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German Pages 592 Year 2022
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 373
Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Zur Freiheit und Bindung des Arbeitgebers im vertraglich vorgeprägten Raum
Von
Paulina Holle
Duncker & Humblot · Berlin
PAULINA HOLLE
Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 373
Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Zur Freiheit und Bindung des Arbeitgebers im vertraglich vorgeprägten Raum
Von
Paulina Holle
Duncker & Humblot · Berlin
Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2022 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-18668-6 (Print) ISBN 978-3-428-58668-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Der Promotionsausschuss der Bucerius Law School, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg, hat diese Arbeit im März 2022 als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 27. April 2022 statt. Rechtsprechung und Literatur habe ich bis zum Zeitpunkt der Einreichung der Arbeit im November 2021 berücksichtigt. Prof. Dr. Matthias Jacobs hat diese Arbeit betreut und das Erstgutachten erstellt. Während meiner vielen Jahre als Mitarbeiterin seines Lehrstuhls haben mich seine Lebensfreude, sein Rückhalt und seine Ratschläge fachlich wie persönlich geprägt. Dafür möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken. Prof. Dr. Eva Kocher danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Die Hans-Böckler-Stiftung hat mich während meiner Promotionszeit mit einem Promotionsstipendium gefördert. Für diese Unterstützung bedanke ich mich. Ich möchte mich ferner bei meiner „PR III-Familie“, bei Dr. Maximilian Münster und bei Sophia Schamberg bedanken, die mit mir den Weg zur Promotion bestritten haben und mich mit ihrer Freundschaft und mit fachlichen Anregungen motiviert und vorangebracht haben. Es war mir ein Vergnügen! Mein größter Dank gilt schließlich meiner Familie – insbesondere meinen Eltern und meiner Schwester Marie – sowie Carla Reuter und Caroline Sosat: für liebevolle und geduldige Aufmunterung, Ermutigung und Unterstützung in allen Lebenslagen. Berlin, im Mai 2022
Paulina Holle
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Problemstellung: Die (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verfassungs- und arbeitsrechtlicher Brennpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Eingrenzung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 C. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Teil Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse zwischen Vertragsfreiheit und Bestandsschutz
40
1. Kapitel Vertragsfortsetzungsfreiheit als Korrelat eingeschränkten Bestandsschutzes
40
A. Problem: Konfliktlage bei Ende eines befristeten Arbeitsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . 40 B. Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 C. Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 D. Vertragsfreiheit und Bestandsschutz im befristeten Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . 63 E. Ergebnisse des ersten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2. Teil Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
81
2. Kapitel Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
81
A. Problem: Ambiguität erwartungserzeugender Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Rechtsgeschäftliche Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 C. Bindung durch die Schaffung eines Vertrauenstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 D. Besonderheiten bei Kettenbefristungen, insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen
112
8
Inhaltsübersicht
E. Ergebnisse des zweiten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
3. Kapitel Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
123
A. Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz bei der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 B. Verbot der Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer:innen gem. § 4 I TzBfG bei der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 C. Ergebnisse des dritten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
3. Teil Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
161
4. Kapitel Dogmatische Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
161
A. Ziel und Notwendigkeit einer dogmatischen Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B. Schutz vor Diskriminierungen aufgrund persönlicher Merkmale gem. § 7 AGG . . . . . 163 C. Schutz zulässiger Rechtsausübungen durch Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . 200 D. Ergebnisse des vierten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
5. Kapitel Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verbotene Benachteiligung
224
A. Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als Anwendungsfall der Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 B. Motivlage von Arbeitgeber:innen als Bezugspunkt der Benachteiligungsverbote und Grenze ihrer Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 C. Erlaubte Benachteiligungen bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
274
D. Sonderfall: Mittelbar benachteiligende Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 E. Ergebnisse des fünften Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Inhaltsübersicht
9
6. Kapitel Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
301
A. Fortsetzungsansprüche als ungeklärte Rechtsfrage der Gleichheitsdogmatik . . . . . . . . 301 B. Beurteilung von Anspruchsgrundlagen und -zielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 C. Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen gemäß oder analog § 15 VI AGG . . . . . . . . 341 D. Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 E. Ergebnisse des sechsten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
4. Teil Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
471
7. Kapitel Pflicht- und Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
471
A. Innere Entscheidungsgründe von Arbeitgeber:innen als Beweisproblem der Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 B. Beweisführung über die Haftung für Verhandlungsabbruch (culpa in contrahendo)
473
C. Beweisführung über Ansprüche aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz
475
D. Beweisführung im Diskriminierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 E. Beweisführung über verbotene Maßregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 F. Ergebnisse des siebten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
8. Kapitel Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen: drei Folgefragen
517
A. Drei Folgefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 B. Besonderheiten der Klageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 C. Fristen zur Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 D. Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gem. § 99 I BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Problemstellung: Die (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verfassungs- und arbeitsrechtlicher Brennpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Eingrenzung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 C. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. „Arbeitgeber:in“ als Zurechnungssubjekt von Fortsetzungsentscheidungen . . . . . 38
1. Teil Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse zwischen Vertragsfreiheit und Bestandsschutz
40
1. Kapitel Vertragsfortsetzungsfreiheit als Korrelat eingeschränkten Bestandsschutzes
40
A. Problem: Konfliktlage bei Ende eines befristeten Arbeitsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . 40 B. Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Vertragsfreiheit als Instrument der Selbstbestimmung im Privatrechtsleben . . . . . 41 II. Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Vertragsfreiheit als Ausprägung der Berufsfreiheit gem. Art. 12 I GG . . . . . . . 44 2. Funktionsversagen und Regulierung der Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis 46 III. Zusammenfassung zur Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 C. Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 I. Bestandsschutz als Recht auf Erhaltung des Arbeitsplatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 II. Ausgestaltung und Ausgleich von Vertragsfreiheit und Bestandsschutz . . . . . . . . 51 III. Entwicklung des Bestandsschutzgedankens im unbefristeten Arbeitsverhältnis . . 53 1. Allgemeiner Kündigungsschutz nach dem KSchG als Paradigma normativen Bestandsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 a) Soziale Rechtfertigung der Kündigung im Zeitpunkt ihres Zugangs . . . . . . 53
12
Inhaltsverzeichnis b) Korrektur von Bestandsschutzlücken durch den allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 aa) Problem: Bestandsschutzlücken bei fehlerhafter Prognose . . . . . . . . . . . 54 bb) Lösungsansätze der Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (1) Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (2) Ansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (3) Schlussfolgerungen für den Geltungsgrund des Wiedereinstellungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 cc) Zusammenfassung zum allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch . . . . . 58 c) Zusammenfassung zum allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG 58 2. Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Rechtsauffassung in den 1990er Jahren: Rechtsmissbrauchskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Verfassungsgerichtliche Bestätigung und Präzisierung der Rechtsmissbrauchskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Ausnahmsweise: Sonderkündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Zusammenfassung zur Entwicklung des Bestandsschutzgedankens im unbefristeten Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
D. Vertragsfreiheit und Bestandsschutz im befristeten Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . 63 I.
Normativer Bestandsschutz durch das TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Entstehungsgeschichte und unionsrechtlicher Zusammenhang des TzBfG . . . . 64 2. Befristungskontrolle: Anforderungen an die wirksame Vereinbarung einer Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Sachgrundbefristung gem. § 14 I TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) Fehlende Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . 66 bb) Überwiegendes Befristungsinteresse von Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . 67 (1) Schutzwürdiges vorübergehendes Interesse an der Arbeitsleistung
67
(2) Schutzwürdiges vorübergehendes Interesse an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 cc) Missbrauchskontrolle bei Kettenbefristungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Sachgrundlose Befristung gem. § 14 II 1 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 c) Zusammenfassung zur Befristungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Judikative Bestandsschutzgewährung durch Begrenzungen der Fortsetzungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Fortsetzungsanspruch bei Wegfall des sachlichen Grunds? . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Fehleranfällige Prognoseentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Korrekturbedürftigkeit aufgrund schützenswerter Arbeitnehmerinteressen 75 c) Ergebnis: kein Fortsetzungsanspruch bei Wegfall des sachlichen Grundes
78
2. Fortsetzungsansprüche aus nicht vom TzBfG erfassten Gründen . . . . . . . . . . . 78 E. Ergebnisse des ersten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Inhaltsverzeichnis
13
2. Teil Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
81
2. Kapitel Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
81
A. Problem: Ambiguität erwartungserzeugender Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Rechtsgeschäftliche Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I.
Individuelle Fortsetzungszusage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Anforderungen an die Auslegung von Erklärungen der Arbeitgeber:innen . . . . 82 2. Vertragliche Gestaltungsvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Ergebnis: hohe Anforderungen an die Annahme einer vertraglichen Bindung
85
II. Kollektivvertragliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 III. Entfristungsfiktion des § 15 V TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 C. Bindung durch die Schaffung eines Vertrauenstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 I. Arbeitsrechtlicher Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Nichtfortsetzung als unzulässige Rechtsausübung gem. § 242 BGB . . . . . . . . . . . 90 III. Nichtfortsetzung als Verletzung vorvertraglicher Rücksichtnahmepflichten . . . . . 92 1. Bestehen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Haftung für die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Unproblematischer Fall: Haftung für treuwidriges Hervorrufen von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 aa) Haftungstatbestand: Treuwidriges Hervorrufen von Vertrauen . . . . . . . . 93 bb) Rechtsfolge: Ersatz des negativen Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (1) Aus einem konkreten Vertragsschluss entgangener Gewinn . . . . . . . 96 (2) Aus nicht verwerteter Arbeitskraft entgangener Gewinn . . . . . . . . . 97 b) Problemfall: Haftung für grundlosen Abbruch der Verhandlungen ohne triftigen Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Meinungsstand: Haftungsgrund und -voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . 98 (1) Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (2) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (a) Grundloser Abbruch von Vertragsverhandlungen als Haftungsgrund der culpa in contrahendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (b) Vertrauenserweckung als Haftungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Anwendung der Haftungsvoraussetzungen auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
14
Inhaltsverzeichnis cc) Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen im Kontext der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (1) Schutzwürdigkeit des Vertrauens in einen zukünftigen Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (a) Primat des Vertragsschlusses für die Begründung von Erfüllungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (b) Ergänzungsfunktion der Haftung für hervorgerufenes Vertrauen 107 (2) Vereinbarkeit einer Vertrauenshaftung mit der Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (3) Ergebnis: Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen über die Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Ergebnis: Nichtfortsetzung als Verletzung vorvertraglicher Rücksichtnahmepflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Ergebnis: Mittelbare Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit durch Schaffung eines Vertrauenstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
D. Besonderheiten bei Kettenbefristungen, insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen I.
112
Meinungsstand zur Selbstbindung bei Saisonarbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . 112 1. Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
II. Individualübung und betriebliche Übung als Anwendungsfälle konkludenter Vertragsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Rechtsnatur einer „Individualübung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Rechtsnatur der betrieblichen Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 III. Auslegung des Arbeitgeberverhaltens bei der wiederholten Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen nach Fristablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Erklärungswert der wiederholten Wiedereinstellung für sich . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Grundsätzliche Möglichkeit der Annahme eines dauerhaften Bindungswillens am Beispiel von Sonderleistungen mit Entgeltcharakter . . . . . . . . . . . . 117 b) Gründe gegen die Annahme eines dauerhaften Bindungswillens bei der Wiedereinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Selbstzweck der Wiedereinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Kein Eigeninteresse der Arbeitgeber:innen an einer antizipierten Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 cc) Keine Dauerhaftigkeit des synallagmatischen Leistungsaustausches . . . 119 c) Bedeutung eines Kollektivbezugs für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 d) Ergebnis: Kein Erklärungswert der wiederholten Wiedereinstellung für sich 120 2. Erforderlichkeit zusätzlicher Indizien im Kontext der aktuellen Wiedereinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 IV. Ergebnis: keine Wiedereinstellungsansprüche in Saisonarbeitsverhältnissen nur aufgrund betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Ergebnisse des zweiten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Inhaltsverzeichnis
15
3. Kapitel Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
123
A. Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz bei der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I.
Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
II. Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Rückführung auf ein überpositives, der Rechtsordnung immanentes Gerechtigkeitspostulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Privatrechtliche Legitimationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Vertikale Dimension: Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . . 129 b) Horizontale Dimension: Bestehen eines Gemeinschaftsverhältnisses . . . . . . 130 c) Synthese: Gleichbehandlungspflicht als Konsequenz eines multilateralen Rechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Zusammenfassung zum Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . 132 III. Voraussetzungen einer Gleichbehandlungspflicht bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen: zeitlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Kollektiver Bezug der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . 133 a) Maßstäbe für die Beurteilung freiwilliger Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Vom Schrifttum entwickelte Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Vom BAG entwickelte Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Anwendung dieser Maßstäbe auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen 136 aa) Übertragbarkeit der Maßstäbe: Vertragsfortsetzung als freiwillige Vorteilsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Übertragung der Maßstäbe: Vertragsfortsetzung als verteilende Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Fehlen eines sachlichen Grunds für die Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Maßstäbe für die Beurteilung freiwilliger Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 aa) Zweck der Leistung als Bezugspunkt der Sachgrundbeurteilung . . . . . . 138 bb) Anforderungen an den sachlichen Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 cc) Anforderungen an den Leistungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (1) Unvereinbarkeit einer Zweckkontrolle mit dem Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (2) Keine Zweckkontrolle durch das BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Anwendung dieser Maßstäbe auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen 142 aa) Problematik des Selbstzwecks der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . 142 bb) Verbleibende Anwendungsfälle des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . 145
16
Inhaltsverzeichnis cc) Ergebnis: Kleiner Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes aufgrund des Selbstzwecks der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . 145 4. Ergebnis: Gleichbehandlungspflicht bei der Vertragsfortsetzung nur in Ausnahmefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Rechtsfolgen von Verstößen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . 147 1. Ansprüche ausgeschlossener Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Betriebsverfassungsrechtliche Rechtsfolgen: Rechte des Betriebsrats gem. § 75 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 V. Verhältnis des Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Ablehnung eines allgemeinen Vorrangs der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Vereinbarkeit einer Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit der gesetzgeberischen Wertung in § 14 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Rechtsauffassung des BAG und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Vereinbarkeit einer Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit der gesetzgeberischen Wertung in § 15 VI AGG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Ergebnis: Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz als zulässige Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
B. Verbot der Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer:innen gem. § 4 I TzBfG bei der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 I. Entstehungsgeschichte und Regelungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II. Verbot der Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Tatbestandliche Erfassung der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse 157 a) Grundsatz: Übertragung der zum Gleichbehandlungsgrundsatz entwickelten Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Besonderheit: Konkretisierung des Sachgrunderfordernisses . . . . . . . . . . . . 158 2. Anwendbarkeit des Benachteiligungsverbots auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 C. Ergebnisse des dritten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
3. Teil Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
161
4. Kapitel Dogmatische Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
161
A. Ziel und Notwendigkeit einer dogmatischen Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Inhaltsverzeichnis
17
B. Schutz vor Diskriminierungen aufgrund persönlicher Merkmale gem. § 7 AGG . . . . . 163 I.
Rechtssystematischer Zusammenhang des AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. AGG als Transformationsgesetz europäischer Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Umsetzung europäischer Gleichbehandlungs-Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Konsequenzen für die Anwendung des AGG: Richtlinienkonforme Rechtsgewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 aa) Inhalt und Reichweite der Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 bb) Methodik der richtlinienkonformen Rechtsgewinnung . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Grundrechte als Maßstab für die Anwendung des AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Grundrechte im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Grundrechte in der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Verhältnis der Grundrechte in Grundrechtecharta und Grundgesetz zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 d) Konsequenzen für die grundrechtsgeleitete Auslegung des AGG . . . . . . . . . 172 3. Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Zusammenfassung zum rechtssystematischen Zusammenhang des AGG . . . . . 174
II. Schutzziele und -konzeptionen der Diskriminierungsverbote im AGG . . . . . . . . . 174 1. Egalitaristische Zielsetzung der Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Diskriminierungsverbote als eigenständige Säule des Prinzips personaler Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Materiale Gleichheit als dem AGG zugrunde Gleichheitskonzeption . . . . . . 176 2. Teilhaberechtliche Dimension des AGG betreffend den Zugang zum Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Integritätsschützende Funktion der Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Schutz der Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Schutz des Rechts auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4. Zusammenfassung zu den Schutzzielen und -konzeptionen der Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 III. Schutzgehalt der Merkmale in § 1 AGG und ihr Diskriminierungspotenzial bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Schutzgehalt der einzelnen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Rassistische Benachteiligungen oder Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Benachteiligungen wegen des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 c) Benachteiligungen wegen der Religion oder Weltanschauung . . . . . . . . . . . 188 aa) Begriff der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Begriff der Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 cc) Relevanz im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses
192
18
Inhaltsverzeichnis d) Benachteiligungen wegen einer Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Kombinierter Behinderungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 bb) Einzelne Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 cc) Relevanz im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses 196 e) Benachteiligung wegen des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 f) Benachteiligung wegen der sexuellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2. Einschätzung des Diskriminierungspotenzials bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Zweck- und wertrationale Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Erkennbarkeit der Merkmalseigenschaft bei Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Abschließende Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
C. Schutz zulässiger Rechtsausübungen durch Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . 200 I. Systematisierung und Schutzgehalt der verschiedenen Maßregelungsverbote . . . . 200 1. Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Schutzgehalt des Grundtatbestands in § 612a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Ausübung von Rechten i. S. v. § 612a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Zulässigkeit der Rechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Andere Maßregelungsverbote betreffend die Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . 205 a) Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Ausübung von Rechten außerhalb von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Entstehungsgeschichte und unionsrechtlicher Zusammenhang der Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung individueller Rechte . . . . . . . . 210 2. Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung von Mitwirkungsrechten . . . . . 210 a) Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 III. Regelungsziele der Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Schutz der Willensfreiheit und Flankenschutz der Arbeitnehmerrechte als gemeinsame Regelungsziele aller Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Besondere Ausprägung der Regelungsziele bei Maßregelungsverboten bezüglich der Ausübung von Mitwirkungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Schutz der Willensfreiheit: innere und äußere Unabhängigkeit . . . . . . . . . . 213 b) Flankenschutz der Arbeitnehmerrechte: Angemessene Amtsausübung . . . . 215 3. Besondere Ausprägung der Regelungsziele bei der Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 IV. Exkurs: Entfristungsansprüche von Betriebsratsmitgliedern wegen Art. 7 RL 2002/14/EG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Vorgaben des nationalen Befristungs- und Betriebsverfassungsrechts . . . . . . . . 218
Inhaltsverzeichnis
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2. Vorgaben der Konsultationsrichtlinie (RL 2002/14/EG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 V. Einschätzung des Maßregelungspotenzials bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 VI. Konsequenzen für den weiteren Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 D. Ergebnisse des vierten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
5. Kapitel Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verbotene Benachteiligung
224
A. Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als Anwendungsfall der Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Tatbestandsmäßigkeit eines unterlassenen Vertragsschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Unterlassener Vertragsschluss als „weniger günstige Behandlung“ gem. § 3 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Unterlassener Vertragsschluss als maßregelndes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . 227 II. Persönlicher Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Zeitpunkt der tatbestandlichen Nichtfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Persönlicher Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . 230 a) Persönlicher Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote gem. § 6 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Benachteiligungen im laufenden Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (1) Schutz von Arbeitnehmer:innen im laufenden Arbeitsverhältnis gem. § 6 I 1 Nr. 1 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (2) Schutz von Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG . . . . . . . . . . . 231 (a) Allgemeiner Bewerberbegriff: Formelle Bewerbungssituation 232 (b) Besonderheiten der Bewerbungssituation im Kontext der Vertragsfortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Benachteiligungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . 234 (1) Schutz ehemaliger Arbeitnehmer:innen gem. § 6 I 2 Var. 2 AGG 234 (a) Inhalt der Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 241 II, 242 BGB . . . 235 (b) Nachwirkende Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 241 II, 242 BGB 236 (2) Schutz von Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG . . . . . . . . . . . 237 cc) Ergebnis: Schutz befristeter beschäftigter Arbeitnehmer:innen als Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 b) Persönlicher Anwendungsbereich von § 612a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Benachteiligungen im laufenden Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Benachteiligungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . 238 (1) Methodische Grundlagen: Maßstäbe einer Rechtsfortbildung . . . . . 238
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Inhaltsverzeichnis (2) Anwendung der Maßstäbe: Rechtsfortbildung von § 612a BGB . . . 241 (a) Feststellung einer Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (aa) Zurückbleiben des Normtextes hinter dem Normzweck . . . . 241 (bb) Keine bewusste Nichtregelung des Gesetzgebers . . . . . . . . . 243 (cc) Ergebnis: Regelungslücke des § 612a BGB für Maßregelungen ehemaliger Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 (b) Schließung der Regelungslücke durch eine teleologische Extension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (c) Ergebnis: Teleologische Extension von § 612a BGB hinsichtlich Maßregelungen gegenüber ehemaligen Arbeitnehmer:innen . . . 245 c) Persönlicher Anwendungsbereich von § 78 S. 2 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . 246 III. Ergebnis: Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit durch Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
B. Motivlage von Arbeitgeber:innen als Bezugspunkt der Benachteiligungsverbote und Grenze ihrer Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I.
Anforderungen an den Kausalzusammenhang von Motivlage und Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Absolutes Anknüpfungsverbot gem. § 3 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a) Abgrenzung von der mittelbaren Benachteiligung gem. § 3 II AGG . . . . . . 249 b) Sonderfall: Benachteiligungen wegen einer Schwangerschaft oder Mutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Anforderungen an den Maßregelungswillen von Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . 253 a) Kausalzusammenhang bei Maßregelungen gem. § 612a BGB . . . . . . . . . . . 253 aa) Restriktives Verständnis des Kausalzusammenhangs im Sinne der conditio sine qua non . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 bb) Sonderfall: Kausalzusammenhang bei der Nichtfortsetzung aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
b) Kausalzusammenhang bei Benachteiligungen gem. § 78 S. 2 BetrVG . . . . . 255 II. Voraussetzungen und Funktion einer Vergleichsbetrachtung bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Vergleichspersonenkonzept in § 3 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Herkunft und Funktion des Vergleichspersonenkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Anwendung des Vergleichspersonenkonzepts auf die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 aa) Vergleichbare Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 (1) Auswahlsituation als vergleichbare Situation von Bewerber:innen 260 (2) Befristete Arbeitsverhältnisse als vergleichbare Situation von Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 bb) Trias der Vergleichspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (1) Reale Vergleichspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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(2) Hypothetische Vergleichsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (a) Anwendungsbereich des hypothetischen Vergleichs bei Annahme einer Rangfolge: Fehlen realer Vergleichspersonen . . . . . . . 266 (b) Hypothetischer Vergleich trotz Existenz realer Vergleichspersonen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (c) Ergebnis: Keine Subsidiarität der hypothetischen Betrachtung bei personellen Einzelmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 c) Ergebnis: Redundanz des Vergleichspersonenkonzepts bei personellen Einzelmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Vergleichspersonenbetrachtung zur Feststellung einer Maßregelung gem. § 612a BGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Vergleichspersonenbetrachtung zur Feststellung einer Maßregelung gem. § 78 S. 2 BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 C. Erlaubte Benachteiligungen bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse I.
274
Rechtfertigung schwangerschaftsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 I AGG? 274 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 a) Ansichten der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Eigene Ansicht: Orientierung an den Voraussetzungen des § 8 I AGG . . . . . . . 278 a) Nichtvorliegen der Schwangerschaft als tätigkeitsbezogene Anforderung
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b) Nichtvorliegen einer Schwangerschaft als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Folgearbeitsvertrag ist ein unbefristeter Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . 280 bb) Folgearbeitsvertrag ist ein befristeter Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . 281 (1) Vollständige Beschäftigungsverbote während der gesamten Vertragslaufzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (2) Beschäftigungsverbote bezüglich einzelner Arbeitsmodalitäten und Tätigkeiten während der gesamten Vertragslaufzeit . . . . . . . . . . . . . 282 (3) Beschäftigungsverbote während eines Teils des Befristungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 cc) Ergebnis: Nichtvorliegen einer Schwangerschaft als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung in Ausnahmefällen . . . . . . . . . . 285 c) Rechtmäßiger Zweck der beruflichen Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Ergebnis: Keine Rechtfertigung schwangerschaftsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 II. Rechtfertigung altersbedingter Benachteiligungen gem. § 8 AGG und § 10 AGG 290 III. Rechtfertigung behinderungsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 AGG . . . . . . 292 1. Nichtvorliegen der Behinderung als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Angemessenheit der beruflichen Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 a) Grundlage der Pflicht zur Ergreifung angemessener Vorkehrungen . . . . . . . 293
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Inhaltsverzeichnis b) Umfang und Grenzen der Pflicht zur Ergreifung angemessener Vorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
D. Sonderfall: Mittelbar benachteiligende Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 I. Neutrale Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 II. Feststellung einer benachteiligenden Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 III. Fehlende Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 IV. Relevanz der mittelbaren Benachteiligung bei der Vertragsfortsetzung: Anknüpfung an krankheitsbedingte Fehlzeiten als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Feststellung einer benachteiligenden Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Fehlende Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 E. Ergebnisse des fünften Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
6. Kapitel Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
301
A. Fortsetzungsansprüche als ungeklärte Rechtsfrage der Gleichheitsdogmatik . . . . . . . . 301 I. Hybridcharakter der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . 301 II. Meinungsstand: Fortsetzungsansprüche infolge von Verbotsverstößen . . . . . . . . . 302 1. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 a) Ansichten der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 aa) Ansichten der Rechtsprechung vor Inkrafttreten des AGG . . . . . . . . . . . 302 bb) Ansichten der Rechtsprechung seit Inkrafttreten des AGG . . . . . . . . . . . 304 b) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 612a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Ansichten der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 78 S. 2 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 a) Ansichten der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 B. Beurteilung von Anspruchsgrundlagen und -zielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 I.
Einwand unzulässiger Rechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
II. Unmittelbar auf die Vertragsfortsetzung gerichtete vertragliche Fürsorgepflicht 310 III. Allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
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IV. Sekundäransprüche infolge einer Verbotsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Schadensersatzansprüche bei der benachteiligenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Haftungsbegründende Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 aa) Haftungsbegründende Tatbestände im Anwendungsbereich des AGG gem. § 15 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 bb) Haftungsbegründende Tatbestände bei der Verletzung von Maßregelungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Art und Umfang des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 aa) Haftungsausfüllende Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 bb) Art des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 (1) Vertragsschluss als Naturalrestitution gem. § 249 I BGB . . . . . . . . . 318 (2) Entgangener Gewinn als Schadensersatz in Geld . . . . . . . . . . . . . . . 319 (a) Voraussetzungen eines Schadensersatzes in Geld . . . . . . . . . . . . 319 (aa) Pflicht zur Schadenskompensation gem. § 251 BGB . . . . . . 319 (bb) Ersetzungsbefugnis der Arbeitnehmer:innen analog § 249 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 (b) Schadensbemessung oder: ein Blick in die Kristallkugel? . . . . . 322 (aa) Ersatzfähigkeit entgangenen Gewinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 (bb) Dauer des entgangenen Gewinns: Gefahr eines Dauererwerbsschadens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 (a) Keine Begrenzung bis zur ersten hypothetischen Kündigungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 (b) Keine Orientierung an Abfindungshöhen gem. §§ 9, 10 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 (c) Richterliche Prognose über die Verweildauer im Betrieb gem. § 252 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 cc) Zusammenfassung zu Art und Umfang des Schadensersatzes . . . . . . . . 329 2. Quasinegatorische Ansprüche bei der benachteiligenden Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 a) Herleitung quasinegatorischer Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 aa) Quasinegatorische Ansprüche als Rechtsfolge von Verstößen gegen § 7 I AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 bb) Quasinegatorische Ansprüche als Rechtsfolge von Verstößen gegen Maßregelungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Inhalt quasinegatorischer Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 aa) Beseitigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 bb) Anspruch auf Unterlassung einer zukünftigen Benachteiligung . . . . . . . 337 3. Abschließende Beurteilung der Sekundäransprüche infolge Verbotsverletzung 337 V. Zusammenfassung zur Beurteilung von Anspruchsgrundlagen und -zielen . . . . . . 339 C. Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen gemäß oder analog § 15 VI AGG . . . . . . . . 341 I.
Die „erregende Kraft“ des Kontrahierungszwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
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Inhaltsverzeichnis II. Ausschluss einer Vertragsfortsetzung im Anwendungsbereich des AGG gem. § 15 VI AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Vorbemerkungen zur Auslegung von § 15 VI AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Reichweite des Auslegungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 aa) Tatbestandliche Erfassung des Beseitigungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . 344 bb) Tatbestandliche Erfassung der Vertragsfortsetzung als „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Auslegungsrelevanz höherrangigen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 aa) Kein Gebot richtlinienkonformer oder -orientierter Auslegung . . . . . . . 345 (1) Keine Vorgaben durch das Gebot wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 (2) Keine Vorgaben aufgrund einer Pflicht zur Anpassung nach oben
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bb) Kein Gebot richtlinienorientierter Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 cc) Konsequenz: Auslegungsrelevanz nationaler Grundrechte . . . . . . . . . . . 347 2. Wortsinn des § 15 VI AGG: Eröffnung eines Auslegungsspielraums . . . . . . . . 348 a) Formale Lesart: Beschäftigungsverhältnis als Rechtsfolge eines spezifischen Vertragsschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Wertende Lesart: Beschäftigungsverhältnis als Gesamtheit der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 c) Ergebnis: Uneindeutigkeit des Wortsinns und Eröffnung eines Auslegungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3. Historisch-genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a) Genetische Auslegung des § 15 VI AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 b) Historische Auslegung i. e. S.: Regelungszweck des § 611a II, V BGB a. F. 353 aa) Befund: Genese des § 611a BGB a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 (1) Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 (2) Zweites Gleichberechtigungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 (3) Gesetz zur Änderung des BGB und des ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . 356 bb) Auswertung des Befunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 4. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 a) Wertungsvergleich mit den Rechtsfolgen diskriminierender Kündigungen gem. § 2 IV AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Wertungsvergleich mit der diskriminierenden Befristungsabrede . . . . . . . . . 361 c) Ergebnis: Uneindeutigkeit der systematischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . 363 5. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 a) Erste ratio legis: Verhinderung unzulässiger Eingriffe in die Vertragsfreiheit 363 aa) Prüfungsmaßstab: Einfallstor für die Berücksichtigung von Verfassungsvorgaben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (1) Originäre Bindung der Gerichte an die Grundrechte: Verfassungskonforme und -orientierte Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (2) Grundrechtsbindung und -gewichtung des Gesetzgebers als Maßstab der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
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(3) Konsequenzen für die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 369 bb) Annäherung an die ratio legis: Verfassungsrechtliche Beurteilung von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 (1) Einstellungs- und Beförderungsansprüche als Grundrechtseingriffe 370 (a) Schutz der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen gem. Art. 12 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 (b) Eingriffswirkungen der Einstellungs- und Beförderungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (aa) Eingriff durch Einstellungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (bb) Eingriff durch Beförderungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (cc) Schlussfolgerung: spezifischer Eingriffsgehalt von Kontrahierungszwängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (2) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (a) Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit von Einstellungsund Beförderungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (b) Schutzzwecke des AGG als legitime Ziele von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 (aa) Herstellung materialer Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 (bb) Schutz der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 (cc) Integritätsschutz der Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . 387 (dd) Ergebnis: Schutzzwecke des AGG als legitime Ziele . . . . . . 389 (c) Geeignetheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen . . 389 (aa) Langfristige Perspektive des erzwungenen Vertrags . . . . . . . 390 (bb) Keine Ineffektivität wegen langer Verfahrensdauer . . . . . . . . 391 (d) Erforderlichkeit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen 393 (e) Angemessenheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen 394 (aa) Maßstabsbildung: Rechtfertigung von Kontrahierungszwängen im allgemeinen Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 (bb) Anwendung der Maßstäbe auf Einstellungs- und Beförderungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 (cc) Ergebnis: Angemessenheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 (3) Ergebnis: § 15 VI AGG als Ausübung eines politischen Regelungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 cc) Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen am Maßstab der gesetzgeberischen Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 (1) Geringere Eingriffsintensität von Fortsetzungsansprüchen? . . . . . . . 403 (2) Höheres Gewicht der Gemeinwohlbelange? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 (a) Unterschiedliches Schutzniveau von Zugangs- und Bestandsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
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Inhaltsverzeichnis (b) Gründe für die Privilegierung von Bestands- gegenüber Zugangsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 (aa) Unzureichende Begründung des BVerfG im „KleinbetriebsBeschluss“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 (bb) Vertragsrechtsdogmatischer Erklärungsansatz . . . . . . . . . . . . 410 (cc) Qualitativ verschiedene Zielrichtungen der grundrechtlichen Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 (dd) Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses als Flankenschutz 413 (ee) Bestandsschutz als Schutz der Betriebszugehörigkeit . . . . . . 415 (ff) Bestandsschutz als Schutz des Stabilitätsinteresses . . . . . . . . 416 (gg) Ergebnis: Schutz der Stabilitätsinteressen ergänzt durch Flankenschutz als überzeugende Gründe von Bestandsschutz 418 (c) Einordnung des Interesses an einer Vertragsfortsetzung als Hybrid von Bestands- und Zugangsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 (aa) Stabilitätsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 (a) Langjähriger Bestand befristeter Arbeitsverhältnisse 420 (b) Perspektive einer langfristigen Beschäftigung . . . . . . . . 422 (c) Stabilitätsinteressen bei der Wiedereinstellung nach zeitlicher Unterbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 (d) Ergebnis: Stabilitätsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (bb) Flankenschutz von Arbeitnehmerrechten durch Fortbestand der Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 (cc) Kein abschließender Schutz der Bestandsinteressen durch das TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 (a) Reichweite des Interessenausgleichs im TzBfG . . . . . . 430 (b) Vergleich mit diskriminierenden Kündigungen außerhalb des KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 (c) Ergebnis: Kein abschließender Schutz der Bestandsinteressen durch das TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 (dd) Ergebnis: Betroffenheit von Bestandsinteressen unter besonderen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 dd) Ergebnis: Gesetzgeberische Abwägung in § 15 VI AGG ist für Fortsetzungsansprüche nur teilweise verbindlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 b) Zweite ratio legis: Praktische Schwierigkeiten der Ansprüche und fehlende Sanktionswirkung bei Arbeitgeber:innen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 c) Dritte ratio legis: Fehlende Perspektive eines erzwungenen Arbeitsverhältnisses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 d) Ergebnis: Gespaltenes Ergebnis der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . 440 6. Verfassungsorientierte Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 7. Ergebnis: Teilweiser Ausschluss eines Fortsetzungsanspruchs gem. § 15 VI AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
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III. Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen als Rechtsfolge von Maßregelungen analog § 15 VI AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 1. Maßstab: Voraussetzungen des Analogieschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 2. Lückenfeststellung als wertender Vorgang: vergleichbare Interessenlage der Benachteiligungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 a) Vergleich: Fortsetzungsansprüche als Eingriff in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 b) Vergleich: Gewicht der Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 aa) Erst-Recht-Schluss des BAG: geringeres Gewicht der Verstöße gegen Maßregelungsverbote? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 (1) Schutz der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 (2) Effektuierung von Arbeitnehmerrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 (a) Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . 453 (b) Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis 454 (aa) Schutz der Interessenvertreter:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 (bb) Schutz gesetzlich vorgeschriebener Beauftragter . . . . . . . . . 456 (c) Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses . . . . 457 (3) Gewichtung von Verstößen gegen Maßregelungsverbote . . . . . . . . . 457 bb) Gremienschutz-Argument des BAG: kollektive Zielsetzung von § 78 S. 2 BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 (1) Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 (2) § 78 S. 2 BetrVG als Ausprägung des Kontinuitätsprinzips . . . . . . . 460 cc) Entscheidender Vergleich: Diskriminierungsschutz und Schutz der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 3. Ergebnis: Kein Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen analog § 15 VI AGG 465 D. Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 E. Ergebnisse des sechsten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
4. Teil Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
471
7. Kapitel Pflicht- und Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
471
A. Innere Entscheidungsgründe von Arbeitgeber:innen als Beweisproblem der Arbeitnehmer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 B. Beweisführung über die Haftung für Verhandlungsabbruch (culpa in contrahendo)
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C. Beweisführung über Ansprüche aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz I.
475
Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast . . . . . . 475
II. Vorprozessualer Auskunftsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 D. Beweisführung im Diskriminierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 I.
Verteilung der Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 1. Darlegung und Beweis einer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 a) Erste Stufe: Beweismaßsenkung – Indizienbeweis der Arbeitnehmer:innen 479 aa) Vermutung einer Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 bb) Beweis von Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 cc) Auskunftsanspruch zur Erleichterung des Indizienbeweises? . . . . . . . . . 482 b) Zweite Stufe: Beweislastumkehr – Gegenbeweis der Arbeitgeber:innen . . . 485 2. Darlegung und Beweis der Rechtsfolgen einer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . 486 a) Unzureichende Beweiserleichterung durch § 287 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 b) Keine Beweiserleichterung durch die Grundsätze des Anscheinsbeweises 490 c) Beweiserleichterung durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
II. Beweisführung durch Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 1. Indizien im Kontext der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverträge . . . . . . . . 493 a) Indizien für die Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG . . . . . . . . . . . 494 aa) Merkmalsbezogene Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 bb) Diskriminierende Arbeitsplatz- oder Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . 497 cc) Statistiken über die Belegschaftsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 b) Indizien für eine Vertragsfortsetzung ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 c) Einstellung oder Weiterbeschäftigung einer Vergleichsperson als Indiz: Aussagekraft eines Vergleichs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 2. Beweismittel, insbesondere Beweisführung über Vier-Augen-Gespräche . . . . . 503 III. Gegenbeweise im Kontext der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen . . . . . . 505 E. Beweisführung über verbotene Maßregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 I. Keine Beweiserleichterung durch analoge Anwendung von § 22 AGG . . . . . . . . . 506 II. Keine Beweiserleichterung durch den Beweis des ersten Anscheins . . . . . . . . . . . 509 1. Anscheinsbeweis bei der Beweisführung über psychische Vorgänge . . . . . . . . . 510 2. Anscheinsbeweis bei Nichtangebot eines Folgearbeitsvertrags . . . . . . . . . . . . . 512 a) Zeitlicher Zusammenhang als Erfahrungssatz von hinreichender Tragfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 b) Besserstellung vergleichbarer Arbeitnehmer:innen als Erfahrungssatz von hinreichender Tragfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 c) Ergebnis: Keine Anwendung des Beweises des ersten Anscheins . . . . . . . . 514 III. Beweiserleichterung durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 IV. Erbringung des Vollbeweises durch Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
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F. Ergebnisse des siebten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
8. Kapitel Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen: drei Folgefragen
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A. Drei Folgefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 B. Besonderheiten der Klageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 C. Fristen zur Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 I. Begrenzte Reichweite der zweistufigen Ausschlussfrist gem. § 15 IV AGG i. V. m. § 61b I ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 II. Keine Ausschlussfrist analog § 17 TzBfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 III. Allgemeine zeitliche Grenzen für die Geltendmachung von Ansprüchen . . . . . . . 525 1. Begrenzung durch individual- und tarifvertragliche Ausschlussfristen . . . . . . . 525 2. Begrenzung durch die Grundsätze der Verwirkung nur im Ausnahmefall . . . . . 527 D. Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gem. § 99 I BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
Einleitung A. Problemstellung: Die (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verfassungs- und arbeitsrechtlicher Brennpunkt Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind ca. 8 % der Arbeitnehmer:innen1 befristet angestellt. Im Jahr 2019 waren dies rund 2,8 Millionen Menschen.2 Bei den Neueinstellungen sind die Zahlen noch höher: Zwei aus fünf Arbeitsverträgen wurden in den letzten Jahren befristet abgeschlossen.3 Die Diskrepanz zwischen der Befristungsquote im Bestand und bei Neueinstellungen spiegelt unter anderem wider, dass viele Arbeitsplätze nicht langfristig mit befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen besetzt werden.4 Über 40 % der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen wurden im Jahr 2019 in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen, ein Drittel der befristeten Arbeitsverhältnisse wurde verlängert, also erneut befristet fortgesetzt und nur ein Viertel lief mit Fristablauf aus. Der hohe Anteil der Vertragsverlängerung und 1 Diese Arbeit ist in geschlechtergerechter Sprache verfasst. In Personenbezeichnungen wird ein Doppelpunkt im Wortinneren zwischen die männliche Bezeichnung oder den Wortstamm und die weibliche Endung gesetzt. Damit werden neben männlichen und weiblichen Personen auch nichtbinäre Personen typographisch einbezogen. Für die Benutzung des sog. „Gender-Doppelpunkts“ spricht insbesondere, dass der Doppelpunkt auch von Screenreadern erkannt werden kann und sehbehinderte und blinde Menschen ihn daher teilweise als barrierefreie Gendermöglichkeit benannt haben. 2 Diese Zahlen beruhen auf einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) aus den letzten Jahren (IAB-Betriebspanel 2019). Erhoben wurden Angaben über befristete Arbeitsverhältnisse aller sozialversicherungspflichtig beschäftigter Arbeiter:innen und Angestellter, exklusive Auszubildender, und nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigter (Beamt:innen, tätige Inhaber:innen und mithelfende Familienangehörige) sowie geringfügige und sonstige Beschäftigte in Betrieben verschiedener Branchen und Größen. Es handelt sich um hochgerechnete Werte; erfasst werden Einstellungen für das erste Kalenderhalbjahr. Der Befristungsanteil der Gesamtbeschäftigung schwankte in den letzten Jahren zwischen 8,3 % in den Jahren 2017 und 2018 und 7,1 % im Jahr 2019. Die Angaben des Statistischen Bundesamtes weichen leicht davon ab mit einer Befristungsquote von 7,4 % und einer absoluten Zahl von 2,296.000 befristet Beschäftigten in 2019 (Destatis, https://www.desta tis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-4/befristet-beschaeftigte.ht ml sowie https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/ atyp-kernerwerb-erwerbsfor m-zr.html). Die Arbeitsmarktentwicklung in den Jahren 2020 und 2021 wird wegen der pandemischen Ausnahmesituation ausgeklammert. 3 Hochgerechnete Werte der Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2019: 2017 betrug der Anteil der befristeten Neueinstellungen 43,5 %, 2018 44,1 % und 2019 37 %. 4 Vgl. N. Gürtzgen/A. Kubis/B. Küfner, IAB-Kurzbericht 17/2019, S. 2.
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Übernahmen zeigt, dass befristete Arbeitsverträge nur vergleichsweise selten genutzt werden, um einen tatsächlich nur vorübergehenden Arbeitskräftebedarf zu decken; einem Großteil der befristeten Arbeitsverträge liegt ein längerfristiger Bedarf an der Arbeitsleistung zugrunde.5 Die Selbstauskünfte der im IAB-Betriebspanel 20196 befragten Betriebe über ihre betrieblichen Motive für den Einsatz befristeter Arbeitsverträge bestärkt den Befund: Nur in einem knappen Drittel der befragten Betriebe waren begrenzter Ersatz- oder Mehrbedarf das wichtigste Motiv. Besonders verbreitet ist der Ersatzbedarf in Betrieben der öffentlichen Verwaltung sowie in der Erziehungs- und Unterrichtsbranche; der zeitlich begrenzte Mehrbedarf ist vor allem in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gastgewerbe der ausschlaggebende Befristungsgrund. Zwei Drittel der Betriebe nannten andere Motive für den Abschluss befristeter Verträge an: Rund 37 % der befragten Betriebe gaben an, Befristungen primär zur Erprobung („Screening“) der eingestellten Mitarbeiter:innen einzusetzen. Quantitative Analysen der IAB-Betriebspanels sowie qualitative Interviewauswertungen legen nahe, dass Arbeitgeber:innen neue Bewerber:innen teilweise pauschal sachgrundlos gem. § 14 II TzBfG befristen, ohne eine unbefristete Einstellung in Betracht zu ziehen, und dann nach Ablauf der Befristung erst über eine Festanstellung entscheiden. So lässt sich auch erklären, dass die Übernahmequoten in Branchen mit einem hohen Anteil sachgrundloser Befristungen höher und der Gesamtbestand befristeter Arbeitsverhältnisse niedriger sind.7 Andere verbreitete Befristungsmotive sind die unsichere wirtschaftliche Perspektive des Unternehmens (12 %) und in ca. 9 % der Betriebe – ein Großteil davon in Organisationen ohne Erwerbszweck – die begrenzte Finanzierung. Je nach der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung des Unternehmens besteht der Arbeitskraftbedarf in diesen Fällen kurz- oder langfristig. Arbeitgeber:innen nutzen befristete Arbeitsverträge also, um flexibel auf persönliche und wirtschaftliche Unwägbarkeiten verschiedener Art zu reagieren, indem sie sich für eine begrenzte Zeit binden und danach über eine Übernahme, Verlängerung oder Beendigung der Arbeitsverhältnisse entscheiden, ohne das aus der Kündigungslast im unbefristeten Arbeitsverhältnis resultierende „Beschäftigungsrisiko“ zu tragen.8 Für befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen, von denen nur
5 Laut einer IAB-Stellenerhebung für das Jahr 2018 beruhten rund 85 % der Neueinstellungen auf einem längerfristigen Bedarf, zitiert nach N. Gürtzgen/A. Kubis/B. Küfner, IABKurzbericht 17/2019, S. 4. Die IAB-Stellenerhebung ist eine repräsentative und statistisch valide Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, mit der die sozialversicherungspflichtigen Neueinstellungen in ca. 4 % der deutschen Betriebe aus 24 Branchen und 6 Betriebsgrößenklassen abgefragt werden. Die Stichproben werden hochgerechnet und gehen daher mit einer gewissen Ungenauigkeit einher. 6 Siehe Fn. 2. 7 C. Hohendanner, IAB-Kurzbericht 16/2018, S. 5. 8 Vgl. R. Schwarze, RdA 2017, 302, 309.
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wenige auf eigenen Wunsch hin eine Befristungsabrede schließen,9 birgt diese Rechtslage sowohl Chancen als auch Risiken: Der hohe Anteil an Entfristungen zeigt einerseits, dass eine befristete Beschäftigung eine Brücke in die Dauerbeschäftigung sein kann. Andererseits geht die befristete Beschäftigung mit einem hohen Maß an Unsicherheit einher: In einem nur vorübergehenden Arbeitsverhältnis können Arbeitnehmer:innen persönliche oder finanzielle Lebensentscheidungen nicht langfristig planen und eine Integration in das soziale Umfeld des Betriebs ist unter Umständen schwieriger. In § 14 TzBfG und einigen Sondervorschriften (z. B. im WissZeitVG) hat der Gesetzgeber daher Voraussetzungen für die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge normiert. Die rechtlichen Grenzen zulässiger Befristungsabreden sind Gegenstand andauernder politischer Kontroversen,10 einer umfangreichen Judikatur inklusive der vom BAG entwickelten Rechtsmissbrauchskontrolle11 und eines umfangreichen Diskurses im Schrifttum.12 Zu diesem Diskurs soll die vorliegende Arbeit keinen Beitrag leisten. Sie setzt stattdessen an der Erkenntnis an, dass befristete Arbeitsverträge nach der geltenden Rechtslage – trotz und in den Grenzen des § 14 TzBfG und der richterlichen Missbrauchskontrolle – zur Deckung eines mittel- oder langfristigen Arbeitsbedarfs eingesetzt werden dürfen und Arbeitgeber:innen diese Möglichkeit nutzen. Das Interesse von Arbeitnehmer:innen an einem anfänglich unbefristeten Vertrag wird daher oft durch ein Interesse an einer Vertragsfortsetzung nach Fristablauf ergänzt oder überlagert. Von der Befristungskontrolle abzugrenzen und ebenfalls hoch praxisrelevant ist daher die Frage, ob Arbeitgeber:innen frei über die Fortsetzung wirksam befristeter Arbeitsverhältnisse nach Fristablauf entscheiden dürfen. Diese Frage ist in der Rechtsprechung und Literatur noch nicht grundlegend aufgearbeitet worden. Einig ist man sich darin, dass Arbeitgeber:innen mit dem Abschluss von Folgearbeitsverträgen nach Fristablauf ihre Vertragsfreiheit betätigen, die nicht nur ein Grundprinzip des Privatrechts, sondern gem. Art. 12 I GG auch verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Inwiefern diese Freiheit durch vertrauenserweckende Verhaltensweisen von Arbeitgeber:innen, den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz oder Benachteiligungsverbote rechtlich begrenzt ist, wird zwar kontrovers, aber nicht ausführlich diskutiert. Hinter der Kontroverse verbergen sich 9
Im Jahr 2019 waren es laut Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtes nur 6 % der befristet Beschäftigten, Destatis, https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/ Qualitaet-Arbeit/Dimension-4/unfreiwilligbefristet-beschaeftigte.html. 10 Als nächste Novellierungen sieht der Koalitionsvertrag 2021 vor, die Möglichkeit der Haushaltsbefristung abzuschaffen und Kettenbefristungen mit Sachgrund auf sechs Jahre zu begrenzen. Nur in „eng begrenzten Ausnahmen“ soll ein Überschreiten dieser Höchstdauer möglich sein, Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und FDP, S. 70. 11 Siehe ausführlich unten Kap. 1 D. I. 2. a) cc). 12 Siehe monographisch aus jüngerer Zeit beispielsweise K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015).
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unterschiedliche Grundannahmen über Gewicht und Reichweite der Privatautonomie von Arbeitgeber:innen. Die Beurteilungen greifen dabei meist zu kurz, da sich Gerichte und Literatur argumentativ hinter dem vermeintlich hohen Stellenwert der Vertragsabschlussfreiheit zurückziehen und dabei außer Acht lassen, dass Begrenzungen der Vertragsabschlussfreiheit weder per se verfassungswidrig noch systemwidrige Fremdkörper im Privatrecht sind. Richtigerweise ist, wie auch sonst im Arbeitsrecht, ein angemessener Ausgleich zwischen den unternehmerischen Interessen von Arbeitgeber:innen und Schutzbelangen der Arbeitnehmer:innen herzustellen. Eine Untersuchung der Vertragsfortsetzungsfreiheit ist spannend und vielschichtig, da der Vertragsschluss in einem vertraglich vorgeprägten Raum – dem befristeten Arbeitsverhältnis – vorgenommen oder unterlassen wird. Diese Situation birgt zwei Besonderheiten gegenüber dem Vertragsschluss oder seiner Verweigerung unter Fremden: Erstens können in einem Arbeitsverhältnis aufgrund individueller Absprachen oder der Einbettung von Arbeitnehmer:innen in kollektive Betriebsstrukturen unter Umständen Fortsetzungserwartungen der Arbeitnehmer:innen oder – spiegelbildlich – eine Selbstbindung von Arbeitgeber:innen hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung entstehen. Dazu kommt es beispielsweise, wenn Arbeitgeber:innen die Entfristung von Arbeitsverhältnissen für den Fall einer Bewährung in Aussicht stellen,13 sie Arbeitnehmer:innen, vor allem in Saisonarbeitsverhältnissen, viele Jahre in Folge wiedereingestellt haben14 oder Arbeitsverhältnisse vieler vergleichbarer Arbeitnehmer:innen nach Fristablauf verlängern.15 Die Rechtsfragen, ob ein Vertragsschluss aufgrund betrieblicher Übung oder dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz geboten sein kann, entsteht ausschließlich im Kontext der Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge und ist noch nicht umfassend aufgearbeitet worden. Bei der Beurteilung der Vertragsfortsetzungsfreiheit ist zweitens zu berücksichtigen, dass ihre Betätigung bei Fristablauf schon auf das bestehende Arbeitsverhältnis vorwirken kann: Unsicherheit über eine Vertragsfortsetzung erzeugt Druck auf befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen, die Chancen auf eine Fortsetzung zu steigern, indem sie z. B. besonders hohe Leistungen erbringen,16 nur wenige Tage krankheitsbedingt fehlen,17 ihre Familienplanung aufschieben18 oder 13
Vgl. BAG, Urt. v. 28. 11. 1963 – 2 AZR 140/63, NJW 1964, 567, 568. BAG, Urt. v. 29. 1. 1987 – 2 AZR 109/86, AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1. 15 Vgl. BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27. 16 Vgl. M. Bossler/P. Grunau, Applied Economic Letters 26 (2019), 1148, 1150 f., die auf Grundlage deutscher Datensätze herausgefunden haben, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen mehr Arbeitsstunden arbeiten als vergleichbare unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen. 17 Dass die Deutsche Post die Entfristung sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge von der Zahl der Krankheitstage abhängig macht, berichtete u. a. K. Ludwig, „Krank sein bei der Post? Besser nicht“, online veröffentlicht am 6. 8. 2018 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.su 14
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ihre sexuelle Orientierung verbergen.19 Dass Arbeitgeber:innen ihre Vertragsfreiheit ausüben, um Arbeitnehmer:innen aufgrund persönlicher Merkmale, wie der Schwangerschaft, des Alters oder der Religion zu entlassen, belegen einschlägige Klagen und ihre Beweiswürdigung durch deutsche wie europäische Gerichte.20 Die Entscheidungsfreiheit bei Fristablauf birgt außerdem das Risiko, dass Arbeitgeber:innen sie als Repressalie für rechtlich zulässige, aber finanziell oder administrativ belastende Verhaltensweisen der Arbeitnehmer:innen betätigen: Dürften Arbeitgeber:innen beispielsweise die gewerkschaftliche Betätigung21 oder Betriebsratstätigkeit22 von Arbeitnehmer:innen zum Anlass nehmen, ihre Arbeitsverhältnisse auslaufen zu lassen, würde die ohnehin prekäre Rechtsstellung befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen weiter geschwächt. Sowohl die Ausübung individueller Rechte als auch die betriebliche oder unternehmerische Interessenvertretung würden unter dem „Damoklesschwert“ der Nichtfortsetzung gefährdet. In Betrieben, in denen überwiegend befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen arbeiten, wird dadurch die Errichtung von Interessenvertretungen insgesamt erschwert.23 Die eddeutsche.de/wirtschaft/brief-und-paketboten-krank-sein-bei-der-post-besser-nicht-1.3 969098). 18 Einen Zusammenhang zwischen befristeter Beschäftigung und der Familienplanung belegen W. Auer/N. Danzer/A. Fichtl, ifo Schnelldienst 18/2015, S. 35 ff. Diese Ergebnisse illustriert die Presse durch Interviews mit Betroffen, z. B. „Immer wieder die Luft anhalten“, online veröffentlicht am 11. 6. 2010 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/ karriere/befristete-arbeitsvertraege-eine-generation-auf-abruf-1.954926-2). 19 Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu LSBTIQ*-Lehrkräften (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland, 2017, S. 20) ergab beispielsweise, dass zwar über die Hälfte (51,4 %) der verbeamteten und 38,4 % der nicht verbeamteten unbefristeten Lehrkräfte angaben, offen mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität umzugehen, es bei den Befragten in einem befristeten Arbeitsverhältnis aber nur noch jeder Vierte (25,0 %) war. Nach Auffassung der Autoren der Studie werden hier die Risiken befristeter Arbeitsverhältnisse für Arbeitnehmer:innen deutlich: Viele LSBTIQ*-Personen befürchteten negative Konsequenzen eines offenen Umfangs mit ihrer Identität für eine Entfristung oder Verbeamtung. Diese Einschätzung wird durch das Ergebnis bekräftigt, dass 15 % aller befragten Lehrkräfte, die nicht offen mit ihrer sexuellen Orientierung oder Identität umgehen, als ein Motiv dafür angaben, Angst zu haben, aus diesem Grund keine Festanstellung oder Verbeamtung zu erhalten (a. a. O. S. 17). 20 Zur Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund der Schwangerschaft EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243 und ArbG Mainz, Urt. v. 2. 9. 2008 – 3 Ca 1133/08, BeckRS 2008, 56479; zur altersbedingten Nichtfortsetzung BAG, Urt. v. 20. 3. 2019 – 7 AZR 237/17, NZA 2019, 1492; LAG Hamm, Urt. v. 26. 2. 2009 – 17 Sa 923/08, BeckRS 2010, 72245; zur Nichtfortsetzung wegen des Tragens eines Kopftuchs EGMR, Urt. v. 26. 11. 2015 – 64846/11 (Ebrahimian), NZA-RR 2017, 62 und wegen der Verletzung kirchlicher Verpflichtungen EGMR, Urt. v. 12. 6. 2014 – 5630/07 (Fernández Martinez), NZA 2015, 533. 21 Vgl. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317. 22 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209. 23 Über die mit Foodoras Befristungspraxis einhergehenden Schwierigkeiten der Arbeitnehmer:innen, einen Betriebsrat zu gründen berichtet beispielsweise B. Kramer, „Aufstand der
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Entscheidung, befristete Arbeitsverhältnisse fortzusetzen oder nicht, betrifft also nicht nur die Begründung neuer Arbeitsverträge, sondern wirkt sich zugleich auf die Rechtsstellung der Parteien in bestehenden befristeten Arbeitsverhältnissen aus. Die „Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse“ ist aufgrund dieses Hybridcharakters ein komplexer Untersuchungsgegenstand, der verschiedene arbeitsund verfassungsrechtliche Fragestellungen berührt. Die Arbeit hat zum Ziel, erstmalig umfassend und fundiert herauszuarbeiten, wie frei Arbeitgeber:innen de lege lata bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse sind und wie ihre Vertragsfreiheit durch eigenes Verhalten oder gesetzliche Verbote gebunden ist.
B. Eingrenzung und Gang der Untersuchung Es werden ausschließlich befristete Arbeitsverhältnisse zwischen Privaten untersucht. Nicht behandelt werden also Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst, die den Besonderheiten des Art. 33 II, III GG unterliegen. Ebenfalls nicht betrachtet wird die Vertragsfortsetzung nach Ende eines Ausbildungsverhältnisses, das ein durch das BBiG „besonders ausgestaltetes Rechtsverhältnis eigener Art“ ist.24 Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert: Im ersten Teil und zugleich 1. Kapitel werden Systematik und Zweck des Befristungsrechts im TzBfG herausgearbeitet und die Auswirkungen der dortigen Bestandsschutzkonzeption auf die Fortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen bei Fristablauf untersucht. Der zweite Teil beschäftigt sich mit verschiedenen Fallgruppen der Selbstbindung von Arbeitgeber:innen hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung. Es werden zunächst die rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung nach vertragsrechtsdogmatischen Grundsätzen [2. Kapitel] und anschließend die Selbstbindung aufgrund des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes [3. Kapitel] untersucht. Der dritte Teil der Arbeit ist arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten – dem Diskriminierungsverbot gem. § 7 I AGG und Maßregelungsverboten – gewidmet: Da ihre Reichweite und ihr Verhältnis zur Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen besonders umstritten sind, wird zunächst ein dogmatisches Fundament gelegt, indem die Regelungsziele und die auslegungsrelevanten europäischen Rechtsquellen dargestellt werden [4. Kapitel]. Anschließend wird untersucht, wie die verschiedenen Benachteiligungsverbote auf die Vertragsfortsetzung nach Fristablauf einwirken [5. Kapitel] und welche Rechtsfolgen ein Verstoß nach sich zieht [6. Kapitel].
Essenskuriere“, online veröffentlicht am 9. 3. 2018 in der ZEIT (https://www.zeit.de/arbeit/201 8-02/foodora-deliveroo-kuriere-betriebsrat). 24 BAG, Urt. v. 14. 5. 1987 – 6 AZR 498/85, NZA 1987, 820, 822.
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Ob und wie die herausgearbeiteten Grenzen der Vertragsfortsetzungsfreiheit in der Praxis gelten, wird im vierten Teil der Arbeit untersucht: Der Kernfrage, wie Arbeitnehmer:innen eine Selbstbindung der Arbeitgeber:innen oder eine Benachteiligung vor Gericht darlegen und beweisen können, wird im 7. Kapitel nachgegangen. Im 8. Kapitel werden abschließend die Besonderheiten der Klageerhebung, Fristen zur Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen sowie das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besprochen.
C. Begriffsbestimmungen I. (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Wirksam befristete Arbeitsverhältnisse enden gem. § 15 I TzBfG mit Ablauf der vereinbarten Zeit. Sie werden fortgesetzt, indem sich Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen vertraglich darüber einigen. Die Einigung geschieht durch einen Vertragsschluss, also übereinstimmende Willenserklärungen der Vertragsparteien, die zum Inhalt haben, dass das Arbeitsverhältnis über das Fristende hinaus fortgesetzt werden soll. Mit der „Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse“ werden in dieser Arbeit sämtliche Vertragsschlüsse bezeichnet, durch die arbeitsvertragliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in über das Fristende hinaus fortgesetzt werden. Teilweise ist zwischen verschiedenen vertraglichen Gestaltungsvarianten zu unterscheiden, die unterschiedliche rechtliche Konsequenzen haben: Willenserklärungen können entweder nur darauf gerichtet sein, das Ende eines Arbeitsverhältnisses hinauszuschieben, sodass sich ein inhaltsgleicher Folgearbeitsvertrag nahtlos an den vorangegangenen Arbeitsvertrag anschließt. Übereinstimmend mit der Terminologie des § 14 II 1 Hs. 2 TzBfG soll diese Vereinbarung als Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse bezeichnet werden.25 Auch die Entfristung kann eine Form der Verlängerung sein: Die Arbeitsvertragsparteien einigen sich in diesem Fall üblicherweise darüber, dass das Arbeitsverhältnis bis zum Eintritt des Regelrentenalters verlängert werden soll. Sind die Willenserklärungen darauf gerichtet, ein separates Arbeitsverhältnis im Anschluss an das befristete Arbeitsverhältnis zu begründen, einigen sie sich über eine Wiedereinstellung. Davon ist auszugehen, wenn andere vertragliche Bestandteile als das Fristende geändert werden sollen oder das Arbeitsverhältnis erst mit zeitlichem Abstand zum vorherigen Arbeitsverhältnis beginnen soll. Dieser Abstand kann wenige Tage dauern, aber auch längere Zeit, wie beispielsweise bei Saisonbetrieben mit mehrmonatigen Betriebspausen. Nicht nur 25
Eine Verlängerung i. S. v. § 14 II 1 Hs. 2 TzBfG ist eine Vereinbarung, die nur den Endtermin der Beschäftigung hinausschiebt, nicht aber die übrigen Arbeitsbedingungen verändert, BAG, Urt. v. 19. 10. 2005 – 7 AZR 31/05, NZA 2006, 154, 155; BAG, Urt. v. 15. 1. 2003 – 7 AZR 346/02, NZA 2003, 914, 915; Boecken/Joussen/W. Boecken, § 14 TzBfG, 147; MüKo BGB/D. Hesse, § 14 TzBfG Rn. 94; ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 88.
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Einleitung
der Beginn des Folgearbeitsvertrags kann variieren, sondern auch der Zeitpunkt des Vertragsschlusses: Während die Einigung über eine Vertragsverlängerung zwingend vor Fristablauf stattfindet, einigen sich Parteien über eine Wiedereinstellung oft auch erst danach, beispielsweise wenn wiederkehrender Arbeitsbedarf für den Saisonbetrieb erst in der Betriebspause kalkulierbar wird. Als Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse wird das Unterlassen des Vertragsschlusses – gerichtet auf eine Verlängerung oder Wiedereinstellung, während oder nach Ablauf der Arbeitsverhältnisse – bezeichnet. Typischerweise kommunizieren Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen im Laufe befristeter Arbeitsverhältnisse über das Schicksal ihrer vertraglichen Beziehungen nach Fristablauf. Arbeitgeber:innen informieren Arbeitnehmer:innen in der Regel mündlich oder schriftlich darüber, ob sie einen Fortsetzungsvertrag schließen wollen oder nicht. So verhindern sie insbesondere, dass durch eine Weiterarbeit nach Vertragsende die Entfristungsfiktion des § 15 V TzBfG eintritt. Die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen kann sich aber auch in der Untätigkeit der Arbeitgeber:innen erschöpfen, wenn Arbeitnehmer:innen im Laufe ihrer Arbeitsverhältnisse keine Gespräche über die Vertragsfortsetzung initiieren oder Arbeitgeber:innen sich erst nach Ablauf der Arbeitsverhältnisse gegen eine Wiedereinstellung entscheiden.
II. „Arbeitgeber:in“ als Zurechnungssubjekt von Fortsetzungsentscheidungen Personalentscheidungen wie die (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse werden in kleinen Unternehmen oft von ihren Inhaber:innen, also den „Arbeitgeber:innen“ selbst getroffen. Oft sind Arbeitgeber:innen aber keine einzelnen Personen, sondern juristische Personen, die gemäß oder analog § 31 BGB durch Organe vertreten werden und die Personalauswahl und -führung an Mitarbeiter:innen delegieren. Die eigentlichen Entscheidungsträger:innen konkreter Personalentscheidungen sind daher oft angestellte Arbeitnehmer:innen mit Leitungsfunktion oder in Personalabteilungen. Ihre Verhaltensweisen werden ihren Arbeitgeber:innen aber regelmäßig zugerechnet: Rechtsgeschäftliche Handlungen vertretungsberechtigter Arbeitnehmer:innen verpflichten Arbeitgeber:innen nach den allgemeinen Vertretungsgrundsätzen (§§ 164 ff. BGB). Auch ein pflicht- oder rechtswidriges Verhalten wird Arbeitgeber:innen gem. § 278 S. 2 BGB zugerechnet, wenn die Entscheidungsträger:innen ein Weisungsrecht gegenüber anderen Arbeitnehmer:innen haben oder sie in der Personalabteilung beschäftigt sind. Arbeitnehmer:innen, die personalbezogene Pflichten wahrnehmen, sind nämlich Erfüllungsgehilfen hinsichtlich der Pflicht von Arbeitgeber:innen zur fürsorgepflicht- und rechtmäßigen Behandlung ihrer Arbeitnehmer:innen.26 26 BAG, Urt. v. 25. 10. 2007 – 8 AZR 593/06, NZA 2008, 223, 227; BAG, Urt. v. 16. 5. 2007 – 8 AZR 709/06, NZA 2007, 1154, 1162 (Rn. 81); (Rn. 79); J.-H. Bauer/M. Evers, NZA 2006, 893, 894; BeckOGK/M. Benecke, § 7 AGG Rn. 60; dies., in: FS Preis (2021), Das Verschulden
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In dieser Arbeit wird der Begriff „Arbeitgeber:in“ also auch als Zurechnungsobjekt für Personalentscheidungen einzelner Arbeitnehmer:innen verwendet. Werden Willenserklärungen, die Aufstellung allgemeiner Regelungen, diskriminierende oder maßregelnde Motive von und durch „Arbeitgeber:innen“ besprochen, ist davon das Verhalten von Arbeitgeber:innen selbst sowie einzelner Arbeitnehmer:innen, deren Verhalten ihren Arbeitgeber:innen nach allgemeinen Grundsätzen zuzurechnen ist, umfasst.
des Arbeitgebers bei den Ansprüchen nach § 15 AGG, S. 73, 77; S. Kamanabrou, AP BGB § 611a Nr. 21, 341; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 207 f.
1. Teil
Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse zwischen Vertragsfreiheit und Bestandsschutz 1. Kapitel
Vertragsfortsetzungsfreiheit als Korrelat eingeschränkten Bestandsschutzes A. Problem: Konfliktlage bei Ende eines befristeten Arbeitsvertrags Die Begründung von Vertragsverhältnissen ist eine grundlegende Komponente der Privatautonomie. Dieser Grundsatz gilt im Ausgangspunkt auch für die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse, denn diese erfolgt durch den Abschluss neuer Arbeitsverträge. Gleichzeitig betreffen Vertragsfortsetzungen nicht die erstmalige Aufnahme von Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in, sondern die beiden Parteien haben bereits einvernehmlich ein Arbeitsverhältnis begründet und durchgeführt. Werden Arbeitsverhältnisse nicht fortgesetzt, wird daher nicht nur der Abschluss neuer Arbeitsverträge unterlassen, sondern es werden auch bisherige Vertragsbeziehungen (endgültig) beendet: Arbeitnehmer:innen verlieren die Arbeitsplätze, die sie bis dahin innehatten. Damit rückt die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen funktional in die Nähe von Kündigungen, die zum Schutz der Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen nur unter bestimmten Voraussetzungen wirksam sind. Es ist daher zu untersuchen, ob auch die Entscheidung über eine Vertragsfortsetzung durch die Interessen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse beschränket ist. Dafür wird zuerst das grund- und einfachrechtliche Koordinatensystem abgesteckt: die Gewährleistung und Funktionsbedingungen der Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien [B.] und der Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen [C.]. Anschließend wird herausgearbeitet, wie Vertragsfreiheit und Bestandsschutz im befristeten Arbeitsverhältnis austariert werden und ob es „Vertragsfortsetzungsfreiheit“ tatsächlich gibt [D.].
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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B. Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis I. Vertragsfreiheit als Instrument der Selbstbestimmung im Privatrechtsleben Vertragsfreiheit ist die vom BGB unausgesprochen vorausgesetzte1 Freiheit, private Rechtsverhältnisse eigenverantwortlich zu gestalten.2 Sie ist neben der Eigentums-, Testier- und Vereinigungsfreiheit3 eine Erscheinungsform der Privatautonomie, die als zivilrechtliches Äquivalent zur allgemeinen Handlungsfreiheit begriffen werden kann.4 Vertragsfreiheit umfasst alle Aspekte der Vertragsbeziehung: die Freiheit des (Nicht-)Abschlusses, der inhaltlichen Ausgestaltung sowie ihrer Beendigung.5 Vertragsfreiheit beruht auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und dient zugleich der Verwirklichung der Selbstbestimmung im Rechtsleben.6 Die primäre Freiheitsverbürgung der Vertragsfreiheit ist die „formale“ Freiheit, vertragliche Beziehungen ohne staatliche Begrenzungen eingehen und ausgestalten zu dürfen.7 Da Verträge ihre wesenseigene Verbindlichkeitsfunktion nur erfüllen, wenn die Rechtsordnung ihre Geltung anerkennt und ihnen zur Durchsetzung verhilft, denkt die Gewährleistung von Vertragsfreiheit „die justitielle Realisierung gleichsam mit und begründet daher die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen.“8 Diese Pflicht gilt grundsätzlich unabhängig vom Inhalt der geschlossenen Vereinbarungen, also insbesondere auch, wenn das Ergebnis der Verhandlungen aus der Perspektive eines objektiven Außenstehenden (z. B. eines Gerichts) unvernünftig oder ungerecht erscheint. Es ist nämlich prinzipiell davon auszugehen, dass ein Vertrag das anzuerkennende Ergebnis des autonomen Willens der Akteure und damit Ausdruck beidseitiger Selbstbestimmung ist.9 Auch die Eingehung objektiv unvernünftiger Ver1
L. Raiser, JZ 1958, 1, 2 mit einer Einordnung in die Entstehungsgeschichte des BGB. W. Flume, in: FS DJT (1960), Rechtsgeschäft und Privatautonomie, S. 135, 136. 3 J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 46. 4 Maunz/Dürig/U. Di Fabio, Art. 2 I GG Rn. 101. 5 L. Raiser, JZ 1958, 1. 6 BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 64; C.-W. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277; D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 14; P. Kreutz, ZfA 1975, 65, 73; L. Raiser, in: FS DJT (1960), Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, S. 101, 119. 7 Canaris bezeichnet diese Freiheit als „formale Vertragsfreiheit“, C.-W. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277. 8 BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38; ähnlich BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997), S. 16; L. Raiser, JZ 1958, 1. 9 BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 14 f.; C. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75. 2
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
einbarungen kann das Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung sein (pro ratione stat voluntas10); den Vertragspartnern als Vertragsnächsten steht die Beurteilungskompetenz zu, ob der Vertrag ihren Interessen entspricht oder sie freiwillig auf eine Berücksichtigung eigener Interessen verzichten. Die Annahme, dass ein Vertrag regelmäßig die Interessen der Beteiligten zum Ausgleich bringt, wird in der Literatur oft mit dem Begriff der „Vertragsgerechtigkeit“ oder der „Richtigkeitschance“ beschrieben.11 Nach heute herrschender Ansicht ist dieses Resultat formal gesicherter Vertragsfreiheit aber weder Grund noch Rechtfertigung für ihre Gewährleistung, sondern bloß eine idealiter damit einhergehende Folge, weil die Vertragsfreiheit in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung um der Freiheit (der Selbstbestimmung) selbst willen zu schützen ist.12 Nach allgemeiner Ansicht setzt privatautonomes rechtsgeschäftliches Handeln mehr als nur die „formale Freiheit“, frei von rechtlichen Hindernissen rechtswirksame Verträge schließen zu können, voraus: Eine Vereinbarung ist nur dann ein Akt der Selbstbestimmung, wenn die Willensbildung der Parteien auch frei von tatsächlichen Hindernissen stattfindet. Funktionsbedingung der formalen Vertragsfreiheit ist also die materiale Freiheit, die dem Vertrag zugrunde liegende Entscheidung frei treffen zu können.13 Fehlt sie, muss der Gesetzgeber oder die Rechtsprechung durch entsprechende Anwendung von Generalklauseln kompensierend eingreifen.14 Die Voraussetzungen, unter denen ein Fehlen materialer Vertragsfreiheit anzunehmen ist, sind umstritten. Einig ist man sich jedenfalls im Ausgangspunkt, dass minderjährige, getäuschte oder bedrohte Vertragspartner keine selbstbestimmte Willenserklärung abgeben und die Rechtsordnung daher die 10
W. Flume, in: FS DJT (1960), Rechtsgeschäft und Privatautonomie, S. 135, 141. Z. B. C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 48 f.; D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 15; L. Raiser, in: FS DJT (1960), Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, S. 101, 129 ff.; diese Sichtweisen wurzeln in der von Schmidt-Rimpler im Jahre 1941 entwickelten „Lehre von der Richtigkeitsgewähr“: „Der Sinn des Vertrages ist […] ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willen herbeizuführen, weil immer der durch die Unrichtigkeit betroffene zustimmen muss“ (W. Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130, 156). 12 Das hat insbesondere eine Diskursanalyse Krämers ergeben, D. Krämer, Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags (2015), S. 25 ff.; ebenso dezidiert J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 83 ff. Die Richtigkeitschance eines Vertrags kann nach Ansicht Krämers allenfalls als allgemeines Rechtsprinzip bei der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Verträgen berücksichtigt werden oder die ohnehin verfassungsrechtlich geschützte Vertragsfreiheit bekräftigen (D. Krämer, Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags (2015), S. 45). 13 BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; C.-W. Canaris, AcP 200 (2000), 273, 277, 286 f.; P. Kreutz, ZfA 1975, 65, 73; S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997), S. 1. 14 BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38; BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 85; D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 16; C. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 76; S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag (1997), S. 26 f.; L. Raiser, in: FS DJT (1960), Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, S. 101, 129 ff. 11
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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Durchsetzung ihrer Verträge gem. §§ 105 ff., 123 f. BGB entgegen dem Geltungsund Exekutionsanspruch der formalen Vertragsfreiheit verweigern darf. Nach Ansicht des BVerfG, die das Gericht in den grundlegenden „Bürgschafts-“ und „Handelsvertreterentscheidungen“ entwickelt hat, sowie eines großen Teils der Literatur ist auch ein Machtungleichgewicht der Vertragsparteien ein wichtiger Indikator für eine Beeinträchtigung der Selbstbestimmung.15 Denn: „Wo es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt, ist mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten.“16 „Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung. Allerdings kann die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 I GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG).“17
Eine Imparität der Vertragspartner, die einer Partei erlaubt, sich den „Vertrag zum Herrschaftsinstrument zu machen“18 und so die Selbstbestimmung der anderen Partei aufzuheben, wird insbesondere bei wirtschaftlichen oder intellektuellen Machtgefällen sowie bei einer existenziellen Angewiesenheit einer Partei auf den Vertragsschluss diskutiert.19 Eine eingehende Betrachtung ist an dieser Stelle nicht angezeigt, da die Materialisierung der Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht längst anerkannt ist. Festzuhalten ist, dass die dem Vertragsrecht zugrundeliegende Prämisse, die Inanspruchnahme von Vertragsfreiheit sei ein Ausdruck individueller Selbstbestimmung, auf der Annahme realer Entscheidungsfreiheit basiert, die insbesondere bei einem Machtungleichgewicht der Verhandlungspartner gestört sein kann. Ebenso, wie Gesetzgeber und Gerichte grundsätzlich dazu verpflichtet sind, getroffene Vereinbarungen als Ausdruck privatautonomer Entscheidungen zu respektieren und durchzusetzen, können sie zu einem Eingriff in die Vertragsfreiheit legitimiert und 15 BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38; BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470; aus der Literatur z. B. D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 18 und C. Hillgruber, AcP 191 (1991), 69, 75; L. Raiser, JZ 1958, 1, 6; M. Wolf, RdA 1988, 270, 272. W. Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 32 ff. und J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 105 verlangen einschränkend, dass die Entscheidungsfreiheit in derartigem Maße eingeschränkt ist, dass eine autonome Willenssteuerung nicht mehr möglich ist. 16 BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470. 17 BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38. 18 L. Raiser, JZ 1958, 1, 6. 19 Ausführlich D. Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1, 18 ff. m. w. N.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
verpflichtet sein, um die fehlende Selbstbestimmung von Teilnehmern am Rechtsleben zu kompensieren.20
II. Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis Gem. § 105 GewO dürfen Arbeitnehmer:innen und (gewerbetreibende) Arbeitgeber:innen „Abschluss, Inhalt und Form des Arbeitsvertrages frei vereinbaren, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen.“ Damit wird erstens die Selbstverständlichkeit kodifiziert, dass auch die beruflichen Vertragsbeziehungen selbstbestimmt eingegangen und ausgestaltet werden dürfen, und zweitens eine Einschränkung formuliert: dass Vertragsfreiheit nur innerhalb gesetzlicher oder kollektiv vereinbarter Grenzen besteht. Mit dieser Regelung bildet der Gesetzgeber ab, dass die Arbeitsvertragsparteien mit dem Abschluss von Arbeitsverträgen grundrechtlich geschützte Freiheitsräume wahrnehmen [1.], aber die strukturelle Verhandlungsimparität der Vertragsparteien gleichzeitig einen Interventionspunkt für staatliche Freiheitsbegrenzungen darstellt [2.]. 1. Vertragsfreiheit als Ausprägung der Berufsfreiheit gem. Art. 12 I GG Die Freiheit, Arbeitsverträge zu schließen, inhaltlich auszugestalten und zu beenden, ist als Ausprägung der Berufsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien von Art. 12 GG geschützt. Insoweit verdrängt Art. 12 GG die durch Art. 2 I GG geschützte allgemeine Vertragsfreiheit.21 Art. 12 GG schützt erstens Arbeitnehmer:innen in der freien Wahl des Arbeitsplatzes. Die Arbeitsplatzwahl betrifft – so das BVerfG – die Entscheidung „für eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit oder ein bestimmtes Arbeitsverhältnis“, wozu bei „bei abhängig Beschäftigten auch die Wahl des Vertragspartners“ gehört.22 Die Arbeitsplatzwahl ist also zwischen der Berufswahl, der sie nachfolgt und die sie konkretisiert, und der Berufsausübung, die an dem ge-
20 Vgl. C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 54. 21 BVerfG, Beschl. v. 7. 9. 2010 – 1 BvR 2160/09, 1 BvR 851/10, NJW 2011, 1339, 1340 (Rn. 32); BVerfG, Beschl. v. 11. 7. 2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51, 54 (Rn. 78); BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 18. 2. 2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, 1392, 1395; B. Boemke, NZA 1993, 532, 534; Maunz/Dürig/U. Di Fabio, Art. 2 I GG Rn. 103; H.-J. Papier, RdA 1989, 137 138; A. Söllner, RdA 1989, 144, 147 ff.; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 275; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 97, 100. 22 BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; bestätigt durch BVerfG, Urt. v. 10. 3. 1992 – 1 BvR 454/91 u. a., NJW 1992, 1373, 1374 sowie in BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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wählten Arbeitsplatz stattfindet, einzuordnen.23 Arbeitnehmer:innen „aktualisieren“ ihre Berufswahl in einem konkreten Beschäftigungsverhältnis, das sie aufgrund individueller Präferenzen wie der geographischen Lage der Arbeitsstätte, der Person des Arbeitgebers und den materiellen und immateriellen Arbeitsbedingungen (insbesondere Entgelt und Betriebsklima) auswählen.24 Für Arbeitgeber:innen ist die Arbeitsvertragsfreiheit eine Komponente ihrer unternehmerischen Entscheidungsfreiheit: Sie nehmen ihre Berufswahlfreiheit gem. Art. 12 GG wahr, indem sie unternehmerisch am Markt auftreten.25 Um sich im Wettbewerb behaupten zu können, müssen sie ihre unternehmerische Strategie an den Bedürfnissen des Marktes ausrichten. Als Komponenten ihrer Berufsausübungsfreiheit gem. Art. 12 GG sind daher sämtliche Facetten unternehmerischer Entscheidungen geschützt. Dazu gehört insbesondere auch die Freiheit, das Personal auszuwählen und zu organisieren.26 Lieske schreibt prägnant: „Der Arbeitgeber legt den zur Erreichung unternehmerischer und betrieblicher Zielsetzung erforderlichen Personalbedarf fest und entscheidet mithin autonom über die Zusammensetzung und Leitung der Belegschaft und über den Einsatz der Arbeitnehmer. Dem Arbeitgeber wird so gewährleistet, dass er im Rahmen seiner Personalentwicklung frei darüber entscheiden kann, ob, mit wem und mit welchem Inhalt er einen Arbeitsvertrag abschließt. Dabei ist der Arbeitsvertrag das Instrument des Arbeitgebers dazu, sich im Bereich von Personalpolitik den äußeren Gegebenheiten des Marktes anzupassen.“27 Als Freiheitsrecht ist die Berufsfreiheit in erster Linie auf den status negativus ausgerichtet,28 schützt also vor staatlichen Eingriffen in diese Freiheiten. Eingriffe in die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen sind beispielsweise Altersgrenzen oder Einstellungsverbote. Verbreiteter sind jedoch Arbeitnehmerschutzvorschriften, die in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen. Da Abschluss, Inhalt und Beendigung von Arbeitsverträgen Ausdruck ihrer Berufsausübungsfreiheit sind, können sie nach der vom BVerfG im „Apotheken-Urteil“ aufgestellten Drei-Stufen23
BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; bestätigt durch BVerfG, Urt. v. 10. 3. 1992 – 1 BvR 454/91 u. a., NJW 1992, 1373, 1374 sowie in BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471. 24 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 129 f. 25 Auch Unternehmen nehmen gem. Art. 19 III GG an diesem Schutz teil, da gerade die Berufsfreiheit ihrem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist, BVerfG, Beschl. v. 14. 1. 2014 – 1 BvR 2998/11, 1 BvR 236/12, NJW 2014, 613, 613 (Rn. 50). 26 BVerfG, Beschl. v. 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995, 996 (Rn. 50); BVerfG, Urt. v. 10. 6. 2009 – 1 BvR 706/08, NJW 2009, 2033, 2038 (Rn. 164 ff.); S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 42, 60 f.; H.-J. Papier, RdA 1989, 137, 139; ErfK/I. Schmidt, Art. 12 GG Rn. 9; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 277; M. Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz (2018), S. 82. 27 S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 60 f. 28 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 274.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
Formel grundsätzlich zugunsten „vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls“ eingeschränkt werden, sofern sie darüber hinaus geeignet, erforderlich und angemessen zur Erreichung dieses Ziels sind.29 An diesem Maßstab müssen sich die Gesetzgebung der Legislative und die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln durch die Arbeitsgerichte messen lassen. 2. Funktionsversagen und Regulierung der Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis Die Freiheit der Arbeitsvertragsparteien, ob und mit wem sie einen Arbeitsvertrag abschließen möchten, welchen Inhalt dieser hat und wann und wie er beendet wird, besteht gem. § 105 GewO ausdrücklich innerhalb der Grenzen der arbeitsrechtlichen Ordnung. Diese Grenzen sind zahlreich. Die Annahme, dass in einem Vertrag die Interessen aller Vertragsparteien zum Ausgleich gebracht werden, da er das Ergebnis ihrer selbstbestimmten Entscheidungen ist, schlägt im Arbeitsleben nämlich regelmäßig fehl. Arbeitnehmer:innen sind Arbeitgeber:innen in der Verhandlung strukturell unterlegen und aufgrund fehlender Vertragsparität faktisch an der Durchsetzung eigener Interessen gehindert.30 Üblicherweise wird die Schieflage auf einen oder beide der folgenden Befunde zurückgeführt: erstens ein Ungleichgewicht bei der Gestaltung betrieblicher Strukturen und Abläufe und zweitens eines auf dem Arbeitsmarkt. Das Machtungleichgewicht bei der Gestaltung betrieblicher Strukturen ergibt sich daraus, dass die Funktionsfähigkeit von Betrieben – und damit auch der wirtschaftliche Erfolg der Arbeitgeber:innen – die Organisation und Koordinierung insbesondere auch der personellen Ressourcen voraussetzt. Arbeitsbedingungen werden daher typischerweise aus Zweckmäßigkeits- und Gleichheitsgründen vom Arbeitgeber:innen einheitlich und der gemeinsamen Verfolgung des Betriebszwecks entsprechend indisponibel festgelegt und sind damit dem Einfluss der Arbeitnehmer:innen in der Verhandlungssituation entzogen.31 Dass Arbeitnehmer:innen auf Arbeitsbedingungen oft keinen Einfluss nehmen können, wäre unschädlich, wenn sie wenigstens die Entscheidung über den Abschluss eines für sie nachteiligen Arbeitsvertrags freiverantwortlich treffen könnten, also die tatsächliche Wahl hätten, einen Arbeitsvertrag abzulehnen oder in Kenntnis seines Inhalts anzunehmen. Dann wäre die Inkaufnahme nachteilhafter Arbeitsbedingungen ein Akt 29
Grundlegend BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1038. T. Dieterich, RdA 1995, 129, 135; L. Fastrich, RdA 1997, 65, 75; F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht (1989), S. 28 ff.; R. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses (1968), S. 115; I. Schmidt, in: FS Dieterich (1999), Altersgrenzen, Befristungskontrolle und die Schutzpflicht der Gerichte, S. 585, 598; M. Wolf, RdA 1988, 270, 272; a. A. W. Zöllner, AcP 176 (1976), 221, 229 ff. 31 T. Dieterich, RdA 1995, 129, 135; F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht (1989), S. 30 f.; R. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses (1968), S. 115; in der Prämisse ebenso W. Zöllner, AcP 176 (1976), 221, 234, der daraus aber keine Beeinträchtigung materialer Vertragsfreiheit ableitet. 30
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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der Selbstbestimmung.32 Diese Voraussetzung ist aber oft aufgrund eines Ungleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt eingeschränkt: Während Arbeitgeber:innen über Kapital, Produktionsmittel und sonstige Ressourcen für eine Teilnahme am Wirtschaftsleben verfügen, sind einzelne Arbeitnehmer:innen oft auf eine solche Teilhabe durch Erlangung eines Arbeitsplatzes zur Existenzsicherung angewiesen.33 Folge dieser existenziellen Angewiesenheit ist, dass Arbeitnehmer:innen eher einen Arbeitsvertrag zu ihnen nachteilhaften Konditionen annehmen, als auf den Abschluss zu verzichten. Aus diesen Ungleichgewichtslagen resultiert das dem Arbeitsvertrag strukturell anhaftende Risiko, dass Arbeitgeber:innen ihre Vertragsfreiheit nutzen, um den Vertrag als Mittel der einseitigen Interessendurchsetzung und der Fremdbestimmung der Arbeitnehmer:innen zu nutzen. Damit fehlt es in Arbeitsverhältnissen typischerweise an der tatsächlichen „materialen“ Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmer:innen und mithin an einer wesentlichen Funktionsbedingung der Vertragsfreiheit. Die Gefährdung der Selbstbestimmung der Arbeitnehmer:innen und ihrer sozialen Sicherung ergibt einen „Interventionspunkt“, der den Staat zur Vornahme kompensatorischer Maßnahmen berechtigt und verpflichtet. Die Tatsache, dass Arbeitnehmer:innen ihre schutzwürdigen Interessen typischerweise nicht selbst durchsetzen können, ist eine „vernünftige Erwägung des Gemeinwohls“, die eine Einschränkung der Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien durch eine hohe Regelungsdichte zwingender Arbeitnehmerschutzvorschriften legitimiert.
