird.834 In einer Europäischen Union mit europäischen Unionsbürgern darf es auf die Staatsangehörigkeit des Einzelnen nicht mehr ankommen, wenn nicht der Zweck der Union, die Einheit und Gemeinschaft, gefährdet werden soll. Es ist daher nur konsequent, wenn eine diskriminierende Beeinträchtigung der Personenverkehrsfreiheiten auch im Bereich der Abschlussfreiheit nicht rechtlich anerkannt wird. Die Ablehnung eines Vertragsschlusses aus Gründen des Staatsangehörigkeit unterfällt daher zu Recht dem Verbot der Personenverkehrsfreiheiten.835 Ähnlich wie eine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen bei Vertragsabschlüssen unzulässig ist, gilt dies für das Kriterium der Staatsangehörigkeit. Dies heißt allerdings nicht, dass eine Diskriminierung nicht ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann836 – so kann es etwa einem bayerischen Spezialitätenlokal erlaubt sein, nur Deutsche oder sogar nur Bayern einzustellen. Auch führt die Geltung des Diskriminierungsverbots nicht zwangsläufig zu einem Anspruch auf Vertragsabschluss.837 In der Regel wird es hier bei einem Schadensersatzanspruch bleiben.838 Der Vorrang der Personenverkehrsfreiheiten im Rah832

Siehe oben S. 194 ff. Siehe dazu oben S. 115 ff. und die dortigen Nachweise. 834 So anschaulich Weiler, Constitution of Europe, S. 93. 835 Ebenso Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 89; im Ansatz U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (395); Steindorff, FS Lerche, S. 575 (585). 836 Siehe oben S. 21 f. Zu den Rechtfertigungsgründen für Private vgl. U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (395). 837 Vgl. hierzu aber ausführlich Fabis, Freizügigkeit, S. 193 ff., der einen Anspruch auf Einstellung unter bestimmten Umständen bejaht. 838 Entsprechend war das Klägerbegehren im Fall Angonese, EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, S. I-4139 (I-4143). Zurückhaltend auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf 833

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men der Abwägung zwischen Grundfreiheit und Gemeinschafts-Grundrechten bedeutet aber, dass der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zunächst einmal eröffnet wird. Die Bindung aller Privater an das Diskriminierungsverbot bei der Abschlussfreiheit ist damit unter Berücksichtigung aller betroffenen Interessen als Ergebnis überzeugend. Der Rechtsprechung ist insoweit zuzustimmen. bb) Inhaltsfreiheit Bei der Abwägung der Inhaltsfreiheit mit den Personenverkehrsfreiheiten verstärkt sich diese Argumentation noch. Es ist zu beachten, dass selbst der berechtigten Partei nach hier vertretener Auffassung eine Disposition über das Diskriminierungsverbot nicht zusteht. Dies muss dann erst Recht für die andere Partei des Vertrags gelten. Inhaltliche Vereinbarungen, in denen wegen der Staatsangehörigkeit diskriminiert wird, werden nicht durch die Berufung auf die Vertragsbzw. Vereinigungsfreiheit zulässig. Auch hier ist jedoch zu betonen, dass eine derartige Regelung unter Umständen gerechtfertigt sein kann. Die Verpflichtung zur Rechtfertigung führt jedoch zu einer Begründungs- oder Argumentationslast für Ungleichbehandlungen.839 c) Bewertung der Rechtsprechung Die Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit kann daher das Diskriminierungsverbot der Personenverkehrsfreiheiten im Rahmen einer Abwägung weder in ihrer Form als Abschluss- noch als Inhaltsfreiheit überwiegen. Insofern überzeugt der klar formulierte Vorrang der Grundfreiheiten, den der EuGH für diese Fälle annimmt. Die Rechtsprechung kann mit der folgenden Aussage zusammengefasst werden: „Das in Artikel 48 des Vertrages [39 EG] ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gilt somit auch für Privatpersonen.“840

Eine Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Maßnahmen wird nicht (mehr) getroffen. Sie ist bereits nach den obigen Ausführungen nicht gerechtfertigt und findet auch in den europarechtlichen Vorschriften keine Grundlage. Bei privaten Diskriminierungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten geht die Rechtsprechung somit zu Recht von einem absoluten841 Vor(Hrsg.), Art. 6 EGV, Rz. 31 (Stand 2001), der einen Kontrahierungszwang aus Artikel 12 EG ablehnt; nur bei Artikel 82 EG könne ein Anspruch auf Kontrahierung gegeben sein. Vgl. auch Nickel, Gleichheit, S. 147. 839 Dreier, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), S. 13 (39 Fn. 114) sieht in dieser Begründungslast eine Umschreibung des Gerechtigkeitsprinzips. 840 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, S. I-4139 Rz. 36.

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rang der Grundfreiheit gegenüber kollidierenden Gemeinschafts-Grundrechten aus.842 2. Beschränkungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten Anders als beim Diskriminierungsverbot kann eine Beschränkung der Grundfreiheiten nur mit der Inhaltsfreiheit kollidieren, denn eine Beschränkung kann sich nicht durch Ausübung der (negativen) Abschlussfreiheit ergeben. Hinsichtlich der Beschränkung durch Ausübung der Inhaltsfreiheit stellt sich aber ebenso wie beim Diskriminierungsverbot zunächst die Frage, ob die Vereinbarung einen anzuerkennenden privatautonomen Interessenausgleich darstellt, ob also der Beschränkung wirksam zugestimmt wurde. Dabei zeigt sich, dass die grundsätzliche Bedeutung der Zustimmung oft nicht klar von ihren Voraussetzungen getrennt wird. Dadurch werden Faktoren vermengt, deren genaue Trennung für die Bewertung einer privatautonomen Abwägung notwendig ist. Insoweit wird sich die Rechtsprechung als kritikwürdig herausstellen. a) Privatautonom vorgenommener Interessenausgleich Beschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten durch rechtsgeschäftliche Maßnahmen beruhen immer unmittelbar auf dem Vertragsinhalt selbst, nicht auf einem Vergleich mit anderen Verträgen. Damit stellt sich die Frage nach einer privatautonom vorgenommenen Abwägung der kollidierenden Rechte, d.h. nach einem anzuerkennenden Interessenausgleich. aa) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten Zwar sind bei einer Beschränkung wesentliche Grundrechtsgehalte der Grundfreiheiten betroffen, insbesondere das Gemeinschafts-Grundrecht der Freizügigkeit. Sowohl im Hinblick auf die individualschützende als auch auf die objektivintegrative Dimension des Grundrechtsgehalts sind Beschränkungen jedoch nicht so schwerwiegend, dass eine eigenverantwortliche Disposition grundsätzlich ausgeschlossen werden müsste. Anders als bei Diskriminierungen wird durch eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten weder die berechtigte Person selbst noch die integrative Basis der Union in besonders ausgeprägter Weise beeinträchtigt. Beschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten lassen sich darüber hinaus nicht vollständig verhindern. Bei (lediglich) beschränkenden Vereinba841 Durch den Begriff „absolut“ ist nur das Verhältnis zu den kollidierenden Grundrechten gekennzeichnet. Eine mögliche Rechtfertigung der Diskriminierung ist damit nicht ausgeschlossen. 842 Siehe oben S. 52 ff.

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rungen bestehen hinsichtlich der Dispositionsbefugnis des in seinen Grundfreiheiten Beschränkten wenig Zweifel. So wohnt beipielsweise jedem Arbeitsvertrag eine gewisse Beschränkung inne.843 Damit kann ein öffentliches Interesse an einem grundsätzlichem Verbot solcher Beeinträchtigungen nicht bestehen, da sonst der Schutz des Einzelnen die Ausübung seiner Freiheit unmöglich machen und der Schutz in sein Gegenteil verkehrt würde. Der Einzelne kann daher grundsätzlich im Rahmen seiner Privatautonomie einer Beschränkung seiner Rechte aus den Personenverkehrsfreiheiten zustimmen. Erkennt man allerdings die grundsätzliche Zulässigkeit einer privatautonom vorgenommenen Abwägung an, so besteht kein Unterschied zwischen individualrechtlichen Vereinbarungen und kollektiven Regelungen. Auch bei letzteren stimmen beide Parteien der Geltung der kollektiven Regelung grundsätzlich privatautonom zu, erst damit erlangt sie ihre Wirksamkeit. In der Literatur ist im Hinblick auf die Bewertung kollektiver Regelungen versucht worden, mit Hilfe von Kategorien wie „intermediäre Gewalten“,844 soziale Mächtigkeit845 oder „quasi-staatliche Private“,846 die Besonderheit der kollektiven Regelungen bzw. ihrer Urheber in den Griff zu bekommen.847 Derartige Versuche verschleiern allerdings den Ausgangspunkt, nämlich die privatrechtliche Qualität des Handelns.848 Damit gelten konsequenterweise die oben dargestellten Grundsätze hinsichtlich der Zustimmung. Diese reichen zur Lösung der mit kollektiven Regelungen verbundenen Besonderheiten auch aus. bb) Tatsächliche Ausübung von Privatautonomie Hinter den Bemühungen, andere Kategorisierungen für kollektive Regelungen zu finden, steht die Erkenntnis, dass gerade kollektive Regeln die individuellen Rechtspositionen beider Parteien oft nicht ausreichend berücksichtigen und daher die Zustimmung beider Parteien als Rechtfertigung möglicherweise nicht (in 843

So auch BVerfGE 81, S. 242 (254). Jaensch, Drittwirkung, S. 263 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 IV 8 (S. 1586 f.). 845 Fabis, Freizügigkeit, S. 124 ff.; Matthies, FS Sasse, S. 115 (124). 846 Jaensch, Drittwirkung, S. 266; C. Weber, RdA 1996, S. 107 (108); Reichold, ZEuP 1998, S. 434 (443); Kainer, JuS 2000, S. 431 (432). Klose, Europäischen Einigung, S. 174 speziell für Sportverbände. Vgl. auch für das deutsche Arbeitsrecht Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 385 (407). 847 Auch in der deutschen Drittwirkungsdiskussion war dies die Kernfrage. Siehe dazu nur Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 IV 8 (S. 1586 f.); Dürig, FS Nawiasky, S. 183 f.; Nipperdey, Grundrechte, S. 19 f.; Leisner, Grundrechte, S. 379 ff.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 385 (407); BAGE 1, 185 (194). 848 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 76 IV 8 (S. 1591); Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (207); Rupp, NJW 1972, S. 1537 (1542). Kritisch zu derartigen Kategorisierungsversuchen Badura, in: FS Molitor, S. 1 (3). 844

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vollem Umfang) zugrunde gelegt werden kann. Es geht also bei kollektiven Regelungen nicht so sehr um die Frage, ob eine Beeinträchtigung durch kollektive Regelungen vereinbart, sondern ob, und wenn ja, unter welchen Umständen die Zustimmung zu einer solchen Vereinbarung als privatautonome Handlung gewertet werden kann. Ob privatautonomes Handeln vorliegt, darf aber nicht abstrakt-generell, sondern muss für den konkreten Einzelfall untersucht werden.849 Dabei kommt es im Hinblick auf strukturelle Ungleichgewichtslagen auf typisierbare Merkmale an. Ob diese aber vorliegen, muss individuell geprüft werden. Allein die Kollektivität einer Regelung reicht als typisierbares Merkmal nicht aus. Insbesondere bei kollektiven Regelungen muss jedoch geprüft werden, ob die Regelungen deshalb nicht als Ausübung beidseitiger Privatautonomie anzusehen sind, weil sie faktisch einseitig zum Nachteil der anderen Partei bestimmt wurden.850 Anhaltspunkt dabei kann die einseitige Vorgabe der Regelungen durch eine Partei sein, die ein Verhandeln bereits im Ansatz ausschließt. Wenn Beschränkungen nicht individuell ausgehandelt werden, bedeutet dies allerdings nicht, dass ihnen grundsätzlich nicht privatautonom zugestimmt werden kann. Fehlt es an einem Aushandeln, kommt es entscheidend auf die Möglichkeit einer Alternative an.851 Das soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, das den Bosman-Fall leicht variiert: In Europa existiert nicht nur eine professionelle Fußballliga, sondern es gibt zwei Ligen. Die Liga A funktioniert nach den Regeln, wie sie für Bosman bestanden, inklusive also der Transferregeln. Die Liga B kennt solche Beschränkungen der Freizügigkeit nicht, die Spieler können jederzeit ohne Bedingungen den Verein wechseln. Allerdings werden dort erheblich niedrigere Gehälter gezahlt.