III. Zusammenfassung zur Vertragsfreiheit im Arbeitsverhältnis Vertragsfreiheit ist die der Selbstbestimmung im Rechtsleben dienende Freiheit, den Abschluss, den Inhalt und die Beendigung privater Verträge eigenverantwortlich und rechtsverbindlich und ohne staatliche Eingriffe zu vereinbaren. Die Freiheit, sich durch die Eingehung vertraglicher Beziehungen im Berufsleben zu betätigen, ist sowohl für Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 GG geschützt. Weil Arbeitnehmer:innen ihre Interessen aufgrund eines strukturellen Ungleichgewichts nicht adäquat durchsetzen können, trifft den Staat eine Schutzpflicht. Er hat zu gewährleisten, dass die Selbstbestimmung der Arbeitnehmer:innen nicht in eine Fremdbestimmung durch die Arbeitgeber:innen verkehrt wird. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber eine Vielzahl an Arbeitnehmerschutzvorschriften erlassen und die Gerichte berücksichtigen die Schutzbedürfnisse von Arbeitnehmer:innen bei der Anwendung von Generalklauseln. 32
W. Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 32. T. Dieterich, RdA 1995, 129, 135; L. Fastrich, RdA 1997, 65, 75; R. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses (1968), S. 115; M. Wolf, RdA 1988, 270, 272. 33
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
C. Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen I. Bestandsschutz als Recht auf Erhaltung des Arbeitsplatzes Ein im Rahmen dieser Arbeit zentraler Aspekt der Arbeitsvertragsbeziehung ist ihre Beendigung: Insbesondere die einseitige Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Arbeitgeber:innen ist durch eine Vielzahl zwingender Vorschriften – insbesondere im KSchG und TzBfG – weitgehend der Disposition der Vertragsparteien entzogen. Dadurch wird vermieden, dass Arbeitgeber:innen ihre vertragliche Gestaltungsmacht nutzen, um den Inhalt der Arbeitsverhältnisse inklusive der Beendigungsbedingungen einseitig zu diktieren, und Arbeitnehmer:innen, dem freien Spiel der Kräfte auf dem Arbeitsmarkt überlassen, eine jederzeitige Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse hinnehmen müssen.34 Dass ein solcher Zustand aufgrund der wirtschaftlichen und persönlichen Bedeutung35 eines Arbeitsplatzes für Arbeitnehmer:innen auch aus sozialstaatlichen Gründen (Art. 20 I GG) bedenklich wäre,36 begründet das BVerfG prägnant: „Der Arbeitsplatz ist die wirtschaftliche Existenzgrundlage für [den Arbeitnehmer] und seine Familie. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard und Verlust von Nachbarschaftsbeziehungen zu finden, hängen vom Arbeitsmarkt ab. In Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit sind sie vor allem für den älteren Arbeitnehmer schlecht. Gelingt es ihm nicht, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu finden, gerät er häufig in eine Krise, in der ihm durch die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nur teilweise und auch nur für einen begrenzten Zeitraum geholfen wird.“37
34
Ausführlich zur fehlenden Fähigkeit von Arbeitnehmer:innen, ihre Bestandsinteressen effektiv selbst durchzusetzen F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 226 ff. 35 Die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Würde der Arbeitnehmer:innen und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit betont das BAG insbesondere auch in seiner ständigen Rechtsprechung zu Beschäftigungsansprüchen seit BAG, Urt. v. 10. 11. 1955 – 2 AZR 591/54, NJW 1956, 359. 36 Das Sozialstaatsprinzip zielt darauf ab, allen Bevölkerungsteilen die Chancen gleicher Entfaltung einzuräumen und insbesondere auch strukturell Schwächere im Rechtsverkehr zu schützen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470 und BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38). Die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz ist umstritten. Überwiegend wird das Prinzip nur als unterstützende Wertung herangezogen, da es zu unbestimmt sei, um aus sich heraus konkrete Gestaltungsvorgaben an den Gesetzgeber zu entfalten, z. B. F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 154. 37 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471 f.; vgl. auch BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1035 f.; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 280; S. Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes (2001), S. 51 f.; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 122.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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Ob und inwieweit normative Begrenzungen der Beendigungsfreiheit nicht allein im sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers liegen, sondern er aus verfassungsrechtlichen Gründen dazu verpflichtet ist, wird seit den 1980er Jahren diskutiert. Grundrechtsdogmatischer Ausgangspunkt der Diskussion ist das sog. „Erste Abtreibungs-Urteil“ des BVerfG vom 25. Februar 1975, in dem das Gericht den Gewährleistungsgehalt der als Abwehrrechte gegen den Staat konzipierten Grundrechte erstmals um eine Dimension als Schutzpflicht des Staates erweiterte. Exemplifiziert am Lebensschutz des Art. 2 II GG sei der Staat verpflichtet, sich schützend und fördernd vor ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut zu stellen.38 Dieser grundrechtliche Gewährleistungsgehalt wurde schon bald darauf auf die Berufsfreiheit des Art. 12 GG übertragen: Badura hat im Jahr 1982 einen ersten Vorstoß gewagt,39 der im Jahr 1984 anlässlich der Göttinger Staatsrechtslehrertagung aufgegriffen wurde: Papier leitete aus Art. 12 GG die „objektivrechtliche Verpflichtung“ des Gesetzgebers ab, „durch einen Mindeststandard arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften das Freiheitsrecht der Arbeit vor Obsoleszenz und Funktionslosigkeit zu bewahren“,40 Pietzcker formulierte noch etwas zurückhaltender, dass die Entfaltungsfreiheit im Beruf, anders als der Schutz des Lebens im Abtreibungs-Urteil, kein „natürlich vorgegebenes Schutzgut“ sei und daher „nicht als solches gegen Eingriffe geschützt werden“ könne. Denkbar sei aber eine „Minimalkontrolle bei evidenter Verletzung einer Schutzpflicht durch Beseitigung bestehenden Schutzes“ der Arbeitnehmer:innen.41 Dass Art. 12 GG den Staat dazu verpflichtet, die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen durch Begrenzungen der Beendigungsfreiheit zu schützen, gilt jedenfalls seit mehreren Entscheidungen des BVerfG aus den 1990er Jahren als gesichert. In der „Warteschleife-Entscheidung“ hat das Gericht zwei entscheidende Weichenstellungen vorgenommen: Erstens hat es den Schutzbereich des Art. 12 GG konkretisiert: „Ebenso wie die freie Berufswahl sich nicht in der Entscheidung zur Aufnahme eines Berufs erschöpft, sondern auch die Fortsetzung und Beendigung eines Berufs umfaßt, bezieht sich die freie Arbeitsplatzwahl neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung auch auf den Willen des einzelnen, diese beizubehalten oder aufzugeben.“42 Ausdruck der Berufsfreiheit ist also gerade auch die Immobilität, also der Fortbestand des gewählten Arbeitsplatzes.43 Zweitens hat das Gericht die Schutzrichtung der Wahlfreiheit präzisiert: Mit ihr sei „weder ein Anspruch auf 38
BVerfG, Urt. v. 25. 2. 1975 – 1 BvF 1 – 6/74, NJW 1975, 573, 575. P. Badura, in: FS Herschel (1982), Arbeit als Beruf (Art. 12 Abs. 1 GG), S. 21, 34 f. 40 H.-J. Papier, DVBl 1984, 801, 813. 41 J. Pietzcker, NVwZ 1984, 550, 554 f. 42 BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; bestätigt durch BVerfG, Urt. v. 10. 3. 1992 – 1 BvR 454/91 u. a., NJW 1992, 1373, 1374 sowie in BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; vorher auch schon BAG, Urt. v. 29. 6. 1962 – 1 AZR 343/61, NJW 1962, 1981, 1983. 43 H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 27. 39
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Ebenso wenig verleiht das Grundrecht unmittelbaren Schutz gegen den Verlust eines Arbeitsplatzes aufgrund privater Dispositionen. Insoweit obliegt dem Staat lediglich eine aus Art. 12 I GG folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften hinreichend Rechnung tragen.“44 Das heißt: Nach der auf die „Warteschleife-Entscheidung“ zurückgehenden heute herrschenden Ansicht enthält Art. 12 GG neben der abwehrrechtlichen Komponente weder einen Leistungs- oder Teilhabeanspruch gegen den Staat noch unmittelbare Drittwirkung im Privatarbeitsverhältnis. Aus Art. 12 GG folgt jedoch eine an den Staat gerichtete Pflicht, Arbeitnehmer:innen vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Rechte durch privatautonome Regelungen zu schützen, wo Arbeitgeber:innen Vertragsbestimmungen aufgrund ihrer Verhandlungsstärke sonst einseitig setzen könnten.45 Da das Recht, einen Arbeitsplatz beizubehalten, durch eine einseitige Vertragsbeendigung der Arbeitgeber:innen beeinträchtigt wird und sich Arbeitnehmer:innen dagegen nicht wehren könnten, wenn die Ausgestaltung privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse den Parteien überlassen bliebe,46 „aktiviert Art. 12 I GG hier die staatliche […] Pflicht, den Arbeitnehmer nicht schutzlos dem Eingriff seitens des Arbeitgebers preiszugeben.“47 Nur so wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Berufsfreiheit abhängiger Beschäftigter in einer modernen, arbeitsteiligen und marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft innerhalb privatrechtlicher Beziehungen realisiert, Arbeitnehmer:innen ihre gem. Art. 12 I GG gegen staatliche Eingriffe geschützten Freiheiten also nur unter Mitwirkung anderer Privater wahrnehmen können („Tatbestand kooperativer Grundrechtsausübung“)48. Die Schutzpflicht verlangt insbesondere, dass der Gesetzgeber ein Mindestmaß an Bestandsschutz festschreibt und die Gerichte diesem verfassungsrechtlichen Auftrag bei der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen Rechnung tragen.49 Die inhaltliche Reichweite der staatlichen Schutzpflicht für den ar44
BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; bestätigt durch BVerfG, Urt. v. 10. 3. 1992 – 1 BvR 454/91 u. a., NJW 1992, 1373, 1374 sowie in BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471. 45 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 776 (Rn. 42); BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; BAG, Urt. v. 8. 12. 2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586, 589 (Rn. 29). 46 Zur fehlenden Fähigkeit des Selbstschutzes des Privatrechtssubjekts als Voraussetzung einer Schutzpflicht sozialer Grundrechte allgemein J. Neuner, NJW 2020, 1851, 1852 f.; konkret zu der fehlenden Fähigkeit von Arbeitnehmer:innen, Bestandsinteressen selbst zu schützen F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 225 ff. 47 K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 68. 48 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 163. 49 A. Feuerborn, Sachliche Gründe im Arbeitsrecht (2003), S. 320; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 19; allgemein zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Bestandsschutzes in Art. 12 GG: K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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beitsrechtlichen Bestandsschutz blieb erst einmal im Unklaren. Während Staatsrechtler wie Pietzcker und der damalige Verfassungsrichter Dieterich sich darauf beschränkten, die Inhaltsarmut der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu betonen,50 bemühte sich die Arbeitsrechtswissenschaft bald um eine inhaltliche Konkretisierung, die insbesondere für Kündigungen außerhalb des KSchG relevant und im dortigen Kontext zu besprechen ist.51
II. Ausgestaltung und Ausgleich von Vertragsfreiheit und Bestandsschutz Gesetzgeber und Judikative sind aufgrund des aus Art. 12 GG resultierenden Schutzauftrags verpflichtet, ein Mindestmaß an Bestandsschutz festzulegen, um der strukturellen Verhandlungsschwäche der Arbeitnehmer:innen gerade in Bestandsschutzfragen entgegenzuwirken. Sie sind aber nicht dazu berechtigt, „spezifische Bestandsschutzregeln als von der Verfassung gefordert oder als verfassungsfest zu deklarieren“,52 sondern müssen bei ihrer Rechtsetzung die Vertragsbeendigungsfreiheit der Arbeitgeber:innen beachten. Gesetzgeber und Gerichte bewegen sich bei der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen also innerhalb eines verfassungsrechtlich abgesteckten Koordinatenfelds. Die äußeren Grenzen dieses Felds markieren die aus Art. 12 GG folgende Schutzpflicht zugunsten des Bestandsschutzes am innegehabten Arbeitsplatz und die ebenfalls aus Art. 12 GG vor unverhältnismäßigen Eingriffen durch den Staat geschützte Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen.53 Innerhalb dieses Gestaltungskorridors zwischen Übermaß- und Untermaßverbot übernimmt der Gesetzgeber die rechtspolitische Verantwortung für die Einzelheiten eines Regelungssystems, das die konkretisierende Rechtsprechung wiederum verfassungsgeleitet auszulegen hat.54 Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hat bei der Festlegung arbeits- und sozialpolitischer Ziele einen besonders weiten Gestaltungsspielraum;55 insbesondere liegt die Gewichtung von Bestandsinteresse und Vertragsfreiheit in seiner politischen Verantwortung.56 Ausfluss dieses rechtspolitischen Gestaltungsauftrags sind in erster Linie das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsverhältnis (2005), S. 45 ff.; M. Löwisch, ZfA 1996, 293; H.-J. Papier, RdA 1989, 137; R. Scholz, ZfA 1981, 265; W. Zöllner, AcP 176 (1976), 221; ders., Gutachten DJT (1978), S. 98 ff. 50 T. Dieterich, RdA 1995, 129, 134; J. Pietzcker, NVwZ 1984, 550, 555. 51 Siehe unten Kap. 1 C. III. 2. a). 52 H.-J. Papier, DVBl 1984, 801, 813. 53 Vgl. T. Dieterich, RdA 1995, 129, 131; H. Oetker, RdA 1997, 9, 14; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 97. 54 ErfK/I. Schmidt, Art. 12 GG Rn. 22. 55 BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 1987 – 1 BvR 563/85 u. a., NJW 1988, 1899, 1900; A. Söllner, RdA 1989, 144, 148. 56 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 776 (Rn. 43); BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
KSchG, in §§ 620 ff. BGB und einigen Sondervorschriften sowie das Befristungsrecht im TzBfG und Nebengesetzen (z. B. dem WissZeitG). Die Gerichte haben daneben nur eine „subsidiäre Konkretisierungskompetenz“57: Sie müssen ggf. unter Rückgriff auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe judizieren, die sie unter Berücksichtigung der objektiven Grundentscheidungen der Verfassung, insbesondere der widerstreitenden von Art. 12 GG geschützten Interessen, auszulegen haben.58 Die Rechtsprechung hat dabei keinen Gestaltungsspielraum. Der Gewaltenteilungsgrundsatz gebietet, dass, je präziser der Gesetzgeber die Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen durch gesetzliche Regelungen zum Ausgleich gebracht hat, desto weniger die Gerichte diese Wertungen unter Rückgriff auf die Grundrechtspositionen der Parteien „korrigieren“ dürfen.59 Innerhalb dieses Rahmens hat die Judikative vor allem „Schutzlücken“ des KSchG und des TzBfG durch Rechtsmissbrauchskontrollen und die Anerkennung von Wiedereinstellungsansprüchen geschlossen, deren Einzelheiten aber kontrovers sind. Um zu ermitteln, wie frei Arbeitgeber:innen bei der Entscheidung sind, befristete Arbeitsverhältnisse nach Fristablauf fortzusetzen, ist daher zweierlei entscheidend: Erstens muss ermittelt werden, wie der Gesetzgeber Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen und die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen de lege lata ausgeglichen hat. Das im TzBfG manifestierte Ergebnis dieser rechtspolitischen Abwägung soll hier als „normatives Bestandsschutzniveau“ bezeichnet werden. Zweitens ist zu untersuchen, ob der Gesetzgeber das grundrechtlich gebotene Mindestmaß an Bestandsschutz vollumfänglich gewährleistet oder das TzBfG Raum lässt für eine judikative Verwirklichung von „verfassungsrechtlichem Bestandsschutz“. Da das Befristungsrecht in Relation zum KSchG entwickelt wurde (Stichwort: „Umgehung des Kündigungsschutzes“60) und das BVerfG den verfassungsrechtlichen Bestandsschutz mit Blick auf Schutzlücken des KSchG konturiert hat, werden erst die Entwicklungslinien des Bestandsschutzes im unbefristeten Regelarbeitsverhältnis skizziert.
57
T. Dieterich, RdA 1995, 129, 134. BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472; P. Badura, RdA 1999, 8, 9; Maunz/Dürig/U. Di Fabio, Art. 2 I GG Rn. 109; W. Linsenmaier, RdA 2012, 193, 194; H.J. Papier, RdA 1989, 137, 138; ErfK/I. Schmidt, Art. 12 GG Rn. 31. 59 U. Preis, NZA 1997, 1256, 1258. 60 Das BAG (BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/59, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16) hat das Befristungsrecht in Fortführung der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts anhand des Gedankens entwickelt, dass es sich bei einer Vertragsbefristung nicht um eine „Gesetzesumgehung“ handeln dürfe, mit der die zwingenden Bestimmungen des Kündigungsrechts umgangen werden. Diese Rechtsprechung wurde mit § 14 I TzBfG kodifiziert (BT-Drs. 14/4374, S. 18). 58
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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III. Entwicklung des Bestandsschutzgedankens im unbefristeten Arbeitsverhältnis 1. Allgemeiner Kündigungsschutz nach dem KSchG als Paradigma normativen Bestandsschutzes a) Soziale Rechtfertigung der Kündigung im Zeitpunkt ihres Zugangs Der Kern des noch heute geltenden Kündigungsschutzrechts wurde im Jahr 1951 mit dem Erlass des ersten Kündigungsschutzgesetzes auf Bundesebene konstituiert:61 Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist seither gem. § 1 KSchG unwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist eine Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten der Arbeitnehmer:innen liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die ihrer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.62 Eine Kündigung setzt also personen-, verhaltens- oder betriebsbezogene Umstände in der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin voraus, die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Prognose erlauben, dass das Arbeitsverhältnis in der Zukunft beeinträchtigt sein wird. Über den Wortlaut des § 1 II KSchG hinaus nimmt die Rechtsprechung eine umfassende Interessenabwägung vor: Kündigungen sind nur dann sozial gerechtfertigt, wenn das Beendigungsinteresse der Arbeitgeber:innen das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen überwiegt.63 Kündigen Arbeitgeber:innen ohne Vorliegen hinreichender sachlicher Gründe i. S. v. § 1 I, II KSchG, sind die Kündigungen unwirksam. Jedenfalls in der Theorie bestehen die Arbeitsverhältnisse fort. Mit dem KSchG hat sich der Gesetzgeber für eine im Vergleich zur Vertragsbeendigungsfreiheit der Arbeitgeber:innen hohe Gewichtung der Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen entschieden: Arbeitsverhältnisse dürfen erst bei anhaltenden Störungen des Arbeitsverhältnisses gekündigt werden, und auch nur, wenn die Beendigung unter Einbeziehung sozialer Gesichtspunkte angemessen erscheint. Diese hohe Belastungsgrenze hat der Gesetzgeber für Arbeitgeber:innen allerdings in zwei Fallgruppen ausgesetzt: Das KSchG gilt nur für Arbeitsverhältnisse, die seit mindestens sechs Monaten und in einem Betrieb mit mehr als zehn Arbeitnehmer:innen bestehen (§§ 1 I, 23 I 2 KSchG). Mit der Festlegung eines Schwellenwertes soll den gesteigerten persönlichen, administrativen und finanziellen Interessen von Kleinbetriebsinhaber:innen an flexibler Personalplanung Rechnung getragen werden.64 Und die Wartefrist ermöglicht Arbeitgeber:innen, Arbeitneh-
61 62 63 64
BGBl. I, S. 499. So wortgleich § 1 II 1 KSchG 1951 und § 1 II 1 KSchG in der aktuellen Fassung. Statt aller ErfK/H. Oetker, § 1 KSchG Rn. 108. BT-Drs. 13/4612, S. 9.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
mer:innen zu erproben, bevor sie sich nur unter den gesteigerten Voraussetzungen des § 1 KSchG von ihnen trennen können.65 b) Korrektur von Bestandsschutzlücken durch den allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch aa) Problem: Bestandsschutzlücken bei fehlerhafter Prognose Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Wirksamkeit von Kündigungen ist der Zeitpunkt ihres Zugangs (vgl. § 130 I BGB, § 4 I KSchG).66 Bei nach dem KSchG sozial zu rechtfertigenden ordentlichen Kündigungen muss zu diesem Zeitpunkt eine negative Prognose dahingehend bestehen, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund des Verhaltens oder eines in der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin liegenden Grundes nicht mehr störungsfrei fortgesetzt werden kann oder betriebliche Gründe einer Weiterbeschäftigung zum Ablauf der Kündigungsfrist entgegenstehen. Problematisch ist es, wenn sich Prognosen nachträglich als unzutreffend herausstellen, also sich die einer betriebsbedingten Kündigung zugrundeliegende wirtschaftliche Prognose ändert67 oder aufgrund einer Krankheit gekündigte Arbeitnehmer:innen überraschend genesen.68 Nach heute einhelliger Ansicht beeinflussen solche nachträglichen Entwicklungen die Rechtmäßigkeit der ausgesprochenen Kündigung aus Gründen der Rechtssicherheit nicht. Zeitpunkt der Beurteilung ihrer Wirksamkeit bleibt der Zugang bei den Arbeitnehmer:innen. Dennoch wird der Verlust des Arbeitsplatzes allgemein für unbillig erachtet: Es entspricht ständiger Rechtsprechung und der ganz überwiegenden Ansicht in der Literatur, dass Bestandsinteressen eine Korrektur des Prognoseprinzips erfordern können, sodass Arbeitnehmer:innen nach wirksamer Kündigung Ansprüche auf Wiedereinstellung haben, die auf den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags gerichtet sind.
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Zu § 1 I KSchG 1951: BT-Drs. Nr. 2090 v. 27. 03. 1951, S. 11 f.; zum aktuellen KSchG z. B. BAG, Urt. v. 24. 1. 2008 – 6 AZR 96/07, NZA-RR 2008, 404, 406 (Rn. 28). 66 St.Rspr., statt aller BAG, Urt. v. 19. 5. 1988 – 2 AZR 596/87, NZA 1989, 461, 463. 67 Einen Wiedereinstellungsanspruch nehmen in diesen Fällen an: BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1099 m. w. N. aus der Literatur; BAG, Urt. v. 4. 12. 1997 – 2 AZR 140/97, NZA 1998, 701; BAG, Urt. v. 6. 8. 1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254; BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757; ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 324; NK ArbR/S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 396. 68 Ob ein Wiedereinstellungsanspruch bei personenbedingten Kündigungen in Betracht kommt, wurde vom BAG bislang offengelassen (BAG, Urt. v. 27. 6. 2001 – 7 AZR 662/99, NZA 2001, 1135, 1135; BAG, Urt. v. 17. 6. 1999 – 2 AZR 639/98, NZA 1999, 1328, 1331). In der Literatur ist man sich uneinig: dafür z. B. NK ArbR/S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 397; T. Raab, RdA 2000, 147, 153; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 833; dagegen ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 325; B. Zwanziger, BB 1997, 42, 43 f.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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bb) Lösungsansätze der Rechtsprechung und Literatur (1) Entwicklung der Rechtsprechung Der Wiedereinstellungsanspruch in seiner heutigen Form69 geht zurück auf Rechtsprechung des BAG aus dem Jahre 1997.70 In einer Grundsatzentscheidung vom 27. Februar 1997 führte der Zweite Senat aus, „der Arbeitgeber verhält sich rechtsmissbräuchlich (§ 242 BGB), wenn er bei Wegfall des betriebsbedingten Kündigungsgrundes noch während der Kündigungsfrist den veränderten Umständen nicht Rechnung trägt und dem Arbeitnehmer nicht die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses anbietet.“71 Das Gericht stellt knapp fest, dass „in derartigen Fällen die Anwendung des § 242 BGB ausnahmsweise anspruchsbegründende Wirkung haben kann“.72 „Flankenschutz“73 erhält diese dogmatische Verankerung durch den Hinweis, dass Arbeitgeber:innen ihre vertraglichen Pflichten so zu erfüllen, ihre Rechte so auszuüben und die Interessen der Arbeitnehmer:innen so zu wahren haben, wie es unter Berücksichtigung der Belange von Betrieb und Belegschaft nach Treu und Glauben billigerweise verlangt werden könne. Die sich aus Treu und Glauben ergebenden Anforderungen seien dabei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Als solche relevanten Umstände nennt das Gericht unter anderem, dass das Vertrauen der Arbeitnehmer:innen darin schutzwürdig sei, dass eine Kündigung nur dann ihre Wirkung entfalte, wenn die Kündigungsgründe bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortbestünden. „Das letztlich durch Art. 12 GG geschützte Recht des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz und damit seinen sozialen Besitzstand nicht grundlos zu verlieren, würde in unerträglicher Weise beeinträchtigt, wenn der Arbeitgeber allein im Hinblick darauf, daß die Rechtsprechung bei der Prüfung des Kündigungsgrundes auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs abstellt, nunmehr ohne rechtfertigenden Grund frei über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses entscheiden könnte.“74 Damit greift das BAG argumentativ auf die in der „Warteschleife-Entscheidung“ entfaltete Schutzdimension des Art. 12 I GG für die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen zurück. 69
Bereits in den 50er Jahren haben der BGH (BGH, Urt. v. 13. 7. 1956 – VI ZR 88/55, NJW 1956, 1513) und das BAG (BAG, Urt. v. 14. 12. 1956 – 1 AZR 29/55, NJW 1957, 764) einen Wiedereinstellungsanspruch nach außerordentlicher Verdachtskündigung bzw. nach einer Kündigung aufgrund angeblicher nationalsozialistischer Belastung eines Arbeitnehmers etabliert und diesen auf nachwirkenden Fürsorgepflichten des Arbeitgebers gestützt. Das Problem und seine Lösung beruhen auf Besonderheiten der Verdachtskündigung und haben wenig Gemeinsamkeiten mit dem Wiedereinstellungsanspruch innerhalb des KSchG. Sie werden daher an dieser Stelle außer Betracht gelassen. 70 BAG, Urt. v. 4. 12. 1997 – 2 AZR 140/97, NZA 1998, 701; BAG, Urt. v. 13. 11. 1997 – 8 AZR 295/95, NZA 1998, 251; BAG, Urt. v. 6. 8. 1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254; BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757. 71 BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757, 759; bestätigt in BAG, Urt. v. 4. 12. 1997 – 2 AZR 140/97, NZA 1998, 701, 703. 72 BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757. 73 D. Boewer, NZA 1999, 1121, 1126. 74 BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757, 759.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
Der Siebte Senat des BAG hat in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1997 und 2000 die vom Zweiten Senat angesprochenen Rücksichtnahmepflichten der Arbeitgeber:innen als zentralen Begründungsansatz eines Wiedereinstellungsanspruchs identifiziert.75 Seitdem ist diese dogmatische Handhabung des Wiedereinstellungsanspruchs ständige und senatsübergreifende Rechtsprechung:76 Die Pflicht zur Wiedereinstellung ist nach Ansicht des Gerichts eine auf § 242 BGB beruhende Nebenpflicht des Arbeitsvertrags, auf die berechtigten Interessen des Vertragspartners – namentlich: dem Interesse der Arbeitnehmer:innen am Erhalt ihres Arbeitsplatzes – Rücksicht zu nehmen.77 So werde den Vorgaben des KSchG und des staatlichen Schutzauftrags aus Art. 12 GG Rechnung getragen. Die Herleitung einer Wiedereinstellungspflicht müsse jedoch im Einzelfall eine praktische Konkordanz zwischen dem Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 GG und der negativen Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen gem. Art. 2 I GG herstellen.78 So überwiege bei einer Prognosekorrektur nach Ablauf der Kündigungsfrist die Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen ihre Treuepflichten, die nach Ende des Vertrags nur noch in abgeschwächter Form bestünden, sodass ein Wiedereinstellungsanspruch abzulehnen sei.79 (2) Ansätze in der Literatur Große Teile der Literatur teilen die Annahme der jüngeren BAG-Judikatur, dass die Pflicht zur Wiedereinstellung eine Nebenpflicht des Arbeitsvertrages gem. § 242 BGB sei.80 Eine Auslegung dieser Pflicht müsse die widerstreitenden Interessen der Vertragsparteien zum Ausgleich bringen.81 Vor Ablauf der Kündigungsfrist überwiege in der Regel das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen; Folge sei eine Wiedereinstellungspflicht als vertragliche Nebenpflicht.82 75 BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097; BAG, Urt. v. 6. 8. 1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254, 255. 76 Vgl. BAG, Urt. v. 19. 10. 2017 – 8 AZR 845/15, NZA 2018, 436, 437 (Rn. 15); BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 303 (Rn. 31, 32); BAG, Urt. v. 15. 12. 2011 – 8 AZR 197/11, NZA-RR 2013, 179, 181 (Rn. 37); BAG, Urt. v. 25. 10. 2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357, 359; BAG, Urt. v. 27. 6. 2001 – 7 AZR 662/99, NZA 2001, 1135, 1136. 77 BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1099. 78 BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1100. 79 Vgl. BAG, Urt. v. 19. 10. 2017 – 8 AZR 845/15, NZA 2018, 436, 437 (Rn. 15); BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 303 (Rn. 34); BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1100. 80 Die Terminologie dieser Pflicht ist uneinheitlich: Mal wird von der „Treuepflicht“ (J. vom Stein, RdA 1991, 85, 87) oder „Pflicht nach Treu und Glauben“ (ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 323) mal von einer Interessenwahrungspflicht (H. Oberhofer, RdA 2006, 92, 93; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 646; J. vom Stein, NZA 2018, 766, 766 f.) oder der (wohl veralteten) Fürsorgepflicht (M. Aszmons/A. Beck, NZA 2015, 1098, 1099; F. Mathern, NJW 1996, 818, 820) gesprochen. 81 J. vom Stein, NZA 2018, 766, 767; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 646. 82 H. Oetker, ZIP 2000, 643, 647.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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Einige Autoren verweigern Arbeitgeber:innen gemäß den Grundsätzen des venire contra factum proprium als Spielart rechtsmissbräuchlichen Verhaltens, sich auf die wirksame Kündigung zu berufen.83 Die gleiche Argumentation in anderem Gewand vollziehen die Autoren, die den Vertrauensschutz der Arbeitnehmer:innen in den Vordergrund stellen.84 Beide Ansätze sind Seiten derselben Medaille:85 Denn das Verbot widersprüchlichen Verhaltens erfasst gemeinhin Fälle, in denen sich eine Partei in Widerspruch zu einem Vorverhalten setzt und sich dies rechtsmissbräuchlich darstellt, da für den anderen Teil ein Vertrauensbestand geschaffen wurde.86 Angewandt auf die Konstellation des Wiedereinstellungsanspruchs nach ordentlicher Kündigung wird argumentiert: Entfällt der bei Ausspruch einer Kündigung objektiv vorhandene Kündigungsgrund im Laufe der Kündigungsfrist, stelle sich ein Festhalten an die Kündigung als widersprüchlich dar. Arbeitnehmer:innen dürften darauf vertrauen, ihre Arbeitsplätze nur dann endgültig zu verlieren, wenn die Prognose sich tatsächlich bewahrheite und die Beschäftigungsmöglichkeit mit Ende der Kündigungsfrist entfalle. Ursache dieses schutzwürdigen Vertrauens der Arbeitnehmer:innen sei, dass ihre Arbeitsverhältnisse nach dem KSchG bestandsgeschützt seien und ein grundloser Verlust daher nicht hinzunehmen sei.87 Ein großer Teil der Literatur leitet den Anspruch schließlich aus einer Rechtsfortbildung des KSchG her.88 Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sei gerade deshalb zu korrigieren, weil das Festhalten am Zugang als fixen Beurteilungszeitpunkt einer Kündigung der Ratio des KSchG widerspreche, Kündigungen nur dann zuzulassen, wenn Arbeitgeber:innen bei Ablauf der Kündigungsfrist ein berechtigtes Interesse an der Beendigung der Arbeitsverhältnisse haben. Der durch Rechtsfortbildung gewonnene Wiedereinstellungsanspruch schließe also eine dem KSchG immanente Regelungslücke zur Verwirklichung des vom KSchG geschützten Bestandsinteresses.
83 D. Boewer, NZA 1999, 1121, 1128; U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 352 f.; für die Verdachtskündigung K. Larenz, Anm. BAG AP § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 4; J. vom Stein, RdA 1991, 85, 91 f.; W.-D. Walker, SAE 1998, 103, 106; R. Wank, Anmerkung zu BAG AP § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 2. 84 LKB/R. Krause, § 1 KSchG Rn. 228; E. Stahlhacke/U. Preis/R. Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2015), Rn. 1013. 85 So ausdrücklich für den Wiedereinstellungsanspruch D. Elz, Der Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers nach Wegfall des Kündigungsgrundes (2002), S. 51; D. Kaiser, ZfA 2000, 205, 221; T. Raab, RdA 2000, 147, 150. 86 BeckOK BGB/H. Sutschet, § 242 BGB Rn. 111. 87 D. Boewer, NZA 1999, 1121, 1128; U. Preis, DB 1988, 1387, 1393. 88 D. Elz, Der Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers nach Wegfall des Kündigungsgrundes (2002), S. 59 ff.; S. Krieger/E. M. Willemsen, NZA 2011, 1128, 1128; K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015), S. 110 ff.; T. Raab, RdA 2000, 147, 152; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 823; für den Fall der betriebsbedingten Kündigung: B. Zwanziger, BB 1997, 42, 43; ähnlich NK ArbR/S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 370 „immanente Begrenzung des Prognoseprinzips“.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
(3) Schlussfolgerungen für den Geltungsgrund des Wiedereinstellungsanspruchs Bei allen Verschiedenheiten im dogmatischen Detail sind sich Rechtsprechung und Literatur über die gedankliche Wurzel des allgemeinen Wiedereinstellungsanspruchs und die ihm immanente Rechtfertigung eines Vertragszwangs zulasten der Arbeitgeber:innen einig: Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber das gem. Art. 12 I GG geschützte Interesse der Arbeitnehmer:innen am Bestand ihrer Arbeitsverhältnisse mit dem KSchG derart verwirklicht hat, dass Arbeitnehmer:innen darauf vertrauen dürfen, ihre Arbeitsverhältnisse nur dann zu verlieren, wenn überwiegende Interessen der Arbeitgeber:innen dies gebieten. Die Tatsache, dass eine Interessenabwägung bereits bei Zugang der Kündigung geprüft wird und daher fehleranfällig ist, ist vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Bestandsschutzkonzeption nicht beabsichtigt, sondern ein der Rechtssicherheit geschuldeter, korrekturbedürftiger Systemfehler. Die Interessen der Arbeitnehmer:innen am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse überwiegen daher in der Regel die Vertragsbegründungsfreiheit der Arbeitgeber:innen. cc) Zusammenfassung zum allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch Der allgemeine Wiedereinstellungsanspruch schränkt die Vertragsbegründungsfreiheit von Arbeitgeber:innen ein, wenn die Vertragsbeendigung trotz überwiegender Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen bei Ablauf der Kündigungsfrist nach dem KSchG zulässig ist. Durch Auslegung der vertraglichen Nebenpflichten gem. § 242 BGB anhand von Art. 12 GG korrigiert die Rechtsprechung, dass die Rechtmäßigkeit einer Kündigung zwecks Rechtssicherheit im Zeitpunkt ihres Zugangs geprüft wird und Risiken der Fehlprognosen sich zulasten des Bestandsschutzes auswirken. Damit wird das mit dem KSchG bezweckte hohe Bestandsschutzniveau konsequent fortgeschrieben. c) Zusammenfassung zum allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG Mit dem KSchG hat der Gesetzgeber ein starkes Bestandsschutzkonzept für alle Arbeitsverhältnisse ab einer sechsmonatigen Beschäftigungsdauer und in Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeiter:innen festgesetzt. In diesen Arbeitsverhältnissen dürfen Arbeitnehmer:innen auf den Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse vertrauen. Eine Entlassung muss aufgrund personen-, verhaltens- oder betriebsbedingter Gründe gerechtfertigt sein. Nach dem KSchG muss im Zeitpunkt der Kündigung eine Störung des Arbeitsverhältnisses prognostizierbar sein. Dass Fehlprognosen zulasten der Arbeitnehmer:innen wirken, wird durch einen Wiedereinstellungsanspruch korrigiert, mit dem das vom KSchG festgesetzte Bestandsschutzniveau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortgeschrieben wird. Im Ergebnis können Arbeitnehmer:innen im Anwendungsbereich des KSchG darauf vertrauen, ihre Arbeitsverhältnisse nur zu verlieren, wenn bei Ablauf der Kündigungsfrist überwiegende In-
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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teressen der Arbeitgeber:innen die Beendigung der Arbeitsverhältnisse rechtfertigen. 2. Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG a) Rechtsauffassung in den 1990er Jahren: Rechtsmissbrauchskontrolle gem. §§ 138, 242 BGB Dass Arbeitnehmer:innen, die weder Sonderkündigungsschutz genießen noch dem KSchG unterfallen, da sie entweder die Wartezeit des § 1 I KSchG noch nicht erfüllt haben oder sie in einem Kleinbetrieb i. S. v. § 23 I 2, 3 KSchG arbeiten, komplett schutzlos gestellt sind, haben das BAG und viele Stimmen in der Literatur in den 90er Jahren mit Blick auf die in der „Warteschleife-Entscheidung“ aufgestellten Grundsätze für verfassungsrechtlich unzulässig gehalten. Berufsfreiheit bestehe nicht nur in Großbetrieben oder ab einer gewissen Beschäftigungsdauer.89 Um das gem. Art. 12 GG gebotene Mindestmaß an Schutz vor Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition zu gewährleisten, war man sich einig, dass die Gerichte Kündigungen anhand der zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB kontrollieren müssen.90 Die Obergrenze eines solchen „Kündigungsschutzes zweiter Klasse“91 war und ist, dass er nicht dazu führen darf, das Kündigungsschutzlevel des KSchG entgegen der gesetzgeberischen Intention auch auf Arbeitnehmer:innen auszudehnen, die dem Gesetz nicht unterfallen.92 Mit §§ 1 I, 23 I 2, 3 KSchG sollen Arbeitgeber:innen aufgrund ihrer besonderen Interessen in der Probezeit oder im Kleinbetrieb gerade davor geschützt werden, dass Kündigungen für sie aufgrund der vielen Voraussetzungen und Schranken des KSchG zu einem „Risikogeschäft“ werden.93 Raum für die Kontrolle einer Kündigung anhand von §§ 138, 242 BGB besteht damit nur soweit die Sitten- oder Treuwidrigkeit auf Gründe gestützt wird, die der Gesetzgeber nicht abschließend durch das KSchG berücksichtigt hat und deren Einhaltung man von allen Arbeitgeber:innen erwarten kann. Nach der Ansicht des BAG war daher das Interesse von Arbeitnehmer:innen am Bestand ihrer Arbeitsverhältnisse gerade nicht zu berücksichtigen: Nur innerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG führe schon die Sozialwidrigkeit einer Kün89 So ausdrücklich P. Hanau, in: FS Dieterich (1999), Verfassungsrechtlicher Kündigungsschutz, S. 201, 211. 90 Z. B. T. Lakies, DB 1997, 1078, 1081; H. Oetker, AuR 1997, 41, 51; ders., RdA 1997, 9, 18; H. Otto, in: FS Wiese (1998), Schranken der Kündigungsfreiheit außerhalb des allgemeinen Kündigungsschutzes, S. 353, 363 ff. 91 P. Hanau, ZRP 1996, 349, 353. 92 T. Lakies, DB 1997, 1078, 1081; U. Preis, NZA 1997, 1256, 1264; H. Oetker, AuR 1997, 41, 52; R. Wank, in: FS P. Hanau (1999), Die Kündigung außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 295, 306. 93 R. Wank, in: FS P. Hanau (1999), Die Kündigung außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 295, 305.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
digung zu ihrer Treuwidrigkeit. Außerhalb des Anwendungsbereiches des KSchG sei eine Kündigung nur dann unwirksam, soweit sich die Treueverstöße „nicht aus der Frage nach Rücksichtnahme auf den Arbeitsplatzschutz des Arbeitnehmers selbst, sondern aus anderen besonderen Gründen und Anlässen ergeben“.94 Treuwidrig sind danach beispielsweise Kündigungen aufgrund eines nicht bewiesenen Verdachts95 oder aus diskriminierenden Gründen i. S. v. Art. 3 III GG,96 wie etwa der Homosexualität eines Arbeitnehmers,97 oder aufgrund ihrer Begleitumstände, wie etwa widersprüchlichem Verhalten des Arbeitgebers,98 oder dem Zeitpunkt ihres Ausspruchs.99 Andere Autoren – namentlich Oetker und Preis – sprachen sich für eine Berücksichtigung auch der Bestandsinteressen aus.100 b) Verfassungsgerichtliche Bestätigung und Präzisierung der Rechtsmissbrauchskontrolle Die Zulässigkeit und zugleich Notwendigkeit eines richterlichen Bestandsschutzes hat das BVerfG im Jahr 1998 anlässlich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Kleinbetriebsklausel bestätigt und präzisiert: „Wo die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes nicht greifen, sind die Arbeitnehmer durch die zivilrechtlichen Generalklauseln vor einer sitten- oder treuwidrigen Ausübung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers geschützt. Im Rahmen dieser Generalklauseln ist auch der objektive Gehalt der Grundrechte zu beachten. Hier ergeben sich die maßgebenden Grundsätze vor allem aus Art. 12 I GG. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitsplatzes vor Verlust durch private Disposition ist damit in jedem Fall gewährleistet. Wie weit dieser Schutz im Einzelnen reicht, ist von den Arbeitsgerichten zu entscheiden. Der durch die Generalklauseln vermittelte Schutz darf nicht dazu führen, daß dem Kleinunternehmer praktisch die im Kündigungsschutzgesetz vorgesehenen Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden. Das hat das BAG zutreffend in ständiger Rechtsprechung betont. Darüber hinaus wirkt der durch die Generalklauseln vermittelte Grundrechtsschutz um so schwächer, je stärker die mit der Kleinbetriebsklausel geschützten Grundrechtspositionen des Arbeitgebers im Einzelfall betroffen sind. In sachlicher Hinsicht geht es vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen. Zutreffend werden in der Literatur als Beispiele dafür Diskriminierungen i. S. von Art. 3 III GG genannt. Soweit unter mehreren Arbeit94
St.Rspr. seit BAG, Urt. v. 8. 10. 1959 – 2 AZR 501/56, NZA 1960, 67, 69; jüngst BAG, Urt. v. 5. 12. 2019 – 2 AZR 107/19, NZA 2020, 171, 172 (Rn. 12). 95 BAG, Urt. v. 30. 11. 1960 – 3 AZR 480/58, NJW 1961, 1085, 1086. 96 H. Oetker, AuR 1997, 41, 48; U. Preis, NZA 1997, 1256, 1266. 97 BAG, Urt. v. 23. 6. 1994 – 2 AZR 617/93, NZA 1994, 1080, 1082. 98 BAG, Urt. v. 8. 10. 1959 – 2 AZR 501/56, NZA 1960, 67, 69. 99 BAG, Urt. v. 14. 11. 1984 – 7 AZR 174/83, NZA 1991 1986, 97, 98. 100 H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 37; ders., AuR 1997, 41, 48; H. Otto, in: FS Wiese (1998), Schranken der Kündigungsfreiheit außerhalb des allgemeinen Kündigungsschutzes, S. 353, 366; U. Preis, NZA 1997, 1256, 1266 (anders noch ders., Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 398).
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nehmern eine Auswahl zu treffen ist, gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme. Schließlich darf auch ein durch langjährige Mitarbeit verdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.“101
Im Jahr 2006 hat das BVerfG auch zur Kündigung in der Wartezeit Stellung bezogen: Auch bei der Beurteilung solcher Kündigungen müssen die Gerichte berücksichtigen, dass „der Arbeitnehmer vor einer willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigung zu schützen ist. Bei der Subsumtion im Einzelfall hat das [Gericht] das durch Art. 12 I GG geschützte Interesse der [Arbeitnehmer] am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ebenso wie das Interesse des Arbeitgebers an dessen Beendigung gewürdigt. Es hat mit nachvollziehbarer Begründung angenommen, dass die Kündigung nicht willkürlich und folglich nicht wegen Verstoßes gegen § 242 BGB oder gem. § 138 I BGB unwirksam sei. […] Eine darüber hinaus gehende Kontrolle verlangt auch der nach Art. 12 I GG gebotene Mindestschutz der Arbeitsverhältnisse außerhalb des Anwendungsbereichs des allgemeinen Kündigungsschutzes nach § 1 KSchG nicht. Dies gilt nicht nur im Kleinbetrieb, sondern auch für die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der Wartezeit gem. § 1 I KSchG, d. h. in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses. Das Vertrauen des Arbeitnehmers in den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ist in diesem Zeitraum dadurch beschränkt, dass der Arbeitnehmer hier mit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses ohne den Nachweis von Gründen rechnen muss, erst recht wenn die Arbeitsvertragsparteien eine Probezeit vereinbart haben. Umgekehrt hat der Arbeitgeber bei der Einstellung eines Arbeitnehmers regelmäßig ein berechtigtes Interesse daran, prüfen zu können, ob der neue Mitarbeiter seinen Vorstellungen entspricht.“102
Die Entscheidungen des BVerfG sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens stellen sie klar, dass Arbeitnehmer:innen nicht nur in dem vom Gesetzgeber durch das KSchG festgelegten Maß ein schutzwürdiges Interesse am Bestand ihrer Arbeitsplätze haben, sondern Bestandsinteressen entgegen der Ansicht des BAG in jedem Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen sind. Bestandsschutz ist keine einfachgesetzlich konstituierte Rechtsposition, die der Gesetzgeber frei und mit dem KSchG abschließend ausgestalten kann, sondern Inhalt einer grundrechtlichen Schutzpflicht, die ein Mindestmaß an Bestandsschutz garantiert, das die staatliche Gewalt bei Gesetzgebung und Rechtsanwendung verwirklichen muss. Der Gesetzgeber ist für Kündigungen im Kleinbetrieb hinter diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen zurückgeblieben; die Verfassungsgemäßheit des § 23 I 2, 3 KSchG beanstandete das BVerfG nur deshalb nicht, weil die Gerichte die Schutzlücke hinreichend füllen können. Zweitens präzisiert das Gericht den Inhalt des verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes an Bestandsschutz: Art. 12 I GG verlangt, dass Arbeitnehmer:innen vor einem Verlust ihrer Arbeitsplätze aus willkürlichen oder sachfremden Motiven geschützt werden. Diesen Maßstab haben die Gerichte unter Abwägung der wi101 102
BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472. BVerfG, Beschl. v. 21. 6. 2006 – 1 BvR 1659/04, NZA 2006, 913, 913 f.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
derstreitenden Interessen der Parteien auszufüllen. Das Interesse der Arbeitnehmer:innen am Erhalt ihrer Arbeitsplätze ist zwar in die Waagschale zu werfen, es ist dabei aber zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit dem KSchG bereits eine verbindliche Abwägung mit den ebenfalls grundrechtsrelevanten Interessen der Arbeitgeber:innen vorgenommen hat: Die Bestandsinteressen setzen sich jedenfalls nicht gegen die von §§ 1 I, 23 I 2, 3 KSchG geschützten Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen durch. Insofern bestätigt das Gericht das vom BAG aufgestellte „Abstandsgebot“: Arbeitgeber:innen schulden keine soziale Rechtfertigung einer Kündigung im Kleinbetrieb oder in der Wartezeit; sie müssen nicht (positiv) bestimmte sachliche Gründe für eine Kündigung haben, sondern dürfen nur nicht (negativ) ihre Vertragsfreiheit in rechtsmissbräuchlicher Weise ausnutzen, beispielsweise, indem sie aus in Art. 3 III GG genannten Gründen diskriminieren. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des BAG genügt ein im Kontext der Einzelfallumstände „irgendwie einleuchtender Grund“ für Kündigungen, damit sie nicht willkürlich oder sachfremd sind.103 Wenn durch langjährige Beschäftigung im Kleinbetrieb Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses entstanden ist, muss der Grund für die Kündigung langjährig beschäftigter Arbeitnehmer:innen gerade „auch angesichts der Betriebszugehörigkeit ,einleuchten‘.“104 Ein Quäntchen sozialer Rücksichtahme wird so auch mit hinreichendem Abstand zum Bestandsschutzlevel des § 1 KSchG erreicht. 3. Ausnahmsweise: Sonderkündigungsschutz Die Kündigung bestimmter Arbeitnehmer:innen hat der Gesetzgeber per se verboten: Sonderkündigungsschutz genießen insbesondere betriebsverfassungsrechtliche Mandatsträger gem. § 15 KSchG, betriebliche Beauftragte (z. B. Immissionsschutzbeauftragte gem. § 58 II BImSchG), Schwangere und junge Mütter gem. § 17 MuSchG sowie Arbeitnehmer:innen in Elternzeit (§ 18 BEEG). Diese Kündigungsverbote bezwecken primär den Schutz anderer Interessen als der Vertragsfreiheit der Arbeitnehmer:innen selbst, bedienen sich aber des Bestandsschutzes als Schutzinstrument: § 15 KSchG und § 58 II BImSchG sollen die Unabhängigkeit der Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung ihrer Ämter schützen;105 § 17 MuSchG die Gesundheit der die Fürsorge der Gemeinschaft genießenden Mutter (Art. 6 I GG) und § 18 BEEG den Schutz der Familie (Art. 6 IV GG).
103 BAG, Urt. v. 5. 12. 2019 – 2 AZR 107/19, NZA 2020, 171, 173 (Rn. 17); BAG, Urt. v. 24. 1. 2008 – 6 AZR 96/07, NZA-RR 2008, 404, 406 (Rn. 28); BAG, Urt. v. 25. 4. 2001 – 5 AZR 360/99, NZA 2002, 87, 89. 104 BAG, Urt. v. 28. 8. 2003 – 2 AZR 333/02, AP BGB § 242 Kündigung Nr. 17; vgl. auch BAG, Urt. v. 19. 10. 2017 – 8 AZR 845/15, NZA 2018, 436, 438 (Rn. 20). 105 APS/S. Greiner, § 58 BImSchG Rn. 1; MüKo BGB/C. W. Hergenröder, § 15 KSchG Rn. 1.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
63
4. Zusammenfassung zur Entwicklung des Bestandsschutzgedankens im unbefristeten Arbeitsverhältnis Der gem. Art. 12 I GG verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitsplatzes vor Verlust durch private Disposition erfordert, dass Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsplätze nicht willkürlich oder aus sachfremden Gründen verlieren. Über diesen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz ist der Gesetzgeber sowohl mit Vorschriften des Sonderkündigungsschutzes, aber vor allem auch mit dem KSchG hinausgegangen. Der Bestandsschutz ist dort sozial ausgestaltet; Arbeitnehmer:innen verlieren ihre Arbeitsplätze nur, wenn eine Kündigung sozial gerechtfertigt ist, sie also wegen einer Störung des Arbeitsverhältnisses und aufgrund Interessenabwägung angemessen ist. Dieses normative Bestandsschutzniveau realisieren die Gerichte durch einen Wiedereinstellungsanspruch, wenn sich eine Prognose während der Kündigungsfrist als unzutreffend herausstellt. Arbeitnehmer:innen verlieren ihre Arbeitsplätze also nur dann, wenn die Beendigungsinteressen der Arbeitgeber:innen die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen im Zeitpunkt des Fristablaufs überwiegen. Für zwei Fallgruppen hat der Gesetzgeber eine andere Gewichtung vorgenommen: Die ebenfalls gem. Art. 12 GG geschützten Interessen von Arbeitgeber:innen an einer flexiblen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne soziale Rücksichtnahme überwiegen die schutzwürdigen Interessen der Arbeitnehmer:innen in der Wartezeit sowie im Kleinbetrieb. In diesen Konstellationen ist nur der verfassungsrechtliche Bestandsschutz zu beachten. Die Kündigung ist nicht von qualifizierten sachlichen Gründen abhängig, sondern darf nur nicht aus sachfremden oder willkürlichen Gründen erfolgen. Dabei ist das Interesse der Arbeitnehmer:innen am Erhalt des Arbeitsplatzes nur so weit zu berücksichtigen, wie der Gesetzgeber nicht bereits mit dem KSchG einen verbindlichen Ausgleich mit den Arbeitgeberinteressen getroffen hat.
D. Vertragsfreiheit und Bestandsschutz im befristeten Arbeitsverhältnis Die beiderseitige Vertragsfreiheit umfasst auch das Recht, Arbeitsverhältnisse von vornherein nur für eine bestimmte Zeit zu schließen.106 Die Arbeitsverhältnisse enden dann mit Zeitablauf, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Unbegrenzte Befristungsmöglichkeiten würden aber zu einer „offenen Flanke des Kündigungsschutzes“ und ihre Hinnahme durch den Gesetzgeber und die Gerichte für Arbeitnehmer:innen „zu einer Schutzlücke führen, die vor Art. 12 Abs. 1 keinen Bestand
106
So ausdrücklich BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – GS 1/59, NJW 1961, 798.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
haben kann“.107 Das RAG und, im Anschluss daran, das BAG haben die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, daher unter dem Gesichtspunkt einer Umgehung des Kündigungsschutzes einer Rechtsmissbrauchskontrolle unterzogen.108 Diese Rechtsmissbrauchskontrolle ist zu großen Teilen mit dem zum 1. Januar 2001 in Kraft getretenen TzBfG kodifiziert worden [I.]. Lücken des Bestandsschutzes sind ggf. durch die Judikative zu schließen [II.].
I. Normativer Bestandsschutz durch das TzBfG 1. Entstehungsgeschichte und unionsrechtlicher Zusammenhang des TzBfG Das TzBfG ist zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten und hat bis dahin im BGB und BeschFG fragmentierte Regelungen sowie ständige Rechtsprechung des BAG zusammenhängend kodifiziert und zugleich die Richtlinien 1999/70/EG über befristete Arbeitsverhältnisse und 1997/81/EG über Teilzeitarbeit umgesetzt.109 Ziel des Gesetzes ist ausweislich der Begründung zum Regierungsentwurf, „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen flexibler Organisation der Arbeit und Sicherheit für die Arbeitnehmer“ zu erreichen.110 Befristet beschäftigt sind gem. § 3 I TzBfG Arbeitnehmer:innen mit einem auf bestimmte Zeit geschlossenen Arbeitsvertrag. Ein auf bestimmte Zeit geschlossener Arbeitsvertrag liegt vor, wenn seine Dauer kalendermäßig bestimmt ist (kalendermäßig befristeter Arbeitsvertrag) oder sich aus Art, Zweck oder Beschaffenheit der Arbeitsleistung ergibt (zweckbefristeter Arbeitsvertrag). Ein kalendermäßig befristeter Arbeitsvertrag endet gem. § 15 I TzBfG mit Ablauf der vereinbarten Zeit, ein zweckbefristeter Arbeitsvertrag gem. § 15 II TzBfG mit Erreichen des Zwecks. Er unterliegt grundsätzlich nicht der ordentlichen Kündigung, § 15 III TzBfG. Der entscheidende Unterschied zum unbefristeten Arbeitsverhältnis ist, dass Arbeitgeber:innen auch bei einer Beschäftigung, die länger als sechs Monate andauert und damit dem persönlichen Anwendungsbereich des KSchG unterfällt, bei Fristablauf nicht gem. § 1 I KSchG eine soziale Rechtfertigung der Vertragsbeendigung schuldig sind. Das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es eines an bestimmte Voraussetzungen geknüpften Gestaltungsrechts der Arbeitgeber:innen bedarf. Sie sind frei in der Entscheidung, ob sie mit den Arbeitnehmer:innen einen Anschlussvertrag abschließen möchten. Es ist insbesondere irrelevant, ob bei Ablauf der 107 I. Schmidt, in: FS Dieterich (1999), Altersgrenzen, Befristungskontrolle und die Schutzpflicht der Gerichte, S. 585, 599. 108 Grundlegend BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/59, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16. 109 Sonderregelungen über Befristungen enthalten ferner das WissZeitVG, das ÄArbVtrG, § 21 BEEG, § 6 PflegeZG und § 41 SGB VI. 110 BT-Drs. 14/4374, S. 13.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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Vertragszeit eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht.111 Damit genießen Arbeitgeber:innen eine gegenüber dem unbefristeten Arbeitsverhältnis erhöhte Vertragsbeendigungsfreiheit. Spiegelbildlich geht mit der Befristung aber ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit für die befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen einher: Der Bestandschutz ist von vornherein auf die in der Befristungsabrede festgelegte Dauer des Arbeitsverhältnisses begrenzt.112 Dementsprechend begreift der Gesetzgeber das befristete Arbeitsverhältnis auch als eine gesetzlich eingeräumte Ausnahme zum sozialpolitisch erwünschten „Normalfall“ unbefristetes Arbeitsverhältnis.113 Voraussetzung der automatischen Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit Fristablauf ist arg. e contrario § 16 TzBfG, dass die Befristung rechtmäßig vereinbart wurde. Nach der Systematik des TzBfG werden die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen vorgelagert bei der Prüfung des zur Begründung des befristeten Arbeitsverhältnisses führenden Rechtsgeschäfts, der Befristungsabrede, berücksichtigt.114 Die Befristungskontrolle ist also eine Vertragskontrolle.115 2. Befristungskontrolle: Anforderungen an die wirksame Vereinbarung einer Befristung Der deutsche Gesetzgeber hat die Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Befristung in § 14 TzBfG normiert und damit sowohl die Vorgaben aus § 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitverhältnisse, durchgeführt durch die RL 1999/70/EG, als auch die ständige Rechtsprechung des BAG umgesetzt.116 Das BAG hatte für die rechtliche Bewertung befristeter Arbeitsverträge schon im Jahr 1960, also vor Geltung des TzBfG, folgende Wertungsmaßstäbe aufgestellt: „[D]er Grundsatz der Vertragsfreiheit [muss sich] hier im Hinblick auf die Entwicklung des Bestandschutzes des Arbeitsverhältnisses Einschränkungen gefallen lassen. Befristete Arbeitsverträge sollen keineswegs unzulässig sein. Aber sie müssen im Gefüge der Grundprinzipien des deutschen Arbeitsrechts einen verständigen sachlich gerechtfertigten Grund haben. Die wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnisse der Parteien oder jedenfalls einer Partei müssen für die Verträge sprechen. Die Verträge müssen ihre sachliche Rechtfertigung in sich tragen, so daß sie mit Recht und aus gutem Grund von den Kündigungsschutzvorschriften nicht betroffen werden. Fehlt es dagegen an sachlichen Gründen für die Befristung oder sind solche nur vorgeschoben, so fehlt ein schutzwertes Interesse für den Abschluß dieser Verträge. Dann tritt die objektive Funktionswidrigkeit des Vertrages
111 112 113 114 115 116
BAG, Urt. v. 9. 9. 2015 – 7 AZR 148/14, NZA 2016, 169, 171 (Rn. 28). H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 101. BT-Drs. 14/4374, S. 12. MüKo BGB/D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 4. H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 101. Vgl. BT-Drs. 14/4374, S. 13, 18.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse zutage, weil er den Arbeitnehmern des Bestandsschutzes für sein Arbeitsverhältnis beraubt.“117
Diese Wertungsmaßstäbe liegen auch § 14 TzBfG zugrunde,118 der gemäß § 14 I TzBfG im Regelfall das Vorliegen eines sachlichen Grunds erfordert, und nur unter den engen Voraussetzungen des § 14 II TzBfG eine Befristung auch ohne Sachgrund zulässt. a) Sachgrundbefristung gem. § 14 I TzBfG Das BAG hat bereits lange vor Inkrafttreten des TzBfG eine Vielzahl verschiedener Sachgründe von Befristungen herausgearbeitet. Einige von ihnen wurden als beispielhafte Sachgründe gem. § 14 I 2 TzBfG normiert (ihre Anordnung folgt dabei keiner erkennbaren Systematik119); andere müssen im Rahmen der Generalklausel des § 14 I 1 TzBfG berücksichtigt werden. Mit dem Sachgrunderfordernis entspricht der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 12 GG, eine auf sachfremden Beweggründen beruhende Beendigung von Arbeitsverhältnissen zu unterbinden.120 Es können verschiedene sachgrundübergreifende Wertungen der Zulässigkeit von Befristungen identifiziert werden: Nach hier vorgeschlagener Kategorisierung ist zwischen Sachgründen zu unterscheiden, die auf der fehlenden Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer:innen beruhen [aa)] und solchen Gründen, die Ausdruck eines überwiegenden Befristungsinteresses der Arbeitgeber:innen sind [bb)]. aa) Fehlende Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmer:innen Befristungen sind dann gem. § 14 I 2 Nr. 6 TzBfG zulässig, wenn sie auf einer Initiative der Arbeitnehmer:innen beruhen, da sie dann willentlich auf den Bestandsschutz ihrer Arbeitsverhältnisse verzichten. Nicht schutzbedürftig sind Arbeitnehmer:innen auch dann, wenn Befristungen auf einem gerichtlichen Vergleich beruhen gem. § 14 I Nr. 8 TzBfG, da davon ausgegangen werden kann, dass die Mitwirkung eines Gerichts eine unangemessene Benachteiligung der Arbeitnehmer:innen verhindert.121
117
BT-Drs. 14/4374, S. 13, 18; vgl. auch BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/59, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16. 118 H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 105; ders., NZA-Beilage 2003, Heft 16, 33, 35. 119 H.-J. Dörner, NZA-Beilage 2003, Heft 16, 33, 35. 120 BAG, Urt. v. 15. 8. 2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45, 48 (Rn. 26). 121 BT-Drs. 14/4374, S. 19.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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bb) Überwiegendes Befristungsinteresse von Arbeitgeber:innen In einem Großteil der Fälle haben Arbeitnehmer:innen ein schützenswertes Interesse an einem Dauerschuldverhältnis. Die Zulässigkeit der Befristungen ergibt sich dann aus einem das Bestandsinteresse überwiegenden Befristungsinteresse der Arbeitgeber:innen. Innerhalb dieser Kategorie kann wiederum unterschieden werden zwischen Sachverhalten, in denen Arbeitgeber:innen nur ein vorübergehendes Interesse an der Arbeitsleistung an sich haben, und Sachverhalten, in denen Arbeitgeber:innen nur ein vorübergehendes Interesse an der Leistungserbringung durch die Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin haben. (1) Schutzwürdiges vorübergehendes Interesse an der Arbeitsleistung Grundsätzlich tragen Arbeitgeber:innen das Unternehmerrisiko, also unter anderem die Gefahr, die Arbeitsleistung von Arbeitnehmer:innen wegen Auftrags- oder Absatzmangels nicht wirtschaftlich verwenden zu können.122 Die Ungewissheit der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Unternehmen berechtigt Arbeitgeber:innen daher nicht dazu, befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Das Befristungsrecht dient nicht dazu, das Unternehmerrisiko auf die Arbeitnehmerseite abzuwälzen.123 Eine Ausnahme sieht § 14 I 2 Nr. 7 TzBfG vor, wenn Arbeitnehmer:innen aus Haushaltsmitteln vergütet werden, die haushaltsrechtlich für eine befristete Beschäftigung bestimmt sind. Befristungen sind gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG sachlich gerechtfertigt, wenn betrieblicher Bedarf an einer Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht. Entscheidend ist dafür, dass die wirtschaftliche Zukunft eines Unternehmens nicht bloß unsicher ist, sondern dass „zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Arbeitgeber aufgrund greifbarer Tatsachen mit hinreichender Sicherheit annehmen kann, dass der Arbeitskräftebedarf in Zukunft wegfallen wird (Prognose).“124 Dann wälzen Arbeitgeber:innen durch eine Befristung nicht das Unternehmerrisiko auf die Arbeitnehmer:innen ab. Der „von den Kündigungsschutzbestimmungen gewährleistete Bestandsschutz [ist] wegen des Fehlens des Dauerelements in diesen Verträgen vom Grundsatz her nicht beeinträchtigt.“125 Die Ratio des KSchG ist in diesen Fällen von vornherein nicht tangiert. Ein voraussehbarer Wegfall des Arbeitskräftebedarfs ist anzunehmen, wenn Arbeitsleistungen aufgrund zukünftiger Entwicklungen entweder endgültig nicht mehr erforderlich sind oder Arbeitsbedarf periodisch wiederkehrend auftritt. Ein endgültiger Wegfall des Bedarfs ist sowohl bei betriebsbezogenen Maßnahmen wie z. B. bereits beschlossenen Modernisierungsmaßnahmen
122
ErfK/U. Preis, § 615 BGB Rn. 120 f. BAG, Urt. v. 5. 6. 2002 – 7 AZR 241/01, NZA 2003, 149, 151 m. w. N. 124 BT-Drs. 14/4374, S. 19; ebenfalls die st.Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 17. 3. 2010 – 7 AZR 640/ 08, NZA 2010, 633, 634 (Rn. 12). 125 BAG, Urt. v. 2. 8. 1978 – 4 AZR 58/77, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 46. 123
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
oder feststehenden Betriebsschließungen anzunehmen126 als auch bei zeitlich begrenzten einzelnen Arbeitsaufgaben, z. B. der Mitwirkung an einem konkreten Projekt.127 Periodisch wiederkehrender Arbeitsbedarf tritt insbesondere in Kampagnen- und Saisonbetrieben auf, in denen nur oder verstärkt zu einer bestimmten Jahreszeit gearbeitet wird.128 Befristungen sind dann gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG wirksam, wenn das Beschäftigungsbedürfnis erst mit einer prognostizierten zeitlichen Unterbrechung von vielen Wochen wiederkehrt.129 Parallele Wertungen liegen dem Sachgrund der Vertretungsbefristung gem. § 14 I 2 Nr. 3 TzBfG zugrunde: Hiernach sind Befristungen zulässig, wenn im Zeitpunkt eines Vertragsschlusses angenommen werden kann, dass Arbeitsbedarf wegen der erwarteten Rückkehr anderer Arbeitnehmer:innen nur vorübergehender Natur ist.130 Erforderlich ist also auch hier eine Prognose zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Die Prognose muss sich bei § 14 I 2 Nr. 1 und Nr. 3 TzBfG nur auf das Bestehen des Befristungsgrundes an sich beziehen; eine Kongruenz mit der Vertragsdauer ist hingegen nicht erforderlich.131 Im Hinblick auf die Wirksamkeit von Befristungen ist es unschädlich, wenn die vereinbarte Vertragsdauer hinter dem voraussichtlichen Zeitpunkt des Wegfalls des Arbeitsbedarfs zurückbleibt, sofern der Vertragszweck auch so erreicht werden kann. (2) Schutzwürdiges vorübergehendes Interesse an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin Arbeitgeber:innen tragen grundsätzlich nicht nur das Wirtschaftsrisiko, sondern auch das Risiko, an konkreten Arbeitnehmer:innen aus in ihrer Person liegenden Gründen kein Interesse mehr zu haben. Sofern sich Arbeitnehmer:innen nicht objektiv pflichtwidrig verhalten haben und eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht zu ziehen ist, können sie nur unter den sehr strengen Voraussetzungen einer personenbedingten Kündigung entlassen werden. Damit Arbeitgeber:innen mit der Befristung eines Arbeitsvertrags nicht systemwidrig das KSchG umgehen, kann das nur vorübergehende Interesse an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin daher grundsätzlich keine Befristung rechtfertigen. § 14 I 2 TzBfG sieht aber eng umrissene Ausnahmefälle von diesem Grundsatz vor: Die Probezeitbefristung nach § 14 I 2 Nr. 5 TzBfG entspricht beispielsweise dem berechtigten Wunsch von Arbeitgeber:innen, die noch ungewisse Eignung neu 126
BT-Drs. 14/4374, S. 19. BAG, Urt. v. 7. 11. 2007 – 7 AZR 484/06, NZA 2008, 467, 469; BAG, Urt. v. 25. 8. 2004 – 7 AZR 7/04, NZA 2005, 357, 358. 128 Vgl. BAG, Urt. v. 29. 1. 1987 – 2 AZR 109/86, AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1. 129 BAG, Urt. v. 19. 11. 2019 – 7 AZR 582/17, NZA 2020, 374, 378 (Rn. 51); BAG, Urt. v. 11. 2. 2004 – 7 AZR 362/03, NZA 2004, 978. 130 BAG, Urt. v. 13. 10. 2004 – 7 AZR 654/03, NZA 2005, 469, 471; BAG, Urt. v. 21. 2. 2001 – 7 AZR 200/00, NZA 2001, 1382. 131 BAG, Urt. v. 27. 7. 2016 – 7 AZR 545/14, NZA 2016, 1531, 1534 f. (Rn. 33); BAG, Urt. v. 17. 3. 2010 – 7 AZR 640/08, NZA 2010, 633, 634 (Rn. 12). 127
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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eingestellter Arbeitnehmer:innen zu prüfen, bevor sie ein nach dem KSchG bestandsgeschütztes Arbeitsverhältnis erhalten. § 14 I 2 Nr. 2 TzBfG erlaubt die befristete Einstellung von Ausbildungs- oder Hochschulabsolventen, um ihnen den Einstieg in das Berufsleben zu erleichtern.132 Schließlich begründen einige in der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin liegende Gründe i. S. v. § 14 I 2 Nr. 6 TzBfG ein überwiegendes Befristungsinteresse: Die Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisses von Betriebsratsmitgliedern bis zum Ende der Amtszeit kann zulässig sein, um die Kontinuität der personellen Zusammensetzung des Betriebsrats zu gewährleisten.133 Schließlich dürfen Befristungen unter bestimmten Voraussetzungen mit dem zu erwartenden „Verschleiß“ von Arbeitnehmer:innen begründet werden: Die mit dem steigenden Alter abnehmende Leistungsfähigkeit und das Interesse der Arbeitgeber:innen an einer sachgerechten Personal- und Nachwuchsplanung kann eine Befristung auf den Zeitpunkt des Erreichen des gesetzlichen Rentenalters rechtfertigen.134 Tritt der „Verschleiß“ von Arbeitnehmer:innen nicht wegen typischen Nachlassens der individuellen Leistungsfähigkeit auf, sondern durch betriebliche Gründe, können sachliche Gründe nach § 14 I Nr. 4 TzBfG vorliegen. Der Sachgrund der „Eigenart der Arbeitsleistung“ bezweckt ausweislich der Gesetzesmaterialien, grundrechtlich gebotene Flexibilisierungsmöglichkeiten zu gewähren.135 Er soll bestimmten Arbeitgeber:innen ermöglichen, wegen der Besonderheiten ihrer unternehmerischen Tätigkeit selbst oder ihres ständigen Publikums ein besonderes „Innovationsbedürfnis“ bei der Besetzung bestimmter Arbeitsplätze umsetzen zu können.136 Es ist im Einzelfall eine Abwägung von betroffenen Grundrechten der Arbeitgeber:innen mit der durch Art. 12 I GG geschützten Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen vorzunehmen.137 Grundrechte der Arbeitgeber:innen sind insbesondere die von Art. 5 GG geschützten Rundfunk-, Kunst- und Bühnen-138 sowie nach teilweise vertretener Ansicht Presse- und Wissenschaftsbetriebe.139 Die Grundrechtspositionen können nach Ansicht des BAG und der Literatur wiederholte Befristungen über mehrere Jahre rechtfertigen.140 Nach § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG ge132
Boecken/Joussen/W. Boecken, § 14 TzBfG Rn. 60. Siehe ausführlich unten 4. Kap. C. IV. 134 Siehe den Überblick bei ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 56 ff. 135 BT-Drs. 14/4374, S. 19. 136 Vgl. H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 325; H. Wiedemann, in: FS Lange (1970), Zur Typologie zulässiger Zeitarbeitsverträge, S. 395, 408. 137 BAG, Urt. v. 30. 8. 2017 – 7 AZR 864/15, NZA 2018, 229, 232 (Rn. 32 f.). 138 BT-Drs. 14/4374, S. 19. 139 MüKo BGB/D. Hesse, § 14 TzBfG Rn. 47; ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 46a; NK ArbR/N. Studt, § 14 TzBfG Rn. 44; DHSW/C. Tillmanns, § 14 TzBfG Rn. 44; a. A. APS/ L. Backhaus, § 14 TzBfG Rn. 309; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 53 ff. 140 BAG, Urt. v. 18. 7. 2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, 1358 (Rn. 47); BAG, Urt. v. 13. 1. 1983 – 5 AZR 156/82, AP BGB § 611 Abhängigkeit Nr. 43; MüKo BGB/D. Hesse, § 14 TzBfG Rn. 46; DHSW/C. Tillmanns, § 14 TzBfG Rn. 44. 133
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
rechtfertigt ist darüber hinaus u. U. die Befristung von Mitarbeiter:innen einer Parlamentsfraktion.141 Neben diesen Eigenarten mit verfassungsrechtlichem Bezug weist nach dem BAG auch die Tätigkeit als Lizenzfußballer:in Eigenarten i. S. d. Nr. 4 auf: Insbesondere die Verpflichtung der Spieler:innen, sportliche Höchstleistungen zu erbringen, sowie das Bedürfnis der Trainer:innen, den Kader flexibel zusammenstellen und entwickeln zu können, rechtfertigen hier nach Ansicht des Gerichts den Abschluss mehrerer hintereinandergeschalteter befristeter Arbeitsverträge.142 § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG knüpft als „Verschleißtatbestand“ also nicht an den vorübergehenden Bedarf der Arbeitsleistung an, sondern an das vorübergehende Interesse an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin. cc) Missbrauchskontrolle bei Kettenbefristungen Sachgrundbefristungen können nach dem Wortlaut des § 14 I TzBfG beliebig oft hintereinandergeschaltet werden. Sogenannte Kettenbefristungen sind insbesondere bei den prognosebezogenen Sachgründen üblich, wenn sich eine Prognose im Nachhinein als unzutreffend herausstellt, also der Betrieb beispielsweise wider Erwarten doch nicht geschlossen wird oder eine vertretene Arbeitnehmerin länger krank bleibt als bei Vertragsschluss abzusehen war. Die nicht prognosebezogenen Sachgründe setzen von Vornherein keinen zu erwartenden Fortfall der Beschäftigungsmöglichkeit voraus. Insbesondere die Eigenart der Arbeitsleistung gem. § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG ermöglicht Arbeitgeber:innen, den möglichen „Verschleiß“ der Arbeitnehmer:innen nach jedem Fristablauf neu zu beurteilen. Eine potenziell grenzenlose Aneinanderreihung befristeter Arbeitsverhältnisse widerspricht jedoch unionsrechtlichen Vorgaben: Nach § 5 Nr. 1 lit. a) der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, durchgeführt durch die RL 1990/ 70/EG, müssen die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass durch wiederholte Befristungen nicht unter dem Deckmantel eines zeitweiligen Bedarfs in Wirklichkeit ein ständiger und dauerhafter Arbeitskräftebedarf gedeckt wird.143 Das BAG setzt diese Vorgaben durch eine Prüfung von Befristungen im Einzelfall nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) um. Dabei werden primär die Gesamtdauer der Verträge und die Anzahl der Vertragsverlängerungen berücksichtigt.144 Unproblematisch sind Kettenbefristungen nach ständiger Rechtsprechung des BAG jedenfalls „solange das Arbeitsverhältnis nicht die Gesamtdauer von sechs Jahren überschreitet und zudem nicht mehr als neun Vertragsverlängerungen vereinbart wurden, es sei denn, die Gesamtdauer übersteigt bereits acht Jahre oder es wurden mehr als zwölf Vertragsverlängerungen verein141
Zur alten Rechtslage BAG, Urt. v. 26. 8. 1998 – 7 AZR 450/97, NZA 1999, 149. BAG, Urt. v. 16. 1. 2018 – 7 AZR 312/16, NZA 2018, 703; zustimmend z. B. BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 56; MüKo BGB/D. Hesse, § 14 TzBfG Rn. 51. 143 Vgl. BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 385 f. (Rn. 23). 144 Siehe ausführlich BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 386 (Rn. 24 ff.). 142
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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bart.“145 Werden diese Grenzen überschritten, ist eine Missbrauchskontrolle geboten.146 Wenn die Prüfung eines Sachgrunds an sich bereits eine umfassende Interessenabwägung verlangt, wie insbesondere § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG, nimmt das Gericht keine gesonderte Missbrauchskontrolle vor.147 b) Sachgrundlose Befristung gem. § 14 II 1 TzBfG § 14 II – III TzBfG enthalten eine Ausnahme vom Sachgrunderfordernis des Abs. 1.148 Die Befristung von Arbeitsverhältnissen ist ohne sachlichen Grund bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig, innerhalb derer sie bis zu drei Mal verlängert werden kann.149 Befristungen sind nach § 14 II 2 TzBfG nicht zulässig, wenn mit derselben Arbeitgeberin oder demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Sachgrundlose Befristungen sollen also nach der Konzeption des Gesetzgebers grundsätzlich nur bei Neueinstellungen zulässig sein und damit der Abschluss von sozialpolitisch unerwünschten Kettenverträgen ausgeschlossen werden.150 Nach jüngster Rechtsprechung des BVerfG sind dabei aber in verfassungskonformer Auslegung des § 14 II 2 TzBfG solche früheren Arbeitsverhältnisse unberücksichtigt zu lassen, die sehr lange zurückliegen, ganz anders geartet oder von sehr kurzer Dauer waren.151 Ziel des Gesetzgebers war es, Unternehmen zu ermöglichen, auf wechselnde Marktbedingungen, einen unsteten Personalbedarf oder Besonderheiten der Branche durch flexible Einstellungen reagieren und so wettbewerbsfähig bleiben zu können. Gleichzeitig seien befristete Arbeitsverhältnisse auch aus sozialpolitischen Gründen sinnvoll, da durch ihre Inanspruchnahme Überstundenarbeit und Outsourcing von Aufgaben an andere Unternehmen vermieden werden können. Insbesondere seien befristete Arbeitsverhältnisse schließlich eine Alternative zur Arbeitslosigkeit und im Idealfall eine „Brücke zur Dauerbeschäftigung“.152 Damit verwirklicht der Gesetzgeber zugleich das sozialstaatlich unterfütterte (Art. 20 I, 28 I GG) Ziel der
145
BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 386 (Rn. 26). BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 386 f. (Rn. 27 f.). 147 BAG, Urt. v. 30. 8. 2017 – 7 AZR 864/15, NZA 2018, 229, 232 f. (Rn. 35). 148 So explizit BT-Drs. 14/4374, S. 19. 149 § 14 IIa TzBfG verlängert die maximale Befristungsdauer und die Anzahl zulässiger Verlängerungen auf „mehrfache“ Verlängerungen innerhalb von vier Jahren, wenn Arbeitgeber: innen Existenzgründer:innen sind. Nach § 14 III TzBfG ist die sachgrundlose Befristung bis zu fünf Jahre mit mehrfacher Verlängerung möglich, wenn Arbeitnehmer:innen bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet haben und unmittelbar vor Beginn des Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos waren. 150 BT-Drs. 14/4374, S. 14. 151 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779 (Rn. 63). 152 BT-Drs. 14/4374, S. 14. 146
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
Beschäftigungsförderung.153 Durch das Zusammenspiel von § 14 I 1, 2 TzBfG wird gleichzeitig Arbeitsuchenden die Gelegenheit eröffnet, sich während einer sachgrundlosen Befristung „zu bewähren und für eine Dauerbeschäftigung zu empfehlen“ und Arbeitgeber:innen werden gezwungen, sich zwischen einer Entfristung oder Entlassung der Arbeitnehmer:innen zu entscheiden, wobei sie entweder dem Bestandsinteresse befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen Rechnung tragen oder anderen Arbeitsuchenden die Chance einer Bewährung eröffnen.154 Nach Auffassung des BAG und des BVerfG ist die mit § 14 II TzBfG vorgenommene Interessenabwägung auch vor dem Hintergrund der aus Art. 12 GG folgenden Schutzpflicht verfassungsgemäß.155 c) Zusammenfassung zur Befristungskontrolle Mit §§ 620 III BGB, 14 ff. TzBfG hat der Gesetzgeber einem zum Kündigungsrecht alternativen Ausgleichsmechanismus von Vertragsbeendigungsfreiheit und Bestandsinteressen geschaffen. Arbeitgeber:innen werden von der Kündigungslast befreit, wenn ihr Befristungsinteresse bereits bei Vertragsschluss das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen überwiegt. Diese Abwägung wird durch eine Vertragskontrolle der Befristungsabrede geprüft. Danach müssen Befristungen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses den Anforderungen des § 14 TzBfG Rechnung tragen. Nach Abs. 1 ist für Befristungen grundsätzlich ein sachlicher Grund notwendig, der entweder auf die fehlende Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer:innen (insbesondere Sachgründe des § 14 I 2 Nr. 6 und 8) oder ein überwiegendes Befristungsinteresse der Arbeitgeber:innen (restliche Sachgründe) zurückzuführen ist; letzteres kann sich entweder aus einem schützenswerten nur vorübergehenden Interesse an der Arbeitsleistung oder an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin ergeben. Dafür ist teilweise eine Prognose erforderlich. Dass die Möglichkeit mehrfacher Sachgrundbefristungen nicht zur Überbrückung eines ständigen und dauerhaften Arbeitskräftebedarfs ausgenutzt wird, verhindert die Rechtsprechung durch eine Kontrolle institutionellen Rechtsmissbrauchs. Eine sachgrundlose Befristung ist gem. § 14 II TzBfG grundsätzlich nur bei Ersteinstellungen zulässig; Verlängerungen sind drei Mal und bis zu einer Gesamtdauer von zwei Jahren möglich. Das automatische Auslaufen wirksam befristeter Arbeitsverträge mit Fristende ist damit grundsätzlich nicht willkürlich oder sachfremd; mithin hat der Gesetzgeber 153 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 776 (Rn. 48). 154 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 777 (Rn. 51). 155 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 14 II 2 TzBfG, die aber die Verfassungsmäßigkeit des § 14 II 1 TzBfG implizit mit beantwortet; BAG, Urt. v. 22. 1. 2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483, 485 (Rn. 34); BAG, Urt. v. 15. 8. 2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45, 48 (Rn. 26).