Wenn in diesem fiktiven Beispiel ein Spieler der Liga A die Beschränkung seiner Grundfreiheit aus Artikel 39 EG geltend macht, so muss er sich seine Zustimmung zu den Regelungen entgegenhalten lassen. Durch die Möglichkeit, die Beschränkung seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der Wahl der Liga B zu vermeiden, wenn auch um den Preis eines geringeren Gehalts, kann er die Beschränkung problemlos vermeiden. Nimmt man die Privatautonomie ernst, muss der Spieler frei sein, eine Liga zu wählen und die entsprechende Beschränkung wegen des höheren Gehaltes in Kauf zu nehmen, seine Freizügigkeit also zu „verkaufen“. Die Annahme einer Wahlmöglichkeit macht auch deutlich, dass bei Bosman, ebenso wie bei Lehtonen, die Bedenken gegen die Zustimmung zu der Beschränkung letztendlich darauf basierten, dass dort die Sportler keine Alternative zum Regelsystem des Verbandes hatten. Problematisch ist also nicht grundsätzlich die vertragliche Vereinbarung von Beschränkungen durch kollek849 850 851

So auch Hermes, NJW 1990, S. 1764 (1767). Vgl. dazu auch Canaris, FS Schmidt, S. 29 (60). Siehe oben S. 185 ff.

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tive Regelungen, sondern der Zwang, einer solchen Beschränkung (aufgrund mangelnder Alternative) zustimmen zu müssen.852 Im Ergebnis bedeutet dies, wenn auf beiden Seiten selbstbestimmtes Handeln vorliegt, so ist die Regelung als Ausdruck beidseitig ausgeübter Privatautonomie zu akzeptieren. Eine weitergehende staatliche Kontrolle darf dann nicht stattfinden. Liegt hingegen faktisch für eine Partei Fremdbestimmung vor, so ist die Regelung nicht als Abwägungsergebnis anzuerkennen.853 Dann muss der Staat aufgrund der Schutzpflicht, die sich aus den Grundfreiheiten ergibt,854 kontrollierend eingreifen und die Regelungen auf die ausreichende Berücksichtigung der betroffenen Rechte und Freiheiten überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. cc) Ergebnis Eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheiten kann grundsätzlich privatautonom vereinbart werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies durch individualrechtlichen Vertrag oder durch kollektive Regelung erfolgt. Insoweit ist die Rechtsprechung im Ansatz korrekturbedürftig. Allerdings ist für die Anerkennung einer Beschränkung Voraussetzung, dass beide Parteien privatautonom handeln konnten. Insbesondere, aber eben nicht ausschließlich bei kollektiven Regelungen stellt sich damit vor allem die Frage nach dem Vorliegen einer strukturellen Ungleichgewichtslage, die zu einer faktischen Fremdbestimmung führt. Ist die Vereinbarung kein selbstbestimmter Interessenausgleich, lebt die Schutzpflicht des Staates wieder auf, so dass eine Abwägung der beteiligten Rechte von staatlicher Seite vorgenommen werden muss. b) Bindung Privater an die Grundfreiheiten und Wesensgehalt der Grundrechte Bei einer solchen Abwägung zwischen Personenverkehrsfreiheiten und rechtsgeschäftlicher Freiheit ist zu beachten, dass eine Beschränkung der Personenverkehrsfreiheit stets auch zu einer Beeinträchtigung des Rechts auf Freizügigkeit führt. Die Freizügigkeit gehört wiederum zum Wesensgehalt der Personenverkehrsfreiheit, denn ohne die Möglichkeit eines Wechsels in einen anderen Mitgliedstaat kann sie nicht ausgeübt werden. Eine Beschränkung der Personenver852 U. Forsthoff, EWS 2000, S. 389 (394) begründet mit der Alternativlosigkeit die Bindung kollektiver Akteure an die Grundfreiheiten. Die Möglichkeit einer Alternative für die Frage einer Drittwirkung deutscher Grundrechte betont auch Gamillscheg, AcP 64 (1964), S. 385 (418), der dies aber auch auf den Bereich der Diskriminierung ausdehnt. 853 Anders wohl Reich, Bürgerrechte, S. 162. 854 Siehe dazu näher oben S. 189 f.

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kehrsfreiheit trifft diese somit immer in ihrem Kern, in ihrem Wesensgehalt. Es erscheint daher konsequent, auch bei den kollidierenden Gemeinschafts-Grundrechten darauf abzustellen, ob diese in ihrem Wesensgehalt betroffen sind. Wenn beispielsweise die Vereinigungsfreiheit auch ohne die beschränkende Regelung sinnvoll ausgeübt werden kann, also der Wesensgehalt dieses Grundrechts nicht berührt ist, muss das Grundrecht hinter der Grundfreiheit zurückstehen. Ein Vorrang des Gemeinschafts-Grundrechts würde ansonsten, umgekehrt formuliert, die Personenverkehrsfreiheit unverhältnismäßig beschneiden. Im Hinblick auf das der praktischen Konkordanz zugrunde liegende Ziel, beiden Rechten soweit wie möglich Wirksamkeit zu verschaffen, ist es daher überzeugend, die Vereinigungsfreiheit grundsätzlich zurückstehen zu lassen. Entsprechendes gilt allgemein auch für das Gemeinschafts-Grundrecht der Vertragsfreiheit, wobei dort auf den Vertragszweck abgestellt werden muss. Unter Berücksichtigung des Ausmaßes der Betroffenheit sowohl der Grundfreiheit als auch des Gemeinschafts-Grundrechts überzeugt damit der grundsätzliche Vorrang der Grundfreiheit.855 Dieser Vorrang ist allerdings nur deshalb angemessen, weil er nicht in allen Fällen ohne weitere Prüfung gilt. Ist bei einer Regelung der Wesensgehalt des Grundrechts betroffen, kann er die Grundfreiheit überwiegen. Wie im Fall Deliège sind beispielsweise bei Sportverbänden deren Hauptziele, zu denen auch die Organisation von (internationalen) Sportveranstaltungen gehören kann, als Kern der Vereinigungsfreiheit zu berücksichtigen. Ist eine Erreichung der Ziele ohne beschränkende Regelungen nicht sinnvoll möglich, ist also die Bechränkung zur Erreichung des Ziels geeignet und erforderlich, was im Einzelfall genau zu prüfen ist, so ist der Wesensgehalt des Gemeinschafts-Grundrechts betroffen. In solchen Fällen müssen die Grundfreiheiten der Vereinsmitglieder grundsätzlich zurückstehen, wenn sich der Konflikt nicht anders auflösen lässt. Dies überzeugt insbesondere, wenn man bedenkt, dass oftmals eine Ausübung der Grundfreiheit, beispielsweise eine internationale Sporttätigkeit, ohne die Vereine von vornherein für niemanden möglich wäre. Die aufgeworfene Kollision zwischen Grundfreiheiten und der rechtsgeschäftlichen Freiheit ist damit grundsätzlich zugunsten der Grundfreiheiten entschieden. Anders kann es sein, wenn der Wesensgehalt des Grundrechts betroffen ist. Nur eine solch differenzierte Konfliktlösung trägt den betroffenen Interessen und Rechten angemessen Rechnung.

855 Dies zeigt sich auch daran, dass nach der Entscheidung Bosman der grenzüberschreitende Transfer von Fußballspielern schlagartig angestiegen ist.

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c) Bewertung der Rechtsprechung: Bindung Privater bei kollektiven Regelungen? Die Möglichkeit einer wirksamen Zustimmung zu einer Beschränkung auch bei kollektiven Regelungen wird vom Gerichtshof nicht ausreichend gewürdigt. Dabei wird sich im Ergebnis meist kein anderes Bild ergeben, wie sich an den Sportfällen deutlich zeigt. In all diesen Fällen hatten die Sportler aufgrund der Monopolstellung der Verbände keine Möglichkeit, ihre eigenen Interessen und Rechte effektiv in die Regelung einfließen zu lassen.856 Zwischen den Verbänden und den Sportlern bestand ein deutliches Ungleichgewicht in der Verhandlungsstärke, so dass faktisch die Regeln vom Verband einseitig vorgegeben werden konnten. Die gerichtliche Kontrolle dieser Regelungen war damit aufgrund der aus den Grundfreiheiten folgenden Schutzpflicht notwendig und richtig. Im Einzelfall kann dies jedoch anders sein. Insoweit ist eine Einschränkung der pauschalen Aussage des Gerichtshofs vorzunehmen. Dies deutet sich auch in der Rechtsprechung selbst an. In der Entscheidung Ferlini, in der es um die Vereinbarkeit einer Gebührenordnung luxemburgischer Krankenhäuser mit Artikel 12 EG ging, begründete der EuGH trotz Verweise auf Walrave und Bosman die Überprüfbarkeit der privater Ordnung nicht mit seiner üblichen Formulierung der kollektiven Regelungen, sondern mit folgender Aussage: „Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt Artikel 6 I EGV [12 EG] auch in Fällen, in denen eine Gruppe oder Organisation [. . .] gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen.“ 857

Dahinter steht möglicherweise die Überlegung, dass es sich bei der Gebührenordnung nicht um eine kollektive Regelung im bisher verwendeten Sinne handelt.858 Dennoch wird so der pauschale Verweis auf kollektive Regelungen aufgebrochen und stattdessen auf das tatsächliche Verhältnis zwischen den Parteien abgestellt.859 Allerdings wird auch hier nicht explizit auf die Frage des 856 Gramlich, DÖV 1996, S. 801 (811) verweist allerdings auf die Möglichkeit, dass die Verbandsregeln mit Vertretern der Sportler ausgehandelt wurden. Ebenso Fischer, EuZW 2002, S. 97. 857 EuGH, Rs. C-411/98, Ferlini, Slg. 2000, S. I-8081 Rz. 50. 858 So Generalanwalt Cosmas, Schlussanträge, S. I-8084 Rz. 75, der kollektive Regelungen vor allem im arbeitsrechtlichen Bereich ansiedelt, wie der Vergleich zu tarifrechtlichen Regelungen deutlich macht. 859 Obgleich es sich in Ferlini um eine Entscheidung zu privaten Diskriminierungen handelt, stellt sie keine Einschränkung der Rechtsprechung dar, wie sie in Angonese ihren Anfang genommen hat. Vielmehr zeigt der Verweis auf Bosman und Walrave, dass das Ferlini-Urteil sich als Fortsetzung dieser Urteile eingliedert. Damit kann angenommen werden, dass die neue Formulierung eine Ablösung der kollektiven Regelungen bedeutet und nicht die weitergehende Anwendung des Diskriminierungsverbots