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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den von Art. 12 I GG geforderten Mindestbestandsschutz nicht unterschritten.156 Arbeitgeber:innen sind in ihrer Entscheidung über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen grundsätzlich frei.157
II. Judikative Bestandsschutzgewährung durch Begrenzungen der Fortsetzungsfreiheit? Fraglich ist, ob Arbeitgeber:innen trotz gesetzeskonformer Befristungsabrede zur Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nach Fristablauf verpflichtet sein können. Für die Rechtmäßigkeit von Befristungen ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 14 TzBfG bei Vertragsschluss entscheidend. Spätere Entwicklungen während der Vertragslaufzeit berühren die Wirksamkeit der Befristung nicht. „Das Befristungskontrollrecht ist Vertragskontrolle“158 und berücksichtigt nur die bei Vertragsschluss gegebenen Umstände. Weder eine Befristungsabrede noch ihre Kontrolle kann daher Entwicklungen während des Arbeitsverhältnisses abbilden. Damit besteht einerseits nicht jene Gefährdungslage, der der Gesetzgeber mit Erlass des Sonderkündigungsschutzes begegnet ist: Da der Beendigungstatbestand schon zu Beginn des Arbeitsverhältnisses feststeht, lässt eine Vertragsbeendigung nicht derart auf eine Maßregelung wegen einer Amtsinhaberschaft, betrieblichen Beauftragung oder Inanspruchnahme von Mutterschaftsurlaub oder Elternzeit schließen, dass der Gesetzgeber eine dem Sonderkündigungsschutz äquivalente automatische Vertragsverlängerung notwendig gehalten hätte. Die Kehrseite des vorgezogenen Prüfungszeitpunkts ist, dass andererseits auch Entwicklungen zugunsten der Arbeitnehmer:innen nicht berücksichtigt werden können: Ursprünglich wirksam befristete Arbeitsverträge enden gem. § 15 TzBfG auch dann wie vereinbart, wenn der Befristungsgrund nachträglich entfällt und sich ein längerer Beschäftigungsbedarf ergibt,159 wenn Arbeitgeber:innen Vertrauen in eine Vertragsverlängerung erzeugt hatten oder sie die Fortsetzung verbotswidrig unterlassen. Bei Fristablauf üben Arbeitgeber:innen kein Gestaltungsrecht aus, das umfassend kontrolliert oder mit der ursprünglichen Interessenlage bei Abschluss der Befristung verglichen werden könnte. Parallel zum Wiedereinstellungsanspruch 156
So st.Rspr. des BAG, z. B. BAG, Urt. v. 17. 4. 2019 – 7 AZR 410/17, NZA 2019, 1223, 1226 ff. (Rn. 29, 35) m. w. N. 157 BAG, Urt. v. 9. 9. 2015 – 7 AZR 148/14, NZA 2016, 169, 171 (Rn. 28). 158 BAG, Urt. v. 29. 6. 2011 – 7 AZR 6/10, NZA 2011, 1346, 1350. 159 BAG, Urt. v. 29. 6. 2011 – 7 AZR 6/10, NZA 2011, 1346, 1350; BAG, Urt. v. 16. 11. 2005 – 7 AZR 81/05, NZA 2006, 784, 789 f.; APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 97; KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 64; MüKo BGB/D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 6; NK KSchR/W. Mestwerdt, § 15 TzBfG Rn. 42; ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 16a; DHSW/C. Tillmanns, § 14 TzBfG Rn. 25.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
nach einer Kündigung sind hier aber Fortsetzungsansprüche von Arbeitnehmer:innen zu erwägen. 1. Fortsetzungsanspruch bei Wegfall des sachlichen Grunds? Teile der Literatur erkennen einen Fortsetzungsanspruch an, wenn ein Sachgrund gem. § 14 I TzBfG eine Prognoseentscheidung voraussetzt und sich diese Prognose nach Fristablauf als unzutreffend herausstellt. In diesen Fällen seien die Grundsätze des Wiedereinstellungsanspruchs nach Kündigung auf das befristete Arbeitsverhältnis zu übertragen.160 Das BAG161 und die überwiegende Ansicht in der Literatur162 lehnen Fortsetzungsansprüche bei Wegfall des sachlichen Grunds zurecht ab. Wollte man solche Ansprüche annehmen, müssten die für den allgemeinen Wiedereinstellungsanspruchs geltenden Erwägungen nämlich auf die Situation nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags übertragbar sein: Auch der Beendigungstatbestand im Befristungsrecht müsste fehleranfällig und nachträglich korrekturbedürftig sein.163 Das ist aber, wie nun gezeigt wird, nicht der Fall: a) Fehleranfällige Prognoseentscheidung Durch den allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch nach ordentlicher Kündigung wird das als unbillig empfundene Ergebnis korrigiert, dass eine Kündigung nur wirksam ist, wenn Störungen des Arbeitsverhältnisses bei Ablauf der Kündigungsfrist erwartet werden, die Kündigung aus Gründen der Rechtssicherheit aber im Zeitpunkt ihres Zugangs beurteilt wird. Dadurch ist eine Prognose über Umstände bei Ablauf der Kündigungsfrist erforderlich, deren nachträgliche Fehlerhaftigkeit auf die Wirksamkeit der Kündigung keinen Einfluss hat. Auch die Sachgründe in § 14 I TzBfG setzen teilweise eine Prognoseentscheidung voraus: Insbesondere Befristungen wegen vorübergehenden Bedarfs an der Arbeitsleistung gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG und Vertretungsbefristungen gem. § 14 I 2 Nr. 3 TzBfG verlangen, dass Tatsachen im Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrags die fundierte Prognose zulassen, dass der Bedarf an der Weiterbeschäftigung
160
C. Auktor, ZTR 2003, 550, 551 f.; KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 83; H. Oberhofer, RdA 2006, 92, 95; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 21a. 161 BAG, Urt. v. 20. 2. 2002 – 7 AZR 600/00, NZA 2002, 896. 162 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 104; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 13; H.-J. Dörner, NZA-Beilage 2003, Heft 16, 33, 34; ders., Der befristete Arbeitsvertrag (2011), S. 314; A. Feuerborn, Sachliche Gründe im Arbeitsrecht (2003), S. 327; MüKo BGB/ D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 4; Boecken/Joussen/J. Joussen, § 15 TzBfG Rn. 96; K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015), S. 122; ErfK/ R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 7. 163 Vgl. auch K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015), S. 120 f.
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nach Befristungsablauf entfallen wird.164 Ebenso wie bei der betriebsbedingten Kündigung beruhen diese Prognosen typischerweise auf Umständen aus der Sphäre der Arbeitgeber:innen und können sich nachträglich als unzutreffend herausstellen, beispielsweise wenn der Betrieb wider Erwarten nicht geschlossen wird, ein Projekt überraschend fortgesetzt wird oder ein vertretener Arbeitnehmer länger erkrankt. Und ähnlich wie bei der betriebsbedingten Kündigung berühren Fehlprognosen nicht die Wirksamkeit der Befristung an sich. Da die Prognoseentscheidung bei Kündigungen nach dem Gesetz für maximal sieben Monate im Voraus getroffen werden muss (vgl. § 622 II Nr. 7 BGB),165 die Dauer von Befristungen aber deutlich länger sein kann, sind Prognoseentscheidung im Rahmen des § 14 I TzBfG prinzipiell sogar noch fehleranfälliger und das Risiko einer die Arbeitnehmer:innen belastenden Fehlprognose entsprechend höher.166 Festzuhalten ist damit, dass Arbeitnehmer:innen, deren Arbeitsverhältnisse aufgrund prognosebezogener Sachgründe befristet wurden, ähnlichen Risiken ausgesetzt sind wie Arbeitnehmer:innen, die aufgrund prognostizierter Störungen im Arbeitsverhältnis gekündigt wurden, wenn sich die Prognose im Nachhinein als unzutreffend herausstellt. b) Korrekturbedürftigkeit aufgrund schützenswerter Arbeitnehmerinteressen Allein die insofern vergleichbare Ausgangslage rechtfertigt eine Übertragung der Grundsätze des allgemeinen Wiedereinstellungsanspruchs jedoch nicht. Zentraler Begründungsansatz des Wiedereinstellungsanspruchs ist bei allen vertretenen dogmatischen Anknüpfungspunkten – der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht, dem rechtsmissbräuchlichen Berufen auf die Kündigung sowie der systemimmanenten Rechtsfortbildung des KSchG –, dass Arbeitnehmer:innen ein schützenswertes Interesse daran haben, ihre Arbeitsplätze nur zu verlieren, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit tatsächlich mit Ende der Kündigungsfrist entfällt. Diesem Bestandsinteresse tragen die Gerichte in Ausübung ihrer Schutzpflicht aus Art. 12 I GG Rechnung. Entscheidend ist daher, ob auch diese Erwägungen auf das Befristungsrecht übertragbar sind. Die zwei wesentlichen methodisch-systematischen Unterschiede zwischen der Bestandsschutzkonzeption im Befristungs- und im Kündigungsschutzrecht sind, dass befristete Arbeitsverhältnisse durch – erstens – eine zweiseitige Befristungsabrede – zweitens – vor Antritt des Arbeitsverhältnisses, unbefristete Arbeitsver-
164 St.Rspr. z.B, BAG, Urt. v. 24. 9. 2014 – 7 AZR 987/12, NZA 2015, 301, 302 (Rn. 15); BAG, Urt. v. 16. 11. 2005 – 7 AZR 81/05, NZA 2006, 784, 789; APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 97; ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 16 ff. 165 Individual- und tarifvertraglich vereinbarte längere Kündigungsfristen für Arbeitgeber: innen sind gem. § 622 IV BGB und arg e contrario § 622 V BGB möglich. 166 C. Auktor, ZTR 2003, 550, 551.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
hältnisse hingegen durch die einseitige Ausübung eines Gestaltungsrechts während des Arbeitsverhältnisses beendet werden. Nach der Ansicht Dörners ist das Bestandsschutzniveau im befristeten Arbeitsverhältnis bereits deshalb niedrig und ein Wiedereinstellungsanspruch abzulehnen, weil Arbeitnehmer:innen „sich auf Grund eigener privater Disposition in einem Arbeitsverhältnis von begrenzter Dauer“ befinden.167 Gegen diese Auffassung spricht in erster Linie, dass Arbeitnehmer:innen Befristungsabreden typischerweise nicht aus eigenem Willen abschließen, sondern weil sie auf den Abschluss von Arbeitsverträgen angewiesen sind. Befristungsabreden sind dann das Ergebnis gestörter Vertragsparität. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber die Wirksamkeitsanforderungen des § 14 TzBfG überhaupt normiert. Die Tatsache, dass der Beendigungstatbestand im befristeten Arbeitsverhältnis eine zweiseitige Befristungsabrede ist, beeinflusst die Schutzwürdigkeit der Arbeitnehmer:innen daher nicht.168 Entscheidend ist die zweite Komponente der Bestandsschutzkonzeption, dass Befristungsabreden zu Beginn der Arbeitsverhältnisse abgeschlossen werden. Wie oben bereits herausgearbeitet wurde,169 werden die Interessen von Arbeitnehmer:innen, ihre Arbeitsplätze nicht ohne Grund zu verlieren, nach der Systematik des TzBfG abschließend im Rahmen der Vertragskontrolle berücksichtigt. Ist eine Befristungsabrede aufgrund einer bei Vertragsschluss hinreichend nachvollziehbaren Prognose rechtmäßig, ist damit zugleich bestätigt, dass eine Einschränkung des Bestandsschutzes auf die konkrete Befristungsdauer des Arbeitsverhältnisses aufgrund überwiegender Interessen der Arbeitgeber:innen an einem flexiblen Personaleinsatz gerechtfertigt ist. Arbeitnehmer:innen dürfen von Anfang an nicht erwarten, ihre Arbeitsplätze über diesen Zeitraum hinaus zu behalten. Mit Ablauf der Befristung wird, anders als durch eine Kündigung, „kein vorhandener Besitzstand beseitigt“,170 da keine rechtlich geschützte Position bezüglich einer Fortsetzung der Beschäftigung über das Fristende hinaus bestand.171 Mit dem Kündigungs- und dem Befristungsrecht hat der Gesetzgeber insofern „zwei ungleiche Schwestern“172 geschaffen. Zugleich kann auch der Zweck des Wiedereinstellungsanspruchs, materielle Gerechtigkeit herzustellen, indem Arbeitnehmer:innen in ihre ursprünglichen Arbeitsverhältnisse zurückversetzt werden, die ohne Fehlprognose fortbestehen würden, im befristeten Arbeitsverhältnis nicht erreicht werden: Da Arbeitnehmer:innen 167
H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), S. 316. So auch DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 20a. 169 1. Kap. D. I. 2. 170 BAG, Urt. v. 20. 2. 2002 – 7 AZR 600/00, NZA 2002, 896, 899. 171 BAG, Urt. v. 20. 2. 2002 – 7 AZR 600/00, NZA 2002, 896, 898 f.; LAG Düsseldorf, Urt. v. 15. 2. 2000 – 3 Sa 1781/99, NZA-RR 2000, 456, 458; K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015), S. 122; G. Meinel/T. Bauer, NZA 2000, 575, 578. 172 H.-J. Dörner, NZA-Beilage 2003, Heft 16, 33. 168
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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von Anfang an nur Arbeitsverhältnisse auf Zeit hatten, würden Fortsetzungsansprüche keine Fehlprognose korrigieren, sondern ein „Mehr“ an Bestandsschutz einräumen.173 Etwas anderes gilt nur, wenn man mit Auktor annimmt, dass verständige Arbeitgeber:innen den Arbeitnehmer:innen ohne Fehlprognose unbefristete oder auf längere Zeit befristete Arbeitsverhältnisse angeboten hätten und Fortsetzungsansprüche daher den von Anfang gebotenen Rechtsstatus herstellen.174 Gegen diese Annahme spricht, dass Arbeitgeber:innen frei darin sind, vorübergehend bestehenden Arbeitskräftebedarf gar nicht oder nur für einen Teil des Zeitraums zu überbrücken;175 Befristungsgrund und -dauer müssen nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht kongruent sein.176 Dass Arbeitgeber:innen ihre Arbeitnehmer:innen bei anfänglich zutreffender Prognose bis zum tatsächlichen Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit oder unbefristet beschäftigt hätten, kann ihnen damit nicht unterstellt werden.177 Es wäre widersprüchlich, wenn Arbeitgeber:innen bei Abschluss von Befristungsabreden entscheiden dürften, Arbeitsbedarf nur teilweise abzudecken, sie diese Freiheit aber nicht hätten, wenn Arbeitsbedarf wider Erwarten über das Fristende hinaus fortbesteht. Wroblewski kritisiert an diesem Ergebnis, dass es auf ein „alles-oder-nichts“ des Schutzes befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen hinauslaufe und „der befristete Arbeitsvertrag für den Arbeitnehmer den Charakter eines Risikogeschäfts an[nehme], was mit dem Arbeitnehmerschutzprinzip des Arbeitsrechts und Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar“ sei.178 Dagegen ist einzuwenden, dass die zeitliche Vorverlagerung der Prüfung eines Sachgrunds gesetzgeberisch ausdrücklich gewollt ist und nicht, wie beim KSchG, entgegen dem Gesetzeszweck und nur aus Gründen der Rechtssicherheit notwendig ist. Der Gesetzgeber hat sich mit dem TzBfG dafür entschieden, Bestandsinteressen bereits bei Kontrolle der Vertragsgestaltung zu berücksichtigen und gegen das Interesse der Arbeitgeber:innen an einem flexiblen Personaleinsatz ohne Kündigungslast abzuwägen. Stellt sich die Prognose nach Fristablauf als unzutreffend hinaus, würde ein Fortsetzungsanspruch genau diese Arbeitgeberinteressen beeinträchtigen, die der Gesetzgeber mit dem TzBfG gegen die Bestandsinteressen abschließend abgewogen hat. Diese Ausgestaltung der Beendigungsfreiheit der Arbeitgeber:innen ist auch verfassungskonform, da das von Art. 12 GG geforderte Mindestmaß an Bestandsschutz nur fordert, dass die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses nicht willkürlich oder aus unsachlichen Gründen möglich sein muss. Diesen Anforderungen trägt der Gesetzgeber mit dem Erfordernis einer an173 LAG Düsseldorf, Urt. v. 15. 2. 2000 – 3 Sa 1781/99, NZA-RR 2000, 456, 458; G. Meinel/ T. Bauer, NZA 2000, 575, 578. 174 So C. Auktor, ZTR 2003, 550, 552. 175 BAG, Urt. v. 20. 2. 2002 – 7 AZR 600/00, NZA 2002, 896, 899. 176 BAG, Urt. v. 27. 7. 2016 – 7 AZR 545/14, NZA 2016, 1531, 1534 f. (Rn. 33); BAG, Urt. v. 17. 3. 2010 – 7 AZR 640/08, NZA 2010, 633, 634 (Rn. 12). 177 So auch K. Loth, Prognoseprinzip und Vertragskontrolle im befristeten Arbeitsverhältnis (2015), S. 122. 178 DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 20a.
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
fänglich nachvollziehbaren Prognose über den Fortfall des Beschäftigungsbedarfs Rechnung. Das Arbeitsverhältnis endet dann aus einem sachlichen Grund, der bloß zu einem früheren Zeitpunkt abschließend beurteilt wurde. Der Gesetzgeber hat mit dem TzBfG einen verfassungskonformen zeitlich begrenzten Bestandsschutz neben dem KSchG ermöglicht und damit einen verbindlichen Ausgleich getroffen, den die Gerichte nicht unter Rückgriff auf Grundrechtspositionen der Partien korrigieren dürfen. Ein Fortsetzungsanspruch wegen Wegfall des sachlichen Grunds ist daher weder als Ausdruck des verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes geboten noch zur Realisierung des mit dem TzBfG verfolgten normativen Bestandsschutzniveaus. Die Grundsätze des allgemeinen Wiedereinstellungsanspruchs nach Kündigung sind aufgrund wesentlicher methodisch-systematischer Unterschiede zwischen dem Befristungs- und im Kündigungsschutzrecht also nicht übertragbar. c) Ergebnis: kein Fortsetzungsanspruch bei Wegfall des sachlichen Grundes Es ist dem BAG und der herrschenden Ansicht in der Literatur darin zuzustimmen, dass die Grundsätze des Wiedereinstellungsanspruchs nach Kündigung nicht auf das befristete Arbeitsverhältnis übertragbar sind, wenn ein Sachgrund gem. § 14 I TzBfG eine Prognoseentscheidung voraussetzt und sich diese Prognose nach Fristablauf als unzutreffend herausstellt. Grund dafür ist, dass die Bestandsinteressen im befristeten Arbeitsverhältnis durch eine Vertragskontrolle bei Abschluss des Arbeitsverhältnisses mit den Interessen der Arbeitgeber:innen an einer freien Vertragsbeendigung abschließend abgewogen worden sind. Das Interesse, den Arbeitsplatz nur bei Vorliegen eines sachlichen Grundes, insbesondere bei Fortfall der Beschäftigungsmöglichkeit, zu verlieren, ist in einem wirksam befristeten Arbeitsverhältnis nur bis zum Ablauf der Frist geschützt. Ein Fortsetzungsanspruch kann daher nicht damit begründet werden, dass bei Fristablauf kein sachlicher Grund für die Vertragsbeendigung mehr bestehe. Es gibt weder verfassungsrechtliche noch durch das TzBfG normativ konstituierte Bestandsinteressen, denen die Gerichte durch die Annahme eines Fortsetzungsanspruchs Rechnung tragen müssen. 2. Fortsetzungsansprüche aus nicht vom TzBfG erfassten Gründen Soweit der Gesetzgeber die Bestandsinteressen berücksichtigt hat, haben die Gerichte keine Kompetenz, den Bestand des Arbeitsverhältnisses durch eine Auslegung oder Rechtsfortbildung weiter zu schützen. Mit § 14 TzBfG hat der Gesetzgeber das Arbeitnehmerinteresse an einem dauerhaften Arbeitsverhältnis abschließend gegen das Arbeitgeberinteresse an einer flexiblen Vertragsbeendigung ohne Kündigungslast abgewogen. Das Ergebnis ist, dass die Vertragsbeendigung bei Fristablauf nicht an sachliche Gründe i. S. v. § 14 I TzBfG oder § 1 KSchG gekoppelt ist. Mit dieser Bewertung ist aber nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass Arbeitnehmer:innen ein schutzwürdiges Interesse an einer Vertragsfortsetzung haben können, wenn sich das Schutzbedürfnis aus nicht im TzBfG abschließend geregelten
1. Kap.: Vertragsfortsetzungsfreiheit
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Gründen ergibt. Damit, dass die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses vom Vorliegen eines sachlichen Grunds bei Fristende unabhängig ist, hat der Gesetzgeber nicht jeden Interessenkonflikt abschließend geregelt. Insbesondere bleibt offen, 1. was geschieht, wenn Arbeitgeber:innen freiwillig Tatbestände schaffen, die ihre Selbstbindung oder bestimmte Erwartungen der Arbeitnehmer:innen hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung erzeugen [2. Teil], und 2. was geschieht, wenn Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung verbotswidrig unterlassen [3. Teil]. Anders als im Kündigungsschutzrecht, das diese Einzelfallumstände in die Kontrolle der Kündigung gem. § 1 KSchG oder §§ 242, 138 BGB inkorporieren kann, sind die Rechtsfolgen im Befristungsrecht schwieriger zu beurteilen. Es geht hier um Begrenzungen der Vertragsbegründungsfreiheit der Arbeitgeber:innen aus Gründen, die in einem bereits bestehenden, befristeten Arbeitsverhältnis wurzeln. Diese Begrenzungen sind aus den Normenkomplexen herzuleiten, die die einzelnen Interessenkonflikte betreffen, und jeweils mit der gesetzgeberischen Entscheidung in § 14 TzBfG abzugleichen.
E. Ergebnisse des ersten Kapitels Der für die Beantwortung der Forschungsfrage zentrale Befund des ersten Kapitels ist die Erkenntnis, dass Arbeitgeber:innen nach Fristablauf grundsätzlich frei in der Entscheidung sind, ob sie befristete Arbeitsverhältnisse fortsetzen möchten oder nicht. Es gilt Vertragsfortsetzungsfreiheit. Aus der sozialstaatlich ausgestalteten Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 GG (i. V. m. Art. 20 I GG) folgt zwar die staatliche Schutzpflicht, Arbeitnehmer:innen vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Rechte durch privatautonome Regelungen zu schützen, wo Arbeitgeber:innen Vertragsbestimmungen aufgrund ihrer Verhandlungsstärke sonst einseitig setzen könnten. Die Schutzpflicht verlangt insbesondere, dass der Gesetzgeber ein Mindestmaß an Bestandsschutz festschreibt und die Gerichte diesem verfassungsrechtlichen Auftrag bei der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen Rechnung tragen. Dabei müssen Gesetzgeber und Gerichte einen Ausgleich mit der ebenfalls gem. Art. 12 GG garantierten Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen finden. Innerhalb dieses Gestaltungskorridors zwischen Übermaß- und Untermaßverbot übernimmt der Gesetzgeber die rechtspolitische Verantwortung für die Einzelheiten eines Regelungssystems, das die konkretisierende Rechtsprechung subsidiär verfassungsgeleitet durch Auslegung zu konkretisieren hat. Mit dem Kündigungs- und dem Befristungsrecht hat der Gesetzgeber zwei ungleiche Ausgleichsmechanismen von Bestandsinteressen und Vertragsbeendigungsfreiheit geschaffen. Der zentrale Unterschied der beiden Bestandsschutzkon-
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1. Teil: Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse
zeptionen ist, dass das auf unbefristete Zeit geschlossene Regelarbeitsverhältnis (innerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG) den zeitlich unbegrenzten Fortbestand von Arbeitsverhältnissen schützt, der nur beseitigt werden kann, wenn bei Ablauf der Kündigungsfrist überwiegende Interessen der Arbeitgeber:innen die Beendigung der Arbeitsverhältnisse rechtfertigen. Befristete Arbeitsverhältnisse tragen berechtigten Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen Rechnung: Der Personaleinsatz wird für sie planbar und sie tragen keine Kündigungslast bei Fristablauf. Voraussetzung für die wirksame Vereinbarung einer Befristung ist, dass bei Vertragsschluss die Interessen der Arbeitgeber:innen an einer nur vorübergehenden Beschäftigung die Interessen der Arbeitnehmer:innen an einem unbefristeten Arbeitsverhältnis überwiegen. Da weder das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß an Bestandsschutz noch das vom Gesetzgeber mit dem TzBfG konzipierte normative Bestandsschutzniveau verlangt, dass Arbeitgeber:innen bei Fristablauf einen sachlichen Grund für die Vertragsbeendigung haben, existiert kein Fortsetzungsanspruch, wenn der sachliche Grund für eine Befristung nachträglich entfällt. Eine Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit ergibt sich allenfalls aus Gründen, die der Gesetzgeber nicht abschließend mit § 14 TzBfG austariert hat.
2. Teil
Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung 2. Kapitel
Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung A. Problem: Ambiguität erwartungserzeugender Verhaltensweisen Üblicherweise einigen sich Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen ausdrücklich über eine Vertragsfortsetzung, und zwar dann, wenn für Arbeitgeber:innen absehbar ist, ob und wie sie Arbeitnehmer:innen über das Fristende hinaus beschäftigen möchten. Fortsetzungsverträge werden daher oft erst kurz vor Fristablauf geschlossen und die Auslegung der wechselseitigen Erklärungen als Vertragsschluss ist nicht problematisch. Schwieriger einzuordnen können Äußerungen im entfernteren zeitlichen Vorfeld sein: Es kann im Interesse beider Parteien sein, sich vorab, ggf. schon bei Abschluss des vorherigen befristeten Arbeitsvertrags, über das Schicksal des Arbeitsverhältnisses nach Fristablauf zu verständigen. Das Interesse der Arbeitnehmer:innen liegt auf der Hand: Sie sind – entweder existenziell oder jedenfalls zur Erhaltung ihres Lebensstandards – auf regelmäßiges Arbeitsentgelt angewiesen und benötigen Planungssicherheit darüber, ob ihre Arbeitsverhältnisse nach Fristablauf fortgesetzt werden oder sie sich rechtzeitig um alternative Beschäftigungsmöglichkeiten bemühen müssen. Die Aussicht einer Weiterbeschäftigung nach Fristablauf kann auch ein gewichtiger Anreiz sein, befristete Arbeitsverhältnisse überhaupt erst einzugehen und ggf. entsprechend zu disponieren (Kündigung eines anderen Arbeitsverhältnisses, Wohnortwechsel etc.). Spiegelbildlich können Arbeitgeber:innen an vorzeitigen Abreden über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen interessiert sein, da ihre angebotenen Arbeitsplätze durch die Perspektive einer Fortsetzung attraktiver werden und sie dadurch qualifiziertere Arbeitnehmer:innen gewinnen können. Außerdem steigen Arbeitsmoral und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer:innen mit der Aussicht auf eine längerfristige Integration in den Betrieb. Und schließlich dienen Absprachen über die Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmer:innen auch der Planungssicherheit der Arbeitgeber:innen. Die sichere Verfügbarkeit von Arbeitnehmer:innen nach Fristablauf spart
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Arbeitgeber:innen nicht nur administrativen und finanziellen Aufwand des Recruiting; durch die Fluktuation von Arbeitnehmer:innen gehen dem Unternehmen auch Expertise und Berufserfahrung verloren. Dass die Arbeitsvertragsparteien im Vorfeld des Fristablaufs über das Schicksal von Arbeitsverhältnissen sprechen, ist daher üblich. Auch andere Handlungsweisen von Arbeitgeber:innen im Laufe des Arbeitsverhältnisses können bei Arbeitnehmer:innen die Erwartung erzeugen, über den Fristablauf hinaus beschäftigt zu werden. Solche Verhaltensweisen sind beispielsweise die wiederholte Vertragsfortsetzung in der Vergangenheit oder eine Einplanung in langfristige Projekte, Urlaubspläne etc. Die Annahme einer Pflicht zur Vertragsfortsetzung widerspricht aber häufig dem von §§ 14, 15 TzBfG rechtlich geschützten Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber:innen. Es ist in diesem Kapitel daher ausführlich zu prüfen, unter welchen Umständen und mit welchen Rechtsfolgen sich Arbeitgeber:innen durch Äußerungen und tatsächliches Verhalten hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung binden. Dafür wird zuerst die rechtsgeschäftliche Selbstbindung durch den Abschluss eines Arbeits-, Options- oder Vorvertrags [B.], danach eine Selbstbindung durch die Schaffung eines Vertrauenstatbestands [C.] und schließlich die Selbstbindung in Saisonarbeitsverhältnissen [D.] untersucht.
B. Rechtsgeschäftliche Bindung Die naheliegendste und am wenigsten rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Vertragsfortsetzungsfreiheit ist die vertragliche Selbstbindung. Arbeitgeber:innen sind zur Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen verpflichtet, wenn Arbeitnehmer:innen aufgrund rechtsgeschäftlicher Vereinbarung darauf gerichtete Ansprüche geltend machen. Solche Vereinbarungen können entweder individual- [I.] oder kollektivvertraglicher Natur sein [II]. Eine gesetzliche Fiktion der Fortsetzungsabrede enthält § 15 V TzBfG [III.] Die insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen vorkommende Selbstbindung von Arbeitgeber:innen infolge regelmäßigen Verhaltens gegenüber einzelnen oder mehreren Arbeitnehmer:innen (dann: „kollektive Übung“) wird aufgrund ihrer dogmatischen Verflechtung mit der Haftung für hervorgerufenes Vertrauen zum Schluss diskutiert [D.].
I. Individuelle Fortsetzungszusage 1. Anforderungen an die Auslegung von Erklärungen der Arbeitgeber:innen Arbeitgeber:innen sind vertraglich zu einer Vertragsfortsetzung verpflichtet, wenn ihre Erklärungen oder ihr sonstiges Verhalten als feste Zusage auszulegen sind und damit „über ein bloß unverbindliches In-Aussicht-Stellen, Ankündigen, Be-
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fürworten oder Vorschlagen“ einer Fortbeschäftigung hinausgehen.1 Entscheidend ist, ob Arbeitnehmer:innen das Verhalten nach ihrem Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) als rechtsgeschäftliche, also mit Rechtsbindungswillen abgegebene Erklärung verstehen durften.2 Das ist natürlich stark einzelfallabhängig. Grundsätzlich gilt, dass an die Annahme einer bindenden Vertragsfortsetzungszusage hohe Anforderungen zu stellen sind, da die Vereinbarung einer Vertragsbefristung – mit Ausnahme einiger Fälle des § 14 I 2 Nr. 6 TzBfG – gerade auf das Interesse von Arbeitgeber:innen an einer flexiblen Arbeitsorganisation3 zurückgeht und Arbeitnehmer:innen diese Motivlage regelmäßig erkennen können. Nicht als rechtsgeschäftliche Zusage auszulegen sind daher bloße Absichtserklärungen oder in Aussicht gestellte Pläne von Arbeitgeber:innen. Arbeitnehmer:innen müssen nämlich damit rechnen, dass Arbeitgeber:innen die ihnen durch das Befristungsrecht eingeräumte Entscheidungsfreiheit nutzen und sich so lange wie möglich offenhalten möchten, ob das befristete Arbeitsverhältnis fortgesetzt wird oder nicht. In Übereinstimmung mit diesen Erwägungen hat auch das Hessische LAG im Jahr 2012 entschieden, dass es für die Auslegung als Zusage gem. §§ 133, 157 BGB nicht genüge, wenn ein Arbeitgeber einer Arbeitnehmerin kurz vor Ablauf des befristeten Arbeitsverhältnisses mitteile, sie solle nach drei Monaten neu eingestellt werden und es gebe bereits eine Liste für geplante Wiedereinstellungen, auf der die Arbeitnehmerin „ganz oben“ stehe. Aus den Äußerungen des Arbeitgebers ergebe sich gerade, dass die Vertragsfortsetzung „nur geplant war, aber noch nicht abschließend feststand“, sodass „lediglich die Hoffnung bestand, es könne zu einer Wiedereinstellung kommen.“4 Liegt der Befristung ein Sachgrund nach § 14 I TzBfG zugrunde, können Arbeitnehmer:innen Erklärungen der Arbeitgeber:innen außerdem regelmäßig nicht so verstehen, dass bereits eine vorbehaltlose vertragliche Bindung über das Fristende hinaus beabsichtigt ist. Jedenfalls bei einer Befristung aufgrund eines Sachgrunds, der einem vorübergehenden Interesse an der Arbeitsleistung generell oder der konkreten Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin Rechnung trägt,5 würde eine vorbehaltlose Fortsetzungszusage die tatsächliche Existenz des Sachgrunds kontraindizieren. Von einem derartig widersprüchlichen Handeln dürfen Arbeitnehmer:innen ohne eindeutige Anhaltspunkte nicht vernünftigerweise ausgehen. Es müssen daher eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich Arbeitgeber:innen bereits vorbehaltlos zum Abschluss eines Folgearbeitsvertrags verpflichten möchten. Solche Anhaltspunkte werden selten vorliegen.6 Häufiger 1
LAG Hamm, Urt. v. 29. 7. 2003 – 5 Sa 828/03, NZA 2004, 210, 212. Vgl. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 f. (Rn. 21 ff.). 3 Siehe dazu ausführlich oben 1. Kap. D. I. 2. a) bb). 4 LAG Hessen, Urt. v. 13. 8. 2012 – 16 Sa 1718/11, BeckRS 2012, 75091. 5 Siehe zu dieser Einordnung ausführlich oben 1. Kap. D. I. 2. a) bb). 6 Zu der problematischen und unsicheren Auslegung von unbedingten Wiedereinstellungszusagen siehe P. Schrader/G. Straube, NZA-RR 2003, 337, 340 ff. 2
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werden die Erklärungen der Arbeitgeber:innen so verstanden werden müssen, dass eine Reaktion auf Unwägbarkeiten im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses möglich bleiben soll; beispielsweise indem Arbeitgeber:innen den Abschluss des Folgearbeitsvertrags ausdrücklich oder konkludent von betrieblichen Gründen, wie der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens, einer ausstehenden Mittelzuweisung, dem Freiwerden von Dauerarbeitsplätzen, oder persönlichen Gründen, wie insbesondere der Bewährung abhängig machen oder die Zusage darauf beschränken, Arbeitnehmer:innen bei der Besetzung freier Arbeitsplätze bevorzugt einzustellen.7 2. Vertragliche Gestaltungsvarianten Eine vertragliche Bindung kann unterschiedliche Formen annehmen, je nach der Reife der Vertragsverhandlungen: Haben Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung mit einem nach §§ 133, 157 BGB unterstellten Rechtsbindungswillen zugesagt und stehen sämtliche Vertragsbedingungen bereits fest, beispielsweise da sich die Parteien darüber einig sind, dass sich bis auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses an seinem Inhalt nichts ändern soll,8 kann die Erklärung der Arbeitgeber:innen als bindendes Angebot i. S. v. § 145 BGB ausgelegt werden, das Arbeitnehmer:innen nach ihrem Belieben annehmen können.9 Arbeitnehmer:innen erhalten also das Recht, einen Arbeitsvertrag zu den bereits stipulierten Bedingungen zu begründen;10 ggf. ist die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags aber ausdrücklich oder durch Auslegung des Angebots durch den Eintritt bestimmter Umstände bedingt. Haben sich Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen noch nicht über alle Arbeitsbedingungen geeinigt, können sie sich gleichwohl durch Abschluss eines Vorvertrags zum späteren Abschluss des Arbeitsvertrags verpflichten.11 Es müssen lediglich die essentialia negotii, insbesondere Art und Ort der Arbeitsleistung sowie der Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme bestimmt oder jedenfalls bestimmbar sein.12 Üblicherweise wird der Vorvertrag durch die Zusage von Arbeitgeber:innen, ein Arbeitsverhältnis fortsetzen zu wollen, angetragen und von Arbeitnehmer:innen
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Vgl. P. Schrader/G. Straube, NZA-RR 2003, 337, 340. Vgl. M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 274. 9 Es kann hier wiederum zwischen Festofferte und Optionsvertrag unterschieden werden, siehe dazu M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 273 f.; P. Schrader/ G. Straube, NZA-RR 2003, 337, 338 f.; W. Zöllner, in: FS Floretta (1983), Der arbeitsrechtliche Vorvertrag, S. 455, 456 f. 10 Die Auslegung als Einräumung eines solchen „Optionsrechts“ als Normalfall nehmen an APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 119; P. Schrader/G. Straube, NZA-RR 2003, 337, 338; W. Zöllner, in: FS Floretta (1983), Der arbeitsrechtliche Vorvertrag, S. 455, 457. 11 Die Auslegung als Vorvertrag als Normalfall nehmen an NK KSchR/W. Mestwerdt, § 15 TzBfG Rn. 50; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 28; konkret für die Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse BAG, Urt. v. 9. 9. 1982 – 2 AZR 248/80, BeckRS 1982, 4937. 12 BAG, Urt. v. 16. 2. 1983 – 7 AZR 495/79, BeckRS 1983, 4996. 8
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nach Maßgabe des § 151 BGB angenommen.13 Damit die Erklärung von Arbeitgeber:innen als Antrag auf den Abschluss eines Vorvertrags ausgelegt werden kann, müssen aber besondere Umständen vorliegen, da hier nicht nur das im befristeten Arbeitsverhältnis typische Flexibilisierungsinteresse gegen die Annahme eines frühzeitigen Bindungswillens spricht, sondern noch zusätzlich begründungsbedürftig ist, wieso sich Arbeitgeber:innen schon binden möchten, wenn noch nicht einmal der Vertragsinhalt abschließend festgelegt wurde.14 Üblicherweise wird eine derartige Vorverlagerung der vertraglichen Bindung daher nur beidseitig vorgenommen, wenn beide Parteien ein Interesse daran haben, bereits im Vorfeld des Vertragsschlusses Sicherheit über die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu erlangen, und zu diesem Zweck wechselseitige Zugeständnisse machen. Der Abschluss eines Vorvertrags kommt danach wohl überwiegend dann in Betracht, wenn die Arbeitsleistung konkreter Arbeitnehmer:innen für Arbeitgeber:innen besonders wichtig ist; Zöllner nennt als typischerweise betroffene Berufsgruppen Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und leitende Angestellte.15 Liegen noch nicht alle rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen für den Abschluss des Hauptvertrags vor, kann der Vorvertrag auch eine Verpflichtung zur Beseitigung von Vertragshindernissen enthalten16 oder, falls die Parteien diese nicht beeinflussen können, der Vertrag unter einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung geschlossen werden. 3. Ergebnis: hohe Anforderungen an die Annahme einer vertraglichen Bindung Es sind also drei Stufen rechtsgeschäftlicher Bindung zu unterscheiden: die vertraglich nicht bindende Absichtserklärung (deren außervertragliche Implikationen durch die Schaffung eines Vertrauenstatbestands unten behandelt werden17), der Vorvertrag als Zusage, später einen inhaltlich noch zu konkretisierenden Arbeitsvertrag abzuschließen, sowie das bindende Angebot, den Folgearbeitsvertrag abzuschließen. An die Auslegung des Arbeitgeberverhaltens als rechtlich bindende Willenserklärung sind aufgrund der typischen Interessenlage im befristeten Arbeitsverhältnis hohe Anforderungen zu stellen. Häufiger als vorbehaltslose Fortsetzungszusagen werden Zusagen unter einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung vorkommen. Ist eine Erklärung als rechtsgeschäftlich bindende Zusage 13
NK KSchR/W. Mestwerdt, § 15 TzBfG Rn. 50. ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 254; vgl. BGH, Urt. v. 26. 3. 1980 – VIII ZR 150/79, NJW 1980, 1577, 1578. 15 W. Zöllner, in: FS Floretta (1983), Der arbeitsrechtliche Vorvertrag, S. 455, 458; über den Abschluss eines Vorvertrags mit einer Künstlerin urteilt auch BAG, Urt. v. 21. 3. 1974 – 3 AZR 187/73, AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 14. 16 LAG Hamm, Urt. v. 29. 7. 2003 – 5 Sa 828/03, NZA 2004, 210, 213; BAG, Urt. v. 21. 3. 1974 – 3 AZR 187/73, AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 14. 17 Siehe unten 2. Kap. C. 14
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auszulegen und sind alle ggf. bestehenden Bedingungen erfüllt, begründet sie einen einklagbaren Anspruch der Arbeitnehmer:innen.18 Im Fall des Abschlusses eines Vorvertrags ist der Anspruch auf die Abgabe einer Willenserklärung bezüglich des Arbeitsvertragsschlusses gerichtet,19 ansonsten auf den Vollzug des Arbeitsverhältnisses selbst.
II. Kollektivvertragliche Vereinbarungen Tarifvertragliche Regelungen zur Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge sind auf einzelne Beschäftigungsgruppen beschränkt: Verbreitet sind nur Klauseln zur Übernahme von Auszubildenden.20 Sofern in der Literatur auch auf Wiedereinstellungsklauseln in der Saisonbranche verwiesen wird, bezieht sich dies auf einen nicht mehr geltenden Tarifvertrag der Forstwirtschaft aus dem Jahr 1964.21 Die Tarifverträge im öffentlichen Dienst enthalten mit der Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT und § 30 II 2 TVöD Vorschriften, die Arbeitgeber:innen zur bevorzugten Berücksichtigung von befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen verpflichten. Fortsetzungsansprüche der Arbeitnehmer:innen ergeben sich nach einhelliger Ansicht aber nur gemäß Art. 33 II GG, wenn jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft wäre und der Arbeitsplatz im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch unbesetzt ist.22
III. Entfristungsfiktion des § 15 V TzBfG Gem. § 15 V TzBfG gilt ein befristetes Arbeitsverhältnis als auf unbestimmte Zeit verlängert, wenn es nach Fristablauf oder Zweckerreichung mit Wissen des Arbeitgebers fortgesetzt wird und der Arbeitgeber nicht unverzüglich widerspricht oder dem Arbeitnehmer die Zweckerreichung nicht unverzüglich mitteilt. Die Vorschrift stimmt inhaltlich mit § 625 BGB überein, der eine parallele Regelung für Dienstverhältnisse normiert.23 Die Entfristungsfiktion ist nach einhelliger Ansicht ein Tatbestand konkludenten Verhaltens kraft gesetzlicher Fiktion und beruht auf der 18 Die Zusage ist formfrei möglich, wenn nicht der Arbeitsvertrag selbst eine erweiterte Schriftformklausel enthält. Die Zusage ist keine „Nebenabrede“, die nach vielen Tarifverträgen (z. B. §§ 2 III 1 TVöD, 4 II BAT) der Schriftform bedarf (BAG, Urt. v. 9. 9. 1982 – 2 AZR 248/80, BeckRS 1982, 4937); DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 26. 19 BeckOK ArbR/J. Joussen, § 611a BGB Rn. 66. 20 KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 99; Boecken/Joussen/J. Joussen, § 15 TzBfG Rn. 100; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 36. 21 So z. B. APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 123 und KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 98, die dafür auf einen Tarifvertrag der Forstwirtschaft aus dem Jahr 1964 verweisen (§ 12.21 des Manteltarifvertrags für die staatlichen Forstbetriebe in Bayern). 22 BAG, Urt. v. 2. 7. 2003 – 7 AZR 529/02, NZA 2004, 1055, 1057 f. im Kontext des BAT. 23 So auch ausdrücklich BT-Drs. 14/4374, S. 21.
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Erwägung, dass das Stillschweigen von Arbeitgeber:innen unter den genannten Tatbestandsvoraussetzungen der Ausdruck einer Zustimmung ist.24 Zweck der Vorschrift ist es, einen vertragslosen Zustand aus Gründen der Rechtsklarheit zu vermeiden.25 Diesem Zweck und der Rechtsnatur als Fiktion entsprechend tritt die Rechtsfolge der Entfristung unabhängig vom Willen der Parteien ein,26 ist aber nicht anwendbar, wenn sie vor oder nach Fristablauf eine ausdrückliche oder konkludente Vereinbarung über das Schicksal des Arbeitsverhältnisses getroffen haben.27
C. Bindung durch die Schaffung eines Vertrauenstatbestands Für Arbeitgeber:innen kann es vorteilhaft sein, Arbeitnehmer:innen die Fortsetzung des befristeten Arbeitsvertrags ausdrücklich oder konkludent in Aussicht zu stellen. Dies wurde oben bereits dargestellt. Zur Erinnerung: Die Perspektive einer Vertragsfortsetzung, insbesondere einer Entfristung, kann Arbeitnehmer:innen dazu motivieren, ein befristetes Vertragsverhältnis überhaupt erst einzugehen, es kann ihre Bindung an ein Unternehmen und ihre Leistungsbereitschaft stärken und die Chancen auf ihre „Verfügbarkeit“ nach Fristablauf erhöhen. Eine rechtsgeschäftliche Bindung der Arbeitgeber:innen in Form einer vorbehaltlosen oder bedingten Wiedereinstellungszusage wird dennoch nur selten anzunehmen sein. Auch unterhalb der Schwelle vertraglicher Zusagen können Arbeitnehmer:innen aber auf die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse vertraut und entsprechend disponiert haben. Insbesondere werden Arbeitnehmer:innen, die auf eine Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse vertrauen, oft davon absehen, sich auf dem Arbeitsmarkt nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten umzuschauen. Dass Arbeitgeber:innen die geweckten Erwartungen enttäuschen, indem sie Arbeitsverhältnisse nicht fortsetzen, birgt für Arbeitnehmer:innen also erhebliche Risiken. Das gilt insbesondere, weil die Grenze zwischen rechtsgeschäftlich bindenden Zusagen und „bloßen“ vertrauenserweckenden Aussagen oft fließend und für Arbeitnehmer:innen schwer zu erkennen sind.28 In der Rechtsprechung und Literatur wurden in der Vergangenheit verschiedene Versuche unternommen, diese prekäre Situation dadurch zu entschärfen, dass Be24
BAG, Urt. v. 7. 10. 2015 – 7 AZR 40/14, NZA 2016, 358, 361 (Rn. 24); BAG, Urt. v. 18. 10. 2006 – 7 AZR 751/05, AP TzBfG § 14 Nr. 27 (Rn. 15); zum inhaltsgleichen § 625 BGB: BAG, Urt. v. 1. 12. 1960 – 3 AZR 588/58, AP BGB § 625 Nr. 1. 25 Vgl. zu § 625 BGB statt aller aus der Literatur APS/L. Backhaus, § 625 BGB Rn. 1 m. w. N. 26 So ausdrücklich BAG, Urt. v. 7. 10. 2015 – 7 AZR 40/14, NZA 2016, 358, 361 (Rn. 24); vgl. aus der Literatur APS/L. Backhaus, § 625 BGB Rn. 2. 27 BAG, Urt. v. 18. 10. 2006 – 7 AZR 751/05, AP TzBfG § 14 Nr. 27 (Rn. 15); vgl. zu § 625 BGB statt aller aus der Literatur MüKo BGB/M. Henssler, § 625 BGB Rn. 2. 28 Vgl. BGH, Urt. v. 8. 6. 1978 – III ZR 48/76, NJW 1978, 1802, 1804.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
grenzungen der Vertragsfortsetzungsfreiheit auch unterhalb der Schwelle vertraglicher Zusagen durch Vertrauensschutz anerkannt wurden. Ob und inwieweit diese Versuche mit der Vertrauensschutzkonzeption des BGB und der negativen Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen vereinbar sind, wird im Folgenden betrachtet.
I. Arbeitsrechtlicher Meinungsstand Das BAG hat sich seit den 1960er Jahren mit der Frage beschäftigt, ob Vertrauensschutzaspekte der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit Fristablauf entgegenstehen können. Die vom Großen Senat im Jahr 1960 in einem obiter dictum angestellte Erwägung, eine Berufung auf die Befristung des Arbeitsvertrags könne in „besonderen Fällen, etwa beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 226 BGB oder bei einem Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB“ unzulässig sein,29 hat der Zweite Senat in den Folgejahren um die Fallgruppe des Vertrauensschutzes erweitert und mit dieser Begründung mehrfach einen Wiedereinstellungsanspruch von Arbeitnehmer:innen nach Fristablauf erwogen: Die Berufung auf den Ablauf des befristeten Arbeitsverhältnisses sei dann eine unzulässige Rechtsausübung, wenn: *
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… ein Lehrer befristet zur Probe eingestellt wurde und nach Bewährung für das folgende Schuljahr wieder eingestellt werden sollte, der Folgevertrag aber nicht unmittelbar im Anschluss, sondern mit Unterbrechung während der Sommerferien abgeschlossen wird. Dieses Verhalten sei eine unzulässige Rechtsausübung, da der Lehrer nach dem Verhalten der Arbeitgeberin mit einem unmittelbar anschließenden Arbeitsvertrag habe rechnen können. Sein Anspruch auf nahtlose Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ergebe sich aus den vor- und nachvertraglichen Verpflichtungen des vorangehenden und des zukünftigen Arbeitsvertrags gem. § 242 BGB.30 … eine schwangere Arbeitnehmerin trotz voller Bewährung nicht fortbeschäftigt wurde, obwohl der schriftliche Anstellungsvertrag entsprechend den Bemühungen der Arbeitnehmerin auf eine Daueranstellung zugeschnitten war und die Befristungsabrede nur der Erprobung diente, die Arbeitnehmerin daher erwarten durfte, ihr Arbeitsverhältnis werde bei Bewährung entfristet.31 … ein Saisonarbeiter zehn Jahre befristet zur nächsten Saison wieder eingestellt worden ist, der Beginn der nächsten Saison bei Ende der letzten Saison am Schwarzen Brett bekannt gegeben worden ist und er das Weihnachtsgeld verbunden mit dem Wunsch für eine gute Zusammenarbeit im nächsten Jahr erhalten hat. Dieses Verhalten des Arbeitgebers könne einen Vertrauenstatbestand setzen,
29 30 31
BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – GS 1/59, NJW 1961, 798. BAG, Urt. v. 13. 12. 1962 – 2 AZR 38/62, (juris). BAG, Urt. v. 28. 11. 1963 – 2 AZR 140/63, NJW 1964, 567, 568.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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aufgrund dessen ein Wiedereinstellungsanspruch entweder unmittelbar aus § 242 BGB oder den Grundsätzen der betrieblichen Übung zu entnehmen sei.32 Es ist schwierig, in den Urteilen eine Rechtsprechungslinie zu identifizieren, da der Senat erstens die Schutzwürdigkeit des Vertrauens von Arbeitnehmer:innen anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt, ohne dabei einen verallgemeinerungsfähigen Maßstab aufzustellen, und zweitens die Rechtsgrundlage des Wiedereinstellungsanspruchs vage bleibt: Er rekurriert wahlweise auf die Figur der unzulässigen Rechtsausübung gem. § 242 BGB, auf vor- und nachvertragliche Nebenpflichten gem. § 242 BGB oder ggf. die Grundsätze der betrieblichen Übung. Die rechtsdogmatische Verzahnung all dieser Aspekte blieb unklar.33 Im Jahr 1989 hat sich der Zweite Senat implizit von seiner Rechtsprechungslinie abgewandt und in den folgenden Entscheidungen die Figur des Verschuldens bei Vertragsschluss bemüht. Ein Arbeitnehmer habe einen Fortsetzungsanspruch, „wenn sich der Arbeitgeber mit der Ablehnung der Weiterbeschäftigung zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch setzt und dadurch gegen Treu und Glauben verstößt. Es ist darauf abzustellen, ob der Arbeitgeber einen Vertrauenstatbestand gesetzt hat, der nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu einer Bindung des Arbeitgebers an den Arbeitsvertrag über die vorgesehene Befristung hinaus führen kann. Allerdings kann ein solcher Vertrauenstatbestand bei einem befristeten Arbeitsvertrag nur unter besonderen Voraussetzungen angenommen werden. Es genügt nicht, wenn der Arbeitnehmer nur subjektiv erwartet hat, der Arbeitgeber werde ihn nach Fristablauf weiterbeschäftigen. Der Arbeitgeber muß den Arbeitnehmer vielmehr darüber hinaus in dieser Erwartung durch sein Verhalten entweder bei Vertragsabschluß oder während der Dauer des Zeitvertrages eindeutig bestärkt haben.“34
Arbeitgeber:innen dürfen sich unter diesen Voraussetzungen nicht auf eine wirksame Befristung berufen, sondern seien wegen Verschuldens bei Vertragsschluss zum Schadensersatz verpflichtet. Da der Schaden im Nichtabschluss des Arbeitsvertrags bestehe, sei dieser als Naturalrestitution nach § 249 BGB ersatzfähig.35 Diese Rechtsprechung hat der siebte Senat in den folgenden Jahren in ständiger Rechtsprechung fortgeführt.36 Eine Rechtsprechungswende37 hat das BAG im Jahr 2006 vollzogen: Ansprüche auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen ergäben sich nicht allein aufgrund der Inanspruchnahme von Vertrauen, da zu Unrecht enttäuschtes Vertrauen nur zum Ersatz des Vertrauensschadens verpflichte. Fortset32
BAG, Urt. v. 29. 1. 1987 – 2 AZR 109/86, AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1. Darauf weist auch H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), S. 310, hin. 34 BAG, Urt. v. 16. 3. 1989 – 2 AZR 325/88, NZA 1989, 719, 721 f. 35 BAG, Urt. v. 16. 3. 1989 – 2 AZR 325/88, NZA 1989, 719, 721 f. 36 BAG, Urt. v. 19. 1. 2005 – 7 AZR 250/04, NZA 2005, 873, 876 f.; BAG, Urt. v. 24. 10. 2001 – 7 AZR 620/00, NZA 2003, 153, 155; BAG, Urt. v. 20. 1. 1999 – 7 AZR 93/98, BeckRS 2009, 55091; BAG, Urt. v. 26. 6. 1996 – 7 AZR 662/95, BeckRS 1996, 41230; BAG, Urt. v. 26. 4. 1995 – 7 AZR 936/94, NZA 1996, 87, 89. 37 Der Senat selbst spricht von einer „Präzisierung“ seiner Rechtsprechung, BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 28 (Rn. 18). 33
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zungsansprüche ergäben sich stattdessen nur aus einer vertraglichen Erneuerung des Arbeitsverhältnisses, wenn Erklärungen oder Verhaltensweisen der Arbeitgeber:innen als darauf bezogene Zusage auszulegen sind.38 Dieser Ansicht ist im arbeitsrechtlichen Schrifttum zugestimmt worden: Die Annahme von Fortsetzungsansprüchen als Folge einer unzulässigen Rechtsausübung oder nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo sei systemwidrig, da keines der Rechtsinstitute den Anspruch auf einen Vertragsschluss als Rechtsfolge beinhalte.39
II. Nichtfortsetzung als unzulässige Rechtsausübung gem. § 242 BGB Es wird zuerst untersucht, ob die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse eine „unzulässige Rechtsausübung“ i. S. v. § 242 BGB sein kann. „Unzulässige Rechtsausübung ist jede Geltendmachung eines ,an sich‘ gegebenen Rechts und jede Ausnutzung einer ,an sich‘ bestehenden günstigen Rechtsposition oder Rechtslage im Widerspruch zu den Anforderungen von § 242“.40 Das Festhalten an der durch eine wirksame Befristungsabrede vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses könnte danach ein unzulässiges, da treuwidriges Verhalten von Arbeitgeber:innen sein, wenn es im Widerspruch zu geweckten Erwartungen in die Vertragsfortsetzung steht. Handeln im Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten ist für sich genommen jedoch nicht rechtsmissbräuchlich, da es unterhalb der Schwelle rechtsgeschäftlicher Bindung jedem Rechtssubjekt freisteht, die eigene Meinung zu ändern. Treuwidrig und damit unzulässig gem. § 242 BGB wird eine Rechtsausübung erst, wenn das frühere gegensätzliche Verhalten schutzwürdiges Vertrauen bei der Gegenseite darauf geschaffen hat, dass eine Rechtsposition nicht (auf eine bestimmte Weise) ausgeübt werde und sich die Gegenseite darauf eingerichtet hat.41 Das vertrauenserweckende frühere Verhalten kann insbesondere in Mitteilungen oder Erklärungen unterhalb der Schwelle rechtsgeschäftlicher Bindung liegen.42 Nach diesen Grundsätzen könnten sich auch Arbeitgeber:innen rechtsmissbräuchlich verhalten, wenn sie durch Äußerungen oder sonstige Handlungen bei Vertragsschluss oder während der Vertragslaufzeit den Vertrauenstatbestand schaffen, ein Arbeitsvertrag werde nach Befristungsende fortgesetzt. Es ist allerdings 38
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 319 (Rn. 21); BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 28 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 26. 4. 2006 – 7 AZR 190/05, AP BGB § 611 Wiedereinstellung Nr. 1. 39 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 106 ff.; S. Braun, ZTR 2007, 78; M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 277 ff.; NK KSchR/W. Mestwerdt, § 15 TzBfG Rn. 49; ErfK/R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 9; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 15. 40 Jauernig/H.-P. Mansel, § 242 BGB Rn. 32. 41 BeckOGK/L. Kähler, § 242 BGB Rn. 1270 ff.; NK BGB/P. Krebs, § 242 BGB Rn. 92; vgl. BGH, Urt. v. 4. 2. 2015 – VIII ZR 154/14, NJW 2015, 1087, 1088 (Rn. 17). 42 NK BGB/P. Krebs, § 242 BGB Rn. 95.
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schon zweifelhaft, ob das Vertrauen von Arbeitnehmer:innen in die Fortsetzung tatsächlich schutzwürdig ist, wenn sich die Vertrauenserweckung nur auf die Abschlussbereitschaft von Arbeitgeber:innen im Moment der Erklärung bezieht und sich Arbeitnehmer:innen mangels rechtsgeschäftlicher Bindung nicht sicher sein können, dass es in der Zukunft tatsächlich zum Vertragsschluss komme.43 Unabhängig von dieser Frage ist die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen nach der funktionellen Struktur des § 242 BGB aber keine Fallgruppe unzulässiger Rechtsausübung. Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens aufgrund eines geschaffenen Vertrauenstatbestands begründet nämlich nur eine Einwendung einer vertrauenden Person gegen die Rechtsausübung des widersprüchlich handelnden Kontrahenten. Wenn sich der widersprüchlich handelnde Kontrahent auf eine Rechtslage oder eine Rechtsausübung beruft, versagt § 242 BGB den Eintritt entsprechender Rechtwirkungen oder Rechtsfolgen: Ein Anspruch kann dann nicht geltend gemacht werden oder gegnerischen Rechten können keine für den Rechtsausübenden günstigen Rechte, z. B. Einwendungen und Einreden, entgegengehalten werden.44 Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung aufgrund widersprüchlichen Verhaltens ist also ein Abwehrrecht; es beschränkt die Rechte widersprüchlich handelnder Personen.45„Klassischer“ Fall ist wohl, dass eine sich widersprüchlich verhaltende Person selbst einen Anspruch geltend macht, § 242 BGB aber eine rechtsvernichtende Einwendung der vertrauenden Person begründet. Darüber hinaus kann § 242 BGB zwar auch der Durchsetzung eines Anspruchs der vertrauenden Person dienen, indem es dem widersprüchlich Handelnden versagt, sich auf eine für ihn günstige Rechtslage zu berufen. Allerdings bedarf es für die Stattgabe eines Rechts einer Anspruchsgrundlage aus einem anderen Rechtsgrund als § 242 BGB selbst. Das Gebot von Treu und Glauben statuiert nämlich keine allgemeine Vertrauenshaftung, sondern gestaltet eine bestehende Verbindlichkeit aus und schafft keine davon unabhängigen Pflichten.46 Geschützt wird das Vertrauen darauf, dass bereits bestehende Rechte nicht durch treuwidriges Verhalten entzogen werden. Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens beseitigt also nur den an sich bestehenden Anspruch hindernde Rechtstatsachen; die Figur der unzulässigen Rechtsausübung ist „Schild, nicht Schwert“.47 Die Anwendung der Grundsätze unzulässiger Rechtsausübung gem. § 242 BGB würde also nur verhindern, dass sich Arbeitgeber:innen auf die durch die Befris43
Siehe ausführlich unten 2. Kap. C. III. 2. b) cc) (1) (a). MüKo BGB/C. Schubert, § 242 BGB Rn. 221. 45 NK BGB/P. Krebs, § 242 BGB Rn. 70. 46 BeckOGK/L. Kähler, § 242 BGB Rn. 597. 47 BeckOK BGB/H. Sutschet, § 242 BGB Rn. 53. Abzugrenzen ist die Figur der unzulässigen Rechtsausübung damit von anderen Fallgruppen des § 242 BGB, in denen Rechte aufgrund von § 242 BGB originär entstehen können und an die daher andere Anforderungen zu stellen sind. Die Begründung eines Anspruchs kann beispielsweise aus den Grundsätzen der Rechtsscheinhaftung folgen, die dafür aber voraussetzt, dass Vertrauen in eine aktuelle Rechtslage hervorgerufen wird, vgl. C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 495. 44
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
tungsabrede gestaltete Rechtslage berufen, wenn Arbeitnehmer:innen aus einem anderen Rechtsgrund einen Anspruch auf Vertragsfortsetzung geltend machen. Das widersprüchliche Verhalten von Arbeitgeber:innen und das schützenswerte Vertrauen von Arbeitnehmer:innen allein verpflichten weder Arbeitgeber:innen direkt zur Vertragsfortsetzung, noch begründen sie einen entsprechenden Anspruch der Arbeitnehmer:innen auf Abschluss eines Folgevertrags.48 Es ergibt sich also keine Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit aus § 242 BGB unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung, da sie bloß ein Abwehrmechanismus zugunsten der Vertrauenden und nicht Grundlage neuer Pflichten und Ansprüche ist.49
III. Nichtfortsetzung als Verletzung vorvertraglicher Rücksichtnahmepflichten Vertrauen in das Zustandekommen eines Vertrags wird speziell durch die Grundsätze der culpa in contrahendo geschützt. Während das Verbot unzulässiger Rechtsausübung bereits bestehende Verpflichtungen ausgestaltet,50 wurzelt der Schutz von Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss in der vorvertraglichen Sphäre. Haben Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bereits Vertragsverhandlungen i. S. v. § 311 II Nr. 1 BGB bezüglich der Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses aufgenommen [1.], erwachsen daraus Rücksichtnahmepflichten, deren Verletzung in Schadensersatzpflichten resultieren kann [2.]. 1. Bestehen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses Ein vorvertragliches Schuldverhältnis kann nicht bereits aufgrund eines existierenden befristeten Arbeitsverhältnisses angenommen werden, da seine Fortsetzung einen neuen Vertragsschluss voraussetzt. Stattdessen müssen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bei Begründung des befristeten Vertrags oder während seiner Durchführung über eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach Fristablauf „verhandelt“ haben. Für die Annahme von Vertragsverhandlungen ist ein gemeinsamer, aktiver Austausch über einen späteren Vertragsabschluss erforderlich. Die 48
Vgl. BeckOK BGB/H. Sutschet, § 242 BGB Rn. 133; ebenso im Kontext des Wiedereinstellungsanspruchs nach Kündigung: D. Elz, Der Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers nach Wegfall des Kündigungsgrundes (2002), S. 54; A. Nicolai/S. Noack, ZfA 2000, 87, 94 f. 49 Eine Begründung neuer Ansprüche kommt nach den Grundsätzen der Rechtsscheinhaftung in Betracht, die aber das Vertrauen in eine bestehende Rechtslage voraussetzt und nicht schon bei dem Vertrauen in ein zukünftiges Ereignis greift; für diesen zukünftigen Umstand spricht nämlich kein „,Schein‘, sondern allenfalls eine ,Wahrscheinlichkeit‘“, C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 495. 50 Siehe oben 2. Kap. C. II.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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Gespräche müssen noch nicht die Qualität von Willenserklärungen haben, aber verbindlicher sein als reine Vorgespräche, die sich im bloßen Austausch über wechselseitige Interessen erschöpfen.51 Verhandlungen über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses i. S. v. § 311 II Nr. 1 BGB setzen also regelmäßig voraus, dass Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in gemeinsam über eine Fortsetzung gesprochen haben. Es genügt weder eine bloße Interessenbekundung einer der Kontrahenten noch eine vertrauenserweckende einseitige Äußerung. Stattdessen sind wechselseitige Erklärungen erforderlich, eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses konkret zu verhandeln. Das erforderliche Maß an Verbindlichkeit wird umso eher anzunehmen sein, näher die Gespräche am Zeitpunkt des Fristablaufs stattfinden. Dass Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in schon bei Abschluss des fortzusetzenden Vertrags über eine anschließende Fortsetzung „verhandeln“, wird insbesondere bei sachgrundlosen Befristungen gem. § 14 II TzBfG in Betracht kommen, die oft als verlängerte Probezeit mit der Perspektive einer Entfristung genutzt werden. 2. Haftung für die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten Haben Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in bereits Verhandlungen über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses aufgenommen, sind sie einander nach § 311 II BGB zur Rücksichtnahme gem. § 241 II BGB verpflichtet. Die Rücksichtnahmepflicht kann dadurch verletzt werden, dass eine Vertragspartei Vertrauen bei der anderen Partei erzeugt hat, ein Vertrag werde zustande kommen, diesen dann aber doch nicht abschließt. In der Rechtsprechung und Literatur wird dieser Sachverhalt typischerweise in zwei verschiedene Verhaltenskonstellationen unterschieden, die eigene Haftungsgründe und -folgen haben: erstens das treuwidrige Hervorrufen von Vertrauen, über dessen rechtliche Handhabung weitgehend Einigkeit besteht [a)], sowie zweitens den Abbruch von Verhandlungen ohne triftigen Grund, dessen rechtliche Bewertung stark umstritten ist [b)]. a) Unproblematischer Fall: Haftung für treuwidriges Hervorrufen von Vertrauen aa) Haftungstatbestand: Treuwidriges Hervorrufen von Vertrauen Nach der Rechtsprechung und der Literatur verhält sich eine Vertragspartei treuwidrig, wenn sie beim Gegenüber falsche Vorstellungen über die eigene Abschlussbereitschaft hervorruft oder aufrechterhält, indem sie die eigene Bereitschaft zum Vertragsschluss nicht nur als möglich, sondern ausdrücklich oder konkludent als sicher hingestellt hat, obwohl sie von Anfang an oder im Laufe der Verhandlungen
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MüKo BGB/V. Emmerich, § 311 BGB Rn. 44.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
nicht (mehr) zum Vertragsschluss bereit war.52 Das Verdikt der Treuwidrigkeit dieses Verhaltens beruht auf der Annahme einer entsprechenden Aufklärungspflicht beider Vertragsparteien über die innere Bereitschaft zum Vertragsschluss. Zwar gehört es zum Prozess der Vertragsaushandlung dazu, dass die Parteien gewisse Informationen für sich behalten, um die andere Partei zu einem für sie selbst günstigen Vertragsschluss zu bewegen. Insbesondere kann es eine wirtschaftlich sinnvolle Betätigung der eigenen Vertragsfreiheit sein, eine eigene Unentschlossenheit vorzugeben, um ein weiteres Entgegenkommen des Verhandlungspartners zu provozieren. Küpper bezeichnet diese Verhandlungsnormalität als erlaubte „Täuschungsspanne“.53 Das wahrheitswidrige Vorspiegeln der eigenen Abschlussbereitschaft zielt hingegen gerade nicht auf eine Einigung ab und bewegt sich damit von einem Verständnis der Verhandlungen als Prozess der Kompromissfindung weg. Eine Verhandlungspartei darf daher darauf vertrauen, dass auch die Gegenseite mit dem Ziel einer vertraglichen Einigung verhandelt und über wesentliche Umstände, die den Vertragszweck gefährden, aufklärt.54 Nur so kann sie selbst informiert und frei darüber entscheiden, ob sie Dispositionen trifft, durch die sie sich faktisch selbst bindet.55 Nach diesen Grundsätzen gebietet die Rücksichtnahmepflicht gem. § 241 II BGB Arbeitgeber:innen, einen Vertragsschluss im Rahmen von Verhandlungen nur dann als sicher hinzustellen, wenn sie selbst abschlussbereit sind, sowie Arbeitnehmer:innen über einen späteren Wegfall der Abschlussbereitschaft aufzuklären. Ansonsten verhalten sich Arbeitgeber:innen treuwidrig. Darin liegt der Haftungstatbestand dieser Fallgruppe der culpa in contrahendo. Der spätere Abbruch von Verhandlungen ist nur das „haftungsauslösende Moment.“56 Auch das für eine Haftung aus culpa in contrahendo grundsätzlich erforderliche Verschulden muss sich auf die Vertrauenserweckung beziehen. Schuldhaft handeln Arbeitgeber:innen also dann, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig die eigene Vertragsabschlussbereitschaft vorgeben oder einen späteren Sinneswandel vorsätzlich oder fahrlässig verschwiegen haben. Wann die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen als sicher und nicht nur als wahrscheinlich hingestellt wurde, ist eine Frage der Einzelfallbetrachtung. Es kommen nicht nur explizite Erklärungen, sondern auch konkludentes Verhalten in 52 St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 18. 10. 1974 – V ZR 17/73, NJW 1975, 43, 43 f.; aus jüngerer Zeit BGH, Urt. v. 9. 11. 2012 – V ZR 182/11, NJW 2013, 928, 929 (Rn. 8); J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 147; MüKo BGB/V. Emmerich, § 311 BGB Rn. 176; W. Flume, BGB AT/II (1992), S. 617; B. Grunewald, JZ 1984, 708, 710 f.; Soergel/ J. D. Harke, § 311 BGB Rn. 57; BeckOGK/C. Herresthal, § 311 BGB Rn. 367; D. Kaiser, JZ 1997, 448, 449 f.; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 185; D. Reinicke/K. Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1093 f.; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 397 f.; J. Wertenbruch, ZIP 2004, 1525, 1528 f. 53 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 184. 54 Vgl. BGH, Urt. v. 8. 6. 1978 – III ZR 48/76, NJW 1978, 1802, 1804 f. 55 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 179; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 397. 56 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 179.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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Betracht. So können beispielsweise die vorbehaltslose Einplanung in über das Vertragsende hinausgehende Projekte oder die Berücksichtigung bei der betrieblichen Urlaubsplanung Indizien für eine Vertragsfortsetzung darstellen, die zwar nicht für sich allein, aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als konkludente Erklärung sicherer Vertragsbereitschaft aufgefasst werden können. Eine feste Bereitschaft zur Vertragsfortsetzung erklären Arbeitgeber:innen außerdem dann konkludent, wenn sie Arbeitnehmer:innen zu Dispositionen veranlassen, die nur im Falle eines Vertragsschlusses sinnvoll sind. Eine solche Disposition kann beispielsweise der Verzicht auf ein anderes Arbeitsverhältnis sein. Halten Arbeitgeber:innen Arbeitnehmer:innen davon ab, eine andere Beschäftigung zu suchen oder anzutreten, dürfen Arbeitnehmer:innen das Verhalten der Arbeitgeber:innen so verstehen, dass sie zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses entschlossen sind.57 bb) Rechtsfolge: Ersatz des negativen Interesses Rechtsfolge der Verletzung einer Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 311 II, 241 II BGB ist die Verpflichtung zum Schadensersatz nach den allgemeinen Regeln. Gem. § 249 I BGB müssen Arbeitgeber:innen daher den Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Auch ohne das treuwidrige Hervorrufen von Vertrauen wäre der Folgearbeitsvertrag nicht geschlossen worden; das bringen Arbeitgeber:innen durch ihre fehlende Abschlussbereitschaft und den Abbruch der Verhandlungen ja gerade zum Ausdruck.58 Ein Ersatz des positiven Interesses, insbesondere gerichtet auf Naturalrestitution in Form eines Vertragsschlusses, scheidet daher nach ganz herrschender Ansicht aus.59 Stattdessen ist der Vertrauensschaden zu ersetzen, den Arbeitnehmer:innen im Vertrauen auf die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erlitten haben.60 Als Vertrauensschaden kommen alle Aufwendungen in Betracht, die Arbeitnehmer:innen im Vertrauen auf den Vertragsschluss tätigen durften und die aufgrund der Vertragsverweigerung ihren Zweck verfehlen.61 Tätigen „dürfen“ Arbeitnehmer:innen dabei Aufwendungen, die angemessen sind, da sie eine verständige Person nach der
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Vgl. R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 309. Zum umgekehrten Fall, dass potentielle neuer Arbeitgeber:innen die Kündigung des alten Arbeitsverhältnisses veranlassen BAG, Urt. v. 15. 5. 1974 – 5 AZR 393/73, AP BGB § 276 Verschulden bei Vertragsabschluß Nr. 9. 58 Vgl. D. Reinicke/K. Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1094. 59 Soergel/J. D. Harke, § 311 BGB Rn. 57; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 267; vgl. zum Abbruch formbedürftiger Verträge D. Kaiser, JZ 1997, 448, 453. 60 Vgl. BGH, Urt. v. 8. 6. 1978 – III ZR 48/76, NJW 1978, 1802, 1804 f. 61 Vgl. BGH, Urt. v. 7. 2. 1980 – III ZR 23/78, NJW 1980, 1683, 1684; BeckOGK/ C. Herresthal, § 311 BGB Rn. 337 ff.; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 273.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Art und dem Ausmaß der jeweiligen Verhandlungs- und Vertrauenslage vornehmen würde (vgl. § 254 BGB).62 Da Arbeitnehmer:innen bereits auf dem Arbeitsplatz tätig sind, müssen sie zum Zwecke der Fortführung des Arbeitsverhältnisses wohl nur selten Anschaffungen tätigen, beispielsweise eine Wohnung an dem Arbeitsort anmieten oder neue Arbeitsutensilien kaufen. Praktisch relevanter ist daher die Frage nach dem Ersatz entgangenen Gewinns aus einem anderen Arbeitsverhältnis, auf dessen Abschluss Arbeitnehmer:innen im Vertrauen auf die Fortsetzung des innegehabten Arbeitsverhältnisses verzichtet haben. Der entgangene Verdienst ist nach allgemeinen Grundsätzen als Vertrauensschaden ersatzfähig.63 Nach der Differenzhypothese muss dafür grundsätzlich feststehen, dass Arbeitnehmer:innen einen anderen Arbeitsvertrag abgeschlossen und angetreten hätten, wenn sie nicht auf die Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses vertraut hätten. Den Beweis darüber erleichtert § 252 S. 2 BGB:64 Als entgangen gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Geschädigte müssen nur „Anknüpfungstatsachen“ beweisen, aufgrund derer eine „gewisse Wahrscheinlichkeit“65 für die hypothetische Erzielung eines Gewinns in einer gewissen Höhe spricht; sie muss wahrscheinlicher als das Ausbleiben sein.66 (1) Aus einem konkreten Vertragsschluss entgangener Gewinn „Getroffene Anstalten und Vorkehrungen“ i. S. v. § 252 S. 2 BGB sind insbesondere Vertragsverhandlungen mit anderen Arbeitgeber:innen. Dass Arbeitnehmer:innen ohne Vertrauensinvestition in die Vertragsfortsetzung einen Gewinn erzielt hätten, konnte jedenfalls dann mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden, wenn Arbeitnehmer:innen bereits das Angebot anderer Arbeitgeber:innen erhalten haben.67 Der aus solchen Arbeitsverträgen entgangene Gewinn ist daher ersatzfähig. Haben Arbeitnehmer:innen einen anderen Arbeitsvertrag abgeschlossen, nachdem sie von der Nichtfortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses erfahren haben, ist der daraus erzielte Gewinn gemäß § 249 I BGB anzurechnen. Haben Arbeitnehmer:innen in vorwerfbarer Weise unterlassen, Gewinne aus einem anderen Ar62 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 274, 285; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 428; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 86. 63 Spezifisch zum entgangenen Arbeitsentgelt: M. Löwisch/D. Kaiser, Anmerkung zu AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1; NK KSchR/W. Mestwerdt, § 15 TzBfG Rn. 49; DHSW/ C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 15; allgemein zu entgangenem Gewinn: M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 83; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 273; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 428. 64 Zur Einordnung des § 252 S. 2 BGB als Beweiserleichterung statt aller MüKo BGB/ H. Oetker, § 252 BGB Rn. 30. 65 BGH, Urt. v. 8. 5. 2012 – XI ZR 262/10, NJW 2012, 2427, 2433 (Rn. 64). 66 Vgl. BGH, Urt. v. 6. 6. 2000 – VI ZR 172/99, NJW 2000, 3287, 3288. 67 Vgl. MüKo BGB/V. Emmerich, § 311 BGB Rn. 213.