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privatautonomen Handelns verwiesen, so dass diese Formel ebenfalls nicht unproblematisch ist. Ohne weiteres lässt sich nicht sagen, wann Private überhaupt gegenüber anderen Privaten „Befugnisse ausüben“ oder diese „Regelungen unterwerfen“ können. Es scheint aber wahrscheinlich, dass dazu die Vorformulierung nicht ausreichen soll, sondern dass, wie der Ausdruck „Unterwerfung“ nahe legt, auch ein Ungleichgewicht der Vertragsleistungen sowie die Alternativlosigkeit des Angebots gehört. Damit nähert sich die neue Formulierung den hier angestellten Überlegungen an. Auch der EuGH scheint also bestrebt zu sein, die Formulierung der kollektiven Regelung verlassen zu wollen, um zu einer normativ befriedigenderen Lösung zu kommen. Allerdings wird nun vom Gerichtshof verlangt, dass es sich um eine Gruppe oder Organisation handelt, die „bestimmte Befugnisse“ gegenüber Einzelpersonen ausüben kann. Dies führt das kollektive Element zwar nicht im Bereich der Regelung, aber im Hinblick auf den Urheber wieder ein. Die Eingrenzung mag die Hauptanwendungsfälle erfassen, in denen privatautonomes Handeln beider Parteien fraglich ist. Die Frage nach der Privatautonomie ist jedoch weder auf kollektive Regelungen beschränkt noch auf Bedingungen, die von Kollektiven, also Gruppen oder Organisationen, ausgehen, sondern stellt sich im Ansatz genau so für Vereinbarungen zwischen einzelnen Vertragsparteien. Auch dort können strukturelle Ungleichgewichtslagen vorliegen, die die Ausübung der Privatautonomie ausschließen.860 Dies ist ebenfalls im Einzelfall zu überprüfen. Überzeugend ist der Gerichtshof hingegen in seinen Ergebnissen: Dort findet sich sehr deutlich der grundsätzliche Vorrang der Personenverkehrsfreiheiten in der Abwägung gegenüber den Gemeinschafts-Grundrechten mit der Einschränkung bei einer Betroffenheit des Wesensgehalts der Grundrechte. In der Entscheidung Bosman hatte der EuGH danach gefragt, ob die Regeln für die Ausübung der Vereinigungsfreiheit „erforderlich“ und ob sie „eine unausweichliche Folge dieser Freiheit“ seien.861 Beides wurde vom Gerichtshof verneint mit dem Ergebnis, dass die Bindung der Verbände an Artikel 39 EG nicht durch die Vereinigungsfreiheit ausgeschlossen wurde. Damit folglich die Vereinigungsfreiheit im Rahmen der Abwägung die Grundfreiheit überwiegen kann, muss die beschränkende Regelung „erforderlich“ oder „unerlässlich“ für die Ausübung des Grundrechts sein. In diesen Fällen, in denen der Kern der Freiheit, also ihr Wesensgehalt betroffen ist, ist für den EuGH eine andere Gewichtung der Rechte möglich.862 Entsprechend hat der EuGH im Fall Deliège entschieden, dass die auf alle privatrechtlichen Vereinbarungen rückgängig machen will. Dies liegt auch deshalb nahe, weil der Sachverhalt eine derartige Einschränkung erlaubte. 860 Diese Annahme spiegelt sich in der europäischen AGB-Richtlinie wider: Dort kommt es nicht darauf an, dass Vertragsbedingungen für eine Vielzahl von Verträgen gedacht sind (so aber das deutsche AGB-Gesetz), sondern allein auf das fehlende Aushandeln. 861 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I-4921 Rz. 80.

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durch das Auswahlsystem des Verbandes bewirkte Beschränkung der Spieler, an Wettkämpfen teilzunehmen, für die Durchführung der internationalen Wettkämpfe notwendig sei und dass die Beschränkung der Grundfreiheiten der Sportler daher hinter der Vereinigungsfreiheit zurückstehen müsse.863 Während also die Grundlage der Rechtsprechung zu Beschränkungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten nicht hinreichend präzise geklärt wird, sind die Ergebnisse durchaus überzeugend. 3. Beeinträchtigungen der Produktverkehrsfreiheiten Bei den Produktverkehrsfreiheiten ist, wie oben ausführlich dargelegt, keine grundrechtliche Aufladung durch das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Artikel 12 EG gegeben.864 Im Rahmen der Abwägung ist es daher nicht von entscheidender Bedeutung, ob die Beeinträchtigung durch eine Handlung erfolgt, die Produkte anderer Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Herkunft anders behandelt oder ohne diskriminierenden Charakter als Beschränkung wirkt. Der im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigende Grundrechtsgehalt der Produktverkehrsfreiheiten wird dadurch jedenfalls nicht grundsätzlich geändert. a) Abschlussfreiheit Im Rahmen der Abschlussfreiheit kann es vor allem dadurch zu Beeinträchtigungen der Produktverkehrsfreiheiten kommen, dass Produkte aus anderen Mitgliedstaaten nicht gekauft oder verkauft werden. Dabei stehen sich das Recht auf negative Abschlussfreiheit und die Produktverkehrsfreiheit gegenüber.865 Bei einer Abwägung der betroffenen Rechte sind auf der einen Seite die Produktverkehrsfreiheiten zu berücksichtigen, deren subjektiv-rechtlicher Gehalt sich in den europäischen Wirtschaftsgrundrechten, genauer in der Handels- und Wirtschaftsfreiheit, manifestiert.866 Darin erschöpft sich jedoch der Grundrechtsgehalt der Produktverkehrsfreiheiten, der im Vergleich zu den Personenverkehrsfreiheiten erheblich schwächer ausgeprägt ist und überdies nicht auf die Person des Freiheitsträgers an sich bezogen ist.

862

Dazu Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), S. 6 (15). EuGH, verb. Rs. C-51/96 u. 191/97, Deliège, Slg. 2000, S. I-2549 Rz. 64. 864 Siehe oben S. 158 ff., vgl. aber auch schon zuvor S. 120 ff. 865 Es sei darauf hingewiesen, dass es sich dabei um den Fall handelt, der von Gegnern einer Bindung Privater an die Grundfreiheiten angeführt wird, um die angebliche Absurdität einer solchen Bindung allgemein zu beweisen (siehe die Nachweise unter Fn. 179). 866 Siehe oben S. 154 ff. 863

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Auf der anderen Seite hat die Freiheit, Verträge nicht einzugehen, einen hohen individualrechtlichen Stellenwert. Sie gewährleistet, dass sich der Einzelne aussuchen kann, mit wem er welche Verträge abschließt. Die damit einhergehende Freiheit, seine persönlichen Lebensverhältnisse autonom zu gestalten, ist von enormer Bedeutung für den Einzelnen. Bei einer Abwägung dieser beiden Rechtspositionen überwiegt daher die Abschlussfreiheit grundsätzlich. Der Einzelne muss berechtigt sein, sich frei zu entscheiden, welche Produkte er kauft oder verkauft. Ein Kontrahierungszwang bzw. eine Gewährung entsprechender Sekundäransprüche, die auf einer Pflicht zur Gleichbehandlung in- und ausländischer Produkte beruht, stellt grundsätzlich einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Abschlussfreiheit dar. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Vereinigungsfreiheit. Die denkbaren Fälle sind im Vergleich zur Vertragsfreiheit erheblich weniger wichtig. Dennoch ist auch dabei vorstellbar, dass die Abschlussfreiheit gegenüber den Produktverkehrsfreiheiten relevant werden kann, wenn beispielsweise Hersteller oder Verkäufer ausländischer Produkte nicht in (wirtschaftliche) Vereinigungen oder Verbände aufgenommen werden. Wie bei der Vertragsfreiheit ist auch dann die Freiheit, sich aussuchen zu dürfen, mit wem man Vereinigungen bildet, grundsätzlich vorrangig, wobei zu betonen ist, dass nicht, wie oben festgestellt, die Staatsangehörigkeit des Einzelnen zum Auswahlkriterium werden darf, wenn kein sachlicher Grund dazu besteht.867 Sowohl bei der Vertrags- als auch bei der Vereinigungsfreiheit kann es allerdings zu einer anderen Gewichtung der kollidierenden Rechtspositionen kommen, wenn die Partei, die sich auf ihre Abschlussfreiheit beruft, eine besonderen Machtstellung innehat und die andere Partei keine Alternative zu dem verweigerten Abschluss hat. Damit ist jedoch bereits der Bereich des Wettbewerbsrechts angesprochen, auf den der EuGH in seinen Urteilen explizit hingewiesen hat. Da sich dieses Problem auch für die Fälle der Inhaltsfreiheit stellt, soll es nachfolgend unter c) erörtert werden. b) Inhaltsfreiheit Beeinträchtigungen der Produktverkehrsfreiheiten im Rahmen der Inhaltsfreiheit können sich durch Diskriminierungen, vor allem aber durch diskriminierungsfreie Beschränkungen ergeben. Zu denken ist dabei beispielsweise an Reimportverbote, die Erschwerung von Kundenservice oder anderen Nebenleistungen, wenn ein Vertragshändler Produkte in andere Mitgliedstaaten verkauft oder die Verpflichtung, im Falle von Lieferungen in andere Mitgliedstaaten die Preise des Bestimmungslands einzuhalten.868 Zunächst ist bei der Inhaltsfreiheit die Dispositionsbefugnis des Berechtigten kurz zu klären, sowie das Erfordernis 867 868

Siehe dazu oben S. 196 ff. Vgl. Jestaedt in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Art. 81 Rz. 328.

I. Rechtsgeschäftliche Maßnahmen

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der tatsächlichen Ausübung von Privatautonomie als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung der getroffenen Vereinbarung. aa) Dispositionsbefugnis des Beeinträchtigten Bei der Frage der Dispositionsbefugnis ist, wie bei den Personenverkehrsfreiheiten zu beachten, dass sich eine Diskriminierung selten aus der Vereinbarung selbst ergeben wird, sondern in der Regel nur durch einen Vergleich mehrerer Vereinbarungen feststellbar sein wird.869 Die Frage der Dispositionsbefugnis des durch die Diskriminierung Benachteiligten wird sich daher auch hier im Normalfall nicht stellen.870 Es ist aber beispielsweise denkbar, dass ein Vertrag mit einem Verkäufer ausländischer Produkte ausdrücklich vorsieht, dass für diese ausländischen Produkte immer ein geringerer Betrag gezahlt wird als der marktübliche Preis für vergleichbare inländische Produkte. Daher gelten die nachfolgenden Ausführungen zur Dispositionsbefugnis grundsätzlich für beide Arten der Beeinträchtigung. Hinsichtlich der Zustimmung des Berechtigten zu einer Beschränkung seiner Rechte aus den Produktverkehrsfreiheiten ist zu berücksichtigen, dass im Vergleich zu den Personenverkehrsfreiheiten der Grundrechtsgehalt der Produktverkehrsfreiheiten erheblich geringer einzustufen ist. Ein öffentliches Interesse an dem Schutz dieser Freiheiten sogar vor dem Freiheitsträger selbst ist dementsprechend kaum gegeben. Dagegen spricht vor allem auch die Privatautonomie selbst, die empfindlich eingeschränkt wäre, wenn man eine Dispositionsbefugnis ablehnen und damit in selbstbestimmt getroffene Vereinbarungen eingreifen würde. Eine Dispositionsbefugnis über die Rechte der Produktverkehrsfreiheiten ist daher unproblematisch zu bejahen. bb) Tatsächliche Ausübung von Privatautonomie Allerdings ist für die Anerkennung der vertraglichen Einschränkung der Produktverkehrsfreiheiten die tatsächliche Ausübung der Privatautonomie auf beiden Seiten Voraussetzung. Nur wenn auf beiden Seiten selbstbestimmtes Handeln vorliegt, kann die Vereinbarung als privatautonom getroffener Interessenausgleich anerkannt werden. Fehlt es bei einer Partei an einem solchen privatautonomen Handeln, so stellt sich die Frage nach einer Überprüfung der Vereinbarung von staatlicher Seite. Grundsätzlich ist, wie oben dargelegt,871 bei den Produktverkehrsfreiheiten durch die Wirtschaftsgrundrechte ein grundrechtlicher Gehalt gegeben. Damit kann eine Beschränkung auch dieser Freiheiten 869 870 871

Siehe oben S. 193 ff. Siehe oben S. 194 ff. Siehe oben S. 154 f.

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

unzulässig sein, wenn sie von einer Partei faktisch einseitig vorgegeben ist und zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gemeinschafts-Grundrechte der anderen Partei führt, die damit stark in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. An die Stelle der einseitig bestimmten Regelung muss dann unter Umständen ein Ausgleich der Positionen von staatlicher Seite getroffen werden. Fehlt also ein privatautonomer Interessenausgleich, unterscheiden sich die Fälle der Inhaltsfreiheit nicht grundsätzlich von Fällen der Abschlussfreiheit, wo es in der Natur der Sache begründet liegt, dass eine Partei einseitig durch Verweigerung eines Vertragsabschlusses oder der Aufnahme in eine Vereinigung, eine Beschränkung der Grundfreiheiten der anderen Partei herbeiführt. Die obigen Ausführungen gelten daher entsprechend. c) Wettbewerbsrecht als gesetzgeberisches Abwägungsergebnis Werden damit Private in Ausübung ihrer vorrangig zu beachtenden Privatautonomie tätig, so ist eine Bindung Privater an die Produktverkehrsfreiheiten abzulehnen. In den Fällen, in denen jedoch eine Partei aufgrund der fehlenden Möglichkeit, auf andere Verträge auszuweichen, einen für sie stark nachteiligen Vertrag abschließen muss oder aber ihr ein Vertragsabschluss insgesamt verweigert wird, so dass ihr dadurch erhebliche Nachteile erwachsen, ist die Vereinbarung selbst nicht anzuerkennen. Stattdessen ist nach einem staatlichen Ausgleich zu fragen. Im Sinne einer praktischen Konkordanz ist dabei die bestmögliche Verwirklichung beider Rechtspositionen anzustreben. Dabei stellt sich die Frage, ob der Schutz der individualrechtlichen Positionen der Produktverkehrsfreiheiten nur durch eine Bindung Privater an diese Freiheiten möglich ist. Der Gerichtshof hat bei der Überprüfung privater Beeinträchtigungen der Produktverkehrsfreiheiten auf das Wettbewerbsrecht verwiesen. Dieser Verweis könnte eine sinnvolle und überzeugende Lösung der Kollision der Produktverkehrsfreiheiten mit den Gemeinschafts-Grundrechten darstellen. Wie dargelegt, lassen sich die vom Wettbewerbsrecht erfassten Sachverhalte nicht einfach als Untergruppe der Fälle verstehen, die unter die Grundfreiheiten fallen.872 Dennoch können im Hinblick auf die Produktverkehrsfreiheiten weitgehende Überschneidungen festgestellt werden. Die Grenzen des Wettbewerbsrechts bilden in diesen Fällen zugleich auch Grenzen für privates Handeln im Bereich der Produktverkehrsfreiheiten. Den Vorschriften des Wettbewerbsrechts ist dabei eine gesetzgeberische Abwägung zwischen der Privatautonomie und den Rechten der schwächeren Partei auf wirtschaftliche Betätigung immanent. Sie spiegeln den oben dargestellten 872

Siehe oben S. 106 ff.

I. Rechtsgeschäftliche Maßnahmen

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Konflikt zwischen den Produktverkehrsfreiheiten und den Gemeinschafts-Grundrechten wider und geben dafür bestimmte Ergebnisse vor. Dies bedeutet zugleich, dass nicht alle rechtsgeschäftliche Maßnahmen, die eine beschränkende Wirkung für eine Partei haben, für unzulässig erklärt werden. Außerhalb der Grenzen des Wettbewerbsrechts ist jedoch eine Einschränkung der Produktverkehrsfreiheiten durch Private hinzunehmen. Damit ist zugleich gewährleistet, dass die Grenzen, die das Wettbewerbsrecht aufstellt, nicht in den Fällen leer laufen, in denen eine parallele Anwendung beider Normenkomplexe möglich ist. Der gesetzgeberische Wille, der sich in diesen Regelungen äußert, wird somit auch für die Sachverhalte anerkannt und bestätigt, in denen durch die gleichzeitige Bindung Privater an die Produktverkehrsfreiheiten eine richterliche Verschiebung der Grenzen durchaus möglich wäre. Den diesbezüglich von der Literatur geäußerten Bedenken gegen eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten wird damit für den Bereich der Produktverkehrsfreiheiten, in dem sie ernsthaft relevant werden, Rechnung getragen.873 Die Abwägung der kollidierenden Rechtspositionen findet somit vorwiegend im Rahmen des Wettbewerbsrechts statt. Ein den Grundfreiheiten entsprechender Schutz wird dabei allerdings nicht erreicht. So ist allein durch das Spürbarkeitserfordernis eine deutliche Einschränkung der möglichen Verletzungshandlungen gegeben. Ferner ist das Wettbewerbsrecht nur auf Unternehmen, nicht auf alle Private anwendbar. Die Fälle, in denen sich eine Beschränkung der Produktverkehrsfreiheiten (auch) durch eine Alternativlosigkeit zu den nachteiligen Vereinbarungen ergibt, werden jedoch in der Regel durch das Wettbewerbsrecht erfasst werden. Aufgrund des im Vergleich zu den Personenverkehrsfreiheiten geringer einzustufenden subjektiv-rechtlichen Gehalts der Produktverkehrsfreiheiten erscheint ein darüber hinausgehendes Schutzdefizit grundsätzlich hinnehmbar. Im Übrigen werden sich die Fälle, bei denen eine Anwendung des Wettbewerbsrechts beispielsweise wegen einer fehlenden Unternehmereigenschaft ausgeschlossen sein sollte, oftmals durch einfachgesetzliche Regelungen, wie insbesondere dem Verbraucherschutzrecht, lösen lassen. Der Gesetzgeber hat dabei das ihm erscheinende Schutzdefizit explizit aufgegriffen und einer Regelung zugeführt, so dass es auch dann auf eine Bindung Privater an die Produktverkehrsfreiheiten, die im Wege der Auslegung zu erreichen wäre, nicht mehr ankommt. Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass durch das Wettbewerbsrecht als der entscheidenden Grenze privater Beeinträchtigungen im Bereich der Warenverkehrsfreiheiten ein weitgehender Schutz der in den Grundfreiheiten enthaltenen subjektiv-rechtlichen Gehalte gewährleistet wird, während gleichzeitig die kollidierenden Gemeinschafts-Grundrechte ausreichend berücksichtigt werden.

873

Ebenda. Zu den Bedenken, siehe oben S. 103 ff.

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

d) Bewertung der Rechtsprechung Der Gerichtshof trennt in seinen Urteilen zu rechtsgeschäftlichen Beschränkungen der Produktverkehrsfreiheiten nach dem Urheber der Maßnahme und überprüft nur staatliche Maßnahmen an den Produktverkehrsfreiheiten, nicht hingegen Maßnahmen Privater. Die Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit überwiegt damit die Produktverkehrsfreiheit, allerdings mit der Einschränkung, dass die Grenzen des Wettbewerbsrechts einzuhalten sind. Der EuGH erklärt durch diesen Verweis auf das Wettbewerbsrecht die dort durch den Gesetzgeber bereits getroffene Abwägung zwischen den Rechten Privater für allein maßgeblich und lehnt eine weitere Überprüfung von privaten Maßnahmen auch an den Produktverkehrsfreiheiten ab. Die vom EuGH vorgenommene Bewertung der Produktverkehrsfreiheiten und der entgegenstehenden Gemeinschafts-Grundrechte wird dem subjektiv-rechtlichen Gehalt der kollidierenden Rechtspositionen gerecht und entspricht den oben angestellten Überlegungen. Entgegen vielfacher Stimmen in der Literatur ist daher festzustellen, dass der Gerichtshof für die Frage der Bindungswirkung der Produktverkehrsfreiheiten durchaus zu überzeugenden Abwägungsergebnissen kommt, auch und gerade unter Berücksichtigung der anderslautenden Entscheidungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten. 4. Zusammenfassung Den Grundfreiheiten mit ihrem abgestuften Grundrechtsgehalt stehen bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen Privater die Gemeinschafts-Grundrechte der Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit gegenüber. Es gilt zunächst die Bindung aller Privaten an das Diskriminierungsverbot der Personenverkehrsfreiheiten, also ein absoluter Vorrang der Grundfreiheit. Der Vorrang ist aufgrund der herausragenden Bedeutung des Diskriminierungsverbots, sowohl in seiner subjektiven als auch in seiner objektiven Dimension, gerechtfertigt. Daran ändert auch eine (ohnehin seltene) Zustimmung des Diskriminierten nichts, da es insoweit an einer Dispositionsbefugnis fehlt. Bei Beschränkungen im Bereich der Personenverkehrsfreiheiten ist eine Dispositionsbefugnis der Betroffenen hingegen anzunehmen. Daher ist eine beschränkende Vereinbarung als Ausübung der Privatautonomie beider Parteien anzuerkennen, wenn tatsächlich auf beiden Seiten selbstbestimmt gehandelt wurde. Ist hingegen, vor allem als Folge einer bestehenden Ungleichgewichtslage, die Regelung faktisch einseitig vorgegeben, so bleibt eine von staatlicher Seite vorzunehmende Überprüfung des Interessenausgleichs und gegebenenfalls eine Substituierung der Abwägung aufgrund der aus den Grundfreiheiten fließenden Schutzpflicht erforderlich. Die vom EuGH vorgenommene Abwägung, die zugunsten der Grundfreiheit ausfällt, wenn nicht der Wesensgehalt des kollidierenden Gemeinschafts-Grundrechts betroffen ist,

II. Tatsächliches Handeln

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trifft dabei einen sachgerechten Interessenausgleich. Dies muss allerdings nicht nur für kollektive Maßnahmen, sondern auch für individuelle Vereinbarungen gelten. Bei den Produktverkehrsfreiheiten überwiegt, auch unabhängig von einer möglichen Zustimmung des Beeinträchtigten, die Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit wegen des gering ausgeprägten grundrechtlichen Gehalts der Grundfreiheiten. Hier enthält das Wettbewerbsrecht bereits eine ausreichende Berücksichtigung der beteiligten Rechte. Darüber hinaus ist eine Einschränkung der Gemeinschafts-Grundrechte durch die Grundfreiheiten nicht erforderlich. Die differenzierte Rechtsprechung des EuGH stellt damit zumindest im Ergebnis ein entsprechend abgestuftes und damit überzeugendes Ergebnis einer Abwägung der beteiligten Rechte dar.