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beitsverhältnis zu erzielen, kann ihnen ein Mitverschulden bei der Schadensentstehung nach §§ 254 I, II 1 Var. 2 BGB angelastet werden.68 (2) Aus nicht verwerteter Arbeitskraft entgangener Gewinn Da Vertragsangeboten üblicherweise Bewerbungen von Arbeitsuchenden vorausgehen und sich Arbeitnehmer:innen, die auf die Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses vertrauen, oft nicht um einen anderen Arbeitsplatz bewerben, ist für die Praxis entscheidend, ob auch unterhalb der Schwelle eines konkret in Aussicht gestellten Vertrags die Gewinne aus unterlassenen Arbeitsverhältnissen ersatzfähig sind, weil Arbeitnehmer:innen sich ohne Vertrauensinvestition um andere Arbeitsplätze beworben hätten. Der Vertrauensschaden besteht insofern nicht in einem konkret ausgeschlagenen Vertragsschluss, sondern darin, dass Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitskraft nicht gewinnbringend verwerten konnten, da sie von dem Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse ausgegangen sind und sich nicht rechtzeitig um eine andere Anstellung bemüht haben. Ob und in welcher Höhe Gewinn aus einem anderen Arbeitsverhältnis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, ist eine Frage der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall. Es kann hier auf die vom BGH entwickelten Grundsätze zum Erwerbsschaden infolge von fremdverschuldeter Arbeitsunfähigkeit gem. § 252 S. 2 BGB i. V. m. § 287 ZPO zurückgegriffen werden:69 Danach müssen Arbeitnehmer:innen so weit wie möglich konkrete Anhaltspunkte dafür darlegen, wie schnell und zu welchen Konditionen sie einen neuen Arbeitsplatz gefunden hätten.70 Besondere Umstände, die (nach § 252 S. 2 Var. 2 BGB) für die Prognose der beruflichen Entwicklung zu berücksichtigen sind, stellen insbesondere die bisherige Ausbildung und berufliche Laufbahn (inklusive Umfang und Zeiten der Beschäftigung) der Arbeitnehmer:innen dar.71 Ohne konkrete Anhaltspunkte können und müssen Gerichte auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge ab- und Arbeitnehmer:innen einen durchschnittlichen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt unterstellen und aufgrund dieser Prognose die entgangenen Einnahmen kalkulieren (§ 252 S. 2 Var. 1 BGB).72 Anders als in den Fällen dauerhafter Arbeitsunfähigkeit ist der Gewinn hier nach der Differenzhypothese nur zeitlich begrenzt ersatzfähig, nämlich nur insoweit, als er Arbeitnehmer:innen bei pflichtgemäßem Verhalten der Arbeitgeber:innen nicht entgangen wäre. Klären Arbeitgeber:innen die Arbeitnehmer:innen so rechtzeitig 68
Kurz, statt aller: Palandt/C. Grüneberg, § 254 BGB Rn. 39. Ausführlich F. Pardey, Berechnung von Personenschäden (2010), S. 332 ff. 70 Vgl. zu den Anforderungen an den Beweisgrad BGH, Urt. v. 5. 10. 2010 – VI ZR 186/08, NJW 2011, 1148, 1149 (Rn. 18) m. w. N. 71 Vgl. st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 6. 6. 2000 – VI ZR 172/99, NJW 2000, 3287, 3288; LAG Düsseldorf, Urt. v. 5. 10. 2010 – 1 U 244/09, NJW 2011, 1152, 1153. 72 Vgl. st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 6. 6. 2000 – VI ZR 172/99, NJW 2000, 3287, 3288; BGH, Urt. v. 5. 10. 2010 – VI ZR 186/08, NJW 2011, 1148, 1149 (Rn. 21). 69
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
vor Vertragsende über ihre fehlende Abschlussbereitschaft auf, dass Arbeitnehmer:innen sich noch rechtzeitig um andere Arbeitsplätze bewerben können, wird die Pflichtverletzung nicht kausal für einen Erwerbsschaden der Arbeitnehmer:innen. Je länger Arbeitgeber:innen aber ihre Abschlussbereitschaft in vorwerfbarer Weise vorspiegeln und je weniger Zeit Arbeitnehmer:innen bleibt, um eine alternative Beschäftigung nach Fristablauf zu suchen, desto eher kommt eine Ersatzpflicht in Betracht. Der Umfang des Erwerbsschadens ergibt sich dann aus einem Vergleich der Lage, die bestanden hätte, wenn Arbeitnehmer:innen nicht von der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ausgegangen wären mit der Lage, die besteht, nachdem Arbeitnehmer:innen von dem fehlenden Abschlusswillen erfahren. Auch diese Einschätzung obliegt einer richterlichen Einschätzung nach den oben genannten Grundsätzen. Die Ersatzpflicht beschränkt sich damit bei Anwendung der Differenzhypothese auf einen Verzögerungsschaden. b) Problemfall: Haftung für grundlosen Abbruch der Verhandlungen ohne triftigen Grund Von den Fällen treuwidrigen Hervorrufens von Vertrauen sind Situationen zu unterscheiden, in denen Arbeitgeber:innen bei Aufnahme der Verhandlungen abschlussbereit waren und Arbeitnehmer:innen auch direkt nach einem Sinneswandel, der auch erst kurz vor Fristende eintreten kann, darüber informieren. Bei Erklärung ihrer Abschlussbereitschaft haben Arbeitgeber:innen sich also nicht pflichtwidrig verhalten. Ob eine Haftung dennoch in Betracht kommt, und, falls ja, auf welches Interesse ein Schadensersatzanspruch gerichtet ist, ist umstritten. Die wohl herrschende Meinung im Schrifttum bejaht eine Haftung mit unterschiedlicher dogmatischer Anknüpfung [aa)], aber mit Einigkeit über die Haftungsvoraussetzungen [bb)]. Eine Auseinandersetzung mit den ablehnenden Stimmen aus dem Schrifttum geschieht im Rahmen der Stellungnahme [cc)]. aa) Meinungsstand: Haftungsgrund und -voraussetzungen (1) Ansicht der Rechtsprechung Im Jahr 1969 hat der BGH eine verschuldensunabhängige Haftung in Anlehnung an § 122 BGB angenommen. Ein Verhandlungsabbruch als solcher könne keinen Verstoß gegen vorvertragliche Sorgfaltspflichten begründen, da der Vertragspartner „aus keinem Rechtsgrund verpflichtet [war], weiterzuverhandeln und den Vertrag zu schließen.“ Eine Schadensersatzpflicht sei zu bejahen, wenn der Vertragspartner sich „bei den Verhandlungen aber tatsächlich so verhalten hat, daß der andere Teil berechtigterweise auf das Zustandekommen des Vertrages mit dem ausgehandelten Inhalt vertrauen durfte und vertraut hat. Lehnt er den Vertragsabschluß am Ende dennoch ohne triftigen Grund ab und enttäuscht er damit das erweckte Vertrauen des anderen, so ist die Sach- und Rechtslage dem Falle ähnlich, in dem ein Vertrag zwar wirksam zustandegekommen ist, der eine Teil aber nachträglich seine Erklärungen wegen Irrtums anficht. Hier wie da ist es
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sachgerecht, daß der in seinem Vertrauen auf die (entstandene oder erwartete) vertragliche Bindung enttäuschte Teil von dem anderen die wirtschaftlichen Nachteile ersetzt verlangen kann, die er infolge dieses Vertrauens auf sich genommen hat (vgl. § 122 BGB).“73
Folge dieser verschuldensunabhängigen Vertrauenshaftung war also der Ersatz des negativen Interesses des Vertrauenden. In den folgenden Jahren hat sich der BGH in verschiedenen Urteilen nicht in der Begründung, aber im Ergebnis ähnlich geäußert: Die vorvertragliche Rücksichtnahmepflicht verlange, dass ein Vertragspartner „die Vertragsverhandlungen nicht grundlos (ohne triftigen Grund, aus sachfremden Erwägungen) abbricht, wenn er zuvor das Vertrauen des anderen Teils, der Vertrag werde mit Sicherheit Zustandekommen [sic], erweckt hat.“74 Der BGH begründet eine Haftung hier also nicht mehr mit einer Vertrauenshaftung in Anlehnung an § 122 BGB, sondern argumentiert mit einer echten vorvertraglichen Rücksichtnahmepflicht, die dann durch den Abbruch der Verhandlungen verletzt werde, wenn vorher Vertrauen geschaffen wurde. In der Sache ändert sich dennoch nicht viel: Für eine Haftung genügt nach Ansicht des Gerichtshofs nämlich, dass das Vertrauen zurechenbar hervorgerufen wurde, ohne dass dies schuldhaft geschehen sein muss.75 Ob der nachfolgende Verhandlungsabbruch schuldhaft gewesen sein muss, bespricht der BGH nicht. Auch in den Rechtsfolgen weicht er nicht von der Entscheidung aus dem Jahr 1969 ab: Eigentlich würde eine Berechnung des Schadensersatzes nach der Differenzmethode gem. § 249 I BGB zwar zu einem Ersatz des positiven Interesses führen. Der zum Ersatz verpflichtende Umstand ist hier nämlich der Abbruch der Verhandlungen; der Zustand, der ohne Abbruch bestehen würde, ist je nach Reife der Verhandlungen entweder die Fortführung der Verhandlungen oder gar der Abschluss des Vertrags. Dennoch kann nach Ansicht des BGH beim Abbruch von Vertragsverhandlungen kein Erfüllungsinteresse ersetzt werden: „Es würde aber zu weit gehen, allein aus einer derartigen vorvertraglichen Pflichtwidrigkeit herzuleiten, daß der nicht mehr abschlußwillige Partner, obwohl er sich bis dahin gerade noch nicht gebunden hatte, keine Entschließungsfreiheit mehr hätte und verpflichtet wäre, weiter zu verhandeln und den Vertrag abzuschließen; der andere Partner kann nur – und nur insoweit ist er schutzwürdig – von ihm unter Umständen die wirtschaftlichen Nachteile ersetzt verlangen, die er infolge des erweckten Vertrauens auf sich genommen hat.“76
Ersatzfähig sind nach der Ansicht der Rechtsprechung also in jedem Fall nur die Vertrauensschäden wie insbesondere Aufwendungen im Vertrauen auf die Leistung. 73
BGH, Urt. v. 6. 2. 1969 – II ZR 86/67, BeckRS 1969, 31169133. BGH, Urt. v. 8. 6. 1978 – III ZR 48/76, NJW 1978, 1802, 1804; ebenso: BGH, Urt. v. 9. 11. 2012 – V ZR 182/11, NJW 2013, 928, 929 (Rn. 7); BGH, Urt. v. 6. 7. 2004 – XI ZR 254/02, NJW 2004, 3779, 3781; BGH, Urt. v. 7. 2. 1980 – III ZR 23/78, NJW 1980, 1683, 1684; OLG Hamm, Urt. v. 14. 8. 2007 – 4 U 44/07, NJW 2008, 764, 766; MüKo BGB/V. Emmerich, § 311 BGB Rn. 176; BeckOGK/C. Herresthal, § 311 BGB Rn. 368. 75 So ausdrücklich BGH, Urt. v. 22. 2. 1989 – VIII ZR 4/88, NJW-RR 1989, 627, 629; i. E. ebenso BGH, Urt. v. 20. 9. 1984 – III ZR 47/83, NJW 1985, 1778, 1781. 76 BGH, Urt. v. 22. 2. 1989 – VIII ZR 4/88, NJW-RR 1989, 627, 628; BGH, Urt. v. 15. 4. 1981 – II ZR 105/08, BeckRS 1981, 31068523. 74
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(2) Literaturauffassungen (a) Grundloser Abbruch von Vertragsverhandlungen als Haftungsgrund der culpa in contrahendo Nach einer im Schrifttum weit verbreiteten Ansicht, die maßgeblich von Küpper herausgearbeitet wurde und auch der jüngeren BGH-Rechtsprechung entspricht, kann der Abbruch von Vertragsverhandlungen entgegen § 242 BGB treuwidriges, da widersprüchliches Verhalten sein und so eine Pflichtwidrigkeit des Verhandlungsabbruchs selbst begründen.77 Der Grundsatz des venire contra factum proprium führe dazu, dass die Schaffung eines Vertrauenstatbestands dazu verpflichtet, an den Verhandlungen dem geschaffenen Vertrauen entsprechend mitzuwirken, wenn ansonsten Dispositionen des Verhandlungspartners entwertet werden.78 Ein grundloser Abbruch sei dann eine Verletzung vorvertraglicher Pflichten im Sinne der culpa in contrahendo. Dieses Verhalten muss nach Ansicht Küppers auch schuldhaft sein, was aber regelmäßig anzunehmen sei, da es genüge, dass dem Pflichtigen die Widersprüchlichkeit des eigenen Verhaltens bewusst ist.79 Ein Vertrauenstatbestand, der eine Mitwirkungspflicht der Vertragspartei begründet, sei insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Vertragsschluss fest zugesichert wurde.80 Für eine Annahme einer Vertrauensbindung nach den Grundsätzen des venire contra factum proprium sei außerdem bereits tatbestandlich – und nicht erst auf der Ebene des ersatzfähigen Schadens – eine Vertrauensdisposition erforderlich, da erst dadurch die Schutzwürdigkeit des Vertrauenden eine Bindung des anderen gerechtfertigt ist.81 Schließlich scheide das Verdikt widersprüchlichen Verhaltens dann aus, wenn es einen sachlichen Grund für den Abbruch der Vertragsverhandlungen gibt. Die Anforderungen, die an das Gewicht des Grundes zu stellen sind, ergeben sich nach Ansicht Küppers insbesondere aus dem Maß der Vertrauensbindung, wie er sich im Stand der Verhandlungen und der Intensität der Vertrauensbeziehung manifestiere.82 Wenn man den Pflichtverstoß im Abbruch der Vertragsverhandlungen verankert, müsste eine Anwendung der Differenzhypothese zum Ersatz des positiven Interesses führen.83 Der Vertrauende könnte so gestellt werden, als hätte sein Verhandlungspartner nicht den Vertrag abgebrochen; war der Vertrag bereits abschlussreif, könnte also der Abschluss verlangt werden, ansonsten jedenfalls das Weiterverhandeln. 77 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 216 ff.; zustimmend: M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 78; ähnlich auch C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 361. 78 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 218; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 74. 79 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 255. 80 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 222. 81 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 232 f. 82 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 242. 83 Soergel/J. D. Harke, § 311 BGB Rn. 57; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 268 f.
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Diese Konsequenz wird jedoch nicht gezogen: Auch bei einer Anknüpfung an den Abbruch der Vertragsverhandlungen ist nach herrschender Ansicht bloß das Vertrauensinteresse ersatzfähig.84 Das sind die Aufwendungen, die zwar vor dem Abbruch der Verhandlungen als Pflichtverstoß getätigt wurden, aber dadurch im Nachhinein nutzlos geworden sind.85 Begründet wird diese modifizierende Anwendung von § 249 I BGB zutreffenderweise damit, dass eine Haftung auf das positive Interesse einen Systembruch im BGB darstellen würde: Würde der Abbruch der Vertragsverhandlungen entgegen schützenswertem Vertrauen einen auf den Vertragsschluss gerichteten Schadensersatzanspruch gem. §§ 241 II, 280 I, 249 I BGB hervorrufen, würde die vertragliche Bindung praktisch schon mit Hervorrufen eines schützenswerten Vertrauens eintreten. Dieser faktische Kontrahierungszwang widerspricht dem Grundprinzip des BGB, dass vertragliche Bindung durch Erklärungen und konkludentes Verhalten mit dem Rechtscharakter einer Willenserklärung entstehen (vgl. § 145 BGB).86 Ein Ersatz des positiven Interesses kommt nach vereinzelt vertretener Ansicht ausnahmsweise in Betracht, wenn zwar an den Verhandlungsabbruch als Haftungsgrund angeknüpft wird, aber dem pflichtwidrigen Verhandlungsabbruch eine besondere Treueverletzung vorausgeht. Als Beispiel nennt Küpper den Fall, dass ein Verhandlungspartner die Verhandlungen bis zur Abschlussreife führt, ohne den Vertrag wirklich schließen zu wollen. Die Situation sei mit den Fällen der §§ 179 I, 116 S. 1 BGB vergleichbar, die auch einen Abschlusszwang vorsehen. Diesem Fall sei es gleichzustellen, wenn ein eklatantes Missverhältnis zwischen Vertrauenserweckung (insbesondere Aufforderung zur Vornahme besonders weitgehender Investitionen) und dem Anlass des Verhandlungsabbruchs (ohne jeglichen Grund) besteht.87 (b) Vertrauenserweckung als Haftungsgrund Andere Teile der Literatur stellen sich gegen eine Pflichtwidrigkeit des Verhandlungsabbruchs selbst. Die Annahme widersprüchlichen Verhaltens sei eine petitio principii: Die Annahme einer Treuwidrigkeit des Verhandlungsabbruchs setze nämlich ein berechtigtes Vertrauen in den Vertragsschluss voraus; die Annahme eines berechtigten Vertrauens setze aber voraus, dass der Vertragspartner die Verhandlungen nicht grundlos abbrechen darf.88 Ein solcher Kunstgriff sei aber auch 84
BeckOGK/C. Herresthal, § 311 BGB Rn. 342 m. w. N.; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 269; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 83; R. Nirk, in: FS Möhring (1965), Culpa in contrahendo, S. 385, 397; a. A. Boecken/Joussen/J. Joussen, § 15 TzBfG Rn. 98. 85 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 269; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 84. 86 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 108; M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 279 f.; H. Stoll, in: FS von Caemmerer (1978), Tatbestände und Funktionen der Haftung für culpa in contrahendo, S. 433, 445 f. 87 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 270 ff. 88 R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 280 f.; M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 412 ff.
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gar nicht notwendig, da sich die Fallkonstellation losgelöst von der culpa in contrahendo als verschuldensunabhängige Vertrauenshaftung einordnen lasse.89 Nach Singer setzt die Haftung voraus, dass ein Verhandlungspartner zurechenbar einen qualifizierten Vertrauenstatbestand gesetzt habe, was insbesondere durch die Kundgabe eines festen Abschlusswillens oder die Veranlassung von Dispositionen geschehen könne.90 Er müsse dann für nutzlos gewordene Dispositionen haften, wenn es nicht einen triftigen Grund zum Rücktritt gebe. Für den so vorgenommenen Kompromiss zwischen den Interessen von Vertrauendem und Abbrechenden dienen Singer die §§ 1298 f. BGB als Vorbild.91 Ackermann schlägt eine verschuldensunabhängige Vertrauenshaftung in Analogie zu § 122 BGB vor: Die Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen passe jedenfalls seit ihrer Kodifikation in §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB nicht mehr unter das Konstrukt der culpa in contrahendo, da schon der Abbruch der Verhandlungen als Haftungsgrund problematisch und dazu die Haftung nur auf das negative Interesse systemwidrig sei.92 Die Situation sei aber wertungsmäßig vergleichbar mit der in § 122 BGB angeordneten Bindung an in einen wirksamen Vertragsschluss hervorgerufenes Vertrauen.93 Auch Weber plädiert für eine verschuldensunabhängige quasivertragliche Haftung bei einem grundlosen Abbruch von Verhandlungen, die neben eine verschuldensabhängige Haftung aus culpa in contrahendo für den Fall der verschuldeten Vertrauenserweckung treten solle. Ein Vertragspartner sei an einen Vertrauenstatbestand gebunden, wenn er zurechenbares Vertrauen in den Bestand der quasivertraglichen Bindung oder deren Fortsetzung in einer vertraglichen Bindung geweckt habe, insbesondere indem er sichere Abschlusserwartungen erweckt hat.94 Die andere Partei dürfe dann regelmäßig auf eine Fortführung der Verhandlungen vertrauen. Grundlage dieser Konzeption ist ein prozessual erweitertes Vertragsverständnis: Je weiter die Verhandlungen gediehen sind, desto stärker werde die Willkürfreiheit der Parteien aufgrund eines „schrittweisen Selbstbindungsprozeß[es]“ eingeschränkt.95 Liegt ein triftiger Grund für den Verhandlungsabbruch vor, sei eine quasivertragliche Bindung aber abzulehnen,96 weil die Existenz eines solchen Abschlusseinwands bereits ein ausreichendes Maß an Vertragsreife kontraindiziert. Rechtsfolge der Ausgleichshaftung ist nach Weber eine verschuldensunabhängige Haftung für Vertrauensschäden.97 89 90 91 92 93 94 95 96 97
R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 280 f. R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 303 ff. R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 292. T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 506 f. T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 509. M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 424 f. M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 422. M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 423 f. M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 424.
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bb) Anwendung der Haftungsvoraussetzungen auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Trotz der Unterschiede in der dogmatischen Herleitung ist man sich in der Rechtsprechung und Literatur über die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Haftung für den grundlosen Abbruch von Vertragsverhandlungen weitgehend einig. Erforderlich ist, dass Arbeitgeber:innen erstens zurechenbar einen qualifizierten Vertrauenstatbestand geschaffen haben, dass sie zweitens ohne triftigen Grund vom Vertragsschluss Abstand genommen haben und drittens Arbeitnehmer:innen Aufwendungen in Erwartung des Vertragsschlusses getätigt haben, die als Vertrauensinteresse ersatzfähig sind. Bezüglich des qualifizierten Vertrauenstatbestands kann – mit Ausnahme des Erfordernisses der Treuwidrigkeit – auf die Ausführungen zum treuwidrigen Hervorrufen von Vertrauen verwiesen werden. Das nur für eine Haftung im Rahmen der culpa in contrahendo vorausgesetzte Verschulden wird in aller Regel vorliegen, sodass auch hier keine praktischen Unterschiede zu erwarten sind. Sofern mit Küpper schon auf der Ebene des haftungsbegründenden Tatbestands eine Vertrauensdisposition der Arbeitnehmer:innen erforderlich ist, kann auf die oben im Rahmen des negativen Interesses ersatzfähigen Schadensposten rekurriert werden: Vertrauensdispositionen sind nicht nur die Tätigung von Anschaffungen und der Verzicht auf einen konkreten Vertragsschluss, sondern auch das Unterlassen, sich um eine anderweitige Verwertung der eigenen Arbeitskraft auf dem Markt zu bemühen.98 Klärungsbedürftig ist hingegen, welche Anforderungen an den triftigen Grund für die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses zu stellen sind. Mit dem negativen Haftungsmerkmal des triftigen Grunds wird darauf reagiert, dass sich das tatbestandsmäßige Vertrauen auf das Zustandekommen eines Vertrags in der Zukunft bezieht.99 Vertrauen darin, dass sich ein Vertragspartner trotz triftiger Gründe an sein unverbindliches Wort hält, ist aber regelmäßig nicht schutzwürdig.100 Unterhalb der Schwelle rechtsgeschäftlicher Bindung darf auch nicht darauf vertraut werden, dass Vertragspartner nur unter den Voraussetzungen, die für eine Lösung von einem einmal geschlossenen Vertrag in Betracht kommen, von den Vertragsverhandlungen Abstand nehmen.101 Diesen Erwägungen entsprechend stellen auch die Rechtsprechung und die Literatur keine strengen Anforderungen an die Annahme eines sachlichen Grunds: Es genüge, wenn die Verhandlungen aus „vernünftigen“102 und nicht „aus sachfremden Erwägungen“103 abgebrochen werden. Als triftige Gründe für die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses kommen daher insbesondere alle 98
Vgl. W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 233. Vgl. C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 399. 100 Vgl. R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 289. 101 T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 515; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 241. 102 MüKo BGB/V. Emmerich, § 311 BGB Rn. 177. 103 BGH, Urt. v. 8. 6. 1978 – III ZR 48/76, NJW 1978, 1802, 1804; BGH, Urt. v. 10. 1. 1996 – VIII ZR 327/94, WM 1996, 738, 740. 99
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Gründe in Betracht, die in der Arbeitsleistung der Arbeitnehmer:innen, dem Bedarf an der Arbeitsleistung oder der internen Betriebsorganisation wurzeln. Je weiter und konkreter die Verhandlungen über eine Vertragsfortsetzung gediehen sind, desto höhere Anforderungen können aber an den triftigen Grund erwachsen: Wurden bestimmte Vertragsgegenstande bereits verhandelt oder haben Arbeitgeber:innen bestimmte Unwägbarkeiten als für ihre Entscheidung unerheblich hingestellt, dürfen Arbeitnehmer:innen darauf vertrauen, dass der Vertrag nicht aus darin wurzelnden Gründen scheitert.104 Die Schwelle des § 14 I TzBfG oder des § 1 KSchG müssen die Abbruchgründe aber in keinem Fall erfüllen. cc) Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen im Kontext der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Trotz der unterschiedlichen dogmatischen Verankerung der Haftung für den grundlosen Abbruch von Vertragsverhandlungen sind sich die Befürworter einer Haftung über ihre Voraussetzungen in den für die Beantwortung der Forschungsfrage wesentlichen Punkten einig. Da eine Auseinandersetzung über das dogmatische Fundament der Haftung nicht wesentlich zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen, sondern tief in das Dickicht der Vertrauenshaftung führen würde, wird an dieser Stelle auf diverse Abhandlungen monographischer Ausmaße verwiesen, die sich bereits einen Weg hindurch gebahnt haben.105 Stellung zu beziehen ist jedoch zu der Frage, ob eine Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen überhaupt sachgerecht und systemkonform ist und, falls ja, welche Rechtsfolgen sie hat. Diese Aspekte sind [(1)] im Kontext eines allgemeinen zivilrechtlichen Diskurses zu beleuchten und [(2)] konkret im Hinblick auf die Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen. (1) Schutzwürdigkeit des Vertrauens in einen zukünftigen Vertragsschluss Selbst wenn man das Vertrauensprinzip und eine daraus resultierende Haftung als Bestandteil des deutschen Vertragsrechts anerkennt, wovon hier ausgegangen wird, ist begründungsbedürftig, wieso gerade auch das Vertrauen in zukünftiges freiwilliges Verhalten schutzwürdig ist. Sowohl die Annahme eines im Verhandlungsabbruch liegenden widersprüchlichen Verhaltens als auch die Theorien der Vertrauenshaftung basieren auf der Prämisse, dass in den späteren Vertragsschluss vertraut und die Entscheidungsfreiheit des Kontrahenten durch eine potenzielle Haftung eingeschränkt werden darf. Diese Prämisse wird von Teilen der Literatur abgelehnt: Auch eine Pflicht zum Ersatz des negativen Interesses könne einen mittelbaren Druck 104
Vgl. T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 515; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 243; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 76. 105 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971); W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988); R. Loges, Die Begründung neuer Erklärungspflichten und der Gedanke des Vertrauensschutzes (1991); R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993).
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auf den Verhandlungspartner ausüben, den in Aussicht gestellten Vertrag abzuschließen, und widerspreche damit dem Vertragsprinzip des BGB.106 Unterhalb der Schwelle rechtsgeschäftlicher Bindung sei der „Abspringende“ frei in der Entscheidung, von einem Vertrag Abstand zu nehmen und setze sich dadurch nicht treuwidrig in Widerspruch zu seinem vorherigen Verhalten.107 Spiegelbildlich ist die vertrauende Person nicht schutzwürdig, wenn sie unterhalb der Schwelle vertraglicher Bindung darauf vertraut, dass die andere Person an ihrer Entscheidung festhält. Das Vertrauen könne sich nur auf die Ehrlichkeit des Vertragspartners im Zeitpunkt der Vertrauenserweckung beziehen. Möchte sie Gewissheit über den späteren Abschluss eines Rechtsgeschäfts haben, müsse sich die vertrauende Partei rechtlich absichern, beispielsweise durch Abschluss eines Vorvertrags.108 Canaris wirft Vertrauenden vor, dass sich „derjenige, der dieses Mittel [des Vertragsschlusses] wissentlich nicht benutzt, selbst des Rechtsschutzes begibt.“109 „Unterstützung bei der Durchsetzung seines – rechtlich eben nicht begründeten! – Verlangens“110 sei nur ausnahmsweise demjenigen zu gewähren, der aufgrund einer besonderen Unterlegenheit weder den Abschluss eines Vertragsschlusses forcieren, noch von der Erwartung des Vertrags Abstand nehmen kann, sodass die „immanenten Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie – d. h. vor allem die faktische Freiheit des Verhandelns, die die Möglichkeit der gänzlichen Abstandnahme vom Vertragsschluß als essentiale einschließt“111 nicht vorliegen. Es sprechen jedoch gute Gründe dafür, dass Vertrauen in das Zustandekommen eines (Arbeits-)Vertrags in der Zukunft schutzwürdig ist. Das von den Haftungsgegnern postulierte Primat der Privatautonomie existiert nämlich nicht in der behaupteten Ausschließlichkeit. Stattdessen reagieren die Systeme der Vertrauenshaftung und der rechtsgeschäftlichen Bindung auf unterschiedliche Interessen der Rechtssubjekte und haben unterschiedliche Voraussetzungen und Rechtsfolgen, sodass die Vertrauenshaftung auch als ein „Korrelat“ der Vertragshaftung begriffen werden kann.112 (a) Primat des Vertragsschlusses für die Begründung von Erfüllungsansprüchen Die Rechtsordnung verhilft den Vertragspartnern zur Durchsetzung der vertraglichen Ansprüche, insbesondere der Erfüllungsansprüche, da der Abschluss eines Vertrags ein Ausdruck und Akt der Selbstbestimmung ist.113 Eine selbstbestimmte 106
D. Reinicke/K. Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1098. J. Wertenbruch, ZIP 2004, 1525, 1529; D. Kaiser, JZ 1997, 448, 449. 108 D. Reinicke/K. Tiedtke, ZIP 1989, 1093, 1099. 109 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 353. 110 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 353. 111 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 360. 112 Die Bezeichnung als „Korrelat“ geht zurück auf C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 440. 113 Zu Herleitung und Funktion der Vertragsfreiheit oben 1. Kap. B. 107
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rechtliche Bindung setzt nach der Konzeption des BGB eine mit Rechtsbindungswillen abgegebene Willenserklärung voraus. Der durch zwei solche Willenserklärungen geschlossene Vertrag ist das vom BGB vorgesehene Instrument, um Rechtsbeziehungen für die Zukunft verbindlich und verlässlich zu gestalten114 und gegenseitige Erfüllungsinteressen durchzusetzen. Die Veranlassung von Vertrauen unterhalb der Schwelle vertraglicher Bindung kann daher prinzipiell nicht die gleichen Rechtsfolgen haben wie die vertragliche Bindung, sondern nur zum Ersatz des negativen Interesses führen.115 Nur ausnahmsweise erkennt das Zivilrecht auch eine Haftung auf Erfüllung eines hervorgerufenen Vertrauenstatbestands an, und zwar dann, wenn in zurechenbarer Weise ein Vertrauen in eine wirksame vertragliche Bindung hervorgerufen wird. Gem. § 116 S. 1 BGB ist beispielsweise ein Vertrag zustande gekommen, wenn eine Partei das Vertrauen in den eigenen Rechtsbindungswillen hervorgerufen hat, ohne diesen tatsächlich aufzuweisen. Der Kontrahent darf darauf vertrauen, dass der geschlossene Vertrag wirksam ist. Gemäß § 179 I BGB haftet der falsus procurator auf Erfüllung, wenn er das Vertrauen in seine Vertretungsmacht hervorgerufen hat, die andere Partei daher auf einen wirksamen Vertragsschluss gemäß § 164 I, III BGB vertrauen durfte. In beiden Konstellationen bezieht sich das Vertrauen also darauf, dass beide Parteien selbstbestimmte Willenserklärungen abgegeben und sich damit unter das Protektorat der Vertragshaftung gestellt haben. Von diesen Konstellationen unterscheidet sich die Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen aber in einem entscheidenden Punkt: Das Vertrauen bezieht sich hier nicht auf die Wirksamkeit eines bereits geschlossenen Vertrags, sondern auf die Wahrscheinlichkeit eines Vertragsschlusses in der Zukunft. Für die vertrauende Partei ist also erkennbar, dass das vom Recht vorgesehene Instrumentarium zur verbindlichen Gestaltung von Rechtsbeziehungen (noch) nicht in Anspruch genommen wurde. Sie kann allenfalls darauf vertrauen, dass der Gegner den Vertrag freiwillig abschließt.116 Eine Erfüllungshaftung würde den Zeitpunkt der rechtlichen Bindung daher tatsächlich systemwidrig in das Vorfeld rechtsgeschäftlicher Bindung vorverlegen. Das schränkt nicht nur die negative Vertragsfreiheit ein, sondern würde auch den Vertrauenden „überschießend“ privilegieren, indem ihm ein Recht gegeben würde, das er gar nicht erwarten darf.117 Daran ändert entgegen der Ansicht Küppers auch eine böse Absicht oder ein grobes Missverhältnis zwischen Vertrauenserweckung und Abbruchsgrund nicht: In all diesen Fällen wusste die vertrauende Partei, dass die Parteien noch keine auf einen Vertragsschluss gerichteten Willenserklärungen abgegeben haben. Die „böse“ Ab114 R. Singer, in: FS Canaris (2002), Vertrauenshaftung beim Abbruch von Vertragsverhandlungen, S. 135, 142. 115 R. Singer, in: FS Canaris (2002), Vertrauenshaftung beim Abbruch von Vertragsverhandlungen, S. 135, 147. 116 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 353. 117 T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 520 unter Hinweis darauf, dass das Recht vorvertraglicher Beziehungen von Pönalisierungszwecken weitgehend frei sei.
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sicht eines der Kontrahenten kann allenfalls eine Haftung für finanzielle Einbußen im Vertrauen auf den Vertragsschluss rechtfertigen, aber vermag nicht seinen Rechtsbindungswillen zu ersetzen. Diese Rechtsfolge ist auch konsequent, wenn man sich den von Küpper und Lutter herausgearbeiteten Grund für die Pflichtwidrigkeit eines Verhandlungsabbruchs vor Augen hält: Das Vertrauen des Verhandlungspartners ist ihnen zufolge gerade deshalb schutzwürdig, da er bereits disponiert hat; die dem Vertrauen korrespondierende Pflicht der Gegenpartei zur Mitwirkung am Vertragsschluss schütze gerade die vorgenommenen Dispositionen, die im Falle des Abbruchs von Verhandlungen nutzlos werden. Die Sanktionierung des Verhandlungsabbruchs schütze daher nicht das Interesse an einem Vertragsschluss, sondern das Vertrauen in den Nutzen von Dispositionen.118 Diesem Schutzzweck entspricht, dass Vertrauen in einen künftigen Vertragsschluss keine Erfüllungsansprüche begründen kann; insoweit ist die vertragliche Haftung tatsächlich „exklusiv“. (b) Ergänzungsfunktion der Haftung für hervorgerufenes Vertrauen Dieses Privileg vertraglicher Haftung wird durch eine Anerkennung der Haftung für hervorgerufenes Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss nicht in Frage gestellt, sondern sinnvoll ergänzt: Die Verantwortung für das Hervorrufen von Vertrauen basiert auf dem Gedanken, dass sich Rechtssubjekte bereits mit der Anbahnung von Vertragsverhandlungen der Einwirkungssphäre der anderen Partei aussetzen119 und damit in eine Gefahr begeben, auf die der Gesetzgeber mit § 311 II BGB reagiert hat. Auch wenn vertragliche Erfüllungsansprüche erst mit Abschluss eines Vertrags entstehen, können die Vertragsverhandlungen bereits vorher Dispositionen veranlassen.120 Solche Dispositionen sind regelmäßig auch im Interesse beider Vertragsparteien: Vertrauen wird meist nicht willkürlich hervorgerufen, sondern weil damit eigene Zwecke verfolgt werden.121 Die einseitige Investition von Vertrauen birgt darüber hinaus die Gefahr, dass die disponierende Partei nicht mehr ohne finanzielle Einbuße vom Vertrag Abstand nehmen kann, daher stärker auf den Vertragsschluss angewiesen ist und so eine schwächere Verhandlungsposition einnimmt.122 Weber hat auf diese Situation mit der These reagiert, dass der Vertragsanbahnungsprozess einen „Prozess der Willküreinschränkung auf Gegenseitigkeit dar[stellt], der es verbietet, einer Seite unter dem hochgehaltenen Banner negativer Vertragsfreiheit die Freiheit zum Ausstieg auch dann noch uneingeschränkt zu erhalten, wenn deren zurechenbares Verhalten dazu geführt hat, daß die Willkürfreiheit der Gegenseite de facto entfallen ist, sei es, daß ihr nun keine realen Entschei118 Vgl. W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 216 f., 220; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 74. 119 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 440. 120 W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 222. 121 T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 510; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 147. 122 Dieses Phänomen wird in der Ökonomie als „Holdup“ oder „Raubüberfall“ bezeichnet, siehe T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 208.
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dungsalternativen mehr offen stehen, oder ihr im Ausstiegsfall empfindlicher Schaden droht.“123 Der Vertragsschluss ist für das Bedürfnis eines Schutzes also gar nicht die entscheidende Zäsur; die Schutzlücken in dem vorvertraglichen Vakuum rechtsgeschäftlicher Bindung könnten durch eine Vertrauenshaftung ergänzt werden. Als Einwand gegen einen Schutz von Vertrauensdispositionen vor Vertragsschluss verbleibt dann nur noch das Argument, die Parteien hätten ihre Dispositionen auch im vorvertraglichen Bereich durch eine vertragliche Regelung absichern können, die vertragliche Haftung weise also gar keine Schutzlücken auf.124 Bei dem grundlosen Abbruch von Vertragsverhandlungen könnte den Vertragspartnern vorgeworfen werden, keinen Vorvertrag oder eine Kostenvereinbarung für den Fall des Scheiterns der Vertragsverhandlungen geschlossen zu haben.125 Ein solcher mittelbarer Vertragsabschlusszwang widerspricht allerdings regelmäßig der verkehrsökonomischen und psychologischen Realität in der Vertragsanbahnungsphase: Würde man Parteien auf die Möglichkeit eines Kostentragungsvertrags verweisen, verlangte man ihnen Misstrauen ab, das jedenfalls dann nicht erwartet werden kann, wenn die andere Partei einen qualifizierten Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Singer weist darauf hin, dass das BGB den Vertragsparteien auch nicht abverlangt, Vereinbarungen über potenzielle Leistungsstörungen zu treffen, sondern es dafür dispositives Recht enthält, sodass Parteien grundsätzlich auf die reibungslose Durchführung eines Vertrags vertrauen dürften. Der Schutz des Vertrauens vor Vertragsschluss sei funktionell mit dem dispositiven Leistungsstörungsrecht vergleichbar.126 Außerdem sei der Abschluss eines Vorvertrags zeit- und kostenintensiv und eine Einigung über die Haftung oft schwerer zu erzielen, als über den Inhalt eins beiderseits gewollten Hauptvertrags.127 Der Vorwurf, willentlich auf den Schutz durch eine vertragliche Bindung verzichtet zu haben, wird noch realitätsferner, wenn er gegen Arbeitnehmer:innen gerichtet wird, die ihre Erwartungen in eine Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse nicht vertraglich abgesichert haben. Mit dem Abschluss befristeter Arbeitsverträge nutzen Arbeitgeber:innen nämlich typischerweise die ihnen rechtlich eingeräumte Möglichkeit, sich nicht langfristig an Arbeitnehmer:innen binden, sondern diese nur bis zum Ablauf der Frist beschäftigen zu müssen und erst danach über eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu entscheiden. Wenn sie Arbeitnehmer:innen die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen als sicher in Aussicht stellen, tun sie das daher regelmäßig in dem Wissen, sich noch umentscheiden zu können. Verträge über die Erstattung von Vertrauensschäden der Arbeitnehmer:innen – insbesondere entgangene Verdienste – zu schließen, entspricht daher in aller Regel nicht ihren Interessen. Dass Arbeitnehmer:innen einen solchen Vertrag dennoch forcieren können, ist wohl eher die Ausnahme als die Regel, 123
M. Weber, AcP 192 (1992), 390, 421 f. Siehe oben Fn. 109. 125 R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 284. 126 R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 285. 127 R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 285; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 223. 124
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da eine solche Bereitschaft ein sehr hohes Interesse der Arbeitgeber:innen an der Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer:innen voraussetzt; die Tatsache, dass der vorige Vertrag nur befristet abgeschlossen wurde, kontraindiziert eine solche Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer:innen aber in aller Regel. Insbesondere in der Anbahnungsphase eines Folgearbeitsvertrags ist daher eine Störung der Privatautonomie anzunehmen, die eine Schutzlücke der Rechtsgeschäftslehre offenbart.128 Diese Schutzlücke ist durch die Anerkennung einer Haftung für Vertrauensschäden zu schließen, die den Vertragsschluss als Instrument privatautonomer Rechtsgestaltung gleichzeitig respektiert und ergänzt.129 (2) Vereinbarkeit einer Vertrauenshaftung mit der Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen In einem letzten Schritt ist zu überprüfen, ob dieser hauptsächlich im Kontext des allgemeinen Vertragsrechts herausgestellte Befund auch mit dem Recht der Befristung von Arbeitsverhältnissen vereinbar ist: Widerspricht die Haftung für den Abbruch von Verhandlungen ohne triftigen Grund dem in § 14 I, II TzBfG manifestierten Prinzip des Befristungsrechts, dass für die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses kein sachlicher Grund im Zeitpunkt des Fristablaufs notwendig ist? Dagegen spricht dreierlei: Erstens haften Arbeitgeber:innen in den hier besprochenen Fallkonstellation nicht dafür, dass kein sachlicher Grund vorliegt. Unabhängig davon, ob man in der Erzeugung eines Vertrauenstatbestands oder in dem Abbruch von Verhandlungen im Widerspruch zu erzeugtem Vertrauen den Haftungsgrund erblickt, wird nicht für sich sanktioniert, dass Arbeitgeber:innen ein Arbeitsverhältnis grundlos abbrechen. Arbeitgeber:innen lösen ihre Haftung stattdessen dadurch aus, dass sie einen Vertrauenstatbestand schaffen. Das Kriterium des triftigen Grunds ist auch in Bezug auf diesen Haftungsgrund zu verstehen: Arbeitgeber:innen haften nicht, wenn es einen „vernünftigen“ Grund für den Abbruch der Verhandlungen gibt, da das Vertrauen der Arbeitnehmer:innen nur darin bestehen kann, dass Arbeitgeber:innen bei unveränderter Sachlage zum Vertragsschluss bereit sein werden. Das Kriterium des „triftigen Grunds“ erfüllt also einen anderen Zweck und hat erheblich geringere Voraussetzungen als die Anforderungen an die Beendigung von Arbeitsverhältnissen nach § 1 KSchG, § 626 BGB oder § 14 TzBfG, von denen der Gesetzgeber Arbeitgeber:innen im Zeitpunkt des Fristablaufs mit § 15 TzBfG befreien wollte.
128 Ähnliche Maßstäbe hat Canaris der Hofübergaberechtsprechung des BGH extrahiert (C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 360 ff.) und damit ausnahmsweise sogar eine Erfüllungshaftung begründet. Den Fällen lagen aber sehr spezielle und außergewöhnlich prekärer Verhältnisse für den Vertrauenden zugrunde, die auf Arbeitsverhältnisse nicht übertragbar sind. Canaris selbst spricht von „Extremfällen“ (a. a. O., S. 362). 129 R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 286; ähnlich C.W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 440 f.
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Zweitens haften Arbeitgeber:innen bei einer Anwendung der oben herausgearbeiteten Grundsätze nur, wenn sie einen Vertragsschluss als sicher in Aussicht gestellt haben. Arbeitgeber:innen werden also nicht per se dazu verpflichtet, einen triftigen Grund für die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses zu haben, sondern nur dann, wenn sie überobligatorisch besondere Erwartungen in die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses hervorgerufen haben. Ihnen bleibt es also unbenommen, normale Verhandlungen über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen zu führen und ohne Haftungsrisiko jederzeit davon Abstand zu nehmen. Nur wenn sie das Maß üblichen Verhandlungsverhaltens derart überschreiten, dass Arbeitnehmer:innen mit einer Vertragsfortsetzung rechnen dürfen, haben sie für daraus entstehende Schäden zu haften. Da die Vertrauenserzeugung regelmäßig den eigenen Interessen dient,130 ist diese Rechtsfolge auch angemessen. Die Haftung wird also nicht willensfremd oktroyiert, sondern erschöpft sich in einer Bindung der Arbeitgeber:innen an ihnen zurechenbare Erklärungen.131 Drittens führt die Haftung zu keinem Abschlusszwang, sondern nur zum Ersatz des Vertrauensschadens. Eine Haftung für vorvertragliche Vertrauensverletzungen widerspricht nicht § 15 I TzBfG, sondern kann die Vertragsfortsetzungsentscheidung von Arbeitgeber:innen nur mittelbar beeinflussen. Die Haftung knüpft an eine eigene Gefährdungssituation an, die sich allenfalls in ihrem Anwendungsbereich, aber nicht in ihrem Schutzzweck mit §§ 14 f. TzBfG überschneidet. Wenn man die grundsätzliche Berechtigung von Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss akzeptiert und das Vertrauensprinzip als Korrelat der Privatautonomie anerkennt, wie es hier getan wird,132 gibt es keinen Grund dafür, eine Ausnahme für die Fortsetzungsentscheidung von Arbeitgeber:innen zu machen. Die mittelbare Einschränkung der Vertragsfreiheit ist nicht anders zu bewerten als im sonstigen Zivilrecht und die Risiken für Arbeitnehmer:innen nicht geringer, sondern tendenziell höher. Die Annahme einer Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen ist daher unter den oben genannten Voraussetzungen auch in Bezug auf die Fortsetzungsentscheidung von Arbeitgeber:innen sachgerecht. (3) Ergebnis: Haftung für den grundlosen Abbruch von Verhandlungen über die Vertragsfortsetzung Die Begründung eines Rechtsgeschäfts beruht auf dem Gedanken, dass der Abschluss eines Vertrags ein Akt der Selbstbestimmung ist; aus diesem Grund verhilft die Rechtsordnung den Vertragspartnern zur Durchsetzung der korrespondierenden Erfüllungsansprüche. Das Vertrauensprinzip schützt demgegenüber den vorherigen Prozess der Vertragsverhandlungen; es reagiert auf die Gefahr, die daraus resultiert, dass man sich im Verhandlungsprozess dem Einwirkungskreis einer anderen Partei
130 131 132
Siehe oben 2. Kap. A. Vgl. W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 147. Siehe oben 2. Kap. C. III. 2. b) cc) (1) (b).
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
111
aussetzt.133 Das dem Vertrauensprinzip immanente Prinzip der Selbstverantwortung (für geschaffenes Vertrauen) füllt also Lücken im Prinzip der Selbstbestimmung.134 Diese Grundsätze gelten auch für das in Arbeitnehmer:innen hervorgerufene Vertrauen in die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen. Ersatzfähig ist dieser Ergänzungsfunktion entsprechend nur der Vertrauensschaden; der Abschluss des Arbeitsvertrags kann nicht verlangt werden. 3. Ergebnis: Nichtfortsetzung als Verletzung vorvertraglicher Rücksichtnahmepflichten Arbeitgeber:innen haften sowohl dann für Vertrauensschäden der Arbeitnehmer:innen, wenn sie wahrheitswidrig ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse vorgespiegelt oder aufrechterhalten haben, als auch dann, wenn sie den Vertragsschluss als sicher hingestellt haben und nach einer Vertrauensdisposition der Arbeitnehmer:innen ohne triftigen Grund die weiteren Verhandlungen oder den Vertragsschluss verweigern. Ersatzfähig ist insbesondere der aus einem – konkreten oder überwiegend wahrscheinlichen – alternativen Arbeitsverhältnis entgangene Gewinn. Die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse kann nicht verlangt werden.
IV. Ergebnis: Mittelbare Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit durch Schaffung eines Vertrauenstatbestands Das Vertrauensprinzip ergänzt und begrenzt das Prinzip der Vertragsfreiheit auch im vorvertraglichen Bereich. Vertrauensschutz führt nach der Konzeption des BGB aber nur ausnahmsweise zu Erfüllungsansprüchen, wenn Vertrauen in die Wirksamkeit eines bereits geschlossenen Rechtsgeschäfts hervorgerufen wurde. Die bloße Erwartung eines zukünftigen Rechtsgeschäfts begründet weder nach den Grundsätzen der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) noch der culpa in contrahendo einen Anspruch auf den Abschluss eines Folgearbeitsvertrags. Insofern ist dem BAG und herrschenden Schrifttum zuzustimmen. Mit dem sicheren Inaussichtstellen eines Folgearbeitsvertrags begrenzen Arbeitgeber:innen ihre Vertragsfortsetzungsfreiheit mittelbar, indem sie zum Ersatz der Vertrauensschäden von Arbeitnehmer:innen verpflichtet sein können. Die Pflicht zum Ersatz von Vertrauensschäden ergibt sich aus den Grundsätzen der culpa in contrahendo, wenn Arbeitgeber:innen ihre Abschlussbereitschaft wahrheitswidrig erklärt haben. Haben Arbeitgeber:innen den Vertragsschluss ihrer inneren Überzeugung entsprechend als sicher in Aussicht gestellt, kann der grundlose Abbruch der 133 Vgl. J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 147; R. Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (1993), S. 80. 134 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 440.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Verhandlungen eine Haftung auslösen, wenn Arbeitnehmer:innen bereits im Vertrauen auf die Vertragsfortsetzung disponiert haben. Die dogmatische Grundlage dieser Haftung ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Ersatzfähig ist insbesondere der Gewinn, der Arbeitnehmer:innen entgangen ist, da sie im Vertrauen auf die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse andere Arbeitsvertragsangebote abgelehnt oder er es unterlassen haben, sich bei anderen Arbeitgeber:innen zu bewerben, wodurch sie ihre Arbeitskraft erst später erneut verwerten können. Grund und Inhalt dieser Haftung sind mit der Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen vereinbar, da es der ratio legis von §§ 14, 15 TzBfG nicht widerspricht, wenn Arbeitgeber:innen für die finanziellen Folgen ihnen zurechenbarer, überobligatorischer Vertrauenserweckungen einstehen müssen.
D. Besonderheiten bei Kettenbefristungen, insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen Fraglich ist, ob Arbeitgeber:innen sich auch dadurch hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung binden, dass sie befristete Arbeitsverhältnisse in der Vergangenheit regelmäßig und gleichförmig fortgesetzt haben. Praktisch relevant ist diese Konstellation in der Saisonarbeit, da dort auch jahrelange Kettenbefristungen zulässig sein können, wenn Arbeitsbedarf zwischen den Saisons tatsächlich für eine nicht unerhebliche Zeit wegfällt.135
I. Meinungsstand zur Selbstbindung bei Saisonarbeitsverhältnissen 1. Ansicht der Rechtsprechung Ob die wiederholte Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen eine Selbstbindung der Arbeitgeber:innen erzeugen kann, sodass Arbeitnehmer:innen (insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen) eine Wiedereinstellung (in der nächsten Saison) verlangen können, hat das BAG in zwei Entscheidungen erwogen: Im Jahr 1987 hat der Zweite Senat in einem obiter dictum darauf hingewiesen, der durch die betriebliche Übung ausgeformte „individuelle Vertrauensschutz könnte auch die Rechtsgrundlage dafür sein, dass der Kläger wieder einzustellen wäre“, wenn ein Vertrauenstatbestand dadurch erzeugt wurde, dass er zehn Jahre hintereinander befristet als Saisonarbeiter zur nächsten Saison wieder eingestellt worden ist, am Ende der letzten Saison der Beginn der nächsten Saison am Schwarzen Brett bekannt gegeben wurde und die Arbeitgeberin ein Weihnachtsgeld mit der Äußerung
135
Vgl. BAG, Urt. v. 19. 11. 2019 – 7 AZR 582/17, NZA 2020, 374, 378 (Rn. 52).
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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verbunden hat, dass hoffentlich auch im kommenden Jahr eine gute Zusammenarbeit möglich sein werde.136 Im Jahr 2006 hat sich der Siebte Senat mit dem Wiedereinstellungsbegehren eines Saisonarbeiters nach seiner Kündigung beschäftigt.137 Dem Arbeitnehmer wurde seit zehn Jahren zum Ende des Jahres mit Verweis auf den Auftragsrückgang in den Wintermonaten gekündigt und im Frühjahr (zwischen Februar und April) die Wiedereinstellung angetragen. Die Kündigungsschreiben waren stets identisch formuliert; nur einmal wurde es allerdings mit einer ausdrücklichen Wiedereinstellungszusage verknüpft. Das Gericht entschied, dass sich ein Wiedereinstellungsanspruch nicht aus der Inanspruchnahme von Vertrauen herleiten lasse. Erforderlich sei stattdessen eine als Zusage auslegbare Erklärung der Arbeitgeberin, über die der Senat mangels Entscheidungsreife nicht entscheiden konnte. Stattdessen erteilte es nur Hinweise an das Berufungsgericht: Erstens sei aufgrund der oben zusammengefassten Umstände eine Auslegung des Kündigungsschreibens als Zusage nach §§ 133, 157 BGB möglich. Dieser Auslegung stehe auch nicht entgegen, dass nicht alle Arbeitnehmer:innen wieder eingestellt worden sind. „Nur wenn dem Kläger diese Handhabung bekannt war und er aus ihr schließen musste, dass die Beklagte auch ihm gegenüber nicht mehr an der Praxis der vergangenen Jahre festhalten würde, wären die von der Beklagten behaupteten Änderungen ihrer Entlassungs- und Wiedereinstellungspraxis berücksichtigungsfähig.“ Unerheblich wäre danach beispielsweise, wenn die Wiedereinstellung anderer Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit oder ihres mangelnden Interesses unterblieb. Sollte das Kündigungsschreibens nach Auswertung all dieser Einzelfallumstände nicht als Zusage auszulegen sein, könne sich, so das BAG, ein Wiedereinstellungsanspruch aus einer bei der Arbeitgeberin bestehenden betrieblichen Übung ergeben, wenn eine Wiedereinstellung betriebsüblich gewesen ist. Der Siebte Senat unterscheidet also zwischen der Auslegung einer Aussage als eine individuelle Zusage gegenüber einzelnen Arbeitnehmer:innen unter Berücksichtigung der vergangenen Vertragshistorie einerseits und der betrieblichen Übung gegenüber einem Arbeitnehmerkollektiv andererseits. Diese Unterscheidung wird unten aufgegriffen. Bislang hat das BAG – und soweit ersichtlich auch die Instanzrechtsprechung – noch keinen Arbeitgeber und keine Arbeitgeberin zur Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen infolge betrieblicher Übung rechtskräftig verurteilt. 2. Literaturauffassungen Die Literatur hält die Annahme eines Wiedereinstellungsanspruchs infolge betrieblicher Übung überwiegend mit einem knappen Verweis auf die Rechtsprechung des BAG für vertretbar. Löwisch und Kaiser stimmen dem Zweiten Senat des BAG in seinem Urteil aus dem Jahr 1987 darin zu, dass eine betriebliche Übung zu einem 136 137
BAG, Urt. v. 29. 1. 1987 – 2 AZR 109/86, AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1. BAG, Urt. v. 26. 4. 2006 – 7 AZR 190/05, AP BGB § 611 Wiedereinstellung Nr. 1.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Anspruch auf Wiedereinstellung führen könne, weisen jedoch darauf hin, dass das Gericht die betriebliche Übung seit dem Jahr 1984 als rechtsgeschäftliche Bindung qualifiziert. Entscheidend für die Annahme einer betrieblichen Übung seien weniger die konkreten Begleitumstände – Aushang am schwarzen Brett und Weihnachtsgeld – als die konsequente Wiedereinstellung aller interessierten Arbeitnehmer:innen in der Vergangenheit.138 Auch Kleinert befürwortet einen Wiedereinstellungsanspruch infolge betrieblicher Übung und zwar auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis infolge Fristablaufs geendet habe. Die Erwägungen des Siebten Senats seien übertragbar, da sie nicht auf den Charakteristika des unbefristeten Arbeitsverhältnisses beruhen (insbesondere Bestandsschutz).139 Gegen die Annahme eines Wiedereinstellungsanspruchs wendet sich allerdings Picker: Ein objektiver verständiger Empfänger, auf den es bei einer Auslegung des Arbeitgeberverhaltens nach §§ 133, 157 BGB ankommt, könne das Verhalten von Arbeitgeber:innen regelmäßig nicht so verstehen, dass dieser sein Einstellungsrecht rechtsgeschäftlich einschränken wolle.140
II. Individualübung und betriebliche Übung als Anwendungsfälle konkludenter Vertragsbindung 1. Rechtsnatur einer „Individualübung“ Wie bereits vom Siebten Senat angedeutet worden ist, kann sich die Zusage einer Wiedereinstellung unabhängig von den Grundsätzen der betrieblichen Übung qua Individualvereinbarung ergeben, wenn ein Arbeitnehmer „aus einem tatsächlichen Verhalten des Arbeitgebers auf ein Angebot schließen konnte, das er gem. § 151 BGB durch schlüssiges Verhalten angenommen hat“.141 Wird als auszulegendes Verhalten die Wiederholung gleichförmiger Verhaltensweisen in der Vergangenheit zugrunde gelegt, wird die ggf. daraus abgeleitete Bindung der Arbeitgeber:innen auch als „Individualübung“ bezeichnet, ohne dass diese Bezeichnung eine eigenständige Bedeutung hätte. Es geht um die Auslegung von Willenserklärungen nach den herkömmlichen Maßstäben. 2. Rechtsnatur der betrieblichen Übung Auch die betriebliche Übung ist ein Anwendungsfall konkludenter vertraglicher Selbstbindung. Diese sogenannte „Vertragstheorie“ hat das BAG im Jahre 1985 unter Aufgabe der bis dahin angenommenen Vertrauenshaftung etabliert.142 Die Rückkehr 138 139 140 141 142
M. Löwisch/D. Kaiser, AP BGB § 620 Saisonarbeit Nr. 1. M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 276. C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 291. BAG, Urt. v. 13. 5. 2015 – 10 AZR 266/14, NZA 2015, 992 (Rn. 11). BAG, Urt. v. 4. 9. 1985 – 7 AZR 262/83, NZA 1986, 521.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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zum Vertrauensmodell in der oben zitierten Entscheidung aus dem Jahr 1987 blieb ein anachronistischer Einzelfall. Eine betriebliche Übung definiert das BAG heute in ständiger Rechtsprechung folgendermaßen: „Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers verstanden, aus denen die Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmer einer bestimmten Gruppe schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche des Arbeitnehmers auf die üblich gewordenen Leistungen. Eine betriebliche Übung ist für jeden Gegenstand vorstellbar, der arbeitsvertraglich in einer so allgemeinen Form geregelt werden kann. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist entgegen der Auffassung der Bekl. nicht der Verpflichtungswille des Arbeitgebers. Es ist vielmehr maßgeblich, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen durfte.“143
Während in der Literatur früher noch die Annahme einer Vertrauenshaftung vorherrschte, die darauf basierte, dass das Vertrauen von Arbeitnehmer:innen in die Fortsetzung einer Übung schutzwürdig sei, sodass sich die Aufgabe dieser Übung als widersprüchliches Verhalten darstelle,144 haben sich mehrere Autoren in jüngerer Zeit der Vertragstheorie des BAG angeschlossen.145 Dieser Ansicht wird auch hier gefolgt: Es wurde oben bereits ausführlich herausgearbeitet, dass die Inanspruchnahme von Vertrauen in ein zukünftiges Verhalten allein keine Erfüllungsansprüche begründen kann.146 Ein Anspruch auf eine künftige Leistungsgewährung besteht in Anwendung der oben dargestellten Grundsätze nur dann, wenn die wiederholte Leistungsgewährung in der Vergangenheit als rechtsgeschäftliche Zusage auszulegen ist. Bei einem vertragsrechtlichen Verständnis der betrieblichen Übung wird offenbar, dass sie primär ein „Sammelbegriff für Auslegungshilfen“147 für normale Willenserklärungen nach allgemeinen rechtsgeschäftlichen Regeln ist.148 Das BAG hat mit der Schaffung des Rechtsinstituts ein Auslegungsschema für charakteristische Sachverhalte entwickelt. Von der Individualübung unterscheidet sich die betriebliche 143 BAG, Urt. v. 11. 4. 2006 – 9 AZR 500/05, NZA 2006, 1089, 1090 (Rn. 14); ähnliche Formulierungen in st. Rspr. des BAG seit BAG, Urt. v. 4. 9. 1985 – 7 AZR 262/83, NZA 1986, 521; jüngst BAG, Urt. v. 19. 9. 2018 – 5 AZR 439/17, NZA 2019, 106, 107 (Rn. 16). 144 C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 388; P. Hanau, AcP 165 (1965), 220, 261 f.; R. Singer, ZfA 1993, 487, 494. 145 Ausführlich C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 104 ff.; ebenso Schaub/ M. Ahrendt, § 110 Rn. 6; E. Mikosch, in: FS Düwell (2011), Die betriebliche Übung bei Arbeitgeberleistungen, insbesondere bei Sondervergütungen – Eine Skizze, S. 115, 117 ff.; ErfK/ U. Preis, § 611a BGB Rn. 220a; R. Waltermann, RdA 2006, 257, 263 f. 146 Siehe oben 2. Kap. C. II., III. 2. b) cc) (1) (a). 147 E. Mikosch, in: FS Düwell (2011), Die betriebliche Übung bei Arbeitgeberleistungen, insbesondere bei Sondervergütungen – Eine Skizze, S. 115, 119. 148 ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 220a.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Übung hauptsächlich durch den kollektiven Bezug: Dass die Leistung allen oder jedenfalls einer Vielzahl an Arbeitnehmer:innen gewährt wird, „ohne dass individuelle Besonderheiten die vertraglichen Beziehungen gestalten“149 ist ein weiteres vom BAG typisiertes Auslegungskriterium: Der Betriebsbezug einer Leistung kann ein auslegungsrelevantes Indiz für einen Bindungswillen sein. Für die Methode der Auslegung macht der kollektive Bezug aber keinen Unterschied.150
III. Auslegung des Arbeitgeberverhaltens bei der wiederholten Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen nach Fristablauf 1. Erklärungswert der wiederholten Wiedereinstellung für sich Haben Arbeitgeber:innen Arbeitsverhältnisse in der Vergangenheit derart gleichförmig gestaltet, dass sie einzelnen oder mehreren Arbeitnehmer:innen jedes Jahr die Wiedereinstellung befristet bis zum Saisonende angetragen haben, ist zu ermitteln, ob Arbeitnehmer:innen das Verhalten ihrer Arbeitgeber:innen, insbesondere die letzte Wiedereinstellungszusage,151 so verstehen durften, dass ihre Arbeitgeber:innen sich dauerhaft zu einer Wiedereinstellung zu Saisonbeginn verpflichten wollten. Eine allgemeine Auslegungsregel, wie für die dreimalige Gewährung von Gratifikationen, gibt es nicht.152 Der Erklärungswert des Verhaltens ist daher sorgfältig aus der Perspektive eines objektiven und verständigen Erklärungsempfängers zu beurteilen, der nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung aller für ihn erkennbaren Umstände prüft, was der Erklärende meint (Gebot der „Deutungsdiligenz“153).154 Entscheidend ist also, ob Arbeitnehmer:innen aus der vorbehaltlosen Wiedereinstellung in den Vorjahren auf den rechtsgeschäftlichen Willen der Arbeitgeber:innen schließen dürfen, sie jedes Jahr wieder einzustellen. Um einen solchen antizipierten Bindungswillen anzunehmen, genügt nicht, dass Arbeitnehmer:innen selbst ein Interesse an der Wiedereinstellung haben; es ist
149 BAG, Urt. v. 21. 4. 2010 – 10 AZR 163/09, NZA 2010, 808, 809 (Rn. 11); fast wortgleich: BAG, Urt. v. 23. 8. 2011 – 3 AZR 650/09, NZA 2012, 37, 41 f. (Rn. 47). 150 E. Mikosch, in: FS Düwell (2011), Die betriebliche Übung bei Arbeitgeberleistungen, insbesondere bei Sondervergütungen – Eine Skizze, S. 115, 120; ähnlich C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 293 f.; ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 220a. 151 Für ein Abstellen auf die Einzelgewähr anstelle des Gesamtverhaltens C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 60. 152 Vgl. allgemein dazu BAG, Urt. v. 28. 7. 2004 – 10 AZR 19/04, NZA 2004, 1152, 1153 f. m. w. N. aus dem Schrifttum; ähnlich: BAG, Urt. v. 11. 4. 2006 – 9 AZR 500/05, NZA 2006, 1089, 1091 (Rn. 16). 153 MüKo BGB/J. Busche, § 133 BGB Rn. 12. 154 BGH, Urt. v. 28. 7. 2005 – III ZR 3/05, NJW 2005, 3636, 3637.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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vielmehr gerade auch zu untersuchen, ob ein Interesse der Arbeitgeber:innen auf einen Bindungswillen hindeutet.155 a) Grundsätzliche Möglichkeit der Annahme eines dauerhaften Bindungswillens am Beispiel von Sonderleistungen mit Entgeltcharakter Fraglich ist, ob Arbeitnehmer:innen überhaupt je davon ausgehen dürfen, dass Arbeitgeber:innen sich zur Leistung von Vorteilen – ob in Form einer Sondervergütung oder eines Vertragsangebots – ohne ausdrückliche Zusage für die Zukunft verpflichten wollen. Das ist zu bejahen. Ansonsten wäre das Institut der betrieblichen Übung auch praktisch obsolet. Die Annahme eines Bindungswillens nach §§ 133, 157 BGB kann insbesondere bei Sonderleistungen mit Entgeltcharakter gerechtfertigt sein, die den Hauptanwendungsfall sowohl der Individual- als auch der betrieblichen Übung darstellen. Picker hat den Erklärungswert von wiederholten Sonderleistungen ausführlich und überzeugend herausgearbeitet: Entscheidend sei, dass eine Sonderleistung typischerweise nicht altruistisch erbracht werde, sondern, um das Verhalten der Arbeitnehmer:innen im Betrieb zu beeinflussen, insbesondere um ihre Arbeitsmoral und Betriebstreue zu stärken. Diese ökonomisch motivierte Reziprozitätserwartung würden Arbeitnehmer:innen erkennen.156 Ein Wille zur dauerhaften Bindung sei diesem Verhalten zu entnehmen, da sich regelmäßige Sonderzahlungen für Arbeitnehmer:innen als eine höhere Bewertung ihrer Arbeitsleistung darstelle und dies aufgrund des Charakters des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis auch zukunftsbezogen gelte.157 Die entscheidenden Gründe für die Annahme eines dauerhaften Bindungswillens der Arbeitgeber:innen sind also der Gegenleistungscharakter der Sonderleistung und das Element der Dauerhaftigkeit der Arbeitsverhältnisse.158 Objektive und vernünftige Adressaten dürfen die wiederholte Zahlung so verstehen, dass Arbeitgeber:innen eine dauerhafte vorteilhafte „Neubewertung des arbeitsrechtlichen Synallagmas“159 vornehmen möchten, um dadurch den wirtschaftlichen Nutzen der Arbeitnehmer:innen für ihren Betrieb zu erhöhen.
155 Vgl. C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 202; vgl. zur Maßgeblichkeit der Interessen des Erklärenden für die Auslegung seiner Erklärung auch BGH, Urt. v. 28. 7. 2005 – III ZR 3/05, NJW 2005, 3636, 3637 m. w. N. 156 C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 222 f. 157 C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 230 f.; R. Waltermann, RdA 2006, 257, 261. 158 BAG, Urt. v. 21. 1. 1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009, 1012; K. Bepler, RdA 2004, 226, 237; C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 230. 159 C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 230.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
b) Gründe gegen die Annahme eines dauerhaften Bindungswillens bei der Wiedereinstellung Ein Bindungswille kann also nur dann angenommen, wenn er dem Interesse der Arbeitgeber:innen entspricht. Ein Interesse an der dauerhaften Erbringung von Leistungen ist aber nach dem oben Gesagten nur dann gem. §§ 133, 157 BGB anzunehmen, wenn Arbeitgeber:innen mit der Leistung eigene Vorteile verfolgen und eine dadurch vorgenommene Modifizierung des arbeitsvertraglichen Leistungsgefüges aufgrund des Charakters als Dauerschuldverhältnis zukunftsbezogen verstanden werden kann. Diese Erwägungen treffen auf die Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen nicht zu. aa) Selbstzweck der Wiedereinstellung Gegen die Annahme eines Bindungswillens spricht erstens, dass für Arbeitnehmer:innen nicht zweifelsfrei erkennbar ist, dass Arbeitgeber:innen mit der Wiedereinstellung einen über die Wiedereinstellung hinausgehenden Zweck verfolgen, der für die Annahme eines dauerhaften Bindungswillens erforderlich ist. Anders als bei überobligatorischen Geldzahlungen ist die Wiedereinstellung nämlich eine betriebsorganisatorisch notwendige Maßnahme. Arbeitgeber:innen stellen Arbeitnehmer:innen wieder ein, damit der Betrieb funktioniert. Die Wiedereinstellung ist also ihr Selbstzweck. Der positive Effekt für Arbeitnehmer:innen – die Option eines Arbeitsvertrags mit entsprechender Vergütung und sozialer Sicherheit – ist nicht der Zweck der Wiedereinstellung, sondern ihre Nebenfolge. Damit rückt die Wiedereinstellung in die dogmatische Nähe anderer betriebsorganisatorischer Maßnahmen, die nach Ansicht des BAG und Pickers regelmäßig keinen Erklärungswert einer dauerhaften Bindung aufweisen: Für verständige Arbeitnehmer:innen sei regelmäßig erkennbar, dass der Arbeitgeber die Maßnahmen nur deswegen regelmäßig und wiederkehrend vornehmen, weil „es seinen Vorstellungen von einer rationellen, betriebsökonomisch sinnvollen Vorgehensweise entspricht“160 und nicht, weil er dauerhafte, darüber hinausgehende Zwecke verfolgt. Ein individualrechtlicher Bindungswille bezüglich betriebsorganisatorischer Maßnahmen ist aus diesen Gründen auch nach Ansicht des BAG fernliegend.161 bb) Kein Eigeninteresse der Arbeitgeber:innen an einer antizipierten Selbstbindung Gegen diese Sichtweise kann einzuwenden sein, dass Arbeitgeber:innen, anders als bei anderen betriebsorganisatorischen Maßnahmen wie beispielswiese Schichtplänen, ein für die Arbeitnehmer:innen erkennbares Interesse an einer antizipierten rechtsgeschäftlichen Bindung haben können. Ähnlich wie bei Sonderzahlungen kann 160 161
C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 209. BAG, Urt. v. 21. 1. 1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009, 1012.
2. Kap.: Rechtsgeschäftliche und außerrechtsgeschäftliche Bindung
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mit der Aussicht einer Wiedereinstellung die Arbeitsmoral der Arbeitnehmer:innen gesteigert sowie sichergestellt werden, dass die Arbeitnehmer:innen in der nächsten Saison verfügbar sind. Gegen eine solche Auslegung sprechen jedoch zwei gewichtige Gründe: Erstens führt die Annahme eines Bindungswillens nur zu einer einseitigen Bindung der Arbeitgeber:innen. Zwar mag die Aussicht einer Wiedereinstellung attraktiv für Arbeitnehmer:innen sein und sie daher von der Suche nach alternativen Arbeitsplätzen absehen. Eine rechtliche Einwirkungsmöglichkeit auf die Arbeitnehmer:innen haben die selbst an eine Wiedereinstellungszusage gebundenen Arbeitgeber:innen aber nicht. Möchten Arbeitgeber:innen Sicherheit haben, dass ihre Arbeitnehmer:innen in der nächsten Saison wieder verfügbar sind, liegt der Abschluss eines Vorvertrags162 oder eines Dauerarbeitsverhältnisses, ggf. mit auf die Saison beschränkter Beschäftigungs- und Vergütungspflicht,163 daher viel näher als eine einseitige Bindung. Verständige Arbeitnehmer:innen dürfen die wiederholte Einstellung in der Vergangenheit also nicht als Zusage einer einseitigen Bindung auch in der Zukunft verstehen.164 Mit dem Verweis auf ein Dauerarbeitsverhältnis ist auch schon das zweite Argument gegen die Annahme eines Bindungswillens von Arbeitgeber:innen angesprochen. Arbeitgeber:innen bedienen sich der Option befristeter Arbeitsverträge gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG typischerweise gerade, um Arbeitnehmer:innen flexibel einsetzen zu können und sich nicht langfristig binden zu müssen. Dieses Interesse der Arbeitgeber:innen ist für Arbeitnehmer:innen auch erkennbar. Dass Arbeitgeber:innen ihre gesetzlich eingeräumte Fortsetzungsfreiheit freiwillig, ohne hinreichenden Grund und ohne ausdrückliche Abrede einschränken möchten, widerspricht daher typischerweise erkennbar ihren Interessen. cc) Keine Dauerhaftigkeit des synallagmatischen Leistungsaustausches Schließlich dürfen Arbeitnehmer:innen ihren Arbeitgeber:innen einen zukunftsgerichteten Bindungswillen gerade deshalb im Einzelfall unterstellen, da Arbeitgeber:innen durch die wiederholte Leistungserbringung die Rechte und Pflichten innerhalb eines bestehenden personenbezogenen Dauerschuldverhältnisses ausgestaltet haben.165 Eine solche dauerhafte Bindung existiert im Falle wiederholter Bindungen nach Fristablauf aber gerade nicht: Mit Fristablauf endet das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber:innen und -nehmer:innen. Im Falle der Neueinstellung sind beide Parteien frei darin, das Äquivalenzverhältnis neu auszutarieren. Insbesondere steht es Arbeitgeber:innen frei, die Arbeitsleistung der Arbeitnehmer:innen anders zu bewerten und sie zu besseren oder schlechteren Konditionen zu beschäftigen. Wenn Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis aber schon nicht davon ausgehen dürfen, dass ihre vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen 162
Siehe oben 2. Kap. B. I. 2. Eine solche Vertragsgestaltung hat das BAG für zulässig gehalten in BAG, Urt. v. 19. 11. 2019 – 7 AZR 582/17, NZA 2020, 374. 164 So auch C. Picker, Die betriebliche Übung (2011), S. 291. 165 R. Waltermann, RdA 2006, 257, 261. 163
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
im Falle einer Wiedereinstellung unverändert bleiben, dürfen sie erst recht nicht darauf vertrauen, dass die bisher gelebte Wiedereinstellungspraxis als ungeschriebene Neubewertung des Äquivalenzverhältnisses bestehen bleibt und die verschiedenen, jeweils mit zeitlichem Abstand neu geschlossenen Arbeitsverträge überdauert. Arbeitnehmer:innen dürfen Wiedereinstellungspraktiken auch aus diesem Grund nicht als Betätigung eines zukunftsgerichteten Bindungswillens verstehen. c) Bedeutung eines Kollektivbezugs für die Auslegung Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Arbeitgeber:innen über personelle Einzelmaßnahmen, wie insbesondere (Wieder-)Einstellungen, üblicherweise in Ansehung der Fähigkeiten und Bewährung der einzelnen Personen entscheiden. Aus der Tatsache, dass Arbeitgeber:innen einzelne Arbeitnehmer:innen in den vergangenen Jahren fünf Mal wiedereingestellt haben, dürfen betreffende Arbeitnehmer:innen daher nicht zweifelsfrei schlussfolgern, dass diesem Verhalten eine auch in die Zukunft wirkende Regelhaftigkeit zugrunde liegt; es ist vielmehr genauso möglich, dass Arbeitgeber:innen die individuelle Leistung der Arbeitnehmer:innen jedes Jahr neu evaluiert haben und sie jeweils aufgrund zufriedenstellender Ergebnisse wiedereingestellt haben. Anders sieht es bei der betrieblichen Übung aus: Haben Arbeitgeber:innen in den beispielhaften vergangenen fünf Jahren stets alle Arbeitnehmer:innen wiedereingestellt, ist aus diesem Verhalten eine höhere Regelhaftigkeit und ein geringerer Einzelfallbezug der Wiedereinstellungsentscheidung abzuleiten. Es liegt daher näher, Arbeitgeber:innen einen Bindungswillen auch für die Zukunft zu unterstellen. Dass die Schwelle der Annahme eines Bindungswillens bei der betrieblichen Übung daher geringer ist als bei der Individualübung, ist hier allerdings ohne Konsequenz, da es auch bei einem Kollektivbezug vergangener Wiedereinstellungen aus o. g. Gründen an einem für die Annahme eines Bindungswillens erforderlichen Erklärungswert fehlt. d) Ergebnis: Kein Erklärungswert der wiederholten Wiedereinstellung für sich Die wiederholte Wiedereinstellung in der Vergangenheit kann nicht als Wiedereinstellungszusage für die Zukunft ausgelegt werden. Insofern ist dem BAG zu widersprechen. Ob das Gericht die eigenen abstrakten Erwägungen je derart angewendet hätte, dass es die Wiederholung von Verhaltensweisen als Wiedereinstellungszusage ausgelegt hätte, ist ohnehin zweifelhaft.
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2. Erforderlichkeit zusätzlicher Indizien im Kontext der aktuellen Wiedereinstellung Die Annahme einer konkludenten Wiedereinstellungszusage kommt nur in Betracht, wenn im einzelnen Fall weitere Indizien für die Zusage einer Wiedereinstellung konkret in der nächsten Saison bestehen.166 Entscheidend ist dann eine Auswertung aller Umstände des Einzelfalls, freilich unter Berücksichtigung der wiederholten Wiedereinstellungen in der Vergangenheit. Als entscheidende Einzelfallindizien kommen beispielsweise Äußerungen von Arbeitgeber:innen im Kontext des Fristablaufs, ein Aushang am Schwarzen Brett oder eine Weihnachtsgeldzahlung in Betracht.
IV. Ergebnis: keine Wiedereinstellungsansprüche in Saisonarbeitsverhältnissen nur aufgrund betrieblicher Übung Sowohl die Individual- als auch die betriebliche Übung sind Phänomene konkludenter Vertragsbindung. Entscheidend ist daher nach §§ 133, 157 BGB, ob verständige Arbeitnehmer:innen das Arbeitgeberverhalten so verstehen durften, dass sich Arbeitgeber:innen rechtsgeschäftlich auch für die Zukunft zur Wiedereinstellung in der nächsten Saison verpflichten wollte. Die wiederholte Wiedereinstellung eines Saisonarbeiters in der Vergangenheit allein enthält keinen auf die dauerhafte Selbstbindung gerichteten Erklärungswert. Das gilt auch dann, wenn die Wiedereinstellung der Belegschaft betriebsüblich war. Ein Wiedereinstellungsanspruch aufgrund betrieblicher Übung ist abzulehnen. Eine konkludente Wiedereinstellungszusage der Arbeitgeber:innen ist stattdessen nur im Einzelfall anzunehmen, wenn weitere Indizien für die Zusage einer Wiedereinstellung konkret in der nächsten Saison bestehen. Gleichförmiges Verhalten in der Vergangenheit kann den Erklärungswert dieser Indizien verstärken, aber nicht ersetzen.
E. Ergebnisse des zweiten Kapitels Dadurch, dass es sich bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse um Vertragsbegründungen im vertraglich vorgeprägten Raum handelt, kommen verschiedene Tatbestände in Betracht, die die Erwartung von Arbeitnehmer:innen erzeugen, dass ihnen eine Vertragsfortsetzung angeboten werde. Da die meisten Arbeitnehmer:innen von ihren Arbeitsverhältnissen wirtschaftlich abhängig sind und die Erwartung einer Weiterbeschäftigung ihr Dispositionsverhalten beeinflussen 166 So auch in BAG, Urt. v. 14. 9. 2011 – 10 AZR 526/10, NZA 2012, 81, 82 (Rn. 13 ff.); BAG, Urt. v. 21. 4. 2010 – 10 AZR 163/09, NZA 2010, 808, 809 f. (Rn. 17): Auslegung von wiederholter Leistungserbringung in der Vergangenheit in Verbindung mit sonstigen Äußerungen des Arbeitgebers.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
kann, ist ihr Vertrauen grundsätzlich schutzbedürftig. Gleichzeitig ist die im ersten Kapitel herausgearbeitete gesetzgeberische Entscheidung zu beachten, dass Arbeitgeber:innen nach der Konzeption des TzBfG bei Fristablauf frei in der Entscheidung sind, Arbeitsverhältnisse fortzusetzen oder nicht. Entscheidend ist daher, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Rechtsfolgen das Vertrauen von Arbeitnehmer:innen in eine Vertragsfortsetzung schutzwürdig ist. Die Untersuchungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass der Interessenkonflikt mit dem vertragsrechtlichen Instrumentarium des BGB gelöst werden kann: Ein Vertrag mit Erfüllungsansprüchen wird durch die Abgabe wechselseitiger Willenserklärungen begründet. Das Erfüllungsinteresse ist dementsprechend auch nur bei Vertrauen in einen bereits erfolgten Vertragsschluss ersatzfähig. Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss wird hingegen nur durch den Ersatz von Vertrauensschäden geschützt. Das entscheidende Abgrenzungskriterium ist damit der – aus der Sicht der Arbeitnehmer:innen zu beurteilende (§§ 133, 157 BGB) – Rechtsbindungswille der Arbeitgeber:innen als Kompromiss aus Selbstbestimmung der Erklärenden und Verkehrs- und Vertrauensschutz. Die Voraussetzungen, unter denen ein Arbeitgeberverhalten im Vorfeld des Fristablaufs als Fortsetzungszusage oder auch nur als haftungsauslösende Vertrauenserweckung ausgelegt werden kann, sind streng. Es ist nämlich für Arbeitnehmer:innen regelmäßig erkennbar, dass Arbeitgeber:innen Befristungsabreden bewusst gewählt haben, um bei Fristablauf frei über eine Fortsetzung entscheiden zu können und sie sich nicht grundlos vorher binden möchten. Ansprüche auf Vertragsfortsetzung sind daher nur bei Abschluss eines Vorvertrags oder dann anzunehmen, wenn Arbeitnehmer:innen das Verhalten der Arbeitgeber:innen als rechtsgeschäftliche Erklärung verstehen durften, sich vorbehaltlos oder bei Eintritt einer spezifischen Bedingung zum Abschluss eines Folgearbeitsvertrags zu verpflichten. Allein die wiederholte Vertragsfortsetzung in der Vergangenheit enthält keinen derartigen Erklärungswert; es müssen zusätzliche Indizien hinzukommen, aufgrund derer das Verhalten von Arbeitgeber:innen als Zusage einer Wiedereinstellung konkret für die nächste Saison ausgelegt werden kann. Ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens, aber nicht auf Vertragsfortsetzung, ist anzunehmen, wenn Arbeitgeber:innen eine Vertragsfortsetzung ausdrücklich oder konkludent als sicher und nicht nur wahrscheinlich hingestellt und dabei entweder über ihre Abschlussbereitschaft getäuscht oder den Vertragsschluss ohne triftigen Grund abgebrochen haben. Die mit dieser Haftung einhergehende mittelbare Beschränkung der freien Vertragsfortsetzung ist mit der Wertung in §§ 14 f. TzBfG vereinbar: Eine Vertrauenshaftung ergänzt das Primat des Vertragsrechts dort sinnvoll, wo Arbeitgeber:innen im eigenen Interesse das Maß an üblichem Verhandlungsverhalten derart überschreiten, dass Arbeitnehmer:innen mit einer Vertragsfortsetzung rechnen dürfen. Die mit der Nichtfortsetzung des Arbeitsvertrags einhergehenden Risiken werden so sachgerecht zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen verteilt.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
123
3. Kapitel
Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit A. Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz bei der Vertragsfortsetzung Eine unter dogmatischen Gesichtspunkten besonders spannende Fallgruppe der Selbstbindung von Arbeitgeber:innen ist ihre Pflicht zur Gleichbehandlung von Arbeitnehmer:innen aufgrund des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (im Folgenden: „Gleichbehandlungsgrundsatz“). Der spezielle Fall des Gleichbehandlungsgrundsatzes in § 4 I TzBfG wird anschließend [B.] betrachtet. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet Arbeitgeber:innen dazu „Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern gleich zu behandeln, soweit sie sich in gleicher oder vergleichbarer Lage befinden. Verboten ist nicht nur die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe, sondern vor allem eine sachfremde Gruppenbildung.“167 Voraussetzung für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist, dass Arbeitgeber:innen eine Verteilungsentscheidung getroffen haben: Wenn sie bei einer Leistungsgewährung oder Maßnahme nach einem generalisierenden Prinzip verfahren, indem sie bestimmte Leistungszwecke und Voraussetzungen festgelegt haben, dürfen sie einzelne Arbeitnehmer:innen nicht ohne sachlichen Grund ausschließen. Liegt kein sachlicher Grund vor, der eine Ungleichbehandlung rechtfertigt, können übergangene Arbeitnehmer:innen beanspruchen, nach Maßgabe der allgemeinen Regelung behandelt zu werden und die vorenthaltene Begünstigung zu erhalten („Anpassung nach oben“).168 Immer dann, wenn mehrere vergleichbare Arbeitnehmer:innen befristet in einem Unternehmen beschäftigt sind und Arbeitgeber:innen nur einem Teil dieser Gruppe Folgearbeitsverträge anbieten wollen, könnte ihre Vertragsfortsetzungsfreiheit durch den Gleichbehandlungsgrundsatz begrenzt sein. In der Praxis tritt diese Situation insbesondere in großen Unternehmen mit einem permanent hohen Bedarf an Arbeitskräften auf ähnlichen Posten (beispielsweise in der Industrie) oder in Unternehmen mit einem schnell wachsenden Bedarf an Arbeitskräften auf: Aus Wirtschaftlichkeitsgründen werden Neueinstellungen oft in Tranchen vorgenommen und sachgrundlos zur Probe befristet. Nach Ablauf der Probezeit entscheiden Arbeitgeber:innen, welche der Arbeitsverhältnisse entfristet werden und welche nicht. Bislang ist weder abschließend höchstrichterlich entschieden noch ausführlich in der 167
St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 608. St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 608; BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 117 (Rn. 20). 168
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Literatur untersucht, ob Arbeitgeber:innen in einer solchen Situation frei über die Vertragsfortsetzungen entscheiden können oder dabei den Gleichbehandlungsgrundsatz beachten müssen. Folgende der Praxis entlehnte Beispielsfälle dienen dieser Untersuchung zur Illustration: 1. Die Klägerin war sachgrundlos befristet bis zum 30. 9. 2006 bei der Beklagten beschäftigt. Die Klägerin wurde gleichzeitig mit 19 weiteren Arbeitnehmer:innen eingestellt, mit denen gleichlautende Verträge abgeschlossen wurden; alle 20 Arbeitnehmer:innen waren als Fachassistent:innen in der ARGE Hamburg zur Feststellung und Aufdeckung von Leistungsmissbrauch eingesetzt. Am 12. 9. 2006 bot die Beklagte den 19 zusammen mit der Klägerin eingestellten Arbeitnehmer:innen eine Vertragsverlängerung bis zum 22. 1. 2008 an. Diese nahmen die Angebote an. Die Klägerin erhielt kein derartiges Angebot. Die Klägerin beantragt, dass die Beklagte dazu verpflichtet wird, mit ihr eine Vertragsverlängerung bis zum 22. 1. 2008 zu vereinbaren. Dafür beruft sie sich auf den Grundsatz der Gleichbehandlung. Die Beklagte beweist, dass sie die Fortsetzung für jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin von der bisherigen Bewährung abhängig gemacht hat und die Klägerin sich nicht bewährt hat.169 2. Der Kläger war aufgrund eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags vom 1. 1. 2017 bis zum 31. 12. 2017 bei der Beklagten als Anlagenbediener beschäftigt. Am 20. 11. 2017 vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat u. a.: „Leitung und Betriebsrat sind sich einig, dass folgende Maßnahmen umgesetzt werden: 1. Eine nach Werkstätten bedarfsorientierte Verlängerung aller befristet beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (bbMA) bis 30. 09. 2018. Davon ausgenommen sind: a) Befr. MA, deren Verträge bereits dreimal verlängert wurden und/oder b) die maximale Vertragsdauer von 24 Monaten erreichen. c) MA mit Verhaltens- und Leistungsdefiziten. Die Auswahl trifft der Arbeitgeber. 2. Die Verhandlungspartner haben sich darauf verständigt 30 Entfristungen aus dem Kontingent der befristeten Beschäftigten, die vor dem 01. April 2017 beschäftigt waren, vorzunehmen. Die Auswahl trifft der Arbeitgeber. Die Entfristungen erfolgen zum 01. 01. 2018.“ Die Beklagte entschied, zum 31. 12. 2017 insgesamt einhundert Entfristungen vorzunehmen. Die Auswahl der unbefristet übernommenen Arbeitnehmer:innen erfolgte durch die Beklagte. Dabei legte sie folgende Auswahlkriterien zugrunde: – Feedbackbögen: Individuelle Bewertung der Leistung durch Vorgesetzte: 0 – 3 Punkte. – Unterhalt pro Kind: 1 Punkt. – Schwerbehinderung pro 10 % GdB: 1 Punkt. – Betriebszugehörigkeit: Anzahl der Tage/200. – Ausbildung: 0 – 3 Punkte. 169
Angelehnt an BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
125
Aufgrund dieses Schemas erstellte die Beklagte eine Liste mit den befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen unter Zuteilung einer Punktezahl. Der Kläger belegt nach dieser Liste Rang 189. Er begehrt die Entfristung seines Arbeitsvertrags.170
I. Meinungsstand 1. Ansicht der Rechtsprechung Das BAG hatte sich in mehreren jüngeren Entscheidungen mit der Frage zu beschäftigen, ob der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz Ansprüche von Arbeitnehmer:innen auf Verlängerung ihrer Arbeitsverträge begründen kann. In den zugrundeliegenden Sachverhalten wurde das sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnis der Kläger und Klägerinnen nicht fortgesetzt, aber einer Gruppe vergleichbarer, ebenfalls befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen ein Weiterbeschäftigungsangebot unterbreitet. Das BAG hat entschieden, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz keinen Anspruch auf Verlängerung sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge begründet. Insoweit folge nämlich aus dem Zweck des § 14 II TzBfG, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit Vorrang genieße: Arbeitgeber:innen sollen frei und ohne Bindung an sachliche Gründe über eine Weiterbeschäftigung entscheiden dürfen.171 Ausdrücklich offen gelassen hat das BAG aber die Frage, ob der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz „überhaupt“ Anspruchsgrundlage für den Abschluss eines Arbeitsvertrags nach Befristungsablauf sein kann.172 2. Literaturauffassungen In der Literatur ist man sich uneinig: Überwiegend wird im Ergebnis dem BAG zugestimmt, aber dabei nicht zwischen sachgrundlosen Befristungen und solchen mit Sachgrund unterschieden:173 Allen Befristungen sei gemein, dass Arbeitgeber:innen nach Befristungsablauf so frei wie bei der ursprünglichen Begründung eines Arbeitsverhältnisses seien und die Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz zu
170 Angelehnt an LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 24. 7. 2019 – 4 Sa 22/19, NZA-RR 2019, 631 und die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz ArbG Reutlingen, Urt. v. 26. 6. 2018 – 2 Ca 226/17, BeckRS 2018, 47637. 171 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345; BAG, Urt. v. 15. 5. 2012 – 7 AZR 754/10, NZA-RR 2013, 159; BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27. 172 So zusätzlich zu den in Fn. 171 genannten Urteilen BAG, Urt. v. 24. 6. 2015 – 7 AZR 541/ 13, NZA 2015, 1511, 1516 (Rn. 61). 173 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 112; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 16; H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 765; M. Grobys/R. von SteinauSteinrück, NJW-Spezial 2009, 52; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 329 ff.; M. Horcher, RdA 2014, 93, 98; ErfK/R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 7; R. Strecker, RdA 2009, 381, 384; S. Braun, ZTR 2007, 78, 81: außer in krassen Ausnahmefällen.
126
2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
einem zu vermeidenden „Kündigungsschutz zweiter Klasse“174 führe. Gegen die Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes sprächen daher entweder allgemein der „Vorrang der Vertragsfreiheit“175 oder, etwas konkreter, die Wertung von § 14 TzBfG176 und nach Ansicht Backhaus’ außerdem a maiore ad minus § 15 VI AGG.177 Die Gegenauffassung bejaht die Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen,178 nach Ansicht Baders als Ausfluss der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber:innen.179 Es sei dem Gleichbehandlungsgrundsatz inhärent, dass die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen insoweit eingeschränkt wird, als ihnen eine willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer:innen untersagt wird. Der Zweck des § 14 II TzBfG werde nicht in Frage gestellt, da Arbeitgeber:innen, die nach einem generalisierenden Prinzip Anschlussverträge abschließen, dadurch ihre Abschlussfreiheit selbst einschränken. Die vom BAG angedeutete Differenzierung zwischen Befristungen mit und ohne Sachgrund wird in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht vertreten.
II. Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes Der Gleichbehandlungsgrundsatz wurzelt in der Judikatur des RAG aus dem Jahr 1938.180 Seitdem ist er ein fester, nach weit verbreiteter Ansicht zu Gewohnheitsrecht erstarkter181 Bestandteil des Arbeitsvertragsrechts. Er selbst ist nicht gesetzlich normiert; seine Existenz wird aber in § 1b I 4 BetrAVG vorausgesetzt. Da der Gleichbehandlungsgrundsatzes in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreift, ist er legitimationsbedürftig. Man ist sich über seinen Geltungsgrund bislang nicht einig. Die wesentlichen Begründungsansätze – die Rückführung auf ein überpositives Gerechtigkeitspostulat [1.] sowie privatrechtliche Legitimationsansätze [2.] – werden im Folgenden dargestellt, um auf ihrer Grundlage Anwendungsbereich und Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes herausarbeiten zu können [III.].
174
M. Diller, FD-ArbR 2009, 273640. M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 283; ErfK/R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 7. 176 M. Grobys/R. von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2009, 52; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 329 ff.; M. Horcher, RdA 2014, 93, 98; R. Strecker, RdA 2009, 381, 384. 177 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 112. 178 KDZ/W. Däubler/A. Wroblewski (2014), § 15 TzBfG Rn. 23; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 111; DHSW/C. Tillmanns (2017), § 15 TzBfG Rn. 16. 179 KR/P. Bader (2016), § 17 TzBfG Rn. 89. 180 RAG, Urt. v. 19. 1. 1938 – 153/37, ARS 33, 172, 176. 181 BeckOGK/M. Maties, § 611a BGB Rn. 288; ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 574. 175
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
127
1. Rückführung auf ein überpositives, der Rechtsordnung immanentes Gerechtigkeitspostulat Bereits Aristoteles identifizierte in seiner Nikomachischen Ethik das Prinzip der Gleichbehandlung als Grundlage von Gerechtigkeit. Er unterschied zwischen zwei Formen der Gerechtigkeit: der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) bei der Verteilung von Gütern oder Werten, die Bürger:innen eines geordneten Gemeinwesens gehören, und der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa), die das Äquivalenzverhältnis von Leistungsaustauschen unter Privaten betrifft.182 Grundprinzip der austeilenden Gerechtigkeit ist, dass Gleiches gleich, Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden muss. Dieses vorstaatliche, überpositive Ideal der Gerechtigkeit183 ist für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen in Art. 3 I GG normiert und dadurch als grundlegendes Rechtsprinzip anerkannt worden. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz dient der Verwirklichung austeilender Gerechtigkeit zwischen den Adressaten einer Verteilungsentscheidung184 und entspringt damit demselben überpositiven Prinzip der Gerechtigkeit.185 Im Schrifttum herrscht heute die Auffassung vor, dass die Gleichheitsgebote „ideengeschichtlich derselben Wurzel entspringen“186, sich der Gleichbehandlungsgrundsatz aber nicht unmittelbar auf Art. 3 I GG zurückführen lässt.187 G. Hueck hat in seiner wegweisenden Monographie über den „Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht“ formuliert, „daß der öffentlich-rechtliche Gleichheitssatz und die privatrechtliche Gleichbehandlung auf dieselbe Grundidee zurückzuführen sind, die ihrerseits unmittelbar im Gerechtigkeitsbegriff verwurzelt ist. Es handelt sich somit um zwei Erscheinungen desselben übergeordneten Prinzips, das in Art. 3 GG seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat und mit dem Range eines Grundrechts ausgestattet worden ist. […] Durch die Aufnahme des allgemeinen Gleichheitssatzes an bevorzugter Stelle in den Grundrechtsteil der Verfassung wird seine grundlegende Bedeutung für die gesamte Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht. Darin liegt eine 182
Aristoteles, Nikomachische Ethik V f 1130 b ff. Vgl. L. Raiser, ZHR 1948, 75, 90; BAG, Urt. v. 3. 9. 2014 – 5 AZR 6/13, NZA 2015, 222, 223 (Rn. 18). 184 C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 36 ff.; R. Richardi, ZfA 2008, 31, 34. 185 BAG, Urt. v. 3. 9. 2014 – 5 AZR 6/13, NZA 2015, 222, 223 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 15. 11. 1994 – 5 AZR 682/93, NZA 1995, 939; G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 106; T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 320. 186 T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 328. 187 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 96 ff.; aus der jüngeren Literatur z. B.: L. Fastrich, RdA 2000, 65, 70; T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 329; R. Richardi, ZfA 2008, 31, 34; ErfK/I. Schmidt, Art. 3 GG Rn. 29; a. A. M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 327 f. 183
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Wertung des Gleichheitssatzes, die unter besonderer Berücksichtigung seiner unmittelbaren Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken dazu berechtigt, ihn als allgemeinen Rechtsgrundsatz anzusprechen, der für alle Rechtsgebiete gleichermaßen gilt.“188 Auch das BAG betont, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz dem Privatrecht zuzuordnen sei und spricht nur noch von einer Inhaltsgleichheit der Gleichbehandlungsgrundsätze, die aus der Rückführung auf dasselbe überpositive Gerechtigkeitsideal resultiere.189 Mit dieser Herleitung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus einem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip, das nur für das Staat-Bürger-Verhältnis in Art. 3 I GG normiert ist, können jedoch keine Aussagen über seinen Anwendungsbereich und seine Voraussetzungen abgeleitet werden.190 Unklar bleibt erstens, wieso das Prinzip der Gleichbehandlung trotz der „Allgemeingültigkeit des Gerechtigkeitsgedankens“191 nicht im gesamten Privatrecht das Prinzip der Vertragsfreiheit verdrängt. Zweitens erklärt der Geltungsgrund nicht, wie überhaupt die Scheidelinie zwischen Gleichbehandlungspflicht versus Vertragsfreiheit einerseits und zwischen austeilender Gerechtigkeit versus ausgleichender Gerechtigkeit andererseits zu ziehen ist. G. Hueck weist aus diesen Gründen auf die Unzulänglichkeit des Gerechtigkeitsprinzips als Rechtsgrundlage von privatrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsätzen hin: „Eine Gleichbehandlungstheorie gewinnt erst dann praktischen Wert, wenn sie es gestattet, den Gegensatz zwischen Gleichbehandlungsgebot und Gestaltungsfreiheit zu berücksichtigen und eine möglichst klare Abgrenzung zwischen den Anwendungsbereichen dieser beiden Prinzipien vorzunehmen.“192 Der eigentliche Geltungsgrund der Gleichbehandlung im Privatrecht ist damit nach überwiegender Ansicht der Literatur im Privatrecht zu suchen. 2. Privatrechtliche Legitimationsansätze Das RAG hat die Pflicht zur Gleichbehandlung im Jahr 1938 aus dem „Gemeinschaftsleben im einzelnen Betrieb, aus der darin wurzelnden gegenseitigen Treu- und Fürsorgepflicht des Betriebsführers“, soweit daraus „konkrete Ordnungen“ erwachsen, hergeleitet.193 Dieser Begründungsansatz enthält bereits zwei Komponenten, auf die sich die Literatur bis heute stützt: das Bestehen von Ge188 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 96 ff. 189 BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 609; BAG, Urt. v. 15. 11. 1994 – 5 AZR 682/93, NZA 1995, 939. 190 So auch G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 97. 191 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 107. 192 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 107. 193 RAG, Urt. v. 19. 1. 1938 – 153/37, ARS 33, 172, 176.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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meinschaftsverhältnissen („horizontale Dimension“) und die Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen („vertikale Dimension“).194 a) Vertikale Dimension: Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen Eine Begründung für die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes liegt im vertikalen Verhältnis zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen. Nach einer auf Bötticher zurückgehenden Ansicht ist die Gleichbehandlungspflicht die Konsequenz daraus, dass sich Arbeitgeber:innen durch die Aufstellung von Normen selbst binden.195 Nach einer anderen, heute verbreiteten Ansicht wird mit der Anerkennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Übermacht der Arbeitgeber:innen bei der Ausübung einseitiger Gestaltungsbefugnisse bezüglich Arbeitskonditionen und freiwilliger Leistungen reagiert.196 Auch der Dritte Senat des BAG bemüht diesen Begründungsansatz: „Ein Arbeitgeber, der auf der Grundlage der arbeitsvertraglichen Rahmenermächtigung, seines Eigentumsrechts oder seiner Unternehmerfreiheit die rechtliche Möglichkeit hat, privatrechtliche Regelungen für den von ihm beherrschten und verantworteten Arbeitsbereich zu schaffen, muss als Folge dieser Kompetenz bei einer von ihm ausgehenden privatautonomen Regelsetzung die Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit wahren.“197 Ähnliche Erwägungen klingen in der Rechtsprechung des Vierten BAG-Senats an, in der der „Schutzcharakter“ des Gleichbehandlungsgrundsatzes gegenüber der Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen hervorgehoben wird.198 Der Gleichbehandlungsgrundsatz kompensiere danach die einseitige Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen bei der Durchführung von Arbeitsverhältnissen, da Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer strukturellen Unterlegenheit ihr typischerweise nicht selbst entgegenwirken können.199 Diese Situation sei insbesondere deshalb zu kontrollieren, weil Leistungen und Begünstigungen im Arbeitsverhältnis eine existenzielle Bedeutung für die Arbeitnehmer:innen haben.200
194 Die Begriffe gehen zurück auf H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 236, 238. 195 E. Bötticher, RdA 1953, 161, 162 ff. 196 Aus dem Schrifttum z. B.: M. Creutzfeldt, JbArbR 52 (2015), 25, 39 ff.; H. Wiedemann, RdA 2005, 193, 194; vgl. auch L. Raiser, ZHR 1948, 75, 92 ff. 197 BAG, Urt. v. 15. 6. 2004 – 3 AZR 414/03, BeckRS 2004, 41919. 198 BAG, Urt. v. 23. 10. 2012 – 4 AZR 48/11, NJOZ 2013, 713, 715 (Rn. 14). 199 BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 118 (Rn. 26). 200 R. Singer, in: GS Zachert (2010), Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, S. 341, 354.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
b) Horizontale Dimension: Bestehen eines Gemeinschaftsverhältnisses Die Bedeutung des Gemeinschaftsverhältnisses zwischen den Arbeitnehmer:innen als Legitimationsgrund für die Anerkennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hat insbesondere G. Hueck betont.201 Die „Wechselwirkung zwischen Betriebsgemeinschaft und Einzelarbeitsverhältnis“, die durch „das Nebeneinander zahlreicher gleicher oder ähnlicher Rechtsverhältnisse“ entstehe, lasse überhaupt erst die Möglichkeit einer Gleichbehandlung entstehen.202 Nur wenn mehrere Personen vergleichbare Rechtpositionen innehaben, könne ihre Behandlung überhaupt als gleich oder ungleich bewertet werden. Die Parallelität von Rechtsbeziehungen allein vermöge die Parteien aber nicht zur Rücksichtnahme auf die jeweils anderen Rechtsverhältnisse zu zwingen. Selbst wenn eine der Vertragsparteien an mehreren Rechtsverhältnissen teilnimmt, sei sie nicht per se zu einer gleichförmigen Behandlung gezwungen. So muss beispielsweise ein Gläubiger nicht alle seine Gesamtschuldner gleich behandeln (vgl. § 425 BGB). Erst wenn sich die parallelen Rechtsverhältnisse nicht (nur) als isoliert nebeneinanderstehende bipolare Verhältnisse darstellen, sondern eine vertikale Verknüpfung hinzutritt, seien Gleichbehandlungspflichten legitimierbar. Ein solches kollektives Element sei das arbeitsrechtliche Gemeinschaftsverhältnis der Arbeitnehmer:innen.203 Auch im neueren Schrifttum wird der Gleichbehandlungsgrundsatz auf den Gemeinschaftsbezug von Arbeitsverhältnissen gestützt: Richardi betont, dass ein wesentlicher Unterschied des Arbeits- zu sonstigen schuldrechtlichen Verträgen darin liege, dass das Versprechen und Erbringen der Arbeitsleistung Arbeitgeber:innen befähigt, eine Arbeitsorganisation aufzubauen, der auch andere Arbeitnehmer:innen angehören, um gemeinsam einen Zweck zu erreichen.204 Ähnlich leitet Raab die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei freiwilligen Sonderzahlungen her: Das Gleichbehandlungsgebot auf Seite der Vergütung im weiteren Sinne stelle das gebotene Komplement dazu dar, dass Arbeitnehmer:innen sich zu vergleichbaren Leistungen verpflichtet haben, „die demselben wirtschaftlichen Zweck, nämlich dem unternehmerischen Interesse des Arbeitgebers, zu dienen bestimmt sind.“205 Und schließlich stellt das „horizontale Interessengeflecht“ im Betrieb auch nach H. Hanau eine Säule zur Begründung des Gleichbehandlungsgrundsatzes dar: Die Gemeinschaftsbezogenheit von Arbeitsbedingungen ergebe sich daraus, dass diese oft „vernünftigerweise nur einseitig geregelt werden“ können.206 Bei freiwilligen Entgeltleistungen resultiere der kollektive Bezug aus ökonomischen Sach201
G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 153. G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 137. 203 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 154. 204 R. Richardi, ZfA 2008, 31, 35. 205 T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 340. 206 H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 239. 202
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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zwängen: Da finanzielle Mittel der Arbeitgeber:innen begrenzt sind, stünden Arbeitnehmer:innen bei ihrer Verteilung in einem notwendigen Konkurrenzverhältnis.207 c) Synthese: Gleichbehandlungspflicht als Konsequenz eines multilateralen Rechtsverhältnisses Im Schrifttum wird häufig auf die Unzulänglichkeit einer isolierten Begründung mit dem einen oder anderen Ansatz hingewiesen. Der Verweis auf die Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen könne nicht begründen, dass sie das Einzelarbeitsverhältnis übersteigt, wieso Arbeitnehmer:innen also Ansprüche wegen der unterschiedlichen Behandlung anderer herleiten können.208 Und allein aus der Tatsache, dass sich Arbeitnehmer:innen in einem Gemeinschaftsverhältnis befinden, könne kein Gleichbehandlungsanspruch resultieren, da ansonsten kein Raum für individuelle Vereinbarungen bestehe und jede Vereinbarung im Kollektiv geschehen müsse. Damit würde aber erstens die Vertragsfreiheit der Vertragsparteien beseitigt und zweitens der Verteilungsgerechtigkeit ein absoluter Vorrang vor der Austauschgerechtigkeit eingeräumt. So würden insbesondere auch die Interessen von Arbeitnehmer:innen negiert, die im Rahmen des bilateralen Austauschverhältnisses bessere Konditionen aushandeln können als im Rahmen der multilateralen Verteilungsgerechtigkeit erzielt werden.209 Das neuere Schrifttum verankert den Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes daher im Zusammentreffen der vertikalen und horizontalen Dimension im multilateralen Rechtsverhältnis. Diese Herleitung ist überzeugend und wird der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz reagiert danach auf die einseitige Aufstellung von Normen durch Arbeitgeber:innen als Inhaber der Gestaltungsmacht sowie die Tatsache, dass die parallelen Rechtsbeziehungen zu Arbeitgeber:innen eine kollektive Ordnung bilden und die Normsetzung aus diesem Grund daher einzelne Arbeitsverhältnisse übersteigt.210
207
H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 240. 208 Z. B. G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 126. 209 Z. B. H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 241. 210 C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 38; M. Creutzfeldt, JbArbR 52 (2015), 25, 39 ff.; MüHa ArbR/ P. S. Fischinger, § 14 Rn. 11; H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 242; R. Richardi, ZfA 2008, 31, 34 f.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
3. Zusammenfassung zum Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes Der Arbeit wird die Prämisse zugrunde gelegt, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz dasselbe überpositive Gerechtigkeitsideal verfolgt wie Art. 3 I GG, aber nicht unmittelbar daraus herzuleiten ist. Stattdessen wurzelt der Gleichbehandlungsgrundsatz auf privatrechtlichen Legitimationssträngen: dem Zusammentreffen der einseitigen Gestaltungsmacht von Arbeitgeber:innen und der kollektiven Ordnung paralleler Arbeitsverhältnisse im Unternehmen.
III. Voraussetzungen einer Gleichbehandlungspflicht bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen Auf der Grundlage dieses Befunds ist zu ermitteln, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz auch die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse erfasst. Erkennt man die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für Arbeitgebermaßnahmen prinzipiell an, ist rechtfertigungsbedürftig, dass die herrschende Meinung Vertragsfortsetzungen aus dem Anwendungsbereich der Gleichbehandlungspflicht herausnimmt. Als Begründungen wird der Vorrang der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen oder ein drohender Widerspruch zu § 14 TzBfG angeführt. Eine Auseinandersetzung mit diesen Einwänden ist nur stichhaltig, wenn zuvor geklärt wird, unter welchen Voraussetzungen die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen tatsächlich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz – seine Existenz und Anwendbarkeit vorausgesetzt – verstoßen würde. Erst auf der Grundlage des so destillierten Anwendungsrahmens [gleich 1. – 4.] und der Rechtsfolgen [IV.] kann geprüft werden, ob die Gleichbehandlungspflicht tatsächlich dem Vorrang der Vertragsfreiheit oder dem Zweck des § 14 TzBfG zuwiderläuft [V.]. Untersucht wird nun also, ob und unter welchen Umständen die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse den konsentierten Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes unterfällt, da in einer Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen [1.] Arbeitnehmer:innen durch Anwendung eines kollektiven Systems ungleich behandelt werden [2.], ohne dass es für die Differenzierung einen sachlichen Grund gibt [3.]. 1. Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen: zeitlicher Anwendungsbereich Nach herrschender Meinung ist der Gleichbehandlungsgrundsatz nur in einer Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in anwendbar.211 Nur 211 BeckOK ArbR/J. Joussen, § 611a BGB Rn. 322; BeckOGK/M. Maties, § 611a BGB Rn. 1482; ErfK/U. Preis, § 611a BGB Rn. 578.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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im Arbeitsverhältnis bestehen nämlich die einseitige Gestaltungsmacht und das Gemeinschaftsverhältnis, die die Annahme einer Gleichbehandlungspflicht rechtfertigen. Nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz nur noch in Bezug auf die betriebliche Altersversorgung qua ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in § 1b I 4 BetrAVG. Konsequenz dieser Auffassung ist, dass Arbeitgeber:innen bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nur dann an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden sind, wenn die Verteilungsentscheidung im Laufe der befristeten Arbeitsverhältnisse, also vor Fristablauf, stattfindet.212 Dass sich die Gleichbehandlungspflicht auf ein in der Zukunft liegendes Arbeitsverhältnis bezieht, ist für die Anwendung des Grundsatzes unschädlich, da die Pflicht zur gleichmäßigen Behandlung im bestehenden Arbeitsverhältnis wurzelt und alle Leistungen, die in diesem Zeitraum versprochen werden (zum Beispiel auch zukünftige Boni, Abfindungen oder Ruhestandszahlungen), erfasst. Konsequenz der überwiegenden Ansicht ist, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz zeitlich nicht anwendbar ist, wenn Arbeitgeber:innen nach Ablauf mehrerer befristeter Arbeitsverhältnisse über eine Wiedereinstellung entscheiden und die ausgeschiedenen Arbeitnehmer:innen dabei ungleich behandeln.213 Anderer Ansicht ist Pallasch, demzufolge die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht davon abhängen könne, ob ein generelles Prinzip „noch vor oder erst (kurz) nach Vertragsende umgesetzt wird, weil die gebotene Gleichbehandlung ansonsten leicht umgangen werden könnte.“214 Diese Ansicht mag zwar ein diffuses Gerechtigkeitsempfinden befriedigen, ist aber rechtsdogmatisch nicht überzeugend. Erstens ist das rechtliche Band zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses nur auf die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses gerichtet,215 wodurch die vertikale Säule des Gleichbehandlungsgrundsatzes ins Wackeln gerät. Zweitens bricht auch die horizontale Begründungssäule, das Bestehen eines Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer:innen, mit ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb weg. Für die Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes gibt es dann keine Stütze. 2. Kollektiver Bezug der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmer:innen Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nach herrschender Ansicht sowohl die sachwidrige Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer:innen gegenüber einer Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer:innen als auch die sachfremde Gruppenbildung, also die Schlechterstellung einer Gruppe von Arbeitnehmer:innen gegenüber 212
M. Kleinert, Selbstbindung des Arbeitgebers (2018), S. 283; R. Strecker, RdA 2009, 381, 383. 213 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 112a; G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 234 f. 214 U. Pallasch, RdA 2015, 108, 111. 215 Siehe dazu ausführlich unten 5. Kap. A. II. 2. a) bb) (1).
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
einer anderen vergleichbaren Gruppe. Daher haben Arbeitgeber:innen den Gleichbehandlungsgrundsatz in zweierlei Hinsicht zu beachten: Erstens sind sie bei der Anwendung selbst gesetzter Regeln gebunden und dürfen einzelne Arbeitnehmer:innen, die nach den abstrakten Kriterien in die Gruppe der Begünstigten fallen würden, nicht willkürlich davon ausschließen. Haben Arbeitgeber:innen mit Rechtsbindungswillen erklärt, befristete Arbeitsverhältnisse unter bestimmten Voraussetzungen fortzusetzen, kann sich ein Fortsetzungsanspruch nach den oben dargestellten Grundsätzen216 schon aus einer vertraglichen Zusage ergeben. Zweitens erstreckt sich der Gleichbehandlungsgrundsatz bereits auf die Aufstellung einer Regelung: Arbeitgeber:innen müssen ein kollektives Regelungsprogramm derart gestalten, dass es vergleichbare Arbeitnehmergruppen nicht ohne sachlichen Grund von einer Begünstigung ausnimmt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz kommt nach einhelliger Ansicht also dann zum Tragen, wenn Maßnahmen von Arbeitgeber:innen einen kollektiven Bezug haben. Rechtsprechung und die Literatur relativieren auf diese Weise den vermeintlichen Vorrang der Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen bei der Leistung freiwilliger Entgeltleistungen. Dafür haben sie Maßstäbe entwickelt [a)], die sich auf die Fortsetzungsentscheidung übertragen lassen [b)]. So kann auch der Konflikt zwischen der Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen und seiner Begrenzung durch den Gleichbehandlungsgrundsatz innerhalb des Kriteriums des kollektiven Bezugs behandelt und aufgelöst werden. a) Maßstäbe für die Beurteilung freiwilliger Leistungen aa) Vom Schrifttum entwickelte Maßstäbe Betrachtet man den Gleichbehandlungsgrundsatz mit der wohl herrschenden Ansicht als Reaktion auf Gerechtigkeitsbedürfnisse, die sich aus der einseitigen Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen in Verbindung mit einem Gemeinschaftsverhältnis zwischen den Arbeitnehmer:innen ergeben, lassen sich die Kernvoraussetzungen einer Gleichbehandlungspflicht recht klar identifizieren: Erstens kann sich die Gleichbehandlung nur auf Maßnahmen von Arbeitgeber:innen beziehen, die Ausdruck ihrer einseitigen Gestaltungsmacht sind. Ist eine Begünstigung das Ergebnis individueller Verhandlungen zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in, ist die Begünstigung keine Folge der strukturellen Übermacht der Arbeitgeber:in und ihrer Kompetenz, den eigenen Regelungsbereich zu beherrschen. Das der vertikalen Dimension zwischen Arbeitgeber:in und -nehmer:in anhaftende Schutzbedürfnis entfällt. Mehr noch: Beruht das Verhandlungsergebnis auf dem individuellen Verhandlungsgeschick oder Marktwert eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin und geht es über das hinaus, was er als Ergebnis einer kollektiven Verteilungsentscheidung erhalten würde, soll ihm oder ihr diese indi216
2. Kap. B. I., D. III. 2.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
135
viduelle Besserstellung erhalten bleiben. Das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit geht in diesen Fällen dem der austeilenden Gerechtigkeit vor. Von Arbeitnehmer:innen individuell ausgehandelte Vergünstigungen können danach keine Ansprüche anderer Arbeitnehmer:innen auf die gleiche Behandlung auslösen.217 Zweitens muss die Maßnahme das einzelne Arbeitsverhältnis derart übersteigen, dass andere Arbeitnehmer:innen eigene Ansprüche aufgrund der unterschiedlichen Behandlung herleiten können. G. Hueck schreibt: „Mit der Schaffung einer über das einzelne Arbeitsverhältnis hinausreichenden Ordnung wird der Schritt vom individuellen Einzelvorgang zur gemeinschaftsbezogenen und daher der Gleichbehandlungspflicht unterliegenden Kollektivmaßnahme getan.“218 Erforderlich ist also, dass Arbeitgeber:innen für eine Leistung einen Bezugspunkt außerhalb des individuellen Arbeitsverhältnisses festlegen,219 der sich auf die ganze Belegschaft bezieht und insofern „kollektiven Charakter“ hat.220 Vergeben Arbeitgeber:innen Leistungen nach einem generellen System anhand abstrakter Merkmale, verlassen sie mit der Leistungsgewährung die bipolare einzelvertragliche Dimension und betreten die Bühne als Verteiler kollektiver Leistungen. Wenn sie bei ihrer Verteilungsentscheidung nicht mehr in Anschauung der Individualität einzelner Arbeitnehmer:innen entscheiden, sondern davon abstrahiert nach bestimmten übergeordneten Zwecken verfahren, ist es ihnen damit zumutbar, in gleichgelagerten Fällen an dieser Zwecksetzung festgehalten und zur gleichen Behandlung verpflichtet zu werden.221 bb) Vom BAG entwickelte Maßstäbe Auch nach der Rechtsprechung des BAG ist der Gleichbehandlungsgrundsatz im Bereich der Vergütung, die oft individuell ausgehandelt wird oder in Ansehung der einzelnen Arbeitnehmer:innen von Arbeitgeber:innen einseitig festgelegt wird, „nur beschränkt anwendbar, weil der Grundsatz der Vertragsfreiheit Vorrang hat.“222 Für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sei daher erforderlich, dass Arbeitgeber:innen eine „verteilende Entscheidung“ treffen.223 Die Pflicht zur 217
C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 38; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 611a BGB Rn. 318; ErfK/ U. Preis, § 611a BGB Rn. 575. 218 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 241. 219 T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 342. 220 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 240. 221 H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 242. 222 St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202, 1203 (Rn. 11); BAG, Urt. v. 19. 8. 1992 – 5 AZR 513/91, NZA 1993, 171, 172; BAG, Urt. v. 27. 7. 1988 – 5 AZR 244/87, AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 83; BAG, Urt. v. 10. 4. 1973 – 4 AZR 180/72, AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 38. 223 BAG, Urt. v. 17. 12. 2009 – 6 AZR 242/09, NZA 2010, 273, 276 (Rn. 30); BAG, Urt. v. 14. 3. 2007 – 5 AZR 420/06, NZA 2007, 862, 863 (Rn. 19).
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Gleichbehandlung knüpfe nicht unmittelbar an die begünstigende Leistung selbst an, sondern sei Folge einer „privatautonome[n] Verteilungsentscheidung, die ihren Ausdruck in einer vom Arbeitgeber freiwillig gesetzten Anspruchsgrundlage für die jeweilige Leistung findet. Der Leistung selbst geht jeweils die ,Schaffung eines eigenen Regelwerks […] durch eigenes gestaltendes Verhalten‘ voraus, in der das generalisierende Prinzip festgelegt wird.“224 Eine derartige Verteilungsentscheidung liege vor, „wenn der Arbeitgeber die Leistungen nach einem allgemeinen Prinzip gewährt, indem er bestimmte Voraussetzungen oder Zwecke festlegt.“225 Erforderlich ist nach den Maßstäben der Rechtsprechung also, dass Arbeitgeber:innen nicht einzelne Arbeitnehmer:innen bessergestellt haben, sondern dass die Besserstellung ohne Rücksicht auf individuelle Gesichtspunkte und ausschließlich anhand eines abstrakten Kriteriums getroffen wurde, das alle Begünstigten erfüllen.226 Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist demnach auch dann anwendbar, wenn Arbeitgeber:innen nach einem erkennbar generalisierendem Prinzip aufgrund einer abstrakten Regelung bestimmte Arbeitnehmer:innen auswählen, mit denen sie dann vertragliche Vereinbarungen über eine Leistung schließen. Der notwendige kollektive Bezug ist dadurch hinreichend gewährleistet, dass Arbeitgeber:innen die Voraussetzungen des Kontrahierens abstrakt vorgenommen haben; dann dürfen sie vergleichbare Arbeitnehmer:innen nicht ohne sachlichen Grund von einem Vertragsangebot ausschließen.227 b) Anwendung dieser Maßstäbe auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen aa) Übertragbarkeit der Maßstäbe: Vertragsfortsetzung als freiwillige Vorteilsgewährung Die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ist ein freiwilliges Verhalten von Arbeitgeber:innen, wenn sie sich nicht bereits entsprechend vertraglich gebunden haben. Sie ist außerdem für Arbeitnehmer:innen stets vorteilhaft, da Arbeitsverhältnisse ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage sind; jedenfalls erweitert der Antrag eines neuen Arbeitsvertrags ihren Rechtskreis. Insofern ist die freiwillige Abgabe
224
BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 117 (Rn. 20). BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 608; ebenso BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 117 (Rn. 19); BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/ 08, NZA 2009, 1202, 1203 (Rn. 11); BAG, Urt. v. 14. 3. 2007 – 5 AZR 420/06, NZA 2007, 862, 863 (Rn. 19); BAG, Urt. v. 19. 8. 1992 – 5 AZR 513/91, NZA 1993, 171, 172. 226 Vgl. BAG, Urt. v. 14. 11. 2017 – 3 AZR 515/16, NZA 2018, 367, 368 (Rn. 22); BAG, Urt. v. 17. 12. 2009 – 6 AZR 242/09, NZA 2010, 273, 276 (Rn. 29); BAG, Urt. v. 27. 7. 1988 – 5 AZR 244/87, AP BGB § 242 Gleichbehandlung Nr. 83. 227 BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 118 f. (Rn. 27); M. Creutzfeldt, JbArbR 52 (2015), 25, 44. 225
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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einer auf Vertragsfortsetzung gerichteten Willenserklärung mit der freiwilligen Verteilung geldwerter Leistungen an die Arbeitnehmer:innen also vergleichbar.228 bb) Übertragung der Maßstäbe: Vertragsfortsetzung als verteilende Entscheidung Die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen kann nach den oben dargestellten Maßstäben nur dann Gleichbehandlungspflichten auslösen, wenn ihr eine verteilende Entscheidung zugrunde liegt. Eine solche Entscheidung ist anzunehmen, wenn Arbeitgeber:innen über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen nach einem generellen System entscheiden, indem sie abstrakte Merkmale festlegen oder bestimmte übergeordnete Zwecke verfolgen. Fortgesetzt werden bei Anwendung eines solchen Systems also die Arbeitsverträge aller Arbeitnehmer:innen, die ein bestimmtes überindividuelles Kriterium erfüllen, die beispielsweise eine bestimmte Zahl an Kundenverträgen abgeschlossen oder eine festgelegte Anzahl an Krankheitstagen unterschritten haben. Oft ist die Fortsetzungsentscheidung komplexer und von einer Vielzahl an Faktoren abhängig. Für die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist dann entscheidend, dass die einzelnen Entscheidungskriterien und ihre Gewichtung nach einer festgelegten Ordnung definiert sind und sich die Vertragsfortsetzungen daher nicht als Einzelfallentscheidungen, sondern als Ergebnis der Anwendung eines Systems darstellen. Ein solches System kann beispielsweise das Aufstellen einer Punkteskala wie im Beispielsfall 2 sein, anhand derer eine Rangfolge befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen festgelegt wird, von denen eine bestimmte Anzahl der höchstbewerteten Beschäftigten einen neuen Arbeitsvertrag erhält. Auch wenn eine individuelle Bewertung der Arbeitnehmer:innen in die Rangfolge einfließt, handelt es sich nicht um Einzelfallmaßnahmen, sondern um die Anwendung einer kollektiven Regelung.229 Der Gleichbehandlungsgrundsatz erstreckt sich dann aber nur auf die kollektive Komponente des Systems und nicht die individuelle Bewertung innerhalb der Auswahlkriterien: Arbeitnehmer:innen können geltend machen, dass sie ohne sachlichen Grund nicht nach Maßgabe des Systems beurteilt wurden, dass die Kriterien bei ihnen falsch gewichtet wurden oder die Kriterien nicht dem Zweck des Systems entsprechen. Der Kläger im Beispielsfall 2 könnte daher allenfalls dann einen Anspruch auf Entfristung haben, wenn die Arbeitgeberin bei ihm die Anrechnung der Betriebszugehörigkeit, seiner Kinder oder eines Schwerbehinderungsgrads regelwidrig unterlassen hat, die Punkte falsch zusammengerechnet oder ein sachwidriges Kriterium verwendet hat, nicht aber, weil er seiner individuellen Bewertung durch seinen Vorgesetzten widerspricht. 228 Vgl. auch G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 248, der die Gewährung von Beförderungen und Aufstiegsmöglichkeiten der Zahlung freiwilliger Geldleistungen gleichstellt. 229 Vgl. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 24. 7. 2019 – 4 Sa 22/19, NZA-RR 2019, 631, 636 (Rn. 76 f.).
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch nicht anwendbar, wenn die Fortsetzungen von Arbeitsverhältnissen begünstigende Maßnahmen im einzelnen Arbeitsverhältnis ohne kollektiven Bezug sind. Dann können Arbeitgeber:innen – unabhängig vom Bestehen eines sachlichen Grundes – nicht zur Fortsetzung vergleichbarer Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden. Der kollektive Bezug fehlt immer dann, wenn Arbeitgeber:innen (auch) in Ansehung der Individualität eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin im Einzelfall und ohne ausschließliche Anwendung eines generalisierenden Prinzips darüber entscheiden, ob sie einen Folgearbeitsvertrag abschließen möchten. Wenn Arbeitgeber:innen also nach Fristablauf mehrerer vergleichbarer Arbeitsverhältnisse jede Person einzeln und nach individuellen Gesichtspunkten beurteilen und sich für oder gegen das Angebot eines Folgearbeitsvertrags entscheiden, können abgelehnte Arbeitnehmer:innen die Begünstigung nicht aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes verlangen. Aus diesem Grund kann auch die Klägerin in Beispielsfall 1 keine Vertragsfortsetzung aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz geltend machen: Ihre Arbeitgeberin hat die Vertragsfortsetzung nicht anhand einer kollektiven Ordnung entschieden, sondern in Anbetracht der einzelnen Personen, auch wenn dabei jeweils die Bewährung das ausschlaggebende Motiv war. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch dann nicht anwendbar, wenn Arbeitgeber:innen nur die Fortsetzung einzelner Arbeitsverhältnisse überhaupt in Betracht ziehen. Sie sind gesetzlich nämlich nicht dazu gezwungen, die Fortsetzung jedes Arbeitsverhältnisses in Erwägung zu ziehen und zu prüfen. 3. Fehlen eines sachlichen Grunds für die Differenzierung Ebenso wie die Anforderungen an den kollektiven Bezug einer Maßnahme sind auch die Anforderungen an einen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischen begünstigten und nicht begünstigten Arbeitnehmer:innen primär zu freiwilligen Entgeltleistungen entwickelt worden. Es werden erneut zuerst diese Maßstäbe herausgearbeitet [a)] und danach ihre Übertragbarkeit auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse geprüft [b)]. a) Maßstäbe für die Beurteilung freiwilliger Leistungen aa) Zweck der Leistung als Bezugspunkt der Sachgrundbeurteilung Eine Ungleichbehandlung ist mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar, wenn sie nach dem Zweck der Leistung gerechtfertigt ist, weil es einen sachlichen Grund für die Differenzierung gibt.230 Das betrifft sowohl die Ausgrenzung bestimmter Arbeitnehmergruppen bei der Normaufstellung als auch die Ausnahme einzelner Arbeitnehmer:innen von der Regelanwendung: Arbeitnehmer:innen dürfen nur dann von der Vergünstigung ausgenommen werden, wenn dies sachlichen 230
So schon RAG, Urt. v. 19. 1. 1938 – 153/37, ARS 33, 172, 176 ff.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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Kriterien entspricht.231 Der Bezugspunkt und Maßstab der Sachgrundbeurteilung sind der Zweck der Leistung selbst. Daher ist stets zuerst der Zweck der Leistung zu ermitteln, wie er sich – bei Sonderzahlungen – aus den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung ergibt, und in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob der ausgeschlossene Personenkreis aus sachlichen oder sachwidrigen Gründen außerhalb der Zweckrichtung der Begünstigung steht.232 bb) Anforderungen an den sachlichen Grund Es ist unklar, welche Anforderungen an den sachlichen Grund einer Ungleichbehandlung zu stellen sind. Teilweise beschränkt sich das BAG (senatsübergreifend) auf eine Willkürkontrolle: Ein hinreichender sachlicher Grund fehlt danach, wenn es keine billigenswerten Gründe für eine Ungleichbehandlung gibt, die Regelung also als willkürlich anzusehen ist.233 „Billigenswert“ sind alle Differenzierungsgründe, die „unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Leistung auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und nicht gegen verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder gesetzliche Verbote verstoßen.“234 Es kommt innerhalb dieses Rahmens nicht darauf an, dass die Abgrenzung die zweckmäßigste, gerechteste oder vernünftigste ist, sondern nur darauf, dass sich ein sachlicher Grund überhaupt finden lässt.235 In der Rechtsprechung des BAG hat sich in den letzten Jahren ein strengerer Rechtfertigungsmaßstab etabliert, der sich an der zu Art. 3 I GG entwickelten (und mittlerweile durch die „Stufenlos-Formel“ abgelösten236) „Neuen Formel“ des BVerfG orientiert. Die Differenzierung zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen ist danach nur gerechtfertigt, „wenn die Unterscheidung einem legitimen Zweck dient und zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich und angemessen ist.“237 Teilweise bezieht der Dritte Senat die verschärften Rechtfertigungsanforderungen auch nur auf personenbezogene Ungleichbehandlungen, während er es bei sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlungen bei einer Willkürkontrolle belässt. Wenn eine Ungleichbehandlung an die Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin
231
Vgl. BAG, Urt. v. 28. 3. 2007 – 10 AZR261/06, NZA 2007, 687, 688 (Rn. 14). BAG, Urt. v. 13. 4. 2011 – 10 AZR 88/10, NZA 2011, 1047, 1048 (Rn. 13 f.); BAG, Urt. v. 22. 1. 2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547, 550 f. (Rn. 35); BAG, Urt. v. 28. 3. 2007 – 10 AZR261/06, NZA 2007, 687, 688 (Rn. 14 f.). 233 BAG, Urt. v. 16. 6. 2010 – 4 AZR 928/08, NZA-RR 2011, 45, 47 (Rn. 30). 234 BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 118 (Rn. 22); ebenso: BAG, Urt. v. 18. 9. 2001 – 3 AZR 656/00, NZA 2002, 148, 149. 235 BAG, Urt. v. 16. 6. 2010 – 4 AZR 928/08, NZA-RR 2011, 45, 48 (Rn. 39); BAG, Urt. v. 18. 9. 2001 – 3 AZR 656/00, NZA 2002, 148, 149. 236 BVerfG, Beschl. v. 8. 5. 2013 – 1 BvL 1/08, NJW 2013, 2498, 2501 (Rn. 57). 237 BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202, 1203 (Rn. 13). 232
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
anknüpfe, müssten Unterschiede „von solcher Art und solchem Gewicht bestehen“, dass die Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei.238 cc) Anforderungen an den Leistungszweck Umstritten ist, ob auch die Zwecksetzung der Arbeitgeber:innen einem Rechtfertigungszwang unterliegt, also bestimmten sachlichen Gründen entsprechen muss, oder Arbeitgeber:innen darin frei sind. Raab unterstellt dem BAG, es stelle einen Rechtfertigungszwang auf, wenn das Gericht den „legitimen Zweck“ einer Gruppenbildung verlangt,239 und H. Hanau kritisiert das Gericht dafür, die Zwecksetzung an heteronomen Kriterien zu messen, indem es „objektive, wirkliche Bedürfnisse“240 verlangt.241 Eine derartige Lesart lässt sich aber weder mit dem Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes vereinbaren [(1)] noch den zitierten BAG-Entscheidungen entnehmen [(2)]. (1) Unvereinbarkeit einer Zweckkontrolle mit dem Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes Arbeitgeber:innen gewähren eine freiwillige Leistung regelmäßig nur, weil sie mit ihr einen bestimmten Zweck verfolgen. Ihre Entscheidung, überhaupt eine Leistung zu verteilen, ist damit eng verknüpft mit ihren Gründen, diese zusätzlichen Aufwendungen zu machen. Sowohl das Ob einer Leistung als auch die Frage nach dem Warum betreffen folglich das Äquivalenzverhältnis von Arbeits- und Gegenleistung. Das gilt auch dann, wenn der Leistungszweck nicht in der Person des individuellen Arbeitnehmers oder der individuellen Arbeitnehmerin begründet ist, sondern nach kollektiven Kriterien bestimmt wird. In jedem Fall ist die Festlegung von Zwecken, aufgrund derer sich Arbeitgeber:innen zur Erbringung einer überobligatorischen Leistung verpflichten, eine Frage der ausgleichenden Gerechtigkeit. Erst bei der Verteilung dieser zweckgebundenen Leistung ist die austeilende Gerechtigkeit tangiert und damit der sich aus dem überpositiven Ideal der Verteilungsgerechtigkeit speisende Gleichbehandlungsgrundsatz angesprochen.242 238 BAG, Urt. v. 14. 11. 2017 – 3 AZR 515/16, NZA 2018, 367, 368 (Rn. 23); BAG, Urt. v. 12. 8. 2014 – 3 AZR 764/12, BeckRS 2014, 73982 (Rn. 25); zum (inhaltsgleichen) betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz: BAG, Urt. v. 28. 6. 2011 – 3 AZR 448/09, BeckRS 2011, 77105 (Rn. 23); BAG, Urt. v. 16. 2. 2010 – 3 AZR 216/09, NZA 2010, 701, 705 (Rn. 32). 239 T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 345 (Fn. 137). 240 BAG, Urt. v. 12. 10. 2005 – 10 AZR 640/04, NZA 2005, 1418, 1420 (Rn. 16 f.). 241 H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 244 f. 242 Vgl. L. Fastrich, RdA 2000, 65, 71 f.; H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 244 f.; T. Raab, in: FS Kreutz (2010), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 317, 345.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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Es ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, anhand welchen Maßstabs die Billigkeit oder Gerechtigkeit eines Leistungszwecks beurteilt werden könnte. Der Gleichbehandlungsgrundsatz selbst taugt hierfür jedenfalls nicht, da seine Anwendung gerade eine Zweckbestimmung voraussetzt, anhand derer die von Arbeitgeber:innen aufgestellten Normen kontrolliert werden können.243 Da die Gewährung freiwilliger Vorteile Ausdruck der unternehmerischen Freiheit von Arbeitgeber:innen ist, gelten insofern ausschließlich die gleichen externen Schranken, die ihrer privatautonomen Betätigung auch sonst gezogen sind:244 Das sind in erster Linie arbeitsrechtliche Schutzgesetze, wie insbesondere besondere Benachteiligungsverbote. Unterhalb dieser Grenze des Gesetzesverstoßes sind autonom gesetzte Leistungsziele nicht zu überprüfen. (2) Keine Zweckkontrolle durch das BAG Dieses mit Blick auf die dogmatische Herkunft des Gleichbehandlungsgrundsatzes gewonnene Ergebnis wird durch die Rechtsprechung des BAG bestätigt: Indem das BAG die Sachgerechtigkeit einer Differenzierung gerade anhand des Leistungszwecks beurteilt, der auf einer „privatautonome[n] Verteilungsentscheidung“245 beruht, respektiert es die selbstbestimmte Zwecksetzung von Arbeitgeber:innen. Eine diesem Befund widersprechende Zweckkontrolle hat das Gericht auch nicht in den von Raab und H. Hanau in Bezug genommenen Entscheidungen vorgenommen. Erstens hat es nicht tatsächlich geprüft, ob Arbeitgeber:innen mit ihrer Begünstigung einen „legitimen“ Zweck verfolgt haben. Das BAG hat mit der Floskel vielmehr eine teilweise246 verwendete Formulierung des BVerfG aufgegriffen, nach der der allgemeine Gleichheitssatz voraussetzt, dass ein Gesetzgeber mit seinem Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt. Auch das BVerfG stellt im Kontext des Art. 3 I GG aber keine spezifischen sachlichen Anforderungen an den Zweck einer differenzierenden Regelung, sondern beschränkt sich zumeist auf die Feststellung, dass die vom Gesetzgeber mit der Regelung verfolgten Zwecke legitim sind.247 Im 243
L. Fastrich, RdA 2000, 65, 71. L. Fastrich, RdA 2000, 65, 72. 245 BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 117 (Rn. 20). 246 Der Aufbau der Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs in Art. 3 I GG ist uneinheitlich. In anderen Beschlüssen beschränkt sich das Gericht auf die Prüfung, ob hinreichend gewichtige Unterschiede vorliegen, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, z. B. BVerfG, Beschl. v. 25. 6. 2014 – 1 BvR 668/10, 1 BvR 2104/10, NVwZ 2014, 1448, 1450 (Rn. 47); BVerfG, Beschl. v. 21. 6. 2011 – 1 BvR 2035/07, NVwZ 2011, 1316, 1317 (Rn. 78). 247 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27. 7. 2016 – 1 BvR 371/11, NJW 2016, 3774, 3780 (Rn. 72): „das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Person auszurichten“; BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 2012 – 1 BvL 14/07, NJW 2012, 1711, 1713 (Rn. 49): „Zwar ist die wirtschaftliche Unterstützung der Pflege- und Erziehungstätigkeit der Eltern angesichts des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags (Art. 6 II GG) ein legitimer Gesetzeszweck“; BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 2012 – 1 BvL 2/10; 1 BvL 3/10; 1 BvL 4/10; 1 BvL 3/11, NVwZ-RR 2012, 825, 826 (Rn. 40 ff.): „Allerdings ist die Differenzierung nicht durch das mit beiden Gesetzen ge244
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Jahr 2014 hat das BVerfG ausdrücklich geurteilt, dass der Gesetzgeber „bei der Auswahl der Ziele weitgehend frei“ sei. „Er stößt an Grenzen, wenn er vom Grundgesetz missbilligte Ziele verfolgt oder sich mit seinen Förderzwecken in unauflösbaren Widerspruch zu anderweitigen gesetzlichen Festlegungen setzt.“248 Nimmt man wie das BAG eine Inhaltsgleichheit von arbeitsrechtlichem Gleichbehandlungsgrundsatz und Art. 3 I GG an,249 ist auch die Zwecksetzung der Arbeitgeber:innen nicht auf ihre Sachgerechtigkeit hin zu überprüfen, sondern nur auf ihre Rechtmäßigkeit. Nicht mehr legitim sind Zwecke danach erst, die gegen gesetzliche Vorschriften, wie beispielsweise Diskriminierungsverbote, verstoßen. Es spricht viel dafür, dass das BAG mit dem Hinweis auf den „legitimen Zweck“ der Maßnahme auch nur auf diese Grenzen hinweisen wollte. Zweitens deutet auch das von H. Hanau kritisierte Urteil des BAG auf kein anderes Verständnis hin. Dem Urteil lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein Arbeitgeber seinen Angestellten eine höhere Jahressonderzahlung gewährte als seinen gewerblichen Arbeitnehmer:innen, um erstere stärker an das Unternehmen zu binden, da ihr Weggang schwerer zu ersetzen sei. Mit der Feststellung, dass eine stärkere Bindung der Angestellten „keinem objektiven, wirklichen Bedürfnis“ diene, stellt das Gericht nicht in Frage, dass die Bindung von Beschäftigten legitimer Zweck einer Unterscheidung sein kann. Im Gegenteil: Dass diese Zwecksetzung zulässig ist, stellt das Gericht explizit fest.250 Keinen objektiven, wirklichen Bedürfnissen entspricht aber die zur Verfolgung des Zwecks vorgenommene Differenzierung zwischen Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer:innen, also die Sachgruppenbildung.251 Auch das BAG kontrolliert anhand des Gleichbehandlungsgrundsatzes also nur die Sachgerechtigkeit einer Differenzierung in Bezug auf einen von Arbeitgeber:innen gesetzten Zweck und gerade nicht die Festlegung des Leistungszwecks selbst. b) Anwendung dieser Maßstäbe auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen aa) Problematik des Selbstzwecks der Vertragsfortsetzung Für die Beurteilung, ob die Nichtfortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt, ist entscheidend, ob sie nach dem Zweck einer kollektiven Regelung gerechtfertigt ist. In einem ersten Schritt ist daher stets zu ermitteln, welchen Zweck Arbeitgeber:innen mit einem System, anhand dessen sie über Vertragsfortsetzungen entscheiden, verfolgen. Da Arbeitgenerell verfolgte Ziel gedeckt […]. Zwar mag es dieses grundsätzlich legitime Ziel rechtfertigen…“. 248 BVerfG, Urt. v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12, NJW 2015, 303, 308 f. (Rn. 138). 249 Siehe oben 3. Kap. A. II. 1. 250 BAG, Urt. v. 12. 10. 2005 – 10 AZR 640/04, NZA 2005, 1418, 1419 f. (Rn. 15). 251 BAG, Urt. v. 12. 10. 2005 – 10 AZR 640/04, NZA 2005, 1418, 1420 (Rn. 16 f.).
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
143
ber:innen die Zwecke selten ausdrücklich erklären, müssen die Gerichte sie anhand der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung mutmaßen.252 Im Bereich der Sonderzahlungen hat sich dafür ein Kanon an Leistungszwecken etabliert, der abbildet, dass wirtschaftlich agierende Arbeitgeber:innen überobligatorische Geldzahlungen nicht aus uneigennütziger Freigiebigkeit leisten. Da die Äquivalenz von Arbeitsleistung und -entgelt im Arbeitsverhältnis bereits vertraglich festgelegt ist, liegt die Vermutung nahe, dass Arbeitgeber:innen mit Leistungen, die dieses Äquivalenzverhältnis zugunsten der Arbeitnehmer:innen verschieben, andere Zwecke verfolgen. Übliche Zwecke sind die Honorierung geleisteter Dienste, die Belohnung vergangener oder zukünftiger Betriebstreue, die Förderung der Motivation oder eine Kombination daraus. Diese Erwägungen können nicht direkt auf die Vertragsfortsetzung übertragen werden: Mit dem Angebot eines Folgevertrags wird nämlich in der Regel kein über die Vertragsfortsetzung hinausgehender Zweck verfolgt. Hier manifestiert sich der wesentliche Unterschied zu den Sonderleistungen als klassische Anwendungsfälle des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Arbeitgeber:innen setzen Verträge fort, um Arbeitnehmer:innen weiterhin für die eigenen unternehmerischen Ziele einzusetzen. Wenn Arbeitgeber:innen kollektive Regelungen aufstellen, anhand derer sie über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen entscheiden, geht es darum, den Kreis der Arbeitnehmer:innen zu bestimmen, die sie weiter in ihren Unternehmen einsetzen möchten. Die der Fortsetzungsentscheidung zugrundeliegenden Differenzierungskriterien und der Zweck der Regelung fallen in der Regel zusammen: Macht ein Arbeitgeber die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses beispielsweise davon abhängig, dass ein Arbeitnehmer gem. § 14 II TzBfG weiterhin sachgrundlos befristet werden kann, bezweckt er mit seinem System die sachgrundlose Verlängerung von Arbeitsverträgen. Dieser Zweck ist nicht auf eine Sachlichkeit oder Gerechtigkeit hin kontrollierbar, sondern nur auf seine Rechtmäßigkeit, gegen die keine Bedenken bestehen: Die Personalentscheidung, nur befristete Arbeitsverhältnisse eingehen zu wollen, ist nach § 14 II TzBfG erlaubt. Da sich Differenzierungskriterium und -zweck decken, besteht kein Raum für eine Sachwidrigkeit des Differenzierungskriteriums auf Ebene der Regelaufstellung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist in solchen Fällen nur verletzt, wenn der Arbeitgeber auf Ebene des Normvollzugs wider seine selbst aufgestellten Regelung gehandelt hat, also im gerade genannten Beispiel das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der erst seit einem Jahr und einmaliger Verlängerung beschäftigt ist, nicht fortsetzt. Etwas komplexer ist die Beurteilung, wenn Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung von mehreren Kriterien abhängig machen: Müssen Arbeitnehmer:innen beispielsweise bestimmte Zielvorgaben erreicht und eine Anzahl bestimmter Fehltage unterschritten haben, kann man anhand dieser Kriterien den Zweck der Rege252 Vgl. BAG, Urt. v. 13. 4. 2011 – 10 AZR 88/10, NZA 2011, 1047, 1048 (Rn. 13); BAG, Urt. v. 22. 1. 2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547, 550 f. (Rn. 35); BAG, Urt. v. 28. 3. 2007 – 10 AZR261/06, NZA 2007, 687, 688 (Rn. 14).
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
lung extrahieren, die Arbeitsverhältnisse von leistungsstarken Arbeitnehmer:innen fortzusetzen. Macht ein Arbeitgeber die Fortsetzung zusätzlich von Unterhaltspflichten der Arbeitnehmer:innen oder der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängig, wie in Beispielsfall 2, wären diese Differenzierungskriterien im Hinblick auf den gerade herausgearbeiteten Leistungszweck sachwidrig. Allerdings verschiebt sich mit der Erweiterung des Kriterienbündels auch der mutmaßliche Leistungszweck hin zur Fortsetzung von zugleich leistungsstarken und sozial schutzwürdigen Arbeitnehmer:innen. Der Zweck der Vertragsfortsetzung korrespondiert (wieder) mit den Differenzierungskriterien, sodass für eine Kontrolle der Normaufstellung erneut kein Platz ist. Dieses Beispiel kann fortgeführt werden: Würden nach der Punkteskala der Arbeitgeberin in Beispielsfall 2 zusätzlich dafür Punkte vergeben, dass Arbeitnehmer:innen eine bestimmte politische Einstellung haben, bildete dieses Differenzierungskriterium weder die Leistungsfähigkeit noch die soziale Schutzwürdigkeit der Arbeitnehmer:innen ab. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz läge darin aber nicht, wenn mit Aufnahme des Kriteriums in die Punkteskala gleichzeitig der Zweck der Regelung neu zu definieren ist. Arbeitnehmer:innen mit einer „falschen“ politischen Einstellung könnten nach dem Zweck der Regelung, nur (leistungsstarke und sozial schutzwürdige) Arbeitnehmer:innen mit der „richtigen“ Einstellung weiterbeschäftigen zu wollen, gerade nicht von der Regelung erfasst und insofern mit den weiterbeschäftigten Arbeitnehmer:innen nicht vergleichbar sein. Hier findet die entscheidende Weichenstellung statt, und hier wird der Unterschied zu freiwilligen Sonderzahlungen offenbar: Im Kern geht es um die Frage, inwieweit Arbeitgeber:innen unterstellt werden kann, mit einer abstrakten Regelung einen bestimmten übergeordneten Zweck zu verfolgen, anhand derer die Differenzierungskriterien zu messen sind. In der Praxis ist damit die richterliche Überzeugung von einem bestimmten Leistungszweck angesprochen. Da Sonderzahlungen, wie bereits erwähnt, üblicherweise über sie hinausgehende wirtschaftliche Zwecke verfolgen, liegt es nahe, ihre Voraussetzungen anhand dieser gemutmaßten Zwecke zu kontrollieren. Die Entscheidung über die Einstellung oder Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses wird zwar ebenso primär unter wirtschaftlichen Aspekten getroffen werden; da es aber um die Begründung eines Dauerschuldverhältnisses mit persönlichem Einschlag geht, dürfen auch andere persönliche und zum Teil willkürliche Motive der Arbeitgeber:innen eine Rolle spielen. Es gibt für Statusmaßnahmen wie diese keine Regelvermutung der Rationalität, Wirtschaftlichkeit oder Sinnhaftigkeit, anhand derer einzelne Voraussetzungen überprüft werden könnten. Soweit die Zwecksetzung nicht ausnahmsweise aufgrund eines gesetzlichen Verbots rechtswidrig ist, sind Arbeitgeber:innen in ihr vollkommen frei. Arbeitnehmer:innen wird im Prozess daher nicht der Beweis gelingen, dass Arbeitgeber:innen nur bezweckt haben, leistungsstarke und sozial schutzwürdige Arbeitnehmer:innen weiterzubeschäftigen und es ihnen dabei nicht gerade auch auf die politische Einstellung ankam. Da dieser Zweck selbst nicht anhand des Gleichbehandlungsgrundsatzes
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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kontrolliert wird, ist regelmäßig auch kein Raum für eine Überprüfung der Differenzierungskriterien. bb) Verbleibende Anwendungsfälle des Gleichbehandlungsgrundsatzes Eine Kontrolle der Normaufstellung anhand des Gleichbehandlungsgrundsatzes kommt daher nur in zwei Fällen in Betracht: erstens, wenn das Differenzierungskriterium rechtswidrig ist, da es z. B. gegen das AGG oder Maßregelungsverbote verstößt, und zweitens, wenn ausnahmsweise ein Leistungszweck feststellbar ist, der nicht aus den einzelnen Differenzierungskriterien zusammengesetzt und daher mit ihnen deckungsgleich ist, sondern sie übersteigt. Ein solcher externer Zweck wird in der Regel nur festzustellen sein, wenn Arbeitgeber:innen ihn ausdrücklich erklärt haben. Bezweckt eine Arbeitgeberin mit ihrem System beispielsweise die Fortsetzung der Arbeitsverträge aller leistungsstarken Arbeitnehmer:innen, müssen die Differenzierungskriterien diesen Zweck abbilden. Legt man den strengen Rechtfertigungsmaßstab der neuen BAG-Rechtsprechung zugrunde, müssen die Entscheidungskriterien erforderlich und angemessen sein, um eine Fortsetzung der Arbeitsverträge der leistungsstarken Arbeitnehmer:innen zu erreichen. Ähnliches gilt, wenn Arbeitgeber:innen mit ihrem Personalprinzip wirtschaftliche Zwecke verfolgen und alle Arbeitnehmer:innen nicht weiter beschäftigen, die aufgrund von Fehlzeiten voraussichtlich finanzielle Einbuße verursachen werden. Diesem rechtmäßigen Zweck muss beispielsweise eine ungleiche Behandlung von Arbeitnehmer:innen mit hohen Fehlzeiten infolge von Krankheiten und Arbeitnehmer:innen mit Fehlzeiten infolge von Elternzeit gerecht werden. Ein sachlicher Grund für eine Differenzierung zwischen diesen Arbeitnehmergruppen könnte beispielsweise sein, dass viele kurze und kurzfristige krankheitsbedingte Fehlzeiten für das Unternehmen mit mehr finanziellem und organisatorischen Aufwand als eine angekündigte und planbare Elternzeit sind. Mit Blick auf den wirtschaftlichen Zweck der Ordnung kann es daher erforderlich und angemessen sein, häufig kranke Arbeitnehmer:innen und Arbeitnehmer:innen in Elternzeit unterschiedlich zu behandeln. Dann ist die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt und die Arbeitgeberin verstößt mit ihrer Regelaufstellung nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. cc) Ergebnis: Kleiner Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes aufgrund des Selbstzwecks der Vertragsfortsetzung Die Ausführungen demonstrieren, dass die Entscheidung über die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nicht typischerweise dem Gleichbehandlungsgrundsatz unterliegt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist hauptsächlich anwendbar bei der Kontrolle des Normvollzugs. Auf Ebene der Normaufstellung hat er nur wenig Raum, da Arbeitgeber:innen mit der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen regelmäßig keinen darüber hinausgehenden Zweck verfolgen, sondern die Differenzierungskriterien meistens den zu respektierenden Regelungszweck der Arbeitge-
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
ber:innen abbilden. Gleichheitswidrig sind danach nur die Anknüpfung an rechtswidrige Differenzierungskriterien sowie Kriterien, die nicht erforderlich und angemessen sind, um einen ausdrücklich erklärten Zweck der kollektiven Regelung zu erreichen. 4. Ergebnis: Gleichbehandlungspflicht bei der Vertragsfortsetzung nur in Ausnahmefällen Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen nur in praktisch seltenen Fällen, nämlich dann, wenn Arbeitgeber:innen 1. über die Vertragsfortsetzung ausschließlich nach einem kollektiven System entscheiden, indem sie für die Vertragsfortsetzung abstrakte Merkmale festlegen und 2. dabei übergeordnete Zwecke verfolgen, zu deren Erreichung eine Unterscheidung zwischen weiter beschäftigten und nicht weiter beschäftigten Arbeitnehmer:innen nicht erforderlich und angemessen ist. Arbeitgeber:innen sind an die eigene Zwecksetzung ihrer kollektiven Regelung gebunden, und zwar sowohl bei der Aufstellung der Voraussetzungen der Regelung als auch bei ihrem Vollzug. Sie dürfen einzelne Arbeitnehmer:innen nicht vom Angebot eines Folgearbeitsvertrags ausnehmen, wenn sie nach dem Zweck der Regelung einen Vertrag hätten erhalten müssen, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen erfüllen (dann: Ungleichbehandlung beim Normvollzug) oder nicht (dann: Ungleichbehandlung bei der Normaufstellung). Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist nicht anwendbar, wenn Arbeitgeber:innen über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen (auch) in Ansehung der Individualität der Arbeitnehmer:innen im Einzelfall und ohne (ausschließliche) Anwendung eines generalisierenden Prinzips entscheiden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz greift nicht in die Freiheit der Arbeitgeber:innen bei der Zwecksetzung der Verteilungsentscheidung ein; nur die Differenzierungskriterien und darauf basierenden Ungleichbehandlungen müssen den von Arbeitgeber:innen autonom festgesetzten Zwecken standhalten. Dieses Ergebnis entspricht dem Geltungsgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Unter den oben genannten Voraussetzungen ist die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen Ausdruck der einseitigen Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen und hat einen das Einzelarbeitsverhältnis transzendierenden kollektiven Bezug. Die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen ist dann eine verteilende Maßnahme der Arbeitgeber:innen, die dem überpositiven Ideal der Verteilungsgerechtigkeitsideal entsprechen muss.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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IV. Rechtsfolgen von Verstößen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz 1. Ansprüche ausgeschlossener Arbeitnehmer:innen Verstoßen Arbeitgeber:innen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, können ausgeschlossene Arbeitnehmer:innen eine Leistungsgewährung gemäß den von ihren Arbeitgeber:innen gesetzten Regeln geltend machen: Ohne sachlichen Grund übergangene Arbeitnehmer:innen können beanspruchen, nach Maßgabe der allgemeinen Regelung behandelt zu werden und das vorenthaltene Vertragsangebot zu erhalten (Anpassung nach oben).253 In jüngerer Zeit hat das BAG erstmals die dogmatische Verankerung des Anspruchs präzisiert: Anspruchsgrundlage ist nicht die an andere Arbeitnehmer:innen erbrachte Leistung selbst, die nun auch auf die Anspruchsteller ausgedehnt werden müsse, sondern das der Leistungsgewährung zugrundeliegende Regelwerk, bei dem es sich um eine von Arbeitgeber:innen freiwillig gesetzte Anspruchsgrundlage handelt, nach Maßgabe der in dem Regelwerk festgelegten Kriterien eine Leistung zu erhalten.254 Erfüllen Arbeitnehmer:innen danach alle abstrakten Anspruchsvoraussetzungen für die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse, können sie die Vertragsfortsetzung entsprechend dem Regelwerk verlangen (Fall der Ungleichbehandlung beim Normenvollzug). Enthält eine kollektive Regelung gleichheitswidrige Merkmale, aufgrund derer Arbeitnehmer:innen von einem Vertragsangebot ausgeschlossen wurden (Ungleichbehandlung bei der Normaufstellung), führt die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu einer Korrektur der gleichheitswidrigen Anspruchsvoraussetzung: Die Gerichte ersetzen das gleichheitswidrige Merkmal durch ein zulässiges.255 Erfüllen Arbeitnehmer:innen infolge einer solchen Korrektur der Differenzierungskriterien alle Anspruchsvoraussetzungen der abstrakten Regelung, haben sie einen Anspruch auf die bislang vorenthaltene Leistung.256 Enthält die über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen aufgestellte Ordnung weitere (zulässige) Voraussetzungen neben dem (unbeachtlichen) gleichheitswidrigen Kriterium, haben Arbeitnehmer:innen Fortsetzungsansprüche nur dann, wenn sie diese weiteren Voraussetzungen erfüllen.257 Belässt auch nur eines dieser weiteren Kriterien den Arbeitgeber:innen einen Entscheidungsspielraum, beispielsweise indem es an eine individuelle, subjektive 253
BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202, 1203 f. (Rn. 14); BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 608. Anderer Ansicht ist M. Creutzfeldt, JbArbR 52 (2015), 25, 33 ff., nach dem der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht selbst Anspruchsgrundlage ist, sondern lediglich die von Arbeitgeber:innen selbst gesetzte Anspruchsgrundlage korrigiert, indem die gleichheitswidrigen Voraussetzungen ersetzt werden. 254 Erstmals BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 117 (Rn. 20); fortgeführt von BAG, Urt. v. 14. 8. 2018 – 1 AZR 287/17, NZA 2019, 100, 102 f. (Rn. 25). 255 BAG, Urt. v. 14. 8. 2018 – 1 AZR 287/17, NZA 2019, 100, 102 f. (Rn. 25); BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 118 (Rn. 23). 256 Vgl. BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202, 1203 f. (Rn. 14); BAG, Urt. v. 17. 11. 1998 – 1 AZR 147/98, NZA 1999, 606, 608. 257 BAG, Urt. v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115, 118 (Rn. 23).
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Bewertung der Arbeitnehmer:innen anknüpft, kommen Fortsetzungsansprüche nur dann in Betracht, wenn Arbeitnehmer:innen diese individuelle Beurteilung bestanden haben und nur aufgrund des gleichheitswidrigen Merkmals ausgeschlossen wurden. Dieser Nachweis wird in der Praxis wohl kaum jemals gelingen. Fortsetzungsansprüche kommen daher hauptsächlich dann in Betracht, wenn Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung ausschließlich von objektiven Voraussetzungen abhängig machen, ohne sich eine Entscheidung im Einzelfall vorzubehalten. 2. Betriebsverfassungsrechtliche Rechtsfolgen: Rechte des Betriebsrats gem. § 75 BetrVG Auch Betriebsräte können gegen die gleichbehandlungswidrige Behandlung von Betriebsangehörigen vorgehen. Gem. § 75 I BetrVG haben sie nämlich gemeinsam mit Arbeitgeber:innen „darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, insbesondere, dass jede Benachteiligung von Personen aus Gründen ihrer Rasse oder wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters, ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität unterbleibt.“ Die Vorschrift verpflichtet Arbeitgeber:innen und Betriebsräte sowohl, auf die jeweils eigene Einhaltung der in ihr festgeschriebenen Grundsätze zu achten als auch Maßnahmen des anderen Betriebspartners zu überwachen.258 Zu den Grundsätzen von Recht und Billigkeit gehört nach einhelliger Ansicht auch die Pflicht zur Gleichbehandlung der Betriebsangehörigen gemäß dem Gleichbehandlungsgrundsatz.259 Verletzen Arbeitgeber:innen durch die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse den Gleichbehandlungsgrundsatz als Bestandteil des § 75 I BetrVG, können Betriebsräte Arbeitgeber:innen daher zur Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch die Geltendmachung entsprechender Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche im Beschlussverfahren zwingen.260 Bei einer groben Verletzung der Pflicht aus § 75 I BetrVG kommt sogar die Einleitung eines Zwangsverfahrens gem. § 23 III BetrVG in Betracht.261 Subjektive Ansprüche von Arbeitnehmer:innen auf Beachtung der Grundsätze von Recht und Billigkeit resultieren aus § 75 BetrVG nicht, da es sich dabei um eine
258
Statt aller GK BetrVG/P. Kreutz/M. Jacobs, § 75 BetrVG Rn. 20 ff. BAG, Urt. v. 22. 3. 2005 – 1 AZR 49/04, NZA 2005, 773, 774; ErfK/T. Kania, § 75 BetrVG Rn. 5; GK BetrVG/P. Kreutz/M. Jacobs, § 75 BetrVG Rn. 38; Düwell/F. Lorenz, § 75 BetrVG Rn. 13; Richardi/F. Maschmann, § 75 BetrVG Rn. 15. 260 ErfK/T. Kania, § 75 BetrVG Rn. 13; GK BetrVG/P. Kreutz/M. Jacobs, § 75 BetrVG Rn. 154, 27. 261 Richardi/F. Maschmann, § 75 BetrVG Rn. 86. 259
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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kollektivrechtliche Vorschrift handelt.262 Mit § 75 BetrVG korrespondieren aber, wie gezeigt wurde, Gleichbehandlungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis selbst, die Arbeitnehmer:innen nach den oben dargestellten Grundsätzen geltend machen können.