II. Tatsächliches Handeln Für den Bereich des tatsächlichen Handelns, welches Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten auslöst, sind die möglichen Fallgestaltungen, anders als bei rechtsgeschäftlichem Handeln, weniger leicht zu abstrahieren. Bei ihnen kommt es sehr viel mehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Es sollen hier aber bestimmte überwiegend hypothetische Fallgestaltungen untersucht werden, in denen sich typischerweise eine Gefahr für die Grundfreiheiten anderer realisiert. Anders als bei rechtsgeschäftlichen Maßnahmen, bei denen das eingegangene bzw. verweigerte Vertragsverhältnis notwendig für die Ausübung der Verkehrsfreiheit ist, geht es bei tatsächlichem Handeln eher um Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, die weniger existentiell für die Ausübung der Grundfreiheit an sich sind. Durch das tatsächliche Handeln wird die Ausübung der Grundfreiheit beeinträchtigt oder in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht verhindert bzw. für einen bestimmten Fall der Ausübung, wie in der Entscheidung Kommission/ Frankreich deutlich wurde, unmöglich gemacht, sie wird aber nicht vollständig und grundsätzlich ausgeschlossen. Ihre Wirkung ist daher oftmals weniger tief greifend als die von rechtsgeschäftlichen Maßnahmen, was sich in der Abwägung niederschlägt. Für tatsächliches Handeln liegt im übrigen eine ausdifferenzierte Rechtsprechung nicht vor. Dies liegt in der eben erwähnten Natur der Grundfreiheiten, die auf eine rechtsgeschäftliche Verwirklichung ausgerichtet und damit in diesem Bereich besonderen Gefährdungslagen ausgesetzt sind. Zunächst hat lediglich die Entscheidung Kommission/Frankreich das Problem privater Beeinträchtigungen durch faktische Handlungen zum Inhalt gehabt. Hierbei ging es aber um den Sonderfall eines gewaltsamen Verhaltens, welches für eine Abwägung konfligierender Rechte wenig Raum bietet. Durch das Schmidberger-Urteil hat sich der EuGH nunmehr zu faktischen Handlungen mit Grundrechtsgehalt geäußert und hat darin auch für andere Fallgestaltungen entscheidende Anhaltspunkte vorgegeben.

212

Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Bei tatsächlichem Handeln, das unter grundrechtlichem Schutz steht, besteht ein Konflikt zwischen der Grundfreiheit und den durch die beeinträchtigende Handlung verwirklichten Gemeinschafts-Grundrechten. Eine Abwägung dieser Rechtspositionen kann nur für den Einzelfall erfolgen, da die jeweils besondere Qualität der Gemeinschafts-Grundrechte und ihre spezielle Ausprägung in der spezifischen Situation berücksichtigt werden muss. Nachfolgend sollen aber für die wichtigsten Fälle tatsächlichen grundfreiheitsrelevanten Handelns Leitlinien für die Abwägung erarbeitet werden. 1. Boykottaufrufe Im Jahr 1995 wurde von privatrechtlichen Organisationen zu einem Boykott der Firma Shell aufgerufen, da diese die Bohrinsel „Brent Spar“ im Meer versenken wollte. Im selben Jahr wurden Verbraucher von Privaten aufgefordert, keine französischen Produkte zu kaufen, um so Druck auf die französische Regierung auszuüben, die Atomwaffenversuche in Mururoa durchführen wollte.874 Diese Beispiele zeigen sehr deutlich, dass Boykottaufrufe von privater Seite zu Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten führen können. Allerdings ist dabei zu beachten, dass ein Boykottaufruf an sich keine Auswirkungen auf die Ausübung der Grundfreiheiten hat. Seine Beeinträchtigungswirkung liegt in der möglichen Beeinflussung anderer Personen bei ihren Entscheidungen im Bereich der Grundfreiheiten, also beispielsweise des Kaufens oder Nichtkaufens ausländischer Waren. Der Aufruf selbst übt damit nur eine mittelbare Wirkung auf die Grundfreiheitsausübung aus. In Betracht kommt ein grundrechtlicher Schutz derartiger Boykottaufrufe aufgrund der Meinungsfreiheit. Danach ist grundsätzlich jede Meinungsäußerung ungeachtet ihres Inhalts geschützt.875 Der Aufruf, bestimmte Produkte zu kaufen bzw. nicht zu kaufen, genießt unproblematisch den Schutz der Meinungsfreiheit. Allerdings ist der Inhalt der Meinungsäußerung nicht in jedem Fall irrelevant. Fraglich ist daher, ob die Meinungsfreiheit auch für die öffentliche Aufforderung gilt, Staatsangehörige anderer oder bestimmter Mitgliedstaaten nicht als Arbeitnehmer oder als Dienstleistende in Anspruch zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des EuGMR genießen rassistische Äußerungen keinen Schutz durch die Meinungsfreiheit.876 Die Staatsangehörigkeit ist der Rasse in gewisser Weise verwandt, da sich zum Teil Überschneidungen zwischen ihnen ergeben können. Sie ist jedoch in geringerem Maße personenbezogen und mit der Menschenwürde nicht in ähnlicher Weise verbunden, wie dies bei der Rasse der Fall

874 875 876

Zu beiden Fällen Ganten, Drittwirkung, S. 190 f. Siehe oben S. 165 ff. EuGMR Urteil v. 23.9.1994, Jersild/Dänemark, Ser. A Nr. 298 Rz. 33 ff.

II. Tatsächliches Handeln

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ist. Aufrufe zur Benachteiligung bestimmter Staatsangehöriger sind damit nicht per se aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen. Bei dem damit entstehenden Konflikt zwischen den Grundfreiheiten auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite kommt letzterer besonderes Gewicht zu. Die Meinungsfreiheit spielt eine zentrale Rolle in einer pluralistischen Gesellschaft. Sie ist eine der „Grundsäulen der demokratischen Gesellschaft“,877 die auch schockierende und provozierende Äußerungen aushalten muss.878 Ihre Einschränkung ist daher nur zulässig, soweit dies zum Zwecke bestimmter Gemeinwohlinteressen oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist und soweit dies unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips geschieht.879 Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Meinungsfreiheit ist bei Boykottaufrufen von ausländischen Produkten und sachbezogenen Dienstleistungen das Interesse am Schutz der Produktverkehrsfreiheit geringer einzustufen als das Interesse am Erhalt eines freien und offenen Meinungsaustausches. Bei Boykottaufrufen müssen die Vorgaben der Produktverkehrsfreiheiten daher von Privaten nicht beachtet werden. Bei den Personenverkehrsfreiheiten ist wegen ihres Grundrechtsgehalts und damit wegen ihrer Bedeutung für den einzelnen Grundfreiheitsträger das Schutzinteresse höher einzuordnen als bei den Produktverkehrsfreiheiten. Dennoch ist auch hier die fundamentale Bedeutung der Meinungsfreiheit sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung zu beachten. Bei der Beurteilung des Konflikts ist zudem wesentlich, dass der Boykottaufruf keine unmittelbare Beeinträchtigung der Grundfreiheiten herbeiführt, sondern nur eine Beeinflussung zugunsten einer Beeinträchtigung vornehmen will. Diese mittelbare Wirkung wird zwar als potentielle Beeinträchtigung der Grundfreiheiten von deren Schutzbereich gedeckt, ist aber in ihrem Gefährdungsgrad geringer als eine unmittelbare Beeinträchtigung. Die tatsächlich sich auswirkende Störung erfolgt durch Dritte, deren Verhalten dann wiederum an den Grundfreiheiten gemessen werden kann bzw. muss. Insbesondere bei dem Abschluss bzw. Nichtabschluss von Verträgen gelten dafür die oben dargelegten Grundsätze.880 Nicht zuletzt aus diesem Grund ist daher der Meinungsfreiheit grundsätzlich ein Vorrang auch gegenüber der Personenverkehrs-

877 St. Rspr., vgl. nur EuGMR, Urteil v. 8.7.1986, Lingens/Österreich, Ser. A Nr. 103 = NJW 1987, S. 2143 (2144); zuletzt EuGMR, Urteil v. 26.2.2002, Rs. 28525/95, Unabhängige Initiative Informationsvielfalt/Österreich, Rz. 34. 878 St. Rspr. des EuGMR, vgl. nur Urteil v. 26.2.2002, Rs. 28525/95, Unabhängige Initiative Informationsvielfalt/Österreich, Rz. 34; Urteil v. 7.12.1976, Handyside, Ser. A Nr. 24 = EuGRZ 1977, S. 38 (42); Urteil v. 8.12.1999, Rs. 23885/94, ÖZDEP/Türkei, Rz. 37. 879 So Art. 52 Abs. 1 der Europäischen Grundrechte-Charta, ähnlich auch Art. 10 Abs. 2 ERMK. 880 Siehe oben S. 192 ff.

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

freiheiten einzuräumen. Das bedeutet nicht, dass ein Boykottaufruf im Einzelfall nicht dennoch verboten werden kann, wenn beispielsweise bestimmte Personen individualisiert und auf besonders herabwürdigende Weise angegriffen werden. Dabei geht es jedoch weniger um die Gewährleistung einer ungehinderten Ausübung der Grundfreiheiten, als um den Schutz der Ehre der angesprochenen Person(en). Der Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Meinungsfreiheit ist damit im Falle von Boykottaufrufen grundsätzlich zugunsten der Meinungsfreiheit aufzulösen. Entsprechend ist die Gewichtung für Fälle negativer Berichterstattungen oder Kommentare, satirischer oder künstlerischer Darstellungen, durch die die Grundfreiheiten in ähnlicher Weise wie bei Boykottaufrufen gefährdet werden können, vorzunehmen. Insgesamt lässt sich daher grundsätzlich ein Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber den Grundfreiheiten annehmen. 2. Blockadeversammlungen Ebenso wie durch individuelle Meinungsäußerungen kann bei Demonstrationen durch kollektive Kundgaben eine mittelbare Gefährdung der Grundfreiheiten erfolgen. Bei der Bewertung dieser Form der Meinungskundgabe ergibt sich kein Unterschied zu den im vorherigen Abschnitt dargelegten Überlegungen. Von Versammlungen können jedoch auch auf andere Weise Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten ausgehen, wie sich vor allem bei Blockadeversammlungen zeigt: Durch Blockadeversammlungen vor allem an wichtigen transnationalen Verkehrsverbindungen oder Grenzübergängen kann der grenzüberschreitende Verkehr erheblich beeinträchtigt werden, wie der Fall Schmidberger deutlich gemacht hat.881 Auch an der österreichischen Grenze zu Tschechien kam es zu Blockaden, als dort Demonstranten gegen das Atomkraftwerk Temelin protestierten. a) Konkrete Ausgestaltung der Versammlung als entscheidendes Kriterium Wie bereits dargelegt, gilt das Gemeinschafts-Grundrecht der Versammlungsfreiheit grundsätzlich auch für Blockadeversammlungen, da trotz der damit verbundenen Behinderung Dritter die Versammlung nicht per se als unfriedlich anzusehen ist.882 So entsteht bei Blockaden ein Konflikt zwischen Grundfreiheiten 881 EuGH, Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, dazu näher oben S. 35 ff. 882 Siehe oben S. 167 ff. So auch implizit der EuGH in Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 84 ff.

II. Tatsächliches Handeln

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und dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit.883 Bei der Abwägung dieser kollidierenden Rechte ist zugunsten der Versammlungsfreiheit zu beachten, dass sie, ähnlich der Meinungsfreiheit, der Kommunikation und damit dem Erhalt einer offenen, freiheitlichen, und demokratischen Ordnung dient. Der Stellenwert von (Blockade-)Versammlungen ist damit hoch einzustufen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass aufgrund der Versammlungsfreiheit die Rechte und Freiheiten Dritter ungehindert beeinträchtigt werden dürfen. Zwar gehen gewisse Behinderungen und Störungen anderer fast unvermeidlich mit der Durchführung einer Versammlung einher.884 Diese Behinderungen bewegen sich aber in der Regel in einem hinnehmbaren Rahmen oder können von den meisten Betroffenen durch Umgehung der Versammlung vermieden werden. Die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten ist dabei gering. Soweit Behinderungen über dieses übliche Maß hinausgehen oder sogar wie bei Blockaden mit der Absicht herbeigeführt werden, dem zu kommunizierenden Anliegen erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen, werden die Grundfreiheiten erheblich stärker beeinträchtigt. Dabei sind bei allen Grundfreiheiten die in ihnen enthaltenen wirtschaftliche Grundrechte885 betroffen, bei den Personenverkehrsfreiheiten darüber hinaus auch das Grundrecht auf Freizügigkeit. Möglich ist sogar, dass die Blockade diskriminierend wirkt, in dem sie nur auf das Aufhalten ausländischer Personen zielt. Gerade bei Blockaden von Grenzübergängen kann sich eine (mittelbare) Diskriminierung ergeben. Dann kommt bei den Personenverkehrsfreiheiten als weiterer Grundrechtsgehalt das allgemeine Diskriminierungsverbot hinzu. Dem Recht auf Versammlungsfreiheit stehen dann die Grundfreiheiten mit zum Teil stark ausgeprägtem Grundrechtsgehalt gegenüber. Im Sinne einer praktischen Konkordanz ist darauf zu achten, dass Einschränkungen beider Rechtspositionen so gering wie möglich gehalten werden. Es kommt bei der Lösung des Konflikts zwischen Grundfreiheiten und Versammlungsfreiheit bei Blockadeversammlungen entscheidend auf die konkrete Ausgestaltung der Blockade an. Dabei sind höhere Anforderungen an die Ausgestaltung zu stellen, wenn nicht nur Produkt-, sondern auch Personenverkehrsfreiheiten beeinträchtigt werden. Allerdings ist darauf zu achten, dass die Möglichkeit, kollektiv im Rahmen einer Versammlung Meinungen kundzutun, weiter bestehen bleiben soll, um die Versammlungsfreiheit nicht in ihrem Wesensgehalt zu treffen.886 Zeitlich und räumlich begrenzte Blockaden, die mit dem zu vermittelnden Anliegen in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, überwiegen wegen der 883 So auch in seiner Vorlagefrage das OLG Innsbruck v. 1.2.2000 in der Rs. C-112/ 00 Schmidberger, abgedruckt in EG ABl. Nr. C 163/12 v. 10.6.2000. 884 So auch BVerfGE 73, S. 206 (250); Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, S. 257 (259). 885 Siehe oben S. 154 f. 886 In diese Richtung BVerfGE 73, S. 250.

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

Bedeutung der Versammlungsfreiheit die Grundfreiheiten grundsätzlich. Damit ist zum Beispiel die kurzfristige Blockade einer Autobahn zum Protest gegen die Verkehrspolitik zulässig, insbesondere dann, wenn Ausweichmöglichkeiten bestehen. Ob dies zum Protest gegen die Außenpolitik beispielsweise ebenso zulässig wäre, ist bereits fraglich. Auch eine Blockade, die zeitlich und räumlich so umfassend ist, dass es den blockierten Personen unmöglich ist, eine grenzüberschreitende Tätigkeit oder einen grenzüberschreitenden Transport (an dem Tag) noch sinnvoll durchzuführen, ist nicht durch die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt. Hier sind die Behinderungen durch Auflagen zum Schutze der Rechte der Außenstehenden zu unterbinden oder zumindest einzuschränken, gegebenenfalls ist die Versammlung zu verbieten bzw. aufzulösen. Der Konflikt zwischen Versammlungsfreiheit und Grundfreiheiten bei Blockadeversammlungen ist daher vor allem über die konkrete Ausgestaltung der Versammlung im Einzelfall zu lösen.887 Soweit Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten ein erträgliches Maß nicht überschreiten, überwiegt die Versammlungsfreiheit gegenüber den Grundfreiheiten, ansonsten genießen die Grundfreiheiten Vorrang. b) Bewertung der Rechtsprechung Im Ergebnis deckt sich dies oben dargestellte Abwägung mit dem, was der Gerichtshof in der Sache Schmidberger vorgegeben hat.888 Zwar hat der EuGH dabei den Konflikt auf die Rechtfertigungsebene verlagert statt ihn, wie hier vertreten, bereits im Rahmen der Anwendbarkeit der Grundfreiheit auf privates Handeln aufzulösen. Dies ändert aber nichts an den einzufließenden Überlegungen und Bewertungen. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung in differenzierter Weise auf den Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschafts-Grundrechten reagiert. Das Ergebnis überzeugt vor allem durch seinen Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der Beeinträchtigung. Zu Recht hat der EuGH auf die begrenzte Tragweite der Blockade, sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht, Bezug genommen ebenso wie auf die konkreten Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Beeinträchtigung gering zu halten.889 Problematisch erscheint allerdings der Hinweis darauf, dass sich die Demonstrationen nicht auf Waren einer bestimmten Art oder Herkunft gerichtet hätten.890 Zwar kann dies in der Abwägung positiv aufzunehmen sein, umgekehrt darf es aber nicht bedeuten, dass 887 Vgl. zum deutschen Recht und dem Konflikt zwischen Grundrechten, BVerfG, NJW 2002, S. 1031 ff.; Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, S. 257 (264). 888 EuGH, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5694, Rz. 81 ff. 889 Ebenda, Rz. 85 ff. 890 Ebenda, Rz. 86.

II. Tatsächliches Handeln

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Demonstrationen, die sich tatsächlich gegen bestimmte Waren richten, ohne weiteres unzulässig wären. Dann ist vielmehr ebenfalls anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob nicht auch eine solche Blockade rechtmäßig sein kann. Der Verweis auf die Rechtssache Kommission/Frankreich891 hilft dabei nur beschränkt weiter, da es dort nicht um die Ausübung der Versammlungsfreiheit ging. Insgesamt aber überzeugen sowohl das Ergebnis als auch die dabei angestellten Überlegungen des Gerichtshofs. 3. Streiks Grundsätzlich ist auch bei einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch Maßnahmen, die im Rahmen der Koalitionsfreiheit insbesondere durch Streiks erfolgen, eine Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtspositionen vorzunehmen. Dabei ist unter Berücksichtigung der Ziele der Union, die die „Besserung der Arbeitsbedingungen der Völker“ und den „sozialen Fortschritt“892 umfassen, der Koalitionsfreiheit einschließlich des Streikrechts europarechtlich ein hoher Stellenwert einzuräumen. Entsprechend werden Beschränkungen der Grundfreiheiten durch Streiks grundsätzlich zu Recht für zulässig angesehen.893 Jedoch liegen mögliche Fallgestaltungen weniger offensichtlich auf der Hand als bei den bisher untersuchten Grundrechten. Wie sich zeigen wird, ist bei den in der Literatur dargelegten Fällen bereits die Konfliktlage zwischen den Rechtspositionen zweifelhaft.894 Streiks dienen als arbeitskampfrechtliche Maßnahmen von Gewerkschaften der Verbesserung und Durchsetzung arbeitsrechtlicher Bedingungen und sind durch die Koalitionsfreiheit grundrechtlich geschützt. Dabei geht es in erster Linie um die Stilllegung des eigenen Betriebs, um auf diese Weise Druck auf den Arbeitgeber auszuüben. Eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten ist zunächst denkbar, wenn durch den Streik dem Arbeitgeber unmöglich gemacht wird, Waren herzustellen und ins europäische Ausland zu exportieren. Dabei greift jedoch die Streikmaßnahme bereits im Vorfeld des Exportes ein, nämlich zum Zeitpunkt der Produktion. Die Warenverkehrsfreiheit wäre nur dann betroffen, wenn man annähme, dass bereits die Herstellung von zur Ausfuhr bestimmten Produkten vom Schutzbereich der Grundfreiheit gedeckt ist. Da zu diesem Zeitpunkt das eigentlich geschützte Verhalten, die Ausfuhr der Waren, jedoch 891

Ebenda. Präambel des EG-Vertrags. 893 So Ganten, Drittwirkung, S. 186 f.; Schaefer, Unmittelbare Wirkung, 240 ff. 894 Die von Ganten, Drittwirkung, S. 186 f., angeführten Beispiele der europaweiten Solidarstreiks oder der Streiks von Zulieferern lassen nicht erkennen, wessen Grundfreiheiten wie beeinträchtigt werden. Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 240 ff., stimmt mit den hier aufgeführten Ergebnissen überein, sieht aber wohl das Grundrecht grds. als einschlägig, wenn auch geringwertiger an. 892

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

in keiner Weise begonnen hat, bedeutet ein solches Verständnis des Artikel 28 EG eine unzulässige Ausdehnung seines Anwendungsbereichs. Als weitere Fallkonstellation ist denkbar, dass im Rahmen eines Streiks die Zufuhr ausländischer Waren, beispielsweise die Zufuhr von Zubehörteilen, die wegen des Streiks nicht mehr betriebsintern hergestellt werden können, oder auch der Zugang ausländischer Arbeitskräfte verhindert wird. Bei solchen Maßnahmen ist aber sehr zweifelhaft, ob sie, selbst wenn sie der Unterstützung und Effektivität des Streiks dienen, überhaupt als zulässige Streikmaßnahme angesehen werden können und damit vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit gedeckt sind.895 Grundsätzlich soll durch das Streikrecht ermöglicht werden, dass Arbeitnehmern zur Durchsetzung ihrer Interessen Druckmittel gegen den Arbeitgeber in die Hand gegeben werden. Es geht daher um eine Auseinandersetzung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Werden durch die Arbeitskampfmaßnahme gezielt Dritte beeinträchtigt, die auf den Ausgang des Arbeitskampfes unmittelbar keinen Einfluss haben, würde ein grundrechtlicher Schutz derartiger Beeinträchtigungen den Sinn und Zweck des Streikrechts über Gebühr ausdehnen. Daher ist ein europarechtlich gewährleisteter grundrechtlicher Schutz solcher Maßnahmen zu verneinen. Dann besteht aber bereits kein Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Grundrecht. Schließlich kann man daran denken, dass Arbeitnehmer einen Betrieb bestreiken, um auf diese Weise zu verhindern, dass das Unternehmen seine Produktion in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ausländische Arbeitskräfte anwirbt oder ausländische statt inländische Produkte zur Weiterverarbeitung kauft. Fraglich ist jedoch auch hier, ob es sich dabei um einen rechtmäßigen Streik handelt, der Grundrechtsschutz genießt. Ein Streik dient der Förderung und Durchsetzung koalitionsmäßiger Ziele, also Zielen, die tariflich regelbar sind. Ob anderweitige Ziele durch Streiks zulässigerweise verfolgt werden dürfen, ist bisher nicht geklärt. Angesichts des Sinn und Zwecks des Streikrechts als arbeitskampfrechtlichem Instrument ist es indes sehr fraglich, ob beliebige Ziele mit Hilfe des Streikrechts durchgesetzt werden dürfen.896 Unter dieser Prämisse berechtigen die oben genannten Ziele, die gerade keine tariffähigen Ziele sind, nicht zu einem grundrechtlich geschützten Streik.897 Auch hier entsteht daher keine Konfliktsituation zwischen geschützten Rechtspositionen.