V. Verhältnis des Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen Ein Großteil des Störgefühls, das die Rechtsprechung und Literatur dazu bewogen hat, Fortsetzungsansprüche aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes per se abzulehnen, wird durch die Analyse der Voraussetzungen der Gleichbehandlungspflicht und der Eingrenzung potenzieller Anwendungsfälle aufgefangen worden sein. Für die verbleibenden Anwendungsfälle soll untersucht werden, ob die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit der Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen vereinbar ist. 1. Ablehnung eines allgemeinen Vorrangs der Vertragsfreiheit Nach der Ansicht Streckers ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz „auf Grund des Vorrangs der Vertragsfreiheit, insbesondere der Auswahl- und Abschlussfreiheit“ nicht auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse anwendbar.263 Auch Wiedemann konstatiert, dass Personalentscheidungen als Ausdruck der unternehmerischen Freiheit nach Art. 12 GG dem Gleichbehandlungsgrundsatz vorgingen.264 Hauptargument ist jeweils, dass Arbeitgeber:innen grundsätzlich nicht verpflichtet seien, bei personellen Statusmaßnahmen nach sachlichen Kriterien zu entscheiden.265 Personalentscheidungen seien „Chefangelegenheit“ und unterlägen der „ordnungspolitischen Wertung, dass der Arbeitgeber mit der Vergabe von Arbeitsplätzen über das Schicksal seines Unternehmens unterscheidet und bei der Auswahl der zukünftigen Mitarbeiter auf seine Menschenbeurteilung angewiesen ist.“266
262 BAG, Beschl. v. 3. 12. 1985 – 4 ABR 60/85, AP BAT § 74 Nr. 2; Fitting, § 75 BetrVG Rn. 24; ErfK/T. Kania, § 75 BetrVG Rn. 1; GK BetrVG/P. Kreutz/M. Jacobs, § 75 BetrVG Rn. 155 m. w. N.; Richardi/F. Maschmann, § 75 BetrVG Rn. 89; i. E. wohl ebenso BeckOK ArbR/M. Werner, § 75 BetrVG Rn. 68: § 75 räume dem Einzelnen zwar subjektive Rechte ein, nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt zu werden, jedoch keine weitergehenden Ansprüche, sodass individualrechtliche Ansprüche nicht unmittelbar aus § 75 BetrVG in Betracht kämen. 263 R. Strecker, RdA 2009, 381, 383. 264 H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 26. 265 R. Strecker, RdA 2009, 381, 383. 266 H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 26.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
Die Annahme eines Vorrangs der Auswahl- und Vertragsabschlussfreiheit vor dem Gleichbehandlungsgrundsatz ist in ihrer Pauschalität nicht haltbar. Erstens ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz seiner Schutzrichtung entsprechend gerade dann anwendbar, wenn Arbeitgeber:innen bei der Gewährung bestimmter Vorteile grundsätzlich frei sind und kontrolliert werden soll, dass sie diese Freiheit bei Verteilungsentscheidungen nicht sachwidrig ausnutzen.267 Und zweitens basiert die Existenz des Gleichbehandlungsgrundsatzes gerade auf der Prämisse, dass Arbeitgeber:innen ihn nicht unter Berufung auf ihre Privatautonomie außer Kraft setzen können. Andernfalls wäre er, mit den Worten G. Huecks, „völlig gegenstandslos.“268 Eine Nichtanwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes immer dann, wenn dadurch die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen tangiert wird, vertritt dementsprechend auch niemand, auch nicht Strecker und Wiedemann. Warum ausgerechnet die Auswahl- und die Abschlussfreiheit eine unumstößliche Grenze der Gleichbehandlung sein soll, erläutern beide nicht. Verweise auf „Chefangelegenheiten“ oder „ordnungspolitische Wertungen“ sind dogmatisch nicht belastbar. Geht man von einer privatrechtlichen Rechtsgrundlage des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus, wie anscheinend auch Wiedemann,269 kann aus der Synthese von Gestaltungsmacht der Arbeitgeber:innen und Gemeinschaftsverhältnis der Arbeitnehmer:innen keine Beschränkung auf einzelne Anwendungsbereiche der Gleichbehandlung entnommen werden. Ihrer dogmatischen Herleitung entsprechend müssen grundsätzlich alle Verhaltensweisen von Arbeitgeber:innen, mit denen sie Arbeitsverhältnisse einseitig und mit einem kollektiven Bezug beeinflussen, der Gleichbehandlung unterliegen.270 Eine Herausnahme von Personalentscheidungen ist daher mit Blick auf die Herleitung des Gleichbehandlungsgrundsatzes rechtfertigungsbedürftig. Als sachliche Gründe für eine derartige Ausnahme hat Wiedemann vorgebracht, Unternehmer seien bei der Auswahl der Mitarbeiter auf ihre Menschenbeurteilung angewiesen. Das ist zutreffend. Wiedemann verkennt aber, dass nicht nur Einstellungsentscheidungen, sondern beispielsweise auch individuelle Entgeltvereinbarungen oder auch die Aussprache von Kündigungen oft auf der individuellen Einschätzung der Arbeitnehmer:innen basieren. Das unternehmerische Bedürfnis, hier ohne Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz Entscheidungen gegenüber einzelnen Arbeitnehmer:innen in Anschauung ihrer spezifischen Person zu treffen, haftet nicht nur den Einstellungsentscheidungen an. Unternehmerische Bedürfnisse sind daher richtigerweise nicht durch die Bereichsausnahme einzelner Rechtsakte zu gewährleisten, sondern dadurch, dass bezüglich jeder arbeitgeberseitigen Maßnahme zwischen individueller Menschenbeurteilung und systematischer Verteilungsentscheidung differenziert wird. Diese Unterscheidung ist mit dem Erfordernis des kollektiven Bezugs einer Maßnahme bereits auf tatbestandlicher 267
DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 16. G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 251. 269 H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 11: Ableitung aus der einseitigen Gestaltungsmöglichkeit der Arbeitgeber:innen. 270 G. Hueck, Der Grundsatz der gleichmässigen Behandlung im Privatrecht (1958), S. 239. 268
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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Ebene des Gleichbehandlungsgrundsatzes verankert. So wird eine sachgerechte Abwägung zwischen Vertragsfreiheit und Verteilungsgerechtigkeit realisiert. Eine pauschale Bereichsausnahme für Personalauswahlentscheidungen ist daher weder erforderlich noch sachgerecht, um die unternehmerischen Bedürfnisse von Arbeitgeber:innen zu befriedigen. 2. Vereinbarkeit einer Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit der gesetzgeberischen Wertung in § 14 TzBfG a) Rechtsauffassung des BAG und der Literatur Das BAG hat eine Bindung von Arbeitgeber:innen an den Gleichbehandlungsgrundsatz bei der Verlängerung sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge im Jahr 2008 abgelehnt. Es hat dieses Ergebnis damit begründet, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit aufgrund des Zwecks von § 14 II TzBfG vorrangig sei.271 Argumentiert wird folgendermaßen: § 14 II TzBfG ermögliche Arbeitgeber:innen nicht nur, „frei zu entscheiden, ob und mit welchem Arbeitnehmer und für welche Vertragslaufzeit sie innerhalb der höchstzulässigen Gesamtdauer von zwei Jahren einen befristeten Arbeitsvertrag abschließen und ob und wie oft sie einen derartigen Vertrag bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren verlängern. Es wird ihnen viel mehr außerdem ermöglicht, sich bei Ablauf der vereinbarten Vertragslaufzeit ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes von einem Arbeitnehmer zu trennen. Gleichzeitig wird der Arbeitgeber am Ende der zweijährigen Höchstbefristungsdauer veranlasst, den Arbeitnehmer entweder unbefristet weiterzubeschäftigen oder bei entsprechendem Beschäftigungsbedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen. Diesem Gesetzeszweck würde es zuwiderlaufen, wenn der Arbeitgeber gehalten wäre, bei der Entscheidung über die Verlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags nach § 14 II TzBfG den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten. Dadurch würde dem Arbeitgeber die Möglichkeit genommen, frei und ohne Bindung an sachliche Gründe entscheiden zu können, ob er den befristet beschäftigten Arbeitnehmer nach Ablauf der vereinbarten Vertragslaufzeit weiterbeschäftigt. Dies will § 14 II TzBfG gerade ermöglichen.“272
Dieser Ansicht hat man in der Literatur zugestimmt.273 Der entscheidende Punkt sei also, dass Arbeitsverhältnisse bei Fristablauf enden, ohne dass Arbeitgeber:innen dann einen sachlichen Grund vorweisen müssen. Diese Argumentation trifft aber auf die gem. § 14 I TzBfG befristeten Arbeitsverhältnisse gleichermaßen zu: Es kommt hier ausschließlich auf das Vorliegen eines sachlichen Grunds im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an. Ob dieser Sachgrund die Beendigung des Arbeitsverhältnisses
271
BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 28 f. (Rn. 22). BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 29 (Rn. 23). 273 M. Diller, FD-ArbR 2009, 273640; M. Grobys/R. von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2009, 52; M. Horcher, RdA 2014, 93, 98; BeckOGK/M. Maties, § 611a BGB Rn. 1483; R. Strecker, RdA 2009, 381, 384. 272
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
noch im Zeitpunkt des Fristablaufs trägt, ist, wie oben ausführlich dargelegt wurde,274 irrelevant. Der Unterschied zwischen § 14 I und II TzBfG liegt also ausschließlich im Sachgrunderfordernis bei Abschluss des Arbeitsvertrags. Bei Fristende sind Arbeitgeber:innen grundsätzlich gleichermaßen frei in der Fortsetzungsentscheidung und nicht zur Angabe eines sachlichen Grundes verpflichtet. Ein großer Teil der Literatur überträgt die Argumentation des BAG daher – insoweit konsequent – auch auf die mit Sachgrund befristeten Arbeitsverhältnisse.275 b) Stellungnahme Mit der Möglichkeit, Arbeitsverträge zu befristen, hat der Gesetzgeber dem Interesse von Arbeitgeber:innen an einer flexiblen Gestaltung von Arbeitsverhältnissen entsprochen.276 Das entscheidende Charakteristikum befristeter Arbeitsverhältnisse gegenüber dem unbefristeten Normalarbeitsverhältnis ist, dass die Arbeitsverhältnisse mit Fristablauf automatisch enden, ohne dass Arbeitgeber:innen zu diesem Zeitpunkt sachliche Gründe für die Beendigung darlegen müssen. Insoweit ist dem BAG und der sich ihm anschließenden Literatur zuzustimmen. Ihnen ist jedoch zu widersprechen, wenn sie daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass es dem Gesetzeszweck „zuwiderlaufe“, wenn Arbeitgeber:innen bei der Fortsetzungsentscheidung an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden wären. Die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes führt nämlich nicht dazu, dass das vom TzBfG geschützte Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber:innen gefährdet wird: Die Gleichbehandlungspflicht zielt nicht auf den Schutz von Bestandsinteressen ab, sondern auf den Schutz vor Ungerechtigkeit, konkreter: den Schutz der Arbeitnehmer:innen davor, grundlos schlechter als ihre Kolleg:innen behandelt zu werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz reagiert also auf eine andere Gefahrenlage als § 14 TzBfG und hat dementsprechend andere Anwendungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen: Er hindert Arbeitgeber:innen nicht daran, entsprechend dem Zweck von § 14 I, I TzBfG frei und ohne Bindung an sachliche Gründe über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen zu entscheiden. Ganz im Gegenteil: Da der Gleichbehandlungsgrundsatz tatbestandlich voraussetzt, dass Arbeitgeber:innen nach einem abstrakt-generalisierenden Prinzip verfahren, bindet er sie gerade dann nicht, wenn sie willkürlich und über jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin individuell entscheiden. Die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zwingt Arbeitgeber:innen auch nicht dazu, nach einem generalisierenden Prinzip zu verfahren. Nur wenn Arbeitgeber:innen privatautonom bestimmte Voraussetzungen oder Zwecke 274
1. Kap. D. II. 1. APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 112; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 16b; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 329 ff.; M. Horcher, RdA 2014, 93, 98; M. Grobys/R. von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2009, 52; ErfK/R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 7; J. Sievers, TzBfG (2021) § 14 TzBfG Rn. 79; R. Strecker, RdA 2009, 381, 384; H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 765. 276 Vgl. BT-Drs. 14/4374, S. 1, 13, 14 sowie oben 1. Kap. D. I. 1. 275
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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festgelegt haben, von denen sie die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse generell abhängig machen wollen, greift der Gleichbehandlungsgrundsatz ein und verbietet, einzelne Arbeitnehmer:innen ohne sachliche Gründe von der kollektiven Maßnahme auszuschließen. In diesen Fällen haben Arbeitgeber:innen ihre von § 14 TzBfG eingeräumten Flexibilisierungsmöglichkeiten durch die Errichtung einer kollektiven Ordnung aber bereits selbst eingeschränkt. Indem sie abstrakt-generelle Kriterien festlegen, anhand derer sie über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen ohne Ansehung der konkreten Person entscheiden, verzichten sie freiwillig auf die ihnen grundsätzlich erlaubte Willkür bei der Fortsetzungsentscheidung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet Arbeitgeber:innen schließlich auch nicht dazu, einen sachlichen Grund für die Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses darzutun, der in seiner Zielsetzung oder Intensität mit § 14 I TzBfG oder § 1 KSchG vergleichbar wäre. Es müssen keine sachlichen Gründe dafür vorliegen, dass das Beendigungsinteresse der Arbeitgeber:innen das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen überwiegt, sondern dafür, dass einzelne Arbeitnehmer:innen schlechter als andere Arbeitnehmer:innen behandelt wurden. Maßstab dieses sachlichen Grunds ist allein der von Arbeitgeber:innen privatautonom definierte Zweck ihrer kollektiven Ordnung. Die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes führt also nur dazu, dass Arbeitgeber:innen an die Zwecke gebunden sind, die sie selbst aufgestellt haben.277 Die Bindung von Arbeitgeber:innen an ihre eigene Zwecksetzungen mag ihre Fortsetzungsfreiheit zwar einschränken; die Einschränkung geschieht aber auf eine andere Weise als es § 14 TzBfG verhindern soll. Durch die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wird der Zweck von §§ 14 f. TzBfG also nicht in Frage gestellt. Es bleibt dabei, dass ein Arbeitgeber– wie es das BAG in der oben zitierten Entscheidung fordert – „frei und ohne Bindung an sachliche Gründe entscheiden [kann], ob er den befristet beschäftigten Arbeitnehmer nach Ablauf der vereinbarten Vertragslaufzeit weiterbeschäftigt.“278 Betätigen Arbeitgeber:innen ihre durch §§ 14 f. TzBfG eingeräumte Entscheidungsfreiheit bei Fristablauf aber dadurch, dass sie die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen anhand abstrakt-genereller Kriterien vornehmen, werden sie durch den Gleichbehandlungsgrundsatz zu konsequentem Verhalten verpflichtet.279 Von einem „Kündigungsschutz zweiter Klasse“280 kann keine Rede sein; ebenso wenig wird die ursprünglich vereinbarte Befristung „über die ,Hintertür‘ des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes“ „im Nachhinein ausgehebelt“.281 277 H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 243. 278 BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 29 (Rn. 23). 279 Vgl. auch H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 246; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 111. 280 So M. Diller, FD-ArbR 2009, 273640. 281 So R. Strecker, RdA 2009, 381, 384.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
3. Vereinbarkeit einer Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit der gesetzgeberischen Wertung in § 15 VI AGG? Ein Fortsetzungsanspruch könnte aber aufgrund der Wertung des § 15 VI AGG ausscheiden. Gem. § 15 VI AGG begründet ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG keinen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses. Diese Wertung gilt nach Ansicht Backhaus’ erst recht für den Gleichbehandlungsgrundsatz, sodass ein Fortsetzungsanspruch per se ausscheiden soll.282 Unabhängig davon, ob und inwieweit § 15 VI AGG innerhalb des Anwendungsbereichs des AGG die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse erfasst,283 ist die darin verkörperte Wertung nicht pauschal auf den Gleichbehandlungsgrundsatz übertragbar: Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist kein „Minus“ zu den besonderen Benachteiligungsverboten, sondern funktional und dogmatisch eigenständig. Anders als die besonderen Benachteiligungsverbote verpflichtet der Gleichbehandlungsgrundsatz Arbeitgeber:innen zu folgerichtigem Verhalten, indem er eine Bindung an privatautonom gesetzte Zwecke erzeugt. Ein Arbeitgeber wird nicht „Adressat eines heteronomen Gesetzesbefehls“, sondern bleibt „Herr seiner Entschlüsse.“284 Im Gegensatz dazu oktroyieren die Benachteiligungsverbote des AGG Arbeitgeber:innen externe Wertentscheidungen, die einem rechtspolitischen Programm zum Schutz einzelner Personengruppen entspringen und Arbeitgeber:innen die autonome Verfolgung bestimmter Differenzierungszwecke und -kriterien verbieten.285 Bezweckt ein Arbeitgeber beispielsweise ausdrücklich, die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer:innen ohne Fehlzeiten fortzusetzen und sortiert er daher schwangere Arbeitnehmer:innen, Arbeitnehmer:innen mit bestimmten Behinderungen und homosexuelle Arbeitnehmer:innen generell aus, können die ersten beiden Differenzierungskriterien im Hinblick auf den Zweck seiner Regelung unter Umständen sachgemäß sein; eine Unterscheidung nach der sexuellen Orientierung ist aber zweckwidrig und damit zu korrigieren. Der Arbeitgeber wird dazu verpflichtet, auch homosexuelle Arbeitnehmer:innen weiterzubeschäftigen, da diese Rechtsfolge seiner eigenen autonomen Zwecksetzung entspricht. Eine Pflicht zur Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse mit den u. U. öfter abwesenden schwangeren Arbeitnehmer:innen und Arbeitnehmer:innen mit Behinderung begründet der Gleichbehandlungsgrundsatz allerdings nicht. Dieses Ergebnis korrigieren erst die besonderen Benachteiligungsverbote: § 7 I AGG i. V. m. §§ 1, 3 I AGG verbieten Benachteiligungen aufgrund Schwangerschaft und Behinderung und zwingen Arbeitgeber:innen dazu, auch wider die eigenen Interessen auf die Belange sozial 282
APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 112. Siehe ausführlich unten 6. Kap. C. II. 284 H. Reichold, ZfA 2006, 257, 265. 285 Vgl. L. Fastrich, RdA 2000, 65, 67 f.; H. Hanau, in: FS Konzen (2006), Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 233, 248; H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 59. 283
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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schutzwürdiger Arbeitnehmer:innen zu achten. Die Benachteiligungsverbote des AGG greifen also zugunsten externer Ziele in die autonom gesetzten Normen der Arbeitgeber:innen ein. § 15 VI AGG verhindert daher eine Einstellungspflicht, die in ihrer Stoßrichtung mit derjenigen der allgemeinen Gleichbehandlungspflicht nur ausnahmsweise übereinstimmt, und zwar dann, wenn Arbeitgeber:innen den Gleichbehandlungsgrundsatz dadurch verletzen, dass sie diskriminierende Zwecke verfolgen oder zur Verfolgung legitimer Zwecke an ein diskriminierendes Merkmal anknüpfen: Ist bereits das Auswahlsystem von Arbeitgeber:innen diskriminierend, beispielsweise da es bezweckt, dass keine schwangeren Arbeitnehmer:innen fortbeschäftigt werden, ist das gesamte Bezugssystem rechtswidrig. Eine Pflicht zur Weiterbeschäftigung kann nicht daraus resultieren, dass die Arbeitgeber:innen an die selbst gesetzten Zwecke gebunden werden, sondern ausschließlich daraus, dass ihnen die Benachteiligung Schwangerer gesetzlich verboten ist. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist in diesen Fällen keine taugliche Anspruchsgrundlage, da ein gültiges Bezugssystem der Gleichbehandlungspflicht fehlt. Fortsetzungsansprüche ergeben sich daher nur als Rechtsfolge des § 7 I AGG und nur sofern § 15 VI AGG dieser Rechtsfolge nicht entgegensteht.286 Verfolgen Arbeitgeber:innen legitime Ziele, beispielsweise die Weiterbeschäftigung aller Arbeitnehmer:innen ohne Fehltage, ist der Gleichbehandlungsgrundsatz grundsätzlich anwendbar. Differenzieren Arbeitgeber:innen zur Verfolgung dieses Ziels anhand von Merkmalen gem. § 1 AGG, ist aber zu unterscheiden: Sind diese Merkmale unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit nicht dazu geeignet, Arbeitnehmer:innen ohne Fehltage herauszufiltern – wie es beispielsweise die Homosexualität, religiöse Zugehörigkeit oder ethnische Herkunft nie sind – ist eine Nichtfortsetzung unabhängig von den Wertungen des AGG gleichheitswidrig. Ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung wurzelt ideell im Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit und damit unabhängig von § 15 VI AGG im Gleichbehandlungsgrundsatz. Sind die Differenzierungskriterien der Arbeitgeber:innen zur Realisierung ihrer Zwecke aber grundsätzlich geeignet – wie beispielsweise eine Schwangerschaft, Behinderung oder das Alter – und ist das Kriterium allein wegen § 7 I AGG sachwidrig, wäre ein Fortsetzungsanspruch der ausgeschlossenen Arbeitnehmer:innen kein Ausdruck der Selbstbindung der Arbeitgeber:innen, sondern nur das Ergebnis eines heteronormen Gesetzesbefehls. Insofern ist der Zweck des § 15 VI AGG unmittelbar betroffen: Fortsetzungsansprüche können in diesen Fällen zwar sowohl als Rechtsfolge einer Diskriminierung nach dem AGG, als auch als Rechtsfolge des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Betracht kommen,287 in beiden Fällen aber nur, soweit § 15 VI AGG diesem Ergebnis nicht entgegensteht. Für die Reichweite des § 15 VI AGG wird auf die Ausführungen im 6. Kapitel verwiesen.288 286 287 288
Siehe dazu unten 6. Kap. C. II. L. Fastrich, RdA 2000, 65, 69 spricht von einer „Anspruchsmehrheit“. Dort C. II.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
4. Ergebnis: Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz als zulässige Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit Der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen trägt der Gleichbehandlungsgrundsatz bereits tatbestandlich hinreichend Rechnung. Soweit der Gleichbehandlungsgrundsatz trotz seiner engen Anwendungsvoraussetzungen eine Pflicht zur Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen begründet, ist diese Pflicht das Ergebnis einer Bindung der Arbeitgeber:innen an privatautonom gesetzte Zwecke und widerspricht weder der Wertung des § 14 TzBfG noch des § 15 VI AGG. Nur dann, wenn ein Differenzierungskriterium ausschließlich aufgrund eines gesetzlichen Verbots sachwidrig ist, ist der Zweck des § 15 VI AGG betroffen. Nur für diese Fälle und nur, soweit § 15 VI AGG tatsächlich auch die Vertragsfortsetzung erfasst, sind Fortsetzungsansprüche ausgeschlossen.
B. Verbot der Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer:innen gem. § 4 I TzBfG bei der Vertragsfortsetzung I. Entstehungsgeschichte und Regelungsziele Das Verbot der Benachteiligung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer:innen ist ein spezieller Fall des Gleichbehandlungsgrundsatzes und seit Anfang 2001 in § 4 I TzBfG normiert: Ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.
Die Vorschrift hat das bis dahin geltende fast wortgleiche Verbot in § 2 I BeschFG abgelöst und an die unionsrechtlichen Vorgaben der Rahmenvereinbarung über Teilzeit, durchgeführt durch RL 97/81/EG, angepasst.289 Die Rahmenvereinbarung enthält den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in § 4 Nr. 1: „Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt.“ Das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten ist Teil eines Maßnahmenpakets zur Förderung von Teilzeitarbeitsmöglichkeiten, das „die Akzeptanz bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern für die Teilzeitarbeit erhöhen, durch den Ausbau von Teilzeitarbeitsmöglichkeiten neue Beschäftigung schaffen, Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigung verhindern und den Wechsel von einem Vollzeit- in ein Teilzeitarbeitsverhältnis oder umgekehrt erleichtern“290 289 290
So ausdrücklich BT-Drs. 14/4374, S. 15. BT-Drs. 14/4374, S. 11.
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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soll. Dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung liegen die Prämissen zugrunde, dass Teilzeitarbeit den Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen an einer flexiblen Organisation der Arbeit Rechnung trägt. Gründe für die Reduzierung der Arbeitszeit seien hauptsächlich persönliche und familiäre Gründe der Arbeitnehmer:innen, sodass der Ausbau von Teilzeitarbeit die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Arbeitnehmer:innen berücksichtige. Der primäre persönliche Grund für eine Arbeitszeitreduzierung sei der Wunsch, mehr Zeit für die Familie zu haben; eine Aufgabe, die überwiegend von Frauen wahrgenommen werde. Als wesentliches Ziel der Maßnahmen zur Förderung der Teilzeitarbeit wird daher die Förderung der „Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen“ genannt.291 Das Diskriminierungsverbot in § 4 I TzBfG bezweckt, eine nichtdiskriminierende Teilzeit zu realisieren, da diese „für die tatsächliche Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern eine wesentliche Voraussetzung“ ist.292
II. Verbot der Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge 1. Tatbestandliche Erfassung der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse a) Grundsatz: Übertragung der zum Gleichbehandlungsgrundsatz entwickelten Maßstäbe § 4 I TzBfG ist ein spezieller Fall des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes: Er teilt dieselbe Grundstruktur und setzt insbesondere eine Vergleichbarkeit der unterschiedlich behandelten Arbeitnehmer:innen voraus,293 sowie, dass Arbeitgeber:innen eine Leistung nach einem generalisierenden Prinzip gewähren.294 Die Vorschrift erfasst also nicht den Fall, dass einzelne Arbeitnehmer:innen aufgrund einer Arbeitszeitreduzierung nach § 8 TzBfG bei der Entscheidung über die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse benachteiligt werden; diese Situation ist vom Maßregelungsverbot des § 5 TzBfG erfasst. Stattdessen geht es um den – wohl wenig praxisrelevanten – Fall, dass Arbeitgeber:innen eine abstrakte Regelung für die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen aufstellen, bei der ein bestimmtes Arbeitszeitvolumen das maßgebliche Kriterium ist, sodass Arbeitneh291
BT-Drs. 14/4374, S. 11. BT-Drs. 14/4374, S. 1. 293 MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 4 TzBfG Rn. 21; ErfK/U. Preis, § 4 TzBfG Rn. 26; G. Thüsing, ZfA 2002, 249, 255 f. 294 Zu § 2 I BeschFG, der Vorgängervorschrift von § 4 I TzBfG: BAG, Urt. v. 25. 4. 2001 – 5 AZR 368/99, NZA 2002, 1211, 1212. BAG, Urt. v. 24. 10. 1989 – 8 AZR 5/89, NZA 1990, 486, 487; Laux/Schlachter/H. Laux, § 4 TzBfG Rn. 43; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 4 TzBfG Rn. 18; ErfK/U. Preis, § 4 TzBfG Rn. 13. 292
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
mer:innen, die einen bestimmten Arbeitsumfang unterschreiten, kategorisch nicht weiter beschäftigt werden. b) Besonderheit: Konkretisierung des Sachgrunderfordernisses Diese Unterscheidung ist nur dann zulässig, wenn sie durch sachliche Gründe, die über den Arbeitsumfang an sich hinausgehen, gerechtfertigt ist. Auch dass nach dem Wortlaut des § 4 I TzBfG prinzipiell jeder sachliche Grund taugt, um eine Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter zu rechtfertigen, rückt die Vorschrift in die dogmatische Nachbarschaft des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes.295 Als sachliche Gründe hat die Gesetzesbegründung zu § 2 I BeschFG a. F. beispielhaft die Arbeitsleistung, Qualifikation, Berufserfahrung, soziale Lage oder unterschiedliche Arbeitsplatzanforderungen genannt.296 Entscheidend ist wiederum, dass die Gründe die Anknüpfung an den Arbeitszeitumfang gerade im Hinblick auf den Leistungszweck rechtfertigen.297 Verfolgen Arbeitgeber:innen mit einer abstrakt-generellen Regelung für die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen einen übergeordneten Zweck, ist die Unterscheidung daran zu messen. Bezweckt ein Arbeitgeber die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse leistungsstarker Arbeitnehmer:innen, scheidet eine Unterscheidung anhand des Arbeitszeitvolumens regelmäßig aus. Üben die unterschiedlich behandelten Arbeitnehmer:innen nämlich vergleichbare Tätigkeiten in unterschiedlichem zeitlichen Umfang aus, ist meist nicht begründbar, wie der geringere zeitliche Umfang der Arbeit die Arbeitsleistung und Qualifikation der Arbeitnehmer:innen beeinflusst. In Ausnahmefällen dürfte wohl nur eine Begründung der ungleichen Behandlung mit einer unterschiedlichen Berufserfahrung der Arbeitnehmer:innen in Betracht kommen, aber auch nur, sofern das Erfahrungswissen nach Ablauf der Befristungsdauer bei in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer:innen wesentlich größer ist als bei in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer:innen, weil ein direkter Zusammenhang zwischen der Erfahrung und der Anzahl geleisteter Arbeitsstunden besteht.298 Verfolgen Arbeitgeber:innen mit einem System wirtschaftliche Interessen, kann der Abbau der Arbeitsplätze in Teilzeit durchaus der Vermeidung betriebsorganisatorischer und finanzieller Belastungen dienen. Dennoch sind diese Interessen regelmäßig keine sachlichen Gründe i. S. v. § 4 I TzBfG, da ansonsten der Zweck des
295
Z. B. G. Thüsing, ZfA 2002, 249, 253. So die Gesetzesbegründung zu § 2 I BeschFG a. F., BT-Drs. 10/2102, 23. 297 Vgl. BAG BAG, Urt. v. 24. 9. 2008 – 6 AZR 657/07, NZA-RR 2009, 221, 224 (Rn. 33); zu § 2 I BeschFG a. F. BAG, Urt. v. 24. 9. 2003 – 10 AZR 675/02, NZA 2004, 611, 613. 298 ErfK/U. Preis, § 4 TzBfG Rn. 54; G. Thüsing, ZfA 2002, 249, 265 f.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 7. 2. 1991 – C-184/89, NVwZ 1991, 461, 462 (Rn. 14 f.); BAG, Urt. v. 2. 12. 1992 – 4 AZR 152/92, NZA 1993, 367, 371. 296
3. Kap.: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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TzBfG, Teilzeitarbeitsmöglichkeiten zu fördern, untergraben würde.299 Die Wertung, dass nicht jedes finanzielle oder organisatorische Interesse von Arbeitgeber:innen eine Teilzeitbeschäftigung verhindern kann, bringt insbesondere § 8 IV TzBfG zum Ausdruck, dem zufolge Arbeitgeber:innen ein Verlangen von Arbeitnehmer:innen zur Verringerung der Arbeitszeit nur ablehnen dürfen, soweit betriebliche Gründe entgegenstehen. Ein betrieblicher Grund liegt insbesondere dann vor, wenn die Verringerung der Arbeitszeit die Organisation, den Arbeitsablauf oder die Sicherheit im Betrieb wesentlich beeinträchtigt oder unverhältnismäßige Kosten verursacht. Nur unter diesen strengen Voraussetzungen können finanzielle oder administrative Interessen der Arbeitgeber:innen daher auch einen sachlichen Grund für die Nichtfortsetzung befristeter Teilzeitarbeitsverhältnisse darstellen. 2. Anwendbarkeit des Benachteiligungsverbots auf die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Zur Frage, ob § 4 I TzBfG auch die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse erfasst, wurde in Literatur und Rechtsprechung, soweit ersichtlich, noch nicht Stellung bezogen, was vermutlich Rückschlüsse auf die praktische Relevanz der Fragestellung erlaubt. Indem das Benachteiligungsverbot die strukturellen Voraussetzungen des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes teilt, verfolgt die Vorschrift auch Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit. Dass diese dogmatische Wurzel auch die Fortsetzungsentscheidung von Arbeitgeber:innen betrifft, wurde oben ausführlich dargestellt. Indem § 4 I TzBfG die Teilzeitbefristung an sich und die ihr inhärenten wirtschaftlichen Belastungen für Arbeitgeber:innen als unzulässige sachliche Gründe verwirft, oktroyiert die Vorschrift aber auch gesellschaftspolitische Zielsetzungen. Es geht insoweit nicht mehr nur darum, Arbeitgeber:innen an eigenen Zwecksetzungen zu messen und damit der Verteilungsgerechtigkeit zu dienen, sondern auch darum, ihnen die Verfolgung grundsätzlich nachvollziehbarer wirtschaftlicher Interessen zugunsten eines übergeordneten rechtspolitischen Schutzauftrags zu verbieten. Insoweit wird die Vertragsfortsetzungsfreiheit durch eine gesetzliche Anordnung eingeschränkt, die bezweckt, überwiegend weiblichen Arbeitnehmerinnen die flexible Organisation ihrer Arbeit zu ermöglichen, um die Vereinbarkeit ihrer Arbeit mit der persönlichen, insbesondere familiären Lebensgestaltung zu fördern. Da es also nicht nur um eine Bindung von Arbeitgeber:innen an autonom gesetzte Zwecke geht, sondern um die Verhinderung mittelbarer Geschlechtsdiskriminierungen scheidet ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung analog § 15 VI AGG aus, soweit dieser die Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses tatbestandlich erfasst.300
299 EuGH, Urt. v. 1. 3. 2012 – C-393/10, NZA 2012, 313, 317 (Rn. 66); BAG, Urt. v. 27. 7. 1994 – 10 AZR 538/93, NZA 1994, 1130, 1132; L. Fastrich, RdA 2000, 65, 75 f. 300 Siehe dazu 6. Kap. C. II.
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2. Teil: Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung
C. Ergebnisse des dritten Kapitels Die Auseinandersetzung mit dem Geltungsgrund, den Voraussetzungen und Rechtsfolgen der allgemeinen Gleichbehandlungspflicht hat ergeben, dass die Gleichbehandlungspflicht prinzipiell auch die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse erfasst. Diese Auffassung ist entgegen der herrschenden Ansicht auch mit der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen, wie sie durch §§ 14 f. TzBfG gewährleistet wird, vereinbar. Der Vertragsfortsetzungsfreiheit wird durch die engen Anwendungsvoraussetzungen der Gleichbehandlungspflicht Rechnung getragen. Danach sind Arbeitgeber:innen nur dann aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Vertragsfortsetzung von Arbeitnehmer:innen verpflichtet, wenn sie nach einem kollektiven System entscheiden, indem sie für Vertragsfortsetzungen abstrakt-generelle Merkmale festlegen und dabei übergeordnete Zwecke verfolgen, zu deren Erreichung eine Unterscheidung zwischen den weiter beschäftigten und den nicht weiter beschäftigten Arbeitnehmer:innen nicht erforderlich und angemessen ist. Der Gleichbehandlungsgrundsatz begrenzt die Fortsetzungsentscheidung nicht, soweit Arbeitgeber:innen über die differenzierende Maßnahme auch in Ansehung der Individualität von Arbeitnehmer:innen im Einzelfall entscheiden. Da die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse typischerweise primär in Ansehung der konkreten Person eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin erfolgt, ist der Gleichbehandlungsgrundsatz in der Praxis selten anwendbar. Der Gleichbehandlungsgrundsatz beschränkt auch nicht die Freiheit der Arbeitgeber:innen bei der Zwecksetzung der Verteilungsentscheidung; es werden nur die Differenzierungskriterien und darauf basierende Ungleichbehandlungen im Hinblick auf von Arbeitgeber:innen autonom festgesetzte Zwecke kontrolliert. Da Zwecksetzung und Differenzierungkriterien bei der Vertragsfortsetzung im Regelfall übereinstimmen (Selbstzweck der Vertragsfortsetzung), sind Fortsetzungsentscheidungen in der Praxis auch insofern nur ausnahmsweise anhand des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu kontrollieren. Sind Differenzierungskriterien im Hinblick auf den Regelungszweck konsequent und nur aufgrund eines gesetzlichen Verbots – z. B. § 7 I AGG sowie Maßregelungsverbote – sachwidrig, ist ein Fortsetzungsanspruch ausgeschlossen, soweit § 15 VI AGG reicht.
3. Teil
Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit 4. Kapitel
Dogmatische Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten A. Ziel und Notwendigkeit einer dogmatischen Grundlegung Die Bestandsschutzkonzeption im TzBfG ermöglicht Arbeitgeber:innen, Arbeitsverhältnisse bei Fristablauf auslaufen zu lassen, ohne in diesem Zeitpunkt bestimmte Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Dass die Fortsetzung von Arbeitsverhältnisses dennoch nicht aus jedem Grund verweigert werden darf, hat das BAG erstmals im Jahr 1963 festgestellt: Die Verlängerung eines Arbeitsvertrags dürfe nicht ausschließlich aufgrund der Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin unterbleiben.1 In jüngerer Zeit hat sich das BAG mit der Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen wegen gewerkschafts- und parteipolitischer Äußerungen eines Arbeitnehmers2 und wegen der Betriebsratstätigkeit eines Arbeitnehmers auseinandergesetzt.3 In der Literatur wird die Frage, inwiefern die Vertragsfortsetzungsfreiheit durch Benachteiligungsverbote begrenzt wird, überwiegend oberflächlich anhand dieser wenigen BAG-Entscheidungen abgehandelt. Benachteiligungen bei Fortsetzungsentscheidungen sind jedoch keine Einzelfälle, sondern ergeben sich aus der befristeten Arbeitsverhältnissen strukturell anhaftenden Gefährdungslage, dass Arbeitgeber:innen bei Fristablauf grundsätzlich ohne Angabe von Sachgründen über eine Fortsetzung entscheiden dürfen. Dass diversen persönlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Arbeitnehmer:innen ein erhöhtes Benachteiligungspotenzial innewohnt, hat den Gesetzgeber zur Normierung vieler entsprechender Benachteiligungsverbote veranlasst. Die praktische Relevanz der Problematik wird dadurch verdeutlicht, dass vor Instanz- und europäischen Gerichten in den letzten Jahren mehrfach gegen die 1 2 3
BAG, Urt. v. 28. 11. 1963 – 2 AZR 140/63, NJW 1964, 567, 568. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317. BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
diskriminierende Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen geklagt wurde, und zwar wegen des Alters,4 einer Schwangerschaft,5 Loyalitätsverstößen gegenüber einem kirchlichen Arbeitgeber6 und der Weigerung, ein Kopftuch abzusetzen.7 In den Medien wurde schließlich über die Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen bei kirchlichen Arbeitgeber:innen aufgrund der Homosexualität von Arbeitnehmer:innen berichtet8 und über die Entfristungspraxis der Deutschen Post, anhand der Krankheitstage der Arbeitnehmer:innen zu differenzieren.9 Bisher lässt der arbeitsrechtliche Diskurs eine die einzelnen Benachteiligungsverbote übersteigende, verallgemeinerungsfähige Antwort auf die Rechtsfrage vermissen, wie sich die Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen zu Benachteiligungsverboten verhält. Eine solche Antwort ist auch nicht leicht zu finden, sind Benachteiligungsverbote doch über eine Vielzahl verschiedener Gesetze verstreut, verfolgen verschiedene Ziele und sind unterschiedlich stark in unions- und völkerrechtliche Kontexte eingebettet. Ein Verständnis der systematischen Zusammenhänge und verschiedenen Zielrichtungen ist unerlässlich, um die Normen teleologisch und rangkonform auslegen zu können und abstrakte Maßstäbe zu entwickeln, mit denen sämtliche Benachteiligungsverbote stimmig beurteilt werden können. Dem fünften und sechsten Kapitel dieser Arbeit, in denen herausgearbeitet wird, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Rechtsfolgen die Nichtfortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses rechtswidrig ist, werden daher in diesem vierten Kapitel eine Systematisierung und dogmatische Grundlegung von Benachteiligungsverboten vorangestellt. Eine grobe Kategorisierung ist bereits vorwegzunehmen: Es wird unterschieden zwischen Benachteiligungsverboten im AGG, die an persönliche Merkmale der Arbeitnehmer:innen anknüpfen [B.] und Maßregelungsverboten, die bestimmte Verhaltensweisen von Arbeitnehmer:innen schützen [C.].
4
LAG Hamm, Urt. v. 26. 2. 2009 – 17 Sa 923/08, BeckRS 2010, 72245. EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243; ArbG Mainz, Urt. v. 2. 9. 2008 – 3 Ca 1133/08, BeckRS 2008, 56479. 6 EGMR, Urt. v. 12. 6. 2014 – 5630/07 (Fernández Martinez), NZA 2015, 533. 7 EGMR, Urt. v. 26. 11. 2015 – 64846/11 (Ebrahimian), NZA-RR 2017, 62. 8 Z. B. „Ärger mit dem Kindergarten“, online veröffentlicht am 12. 9. 2012 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/bayern/streit-um-lesbische-erzieherin-aergermit-dem-kindergarten-1.1439898) sowie „Beliebte Erzieherin muss gehen – weil sie eine Frau heiratet“, online erschienen am 10. 2. 2018 auf queer.de (https://www.queer.de/detail.php?arti cle_id=30628). 9 K. Ludwig, „Krank sein bei der Post? Besser nicht“, online veröffentlicht am 6. 8. 2018 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brief-und-paketbotenkrank-sein-bei-der-post-besser-nicht-1.3969098). 5
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
163
B. Schutz vor Diskriminierungen aufgrund persönlicher Merkmale gem. § 7 AGG Das AGG ist am 18. August 2006 als Ergebnis einer langjährigen rechtspolitischen Diskussion in Kraft getreten.10 Es löste das Verbot geschlechtsbezogener Benachteiligungen in § 611a BGB a. F. ab und geht in seinem Anwendungsbereich weit über den Schutz vor geschlechtsbezogenen Benachteiligungen hinaus. Das AGG bezweckt, Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“ (§ 1 AGG). Geregelt ist sowohl der Schutz von Beschäftigten (Abschnitt 2 des AGG) als auch der Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr (Abschnitt 3). Der Begriff der (unmittelbaren und mittelbaren) Benachteiligung ist in § 3 I, II AGG legal definiert. Für den hier relevanten zweiten Abschnitt des Gesetzes ist das eigentliche Verbot von Benachteiligungen in § 7 I AGG normiert: „Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“
Für die Auslegung des AGG sind der rechtssystematische Zusammenhang des AGG [I.] und die mit dem Gesetz verfolgten Zwecke [II.] zu analysieren. Anschließend wird der Schutzgehalt der in § 1 AGG genannten Merkmale untersucht und ihr Diskriminierungspotenzial bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse beurteilt [III.].
I. Rechtssystematischer Zusammenhang des AGG 1. AGG als Transformationsgesetz europäischer Richtlinien a) Umsetzung europäischer Gleichbehandlungs-Richtlinien Das AGG setzt vier europäische Gleichbehandlungs-Richtlinien für den Bereich der Beschäftigung und den allgemeinen Zivilrechtsverkehr um. Die drei für den arbeitsrechtlichen Teil des AGG maßgeblichen Richtlinien sind *
*
die Richtlinie 2000/43/EG vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sowie
10
BGBl. I S. 1897, 1910.
164 *
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
die Richtlinie 2002/73/EG vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. Die RL 76/207/EWG wurde im am 15. August 2009 durch die RL 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen ersetzt.11
Die Richtlinien legen Mindestanforderungen an den Diskriminierungsschutz fest. Es steht den Staaten also frei, schutzintensivere Gesetze zu erlassen. Außerdem darf die Umsetzung der Richtlinien nicht zu einer Absenkung des vorher bestehenden Schutzniveaus führen.12 Eine Auslegung des AGG darf daher im Bereich der geschlechtsbezogenen Benachteiligung nicht das durch § 611a BGB a. F. garantierte Schutzniveau unterschreiten. Die verschiedenen Richtlinienvorgaben belassen den Mitgliedstaaten einen unterschiedlich großen Umsetzungsspielraum: Detaillierte Vorgaben enthalten die Richtlinien über ihren Geltungsbereich,13 den Begriff der unmittelbaren und mittelbaren Benachteiligung14 sowie über die Voraussetzungen, unter denen eine Benachteiligung gerechtfertigt ist.15 Diese Vorgaben transformiert das AGG teilweise wortlautgetreu in das deutsche Recht. Weniger konkrete Vorgaben machen die Richtlinien für die gerichtliche Durchsetzung und Sanktionierung von Diskriminierungen. Stattdessen legen sie Mindestanforderungen fest, die die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Gestaltungsspielraumes zu beachten haben. Bezüglich der Ausgestaltung von Beweislast und sozialem Dialog verweisen die Richtlinien beispielweise explizit darauf, dass die Mitgliedstaaten Regelungen „im Einklang“ mit dem nationalen Gerichtswesen bzw. den nationalen Gepflogenheiten treffen sollen.16 Außerdem beschränkt sich der Unionsgesetzgeber darauf, die Mitgliedstaaten zur Festlegung von Sanktionen zu verpflichten, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sind.17
11 Die Richtlinien hat der Rat der Europäischen Union auf Grundlage von Art. 19 AEUV (ex-Art. 13 EGV) und Art. 157 III AEUV (ex-Art. 141 III EGV) beschlossen, die den Rat zur Ergreifung von Vorkehrungen ermächtigen, „um Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ und die „Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ zu gewährleisten. 12 Art. 6 RL 2000/43/EG; Art. 8 RL 2000/78/EG; Art. 27 RL 2006/54/EG. 13 Art. 3 RL 2000/43/EG; Art. 3 RL 2000/78/EG; Art. 14 RL 2006/54/EG. 14 Art. 2 RL 2000/43/EG; Art. 2 RL 2000/78/EG; Art. 2 RL 2006/54/EG. 15 Art. 4 RL 2000/43/EG; Art. 4, 6 RL 2000/78/EG; Art. 3 II RL 2006/54/EG. 16 Art. 8, 11 RL 2000/43/EG; Art. 10, 13 RL 2000/78/EG; Art. 19, 21 RL 2006/54/EG. 17 Art. 15 RL 2000/43/EG; Art. 17 RL 2000/78/EG; Art. 25 RL 2006/54/EG.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
165
b) Konsequenzen für die Anwendung des AGG: Richtlinienkonforme Rechtsgewinnung Gemäß Art. 288 III AEUV sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, sie überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel. Es entspricht einhelliger Ansicht, dass nicht nur die nationale Legislative zum Erlass von Transformationsgesetzen verpflichtet wird, sondern auch die nationale Judikative am Umsetzungsprozess teilnimmt, indem sie das Richtlinienziel bei der Normanwendung im Einzelfall verwirklicht. Aus Art. 288 III AEUV18 – nach teilweise vertretener Ansicht in Verbindung mit dem Grundsatz der Unionstreue gem. Art. 4 III EUV19 oder unter Hinweis auf eine den europäischen Verträgen unterstellte Immanenz20 – wird daher eine Pflicht der innerstaatlichen Gerichte abgeleitet: Normen, die der Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union dienen, müssen sie so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen und fortbilden,21 um das in der Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen und damit Widersprüche zum Unionsrecht zu vermeiden.22 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung gilt innerhalb des Anwendungsbereichs einer Richtlinie und unabhängig vom Grad der Determinierung.23 Damit unterliegt der gesamte arbeitsrechtliche Teil des AGG der Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung. aa) Inhalt und Reichweite der Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung Der EuGH verpflichtet die mitgliedstaatlichen Gerichte, eine nationale Vorschrift in Übereinstimmung mit den Richtlinien „unter Anwendung der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden“ anzuwenden, „ohne dass sie contra legem aus18 BAG, Urt. v. 17. 11. 2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020, 1023 (Rn. 25); BAG, Urt. v. 23. 3. 2006 – 2 AZR 343/05, NZA 2006, 971, 973 (Rn. 23); EuArbR/C. Höpfner, Art. 288 AEUV Rn. 42; Streinz/W. Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 110. 19 BAG, Beschl. v. 24. 1. 2006 – 1 ABR 6/05, NZA 2006, 862, 867 (Rn. 42); BAG, Beschl. v. 18. 2. 2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742, 747; C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 55 ff.; GHN AEUV/M. Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 135; Calliess/Ruffert/ M. Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 79. 20 EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04 (Adeneler), NJW 2006, 2465, 2467 (Rn. 108 f.); EuGH, Urt. v. 5. 10. 2004 – C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), NJW 2004, 3547, 3549 (Rn. 113 f.); BAG, Urt. v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538, 543 f. (Rn. 58). 21 Der EuGH fasst die Auslegung i. e. S. und die Rechtsfortbildung unter dem Begriff der „Auslegung“ zusammen. 22 St. Rspr. des EuGH seit EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), NJW 1984, 2021; st. Rspr. des BVerfG, grundlegend BVerfG, Beschl. v. 26. 9. 2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669, 670 f. (Rn. 45 ff.); st. Rspr. des BAG, z. B. BAG, Beschl. v. 18. 2. 2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742, 747. 23 C. Herresthal, JuS 2014, 289, 290.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gelegt wird.“24 Daraus können zwei wichtige Aussagen abgeleitet werden: Erstens müssen Gerichte alle im Recht des Mitgliedstaats anerkannten Rechtschöpfungsmethoden nutzen, um eine Übereinstimmung mit der Richtlinie zu erzielen, wozu insbesondere auch Methoden zur Vermeidung von innerstaatlichen Normkollisionen gehören.25 Das ist neben der Auslegung i. e. S. auch die Rechtsfortbildung, insbesondere durch Analogieschlüsse und teleologische Reduktion.26 Wie die deutsche Methodenlehre die Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtschöpfung integriert, wird gleich dargestellt [bb)]. Zweitens besteht die Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung nicht unbegrenzt. Auch nach Ansicht des EuGH resultiert aus Art. 288 III AEUV keine Pflicht zur Rechtsgewinnung contra legem; nationale Gerichte müssen nur „alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten“.27 Wann Gerichte ihre Zuständigkeit übertreten, bemisst sich nach nationalem Recht. Nach Ansicht des BAG darf eine richterliche Rechtsfindung nicht der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers zuwiderlaufen und die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 III GG) und das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 II 2 GG) verletzen.28 bb) Methodik der richtlinienkonformen Rechtsgewinnung Der Gehalt einer auslegungsbedürftigen Norm wird grundsätzlich dadurch bestimmt, dass grammatische, systematische, teleologische und historische Argumente zusammengetragen, gewichtet und argumentativ gegeneinander abgewogen werden.29 Dieser Grundsatz wird von Vorrangregeln durchbrochen: Erstens ist der mögliche Wortsinn einer Norm die Grenze ihrer Auslegung; sie kann nur unter den Voraussetzungen einer Regelungslücke qua Rechtsfortbildung übertreten werden.30 Zweitens ist der im Gesetz manifestierte Regelungswille des Gesetzgebers der 24
EuGH, Urt. v. 22. 1. 2019 – C-193/17, NZA 2019, 297, 301 (Rn. 74). EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04 (Adeneler), NJW 2006, 2465, 2467 f. (Rn. 111); EuGH, Urt. v. 5. 10. 2004 – C-397/01 u. a. (Pfeiffer u. a.), NJW 2004, 3547, 3549 (Rn. 116). 26 BAG, Urt. v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538, 544 (Rn. 65); ähnlich BAG, Urt. v. 17. 11. 2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020, 1023 (Rn. 29); zustimmend C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 82. 27 EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04 (Adeneler), NJW 2006, 2465, 2467 f. (Rn. 110 f.). 28 BAG, Urt. v. 17. 11. 2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020, 1023 (Rn. 29); BAG, Urt. v. 24. 3. 2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538, 544 (Rn. 65); zustimmend C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 82. 29 Canaris bezeichnet dies als „Abwägungslösung“, C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 65. 30 BAG, Urt. v. 17. 11. 2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020, 1023 (Rn. 28); vgl. auch grundlegend BVerfG, Beschl. v. 20. 10. 1992 – 1 BvR 698/89, NJW 1993, 1457, 1458. 25
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
167
Grenzstein richterlicher Rechtsfindung. Canaris hat diesen Vorrangregeln die richtlinienkonforme Auslegung beigestellt: Sprechen die klassischen Auslegungskriterien für verschiedene Auslegungsergebnisse, besteht ein judikativer Beurteilungsspielraum, in dem die richtlinienkonforme Auslegung Platz greifen kann. Es setzen sich dann die Kriterien durch, die zu einem richtlinienkonformen Auslegungsergebnis führen, und zwar aufgrund ihres Vorrangs ohne eine weitere Gewichtung und Abwägung mit den gegenläufigen Argumenten.31 Die richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel zu begreifen, entspricht mittlerweile der herrschenden Ansicht in der Literatur32 und wird auch – methodisch weniger aufgeschlüsselt – von der Rechtsprechung praktiziert.33 Fraglich ist, wie weit die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung reicht, wenn mehrere richtlinienkonforme Auslegungsmöglichkeiten existieren. Schreibt sie Rechtsanwendern auch vor, welche dieser Auslegungsmöglichkeiten sie zu wählen haben, z. B. diejenige, die für das mit der Richtlinie verfolgten Ziel am geeignetsten ist? Zu dieser Situation kommt es insbesondere dann, wenn die Richtlinie bezüglich des betreffenden Regelungsgegenstands selbst so unbestimmt ist, dass sie eine Bandbreite richtlinienkonformer Umsetzungen zulässt. Die Annahme einer Pflicht zur möglichst richtliniengeleiteten Ausfüllung auch dieses Spielraums suggeriert die Passage eines Beschlusses des BVerfG: „Denn die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet das nationale Gericht zwar, durch ,die Anwendung seiner Auslegungsmethoden‘ ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. Besteht ein Auslegungsspielraum, ist das nationale Gericht verpflichtet, diesen so weit wie möglich auszuschöpfen. Mehrere mögliche Auslegungsmethoden sind daher hinsichtlich des Richtlinienziels bestmöglich anzuwenden im Sinne eines Optimierungsgebots.“34
Eindeutig ist diese Lesart nicht. Die Aussage des Gerichts kann auch bedeuten, dass die Auslegungsmethoden optimal angewandt werden müssen, um ein vorgegebenes und hinreichend bestimmtes Richtlinienziel zu erreichen. Dafür kann beispielsweise auch ein Vorrang desjenigen Auslegungskriteriums angenommen werden, das ein richtlinienkonformes Ergebnis produziert. Eine Orientierung am Ziel der Richtlinie auch bei der Auswahl zwischen mehreren richtlinienkonformen Ergebnissen wird weder im Rest des Beschlusses aufgegriffen noch von der Literatur vertreten.35 Zu Recht: Der Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung besteht, um das in der Richtlinie festgelegte Ergebnis im Mitgliedstaat verbindlich zu machen 31 C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 67 ff. 32 C. Herresthal, JuS 2014, 289, 291; M. Münder, Richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen (2021), S. 80. 33 Z. B. BAG, Beschl. v. 24. 1. 2006 – 1 ABR 6/05, NZA 2006, 862, 867 (Rn. 43); BAG, Beschl. v. 18. 2. 2003 – 1 ABR 2/02, NZA 2003, 742, 747. 34 BVerfG, Beschl. v. 26. 9. 2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669, 670 f. (Rn. 46). 35 Ablehnend z. B. C. Herresthal, JuS 2014, 289, 291; EuArbR/C. Höpfner, Art. 288 AEUV Rn. 45; GHN AEUV/M. Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 135.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
(vgl. Art. 288 III AEUV) und so Widersprüche zum Unionsrecht zu vermeiden. Dort, wo der Richtliniengeber unbestimmte Rechtsbegriffe benutzt hat oder nur einen äußeren Rahmen für die Ausgestaltung bestimmter Regelungen gesetzt hat, akzeptiert er, dass die mitgliedsstaatliche Legislative und Judikative den Gestaltungsspielraum nach eigenem Ermessen füllen. Die Richtlinie ist insoweit nicht verbindlich i. S. v. Art. 288 III AEUV. Die Vorgabe, welche richtlinienkonforme Auslegung ein nationales Gericht zu wählen habe, ist also nicht erforderlich, um das in der Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen und Widersprüche zum Unionsrecht zu vermeiden. Überlässt eine Richtlinie den Mitgliedstaaten innerhalb bestimmter Ober- oder Untergrenzen einen Gestaltungsspielraum, kommt der interpretatorische Vorrang richtlinienkonformer Auslegung nur zum Einsatz, um das Koordinatenfeld zulässiger Auslegungen abzustecken und Auslegungen jenseits der Ober- oder Untergrenzen auszuscheiden; innerhalb des Spielraums spielt die Richtlinie dagegen keine Rolle.36 Die nationalen Gerichte treffen die Auswahl des Auslegungsergebnisses nach normaler Gewichtung und Abwägung der klassischen Auslegungskriterien.37 Kann ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis nicht innerhalb des möglichen Wortsinns der Vorschrift realisiert werden, ist zu prüfen, ob es durch Rechtsfortbildung – insbesondere durch einen Analogieschluss38 oder eine teleologische Reduktion39 – erzielt werden kann. Es soll hier keine Auseinandersetzung mit den abstrakten Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung und den verschiedenen rechtsdogmatischen Ansätzen der Lückenfeststellung stattfinden, sondern darauf hingewiesen werden, dass die Unvollständigkeit des nationalen Rechts dann anzunehmen ist, wenn es kein richtlinienkonformes Ergebnis bereithält. Die Beurteilung der Planwidrigkeit hängt davon ab, welchen Maßstab der Auslegung von Gesetzen zugrunde gelegt wird und inwieweit man im Kontext des Richtlinien-Transformationsrechts auf einen generellen gesetzgeberischen Umsetzungswillen oder eine konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers abstellt.40
36
C.-W. Canaris, in: FS Bydlinski (2002), Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, S. 47, 77 f. 37 C. Herresthal, JuS 2014, 289, 291. 38 Implizit EuGH, Urt. v. 4. 7. 2006 – C-212/04 (Adeneler), NJW 2006, 2465, 2467 (Rn. 110). 39 BAG, Urt. v. 17. 11. 2009 – 9 AZR 844/08, NZA 2010, 1020, 1023 (Rn. 29); BGH, Urt. v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427, 428 f. (Rn. 21). 40 Zu einer Übersicht im Kontext der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung siehe M. Münder, Richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen (2021), S. 70 ff., der drei in der Literatur vertretene Strömungen identifiziert.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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2. Grundrechte als Maßstab für die Anwendung des AGG a) Grundrechte im Grundgesetz Soweit die Vorschriften des AGG auslegungsfähige und -bedürftige Rechtsbegriffe enthalten, sind im Übrigen die Grundrechte der durch eine Anwendung des AGG betroffenen Privatrechtssubjekte zu berücksichtigen. Dies geschieht erstens durch eine Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts: das Gebot, unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu wählen, die mit der Verfassung vereinbar ist und diejenige, die verfassungswidrig wäre, zu verwerfen.41 Die Verfassung wirkt darüber hinaus jedoch auch, wenn es nicht um die Normerhaltung geht, sondern die Wahl unter mehreren verfassungskonformen Deutungen. In Abgrenzung zur verfassungskonformen Auslegung wird dies bisweilen als verfassungsorientierte Auslegung bezeichnet.42 Aus Art. 1 III, 20 III GG resultiert die Verpflichtung der Gerichte, die interpretationsleitende Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht zu beachten. Dies geschieht insbesondere durch die Figur der mittelbaren Grundrechtswirkungen im Privatrecht, nach der bei der Auslegung auslegungsfähiger und -bedürftiger Tatbestandsmerkmale zivilrechtlicher Vorschriften diejenige Auslegung „den Vorzug [verdient], die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht und die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt.“43 Soweit die Anwendung der Vorschriften des AGG grundrechtlich geschützte Positionen berührt, ist also deren Gehalt zu beachten. Als berücksichtigungspflichtige Grundrechte kommen auf Seite der durch das AGG in ihrer Vertragsfreiheit beschränkten Arbeitgeber:innen die Berufsfreiheit gem. Art. 12 GG in Betracht und auf Seite der Arbeitnehmer:innen vor allem die besonderen Gleichheitssätze gem. Art. 3 II, III GG sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 I, 2 I GG.44
41 BVerfG, Beschl. v. 11. 1. 2005 – 2 BvR 167/02, NJW 2005, 1923, 1927 m. w. N.; vgl. auch jüngst BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 776 (Rn. 44); C. Herresthal, JuS 2014, 289, 295 f.; Maunz/Schmidt-Bleibtreu/H. Bethge, § 31 BVerfGG Rn. 258. 42 Aus der Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 908 f. (Rn. 27); aus der Literatur z. B. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/H. Bethge, § 31 BVerfGG Rn. 262; S. Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 448. 43 BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 2432 (Rn. 86); die Figur der mittelbaren Drittwirkung ist st. Rspr. des BVerfG seit BVerfG, Urt. v. 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257; aus der jüngeren Rspr z. B. BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 305 f. (Rn. 76 f.); BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 2432 (Rn. 86); aus der Rspr. des BAG z. B. BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 908 f. (Rn. 27 f.). 44 Siehe zur Auslegungsrelevanz dieser Grundrechte ausführlich unten 6. Kap. C. II. 5. a) bb), 6.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
b) Grundrechte in der Grundrechtecharta Zu den Grundrechten des Grundgesetzes treten im Anwendungsbereich des Unionsrechts gem. Art. 51 I GrCh die funktionsäquivalenten Unionsgrundrechte der Grundrechtecharta: Auch sie schützen Freiheit und Gleichheit der Bürger und müssen bei der Rechtsanwendung von Unionsrecht berücksichtigt werden.45 Die Grundrechtecharta gilt gemäß ihres Art. 51 I 1 auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Aufgrund der unionsrechtlichen Dimension des AGG als Transformationsgesetz sind daher prinzipiell auch die Grundrechte der Grundrechtecharta zu beachten.46 Die Gegenstücke zu den oben genannten Grundrechten des Grundgesetzes sind die unternehmerische Freiheit von Arbeitgeber:innen gem. Art. 16 GrCh sowie auf Seiten der Arbeitnehmer:innen die Verbote der Diskriminierung in Art. 21 GrCh, das Gebot der Geschlechtergleichheit in Art. 23 GrCh und die Achtung des Privatlebens in Art. 7 GrCh. c) Verhältnis der Grundrechte in Grundrechtecharta und Grundgesetz zueinander Es ist damit zu untersuchen, welche grundrechtlichen Schutzvorgaben bei der Anwendung des AGG zu berücksichtigen sind. Über das Verhältnis der Grundrechte in der Charta zu denen im Grundgesetz haben sich der EuGH und das BVerfG lange Zeit nur im Rahmen der Frage auseinandergesetzt, anhand welchen Maßstabs die Gültigkeit von Unionsrecht zu beurteilen ist. Im November 2019 hat das BVerfG in den Grundsatzentscheidungen „Recht auf Vergessen I und II“47 erstmals geprüft und entschieden, welche Grundrechte zur konkretisierenden Auslegung (transformierten) Unionsrechts heranzuziehen sind. Das Ergebnis vorab: Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht ist primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, unionsrechtlich determiniertes Recht anhand der Unionsgrundrechte auszulegen und anzuwenden. Nach Ansicht des BVerfG ist die Bindung an die Grundrechte nämlich „ein Korollar der politischen Entscheidungsverantwortung, entspricht also der jeweiligen legislativen und exekutiven Verantwortung. Die Beachtung der Grundrechte bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung haben die deutschen Gerichte und insbesondere das BVerfG zu gewährleisten.“48 Soweit nationales Recht vollständig unionsrechtlich determiniert ist, trägt die Europäische Union die legislative Verantwortung. Sie übt mit der Gesetzgebung Hoheitsbefugnisse aus, die die Bundesrepublik Deutschland ihr gem. Art. 23 I 2 GG übertragen hat, und zwar gerade damit die Union unionseinheitliche Regelungen trifft. Diesem Zweck der Unionsrechtsvereinheitlichung entsprechend „muss auch 45
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 319 f. (Rn. 59 f.). Vgl. EuGH, Urt. v. 17. 4. 2018 – C-414/16 (Egenberger), NZA 2018, 569, 571 (Rn. 49). 47 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300; BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314. 48 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 301 (Rn. 42). 46
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein.“49 Maßstab für die Auslegung von vollständig determinierten Unionsrecht müssen daher allein die Grundrechte der Charta sein, und nicht die eigenständigen, inhaltlich divergierenden mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandards.50 Für nicht unionsrechtlich determinierte Regelungsmaterien trägt der deutsche Gesetzgeber die legislative Verantwortung. Dabei ist er gem. Art. 1 III, 20 III GG an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden, genauso wie die Gerichte bei der konkretisierenden Anwendung der Gesetze (vgl. auch Art. 93 I Nr. 4a GG).51 Auch bei der Ausfüllung unionsrechtlich eingeräumter Gestaltungsspielräume kann es sich nach Ansicht des BVerfG allerdings um die „Durchführung von Unionsrecht“ i. S. v. Art. 51 I 1 GrCh handeln, wenn „das Unionsrecht dieser Gestaltung […] einen hinreichend gehaltvollen Rahmen setzt, der erkennbar auch unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll. Die Unionsgrundrechte treten dann zu den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes hinzu.“52 Trotz dieses prinzipiellen Nebeneinanders der Grundrechte findet eine Auslegung der nicht unionsrechtlich determinierten Materie nach Ansicht des BVerfG aber primär am Maßstab des Grundgesetzes statt:53 Wo das Unionsrecht nämlich Spielräume für die Gestaltung des Fachrechts eröffnet, ist es nicht auf eine Vereinheitlichung des Unionsrechts gerichtet. Damit bezweckt es regelmäßig auch keine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes, sondern lässt mitgliedstaatliche Grundrechtspluralität zu.54 Hieran schließt sich die Vermutung an, dass ein auf Vielfalt gerichtetes Schutzniveau der GrCh durch die Anwendung des Grundgesetzes gewährleistet und eine Auslegung der Normen allein anhand der deutschen Grundrechte unionsrechtskonform ist.55 Dabei ist das Grundgesetz aufgrund seiner Völker- und Europarechtsfreundlichkeit im Lichte der EMRK und der GrCh auszulegen.56 Eine Prüfung unmittelbar anhand der GrCh ist hingegen nur dann geboten, wenn „konkrete und hinreichende Anhaltspunkte“ dafür bestehen, dass durch eine primäre Prüfung anhand des Grundgesetzes das Schutzniveau der GrCh unterschritten wird.57 49
BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 317 (Rn. 44). BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 317 (Rn. 46). Dieses Ergebnis stimmt überein mit der Auffassung des BVerfG, die Gültigkeit vollvereinheitlichten Unionsrechts nicht anhand des Grundgesetzes zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4. 10. 2011 – 1 BvL 3/08, NJW 2012, 45 (Rn. 46)). 51 Die Anwendung nationaler Schutzstandards erkennt auch der EuGH im Anwendungsbereich der GrCh an, soweit die Union Gestaltungsspielräume eröffnet hat und solange das Schutzniveau der Grundrechte nicht beeinträchtigt wird (EuGH, Urt. v. 26. 2. 2013 – C-617/10 (Åkerberg Fransson), NJW 2013, 1415, 1416 (Rn. 29); EuGH, Urt. v. 26. 2. 2013 – C-399/11 (Melloni), NJW 2013, 1215, 1219 (Rn. 60)). 52 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 301 (Rn. 44). 53 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 301 (Rn. 45 f., 71). 54 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 302 (Rn. 49 ff.). 55 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 302 (Rn. 55 ff.). 56 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 305 (Rn. 71). 57 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 303 ff. (Rn. 66 ff.). 50
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Die Anwendung von nationalen oder europäischen Grundrechten hängt also davon ab, ob die auszulegende Bestimmung des innerstaatlichen Rechts unionsrechtlich vollvereinheitlicht ist oder unionsrechtlich überlassene Gestaltungsspielräume ausfüllt. Das ist für jede einzelne Regelung gesondert zu beurteilen.58 Da Richtlinien nicht unmittelbar im Mitgliedstaat gelten, sondern ihrer Rechtsnatur gemäß einer Transformation ins nationale Recht bedürfen, kommt es für die Auslegung einer Richtlinienvorschrift darauf an, „ob sie auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt ist, oder ob sie nur dazu dienen soll, besonderen Sachgegebenheiten hinreichend flexibel Rechnung zu tragen, dabei aber von dem Ziel der gleichförmigen Rechtsanwendung getragen ist.“59 d) Konsequenzen für die grundrechtsgeleitete Auslegung des AGG Das AGG ist anhand der Grundrechte der Grundrechtecharta auszulegen, wo die ihm zugrundeliegenden Gleichbehandlungs-Richtlinien detaillierte Vorgaben machen. Das sind insbesondere der Geltungsbereich, der Begriff der unmittelbaren und mittelbaren Benachteiligung sowie die Voraussetzungen, unter denen eine Benachteiligung gerechtfertigt ist. Die Maßstäbe des Grundgesetzes greifen dort, wo das AGG von den Richtlinien eröffnete Gestaltungsspielräume nutzt; das sind insbesondere der Rechtsschutz, die Sanktionen, der Opferschutz und die Möglichkeit der Verbandsklage.60 3. Völkerrechtliche Vorgaben Die Richtlinien und das AGG sind darüber hinaus in einen Kontext diverser Diskriminierungsverbote auf völkerrechtlicher Ebene eingebettet, in deren Lichte sie teilweise auszulegen sind. Gem. Art. 14 EMRK sind die Konventionsrechte „ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“ Da es sich bei dem Diskriminierungsverbot um ein akzessorisches Verbot handelt und die EMRK kein Recht der Berufsfreiheit normiert, ist die Bedeutung im Rahmen der Gleichbehandlungs-Richtlinien und des AGG auf die Merkmale beschränkt, die auch als eigenständige Menschenrechte garantiert sind. Das sind beispielsweise berufsbezogene Benachteiligungen aufgrund der Religion (Art. 9 EMRK)61 und aufgrund von 58
BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 320 (Rn. 78). BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 321 (Rn. 80). 60 M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 328 f.; H. Reichold, ZfA 2006, 257, 264; M. Schlachter, in: FS Preis (2021), Diskriminierungsschutz zwischen Unionsrecht und Grundgesetz – Relevante Prüfungsmaßstäbe einer Grundrechtskontrolle, S. 1157, 1161. 61 EGMR, Urt. v. 26. 11. 2015 – 64846/11 (Ebrahimian), NZA-RR 2017, 62, 63 (Rn. 47). 59
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Homosexualität als Eingriff in die Privatsphäre gem. Art. 8 EMRK.62 Obwohl die europäische Union der EMRK noch nicht beigetreten ist und sie daher nicht gem. Art. 216 II AEUV an ihren Inhalt gebunden ist, sind die Gleichbehandlungsrichtlinien im Lichte der EMRK auszulegen: Sie ist gem. Art. 6 III EUV und Art. 52 III 1 GrCh eine „Rechtserkenntnisquelle“ für die Anwendung der Grundrechte in der GrCh;63 die Rechtsprechung des EGMR dient dem EuGH bei der Interpretation von Unionsrecht dementsprechend als Orientierungspunkt.64 Über den „Umweg“ der richtlinienkonformen Auslegung wirkt die EMRK so mittelbar auf die Handhabung des AGG ein.65 Eine Bindung an die EMRK ergibt sich aber auch unmittelbar aus der nationalen Methodik: Zwar steht die EMRK in Deutschland gem. Art. 23 II GG nur im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gem. Art 59 II GG und ist daher auf derselben normhierarchischen Ebene wie das AGG angesiedelt; die Gewährleistungen der EMRK und die diese konkretisierende Rechtsprechung des EGMR sind aber aufgrund des völkerrechtsfreundlichen Bekenntnisses des Grundgesetzes, die in der Präambel und Art. 23 ff. sowie Art. 59 GG zum Ausdruck kommt, bei der Auslegung des Bundesrechts zu berücksichtigen.66 Es gibt zahlreiche weitere völkerrechtliche Verträge zur Bekämpfung der Diskriminierung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Die Erwägungsgründe der Gleichbehandlungsrichtlinien und die Gesetzesbegründung zum AGG nennen bei¨ bereinkommen über die Beseitigung aller Formen der Diskrispielhaft das VN-U minierung von Frauen, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, den Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte, den Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie das ILO-Übereinkommen zu Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf.67 Nach Verabschiedung der Gleichbehandlungsrichtlinien und des AGG ist das ebenfalls einschlägige VN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Die meisten Verträge wurden von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert und sind damit qua völkerrechtsfreundlicher Auslegung des deutschen Rechts bei der Anwendung des AGG zu berücksichtigen. Hat die Europäische Union selbst einen einschlägigen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen, wie beispielsweise die VN-Behindertenrechtskonvention, müssen auch die Gleichbehandlungsrichtli62
EGMR, Urt. v. 27. 9. 1999, 25. 7. 2000 – 33985/96, 33986/96, AuR 2004, 311 ff. Schwarze/A. Hatje, Art. 6 EUV Rn. 11; EuArbR/C. Schubert, Art. 6 EUV Rn. 64; so auch deklaratorisch ErwG Nr. 2 RL 2000/43/EG; ErwG Nr. 1 RL 2000/78/EG und ErwG Nr. 1 RL 2002/73/EG. 64 EuArbR/C. Schubert, Art. 6 EUV Rn. 65 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH. 65 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 44. 66 BVerfG, Beschl. v. 18. 8. 2013 – 2 BvR 1380/08, BeckRS 2013, 56345 Rn. 27; EuArbR/ C. Schubert, Art. 1 EMRK Rn. 92 m. w. N. 67 ErwG Nr. 3 RL 2000/43/EG; ErwG Nr. 2 RL 2002/73/EG; ErwG Nr. 4 RL 2000/78/EG; BT-Drs. 16/1780, S. 21 f. 63
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
nien gem. Art. 216 II AEUV in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Bestimmungen ausgelegt werden68 und diese Auslegung wiederum mittelbar der richtlinienkonformen Auslegung des AGG zugrunde gelegt werden. 4. Zusammenfassung zum rechtssystematischen Zusammenhang des AGG Die arbeitsrechtlichen Vorschriften des AGG sind nicht nur in nationales Verfassungsrecht, sondern darüber hinaus in ein supranationales Mehrebenensystem eingebettet. Bei der Anwendung der Vorschriften sind daher stets die Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinien im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung und ggf. Fortbildung einzuhalten. Darüber hinaus sind ggf. völkerrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen – entweder direkt qua völkerrechtsfreundlicher Auslegung des einfachen Rechts oder über den Umweg der richtlinienkonformen Auslegung, sofern die Richtlinien selbst im Lichte der völkerrechtlichen Vorgaben auszulegen sind. Schließlich muss eine Normanwendung auch die Grundrechte der betroffenen Privatrechtssubjekte berücksichtigen; je nach Grad der unionsrechtlichen Determinierung der jeweiligen Vorschriften sind dies entweder die nationalen Grundrechte oder jene der Grundrechtecharta.
II. Schutzziele und -konzeptionen der Diskriminierungsverbote im AGG Gem. § 1 AGG ausdrücklich erklärtes „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ Der Verhinderung und Beseitigung von Benachteiligung liegen unterschiedliche gesellschafts- und rechtspolitische Zielvorstellungen zugrunde, die die Rechtsprechung und Literatur mit Blick auf einen jahrzehntelangen Gleichheitsdiskurs, die Gesetzgebungsmaterialien zum AGG, die Richtlinien und die einschlägigen völkerrechtlichen Übereinkommen herausgearbeitet haben. 1. Egalitaristische Zielsetzung der Diskriminierungsverbote Diskriminierungsverboten liegt die rechtsphilosophische Prämisse zugrunde, dass jeder Mensch einen Anspruch hat, als Gleicher behandelt zu werden.69 Dieses 68
EuGH, Urt. v. 18. 3. 2014 – C-363/12, NZA 2014, 525, 528 Rn. 71 f. G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 390 f.; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 543; O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 28, 39; J. Neuner, JZ 2003, 57, 58. 69
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Gleichheitsgebot beinhaltet nicht nur die Pflicht des Staates, alle Bürger gleich zu behandeln, sondern ist als ein umfassendes Prinzip zu verstehen, das die Gesellschaft im Ganzen und damit auch die Rechtsbeziehungen unter Privaten erfasst.70 Diesem Prinzip entsprechend können die Vorschriften des AGG als „genuine Gleichheitsinstrumente“71 begriffen werden, die die gleiche Freiheit aller Personen in verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft rechtlich absichern sollen.72 Diese egalitaristische Zielsetzung des Antidiskriminierungsrechts kommt insbesondere im Unionsrecht zum Ausdruck: Der EuGH versteht Diskriminierungsverbote seit jeher als spezifische Ausprägungen eines allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes,73 was auf Ebene des Primärrechts durch die systematische Nachbarschaft von Art. 20 GrCh – Gleichheit vor dem Gesetz – und Art. 21 GrCh – Grundsatz der Nichtdiskriminierung – bestärkt wird.74 Schließlich nennen auch die den Gleichbehandlungsrichtlinien zugrundeliegenden Erwägungsgründe „die Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz aller Menschen vor Diskriminierung“ in einem Atemzug als allgemeines Menschenrecht.75 Da die Stoßrichtung und grundlegende Schutzkonzeption des AGG durch die Richtlinien determiniert ist, hat der deutsche Gesetzgeber mit den materiellen Regelungen auch die den Richtlinienvorgaben zugrundeliegende ratio legis übernommen.76 Das AGG verfolgt daher im Ausgangspunkt ein genuingleichheitsrechtliches Schutzanliegen. a) Diskriminierungsverbote als eigenständige Säule des Prinzips personaler Gleichheit Gerechtigkeit soll durch die Diskriminierungsverbote allerdings – und hier liegt ein zentraler Unterschied zum allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz – nicht dadurch erreicht werden, dass eine allgemeine Gleichbehandlung innerhalb eines Kollektivs gefordert wird, sondern, dass spezifische Ungleichbehandlungen verboten werden; insofern ist der Titel des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“ irreführend. Die Diskriminierungsverbote verlangen nicht positiv das Vorliegen eines sachlichen Grunds einer Differenzierung, sondern sie verbieten negativ die Anknüpfung an abschließend in § 1 AGG benannte Motive. Die Diskriminierungsverbote kann man im Ausgangspunkt als eine Verschärfung der Anforderungen an den „sachlichen Grund“ einer Differenzierung verstehen und damit als eine Kon-
70
O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 28. G. Britz, Freie Selbstentfaltung durch Selbstdarstellung (2007), S. 79. 72 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 22. 73 EuGH, Urt. v. 22. 11. 2005 – C-144/04 (Mangold), NJW 2005, 3695, 3698 (Rn. 76): „Wahrung des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung, insbesondere im Hinblick auf das Alter“; siehe auch schon EuGH, Urt. v. 19. 10. 1977 – 117/76, BeckRS 2004, 71315 (Rn. 7). 74 So auch O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 51. 75 ErwG Nr. 3 RL 2000/43/EG und ErwG Nr. 4 RL 2000/78/EG. 76 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 41 f. 71
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kretisierung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes.77 Ein als sachlich angeführter Grund einer Ungleichbehandlung ist nur zulässig, wenn er die strengen Rechtfertigungsanforderungen der §§ 5, 8 – 10 AGG erfüllt. Eine Konsequenz daraus, dass bestimmte Differenzierungsgründe gemäß dem AGG unzulässig sind, ist auch, dass nun Sachverhalte und Personen gleichzustellen sind, die bei einer am Zweck einer Differenzierung orientierten Betrachtung objektiv ungleich sind. Also: Wenn Arbeitgeber:innen bei einer Auswahlentscheidung nur Kandidat:innen mit voraussichtlich wenig Fehltagen auswählen möchten, ist die Differenzierung zwischen Schwangeren und Nicht-Schwangeren sowie zwischen Menschen mit und ohne körperliche Behinderung unter Umständen rational. Die Arbeitnehmergruppen sind in Bezug auf von Arbeitgeber:innen verfolgte Ziele tatsächlich ungleich. Indem Diskriminierungsverbote das Geschlecht oder das Vorliegen einer Behinderung als Sachgründe ausscheiden, korrigieren sie den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, anstatt ihn zu konkretisieren: Bestimmte tatsächliche Differenzen sind nicht geeignet, rechtliche Ungleichheit zu begründen,78 denn der Begriff der „Vergleichbarkeit importiert die Vorurteile, die der gesellschaftlichen Benachteiligung zugrunde liegen, weitgehend unreflektiert ins Recht.“79 Die von Arbeitgeber:innen autonom ausgeübte Zwecksetzungsfreiheit wird zur Erreichung eines heteronomen politischen Ziels von der Pflicht zur Gleichstellung abgelöst.80 Das ist eine Weiterentwicklung des AGG gegenüber der Struktur des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Dies wird auch darin deutlich, dass mit dem Verbot der mittelbaren Benachteiligung in § 3 II AGG die gleiche Behandlung ungleicher Personen verboten und in § 5 AGG ausdrücklich die Bevorzugung bestimmter Personengruppen gestattet wird. Mit diesen Gleichheitsinstrumenten hat sich das AGG dogmatisch als eine zweite Säule des Prinzips personaler Gleichheit neben dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz etabliert.81 b) Materiale Gleichheit als dem AGG zugrunde Gleichheitskonzeption Diese Emanzipation der Diskriminierungsverbote des AGG vom allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz wird in der Literatur mit den Begriffen der formalen 77
M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 543. D. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (2000), S. 55. 79 D. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (2000), S. 62. 80 L. Fastrich, RdA 2000, 65, 67 ff.; E. Kocher, RdA 2002, 167, 169; H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 41. 81 Dies hat Fastrich unter der Begriffsdichotomie der Gleichbehandlung und Gleichstellung ausführlich herausgearbeitet, L. Fastrich, RdA 2000, 65, 65 ff. Eine Eigenständigkeit betont auch H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 60: Die besonderen Benachteiligungsverbote „entstammen nicht dem aristotelischen Verteilungsdenken, sondern in Vergangenheit und Gegenwart einem politischen Programm zum Schutz einzelner Bevölkerungsgruppen.“; ähnlich auch BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 3; MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 6. 78
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und materialen Gleichheit beschrieben. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz beruht demnach auf dem Prinzip formaler Gleichheit, oder auch Normanwendungsgleichheit.82 Er realisiert prozedurale Gerechtigkeit dadurch, dass es für die ungleiche Anwendung einer Norm innerhalb eines Kollektivs sachlicher Gründe bedarf. Das europäische Gleichbehandlungsrecht und das AGG hingegen dienen der Herstellung materialer Gleichheit, also der Herstellung von faktischer Gerechtigkeit in der sozialen Realität.83 Ein Recht, das sich auf die Gewährleistung formaler Rechtsgleichheit beschränkt, blendet aus, dass gesellschaftsbedingte Defizite existieren, die formal eingeräumten gleichen Freiheitsmöglichkeiten wahrzunehmen.84 Aus dieser Erkenntnis sind Diskriminierungsverbote geboren. Bestimmte personenbedingte Merkmale wurden von Gesellschaft und Recht historisch instrumentalisiert, um Individuen zu einer homogenen und als andersartig stigmatisierten Gruppe zusammenzufassen, die der anerkannten Mehrheitsgesellschaft gegenübergestellt wurde.85 Die Zuschreibung dieser Merkmale diente dazu, Bevölkerungsgruppen einen niedrigeren Platz in der gesellschaftlichen Statushierarchie zuzuweisen oder sie sogar systematisch zu kriminalisieren.86 Mit dieser historischen Verantwortung sind die in § 1 AGG genannten Merkmale zusammengefasst worden, um der Gefahr der Perpetuierung sozialer Statushierarchien in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Bis heute ist eine soziale Segregation auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten, die entlang dieser Merkmale stattfindet. Mittels Diskriminierungsverboten soll diese Form der Ausgrenzung überwunden und materiale Gleichheit erzielt werden.87 Materiale Gleichheit kann auf zwei Weisen hergestellt werden: durch Gleichheit des Ergebnisses und durch die Gleichheit der Chancen der Akteure. Grünberger hat Ausprägungen beider Konzepte in den verschiedenen vom AGG erfassten Diskriminierungsformen identifiziert:88 Mit dem Verbot der mittelbaren Benachteiligung in § 3 II AGG bekämpft das AGG die faktischen Benachteiligungen, die eine formale Gleichbehandlung von Menschen mit unterschiedlicher Merkmalsausprägung bedingt. Mit diesem Verbot werde daher eine individualbezogene Ergebnisgleichheit 82
L. Fastrich, RdA 2000, 65, 67. Zum europäischen Recht: E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 10 ff.; Schiek/D. Schiek, Einleitung AGG Rn. 63 ff.; zum AGG: M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 546; A. Schnabel, Diskriminierungsschutz ohne Grenzen? (2014), S. 38. 84 A. K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht (2021), S. 8, 194. 85 A. K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht (2021), S. 6. 86 Beispiele sind die Verfolgung und Ermordung von Juden in der NS-Zeit und die Kriminalisierung von Homosexuellen in der BRD bis in die 90er Jahre. 87 BT-Drs. 16/1780, S. 21; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 16 ff.; M. Grünberger, NZA-Beilage 2012, 139, 143; ders., Personale Gleichheit (2013), S. 739; E. Kocher, RdA 2002, 167, 169; H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 59 f. 88 M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 546 f.; ähnlich Däubler/Bertzbach/ S. Blanke/B. Graue, Einl. AGG Rn. 246. 83
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hergestellt. § 5 AGG verfolge eine gruppenbezogene Ergebnisgleichheit, indem die rechtliche Ungleichbehandlung von Individuen zu dem Zwecke zugelassen wird, strukturelle Benachteiligungen bestimmter Gruppen auszugleichen.89 Das für das AGG paradigmatische Verbot ist jedoch das der unmittelbaren Benachteiligung gem. § 3 I AGG. Indem Arbeitgeber:innen verboten wird, ihren Entscheidungen bestimmte Personenmerkmale zugrunde zu legen, würden historisch gewachsene verzerrte Wettbewerbsbedingungen kompensiert und (theoretisch)90 allen Akteuren gleichermaßen ermöglicht, sich aufgrund eigener Leistungen und unabhängig von einer gem. § 1 AGG erfassten Merkmalsausprägung im Wettbewerb durchsetzen. Mit dem Verbot unmittelbarer Benachteiligung solle also eine Chancengleichheit der Akteure hergestellt werden. Diskriminieren Arbeitgeber:innen in kollektiven Regelungen im Arbeitsverhältnis, z. B. Vergütungsordnungen, sind die Differenzierungen gem. § 7 II AGG unwirksam und es kommt zu einer Angleichung nach oben, also der Herstellung von Ergebnisgleichheit.91 Richtigerweise variiert die im AGG verfolgte Gleichheitskonzeption also nicht nur je nach Benachteiligungsform, sondern auch je nach Anwendungsbereich der Verbote. 2. Teilhaberechtliche Dimension des AGG betreffend den Zugang zum Arbeitsmarkt Indem Antidiskriminierungsrecht auf die Herstellung von Chancengleichheit der Privatrechtssubjekte beim Zugang zum Arbeitsmarkt gerichtet ist, fördert es auch eine gleichberechtigte Teilhabe strukturell benachteiligter Gruppen am Arbeitsmarkt. Teile der Literatur attestieren dem Antidiskriminierungsrecht daher auch eine teilhaberechtliche Zielsetzung.92 Es handele sich zwar nicht um die traditionelle sozialstaatliche Teilhabesicherung, die auf ein Existenzminimum und die Versorgung mit existenziell lebenswichtigen Gütern gerichtet sei, sondern um eine gesellschaftliche Dimension: die Gewährung gleichen Zugangs zu allen für die Teilhabe am Sozialleben relevanten Gütern. Zu diesen Gütern gehöre neben dem von §§ 19 ff. AGG erfassten Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auch die Mög89 M. Grünberger, NZA-Beilage 2012, 139, 140 bezeichnet diesen Mechanismus als „Dialektik des Nichtdiskriminierungsrechts“. 90 M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 547 f. 91 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 1 AGG Rn. 24. 92 S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 379 f.; D. Looschelders, JZ 2012, 105, 106; O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 36 ff.; J. Neuner, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006), Vertragsfreiheit und Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 74, 78 f.; H. Reichold, JZ 2004, 384, 391; M. Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz (2018), S. 146; M. Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht (2015), S. 34; MüKo BGB/G. Thüsing, Einl. AGG Rn. 59; ähnlich A. K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht (2021), S. 353: „freiheitsermöglichende Funktion“ von Diskriminierungsverboten.