895 In Bezug auf Betriebsbesetzungen nach deutschem Recht dagegen Friedrich, DÖV 1988, S. 194 (197 f.); Scholz, HbStR VI, § 151 Rz. 106 m. w. N.; LAG Köln, DB 1984, S. 2095; LAG Schleswig-Holstein, DB 1987, S. 55 (56); dafür Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 9 Rz. 109; Lübbe-Wolff, Beilage 9 zu DB 1988, S. 7. 896 In diese Richtung andeutend, M. Schmidt, Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft, Rz. I 198. Zum deutschen Recht, vgl. nur Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 9 Rz. 99; Scholz, in: HbStR VI, § 151 Rz. 109. Vgl. allerdings Betten, The Right to Strike, S. 200, der diese Einschränkung als mit der Europäischen Sozialcharta unvereinbar ansieht.

II. Tatsächliches Handeln

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Nimmt man entgegen dieser Ansicht hingegen an, dass das Streikrecht auch die Verfolgung nicht tariffähiger Ziele schützt, kommt es zu einem Konflikt zwischen den Grundfreiheiten und dem Streikrecht. Dabei ist im Rahmen der Abwägung auf der Seite der Grundfreiheiten der abgestufte individualrechtliche Gehalt zu beachten. Je stärker dieser Grundrechtsgehalt ausgeprägt ist, desto mehr Gewicht kommt der Grundfreiheit im Rahmen der Abwägung zu. Es wird daher darauf abzustellen sein, ob Produkt- oder Personenverkehrsfreiheiten betroffen sind und ob dabei diskriminierende Maßnahmen getroffen werden. Auf der Seite der Koalitionsfreiheit ist dessen grundsätzliche Bedeutung in individualrechtlicher und sozialer Hinsicht einzubeziehen. Daneben ist aber auch die konkrete Fallgestaltung wesentlich, insbesondere die Dauer und die Auswirkungen des Streiks, die Realisierbarkeit der Forderungen, die Ermöglichung konkreter Verhandlungen und Kompromisse auf beiden Seiten. Grundsätzlich ist aber angesichts der Tatsache, dass es sich nicht um klassische Tarifziele handelt und damit das Streikrecht jedenfalls nicht im Kern betroffen ist, den Grundfreiheiten ein stärkeres Gewicht zuzugestehen. 4. Gewaltanwendungen a) Umfassende Bindungswirkung mangels Kollisionslage Bei Gewaltanwendungen, die eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten darstellen, handelt es sich nicht um grundrechtlich geschütztes Verhalten, so dass sich eine Abwägung zwischen kollidierenden Rechtspositionen erübrigt.898 Den Grundfreiheiten stehen keine Gemeinschafts-Grundrechte gegenüber. Als Konsequenz ergibt sich daraus eine umfassende Bindung Privater an alle Grundfreiheiten, wenn sich die Beeinträchtigungshandlungen als bloße Gewalt darstellen. Selbst wenn man allerdings, entgegen der hier vertretenen Auffassung, annehmen wollte, dass auch Gewaltanwendungen dem grundrechtlichen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit unterfallen, wäre das Gewicht eines solchen Grundrechts sehr niedrig anzusetzen. Bei einer Abwägung zwischen den Grundfreiheiten und einem solchen Grundrecht wäre daher selbst bei den Produktverkehrsfreiheiten, die einen niedrigen Grundrechtsgehalt innehaben, vollständig zugunsten der Grundfreiheiten zu entscheiden. Eine Bindung Privater an die Grundfreiheiten muss daher auch unter Berücksichtigung einer möglichen Notwendigkeit zur Abwägung umfassend sein.899

897 So auch Schaefer, Unmittelbare Wirkung, S. 243 f. Im Ansatz Ganten, Drittwirkung, S. 187. 898 Siehe oben S. 170 f. Vgl. auch Leisner, Grundrechte, S. 320. 899 Im Ergebnis ebenso Ganten, Drittwirkung, S. 184; so auch Leisner, Grundrechte, S. 392, in Bezug auf deutsche Grundrechte.

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Kapitel 5: Differenzierte Bindungswirkung der Grundfreiheiten

b) Bewertung der Rechtsprechung Folgerichtig nimmt der EuGH in der Entscheidung Kommission/Frankreich zu möglichen Gemeinschafts-Grundrechten der französischen Bauern keine Stellung. Stattdessen wird über die Schutzpflicht des Staates ohne weiteres eine umfassende Beachtung der Warenverkehrsfreiheit auch gegenüber Privaten angenommen. Angesichts der vorhergehenden Rechtsprechung zu Artikel 28 EG, in der eine Bindung Private abgelehnt wurde, war dieser Wechsel auffällig. Aufgrund des fehlenden Grundrechtsschutz der Privaten für ihr beeinträchtigendes Handeln war er aber folgerichtig und überzeugend. Er untermauert die hier vertretene Auffassung, dass zwar grundsätzlich bei den Produktverkehrsfreiheiten eine Bindung Privater möglich ist, dass dies aber wegen des geringen Grundrechtsgehaltes auf Ausnahmesituationen beschränkt sein wird. 5. Zusammenfassung Als tatsächliche Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten kommen als grundrechtsgeschütztes Verhalten insbesondere Boykottaufrufe und friedliche Blockadeversammlungen in Betracht. Boykottaufrufe sind grundsätzlich durch die Meinungsfreiheit grundrechtlich geschützt. Bei einer Abwägung mit den Grundfreiheiten ist angesichts der fundamentalen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit sowohl für die Wahrung der freiheitlichen Demokratie als auch für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen ein grundsätzlicher Vorrang des Gemeinschafts-Grundrechts anzunehmen. Ähnliches gilt für die Versammlungsfreiheit. Auch hier spielt die Bedeutung der Kommunikation eine wesentliche Rolle. Bei Blockadeversammlungen ist allerdings die konkrete Ausgestaltung so vorzunehmen, dass sich möglichst geringe Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten anderer ergeben. Nur dann ist ein rechtmäßiger Ausgleich der kollidierenden Rechtspositionen gegeben. Schließlich kann auch die Koalitionsfreiheit unter Umständen in Konflikt mit den Grundfreiheiten geraten. Dabei ist zu beachten, dass bei der Verfolgung nicht tariffähiger Ziele das Gewicht der Koalitionsfreiheit nicht besonders stark ausgeprägt ist. Gewaltanwendungen hingegen genießen keinen oder höchstens einen sehr begrenzten Grundrechtsschutz, so dass eine Abwägung, so sie denn überhaupt vorzunehmen ist, in allen Fällen zugunsten der Grundfreiheiten ausfällt.

Schlussbetrachtung Die vorliegende Untersuchung will auf eine Weise zur Verbesserung des Rechtsschutzes auf europäischer Ebene beitragen, wie sie Peter Häberle für die deutschen Grundrechte gefordert hat: „Grundrechtstheorien sind nur Mittel zum Zweck. Da sich die Gefährdungslagen für die personale Freiheit des Menschen geschichtlich verändern, werden ihrerseits zeitbedingte wechselnde Antworten notwendig: durch Verfassungstextgeber, Gesetzgeber, Politik und Rechtsprechung sowie die Wissenschaft. Alle stehen unter der Maxime ,grundrechtssichernder Geltungsfortbildung‘, alle haben sich am Ziel ,personalen Schutzdenken‘ zu orientieren. (. . .) Insofern sind immer viele Konzepte der Grundrechte nötig – ganz i. S. des kritischen Rationalismus eines Popper, der die überzeugende philosophische Basis der ,Verfassung des Pluralismus‘ geschaffen hat“.900

Die dort angesprochenen Veränderungen der Gefährdungslagen beruhen für die Grundfreiheiten zum Teil auf den zunehmenden Möglichkeiten Privater, Hindernisse und Beschränkungen für die Freiheiten anderer aufzubauen. Jedoch ist das Problem der privaten Macht und der damit verbundenen Gefahren für die Freiheiten anderer nicht neu. Bereits in den Gründungsverträgen war mit dem Kartellrecht die Frage nach privaten Gefährdungshandlungen aufgegriffen. Dieser dem Ordoliberalismus nahe stehende Ansatz901 stößt jedoch in Anbetracht der zunehmenden Subjektivierung des europäischen Rechts, die sich auch und gerade in den Grundfreiheiten äußert, an seine Grenzen.902 Es haben sich daher weniger die Gefährdungslagen geändert, als vielmehr der Stellenwert der schützenswerten personalen Freiheit, wie sie gerade durch die Grundfreiheiten verwirklicht ist. Die Rechtsprechung zur Bindung Privater an die Grundfreiheiten ist damit beispielhaft für die zunehmende Berücksichtigung und Betonung individueller Rechte im Europarecht.

900

Europäische Rechtskultur, S. 301. Vgl. hierzu Joerges, in: Simon (Hrsg.), Bonner Republik, S. 311 (358 f.). Grundlegend für den Ordoliberalismus in rechtswissenschaftlicher Hinsicht Böhm, ORDO 17 (1966), S. 1 ff.; ders., ORDO 22 (1971), S. 11 ff. Zu den geistigen Wurzeln des Ordoliberalismus vgl. den Ansatz von Manow, Leviathan 2001, S. 179 f. 902 Dehousse, European Court of Justice, S. 46, bezeichnet entsprechend den EGVertrag als „rights-based constitution“. Zu den subjektiven Rechten der Unionsbürger Reich, Bürgerrechte; vgl. auch Pernice, Grundrechtsgehalte, passim; O’Leary, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), Evolution of EU-Law, S. 377 (384), die einen Wandel speziell in der Funktion der Grundfreiheiten sieht. 901

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Schlussbetrachtung

Dies zeigt sich insbesondere an den Entscheidungen im rechtsgeschäftlichen Bereich. Bedenkt man, wie weit der EuGH in seiner Rechtsprechung geht, erstaunt die bislang verhalten gebliebene Reaktion. Der Gerichtshof hat in Angonese die Vertragsfreiheit zugunsten des Diskriminierungsverbots deutlich eingeschränkt. Die Tatsache, dass das Urteil, jedenfalls hinsichtlich des Ergebnisses, wenig Kritik erfahren hat, scheint eine veränderte Einstellung zu dem aufgeworfenen Konflikt zwischen Diskriminierungsschutz und Privatautonomie zu reflektieren. Die allgemeine Entwicklung im Vertragsrecht von einem formalen Vertragsparadigma, das lediglich auf die formale Gleichheit der Vertragsparteien abstellt, hin zu einem materialen Paradigma, welches die materiale Selbstbestimmung in die Bewertung miteinbezieht, 903 wirkt sich gerade auch in Bezug auf Diskriminierungsverbote entscheidend aus. Die Einsicht, dass ein regulierendes Eingreifen in vertragliche Beziehungen notwendig ist, um vertragliche Freiheit überhaupt zu ermöglichen, setzt sich zunehmend durch. Speziell in Bezug auf das Verbot vertraglicher Diskriminierungen zeigt sich dies auch an einem deutlichen Zuwachs legislativer Antidiskriminierungsmaßnahmen.904 Die Rechtsprechung des EuGH ist damit zugleich Ausdruck einer generellen Tendenz, einen effektiven Schutz der tatsächlich ausgeübten Privatautonomie gewährleisten zu wollen. Im Bereich der Grundfreiheiten ist ein solcher Schutz angesichts ihrer fundamentalen Bedeutung sowohl für den Einzelnen als auch für die weitere Entwicklung der Union von herausragendem Interesse.