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lichkeit, am Erwerbsleben teilzunehmen und die finanziellen Mittel für die eigene Lebensführung zu generieren.93 Gegen eine teilhaberechtliche Lesart des Antidiskriminierungsrechts (und damit einhergehend meist auch die Berechtigung des AGG überhaupt) wird teilweise eingewandt, dass das Gebot einer gerechten Verteilung von Gütern und Dienstleistungen – die Verteilungsgerechtigkeit – ein Grundprinzip des öffentlichen Rechts sei, der Staat zur Teilhabesicherung Privater also allenfalls selbst verpflichtet werden könne. Das Privatrecht, baue dagegen auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und Austauschgerechtigkeit auf, eine Inanspruchnahme Privater zu distributiven Zwecken sei daher verfehlt.94 Diese Argumentation greift zu kurz: Eine Instrumentalisierung des Privatrechts zur Umsetzung öffentlicher Aufgaben ist weder per se verfassungswidrig95 noch ein aus zivilrechtsdogmatischen Gründen abzulehnender Fremdkörper im Privatrecht: Canaris’ ausführliche Abhandlung über die Bedeutung der iustitita distributiva im deutschen Vertragsrecht hat schon 1997 ergeben, dass das Vertragsrecht zwar primär von dem Grundsatz der Austauschgerechtigkeit geprägt ist, aber teilweise von distributiven Zielsetzungen überlagert wird.96 Eine Inanspruchnahme einzelner Privatrechtssubjekte sei dann legitim, wenn „zur Erreichung der angestrebten Ziele aufgrund der wirtschaftlichen und organisatorischen Vorgegebenheiten gar keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht“.97 Die Inpflichtnahme des Privatrechts zur „Integration besonders schutzbedürftiger Personen in das Berufs- und Wirtschaftsleben“ sei die notwendige Konsequenz daraus, dass die Wirtschafts- und Arbeitsordnung privatrechtlich verfasst ist.98 Damit liegt Canaris auf einer Linie mit dem BVerfG, demzufolge sich der Staat Unternehmer zur Erfüllung einer öffentlichen Versorgungsaufgabe bedienen darf, weil „in einer auf dem Prinzip des freien Unternehmertums beruhenden Wirtschaftsordnung die Versorgung der Gesamtwirt93
O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 36, 225. Besonders dezidiert E. Picker, ZfA 2005, 167, 169: „Das ADG [Vorläufer-Entwurf des AGG, Anm. d. Verf.] soll, in zeitlosen Basisbegriffen beschrieben, im Bruch mit einer Jahrtausende alten Trennung die Maxime der iustitia commutativa – die Tauschgerechtigkeit – aus dem Privatrechtsverkehr verdrängen, indem es die Aufgabe der iustitia distributiva – die Verteilungsgerechtigkeit – über den Staat hinaus auf den Bürger erstreckt“; ebenfalls ders., JZ 2003, 540, 543; H. Hanau, in: FS Adomeit (2008), „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ und Kontrahierungszwang, S. 237, 243; T. Lobinger, AcP 206 (2016), 29, 87 f.; ders., in: Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung (2007), Vertragsfreiheit und Diskriminierungsverbote. Privatautonomie im modernen Zivil- und Arbeitsrecht, S. 99, 113 ff. 95 So ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667/66, NJW 1971, 1255; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 17. 2. 1977 – 1 BvR 33/76, NJW 1977, 1282. 96 C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 78 ff. 97 C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 90. 98 C.-W. Canaris, in: Bayerische Akademie (1997), Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, S. 90. 94
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schaft auch mit lebensnotwendigen Gütern grundsätzlich zu den Funktionen der privaten Unternehmer gehört“.99 Auch die Inanspruchnahme von Arbeitgeber:innen zur Teilhabesicherung strukturell ausgegrenzter Personengruppen kann mit diesen Argumenten gerechtfertigt werden: Die Verantwortlichkeit privater Arbeitgeber:innen liegt „in der Natur der Sache begründet“:100 Sie verursachen die Gefahr einer Ausgrenzung und nur sie können die Integration in den Arbeitsmarkt durch den Abschluss von Arbeitsverträgen leisten, da der Arbeitsmarkt in großen Teilen privat- und marktwirtschaftlich verfasst ist.101 Da der Staat die ihm obliegenden distributiven Aufgaben nicht mit Hilfe eigener Wirtschaftsunternehmen erfüllen kann,102 werden die Verteilungs- und Versorgungsaufgaben an die Privaten weitergegeben: Ihre Verpflichtung zur Beseitigung systematischer Teilhabedefizite ist die Kehrseite ihrer Macht, Marktteilnehmer zu integrieren oder auszugrenzen.103 Es ist daher unter dem Gesichtspunkt distributiver Gerechtigkeit gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber Private für den Diskriminierungsschutz in Anspruch nimmt.104 Nur die Anerkennung einer teilhaberechtlichen Schutzfunktion des AGG vermag schließlich zu erklären, wieso der Anwendungsbereich des Gesetzes auf teilhaberelevante Bereiche (vgl. § 2 I AGG) wie insbesondere das Erwerbsleben und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen beschränkt ist und wieso jeweils nur Arbeitgeber:innen bzw. Anbieter:innen – und nicht Bewerber:innen oder Nachfrager:innen – zur Beachtung der Diskriminierungsverbote verpflichtet sind.105 Aus der Gleichheitsidee selbst heraus lässt sich diese Eingrenzung nicht ableiten. Es ist stattdessen davon auszugehen, dass der Aspekt der Teilhabesicherung den Bereich markiert, in dem das Gleichbehandlungsprinzip zwischen Privaten zum Tragen kommen soll.106 Teilhabe und Gleichbehandlung ergänzen sich damit als Erklärungsansätze für das AGG.107 99
BVerfG, Beschl. v. 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667/66, NJW 1971, 1255. R. Singer, in: FS Adomeit (2008), Vertragsfreiheit und Antidiskriminierung, S. 703, 706; ders., in: GS Zachert (2010), Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, S. 341, 350. 101 S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 282; G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 382; M. Coester, in: FS Canaris I (2007), Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, S. 115, 119; J. Neuner, NJW 2020, 1851, 1853. 102 J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 236. 103 M. Coester, in: FS Canaris I (2007), Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, S. 115, 121; J. Neuner, JZ 2003, 57, 59; R. Singer, in: GS Zachert (2010), Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, S. 341, 350 f. 104 R. Singer, in: FS Adomeit (2008), Vertragsfreiheit und Antidiskriminierung, S. 703, 707; ders., in: GS Zachert (2010), Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, S. 341, 350 f.; ebenso vor Inkrafttreten des AGG D. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (2000), S. 356. 105 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 39. 106 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 226. 107 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 36. 100
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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3. Integritätsschützende Funktion der Diskriminierungsverbote Schutz vor Benachteiligungen aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale ist auch Schutz der persönlichen Integrität der betroffenen Personen. Aus dem AGG kann diese Wertung insbesondere aus § 15 II AGG abgelesen werden,108 wonach Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen können. Ausweislich der Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber damit die unionsrechtlichen Vorgaben nach einer „wirksamen und verschuldens- unabhängig ausgestalteten Sanktion bei Verletzung des Benachteiligungsverbotes durch den Arbeitgeber [erfüllen]. Der aus § 611a BGB bekannte Grundgedanke wird hier auf alle Tatbestände einer Benachteiligung übertragen. Es wird klargestellt, dass die Entschädigung ausschließlich für immaterielle Schäden gewährt wird, die regelmäßig bei einer ungerechtfertigten Benachteiligung aus den in § 1 genannten Gründen vorliegen.“ Der in Bezug genommene „Grundgedanke“ entstammt einer Entscheidung des BAG zum Entschädigungsanspruch bei geschlechtsbezogenen Benachteiligungen: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfaßt das Recht des einzelnen auf Achtung seiner Menschenwürde und Entfaltung der individuellen Persönlichkeit. Im Arbeitsleben hat jeder Arbeitnehmer ein Recht, nach sachangemessenen Maßstäben beurteilt zu werden. Ein Arbeitgeber, der bei der Auswahl zu Unrecht auf das Geschlecht abstellt, beeinträchtigt die Entfaltungsmöglichkeiten der Bewerber, die dem gesuchten Geschlecht nicht angehören. Darin liegt eine Herabwürdigung der beruflichen Fähigkeiten der ausgeschlossenen Bewerber. Sie werden bei der Bewerbung um Einstellung daran gehindert, die erstrebte Berufstätigkeit aufzunehmen und damit ihre individuelle Persönlichkeit zu entfalten, indem ihnen die chancengleiche Teilnahme an einem Auswahlverfahren von vornherein verweigert wird.“109
Dass sich der Gesetzgeber bei der Normierung eines Entschädigungsanspruchs in § 611a II BGB a. F. an diesem Urteil orientiert hat, ist in den Gesetzgebungsmaterialien dokumentiert.110 Ihnen kann also entnommen werden, dass der AGG-Gesetzgeber mit den gem. § 15 II sanktionsbewehrten Benachteiligungsverboten auch bezweckt, vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu schützen, die Diskriminierungen nach seiner Auffassung regelmäßig auslösen. Diese Zielsetzung des AGG ent-
108
So expressis verbis BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 376 (Rn. 38). 109 BAG, Urt. v. 14. 3. 1989 – 8 AZR 447/87, NZA 1990, 21, 21 f. 110 BT-Drs. 12/5468, S. 44: „Die in Absatz 2 vorgesehene Vorgabe für die Höhe des Entschädigungsanspruchs orientiert sich hinsichtlich der Regelhöhe der Sanktion an der bereits erwähnten Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 1989.“ Da diese Regelhöhe anhand des Persönlichkeitsrechtseingriffs entwickelt wurde, ist der Verweis auf die BAG-Entscheidung nicht nur in Bezug auf die Rechtsfolge des Schadensersatzanspruchs, sondern auch den Tatbestand – die Verletzung des Persönlichkeitsrechts – zu verstehen (so auch J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 125).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
spricht auch der Ansicht des BAG und der herrschenden Literatur.111 Für die Konzeption des AGG als (auch) integritätsschützendes Gesetz ist es nicht erforderlich, dass jede vom AGG erfasste Benachteiligung auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach den im Rahmen von § 823 I BGB entwickelten Maßstäben ist.112 Entscheidend ist stattdessen, dass mit Benachteiligungen regelmäßig schützenswerte Integritätsinteressen der Betroffenen verletzt werden und der Gesetzgeber mit Diskriminierungsverboten auf diese Gefährdungslage reagiert. Dass Benachteiligungen regelmäßig mit Persönlichkeitsrechtsverletzungen einhergehen, wird in der Literatur überwiegend mit zwei verschiedenen Argumentationssträngen, die bereits im oben zitierten Urteil des BAG anklingen, begründet: dem Schutz der Würde des Menschen [a)] und dem Schutz seines Rechts auf Entfaltung der Persönlichkeit durch Selbstdarstellung [b)]. a) Schutz der Würde des Menschen Mit dem Paradigma der Gleichheit aller Menschen eng verknüpft ist die Achtung der Würde jedes Menschen. Die soziale Hierarchisierung und daran anknüpfende Benachteiligung von (vermeintlichen) merkmalshomogenen Kollektiven stellen den Achtungsanspruchs eines Menschen als gleichwertiges Individuum in Frage.113 Für Benachteiligungen aufgrund einer Behinderung, des Geschlechts oder einer vermeintlichen „Rasse“ betonen die UN-Vertragsstaaten in den jeweiligen Übereinkommen zur Beseitigung von Diskriminierungen ausdrücklich, dass „jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung eine Verletzung der Würde und des Wertes darstellt, die jedem Menschen innewohnen“, dass „die Diskriminierung der Frau die Grundsätze der Gleichberechtigung und der Achtung der Menschenwürde verletzt“ bzw., „dass es notwendig ist, jede Form und jedes Anzeichen von Rassendiskriminierung überall in der Welt rasch zu beseitigen sowie Verständnis und Achtung zu wecken für die Würde der menschlichen Person“. Indem das AGG bezweckt, die systematische Ausgrenzung und Abwertung von Teilen der Bevölkerung aufgrund 111 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 376 (Rn. 38); grundlegend dazu J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 125 ff.; zustimmend G. Britz, Freie Selbstentfaltung durch Selbstdarstellung (2007), S. 54 ff.; Däubler/ Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 56; H. Eisemann, AuR 1988, 225, 231; M. Jacobs, RdA 2009, 193, 194 f.; Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 32; T. Lobinger, AcP 206 (2016), 29, 82 ff.: ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 8 f.; A. Schnabel, Diskriminierungsschutz ohne Grenzen? (2014), S. 50; a. A. M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 555 zum privatrechtlichen Diskriminierungsverbot vor Inkrafttreten des AGG. 112 So aber M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 554 ff., der aus diesem Grund eine freiheitsrechtliche Dimension des AGG ablehnt. 113 BAG, Urt. v. 14. 3. 1989 – 8 AZR 447/87, NZA 1990, 21, 21 f.; OLG Köln, Urt. v. 19. 1. 2010 – 24 U 51/09, NJW 2010, 1676; J. C. Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht (2005), S. 111 f.; J. Neuner, JZ 2003, 57, 58; Schiek/D. Schiek, Einleitung AGG Rn. 43; A. Schnabel, Diskriminierungsschutz ohne Grenzen? (2014), S. 46; M. Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz (2018), S. 136.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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ihrer Persönlichkeitsmerkmale zu bekämpfen, leistet es einen Beitrag zum Schutz der Menschenwürde. b) Schutz des Rechts auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Selbstdarstellung Benachteiligungen stellen nicht nur den Achtungsanspruch einer Person in Frage, sondern auch ihr Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, insbesondere durch Selbstdarstellung. Ausgangspunkt dieser These ist das Recht jedes Menschen, über die Darstellung der eigenen Person zu bestimmen. „Der Einzelne soll selbst darüber befinden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will und was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll.“114 Im Arbeitsleben wird dieses Recht als das Recht von Bewerber:innen oder Arbeitnehmer:innen konkretisiert, nach professionellen Maßstäben beurteilt zu werden.115 Das sind idealerweise unter anderem Leistungen und Fähigkeiten, die sie bei der Bewerbung oder im Arbeitsverhältnis präsentieren.116 Auch die wechselseitige Sympathie und persönliche, nicht leistungsbezogene Präferenzen von Arbeitgeber:innen sind zulässige Maßstäbe, da es im privaten Arbeitsverhältnis kein Gebot der Bestenauslese gibt. Das Persönlichkeitsrecht wird jedoch verletzt, wenn Arbeitnehmer:innen nicht als Individuum wahrgenommen und beurteilt werden, sondern auf die Zuschreibung eines unveränderlichen und stigmatisierten Persönlichkeitsmerkmals reduziert werden.117 Diskriminierungsverbote wirken dieser Persönlichkeitsrechtsverletzung nach Ansicht Britz’ entgegen, indem sie „beim Gegenüber eine Unvoreingenommenheit erzwingen oder wenigstens simulieren, die es dem Individuum ermöglicht, sich dem Gegenüber als ,sich selbst‘ darzustellen und nicht automatisch als Mitglied einer bestimmten Gruppe mit bestimmten (vermeintlichen) Eigenschaften wahrgenommen zu werden.“118 Diskriminierungen können also die Autonomie der individuellen Selbstbestimmung in Frage stellen und die Diskriminierungsverbote im AGG als „prozedurale Instrumente des Selbstdarstellungsschutzes“119 verstanden werden.
114
BVerfG, Beschl. v. 3. 11. 1999 – 2 BvR 2039/99, NJW 2000, 1399, 1400 m. w. N. BAG, Urt. v. 14. 3. 1989 – 8 AZR 447/87, NZA 1990, 21, 21 f.; Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 32. 116 Vgl. D. Coester-Waltjen, ZRP 1982, 217, 219 im Kontext der damals noch spekulativen Idee eines geschlechtsbezogenen Diskriminierungsverbots im Privatrecht. 117 Däubler/Bertzbach/S. Blanke/B. Graue, Einl. AGG Rn. 233; G. Britz, Freie Selbstentfaltung durch Selbstdarstellung (2007), S. 55; Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 32; D. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit (2000), S. 38, 48; A. Schnabel, Diskriminierungsschutz ohne Grenzen? (2014), S. 51 f.; zu einem geschlechtsbezogenen Benachteiligungsverbot bereits früh D. Coester-Waltjen, ZRP 1982, 217, 219; ähnlich H. Eisemann, AuR 1988, 225, 231, die daraus allerdings eine Verletzung des APR in Gestalt einer Würde- bzw. Ehrverletzung ableitet. 118 G. Britz, Freie Selbstentfaltung durch Selbstdarstellung (2007), S. 55. 119 G. Britz, Freie Selbstentfaltung durch Selbstdarstellung (2007), S. 57. 115
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
4. Zusammenfassung zu den Schutzzielen und -konzeptionen der Diskriminierungsverbote Den Diskriminierungsverboten im arbeitsrechtlichen Teil des AGG liegt eine egalitaristische, eine teilhaberechtliche und eine integritätsschützende Zielrichtung zugrunde. Diskriminierungsverbote bezwecken, Bevölkerungsgruppen, die aufgrund historisch gewachsener, gesamtgesellschaftlich wirksamer Statushierarchien in der Arbeitswelt strukturell benachteiligt werden, vor andauernden Ausgrenzungen zu schützen. Das Ziel der Diskriminierungsverbote ist einerseits genuin gleichheitsrechtlich: Es soll materielle Gleichheit aller Menschen verschiedener Merkmalsausprägungen in der sozialen Realität herstellen. Dadurch entfalten die Verbote gleichzeitig eine teilhaberechtliche Dimension: Gesellschaftsgruppen werden in den Arbeitsmarkt integriert und ihnen so eine Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht. Außerdem schützen die Verbote vor den typischerweise mit Benachteiligungen einhergehenden Verletzungen der Würde des Menschen und des Rechts auf freie Selbstentfaltung und -darstellung.
III. Schutzgehalt der Merkmale in § 1 AGG und ihr Diskriminierungspotenzial bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse In § 1 enthält das AGG einen abschließenden Katalog an Merkmalen, derentwegen Beschäftigte nicht benachteiligt werden dürfen.120 Der Schutzgehalt der einzelnen Merkmale und ihre Relevanz im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses nach Fristablauf werden nun untersucht. Bei der Auslegung der einzelnen Merkmale ist zu beachten, dass die Begriffe zum Zwecke der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts „eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten
120
Die Beschränkung in § 1 AGG auf acht Merkmale wird teilweise zwar als nicht weitgehend genug empfunden; sie ist aber jedenfalls insofern nicht willkürlich, als sie europäische Grundentscheidungen umsetzt: Die in § 1 AGG enumerierten Gründe stimmen mit den in Art. 1 RL 2000/78/EG und Art. 1 RL 2000/43/EG, Art. 1 RL 2006/54/EG (ex-Art. 2 RL 2002/73/EG) genannten Merkmalen überein. Diese Selektion geht wiederum zurück auf die in Art. 19 I AEUV normierte begrenzte Ermächtigungsgrundlage, die die europäischen Legislativorgane zur Vornahme von Maßnahmen legitimiert, „um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ Dass andere persönliche Merkmale, die ebenfalls „diskriminierungsanfällig“ und schutzwürdig sind (wie beispielsweise die in Art. 21 GrCh genannten genetischen Merkmale, die soziale Herkunft und das Vermögen), exkludiert werden, ist damit eine politische Wertentscheidung auf Unionsebene, die hier nicht eingehender kommentiert werden kann und soll als mit den Worten Däublers: „Ein erwünschter Rechtsfortschritt könnte immer noch größer sein, solange das Paradies nicht erreicht ist.“ (Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 6).
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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müssen“,121 also nur hilfsweise auf zum nationalen Recht etablierte Definitionen zurückgegriffen werden darf. 1. Schutzgehalt der einzelnen Merkmale a) Rassistische Benachteiligungen oder Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft Arbeitgeber:innen benachteiligen aus rassistischen Gründen, wenn sie Arbeitnehmer:innen aufgrund bestimmter Erscheinungsmerkmale wie Hautfarbe, Physiognomie oder Körperbau einer vermeintlichen122 ethnischen Gruppe zuordnen und aus diesem Grund ungünstig behandeln.123 Die ethnische Herkunft bezeichnet die Zugehörigkeit zu einem räumlich-kulturellen Bevölkerungsteil, der aufgrund diverser Gemeinsamkeiten – beispielsweise Abstammung, nationalen Ursprungs, Erscheinungsbild, Geschichte, Kultur, religiöser Bräuche und Dialekt – geprägt wird.124 Arbeitgeber:innen benachteiligen sowohl dann aufgrund der ethnischen Herkunft, wenn sie Arbeitnehmer:innen als Teil einer bestimmten Ethnie – z. B. Marokkaner, Kurden, deutsch-russische Aussiedler oder Roma – exkludieren, als auch dann, wenn die Benachteiligung daran anknüpft, dass Arbeitnehmer:innen als nicht zu einem ethnischen (insbes. deutschen) Kollektiv zugehörig wahrgenommen werden.125 Die Zuschreibung einer vermeintlichen Rasse oder ethnischen Herkunft von Arbeitnehmer:innen beruht auf unveränderlichen Merkmalen, die für Arbeitgeber:innen in der Regel bereits bei der Ersteinstellung erkennbar sind, da sie sich entweder aus dem Erscheinungsbild der Bewerber:innen oder ihren Bewerbungsunterlagen ergeben. Diskriminierungen bei der Vertragsfortsetzung sind daher allenfalls denkbar, wenn Arbeitgeber:innen andere Maßstäbe an eine Einstellungs- als eine Fortsetzungsentscheidung stellen, also z. B. dann, wenn sie auch nichtdeutschen Bewerber:innen einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag anbieten, aber nur 121
EuGH, Urt. v. 1. 12. 2016 – C-395/15 (Daouidi), EuZW 2017, 263, 265 (Rn. 50 f.). Sowohl in der Gesetzesbegründung zum AGG (BT-Drs. 16/1780, S. 31) als auch dem Erwägungsgrund Nr. 6 der RL 2000/43/EG wird betont, dass mit der Verwendung des Begriffs der „Rasse“ keine Existenz verschiedener menschlicher Rassen anerkannt wird, sondern an den Begriff des „Rassismus“ angeknüpft wird und die Signalwirkung des Begriffs zur konsequenten Bekämpfung rassistischer Anschauungen genutzt werden soll. Nicht das Gesetz setzt die Existenz menschlicher „Rassen“ voraus, sondern der sich rassistisch Verhaltende (vgl. auch § 7 I Hs. 2 AGG). 123 BeckOK ArbR/S. Roloff, § 1 AGG Rn. 1. 124 BT-Drs. 16/1780, S. 31; EuGH, Urt. v. 16. 7. 2015 – C-83/14, BeckRS 2015, 80950 (Rn. 46); BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 31); MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 19. 125 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 31); Däubler/ Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 47; KR/J. Treber, § 1 AGG Rn. 20; U. WendelingSchröder/A. Stein, § 1 AGG Rn. 15. 122
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Arbeitnehmer:innen deutscher Herkunft anschließend entfristen.126 Darüber hinaus ist es vorstellbar, dass die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft unterbleibt, wenn Arbeitgeber:innen damit auf diskriminierende Wünsche und Erwartungen von anderen Arbeitnehmer:innen oder Geschäftspartnern reagieren oder falls für die Fortsetzungsentscheidung eine andere Person verantwortlich ist als bei der ursprünglichen Einstellungsentscheidung, und diese rassistisch entscheidet. b) Benachteiligungen wegen des Geschlechts Benachteiligungen wegen des Geschlechts i. S. v. § 1 AGG sind erstens Benachteiligungen aufgrund des biologischen Geschlechts. Dazu gehören jedenfalls das weibliche und das männliche Geschlecht. Trans- und Intersexualität werden uneinheitlich behandelt: Nach der Gesetzesbegründung sind transsexuelle und intersexuelle Menschen vom Begriff der sexuellen Identität erfasst.127 Der EuGH128 und die herrschende Meinung im deutschen Schrifttum129 behandeln eine Benachteiligung aufgrund von Transsexualität jedoch zurecht als Benachteiligung aufgrund des Geschlechts; das BAG subsumiert Transsexualität unter beide Merkmale.130 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG, der zufolge intersexuelle Menschen vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts zu schützen sind,131 ordnet auch die ganz überwiegende Literatur Benachteiligungen Intersexueller als Benachteiligungen wegen des Geschlechts ein.132 Bislang weitgehend ungeklärt ist schließlich, ob geschlechtsbezogene Diskriminierungen auch solche sind, die nicht an die bei Geburt oder infolge einer Geschlechtsangleichung vorliegenden biologischen Merkmale anknüpfen, sondern an die Art und Weise, in der eine Person ihr Geschlecht zum Ausdruck bringt und empfindet. Dafür spricht, dass Geschlechtsdiskriminierung ein gesellschaftliches Machtverhältnis ist, das vor allem an geschlechtsbezogene Erwartungen anknüpft, die nicht mit der Verfasstheit der Chromosomen oder körperlichen Geschlechts126
Angelehnt an BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345. BT-Drs. 16/1780, S. 31. 128 EuGH, Urt. v. 7. 1. 2004 – C-117/01, NJW 2004, 1440, 1441. 129 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 1 AGG Rn. 76; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG, 103; DHSW/V. Braun, § 1 AGG Rn. 7; P. Körlings, NZA 2018, 282; Schleusener/Suckow/Plum/A. Schleusener, § 1 AGG Rn. 85; MüKo BGB/ G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 22; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 1 AGG Rn. 12. 130 BAG, Urt. v. 17. 12. 2015 – 8 AZR 421/14, NZA 2016, 888, 891 (Rn. 31). 131 BVerfG, Beschl. v. 10. 10. 2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 2017, 3643, 3647 (Rn. 58). 132 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 1 AGG Rn. 73; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG, 104; M. Bettinghausen, BB 2018, 372; DHSW/V. Braun, § 1 AGG Rn. 7; P. Körlings, NZA 2018, 282; ErfK/M. Schlachter, § 1 AGG Rn. 6; MüKo BGB/ G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 22; KR/J. Treber, § 1 AGG Rn. 22; NK ArbR/R. von SteinauSteinrück/V. Schneider, § 1 AGG Rn. 12. 127
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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merkmale korrelieren müssen. Das Verständnis vom Begriff des Geschlechts löst sich daher immer weiter von einer binären biologischen Struktur der Geschlechterverhältnisse hin zu dem offeneren sozialen Konstrukt gender. Für eine Abkehr von einem biologisch verhafteten Geschlechterbegriff spricht auch, dass die Rechtsordnung seit einem Grundsatzurteil des BVerfG vom 11. Januar 2011133 die subjektiv empfundene Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen unabhängig davon anerkennt, ob eine biologische Angleichung stattgefunden hat.134 Das Verbot geschlechtsbezogener Benachteiligungen muss sich damit auf alle Diskriminierungen beziehen, die an geschlechtsbezogene Erwartungen und Lesarten einer Person, z. B. infolge geschlechtsuntypischen Verhaltens oder Aussehens anknüpfen.135 Arbeitgeber:innen werden zumeist, auch ohne Bekenntnis der Bewerber:innen, bereits bei der erstmaligen Einstellungsentscheidung eine Überzeugung haben, ob sie die Bewerber:innen als männlich oder weiblich einordnen. Dass das Arbeitsverhältnis einer Person aufgrund ihres Geschlechts nicht fortgesetzt wird, kommt in der Praxis daher primär dann vor, wenn Arbeitnehmer:innen während des Arbeitsverhältnisses schwanger werden.136 Das Risiko, von Arbeitgeber:innen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft nicht fortbeschäftigt zu werden, ist sehr hoch, da für Arbeitgeber:innen mit der Schwangerschaft von Arbeitnehmer:innen mehrere finanzielle und administrative Belastungen einhergehen, die hauptsächlich aus zwingenden Schutzvorschriften zugunsten Schwangerer und Stillender aus dem MuSchG herrühren.137 Dass die Transsexualität von Arbeitnehmer:innen erst während des Arbeitsverhältnisses bekannt wird, ist aus zwei Gründen vorstellbar. Einerseits ist möglich, dass transsexuelle Personen schon vor Beginn der Beschäftigung in dem Geschlecht auftreten, mit dem sie sich identifizieren, ohne dass Arbeitgeber:innen über das bei Geburt zugewiesene Geschlecht Bescheid wissen. Es ist andererseits möglich, dass transsexuelle Arbeitnehmer:innen sich während des Arbeitsverhältnisses dazu entschließen, in ihrer Zugehörigkeit zu einem anderen als dem Geburtsgeschlecht leben und anerkannt werden zu wollen. In einer Studie des Instituts für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung aus dem Jahr 2017 geben ein Viertel der befragten transsexuellen Arbeitnehmer:innen an, aufgrund ihrer Transsexualität als Bewer133
BVerfG, Beschl. v. 11. 1. 2011 – 1 BvR 3295/07, NJW 2011, 909. Die bis heute formell im TSG enthaltenen Voraussetzungen der dauernden Fortpflanzungsunfähigkeit und der operativen Geschlechtsangleichung enthält (§ 8 I Nr. 3, 4 TSG) sind verfassungswidrig und daher nicht anwendbar. 135 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 94; E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 103. 136 So zum Beispiel die Sachverhalte in EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243; ArbG Mainz, Urt. v. 2. 9. 2008 – 3 Ca 1133/08, BeckRS 2008, 56479. 137 Von diskriminierenden Nichtverlängerungen aufgrund einer Schwangerschaft berichten auch S. Beigang/K. Fetz/D. Kalkum/M. Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 170 f. 134
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
berin abgelehnt oder in einem Arbeitsverhältnis versetzt oder gekündigt worden zu sein.138 Solch eine arbeitsplatzrelevante Diskriminierung ist auch die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses. c) Benachteiligungen wegen der Religion oder Weltanschauung Das Begriffspaar der Religion und Weltanschauung ist in hohem Maße konkretisierungsbedürftig. Aus der Vielfalt handlungsleitender Vorstellungen und Anschauungen sind solche zu identifizieren, deren Innehaben und Befolgung durch das AGG geschützt werden soll. Das AGG selbst enthält keine Anhaltspunkte für ein Begriffsverständnis; in der Gesetzesbegründung zu § 1 AGG bleiben die Merkmale gänzlich unerwähnt. In Ermangelung eines gegenteiligen Hinweises in der RL 2000/ 78/EG ist das Begriffspaar unionsrechtskonform auszulegen. Doch auch die RL enthält keine eigenständige Begriffskonturierung; in ihrem ersten Erwägungsgrund wird allerdings betont, dass die Anforderungen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bei Anwendung der Richtlinie zu berücksichtigen sind. Nach Ansicht des EuGH sind daher erstens die vom EGMR zu Art. 9 EMRK entwickelten Maßstäbe zu berücksichtigen und zweitens die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, wie sie durch Art. 10 GrCh bekräftigt wurden. Da Art. 10 GrCh gem. Art. 52 III 1 GrCh inhaltlich mit Art. 9 EMRK gleichläuft, sind die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ also in erster Linie anhand der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 9, 14 EMRK nachzuvollziehen.139 Nur soweit der EGMR keine Maßstäbe aufgestellt hat, kann zur Auslegung des AGG auf ein nationales Begriffsverständnis, wie es insbesondere zu Art. 4 I, II GG entwickelt wurde, zurückgegriffen werden. aa) Begriff der Religion Eine Benachteiligung knüpft dann an die Religion an, wenn sie an eine Eigenschaft oder ein Verhalten anknüpft, das in einem hinreichenden Zusammenhang mit einer religiösen Glaubensgemeinschaft steht. Es gibt keine Begriffsbestimmung der religiösen Glaubensgemeinschaft, auf die der EGMR herkömmlicherweise zurückgreift. Insbesondere nimmt er keine explizite Abgrenzung zu den von Art. 9 EMRK ebenfalls geschützten Freiheiten der Gedanken und des Gewissens vor. Stattdessen beschränkt sich der Gerichtshof auf die Feststellungen, dass religiöse Gemeinschaften traditionell in organisierten Strukturen bestünden140 und – ebenso wie die Gedanken- und Gewissensfreiheit – von Überzeugungen geleitet seien, „die ein gewisses Maß an Nachhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung er138
D. Frohn/F. Meinhold/C. Schmidt, Out im Office?!, 2017, S. 50. EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-157/15 (Achbita), NZA 2017, 373, 374 (Rn. 25 ff.). EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-188/15 (Bougnaoui), NZA 2017, 375, 377 (Rn. 27 ff.). 140 EGMR, Urt. v. 3. 2. 2011 – 18136/02 (Siebenhaar), NZA 2012, 199, 200 (Rn. 41); EGMR, Urt. v. 5. 4. 2007 – 18147/02 (Scientology), NJW 2008, 495, 496 (Rn. 72). 139
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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reichen.“141 Die deutsche Rechtswissenschaft greift ergänzend auf die von der Rechtsprechung zu Art. 4 I, II GG entwickelten Definitionsansätze des Glaubens zurück, die allerdings europarechtskonform weit interpretiert werden.142 Ausgangspunkt ist danach die vom BAG zu Art. 4 I, II GG aufgegriffene Definition der Religion als „eine mit der Person des Menschen verbundene Gewißheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens. Die Religion legt eine den Menschen überschreitende und umgreifende (,transzendente‘) Wirklichkeit zugrunde, während sich die Weltanschauung auf innerweltliche (,immanente‘) Bezüge beschränkt“.143 Nach diesem weiten Verständnis fallen unter § 1 AGG jedenfalls alle großen Weltreligionen – das Christentum, das Judentum, der Islam, der Buddhismus, der Hinduismus, der Taoismus, der Sikhismus und der Shintoismus – sowie Untergliederungen dieser Gemeinschaften, z. B. der Katholizismus oder Protestantismus.144 Ebenfalls unproblematisch ist die Beurteilung solcher Organisationen, die in Deutschland bereits den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts innehaben, da der EGMR Gruppen, die schon nach dem Recht eines Mitgliedstaates als Religion gelten, als von Art. 9 EMRK geschützt ansieht.145 Exemplarisch sind hier die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche, die Kirche Jesu Christi Der Heiligen Der Letzten Tage („Mormonen“) und die Russisch-Orthodoxe Kirche zu nennen.146 Als Äquivalent der Religionszugehörigkeit sind auch alle Ausprägungen der Nichtzugehörigkeit und Nichtreligiosität geschützt, also Atheisten, Agnostiker und Gleichgültige.147
141
EGMR, Urt. v. 15. 1. 2013 – 48420/10 (Eweida), NJW 2014, 1935, 1938 (Rn. 81) m. w. N. Vgl. J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 1 AGG Rn. 27 ff.; Wendeling-Schröder/Stein/ A. Stein, § 1 AGG Rn. 34; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 1 AGG Rn. 9. 143 BAG, Beschl. v. 22. 3. 1995 – 5 AZB 21/94, NZA 1995, 823, 827 m. w. N. und in Anlehnung insbesondere an BVerwG, Urt. v. 27. 3. 1992 – 7 C 21/90, NJW 1992, 2496, 2497. 144 Zu § 1 AGG BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 119; DHSW/V. Braun, § 1 AGG Rn. 11; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 56; BeckOK-ArbR/S. Roloff (2017), § 1 AGG Rn. 6; Directorate of the Jurisconsult, Guide on Article 9 of the European Convention on Human Rights (2018), S. 9 m. w. N. 145 EGMR, Urt. v. 1. 10. 2009 – 76836/01; vgl. auch EGMR, Urt. v. 5. 4. 2007 – 18147/02 (Scientology), NJW 2008, 495, 495 (Rn. 64). 146 Siehe die Übersicht über die Religionsgemeinschaften mit Status „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, online abrufbar unter https://www.personenstandsrecht.de/Webs/PERS/DE/informationen/religionsgemeinschaf ten/religionsgemeinschaften-node.html. 147 Zu Art. 9 I EMRK: EGMR, Urt. v. 6. 4. 2017 – 10138/11, 16687/11, 25359/11, 28919/11 (Klein ua), NJW 2018, 3295, 3296 (Rn. 78); EGMR, Urt. v. 15. 1. 2013 – 48420/10 (Eweida), NJW 2014, 1935, 1937 (Rn. 79); EGMR, Urt. v. 5. 4. 2007 – 18147/02 (Scientology), NJW 2008, 495, 496 (Rn. 71); zu Art. 4 I, II GG: BVerfG, Beschl. v. 18. 10. 2016 – 1 BvR 354/11, NZA 2016, 1522, 1524 (Rn. 28); zu § 1 AGG: BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG, 121; DHSW/V. Braun, § 1 AGG Rn. 12; Schleusener/Suckow/Plum/A. Schleusener, § 1 AGG Rn. 66. 142
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Art. 9 I EMRK, Art. 4 I, II GG und § 1 AGG schützen sowohl die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und die innere Überzeugung (forum internum) als auch die Freiheit, den Glauben in der Öffentlichkeit zu manifestieren (forum externum).148 Diese Betätigungsfreiheit umfasst prinzipiell das Recht, das gesamte Leben, inklusive des Arbeitslebens, „an den Lehren des Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.149 Das Verhalten von Arbeitnehmer:innen ist durch § 1 AGG geschützt, wenn es religiös motiviert ist, Arbeitnehmer:innen die befolgten religiösen Ge- und Verbote also für sich als verbindlich empfinden.150 Dazu gehört auch das öffentliche Glaubensbekenntnis durch das Tragen religiöser Symbole und Kleidung – z. B. von Kreuzketten, Kopftüchern oder Kippas –, das am Arbeitsplatz häufig zu Konflikten führt und die deutsche sowie die Rechtsprechung des EuGH und EGMR in den letzten Jahren beschäftigt hat.151 Weitere Benachteiligungen aufgrund der Religion im Arbeitsleben betreffen Verstöße von Arbeitnehmer:innen gegen Loyalitätsanforderungen ihrer konfessionellen Arbeitgeber:innen.152 Der wohl prominenteste Fall der letzten Jahre – gemeinhin als „Chefarzt-Fall“ bekannt – betraf die Benachteiligung eines katholischen Arbeitnehmers durch seinen katholischen Arbeitgeber, da er eine nach kanonischem Recht ungültige zweite Ehe eingegangen ist und so die Loyalitätsobliegenheiten aus dem Arbeitsverhältnis verletzt hat.153 Weitere judizierte Loyalitätspflichtverletzungen sind der Kirchenaustritt eines bei einem katholischen Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmers154 sowie die Mitgliedschaft in einer Sekte.155
148 Vgl. EGMR, Urt. v. 26. 10. 2000 – 30985/96 (Hasan und Chaush), BeckRS 2001, 21581 (Rn. 60); EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-157/15 (Achbita), NZA 2017, 373, 374 (Rn. 28); EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-188/15 (Bougnaoui), NZA 2017, 375, 377 (Rn. 30) (Rn. 28); BeckOGK/ A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 125; ErfK/M. Schlachter, § 1 AGG Rn. 7; MüKo BGB/ G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 29. 149 BVerfG, Beschl. v. 17. 12. 1975 – 1 BvR 63/68, NJW 1976, 947, 948; BAG, Urt. v. 12. 8. 2010 – 2 AZR 593/09, NZA-RR 2011, 162, 165 (Rn. 31). 150 BAG, Urt. v. 24. 2. 2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087, 1090 (Rn. 34); BAG, Urt. v. 10. 10. 2002 – 2 AZR 472/01, NZA 2003, 483, 486. 151 Rechtsprechung zu Art. 9 I EMRK: EGMR, Urt. v. 26. 11. 2015 – 64846/11 (Ebrahimian), NZA-RR 2017, 62, 63 (Rn. 47); zu der RL 2000/78/EG: EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C157/15 (Achbita), NZA 2017, 373; EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-188/15 (Bougnaoui), NZA 2017, 375; zu § 1 AGG: BAG, Urt. v. 12. 8. 2010 – 2 AZR 593/09, NZA-RR 2011, 162, 166 (Rn. 44); BAG, Urt. v. 20. 8. 2009 – 2 AZR 499/08, NZA 2010, 227, 230 (Rn. 26); BAG, Urt. v. 10. 12. 2009 – 2 AZR 55/09, NZA-RR 2010, 383, 386 (Rn. 27). 152 Loyalitätsanforderungen katholischer Arbeitgeber:innen sind in Art. 4, 5 der Arbeitsverhältnisse-Grundordnung der Katholischen Kirche normiert. 153 BAG, Urt. v. 8. 9. 2011 – 2 AZR 543/10, NZA 2012, 443; aufgehoben durch BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 2014 – 2 BvR 661/12, NZA 2014, 1387; dem EuGH vorgelegt durch BAG, Vorlagebeschl. v. 28. 7. 2016 – 2 AZR 746/14 (A), NZA 2017, 388, 391 (Rn. 30); EuGH, Urt. v. 11. 9. 2018 – C-68/17 (Chefarzt), NZA 2018, 1187. 154 BAG, Urt. v. 25. 4. 2013 – 2 AZR 579/12, NJW 2014, 104, 109 (Rn. 41). 155 EGMR, Urt. v. 3. 2. 2011 – 18136/02 (Siebenhaar), NZA 2012, 199, 201 (Rn. 44).
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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bb) Begriff der Weltanschauung Nach dem im Kontext von § 1 AGG herkömmlicherweise herangezogenen Begriffsverständnis ist eine Weltanschauung (ebenso wie eine Religion) i. S. v. Art. 4 I, II GG „eine nur mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens.“156 Im Unterschied zum religiösen Glauben wird die „Stellungnahme zum Sinn des Weltgeschehens“157 aber nicht aus transzendenten, sondern durch innerweltliche, „immanente“ Bezüge entwickelt.158 Und in Abgrenzung zur „bloßen“ Meinung, deren Freiheit durch Art. 5 GG grundgesetzlich garantiert ist, versucht eine Weltanschauung mittels eines Fundamentalkonzepts, „Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des Lebens der Menschen“159 zu erklären und beschränkt sich nicht auf Richtigkeitsvorstellungen zu einzelnen Fragen. Entscheidende Merkmale sind also die Totalität und Geschlossenheit des Gedankensystems.160 Diese hohen Anforderungen an eine Weltanschauung werden von einem großen Teil der deutschen Literatur und Instanzrechtsprechung auf § 1 AGG übertragen: Eine Weltanschauung i. S. v. § 1 AGG müsse einen der Religion vergleichbar umfassenden Geltungsanspruch aufweisen.161 Als Beispiele werden Anthroposophie,162 Monismus163, theoretischer Marxismus164 und Freidenkerverbände165 aufgeführt. Weniger umfassende säkulare Überzeugungen, wie z. B. die Tätigkeit als Betriebsrätin,166 die Überzeugung, kollektive Arbeitnehmerrechte müssten durchgesetzt werden,167 sowie die 156
BAG, Beschl. v. 22. 3. 1995 – 5 AZB 21/94, NZA 1995, 823, 827 m. w. N. Sachs/J. Kokott, Art. 4 GG Rn. 25. 158 BAG, Beschl. v. 22. 3. 1995 – 5 AZB 21/94, NZA 1995, 823, 827 m. w. N. 159 Maunz/Dürig/S. Korioth, Art. 137 WRV Rn. 103. 160 Vgl. Maunz/Dürig/U. Di Fabio, Art. 4 GG Rn. 65; BeckOK GG/M. Germann, Art. 4 GG Rn. 14. 161 LAG München, Urt. v. 10. 1. 2012 – 7 Sa 851/11, BeckRS 2014, 71543 Rn. 73 ff.; K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 1 AGG Rn. 104 ff.; J.H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 1 AGG Rn. 30; BeckOK BGB/M. Horcher, § 1 AGG Rn. 42; ErfK/M. Schlachter, § 1 AGG Rn. 8; Schleusener/Suckow/Plum/A. Schleusener, § 1 AGG Rn. 57: MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 36; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/ V. Schneider, § 1 AGG Rn. 10; offen gelassen von LAG Köln, Urt. v. 13. 2. 2012 – 2 Sa 768/11, BeckRS 2012, 69616. 162 Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 64; C. Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften (2008), S. 280 m. w. N. auf S. 264; F. J. Säcker, ZRP 2002, 286, 288. 163 C. Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften (2008), S. 376. 164 ArbG Berlin, Urt. v. 30. 7. 2009 – 33 Ca 5772/09, NZA-RR 2010, 70, 71; Däubler/ Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 64; BeckOK BGB/M. Horcher, § 1 AGG Rn. 42; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 1 AGG Rn. 37; a. A.: C. Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften (2008), S. 371. 165 C. Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften (2008), S. 311 ff. 166 ArbG Wuppertal, Urt. v. 1. 3. 2012 – 6 Ca 3382/11, BeckRS 2012, 69523. 167 LAG München, Urt. v. 10. 1. 2012 – 7 Sa 851/11, BeckRS 2014, 71543 Rn. 72 ff. Im Einzelnen geht es um die „Überzeugung des Klägers, es gebe ein Recht, Betriebsräte zu wählen, 157
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
politische Überzeugung168 werden nach dem herrschenden Verständnis nicht von § 1 AGG geschützt. cc) Relevanz im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses Religionszugehörigkeit und Weltanschauung von Arbeitnehmer:innen sind als prinzipiell innere Überzeugungen nur dann vor Beginn eines Arbeitsverhältnisses für Arbeitgeber:innen erkennbar, wenn sie durch das Tragen religiöser Zeichen und Symbole zur Schau gestellt werden, oder wenn sie schon bei Bewerbung abgefragt werden, wie es typischerweise konfessionelle Arbeitgeber:innen tun.169 Erfahren Arbeitgeber:innen erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses vom Glauben eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin, ist denkbar, dass dies die Fortsetzungsentscheidung beeinflusst. Wenn Arbeitgeber:innen die Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin von Beginn an bekannt war, treten Konflikte möglicherweise erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses auf. Solche Konflikte können umfassen, dass gläubige Arbeitnehmer:innen ihr Verhalten auch am Arbeitsplatz nach der als verbindlich wahrgenommenen Religion ausrichten und diese Manifestationen mit Anforderungen des Arbeitsplatzes oder Glaubensvorstellungen oder Vorurteilen von Arbeitgeber:innen, Kund:innen, Kolleg:innen oder Geschäftspartner:innen konfligieren. Damit unterscheidet sich das Merkmal der Religion beispielsweise von dem der sexuellen Orientierung, die hauptsächlich im Privatleben manifest wird, und der vermeintlichen „Rasse“ oder Ethnie, die keinerlei tätigkeitsbezogenen Verhaltensweisen bedingen. Zentrale Konfliktherde im Arbeitsleben, die die antidiskriminierungsrechtliche Rechtsprechung der letzten Jahre auf deutscher sowie unionsrechtlicher Ebene dominieren, sind das Tragen von Kopftüchern170 sowie Loyalitätsverstöße von Arbeitneh-
und ihm stehe das Recht zu, eine solche Wahl einzuleiten und für das zu wählende Gremium zu kandidieren, seine weitere Überzeugung, ein tarifgebundener Arbeitgeber müsse die Tarifverträge einhalten, schließlich seine Überzeugung, man sei berechtigt, Gewerkschaftswerbung im Betrieb zu betreiben“ (Rn. 72). 168 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 1 AGG Rn. 107; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 1 AGG Rn. 30; BeckOK BGB/M. Horcher, § 1 AGG Rn. 42; V. Rieble, RdA 2012, 241, 244; Schleusener/Suckow/Plum/A. Schleusener, § 1 AGG Rn. 57; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 1 AGG Rn. 37; MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 36; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 1 AGG Rn. 11; a. A. Däubler/ Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 74 ff. 169 Vgl. S. Beigang/K. Fetz/D. Kalkum/M. Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 166, die von häufigen Diskriminierungen im Einstellungsprozess, insbesondere durch katholische oder evangelische Einrichtungen als Arbeitgeber:innen berichten. 170 Siehe zu Diskriminierungserfahrungen von Muslimas im Zusammenhang mit ihrem Kopftuch z. B. den Bericht von S. Beigang/K. Fetz/D. Kalkum/M. Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 167 ff.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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mer:innen kirchlicher Arbeitgeber:innen. Neben diskriminierenden Kündigungen kommt es aus diesen Gründen auch zu unterlassenen Vertragsfortsetzungen.171 Nichtfortsetzungen aufgrund der Weltanschauung von Arbeitnehmer:innen sind in der Theorie denkbar, da auch sie nicht zwingend von vornherein bekannt sind und sich im Laufe des Arbeitsverhältnisses verändern können. In der Praxis ist die Weltanschauung von Arbeitnehmer:innen jedoch derzeit kein Konfliktherd, was auch das Schattendasein der Thematik im arbeitsrechtlichen Schrifttum und der Rechtsprechung erklärt.172 Anders als Religionen entfalten Weltanschauungen nämlich meistens keine handlungsleitenden Imperative, die sich auf das Arbeitsleben auswirken; außerdem sind sie nicht so stigmatisiert wie bestimmte Religionszugehörigkeiten und, da sie keine bestimmten Kleidungsvorschriften beinhalten, auch nicht für potenziell diskriminierende Kunden oder Geschäftspartner erkennbar. Anwendungsfälle sind also wohl hypothetischer Natur. d) Benachteiligungen wegen einer Behinderung aa) Kombinierter Behinderungsbegriff Da die RL 2000/78/EG auch für den Begriff der Behinderung nicht auf eine Definition innerhalb der nationalen Rechtsordnungen verweist, ist auch dieses Merkmal unionsrechtsautonom auszulegen. Der EuGH definiert eine Behinderung als „eine Einschränkung […], die ua auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können“.173 Von Dauer ist eine Beeinträchtigung nach Ansicht des EuGH dann, wenn zum Zeitpunkt der vermeintlich diskriminierenden Handlung ein kurzfristiges Ende des Teilhabehindernisses nicht genau absehbar ist oder es sich noch erheblich hinziehen kann.174 Die Gesetzesmaterialien zu § 1 AGG sehen hingegen vor, dass der Begriff der Behinderung demjenigen in § 2 I 1, 2 SGB IX entspricht:175 „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung 171
So beispielsweise in EuGH, Urt. v. 26. 11. 2015 – 64846/11 (Ebrahimian), NZA-RR 2017, 62. 172 Siehe dazu die wenigen Nachweise aus der Rechtsprechung oben Fn. 156 – 167. 173 EuGH, Urt. v. 18. 3. 2014 – C-363/12, NZA 2014, 525, 528 (Rn. 76); EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 555 (Rn. 38 f.). 174 EuGH, Urt. v. 1. 12. 2016 – C-395/15 (Daouidi), EuZW 2017, 263, 266 f. (Rn. 53 ff.). 175 BT-Drs. 16/1780, S. 31.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.“176 Gemeinsam ist den beiden Definitionen, dass sie sich am „sozialen“ Behindertenbegriff der UN-Behindertenrechtekonvention177 orientieren, indem sie primär auf die Wechselwirkung einer Beeinträchtigung mit der Reaktion der Gesellschaft abstellen, anstatt Interaktionsprobleme bei dem Individuum mit Behinderung zu verorten (sog. „medizinischer Begriff“).178 Unterschiede bestehen aber in folgenden Punkten: § 2 I SGB IX geht in Übereinstimmung mit Art. 1 II UN-BRK insoweit über die Definition des EuGH hinaus, als er auf die eingeschränkte Teilhabe an der Gesellschaft abstellt und nicht, wie der EuGH, auf die beeinträchtigte Teilhabe konkret am Berufsleben.179 Außerdem sieht § 2 I 1 SGB IX ein Teilhabehindernis ab einer Dauer von über sechs Monaten als langfristig an, während der EuGH von der Festlegung eines Schwellenwertes absieht.180 Der Gerichtshof beschränkt sich auf die sehr ausfüllungsbedürftigen Worthülsen des „nicht genau absehbar[en]“ Endes der Beeinträchtigung und der sich „erheblich hinziehen[den]“ Dauer der Genesung, sodass der unionsrechtliche Begriff der Langfristigkeit je nach Auslegung mehr oder weniger als sechs Monate und damit enger181 oder weiter als der deutsche Begriff der Behinderung sein kann. Schließlich setzt die nationale Definition voraus, dass eine Beeinträchtigung der Teilhabe bereits eingetreten ist, während der EuGH ein potenzielles Teilhabehindernis in der Zukunft ausreichen lässt. Das BAG löst diesen Konflikt im Sinne eines möglichst umfassenden Diskriminierungsschutzes: Grundsätzlich sei das Unionsrecht als höherrangiges Recht zugrunde zu legen. Das nationale Begriffsverständnis sei nur insoweit maßgeblich, als es weiter als das 176 Diese Legaldefinition entstammt der seit dem 1. 1. 2018 gültigen Neufassung des § 2 SGB IX und damit nicht der von der Gesetzesbegründung in Bezug genommenen Vorgängernorm. Die neue Legaldefinition in § 2 SGB IX n. F. kann dennoch bei Auslegung des AGG herangezogen werden, da die Novellierung ausweislich der Gesetzesbegründung nur zur „Rechtsklarheit […] deklaratorisch an die UN-BRK angepasst“ werden sollte und damit keine inhaltliche Modifikation des Behinderungsbegriffs verbunden sein sollte (BT-Drs. 18/9522, S. 227). 177 Art. 2 I UN-BRK lautet: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ 178 Vgl. BT-Drs. 18, 9522, S. 227; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 585 ff. 179 Ein angeborenes Fehlen der Gebärmutter einer Frau ist nach Ansicht des EuGH daher z. B. keine Behinderung i. S. v. Art. 1 RL 2000/78/EG, da diese Fehlbildung die Fähigkeit, die berufliche Tätigkeit auszuüben, nicht beeinflusst, EuGH, Urt. v. 18. 3. 2014 – C-363/12, NZA 2014, 525, 528 (Rn. 81). 180 Diese Unterschiede ebenfalls zusammenfassend BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/ 12, NZA 2014, 372, 379 (Rn. 61 f.). 181 So hat der EuGH die Langfristigkeit bei einer voraussichtlichen Teilhabeeinschränkung von acht Monaten nicht pauschal bejaht, sondern das Vorlagegericht zu einer genauen Prüfung aller objektiven Gesichtspunkte Vorlagegericht angewiesen, EuGH, Urt. v. 1. 12. 2016 – C-395/ 15 (Daouidi), EuZW 2017, 263, 266 (Rn. 57).
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
195
unionsrechtliche ist.182 Ergebnis dieser Zusammenschau ist folgende Definition: Eine Behinderung ist eine Einschränkung, die unter anderem auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft auf Dauer, was jedenfalls bei einer Teilhabebeschränkung von über sechs Monaten anzunehmen ist, hindern können. bb) Einzelne Behinderungen Der § 1 AGG zugrundeliegende Begriff der Behinderung besteht also aus zwei wesentlichen Komponenten: der individuellen Beeinträchtigung und dem damit einhergehenden Teilhabehindernis am sozialen Leben. Die Existenz eines realen Teilhabehindernisses ist dabei stets gesondert im Einzelfall festzustellen;183 sie folgt nicht etwa automatisch aus der Annahme einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung. Ein relevantes Teilhabehindernis liegt nicht erst dann vor, wenn die Ausübung der beruflichen Tätigkeit unmöglich ist, sondern bereits dann, wenn die Leistungsfähigkeit der Betroffenen eingeschränkt ist184 oder sie aufgrund von Stigmatisierungen und Vorurteilen in ihren interpersonellen Beziehungen eingeschränkt sind (wie es bei einer HIV-Erkrankung der Fall sein kann).185 Eine Beeinträchtigung ist jede „beim Individuum zu lokalisierende, medizinisch konzipierte Abweichung von einer als ,normal‘ konstruierten Funktionsfähigkeit“.186 Darunter fallen insbesondere körperliche Beeinträchtigungen wie eingeschränktes Hör- und Sehvermögen, aber auch graduelle Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates, Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, Atemwegserkrankungen und körperliche Entstellungen.187 Auch heilbare Krankheiten können als Behinderung gelten, sofern sie langfristig die Teilhabe am sozialen Leben einschränken.188 Nicht jede Krankheit führt zu einer Behinderung und umgekehrt basiert nicht jede Behinderung auf einer Erkrankung, sondern kann ererbt oder durch einen Unfall erworben sein. Adipositas ist nach Ansicht des EuGH und der Literatur für sich keine Beeinträchtigung, aber kann zu einer Behinderung führen, wenn sie andere erhebliche Beeinträchtigungen bedingt, die betroffene Arbeitnehmer:innen an der Teilhabe an 182
BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 379 (Rn. 63). BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 380 (Rn. 38). 184 EuGH, Urt. v. 18. 3. 2014 – C-363/12, NZA 2014, 525, 528 (Rn. 77); EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 555 (Rn. 43 f.). 185 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 380 (Rn. 73). 186 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 1 AGG Rn. 138; vgl. auch BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 380 (Rn. 71). 187 EuArbR/J. Mohr, Art. 1 RL 2000/78/EG Rn. 40; MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 48. 188 EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 555 (Rn. 41 f.). 183
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
der Gesellschaft hindern können, wie beispielsweise eingeschränkte Mobilität oder das Auftreten von Folgekrankheitsbildern.189 Vom Begriff der Beeinträchtigung erfasst sind weiterhin psychische Störungen, wenn sie von dem Betroffenen nicht akut selbst überwunden werden können, wie beispielsweise depressive Erkrankungen190 sowie Süchte, wie insbesondere Nikotin- und Alkoholabhängigkeiten, wenn Betroffene deswegen in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt sind.191 cc) Relevanz im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses Dass die Nichtfortsetzung der Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung praxisrelevant ist, resultiert daraus, dass Behinderungen oft erst im Laufe eines (befristeten) Arbeitsverhältnisses entstehen, beispielsweise in Folge einer Krankheit, eines Unfalls oder altersbedingt. Behinderungen haben aber oft auch berufsbedingte Ursachen: Verschleißerscheinungen des Stütz- und Bewegungsapparats und der Wirbelsäule sowie Atemwegserkrankungen sind Beispiele für Berufskrankheiten nicht nur von Arbeitnehmer:innen, die körperlich anstrengende Arbeit verrichten oder mit gefährlichen Stoffen und Materialien arbeiten. Depressionen und andere Burnout-Erscheinungen betreffen Arbeitnehmer:innen mit einer hohen psychischen Belastung am Arbeitsplatz. Dass Arbeitnehmer:innen im Laufe befristeter Arbeitsverhältnisse aufgrund auftretender Behinderungen zu vermeintlich weniger belastbaren und damit weniger gefragten Arbeitskräften werden, ist damit ein jedem befristeten Arbeitsverhältnis anhaftendes Risiko. Dass Arbeitgeber:innen Arbeitsverhältnisse aufgrund der Behinderung von Arbeitnehmer:innen nicht fortsetzen, ist schließlich dann vorstellbar, wenn die Behinderung bereits bei der Einstellung existierte, sie Arbeitgeber:innen damals aber nicht bekannt war oder sie ihre Auswirkungen auf die Durchführung des Arbeitsverhältnisses nicht absehen konnten oder falsch eingeschätzt haben. 189 EuGH, Urt. v. 18. 1. 2018 – C-270/16, NZA 2018, 159, 160 (Rn. 29 f.); EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014 – C-354/13, NZA 2015, 33, 35 (Rn. 60); EuArbR/J. Mohr, Art. 1 RL 2000/78/EG Rn. 42; MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 48. 190 BeckOK BGB/M. Horcher, § 1 AGG Rn. 61; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 1 AGG Rn. 55. 191 Vom BAG und EuGH ist dies zwar noch nicht entschieden, es sprechen aber gute Gründe für eine Erfassung von Suchtkrankheiten (dafür ebenso J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 1 AGG Rn. 44; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 8; BeckOK BGB/M. Horcher, § 1 AGG Rn. 61; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 1 AGG Rn. 14, 92; dagegen MüKo BGB/G. Thüsing, § 1 AGG Rn. 51): Erstens sieht die Gesetzesbegründung zu § 2 I SGB IX a. F. (BT-Drs. 14/5074, S. 98) dies ausdrücklich vor und zweitens ist nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nach der Ursache einer Behinderung zu differenzieren (EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 555 (Rn. 40)). Die Behinderteneigenschaft von Raucher:innen kann auch nicht pauschal abgelehnt werden, weil Rauchen keine Ausnahmeerscheinung ist (so J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 1 AGG Rn. 44), da nicht alle Raucher:innen Menschen mit Behinderung sind, sondern nur diejenigen, die aufgrund ihrer Nikotinsucht reale Teilhabehindernisse am gesellschaftlichen Leben erleiden.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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e) Benachteiligung wegen des Alters Gem. § 1 AGG soll auch vor Benachteiligungen aufgrund des Lebensalters geschützt werden. Der Schutz gilt für jedes Alter und nicht nur für besonders hohes, auch wenn in der Praxis hauptsächlich ältere Arbeitnehmer:innen schutzbedürftig sind.192 Mit der Dauer der (befristeten) Beschäftigung steigen das Alter und damit zwar oft auch die berufliche und betriebliche Erfahrung; es sinken – so die Erwartung von Arbeitgeber:innen – oft aber zugleich die physische und kognitive Leistungsfähigkeit. So wie Arbeitnehmer:innen mit fortschreitendem Alter schlechtere Chancen bei Einstellungsentscheidungen haben, so sind sie auch nach Befristungsende weniger nachgefragte Arbeitskräfte. Insbesondere in Berufsfeldern, in denen Kettenbefristungen über Jahre hinweg hintereinandergeschaltet werden, sinkt im Laufe der Beschäftigungsdauer die Wahrscheinlichkeit, erneut eine Vertragsfortsetzung zu erhalten. f) Benachteiligung wegen der sexuellen Identität Homo-, bi- und heterosexuelle Menschen sind gem. § 1 AGG vor Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Identität zu schützen.193 In einer Studie des Instituts für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung aus dem Jahr 2017 haben 12 % der homosexuellen und 5 % der bisexuellen Befragten angegeben, ihrer Ansicht nach aufgrund ihrer Sexualität einen Arbeitsplatz nicht bekommen zu haben, versetzt oder gekündigt worden zu sein.194 In der Studie wurde nur die Arbeitnehmerseite befragt und es wurde nicht spezifisch nach Diskriminierungen bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisses gefragt. Dennoch gibt die Datenlage einen Hinweis darauf, dass auch diese Statusmaßnahme anfällig für Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität ist. Die sexuelle Ausrichtung der Arbeitnehmer:innen ist als innere Tatsache bei Begründung eines Arbeitsverhältnisses oft nicht für Arbeitgeber:innen zu erkennen.195 Arbeitnehmer:innen, die sich im Arbeitsverhältnis zu ihrer bi- oder homosexuellen Orientierung bekennen, laufen Gefahr, aufgrund dieser Abweichung vom heteronormativen Geschlechtermodell Ausgrenzungen und Benachteiligungen zu erfahren. Aber auch wenn Arbeitgeber:innen die sexuelle Orientierung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin schon bekannt war, kann es im Arbeitsverhältnis zu Konflikten kommen, z. B. wenn die Homo- oder Bisexualität auf „unliebsame“ Weise gezeigt wird, beispielsweise durch das Tragen von Pride192
Vgl. BT-Drs. 16/1780, S. 31. BT-Drs. 16/1780, S. 31; BAG, Urt. v. 17. 12. 2015 – 8 AZR 421/14, NZA 2016, 888, 891 (Rn. 31). 194 D. Frohn/F. Meinhold/C. Schmidt, Out im Office?!, 2017, S. 50. 195 Vgl. S. Beigang/K. Fetz/D. Kalkum/M. Otto, Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, 2017, S. 165, die von einem geringen Anteil an Nichteinstellungen aufgrund der sexuellen Orientierung berichten. 193
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Symbolen, durch eine gleichgeschlechtliche Eheschließung196 oder wenn Arbeitgeber:innen dem Druck homo- oder biphober Arbeitnehmer:innen oder Geschäftspartner:innen ausgesetzt sind. 2. Einschätzung des Diskriminierungspotenzials bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse a) Zweck- und wertrationale Diskriminierungen Dass Arbeitgeber:innen bei der Entscheidung, befristete Arbeitsverhältnisse nicht fortzusetzen, an Merkmale i. S. v. § 1 AGG anknüpfen, beruht – vereinfacht dargestellt – auf zwei Gründen: der Verfolgung ökonomischer Ziele oder persönlichen Abneigungen und Vorurteilen. Von „ökonomisch rationalen“197, „zweckrationalen oder instrumentalen“198 Benachteiligungen wird gesprochen, wenn die Differenzierung einem wirtschaftlichen Ziel dient. Wenn Arbeitnehmer:innen aufgrund bestimmter von § 1 AGG geschützter Merkmale weniger leistungsstark sind oder mehr Fehlzeiten haben (z. B. aufgrund einer Schwangerschaft, höheren Alters oder einer Behinderung199), ist das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung aus Sicht der Arbeitgeber:innen unwirtschaftlicher als in Vertragsverhältnissen mit anderen (nicht schwangeren, jüngeren, nicht behinderten) Arbeitnehmer:innen. Die Entscheidung, Arbeitsverhältnisse in diesen Fällen nicht zu begründen oder fortzusetzen, ist in diesen Fällen wirtschaftlich rational. Mit „Verhaltensweisen, die auf Abneigung oder Vorurteil gegen Träger bestimmter Merkmale“200 beruhen, sog. „wertrationalen oder intrinsischen Diskriminierungen“,201 verfolgen Arbeitgeber:innen keine ökonomischen Zwecke, sondern lassen sich von Vorurteilen gegen bestimmte Gruppenangehörige leiten. Hierzu gehören insbesondere rassistische Diskriminierungen, sowie Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung, der geschlechtlichen Identität, der Religion oder Weltanschauung. Die beiden Diskriminierungsmotive überschneiden sich, wenn Arbeitgeber:innen auf diskriminierende Erwartungen von Kund:innen oder Geschäftspartner:innen reagieren: Da die Zufriedenstellung von Kund:innen und Geschäftspartner:innen den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens bestimmt, 196
So wurde beispielsweise von einer lesbischen Kindergärtnerin eines katholischen Arbeitgebers berichtet, deren Arbeitsvertrag aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Eheschließung nicht verlängert wurde, „Beliebte Erzieherin muss gehen – weil sie eine Frau heiratet 2018“, online erschienen am 10. 2. 2018 auf queer.de (https://www.queer.de/detail.php?article_ id=30628). 197 G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 376. 198 M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 641. 199 Dass eine rationale Differenzierung vor allem bezüglich dieser Merkmale denkbar ist, meint auch G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 378. 200 G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 376 f. 201 M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 642.
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handeln Arbeitgeber:innen zweckrational, indem sie auf ihre Präferenzen reagieren. Sofern diese Präferenzen jedoch auf Vorurteilen beruhen, hat die Differenzierung auch einen wertrationalen Kern. Die Unterscheidung zwischen zweck- und wertrationalen Diskriminierungsgründen bietet kein unmittelbaren praktischen Gewinn. Sie zeigt jedoch deutlich, dass Diskriminierungen nicht nur als Folge extremer persönlicher Anschauungen vorkommen, nämlich bei Arbeitgeber:innen, die aus moralisch verwerflichen Antipathien (Rassismus, Antisemitismus, Misogynie oder Homophobie) handeln. Stattdessen sind sie als marktrationale Verhaltensweisem ein Phänomen aus der Mitte des Arbeitsmarktes. b) Erkennbarkeit der Merkmalseigenschaft bei Einstellung Eine Besonderheit bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ist, dass sich die Arbeitgeber:innen bereits für die (befristete) Anstellung der Arbeitnehmer:innen entschieden hatten, eine mögliche bereits bestehende Merkmalsausprägung also der erstmaligen Einstellung nicht entgegenstand. Dass Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung wegen eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG unterlassen, ist vor allem dann plausibel, wenn ein Merkmal erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses auftritt, es erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses zu Konflikten oder Leistungsverlust führt oder es als innere Tatsache für Arbeitgeber:innen nicht erkennbar war und erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses bekannt wird. Die vermeintliche „Rasse“, die Ethnie und die binäre Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht sind Merkmale, die bei der Einstellung von Arbeitnehmer:innen meist erkennbar sind und sich im Laufe des Arbeitsverhältnisses in der Regel nicht verändern. Eine Nichtfortsetzung aus einem dieser Gründe ist daher regelmäßig nur unter besonderen Umständen vorstellbar, beispielsweise wenn die Nichtfortsetzung von einer anderen Person entschieden wird als die Einstellung oder wenn Arbeitgeber:innen diskriminierende Erwartungen anderer Arbeitnehmer:innen oder Geschäftspartner:innen erfüllen. c) Abschließende Einschätzung Eine Benachteiligung aufgrund eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG bei der Entscheidung über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses ist bei allen geschützten Merkmalen vorstellbar, was Studien sowie Gerichtsentscheidungen belegen. Eine spezifische, dem befristeten Arbeitsverhältnis anhaftende Gefahr verursachen Merkmale, die Arbeitgeber:innen bei der Einstellung noch nicht kennen, da das Merkmal entweder nicht äußerlich erkennbar ist oder es sich erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses ausprägt. Ein gesteigertes Diskriminierungsrisiko besteht darüber hinaus für zweckrationale Diskriminierungen, wenn Arbeitgeber:innen die Merkmalsausprägung von Arbeitnehmer:innen mit eigenen wirtschaftlichen Risiken in Verbindung bringen. Insgesamt ist das Diskriminierungspotenzial bei Ablauf einer
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Befristung daher hinsichtlich einer Schwangerschaft, des gestiegenen Lebensalters oder einer Behinderung als besonders hoch einzuschätzen.
C. Schutz zulässiger Rechtsausübungen durch Maßregelungsverbote I. Systematisierung und Schutzgehalt der verschiedenen Maßregelungsverbote Eine Vielzahl gesetzlicher Vorschriften verbietet Arbeitgeber:innen, Arbeitnehmer:innen dafür zu benachteiligen, dass sie in zulässiger Weise ihre Rechte ausgeübt haben. Das allgemeine Benachteiligungsverbot in § 612a BGB, das Benachteiligungen wegen jeder zulässigen Rechtsausübung verbietet, trägt die amtliche Überschrift „Maßregelungsverbot“, weshalb diese Art der Benachteiligung gemeinhin als Maßregelung bezeichnet wird. § 612a BGB lautet: „Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt.“
§ 612a BGB kann als Grundtatbestand verstanden werden, der durch eine Vielzahl spezieller Maßregelungsverbote konkretisiert und als lex generalis verdrängt wird. Die spezielleren Verbote können grob eingeteilt werden in Verbote, die die freiwillige Ausübung von Rechten im eigenen Interesse jedes Arbeitnehmers und jeder Arbeitnehmerin betreffen und solche Verbote, die Mitwirkungsrechte besonderer Funktionsträger:innen im Interesse der Unternehmens- oder Betriebsbelegschaft oder der Öffentlichkeit betreffen und mit entsprechenden gesetzlichen Amtsausübungspflichten der Arbeitnehmer:innen einhergehen (siehe für einen Überblick Tabelle 1). Tabelle 1 Kategorisierung arbeitsrechtlicher Maßregelungsverbote
1. Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis
Rechte jedes Arbeit- Rechte im eigenehmers/jeder Arbeit- nen Interesse des nehmerin Arbeitnehmers/ der Arbeitnehmerin
Freiwilligkeit der Rechtsausübung
2. Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis
Rechte einzelner Rechte im beGesetzliche Pflicht Funktionsträger:innen trieblichen oder öf- zur Rechtsausübung fentlichen Interesse
3. Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses
Rechte jedes Arbeit- Rechte im öffentnehmers/jeder Arbeit- lichen Interesse nehmerin
Gesetzliche Pflicht zur Rechtsausübung
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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1. Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis a) Schutzgehalt des Grundtatbestands in § 612a BGB aa) Ausübung von Rechten i. S. v. § 612a BGB Es besteht Einigkeit darüber, dass Rechte i. S. v. § 612a BGB subjektive Rechte und sonstige Rechtspositionen der Arbeitnehmer:innen sein können. Subjektive Rechte sind sowohl Rechte aus dem Arbeitsverhältnis selbst als auch Grundrechte. Rechte aus dem Arbeitsverhältnis selbst sind erstens Ansprüche der Arbeitnehmer:innen, z. B. der Entgeltanspruch, der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf bezahlten Jahresurlaub oder auf Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften. Rechte aus dem Arbeitsverhältnis sind zweitens Einreden und Gestaltungsrechte der Arbeitnehmer:innen, z. B. das Recht auf Zurückbehaltung der eigenen Arbeitsleistung wegen rückständiger Entgeltzahlungen.202 Rechte aus dem Arbeitsverhältnis werden durch schriftliche oder mündliche Geltendmachung gegenüber den Arbeitgeber:innen „ausgeübt“ i. S. v. § 612a BGB, also durch Erhebung eines Anspruchs, die Berufung auf eine Einrede oder den Gebrauch eines Gestaltungsrechts.203 Nach Ansicht der herrschenden Literatur und des BAG sind auch Grundrechte von Arbeitnehmer:innen Rechte i. S. v. § 612a BGB, sofern sie im Arbeitsverhältnis „rechtserheblich“ sind,204 also typischerweise auch Rechte oder Interessen der Arbeitgeber:innen tangieren. Neben dem Gleichheitsrecht des Art. 3 I GG und der Religions- und Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 GG, die durch die Benachteiligungsverbote des AGG einfachgesetzlich konkretisiert sind und § 612a BGB verdrängen, können insbesondere das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gem. Art. 5 I GG und die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit gem. Art. 9 III GG mit den Interessen von Arbeitgeber:innen konfligieren.205 Die Ausübung dieser Grundrechte ist nach herrschender Meinung eine Rechtsausübung i. S. v. § 612a BGB.206 Die 202 Ausführlich F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 59 ff. 203 BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 806 (Rn. 21); BeckOGK/ M. Benecke, § 612a BGB Rn. 15; NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 13; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 8; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 7. 204 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 33); BeckOGK/ M. Benecke, § 612a BGB Rn. 15; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 6; HWK/G. Thüsing, § 612a BGB Rn. 12; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 67 ff. 205 Nicht berücksichtigungsfähig i. R. v. § 612a BGB ist aber die allgemeine Handlungsfreiheit von Arbeitnehmer:innen gem. Art. 2 I GG, ausführlich F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 83 ff. 206 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 33); LAG Hamm, Urt. v. 18. 12. 1987 – 17 Sa 1225/87, (juris) Rn. 150; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 6; ErfK/ U. Preis, § 612a BGB Rn. 6; HWK/G. Thüsing, § 612a BGB Rn. 12; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 74, 89.