903 Vgl. dazu nur Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, S. 290 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 482 ff., der dabei auf das damit einhergehende gewandelte paradigmatische Verständnis der Privatautonomie hinweist; Riesenfeld, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, 1995, S. 9 ff., mit rechtsvergleichenden Hinweisen; siehe auch Canaris, FS Schmidt, S. 29 (47). 904 Allein auf europäischer Ebene sind auf der Grundlage von Artikel 13 EG die folgenden Richtlinien erlassen worden: RL 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. Nr. L 180 (2000) v. 19.7.2000, S. 22–26); RL 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Beschäftigung und Beruf (ABl. Nr. L 303 v. 2.12.2000, S. 16–22). Zur Umsetzung ins deutsche Recht Wiedemann/Thüsing, DB 2002, S. 463 ff.; Picker, JZ 2003, S. 540 ff.

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Personen- und Sachverzeichnis Abwägung 37, 68, 104, 162, 190, 220 Acquis communautaire 115, 129, 154 Adressaten siehe Normadressaten Adressatenkreis siehe Normadressaten Alexy, Robert 34, 91 Allgemeine Geschäftsbedingungen 188 Angonese 52–54, 58, 60, 113, 117, 195, 222 Apple and Pear Development Council 41 Arbeitnehmerfreizügigkeit 17, 18, 25, 45, 54, 55, 57, 96, 102, 111, 122, 123, 147, 178, 200; siehe auch Personenverkehrsfreiheiten Ausländerklauseln 112, 159 Auslegung 24, 28, 29, 42, 67, 71, 93, 102, 109, 122, 124, 126, 128, 135, 140, 142, 153, 191, 209 – dynamische 85, 90 – grammatikalische 84, 87, 96 – historische 88 – rechtsvergleichende 92 – systematische 89 – systematisch-teleologische 92 Auslegungsmethode siehe Auslegung Ausnahmeregelungen 89, 96–99, 120, 126 Bananenmarktordnung 83 Bayer/Süllhofer 31, 57, 100 Begleitvorschriften 89, 96–98, 126 Berufsfreiheit 152–154 Beschränkung 17, 37, 42, 52, 55, 57, 58, 60, 105, 113 Bindungswirkung, Begriff 21 Binnenmarkt 24, 43, 49, 52, 83, 106–108, 126, 130, 142, 143, 147, 150, 179, 191, 194, 195

Blockaden 17, 36, 38, 39, 56, 168, 169, 173, 217, 220 Blockadeversammlung siehe Blockaden Bosman 17, 43, 51, 53, 57, 58, 69, 97, 102, 103, 108, 112, 117, 163, 173, 174, 178, 181, 200, 203, 204 Boykott 214, 220 Brasserie du Pêcheur – Factortame II 136 Brennerblockaden siehe Blockaden Bryde, Brun-Otto 78 Bundesverfassungsgericht 83, 138, 188 Bürgerrechte 151, 155 Bürgschafts-Entscheidung 186 Cassis de Dijon 83 Corte Costituzionale 138 Dansk Supermarked 28, 99 Dassonville 83 Defrenne 54, 113, 115, 117 Deliège 52, 57, 103, 113, 202, 204 Demokratie 79, 84, 139, 165, 167, 220 Dienstleistungsfreiheit 30, 55, 96–97, 121, 123, 148, 159 Differenzierung 25, 58, 59, 96, 125, 161, 181 Differenzierungskriterium 110, 119, 123 Diskriminierungsverbot 40, 45, 47, 123, 126, 140, 146, 153, 160, 193–195, 198, 205, 210, 215, 222 – allgemeines 110, 123, 160 – aus Artikel 141 EG 53–54, 110, 113– 115, 119, 123, 126, 130 Dispositionsbefugnis 181–182, 190, 195, 197, 201, 208, 210 Dogmatik 18, 19, 21, 64, 145 Donà 44, 57, 101, 111, 112

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Personen- und Sachverzeichnis

Drittstaat 134, 159 Drittwirkung 58, 60, 61, 70, 105 – mittelbare 19, 34, 64 – Terminologie 22 – unmittelbare 19, 62 Dürig, Günter 19 Dynamik 90, 93, 141 Effektivität 43, 132, 133, 218 Effet utile 42, 92, 124, 125, 132, 178 EG-Vertragsinterpreten 84 Einfuhrbeschränkungen 26, 95 Einheitliche Europäische Akte 139 Einverständnis siehe Dispositionsbefugnis EMRK 36, 138, 140, 149, 154, 155, 164, 165, 167–169, 173, 177 Ermessen 32, 37, 67, 75 Esser, Josef 76 EU-Grundrechte-Charta 140, 154, 155, 157, 163–165, 167, 170, 171 EU-Verfassung 75, 143 EuGH-Positivismus 72 Europäische Menschenrechtskonvention siehe EMRK Europäische Union 23 Ferlini 115, 203 Francovich 135, 136 Freizügigkeit 156, 161, 198, 201, 215 Ganten, Ted O. 59, 105 Gemeinschafts-Grundrechte 66, 141, 152, 153, 157, 161, 172, 195, 197, 202, 204, 205, 208–210, 212, 215, 216, 219 Gewaltanwendungen 35, 190, 211, 220 Grundrechte 19, 37, 38, 50, 61, 64, 68, 160, 221; siehe auch GemeinschaftsGrundrechte Grundrechtsdogmatik 59, 61, 68, 70, 182 Grundrechtsgehalt 160, 161, 179, 181, 191, 194, 198, 205, 207, 210, 213, 215, 219

Grundrechtsverzicht 184 Gründungsverträge 73, 80, 88, 130, 137, 221 Häberle, Peter 84, 221 Haftungsanspruch 137 Handel, innergemeinschaftlicher 38, 99, 104, 111 Handeln – rechtsgeschäftliches 39, 56, 58, 126, 164, 174, 190, 211, 222 – tatsächliches 35, 39, 56, 57, 100, 126, 162, 172, 175, 220 Handelsfreiheit 152–154, 163, 205 Handelsvertreter-Entscheidung 186 Handlungsfreiheit 164, 171, 190, 208, 219 Hauer 138 Haug-Adrion 45, 57, 58, 102, 112 Hintersteiniger, Margit 121 Hoechst 170 Horizontalwirkung 18, 20 Ianelli & Volpi 145 Individualschutz 108, 191 Institutionelle Garantie 179 Integration 17, 90, 118, 132, 136, 150, 152, 155, 185, 195 Interessenausgleich 181, 190, 192, 195, 198, 201, 207, 210 Intermediäre Gewalten 60, 199 Internationale Handelsgesellschaft 138 Jaensch, Michael 59, 96 Kapitalverkehrsfreiheit 17, 25, 146 Keck 83 Kingreen, Thorsten 121 Koalitionsfreiheit 164, 170, 172, 190, 219, 220 Kollektive Regelungen 43, 44, 50, 55, 58, 61, 113, 117, 199, 200, 203 Kollision 190, 202, 208, 219

Personen- und Sachverzeichnis Kommission/Frankreich 34–36, 38, 63, 67, 100, 111, 117, 125, 211, 217, 220 Kompetenz 49, 77, 150; siehe auch Kompetenzordnung Kompetenzordnung 68 Kontrahierungszwang 206 Konvergenz 18 Legitimität 75, 77, 83, 84 Maastricht-Urteil 83 Maastricht-Vertrag 82, 129, 139 Marktbürger 151 Marktrechte 151 Mehrebenensystem 75 Meinungsfreiheit 167, 214, 215, 220 Menschenwürde 143, 183, 184, 194, 212 Niederlassungsfreiheit 55 Nipperdey, Hans C. 19 Nold 138 Normadressaten 20, 21, 29, 42, 46, 60, 97, 127 Pernice, Ingolf 153 Personenverkehrsfreiheiten 160, 161, 185, 205, 207, 209, 213, 215, 219; siehe auch Arbeitnehmerfreizügigkeit Pigs Marketing Board 145 Präambel 50, 73, 89, 124, 129, 139 Praktische Konkordanz 177, 202, 208, 215 Privatautonomie 199, 201, 204, 208, 222 Produktverkehrsfreiheiten 160, 161, 185, 210, 211, 213, 215, 219 Rahmenvorschriften 98 Rasmussen, Hjalte 72 Rechtfertigung 22, 35, 38, 166, 173, 197, 199, 216; siehe auch Rechtfertigungsgründe Rechtfertigungsgründe 47, 49, 65, 67, 97, 104 Rechtsvergleichung 92

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Reich, Norbert 122 Reyners 145 Richtlinien 44, 69, 134, 136, 142, 188 Schadensersatz 62, 137, 196 Schindler, Dierk 179 Schmidberger 17, 39, 63, 67, 100, 167, 169, 173, 177, 178, 211, 214 Schutzfunktion 137, 187 Schutzpflicht 67, 190, 201, 203, 210, 220 Schutzpflichttheorie 64 Schutzzweck 109 Solange-Entscheidung 83 Sportverbände 40, 45, 51, 52, 97, 163, 173, 202 Spürbarkeitserfordernis 104, 209 Staatsangehörigkeit 43, 54, 123, 126, 157, 160, 192, 194–196, 206, 212 Staatshaftung 137 Stauder 138 Stein, Eric 81 Steindorff, Ernst 95 Streik 219; siehe auch Koalitionsfreiheit Streikrecht 164, 218 Subjektive Rechte 152, 155, 161, 183, 184, 194 Subjektivierung 107, 129, 221 Telos 85–87 Umgehungsgefahr 105, 106, 110 Ungleichgewichtslage 116, 186, 188, 193, 201, 204, 210 Unionsbürger 107, 129, 143, 196; siehe auch Unionsbürgerschaft; Bürgerrechte Unionsbürgerschaft 133, 142, 151, 155 Unmittelbare Wirkung 134, 137, 140, 146, 155 van de Haar 29, 31, 57, 99, 100, 111 van Gend en Loos 131, 134

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Personen- und Sachverzeichnis

Verbraucher 104, 107, 109, 188, 209, 212 Vereinigungsfreiheit 50, 164, 169, 172, 173, 178, 190, 195, 202, 210 Verfassungsinterpreten 80 Verhandlungsmacht 188 Versammlungsfreiheit 169, 173, 190, 214, 215, 220 Vertragsfreiheit 163, 181, 182, 186, 189, 195 – Abschlussfreiheit 163, 175, 192, 197, 206 – Inhaltsfreiheit 163, 175, 197, 208 Vertragsgerechtigkeit 186 Vertragsverletzungsverfahren 31, 132 Vlaamse Reisebureaus 30, 57, 100 Vollzugskontrolle 133 Vorverständnis 77, 78, 82, 83

Warenverkehrsfreiheit 17, 39; siehe auch Produktverkehrfreiheiten Weiler, Joseph H. H. 82 Wesensgehalt 202, 204, 210, 215 Wettbewerbsrecht 38, 46, 57, 67, 110, 126, 206, 209 Wirtschaftsfreiheit 152, 153, 163, 205 Wirtschaftsgrundrechte 154 Wissenschaftsfreiheit 164 Wortlaut siehe auch grammatikalische Auslegung Zielbestimmungen 89 Zölle 17 Zustimmung 185, 189, 199; siehe auch Dispositionsbefugnis