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Meinungsfreiheit auch am Arbeitsplatz gilt für Tatsachenbehauptungen und Werturteile sowohl im Betrieb und über arbeitsplatzbezogene Themen als auch in der Freizeit und über gesellschaftspolitische Angelegenheiten.207 Die gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit schützt die Koalitionsfreiheit des Einzelnen an sich sowie alle individuellen koalitionsspezifischen Verhaltensweisen,208 wie beispielsweise die Teilnahme an Arbeitskämpfen209 und die Tätigkeit im gewerkschaftlichen Vertrauenskörper im Betrieb.210 Neben den subjektiven Rechten erfasst § 612a BGB auch „sonstige Rechtspositionen“.211 Gemeint sind Handlungen von Arbeitnehmer:innen, die einer bereits bestehenden Rechtslage entsprechen. Klassisches und im Kontext der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen relevantestes Beispiel ist das Nichterscheinen zur Arbeit wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Ist die Leistungserbringung wegen der Erkrankung einer Arbeitnehmerin unmöglich gem. § 275 I BGB, wird sie ipso iure von ihrer Leistungspflicht frei.212 Erscheint sie nicht zur Arbeit, übt sie daher kein subjektives Recht aus, sondern handelt gemäß der Rechtslage. Die „Ausübung“ des Rechts i. S. v. § 612a BGB erfolgt hier also in der Regel durch rein tatsächliches Verhalten.213
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DHSW/T. Kreuder/U. Matthiessen-Kreuder, § 611a BGB m. w. N.; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19. 5. 1992 – 1 BvR 126/85, NJW 1992, 2409, 2410; BAG, Urt. v. 31. 7. 2014 – 2 AZR 505/13, NZA 2015, 245, 249 (Rn. 42). 208 BVerfG, Beschl. v. 14. 11. 1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381, 382; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 182 ff. 209 BAG, Urt. v. 11. 8. 1992 – 1 AZR 103/92, NZA 1993, 39, 41; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 75 m. w. N. 210 Vgl. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 321 (Rn. 38). 211 BAG, Urt. v. 23. 4. 2009 – 6 AZR 189/08, NZA 2009, 974, 975 (Rn. 14); BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 806 (Rn. 21); NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 13; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 108 ff. 212 Bei genauer Betrachtung kann zwischen relativer und absoluter Arbeitsunfähigkeit unterschieden werden, F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 100: Ist die Arbeitserbringung tatsächlich möglich, aber Arbeitnehmer:innen unzumutbar, da sie eine Verschlechterung des Gesundheitszustands riskieren (relative Arbeitsunfähigkeit), haben Arbeitnehmer:innen ein Leistungsverweigerungsrecht; das Nichterscheinen zur Arbeit ist damit die Ausübung eines subjektiven Rechts. Die Arbeitsleistung wird erst in der Folge unmöglich durch Zeitablauf aufgrund des Fixschuldcharakters der Arbeitsleistung. Ist die Leistungserbringung wegen der Erkrankung tatsächlich nicht möglich (absolute Arbeitsunfähigkeit), entfällt die Pflicht zur Arbeitsleistung gem. § 275 I BGB. Erscheinen die Arbeitnehmer:innen nicht zur Arbeit, verhalten sie sich nur entsprechend der Rechtslage. 213 Tatsächliches Verhalten ist eine Rechtsausübung i. S. v. § 612a BGB, BeckOGK/ M. Benecke, § 612a BGB Rn. 15; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 8; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 7.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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bb) Zulässigkeit der Rechtsausübung § 612a BGB schützt nur die objektiv rechtmäßige Rechtsausübung, also Verhalten, das mit der Gesamtrechtsordnung vereinbar ist. Die Rechtsausübung der Arbeitnehmer:innen muss also gesetzeskonform sein und darf keine arbeitsvertraglichen Haupt- und Nebenpflichten verletzen.214 Machen Arbeitnehmer:innen Rechte aus Arbeitsverhältnissen selbst geltend oder verhalten sie sich entsprechend der bestehenden Rechtspositionen, fallen Gesetzes- und Vertragskonformität in der Regel zusammen. Bei der Ausübung von Grundrechten ist aber eine zweistufige Prüfung geboten: Die Rechtausübung darf nicht Grundrechte der Arbeitgeber:innen verletzen, muss also verfassungsrechtlich zulässig sein, und darf ebenfalls nicht arbeitsvertragliche Haupt- und Nebenpflichten verletzen, muss also arbeitsvertraglich zulässig sein.215 Es wird an dieser Stelle nicht im Einzelnen auf die Grenzen zulässiger Grundrechtsausübung im Arbeitsverhältnis eingegangen. Exemplarisch ist nur darauf hinzuweisen, dass verfassungsrechtlich zulässige Meinungsäußerungen von Arbeitnehmer:innen arbeitsvertraglich unzulässig sein können, wenn sie dadurch ihre die Meinungsfreiheit einschränkende Treuepflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzen.216 Insbesondere können Meinungsäußerungen unzulässig i. S. v. § 612a BGB sein, wenn Arbeitnehmer:innen damit den Arbeitsablauf und Betriebsfrieden gefährden217 oder ehrverletzende Äußerungen über ihre Arbeitgeber:innen tätigen.218 b) Andere Maßregelungsverbote betreffend die Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis Gem. § 5 TzBfG dürfen Arbeitgeber:innen Arbeitnehmer:innen nicht wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach dem TzBfG benachteiligen. Die Norm ist überflüssig, da ihr gesamter Regelungsgehalt in § 612a BGB enthalten ist. Dennoch verdrängt sie als Sonderfall den allgemeiner formulierten § 612a BGB. Aufgrund der inhaltlichen und strukturellen Übereinstimmung kann bezüglich ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen aber auf § 612a BGB verwiesen werden.219 Gem. § 84 I BetrVG haben Arbeitnehmer:innen das Recht, sich bei den zuständigen Stellen des Betriebs zu beschweren, wenn sie sich von ihren Arbeitgeber:innen oder anderen Arbeitnehmer:innen des Betriebs benachteiligt oder ungerecht be214
APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 6. F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 113. 216 BAG, Urt. v. 31. 7. 2014 – 2 AZR 505/13, NZA 2015, 245, 249 (Rn. 43). 217 Vgl. BAG, Urt. v. 13. 10. 1977 – 2 AZR 387/76, NJW 1978, 1872, 1873 f. 218 Vgl. BAG, Urt. v. 10. 12. 2009 – 2 AZR 534/08, NZA 2010, 698, 699 (Rn. 17); F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 114. 219 BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 5 TzBfG Rn. 1; NK ArbR/A. Böhm, § 5 TzBfG Rn. 1; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 5 TzBfG Rn. 1; Boecken/Joussen/J. Joussen, § 5 TzBfG Rn. 1; ErfK/U. Preis, § 5 TzBfG Rn. 1. 215
204
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
handelt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt fühlen. Gem. § 17 II 1 ArbSchG dürfen sich Arbeitnehmer:innen an die zuständige Behörde wenden, wenn sie auf Grund konkreter Anhaltspunkte der Auffassung sind, dass die von ihren Arbeitgeber:innen getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu gewährleisten, und ihre Arbeitgeber:innen darauf gerichteten Beschwerden nicht abhelfen. Dass an die Ausübung dieser Beschwerderechte keine Benachteiligungen geknüpft werden dürfen, ergibt sich erneut schon bei Anwendung des § 612a BGB. Dennoch normieren § 84 III BetrVG und § 17 II 2 ArbSchG spezielle Maßregelungsverbote, für deren Auslegung und Anwendung aufgrund ihrer inhaltlichen und strukturellen Parallelität aber auf die Ausführungen zu § 612a BGB verwiesen werden kann.220 Gem. § 16 I AGG dürfen Arbeitgeber:innen Beschäftigte nicht wegen der Inanspruchnahme von Rechten nach dem zweiten Abschnitt des AGG (Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligung) oder wegen der Weigerung, eine gegen diesen Abschnitt verstoßende Anweisung auszuführen, benachteiligen. Gleiches gilt für Personen, die Beschäftigte hierbei unterstützen oder als Zeuginnen oder Zeugen aussagen. Gem. § 16 III AGG gilt die Beweislastregelung des § 22 AGG entsprechend. § 16 AGG geht damit in zweifacher Hinsicht über § 612a BGB hinaus: Geschützt ist erstens nicht nur die Benachteiligung aufgrund eigener Rechtsausübung, sondern auch aufgrund der Unterstützung oder Bezeugung der Rechtsausübung anderer. Und es gilt zweitens eine eigene Beweislastregelung. Damit ist § 16 I AGG kein Unterfall von § 612a BGB, sondern folgt diesbezüglich eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Ausführungen zu § 612a BGB können daher nur eingeschränkt auf § 16 I AGG übertragen werden.221 Art. 9 III 1 GG gewährleistet die individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit. Gem. Art. 9 III 2 GG sind Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, nichtig, und hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig. Art. 9 III 2 GG ist damit ebenfalls ein eigenständiges, zu § 612a BGB spezielles Maßregelungsverbot. Es geht insofern über § 612a BGB hinaus, als der personelle Anwendungsbereich von Art. 9 III 2 GG nicht nur Arbeitgeber:innen, sondern auch Koalitionen adressiert. Bezüglich Maßregelungen durch Arbeitgeber:innen haben beide Verbote aber einen identischen Regelungsgehalt und sind gemeinsam verwirklicht.222 Aus Einfachheitsgründen wird die Ausübung koalitionsspezifischer Rechte in dieser Arbeit in
220 Zu § 84 III BetrVG: NK ArbR/P. Gola/S. Brink, § 84 BetrVG Rn. 26; ErfK/T. Kania, § 84 BetrVG Rn. 8; Richardi/G. Thüsing, § 84 BetrVG Rn. 18; BeckOK ArbR/M. Werner, § 84 BetrVG Rn. 12; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 196; zu § 17 II 2 ArbSchG: Kollmer/Klindt/Schucht/C. Schucht, § 17 ArbSchG Rn. 67; ErfK/R. Wank, § 17 ArbSchG Rn. 3; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 200. 221 Vgl. M. Benecke, NZA 2011, 481, 484. 222 U. Preis, NZA 1997, 1256, 1264; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 185.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
205
Übereinstimmung mit jüngerer Rechtsprechung des BAG als Anwendungsfall des § 612a BGB behandelt.223 2. Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis Mitwirkungsrechte besonderer Funktionsträger:innen im Interesse der Belegschaft oder der Öffentlichkeit mit entsprechenden gesetzlichen Amtsausübungspflichten der Arbeitnehmer:innen können wiederum in zwei Unterkategorien geteilt werden, je nach Funktion der vor Benachteiligungen geschützten Funktionsträger:innen (siehe Tabelle 2): Einige Verbote schützen Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen, die Interessen der Belegschaft oder ihrer Teile (z. B. schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen) gegenüber ihren Arbeitgeber:innen wahrnehmen. Diese Interessenvertreter:innen kommen zwingend selbst aus der Belegschaft und werden durch die Belegschaft gewählt; die Einrichtung der Interessenvertretung ist abhängig von der Belegschaftsgröße und -struktur (z. B. bestimmte Anzahl schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen). Andere Verbote schützen Beauftragte, die gesetzlich vorgeschriebene Aufgaben zum Schutz der Allgemeinheit wahrnehmen. Diese Beauftragten müssen von Arbeitgeber:innen bestellt werden und stehen zu ihnen nicht zwingend in einem Arbeitsverhältnis. Die Pflicht ihrer Bestellung ist abhängig von spezifischen, mit der Art des Unternehmens verbundenen Gefahren für die Belegschaft und/oder die Allgemeinheit. Tabelle 2 Kategorisierung verschiedener Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis a)
Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen
b)
Gesetzlich Wahrnehmung vorgeschriebe- von gesetzlich ne Beauftragte vorgeschriebenen Aufgaben zum Schutz der Allgemeinheit oder Belegschaft
223
Wahrnehmung von Interessen der Belegschaft oder ihrer Teile gegenüber dem Arbeitgeber
Einrichtung der Interessenvertretung abhängig von der Belegschaftsgröße und -struktur
Vertreter:innen kommen zwingend aus Belegschaft
Vertreter:innen werden von Belegschaft gewählt
Bestellung der Beauftragten abhängig von mit der Größe und Art des Unternehmens verbundenen Gefahren für Belegschaft und/oder die Allgemeinheit
Beauftragte können aus Belegschaft kommen
Beauftragte werden von Arbeitgeber:innen bestellt
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 33).
206
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
a) Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen vertreten die Belange der Betriebs- oder Unternehmensbelegschaft oder einzelner Teilgruppen gegenüber Arbeitgeber:innen. Ihr Amt ist abhängig von der Anzahl der zu repräsentierenden Arbeitnehmer:innen. Sie werden von der Belegschaft gewählt224 und kommen selbst zwingend aus der Belegschaft.225 Ihre Benachteiligung ist verboten.226 Aufgrund ihrer umfangreichen Mitbestimmungsrechte sind Betriebsratsmitglieder diejenigen Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen, die am häufigsten in Konflikt mit Arbeitgeber:innen geraten. Dementsprechend ist § 78 S. 2 BetrVG das praxisrelevanteste und in der Rechtswissenschaft am ausführlichsten diskutierte Benachteiligungsverbot. Es lautet: „1Die Mitglieder des Betriebsrats, des Gesamtbetriebsrats, des Konzernbetriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Konzern-Jugend- und Auszubildendenvertretung, des Wirtschaftsausschusses, der Bordvertretung, des Seebetriebsrats, der in § 3 Absatz 1 genannten Vertretungen der Arbeitnehmer, der Einigungsstelle, einer tariflichen Schlichtungsstelle (§ 76 Absatz 8) und einer betrieblichen Beschwerdestelle (§ 86) sowie Auskunftspersonen (§ 80 Absatz 2 Satz 4) dürfen in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden. 2Sie dürfen wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden; dies gilt auch für ihre berufliche Entwicklung.“
Geschützt sind über den Verweis in § 40 EBRG auch Betriebsratsmitglieder auf europäischer Ebene sowie amtierende Ersatzmitglieder, da sie im Fall des Nachrückens ordentliche Mitglieder eines Betriebsrats sind.227 Obwohl die Norm einzelne Funktionsträger ausdrücklich aufzählt und keine generalumfassende Formulierung, wie beispielsweise §§ 8, 107 BPersVG enthält, ist sie nicht abschließend: Gemäß der Begründung zum Regierungsentwurf zu § 78 BetrVG sollte die Norm die Vorgängerregelung erweitern und „ihren Geltungsbereich auf die Mitglieder aller nach dem Betriebsverfassungsgesetz möglichen Institutionen aus[dehnen], da insoweit eine gleiche Schutzbedürftigkeit besteht.“228 Nach herrschender Meinung ist § 78 S. 2 BetrVG daher entsprechend anwendbar auf Mitglieder von nach § 28a BetrVG gebildeten Arbeitsgruppen229 und auf Mitglieder des Wahlvorstands,230 da auch diese 224
Gem. §§ 1 I, 7 ff. BetrVG, 9 MitbestG, 5 DrittelbG, 177 SGB IX, 3 ff. SprAuG. Gem. §§ 8 I BetrVG, 7 II MitbestG, 4 II 1, 2 DrittelbG, 177 II 1 SGB IX, 3 II 2 SprAuG. 226 Gem. § 78 S. 1 BetrVG ist auch die Behinderung von Amtsträger:innen verboten. Diese Vorschrift verbietet aber keine Maßnahmen, durch die Amtsträger:innen ihr Amt verlieren, sondern nur Behinderungen bei der Amtsausführung (überzeugend statt aller H. Oetker, RdA 1990, 343, 347 f.). Für die Beantwortung der Forschungsfrage ist das Behinderungsverbot des § 78 S. 1 BetrVG daher unbedeutend. 227 Einhellige Ansicht; s. z. B. BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 521 (Rn. 47); Fitting, § 78 BetrVG Rn. 2. 228 BT-Drs. VI/1786, S. 47. 229 Fitting, § 78 BetrVG Rn. 1; APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 5; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 58 f.; BeckOK ArbR/M. Werner, § 78 BetrVG Rn. 2; ein225
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
207
beiden Gremien Institutionen des BetrVG sind und ohne eine Anwendung des § 78 S. 2 BetrVG nicht hinreichend geschützt wären. Parallel strukturierte Vorschriften enthalten § 26 MitbestG und § 9 DrittelbG für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer:innen, § 179 II SGB IX für Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen und § 2 III SprAuG für die Mitglieder des Sprecherausschusses. Zur Ausfüllung ihres Regelungsgehalts greift die Literatur oft auf die zu § 78 S. 2 BetrVG entwickelten Grundsätze zurück.231 b) Gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte Verschiedene Vorschriften verpflichten Arbeitgeber:innen dazu, Beauftragte zu bestellen, die sie darin beraten, unterstützen und überwachen sollen, mit der unternehmerischen Tätigkeit einhergehende und von ihr ausgehende Gefahren für die Belegschaft und die Umwelt zu verhüten. Die gesetzliche Bestellungspflicht ist abhängig von Unternehmenszweck und -größe. Die Bestellung obliegt den Arbeitgeber:innen selbst; die Beauftragten können, aber müssen nicht auch bei ihnen angestellt sein.232 In dieser Arbeit ist nur die Konstellation relevant, in der die Beauftragten in einem (befristeten) Arbeitsverhältnis zu den Arbeitgeber:innen stehen. Die Benachteiligung der Beauftragten wegen der Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben ist verboten. Es handelt sich bei den Verboten um besondere Ausprägungen des allgemeinen Maßregelungsverbots. § 22 III SGB VII verbietet die Maßregelung von Sicherheitsbeauftragten, § 8 I ASiG von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit, Art. 38 III 2 DSGVO von Datenschutzbeauftragten, § 70 VI StrahlenSchG von Strahlenschutzbeauftragten, § 19 II GenTSV von Beauftragten für die biologische Sicherheit, § 58 I BImSchG von Immissionsschutzbeauftragten, sowie § 58 I BImSchG i. V. m. § 58d BImSchG von Störfallbeauftragten, i. V. m. § 60 III KrwG von Abfallbeauftragten und i. V. m. § 66 WHG von Gewässerschutzbeauftragten. Da die Vorschriften in Sondergesetzen verstreut sind, werden der Aufgabenbereich der besonderen Beschränkend GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 17 mit der Einschränkung auf Mitglieder, die sich exponiert haben und wenn keine Rahmenvereinbarung zwischen Arbeitgeber:innen und Betriebsrat Schutzbestimmungen enthält; einschränkend ebenso Düwell/F. Lorenz, § 78 BetrVG Rn. 3: Anwendung des § 78 S. 2 BetrVG nur, wenn dies ausdrücklich in der Rahmenvereinbarung i. S. v. § 28a I 1 BetrVG vereinbart worden ist. 230 GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 14; APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 7; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 51 ff.; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 10; BeckOK ArbR/M. Werner, § 78 BetrVG Rn. 2; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 8; a. A. wohl DKW/R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 7. 231 BeckOK SozR/W. Brose, § 179 SGB IX Rn. 3; Dau/Düwell/Joussen/F. J. Düwell, § 179 SGB IX Rn. 23; APS/S. Greiner, § 26 MitbestG Rn. 1; Schaub/U. Koch, § 247 Rn. 6; ErfK/ H. Oetker, § 2 SprAuG Rn. 8. 232 Vgl. §§ 2 III 2, 5 III 2 ASiG, Art. 37 VI DSGVO, §§ 70 VI 2 StrahlenSchG, 58 II 1 BImSchG.
208
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
auftragten sowie die Voraussetzungen einer Bestellungspflicht in Tabelle 3 veranschaulicht: Tabelle 3 Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote bezüglich gesetzlich vorgeschriebener Beauftragter Bestellungspflicht abhängig von Unternehmensspezifika
Benachteiligungsverbot Beauftragte
Wahrnehmung von gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben
§ 22 III SGB VII Sicherheitsbeauftragte
Durchführung von MaßUnternehmen mit mehr als nahmen zur Verhütung von 20 Beschäftigten, Arbeitsunfällen und Berufs- § 22 I SGB VII krankheiten, § 22 II SGB VII
§ 8 I ASiG Unterstützung der ArbeitBetriebsärzte und Fachkräf- geber:innen in allen Fragen te für Arbeitssicherheit des Gesundheitsschutzes, §§ 3 I 1, 6 I 1 ASiG
Soweit erforderlich im Hinblick auf Betriebsart, Zahl der Arbeitnehmer:innen und Betriebsorganisation, §§ 2 I 5 I ASiG
Art. 38 III 2 DSGVO Datenschutzbeauftragte
Überwachung und Unterrichtung von Arbeitgeber: innen über Einhaltung der Pflichten aus der DSGVO, Art. 39 DSGVO
Verarbeitung wird von best. Stelle durchgeführt, Kerntätigkeit der Arbeitgeber:innen ist Datenverarbeitung, Art. 37 I DSGVO
§ 70 VI 1 StrahlenSchG Strahlenschutzbeauftragte
Überwachung der Einhaltung der Vorschriften des StrahlenSchG; Abwehr von Gefahren für Mensch und Umwelt, § 72 II, III StrahlenSchG
Unternehmen, das Tätigkeiten nach dem Atomgesetz ausübt, soweit es für die Gewährleistung des Strahlenschutzes bei der Tätigkeit notwendig ist, §§ 69 I, 70 I StrahlenSchG
§ 32 GenTSV 2021 Beauftragte für die biologische Sicherheit
Beratung bei und Prüfung der Betreiber gentechnischer AnSicherheit gentechnischer lagen, § 1 GenTSV 2021 Anlagen, § 31 GenTSVG 2021
§ 58 I BImSchG Beratung bei AngelegenImmisionsschutzbeauftragte heiten, die für den Immissionsschutz bedeutsam sein können, § 54 BImSchG
Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen, sofern im Hinblick auf Art oder Größe des Unternehmens wegen Emissionen/Umweltgefahren erforderlich, § 53 I BImSchG
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
209
Tabelle 3 (Fortsetzung) Benachteiligungsverbot Beauftragte
Wahrnehmung von gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben
Bestellungspflicht abhängig von Unternehmensspezifika
§ 58d BimSchG i. V. m. § 58 I BImSchG Störfallbeauftragte
Beratung in Angelegenheiten, die für die Sicherheit der Anlage bedeutsam sein können, § 58b I BImSchG
Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen, sofern im Hinblick auf Art oder Größe des Unternehmens wegen Gefahren für Allgemeinheit und Nachbarschaft erforderlich, § 58a I BImSchG
§ 60 III KrwG i. V. m. § 58 I BImSchG Abfallbeauftragte
Beratung in Angelegenheiten, die für die Abfallvermeidung und Abfallbewirtschaftung bedeutsam sein können, § 60 I KrwG
Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen, sofern im Hinblick auf Art und Größe oder Bedeutung der abfallwirtschaftlichen Tätigkeit erforderlich, § 59 I KrwG
§ 66 WHG i. V. m. § 58 I BImSchG Gewässerschutzbeauftragte
Beratung in Angelegenheiten, die für den Gewässerschutz bedeutsam sein können, § 65 I WHG
Gewässerbenutzer, die an einem Tag mehr als 750 Kubikmeter Abwasser einleiten dürfen, § 64 I WHG
§ 3 I Nr. 14 GGBefG i. V. m. § 7 I GbV Gefahrgutbeauftragte
Überwachung der Gefahrgutbeförderung, § 8 I GbV i. V. m. Unterabschnitt 1.8.3.3 ADR/RID/ADN
Unternehmen, deren Tätigkeit die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, Schiene, Binnengewässern und mit Seeschiffen umfasst (§ 1 GbV) mit Ausnahmen in § 3 GbV
3. Ausübung von Rechten außerhalb von Arbeitsverhältnissen Schließlich verbieten verschiedene Vorschriften die Benachteiligung von Arbeitnehmer:innen, weil sie im öffentlichen Interesse außerhalb des Betriebs bestimmte Aufgaben ausüben. Gem. § 2 V 3 ArbPlSchG dürfen Arbeitgeber:innen die Verlängerung oder Entfristung befristeter Arbeitsverhältnisse nicht aus Anlass des Wehrdienstes ablehnen; gem. § 6 I EignungsübungsG dürfen Arbeitnehmer:innen nicht benachteiligt werden, da sie an einer Übung zur Auswahl von freiwilligen Soldaten teilnehmen; gem. § 9 II KatSchErwG nicht, weil sie Dienst im Katastrophenschutz geleistet haben, gem. § 2 II AbgG nicht wegen einer Tätigkeit als Arbeitgeber:in und gem. §§ 45 Ia 1 DRiG, 26 ArbGG, 20 SGG nicht wegen einer Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter:in.
210
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
II. Entstehungsgeschichte und unionsrechtlicher Zusammenhang der Maßregelungsverbote Soweit Maßregelungsverbote unionsrechtlich determiniert sind, müssen sie nach den oben dargestellten Grundsätzen233 unionsrechtskonform ausgelegt werden. 1. Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung individueller Rechte § 612a BGB wurde im Jahr 1980 durch das Arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz in das BGB aufgenommen, um europarechtliche Vorgaben der damals geltenden Art. 5 RL 75/117/EWG und Art. 7 RL 76/207/EWG umzusetzen.234 Diese Vorschriften verpflichteten den deutschen Gesetzgeber dazu, Arbeitnehmer:innen vor Entlassungen zu schützen, mit denen Arbeitgeber:innen auf Beschwerden im Betrieb oder Klagen wegen Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung wegen des Geschlechts reagieren. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Umsetzungsverpflichtungen in zwei Hinsichten weit überschritten: § 612a BGB erfasst nicht nur Entlassungen, sondern jede Form der Benachteiligung, und nicht nur aufgrund der Ausübung eines Beschwerderechts wegen Geschlechterdiskriminierung, sondern wegen jeder Rechtsausübung. Insoweit war § 612a BGB schon früher nur in seinem europarechtlich determinierten und nicht dem überschießenden Anwendungsbereich unionsrechtskonform auszulegen. Art. 5 RL 75/117/EWG und Art. 7 RL 76/207/EWG sind nunmehr von Art. 24 RL 2006/54/EG abgelöst worden, der wiederum durch § 16 AGG eigenständig transformiert wurde und § 612a BGB als lex specialis verdrängt. § 612a BGB hat sich damit vollständig von seinen „unionsrechtlichen Wurzeln gelöst“,235 sodass bei seiner Handhabung keine unionsrechtlichen Vorgaben zu beachten sind. § 16 AGG ist aber in Übereinstimmung mit den durch das AGG transformierten Richtlinien auszulegen. 2. Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung von Mitwirkungsrechten a) Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen Das Unionsrecht enthält auch Mindeststandards über die Beteiligung von Arbeitnehmer:innen an unternehmerischen Entscheidungen. Relevantester Unionsrechtsakt ist die Richtlinie 2002/14/EG aus dem Jahr 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer:innen in der Europäischen Gemeinschaft. Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertreter:innen im Betrieb nach bestimmten Maßgaben auszugestalten. Die im BetrVG und SprAuG 233 234 235
4. Kap. B. I. 1. b). BGBl. I 1980, S. 1308. NK BGB/V. Klappstein, § 612a BGB Rn. 5.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
211
enthaltenen Mitbestimmungsregelungen existierten schon lange vor Erlass der Richtlinie und gehen weit über den Schutz der Richtlinie hinaus,236 unter anderem, indem sie nicht nur Anhörungs- und Unterrichtungsrechte der Arbeitnehmervertretungen, sondern auch echte Zustimmungsrechte enthalten. Die RL 2002/14/EG hat in Deutschland daher zu keinen gesetzgeberischen Umsetzungsmaßnahmen geführt.237 Nichtsdestotrotz ist die Richtlinie bei der Auslegung von deutschen Normen in ihrem Anwendungsbereich zu berücksichtigen. Im Kontext der Benachteiligungsverbote gem. § 78 S. 2 BetrVG und § 2 III SprAuG sind insbesondere Art. 7 und 8 der RL 2002/14/EG bedeutsam: Art. 7 RL 2002/14/EG lautet: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Arbeitnehmervertreter bei der Ausübung ihrer Funktion einen ausreichenden Schutz und ausreichende Sicherheiten genießen, die es ihnen ermöglichen, die ihnen übertragenen Aufgaben in angemessener Weise wahrzunehmen.“
Art. 8 RL 2002/14/EG lautet: „(1) 1Für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch den Arbeitgeber oder durch die Arbeitnehmervertreter sehen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen vor. 2Sie sorgen insbesondere dafür, dass es geeignete Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gibt, mit deren Hilfe die Erfüllung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden kann. (2) Die Mitgliedstaaten sehen angemessene Sanktionen vor, die im Falle eines Verstoßes gegen diese Richtlinie durch den Arbeitgeber oder durch die Arbeitnehmervertreter Anwendung finden; die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein.“
Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung von § 78 S.2 BetrVG, § 2 II SprAuG folgt den Maßstäben, die oben im Kontext der richtlinienkonformen Auslegung des AGG erläutert wurden.238 b) Gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte Neben dem Verbot der Benachteiligung von Datenschutzbeauftragten gem. Art. 38 III 2 DSGVO, der unmittelbar geltendes Unionsrecht ist und daher autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegen ist, ist nur § 8 I ASiG unionsrechtlich determiniert: Nach Art. 7 I RL 89/391/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit benennen Arbeitgeber:innen einen oder mehrere Arbeitnehmer:innen, die sie mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter 236 GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 6; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 41. 237 Vgl. Mitteilung der Kommission vom 17. 3. 2008, KOM(2008), 146 endg., S. 4 (2.1.). 238 4. Kap. B. I. 1. b).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Gefahren im Unternehmen bzw. im Betrieb beauftragen. Diesen Arbeitnehmer:innen dürfen gem. Art 7 II UAbs. 1 durch ihre Schutztätigkeiten und ihre Tätigkeiten zur Verhütung berufsbedingter Gefahren keine Nachteile entstehen. Es gelten hier wiederum die bereits erörterten Maßstäbe zur richtlinienkonformen Auslegung.
III. Regelungsziele der Maßregelungsverbote Ebenso wie die Benachteiligungsverbote des AGG unterscheiden sich die Maßregelungsverbote in ihrer Zielsetzung vom allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Indem besondere Motive als unzulässige Gründe für eine Ungleichbehandlung identifiziert werden, hat der Gesetzgeber auf die besonderen Schutzbedürfnisse bestimmter Personengruppen reagiert. 1. Schutz der Willensfreiheit und Flankenschutz der Arbeitnehmerrechte als gemeinsame Regelungsziele aller Maßregelungsverbote Primäres Ziel aller Maßregelungsverbote ist, die Willensfreiheit eines Arbeitnehmers bei der Entscheidung zu schützen, ob er ein Recht ausübt.239 „Diese Entscheidung soll er ohne Furcht vor wirtschaftlichen oder sonstigen Repressalien des Arbeitgebers treffen können“240 – so das BAG zu § 612a BGB. Dieser Normzweck ist auf alle anderen Maßregelungsverbote übertragbar. Die Vorschriften reagieren auf das im Arbeitsverhältnis typische Machtungleichgewicht von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen:241 Jede Rechtsausübung von Arbeitnehmer:innen in ihren Arbeitsverhältnissen ist mit rechtlichen Handlungs-, Duldungs- oder Unterlassungspflichten der Arbeitgeber:innen verbunden, die für sie finanzielle und/oder administrative Einbußen bedeuten. Arbeitnehmer:innen beeinträchtigen mit Rechtsausübungen also die wirtschaftlichen Interessen ihrer Arbeitgeber:innen und laufen damit Gefahr, durch eine Benachteiligung sanktioniert zu werden. Dieser Gefahr begegnen die Maßregelungsverbote. Nach einem Teil der Literatur sichert § 612a BGB darüber hinaus auch die Rechte der Arbeitnehmer:innen an sich:242 Ohne Maßregelungsverbote würden die durch das 239
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 32); BAG, Urt. v. 15. 7. 2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202, 1204 (Rn. 23); NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 1; NK BGB/V. Klappstein, § 612a BGB Rn. 6; DHSW/B. Kraushaar, § 612a BGB Rn. 2; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 1; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 2; Staudinger/R. Richardi/P. S. Fischinger, § 612a BGB Rn. 3; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 31. 240 BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 805 f. (Rn. 21). 241 Vgl. zu § 612a BGB BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 32). 242 BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 2; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 1; U. Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 173; ders., AP KSchG 1969 § 1
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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Gesetz eingeräumten Arbeitnehmerrechte in Frage gestellt; das verstoße gegen die Prinzipien der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Im Regierungsentwurf wird der neue eingeführte § 612a BGB daher auch als „selbstverständlich“ bezeichnet.243 Umstritten ist, ob die Effektuierung der Rechte der Arbeitnehmer:innen „Kern“ des § 612a BGB,244 gleichrangiger Regelungszweck neben dem Schutz der Willensfreiheit,245 oder nur sekundäres Ziel246 ist. Die Festlegung eines Rangverhältnisses hat aber keine Konsequenzen und muss hier daher nicht diskutiert werden; bei der Auslegung und Anwendung des Maßregelungsverbots sind jedenfalls beide Regelungszwecke zu beachten. Das gilt entsprechend für alle anderen spezielleren Maßregelungsverbote. 2. Besondere Ausprägung der Regelungsziele bei Maßregelungsverboten bezüglich der Ausübung von Mitwirkungsrechten Die Ausübung von Mitwirkungsrechten unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten von der Ausübung individueller Rechte: Amtsträger:innen üben Rechte im betrieblichen oder öffentlichen Interesse aus und sind auch gesetzlich zur Ausübung dieser Rechte verpflichtet. Aufgrund dieser Besonderheiten sind die beiden oben dargestellten Regelungszwecke von Maßregelungsverboten folgendermaßen zu präzisieren: Nach Ansicht des BAG dient § 78 S. 2 BetrVG „der inneren und äußeren Unabhängigkeit der Betriebsratsmitglieder […]. Jedes Betriebsratsmitglied soll ohne Furcht vor Maßregelungen und Sanktionen des Arbeitgebers sein Amt ausüben können.“247 Willensfreiheit bei der Ausübung von Mitwirkungsrechten bedeutet also innere und äußere Unabhängigkeit der Amtsträger:innen. Der Flankenschutz des Maßregelungsverbots bezieht sich auf eine angemessene Amtsausübung durch die Arbeitnehmer:innen. a) Schutz der Willensfreiheit: innere und äußere Unabhängigkeit Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen und mit gesetzlichen Schutzpflichten beauftragte Arbeitnehmer:innen üben die ihnen zustehenden Rechte nicht nur im eigenen Interesse aus, sondern im Interesse der Belegschaft oder der Allgemeinheit, und sind zur Wahrnehmung dieser Rechte zugleich gesetzlich verKrankheit Nr. 20; Staudinger/R. Richardi/P. S. Fischinger, § 612a BGB Rn. 3; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 32. 243 BT-Drs. 8/3317, S. 10. 244 So U. Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht (1993), S. 173; ders., AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 20. 245 So BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 2; Staudinger/R. Richardi/P. S. Fischinger, § 612a BGB Rn. 3. 246 So F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 33. 247 BAG, Beschl. v. 20. 1. 2010 – 7 ABR 68/08, NZA 2010, 777, 777 (Rn. 10).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
pflichtet. Durch Maßregelungsverbote soll daher nicht nur gewährleistet werden, dass sich die Arbeitnehmer:innen überhaupt trauen, ihnen zustehende Rechte wahrzunehmen, sondern, dass sie ihre verbindlichen Rechtspflichten „funktionsgerecht und wirkungsvoll“248 ausüben. Aus diesem Grund verbieten §§ 78 S. 2 BetrVG, 9 S. 2 DrittelbG, 179 II SGB IX und 2 III 2 SprAuG nicht nur Benachteiligungen, sondern auch Begünstigungen von Amtsträger:innen. Die Maßregelungsverbote tragen der spezifischen Gefährdungssituation Rechnung, dass Amtsträger:innen zugleich weisungs- und damit persönlich abhängige Arbeitnehmer:innen sein können und die Wahrnehmung ihrer Pflichten für Arbeitgeber:innen in der Regel besonders nachteilige Konsequenzen hat: Erstens üben Amtsträger:innen ihr Amt während ihrer Arbeitszeit aus, und das oft über mehrere Jahre hinweg. Damit schränkt die Amtstätigkeit schon die Leistungserbringung der einzelnen Arbeitnehmer:innen erheblich ein. Diese Problematik hat auch der Gesetzgeber anerkannt, indem er explizit angeordnet hat, dass die Benachteiligungsverbote für Interessenvertreter der Arbeitnehmer:innen auch für die berufliche Entwicklung der Arbeitnehmer:innen gelten. Zweitens ist auch die Art der von Amtsträger:innen ausgeübten Rechte für Arbeitgeber:innen besonders belastend: Während die Wahrnehmung individueller Arbeitnehmerrechte – beispielsweise der Durchsetzung des Urlaubs- oder Entgeltzahlungsanspruchs – überschaubare Belastungen für Arbeitgeber:innen zeitigt, schränkt eine engagierte Interessenvertretung, insbesondere die mit besonders umfangreichen Mitbestimmungsrechten ausgestattete Betriebsratstätigkeit, unternehmerische Gestaltungsfreiheiten erheblich ein. Interessenvertreter:innen der Arbeitnehmer:innen setzen sich lang andauernden Interessenkonflikten mit Arbeitgeber:innen aus, die gegebenenfalls sogar vor Gericht ausgefochten werden. Auch gesetzliche Schutzbeauftragte üben Aufgaben aus, die mit den wirtschaftlichen Interessen von Arbeitgeber:innen konfligieren können, da die meisten der von ihnen vorzunehmenden oder zu kontrollierenden Schutzmaßnahmen zugunsten der Belegschaft oder der Öffentlichkeit die Tätigkeit der Arbeitgeber:innen einschränken oder jedenfalls mit finanziellen Opfern einhergehen. Diesem Spannungsfeld widerstreitender Interessen von Arbeitnehmer:innen, die zugleich Amtsträger:innen sind, begegnen die besonderen Maßregelungsverbote: Arbeitnehmer:innen sollen ihre Ämter trotz der Doppelnatur ihrer Rechtsstellung unparteilich und unabhängig wahrnehmen können, indem die Zufügung individueller Repressalien in ihren Arbeitsverhältnissen verboten wird.249
248
APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 1. Zu § 78 S. 2 BetrVG: GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 1; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 3; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 1; zu § 26 MitbestG: APS/ S. Greiner, § 26 MitbestG Rn. 2; zu § 22 SGB VII: APS/ders., § 22 SGB VII Rn. 1; zu § 58 BImSchG: APS/ders., § 58 BImSchG Rn. 7; NK KSchR/M. Kuckuk, § 58 BImSchG Rn. 2. 249
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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b) Flankenschutz der Arbeitnehmerrechte: Angemessene Amtsausübung Anders als bei den allgemeinen Maßregelungsverboten bestehen die durch die Vorschriften geschützten Arbeitnehmerrechte nicht nur im Interesse einzelner Arbeitnehmer:innen, sondern auch im kollektiven Interesse der Belegschaft oder der Öffentlichkeit.250 Eine unbefangene Amtsausübung ist wichtig, damit die Mitbestimmungsordnung – bestehend aus dem BetrVG, dem MitbestG, dem DrittelbG, dem SprAuG und dem SGB IX – überhaupt funktioniert251 und damit die Einhaltung der in diversen Sondergesetzen – dem SGB VII, dem ASiG, der DSGVO und diverser umweltschutzrechtlicher Gesetze – vorgeschriebenen Schutzvorschriften tatsächlich überwacht wird. Die besonderen Maßregelungsverbote zugunsten von Amtsträger:innen bezwecken daher auch die Effektuierung der Mitbestimmungsordnung selbst und der praktischen Wirksamkeit verschiedener Arbeitnehmerschutzvorschriften. 3. Besondere Ausprägung der Regelungsziele bei der Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses Benachteiligungsverbote, die an eine Aufgabenwahrnehmung außerhalb des Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Interesse anknüpfen, verfolgen eine ähnliche doppelte Zielsetzung. Sie reagieren auf die Gefahr, dass Arbeitnehmer:innen, die aufgrund eines freiwilligen Wehrdienstes, einer Mithilfe im Katastrophenfall, einer Tätigkeit als Abgeordnete oder Abgeordneter, ehrenamtlicher Richter oder ehrenamtliche Richterin benachteiligt werden, da sie während dieser Einsätze nicht für ihre Arbeitgeber:innen arbeiten können. Auch wenn mit der Suspendierung der Arbeitspflicht der Arbeitnehmer:innen zugleich die Vergütungspflicht entfällt252 oder durch den Staat erstattet wird,253 kann eine Amtstätigkeit die Arbeitgeber:innen wirtschaftlich belasten, wenn der Ausfall der Arbeitskraft eine Umverteilung von Aufgaben oder die zur Vertretung befristete Neueinstellung von Arbeitnehmer:innen erfordert und daher finanziellen und administrativen Mehraufwand verursacht.254 Benachteiligungsverbote schützen Arbeitnehmer:innen also darin, trotz dieser Konsequenzen frei darüber entscheiden können, ob sie eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen (Schutz der Willensfreiheit). Mit dem Schutz dieser Willensfreiheit wird zugleich der zweite Schutzzweck realisiert: das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit von Streitkräften, Katastrophenschutz, Parlament und Justiz, die
250
Vgl. zu § 78 S. 2 BetrVG DKW/R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 1. Vgl. zu § 78 S. 2 BetrVG Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 3. 252 Z. B. gem. § 1 I ArbPlSchG. 253 Z. B. gem. § 9 II 4 KatSchErwG. 254 Vgl. K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 299, 305, 377. 251
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
auf eine hinreichende Anzahl zur Verfügung stehender Menschen angewiesen sind (Flankenschutz).255
IV. Exkurs: Entfristungsansprüche von Betriebsratsmitgliedern wegen Art. 7 RL 2002/14/EG? In den nächsten Kapiteln wird unter anderem untersucht, inwiefern Maßregelungsverbote die Fortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen begrenzen, wie es beispielsweise rechtlich zu beurteilen ist, wenn Arbeitgeber:innen befristete Arbeitsverhältnisse wegen der Amtsausübung von Arbeitnehmer:innen nicht fortsetzen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen setzt voraus, dass auch die befristeten Arbeitsverhältnisse von Amtsträger:innen nach allgemeinen Grundsätzen mit Fristablauf enden und Arbeitgeber:innen über eine Fortsetzung ohne Bindung an Sachgründe entscheiden dürfen. Teilweise wird dies bestritten und stattdessen angenommen, dass Arbeitgeber:innen generell zur Fortsetzung von befristeten Arbeitsverhältnissen mit Betriebsratsmitgliedern verpflichtet seien. Eine solche Pflicht wurde vor Inkrafttreten des BeschFG – dem Vorläufer des TzBfG – für die befristeten Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern diskutiert: Das BAG hat im Jahr 1968 angenommen, dass ein Arbeitgeber zur Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses nach Erreichen der Altersgrenze verpflichtet sei, wenn der betreffende Arbeitnehmer zu dem Zeitpunkt des Ausscheidens Mitglied des Betriebsrates ist. Die Fortsetzungspflicht ergebe sich aus einer Gesamtschau verschiedener Normen des Betriebsverfassungsgesetzes sowie dem Kündigungsverbot für Betriebsratsmitglieder, nach denen „der Betriebsrat auf die Dauer der Wahlperiode grundsätzlich in seiner personellen Zusammensetzung unverändert arbeiten soll.“ Zur Gewährleistung der gebotenen „Stetigkeit der Arbeit des Betriebsrats und seiner einzelnen Mitglieder für die Dauer der Wahlperiode“ sei der Arbeitgeber verpflichtet, Arbeitsverhältnisse für die Dauer der Amtsperiode des Betriebsrats auch über die Altersgrenze hinaus fortzusetzen.256 Von dieser Rechtsprechung ist derselbe Senat des BAG später abgerückt: Dass Arbeitgeber:innen zur Fortsetzung eines wirksam befristeten Arbeitsverhältnisses allein wegen der Betriebsratsmitgliedschaft von Arbeitnehmer:innen verpflichtet werden, widerspreche dem eindeutig zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers: Amtsträger:innen würden gem. § 15 KSchG ausdrücklich nur vor einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Arbeitgeberkündigung geschützt; davon abgesehen sei mit § 24 I Nr. 3 BetrVG die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Grund für die Beendigung des Betriebsratsmandats anerkannt.257 255
Vgl. K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 300, 305, 325 f. 256 BAG, Urt. v. 12. 12. 1968 – 2 AZR 120/68, NJW 1969, 813, 814. 257 BAG, Urt. v. 20. 12. 1984 – 2 AZR 3/84, NZA 1986, 325, 328; zustimmend LAG Hessen, Urt. v. 8. 5. 2000 – 16 Sa 998/99, BeckRS 2000, 30878836.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
217
Diese Rechtslage hat das Arbeitsgericht München im Jahr 2010 – nun unter Geltung des TzBfG – in Zweifel gezogen: Sachgrundlose Befristungen seien unwirksam, wenn Arbeitnehmer:innen während des Arbeitsverhältnisses zum Betriebsrat gewählt worden sind; das Arbeitsverhältnis bestehe über das Fristende hinaus fort. Diese Rechtsfolge sei als unionsrechtskonforme Auslegung von § 14 II TzBfG geboten: Nur so werde der von Art. 7 RL 2002/14/EG gebotene Mindestschutz vor der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses auch für befristet beschäftigte Amtsinhaber:innen sichergestellt und gewährleistet, dass sie ohne Angst vor Sanktionen Betriebsratsmitglieder werden und in dieser Eigenschaft klar Stellung beziehen können.258 Das Urteil wurde in der Literatur vereinzelt als „bahnbrechende Entscheidung“ gelobt,259 überwiegend aber scharf kritisiert.260 Auch in der Rechtsprechung ist das Urteil auf Ablehnung gestoßen: Verschiedene andere Instanzgerichte haben in enger zeitlicher Abfolge mit gegenteiligem Ergebnis über die Rechtsfrage entschieden.261 Zwei dieser Entscheidungen wurden vom BAG bestätigt: Durch eine Amtstätigkeit werde weder eine Befristungsabrede nachträglich unwirksam, noch ergebe sich ein Fortsetzungsanspruch aus einer analogen Anwendung von § 78a BetrVG. Dem unionsrechtlich gebotenen Schutz werde durch § 78 S. 2 BetrVG i. V. m. § 280 I BGB Rechnung getragen; Beweisschwierigkeiten sei durch eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast Rechnung zu tragen.262 Diese Ansicht überzeugt: Ein Vertragsfortsetzungsanspruch, der aus einer Unwirksamkeit der Befristungsabrede (vgl. § 16 S. 1 TzBfG) oder einer analogen Anwendung von § 78a BetrVG folgt, ist weder mit dem nationalen Recht vereinbar [1.] noch im Wege unionsrechtskonformer Auslegung oder Fortbildung geboten [2.].
258
ArbG München, Urt. v. 8. 10. 2010 – 24 Ca 861/10, BeckRS 2011, 68221. R. Bell/R. Helm, AiB 2011, 269; ebenso R. Bell/P. Ögüt/M. Schubert/R. Helm, AiB 2012, 636, 637 ff.; J. P. Hjort/R. Helm/D. Hummel, ArbRAktuell 2011, 397; im Ergebnis zustimmend, aber eine Analogie zu § 78a BetrVG annehmend M. Huber/M. Mücke/R. Helm, ArbRAktuell 2012, 422. 260 O. Deeg, ArbRAktuell 2011, 103; M. Fuhlrott, ArbRAktuell 2011, 619; T. Lakies, ArbRAktuell 2011, 447; T. Tilch/E. Vennewald, NJW-Spezial 2011, 690; B. Ulrici, jurisPRArbR 31/2011, Anm. 4. 261 ArbG Berlin, Urt. v. 1. 9. 2011 – 33 Ca 5877/11, BeckRS 2011, 77524 und in anderer Rechtssache LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 4. 11. 2011 – 13 Sa 1549/11, BeckRS 2011, 77573; LAG München, Urt. v. 18. 2. 2011 – 7 Sa 896/10, BeckRS 2012, 75537, bestätigt durch BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515; LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/11, BeckRS 2012, 73706, bestätigt durch BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209. 262 BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 519 ff. (Rn. 36 ff.); bestätigt in BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1210 (Rn. 16) und in BAG, Urt. v. 20. 6. 2018 – 7 AZR 690/16, NZA 2019, 324, 328 f. (Rn. 48). 259
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
1. Vorgaben des nationalen Befristungs- und Betriebsverfassungsrechts Nach der im TzBfG verwirklichten Bestandsschutzkonzeption enden befristete Arbeitsverhältnisse mit Fristablauf oder Zweckerreichung (vgl. § 15 I, II TzBfG), wenn nicht die Befristung rechtunwirksam ist (vgl. § 16 S. 2 TzBfG). Die Wirksamkeit einer Befristung hängt davon ab, ob die Befristungsabrede im Zeitpunkt ihrer Vereinbarung den Anforderungen des § 14 TzBfG standhält und auch sonst nicht rechtswidrig ist, insbesondere da sie gegen Benachteiligungsverbote verstößt. Wird ein Arbeitsvertrag im Hinblick auf ein Betriebsratsmandat nur befristet fortgesetzt, anstatt entfristet zu werden, so ist schon die Befristungsabrede gem. § 78 S. 2 BetrVG i. V. m. § 134 BGB unwirksam; das Arbeitsverhältnis gilt als auf unbestimmte Zeit geschlossen. Davon abzugrenzen ist der Fall, dass Arbeitnehmer:innen im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses in den Betriebsrat gewählt werden. Tritt die Amtsinhaberschaft zeitlich nach Abschluss der Befristungsabrede ein, kann die Befristungsabrede selbst nicht benachteiligend sein. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Fristablauf ist grundsätzlich neutral und unverdächtig. Zwar birgt die Tatsache, dass Arbeitgeber:innen nach Fristablauf frei über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen entscheiden können, ein Risiko für befristet beschäftigte Betriebsratsmitglieder.263 Die Entscheidung von Arbeitgeber:innen, einen Anschlussvertrag zu schließen oder zu verweigern, kann und muss daher auch kontrolliert werden, und zwar anhand von § 78 S. 2 BetrVG. Daneben besteht weder ein Anlass noch ein dogmatischer Anknüpfungspunkt für eine nachträgliche Unwirksamkeit der Befristungsabrede. Es bleibt dabei, dass die Wirksamkeit der Befristungsabrede, wie jedes Rechtsgeschäft, im Zeitpunkt ihres Abschlusses beurteilt wird.264 Auch eine analoge Anwendung von § 78a BetrVG ist dogmatisch bedenklich: Gem. § 78a I, II BetrVG müssen Arbeitgeber:innen einen Auszubildenden, der Mitglied des Betriebsrats oder einer anderen Arbeitnehmervertretung ist, nach Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernehmen, wenn der Auszubildende es schriftlich verlangt und den Arbeitgeber:innen die Beschäftigung nicht unzumutbar ist (Abs. 4). Diese Vorschrift wurde im Jahr 1973 in das gerade erst novellierte BetrVG eingefügt, um eine Schutzlücke zu schließen: Mitglieder betriebsverfassungsrechtlicher Organe in Ausbildungsverhältnissen seien besonders zu schützen, da es Arbeitgeber:innen freistehe, Auszubildende nach Abschluss der Ausbildung zu übernehmen oder nicht. „Damit hat es der Arbeitgeber grundsätzlich in der Hand, Mitglieder der Jugendvertretung oder des Betriebsrats aus ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Funktion zu entfernen. Die Mitglieder von Betriebsverfassungsorganen sollen jedoch ihr Amt unabhängig und 263 Dieses Risiko haftet Befristungen mit und ohne Sachgrund gleichermaßen an. Auch aus diesem Grund ist die vom ArbG München vorgenommene Differenzierung, nach der nur sachgrundlose Befristungen richtlinienwidrig sein sollen, verfehlt, vgl. auch B. Ulrici, jurisPRArbR 31/2011, Anm. 4. 264 T. Tilch/E. Vennewald, NJW-Spezial 2011, 690, 691.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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ohne Furcht vor nachteiligen Folgen gerade auch im Hinblick auf den Stand ihres Arbeitsverhältnisses und ihrer beruflichen Entwicklung ausüben können.“265 Teile der Literatur weisen darauf hin, dass im Jahr 1973 – noch vor Erlass des BeschFG, dem Vorläufer des TzBfG – befristete Arbeitsverträge jenseits der Ausbildungsverhältnisse ein Schattendasein geführt haben. Dadurch, dass (erst) nach Erlass des § 78a BetrVG die Befristung von Arbeitsverhältnissen ermöglicht und in der Praxis häufig genutzt wurde, sei die Schutzlücke, die der Gesetzgeber mit § 78a BetrVG schließen wollte, wieder aufgeklafft. Das Gesetz sei nachträglich lückenhaft geworden.266 Gegen die Annahme einer Regelungslücke führt jedoch das BAG an, dass der Gesetzgeber auch bei späteren Änderungen des BetrVG von der Einführung einer § 78a BetrVG vergleichbaren Schutzvorschrift abgesehen hat.267 Dieser Umstand lässt in der Tat den Schluss zu, dass es sich bei § 78a BetrVG – und auch § 15 KSchG – bewusst um Ausnahmeregelungen zu § 24 Nr. 3 TzBfG handelt, nach dem die Betriebsratstätigkeit mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses endet. Hinzu kommt, dass auch die Interessenlage von Auszubildenden und befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen nicht derart vergleichbar ist, dass eine analoge Anwendung von § 78a BetrVG geboten wäre: Gegen eine Vergleichbarkeit spricht nicht, dass die Befristung des Ausbildungsverhältnisses gesetzlich angeordnet ist, während die Befristung eines normalen Arbeitsverhältnisses einzelvertraglich vereinbart wird und damit nicht „typischerweise befristet“ ist.268 Für die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmer:innen macht es nämlich keinen Unterschied, ob das Fristende gesetzlich vorgeschrieben ist oder von Arbeitgeber:innen als Vertragsbedingung gestellt wurde. Entscheidend gegen eine Vergleichbarkeit der Situationen spricht stattdessen, dass nicht nur die Befristung eines Auszubildenden, sondern gerade auch seine anschließende Übernahme in ein Arbeitsverhältnis der Regelfall ist, da Arbeitgeber:innen die mit der Ausbildung verbundenen Belastungen typischerweise im Interesse der Nachwuchsgewinnung in Kauf nehmen.269 Da die Nichtübernahme eines Auszubildenden die Ausnahme ist, haftet einem unterbliebenem Übernahmeangebot an einen Amtsträger „der böse Schein einer Sanktionierung“270 in besonderem Maße an, sodass eine Pflicht zur Übernahme die angemessene Rechtsfolge darstellt. Bei befristeten Arbeitsverhältnissen verhält es sich aber anders: Sie werden nicht in aller Regel fortgesetzt; die Entscheidung über eine Fortsetzung hängt stark von den Einzelfallumständen ab. Da es keine Regelvermutung für eine Vertragsfortsetzung gibt, würde ein automatischer Fortsetzungsanspruch nicht den benachteiligungsfreien Normalzustand, sondern eine Verbesse265
BT-Drs. 7/1170, S. 3. R. Bell/P. Ögüt/M. Schubert/R. Helm, AiB 2012, 636; M. Huber/M. Mücke/R. Helm, ArbRAktuell 2012, 422. 267 BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 520 f. (Rn. 45). 268 So aber BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 521 (Rn. 46). 269 B. Ulrici/N. Uhlig, jurisPR-ArbR 11/2012, Anm. 1. 270 L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 209. 266
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
rung der Rechtslage gegenüber den durchschnittlichen befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen herstellen.271 Diese „Überkompensation“ zeigt nicht nur, dass sich die Interessenlage befristet beschäftigter Betriebsratsmitglieder von der § 78a BetrVG zugrundeliegenden Interessenlage unterscheidet, sondern ist auch aus anderen Gründen problematisch: Erstens nehmen Arbeitgeber:innen mit einer (ursprünglich wirksamen) Befristungsabrede durch § 14 I, II TzBfG eingeräumten Flexibilisierungsmöglichkeiten wahr, die insbesondere auf ein zeitlich vorübergehendes Interesse an der Arbeitsleistung oder der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin reagieren. Diese Bedürfnisse werden ignoriert, wenn Arbeitgeber:innen zur Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses gezwungen werden, an dem sie aus erlaubten Gründen kein Interesse mehr haben.272 Zweitens widerspricht ein Entfristungsautomatismus dem Begünstigungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG: Arbeitnehmer:innen würden durch einen Entfristungsautomatismus besser behandelt, als sie ohne ihre Amtsstellung stünden.273 Im Ergebnis ist daher aus mehreren Gründen der herrschenden Ansicht darin beizupflichten, dass eine Entfristung der Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern durch teleologische Reduktion von § 14 II TzBfG oder analoge Anwendung von § 78a BetrVG mit dem deutschen Befristungs- und Betriebsverfassungsrecht unvereinbar ist. 2. Vorgaben der Konsultationsrichtlinie (RL 2002/14/EG) Ein anderes Ergebnis ist auch nicht im Wege der richtlinienkonformen Ausbildung oder Rechtsfortbildung zu erzielen. Art. 7 RL 2002/14/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Arbeitnehmervertreter:innen bei der Ausübung ihrer Funktion einen ausreichenden Schutz und ausreichende Sicherheiten zukommen zu lassen, die es ihnen ermöglichen, die ihnen übertragenen Aufgaben in angemessener Weise wahrzunehmen. Da die Richtlinie nur einen allgemeinen Rahmen mit Mindestvorschriften vorsieht, haben die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Schutzmaßnahmen und Sicherheiten aber ein weites Ermessen.274 Das vorgesehene Mindestmaß an Schutz fordert nach der Rechtsprechung des EuGH keinen „verstärkten Kündigungsschutz“ für Arbeitnehmervertreter:innen,275 aber jedenfalls, dass Kündigungen nicht mit der 271 L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 203, 209; B. Ulrici, jurisPR-ArbR 31/ 2011, Anm. 4; B. Ulrici/N. Uhlig, jurisPR-ArbR 11/2012, Anm. 1; B. Boemke, jurisPR-ArbR 18/2012, Anm. 1. 272 B. Ulrici, jurisPR-ArbR 31/2011, Anm. 4; ähnlich M. Benecke, EuZA 2016, 34, 39. 273 LAG München, Urt. v. 18. 2. 2011 – 7 Sa 896/10, BeckRS 2012, 75537; LAG BerlinBrandenburg, Urt. v. 4. 11. 2011 – 13 Sa 1549/11, BeckRS 2011, 77573; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 204; B. Ulrici/N. Uhlig, jurisPR-ArbR 11/2012, Anm. 1. 274 EuGH, Urt. v. 11. 2. 2010 – C-405/08 (Holst), NZA 2010, 286, 288 (Rn. 52). 275 EuGH, Urt. v. 11. 2. 2010 – C-405/08 (Holst), NZA 2010, 286, 288 (Rn. 50).
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Eigenschaft als Arbeitnehmervertreter:in begründet werden dürfen.276 Für den Fall, dass zwischen der Funktion als Arbeitnehmervertreter:in und der Kündigung ein Zusammenhang besteht, müssen die Mitgliedstaaten angemessene Sanktionen vorsehen.277 Die Richtlinie verlangt damit keinen vollständigen Schutz vor Vertragsbeendigungen: Wenn schon ein verstärkter Kündigungsschutz unbefristeter Betriebsratsmitglieder nicht geboten ist – § 15 KSchG geht insofern über die Richtlinienvorgaben hinaus –, ist es eine automatische Entfristung von befristeten Arbeitsverhältnissen erst recht nicht.278 Stattdessen ist es allein verboten, dass eine Vertragsbeendigung wegen der Betriebsratstätigkeit erfolgt. Ein solcher Kausalzusammenhang besteht allenfalls für die Fortsetzungsentscheidung und nicht für die ursprüngliche Befristung. Daher geht die in der Literatur vereinzelt vertretene Auffassung, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen gem. Art. 7 RL 2002/14/ EG bereits bei Amtsübernahme durch einen Entfristungsanspruch vor einer maßregelnden Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu schützen seien,279 über das von den Richtlinien gebotene Mindestmaß hinaus. Indem § 78 S. 2 BetrVG verbietet, dass die Fortsetzungsentscheidung aus maßregelnden Gründen erfolgt, hält das deutsche Recht eine Vorschrift bereit, die mit Art. 7 RL 2002/14/EG übereinstimmt.280 Dass Arbeitnehmervertreter:innen nach § 78 S. 2 BetrVG den Beweis über einen Kausalzusammenhang führen müssen und ihr Schutz insofern schwächer ist als gem. § 15 KSchG oder § 78a BetrVG, kann in der Praxis zwar schwierig sein. Dem Gebot effektiver Rechtsdurchsetzung aus Art. 8 I RL 2002/14/EG kann aber durch eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast Rechnung getragen werden.281 Es besteht damit kein Umsetzungsdefizit des nationalen Rechts, das einen über § 78 S. 2 BetrVG hinausgehenden Schutz befristet beschäftigter Betriebsratsmitglieder erfordert.
V. Einschätzung des Maßregelungspotenzials bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse Befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen haben – bis auf einen unterschiedlich ausgestalteten Bestandsschutz – dieselben Rechte wie unbefristet beschäftigte Ar276
EuGH, Urt. v. 11. 2. 2010 – C-405/08 (Holst), NZA 2010, 286, 289 (Rn. 58). EuGH, Urt. v. 11. 2. 2010 – C-405/08 (Holst), NZA 2010, 286, 289 (Rn. 59). 278 M. Benecke, EuZA 2016, 34, 39. 279 R. Bell/P. Ögüt/M. Schubert/R. Helm, AiB 2012, 636, 638; ähnlich M. Huber/ M. Schubert/P. Ögüt, AuR 2012, 429, 431; R. Helm/R. Bell/R. Windirsch, AuR 2012, 293, 296. 280 M. Jacobs, EuZA 2010, 533, 539. 281 Ebenfalls B. Boemke, jurisPR-ArbR 18/2012, Anm. 1; B. Ulrici, jurisPR-ArbR 31/2011, Anm. 4; B. Ulrici/N. Uhlig, jurisPR-ArbR 11/2012, Anm. 1; EuArbR/C. Weber, Art. 7 RL 2002/14/EG Rn. 7. 277
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
beitnehmer:innen und sind daher auf einen Schutz durch § 612a BGB angewiesen, wenn Arbeitgeber:innen eine Rechtsausübung durch die Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses sanktionieren. Insbesondere dürfen auch befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen als Interessenvertreter:innen der Belegschaft gewählt werden oder als gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte bestellt werden. Da befristete Arbeitsverhältnisse auch nicht bis zum Ende der Amtszeit verlängert werden müssen,282 setzen sich befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen mit der Übernahme besonderer Ämter der Gefahr aus, gerade aufgrund ihrer Tätigkeit nach Fristablauf nicht weiterbeschäftigt zu werden. Dieses Risiko wird bei der Interessenvertretung von Arbeitnehmer:innen dadurch ausgelöst, dass sie die Belegschaftsinteressen oft gerade gegen die Interessen der Arbeitgeber:innen durchsetzen und sich mit ihnen unter Umständen in einem dauerhaften Konflikt befinden. Gesetzlich vorgeschriebene Beauftragte setzen sich einem ähnlichen Konflikt aus, wenn sie zugleich Angestellte derjenigen Arbeitgeber:innen sind, deren Pflichterfüllung sie kontrollieren müssen. Auch die Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses kann die Stellung befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen beeinträchtigen; das zeigt insbesondere das spezifische Benachteiligungsverbot bezüglich Verlängerungen und Entfristungen in § 2 V 3 ArbPlSchG. Da diese Benachteiligungsverbote jedoch auf seltene Einzelfälle reagieren, werden sie im weiteren Gang der Untersuchung zurückgestellt und der Fokus stattdessen auf diejenigen Maßregelungsverbote gelegt, die die Rechtsverhältnisse aller Arbeitnehmer:innen oder jedenfalls in vielen Betrieben betreffen: Die Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis und die Maßregelungsverbote für Interessenvertreter:innen der Belegschaft.
VI. Konsequenzen für den weiteren Gang der Arbeit Es existiert eine Vielzahl an Maßregelungsverboten, die Benachteiligungen aufgrund einer Rechtsausübung von Arbeitnehmer:innen verbieten. Sie sind parallel strukturiert und verfolgen ähnliche Schutzzwecke. Von den Maßregelungsverboten bezüglich der Ausübung individueller Rechte heben sich die Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung von Mitwirkungsrechten jedoch aufgrund ihrer besonderen kollektiven Schutzzwecke ab. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird daher regelmäßig zwischen diesen beiden Arten der Maßregelungsverbote unterschieden. Um die Vielzahl der Verbote dabei übersichtlich behandeln zu können, werden die Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung individueller Rechte exemplarisch anhand von § 612a BGB untersucht. Die Betrachtungen können, wie bereits dargestellt, größtenteils auch auf die anderen Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung individueller Rechte übertragen werden können. Die Maßregelungsverbote bezüg-
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Siehe gerade 4. Kap. C. IV.
4. Kap.: Grundlegung zu arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverboten
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lich der Ausübung von Mitwirkungsrechten werden aus denselben Gründen am Beispiel von § 78 S. 2 BetrVG untersucht.
D. Ergebnisse des vierten Kapitels Benachteiligungsverbote unterscheiden sich vom Gleichbehandlungsgrundsatz, indem sie bestimmte Anknüpfungspunkte für eine Differenzierung verbieten. Damit reagiert der Gesetzgeber auf ein typischerweise erhöhtes Ausgrenzungs- und Benachteiligungspotenzial bestimmter Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Arbeitnehmer:innen beim Zugang zum oder im Berufsleben. Eigenschaften von Arbeitnehmer:innen werden durch die Diskriminierungsverbote im AGG geschützt: Das Gesetz bezweckt, Bevölkerungsgruppen, die aufgrund historisch gewachsener Statushierarchien in der Arbeitswelt strukturell benachteiligt werden, eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt zu gewährleisten und sie vor den regelmäßig mit Benachteiligungen einhergehenden Würde- und Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu schützen. Das Gesetz schützt gem. § 1 AGG acht Merkmale, aufgrund derer Menschen im Arbeitsleben stigmatisiert werden („wertrationale Diskriminierung“) oder die mit wirtschaftlichen Belastungen für Arbeitgeber:innen einhergehen können und daher das Risiko einer Benachteiligung bergen („zweckrationale Diskriminierung“). Eine Benachteiligung aufgrund eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG bei der Entscheidung über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses ist bei allen geschützten Merkmalen vorstellbar. Eine spezifische, dem befristeten Arbeitsverhältnis anhaftende Gefahr verursachen Merkmale, die Arbeitgeber:innen bei der Einstellung noch nicht kennen, da das Merkmal entweder nicht äußerlich erkennbar ist oder es sich erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses ausprägt. Ein gesteigertes Diskriminierungsrisiko besteht darüber hinaus für zweckrationale Diskriminierungen, da viele Arbeitgeber:innen nach wirtschaftlichen Kriterien entscheiden. Insgesamt ist das Diskriminierungspotenzial bei Ablauf einer Befristung daher hinsichtlich einer Schwangerschaft, des gestiegenen Lebensalters oder einer Behinderung als besonders hoch einzuschätzen; es sind jedoch auch Diskriminierungen aufgrund der anderen in § 1 AGG genannten Merkmale aus unterschiedlichen Gründen vorstellbar. Bei der Anwendung des AGG ist neben dem teleologischen Substrat des Gesetzes auch der systematische Gesamtzusammenhang zu beachten: Die arbeitsrechtlichen Vorschriften des AGG sind sowohl in das nationale Verfassungsrecht als auch in ein supranationales Mehrebenensystem eingebettet. Je nach dem Grad der unionsrechtlichen Determination der jeweiligen Vorschrift sind daher die Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinien, völkerrechtliche Vorgaben und die Grundrechte der Grundrechtecharta oder des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Verhaltensweisen von Arbeitnehmer:innen werden durch Maßregelungsverbote geschützt. Diese Verbote reagieren darauf, dass bestimmte rechtmäßige Verhal-
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
tensweisen von Arbeitnehmer:innen finanzielle oder administrative Belastungen für Arbeitgeber:innen verursachen und daher die Gefahr bergen, von Arbeitgeber:innen sanktioniert zu werden, beispielsweise durch die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse. Ein Verbot derartiger Sanktionierungen ist daher sowohl zum Schutz der Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen als auch zum Schutz der auszuübenden Rechte selbst geboten. Ihrer Struktur und spezifischen Schutzrichtung entsprechend können die Maßregelungsverbote kategorisiert werden: Sie schützen entweder die Ausübung individueller Rechte von Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis, die Interessenvertretung der Beschäftigten im Unternehmen, die Ausübung besonderer Kontrollfunktionen gegenüber Arbeitgeber:innen im öffentlichen Interesse oder die außerbetriebliche Amtsausübung im öffentlichen Interesse. Jede der durch diese Benachteiligungsverbote geschützten Spannungslagen kann auch im befristeten Arbeitsverhältnis bestehen; dass Arbeitgeber:innen in der Vertragsfortsetzung frei sind, birgt daher ein großes Maßregelungspotenzial. Auch bei der Auslegung der Maßregelungsverbote können europäische Vorgaben zu berücksichtigen sein, z. B. bei § 78 S. 2 BetrVG, der als paradigmatischer Stellvertreter für alle Maßregelungsverbote bezüglich der Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte untersucht wird. 5. Kapitel
Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als verbotene Benachteiligung A. Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als Anwendungsfall der Benachteiligungsverbote Die Fortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen wird durch Benachteiligungsverbote begrenzt, wenn es sich bei der Nichtfortsetzung um ein tatbestandlich relevantes Arbeitgeberverhalten handelt [I.] und dieses Verhalten dem persönlichen Anwendungsbereich der Verbote unterfällt [II.].
I. Tatbestandsmäßigkeit eines unterlassenen Vertragsschlusses Befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen können – abgesehen von Sonderfällen der vertraglichen Zusage und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz – nicht beanspruchen, dass Arbeitgeber:innen die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse in Betracht ziehen oder darauf gerichtete Willenserklärung abgeben. Weder dadurch, dass Arbeitgeber:innen Arbeitsverhältnisse mit Fristablauf kommentarlos auslaufen lassen, noch dadurch, dass sie Arbeitnehmer:innen eine Absage erteilen, ver-
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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schlechtern sie die Rechtsposition der Arbeitnehmer:innen. Der Nachteil für Arbeitnehmer:innen liegt darin, dass Arbeitgeber:innen es beim Status Quo – der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zum vereinbarten Zeitpunkt – belassen. Unabhängig davon, ob Arbeitgeber:innen die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses kommunizieren, erschöpft sich die Nachteiligkeit der Behandlung also in einem Unterlassen: der Nichtabgabe der auf eine Fortsetzung gerichteten Willenserklärung.283 Zu untersuchen ist, ob dieses Unterlassen eine „weniger günstige Behandlung“ i. S. v. § 3 I AGG [1.], eine „Vereinbarung oder Maßnahme“ gem. § 612a BGB und eine Benachteiligung i. S. v. § 78 S. 2 BetrVG [2.] und damit tatbestandlich von den Benachteiligungsverboten erfasst ist. 1. Unterlassener Vertragsschluss als „weniger günstige Behandlung“ gem. § 3 I AGG Dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zufolge ist eine tatbestandsmäßige Behandlung gem. § 3 I AGG jedes Tun und Unterlassen des Arbeitgebers.284 Entgegen einer vereinzelt in der Literatur vertretenen Ansicht285 ist ein Unterlassen 283 Eine Benachteiligung durch Unterlassen liegt auch vor, wenn Arbeitnehmer:innen eine ungünstige Benachteiligung im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens widerfährt: Die rechtlichen Beziehungen von Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in werden durch eine Ablehnung nicht verändert. Der Schwerpunkt der ungünstigen Behandlung ist bei wertungsgemäßer Betrachtung nicht, dass Arbeitnehmer:innen keine Bewerber:innen mehr sind, sondern, dass sie nicht eingestellt wurden Es verwundert daher, dass Rechtsprechung und Literatur im Kontext von § 3 I AGG überwiegend nur die Nichtverlängerung – und nur vereinzelt die Nichteinstellung (T. Kania/S. Merten, ZIP 2007, 8, 13; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 2; Staudinger/ S. Serr, § 3 AGG Rn. 5) – explizit als Unterlassen bezeichnen (BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 25); J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 9; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 25; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 2; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 12; KR/J. Treber, § 3 AGG Rn. 5). Allerdings ordnen sie Nichteinstellungen auch nicht explizit als Tun ein; das Merkmal der ungünstigen Behandlung wird bloß nicht gesondert angesprochen (so beispielhaft aus der jüngeren Rechtsprechung BAG, Urt. v. 23. 11. 2017 – 8 AZR 372/16, NZA-RR 2018, 287, 291 (Rn. 44); BAG, Urt. v. 17. 12. 2015 – 8 AZR 421/14, NZA 2016, 888, 892 (Rn. 43) und aus der Literatur BeckOGK/ A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 25; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 13; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 19). Dass die Nichteinstellung nicht differenziert unter das Merkmal der „ungünstigen Behandlung“ subsumiert wird, dürfte daher der Tatsache geschuldet sein, dass Einstellungsentscheidungen als klassischer Anwendungsfall des § 3 I AGG gelten und eine Einordnung als Handlung oder Unterlassen nach herrschendem Verständnis keine praktischen Konsequenzen hat. Mit einer dogmatischen Einordnung der Nichtverlängerung hat sich das BAG hingegen mit Blick auf EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn. 27) beschäftigt, was seither von der Literatur ohne eigenständige Bewertung rezitiert wird. 284 BT-Drs. 16/1780, S. 32. 285 F. Biester, jurisPR-ArbR 35/2006 Anm. 6; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 5 mit Hinweis auf LAG Köln, Urt. v. 21. 1. 2009 – 3 Sa 1369/08, BeckRS 58395, das aber keine diese Aussage belegende Passage enthält, sondern nur feststellt, dass das Unterlassen des Hinweises
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
insbesondere auch dann eine tatbestandsmäßige ungünstige Behandlung i. S. v. § 3 I AGG, wenn, wie im Falle der Vertragsverlängerung oder Wiedereinstellung keine rechtliche Verpflichtung zu diesem Handeln besteht.286 Das AGG bezweckt nämlich, Beschäftigte vor Benachteiligungen im Arbeitsleben zu schützen. Integraler Bestandteil des Regelungskomplexes ist, Arbeitnehmer:innen vor Benachteiligungen beim Zugang und beruflichen Aufstieg zu schützen. Diese Lebenssachverhalte sind daher auch der zuerst genannte sachliche Anwendungsbereich des AGG gem. § 2 I Nr. 1 AGG, der eine fast wortlautgetreue Umsetzung des Geltungsbereichs der dem AGG zugrundeliegenden Richtlinien ist.287 Bedingungen für den Zugang zu unselbstständiger Tätigkeit sind nicht nur alle Modalitäten, die mit der erstmaligen Einstellung von Bewerber:innen verbunden sind,288 sondern auch die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse. Auch dabei handelt es sich nämlich um den Zugang zu einem Arbeitsverhältnis: Bisher bestehende Arbeitsverhältnisse enden mit Fristablauf und die Vertragsparteien vereinbaren separat eine Vertragsverlängerung oder Wiedereinstellung auf dem bisherigen Arbeitsplatz.289 Arbeitnehmer:innen, die auf erwünschte Bewerbungen schwerbehinderter Menschen in Stellenanzeigen kein Indiz für eine diskriminierende Nichteinstellung i. R. d. § 22 AGG darstellt; NK ArbR/R. von SteinauSteinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5. Roloff, von Steinau/Steinrück und Schneider widersprechen schließlich ihrer eigenen Position, indem sie kommentarlos anerkennen, dass Vertragsschlüsse und Einstellungsentscheidungen tatbestandsmäßig sind (BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 2 f. und NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5). 286 Ausdrücklich gegen das Erfordernis der Handlungspflicht z. B. BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 25); BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 25; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 35. 287 Art. 3 I lit. a) RL 2000/78/EG, Art. 3 I lit. a) RL 2000/43/EG und Art. 14 I lit. a) RL 2006/54/EG. 288 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 2 AGG Rn. 27; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 2 AGG Rn. 4; ErfK/M. Schlachter, § 2 AGG Rn. 4; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 2 AGG Rn. 3. 289 Die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen ist daher auch keine Entlassung i. S. d.§ 2 I Nr. 2 AGG. Mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis nicht zu erneuern, wird zwar nicht nur der Zugang zu der fortgesetzten Beschäftigung versperrt, sondern spiegelbildlich bestätigt, es bei der bereits vereinbarten Befristung zu belassen und die vertraglichen Beziehungen endgültig zu beenden. Der EuGH hat auch wiederholt betont, dass der Begriff der Entlassung im Bereich der Gleichbehandlung weit auszulegen sei (EuGH, Urt. v. 12. 9. 2013 – C-614/11 (Niederösterreichische Landes-Landwirtschaftskammer/Anneliese Kuso), NZA 2013, 1071, 1073). Neben Kündigungen sind von § 2 I Nr. 2 AGG beispielsweise der Abschluss benachteiligender befristeter Arbeitsverträge (BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970, 971) oder das automatische Ausscheiden von Arbeitnehmer:innen mit Erreichen des Renteneintrittsalters (EuGH, Urt. v. 12. 9. 2013 – C-614/11 (Niederösterreichische Landes-Landwirtschaftskammer/ Anneliese Kuso), NZA 2013, 1071, 1073) erfasst. Von diesen Konstellationen unterscheidet sich die hier betrachtete Konstellation aber in einem grundlegenden Aspekt: Es geht um Fälle, in denen die ursprüngliche Befristungsabrede rechtlich nicht zu beanstanden ist, aber die Erneuerung des Vertrags aus benachteiligenden Gründen unterbleibt. Der für § 2 I AGG relevante Bezugspunkt der Benachteiligung ist also nicht Beendigung des Alt-Arbeitsvertrags, sondern die Nichtbegründung des Anschlussvertrags. Diese Maßnahme wird unproblematisch als Zugangsbedingung gem. § 2 I Nr. 1 AGG erfasst. Dass Arbeitgeber:innen die Beendigungswirkung der Befristungsabrede realisieren, indem sie einen Folgevertrag verweigern, ist bloßer
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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mit Fristablauf ausscheiden werden oder schon ausgeschieden sind, streben mit der Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse also einen erneuten Zugang zu ihrer bisher ausgeübten Tätigkeit an. Damit ist die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse gem. § 2 I Nr. 1 AGG vom sachlichen Schutzbereich des AGG erfasst.290 Es ist insofern folgerichtig, dass der EuGH, das BAG und die herrschende Ansicht in der Literatur sowohl die Nichteinstellung von Bewerber:innen291 als auch die Nichtverlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse292 als ungünstige Behandlungen i. S. v. § 3 I AGG klassifizieren. 2. Unterlassener Vertragsschluss als maßregelndes Verhalten Die Vorenthaltung von Vorteilen, wozu auch der Nichtabschluss oder die Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen gehört, ist nach ganz herrschender Ansicht eine von § 612a BGB293 und § 78 S. 2 BetrVG294 erfasste Maßnahme. Im Kontext von
Rechtsreflex und macht den Beendigungstatbestand selbst nicht benachteiligend. Wegen § 2 I Nr. 1 AGG besteht auch kein Bedürfnis, den beschriebenen Reflex durch eine extensive Auslegung als Entlassungstatbestand i. S. d. § 2 I Nr. 2 AGG zu subsumieren. Damit ist § 2 I Nr. 2 AGG nicht anwendbar (so im Ergebnis auch EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn. 47); BGH, Urt. v. 23. 4. 2012 – II ZR 163/ 10, NZA 2012, 797, 799; J.-H. Bauer/C. Arnold, ZIP 2012, 597, 603). 290 So auch BeckOGK/A. Baumgärtner, § 2 AGG Rn. 27.1; W. Boecken, NZS 2005, 393, 394; ErfK/M. Schlachter, § 2 AGG Rn. 4; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 2 AGG Rn. 3; EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn. 41 ff.) zu Art. 2, 3 der RL 76/207/EWG (RL zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen; BGH, Urt. v. 23. 4. 2012 – II ZR 163/10, NZA 2012, 797, 799 (Rn. 20) zur Wiederanstellung eines Geschäftsführers; BVerwG, Urt. v. 26. 1. 2011 – 8 C 46/09, NZA-RR 2011, 233, 235 (Rn. 26); a. A. nur für die Wiederbestellung von Organpersonen wegen des für sie eingeschränkten sachlichen Geltungsbereichs gem. § 6 III AGG: W. Eßer/C. Baluch, NZG 2007, 321, 329. 291 BAG, Urt. v. 21. 6. 2017 – 8 AZR 73/16, NZA-RR 2017, 342, 343 (Rn. 20); BAG, Urt. v. 15. 12. 2016 – 8 AZR 454/15, NZA 2017, 715, 717 (Rn. 16 f.); BAG, Urt. v. 11. 8. 2016 – 8 AZR 406/14, AP AGG § 15 Nr. 22 (Rn. 45); BAG, Urt. v. 11. 8. 2016 – 8 AZR 4/15, NZA 2017, 310, 314 (Rn. 39); J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 13; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 25; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 10; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/ J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 19. 292 EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn. 27); BAG, v. 20. 6. 2013 – 8 AZR 482/12, NZA 2014, 21, 23 (Rn. 34); BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 26); J.-H. Bauer/S. Krieger/ J. Günther, § 3 AGG Rn. 9; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 25; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 2; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 12; KR/J. Treber, § 3 AGG Rn. 5. 293 BAG, Urt. v. 6. 5. 2013 – 6 AZR 619/11, AP TVUmwBw § 7 Nr. 1 (Rn. 53); BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 34); BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 7; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 9; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 13; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 121.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
§ 78 S. 2 BetrVG folgt dies schon zwingend aus § 78 S. 2 Hs. 2 BetrVG, nach dem jede Behinderung der beruflichen Entwicklung der geschützten Arbeitnehmer:innen verboten ist. Zur beruflichen Entwicklung gehören beispielsweise Beförderungen, die für Arbeitnehmer:innen in der Regel keine geschuldeten Vorteile sind. Auch die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse betrifft die berufliche Entwicklung von Arbeitnehmer:innen i. S. v. § 78 S. 2 Hs. 2 BetrVG295 und ist damit eine von § 78 S. 2 Hs. 2 BetrVG erfasste Maßnahme.296 Dasselbe Ergebnis folgt für § 612a BGB – stellvertretend für alle anderen Maßregelungsverbote – auch ohne ausdrückliche Regelung, und zwar aus seinem Normzweck, Arbeitnehmer:innen zu ermöglichen, „ohne Furcht vor wirtschaftlichen oder sonstigen Repressalien des Arbeitgebers“297 über eine Rechtsausübung entscheiden zu können. Die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen wird nicht nur durch Sanktionen gefährdet, mit denen Arbeitgeber:innen in ihre Rechte eingreifen oder die Erfüllung von Ansprüchen vereiteln. Auch wenn Arbeitgeber:innen einen vertraglich nicht geschuldeten Vorteil aus maßregelnden Gründen vorenthalten, kann dieses Verhalten die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis beeinträchtigen. Die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ist für Arbeitnehmer:innen von so großer finanzieller und persönlicher Bedeutung, dass sie gerade auch ohne rechtlich gesicherte Erwartung einer Vertragsfortsetzung von der Rechtsausübung im laufenden Arbeitsverhältnis absehen würden, dürften Arbeitgeber:innen bei der Fortsetzungsentscheidung zu ihrem Nachteil daran anknüpfen. Der Normzweck von § 612a BGB verlangt also eine Einbeziehung auch von Benachteiligungen durch das Unterlassen nicht geschuldeter Vertragsschlüsse. Diese Sichtweise ist auch mit der Vertragsabschlussfreiheit von Arbeitgeber:innen nach Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses vereinbar: Zwar sind Arbeitgeber:innen nicht dazu verpflichtet, von sich aus eine Vertragsfortsetzung zu erwägen oder gar tatsächlich eine auf die Verlängerung oder Neubegründung eines 294 BAG, Urt. v. 10. 11. 2015 – 3 AZR 574/14, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 74 (Rn. 47); GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 65; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 161; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 75; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 21; a. A. wohl nur Oetker, der für die Annahme einer Benachteiligung verlangt, dass sich der Status quo nachteilig verändert. Die Konsequenz, dass der Nichteintritt eines Vorteils, wie beispielsweise einer Beförderung oder Vertragsverlängerung, nicht erfasst ist, vermeidet Oetker aber durch die umständliche Konstruktion, dass ein noch nicht gewährter Vorteil bereits Bestandteil des Status quo sein könne, wenn bereits eine „rechtlich verfestigte Anwartschaft“ auf seinen Eintritt bestehe, H. Oetker, RdA 1990, 343, 351. 295 Fitting, § 78 BetrVG Rn. 19. 296 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 29); BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 521 (Rn. 47); LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/11, BeckRS 2012, 73706; ArbG Berlin, Urt. v. 1. 9. 2011 – 33 Ca 5877/11, BeckRS 2011, 77524; Fitting, § 78 BetrVG Rn. 19; GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 72; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 24a; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 22. 297 BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 805 f. (Rn. 21).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Arbeitsvertrags gerichtete Willenserklärung abzugeben. Unterlassen sie diesen Vertragsschluss grundlos, üben sie in zulässiger Weise ihre Vertragsabschlussfreiheit aus. Knüpfen sie bei der Entscheidung jedoch an die zulässige Ausübung von Rechten an, übertreten sie damit die Grenzen zulässiger Vertragsfreiheit. Das zugrundeliegende Motiv ist gem. § 612a BGB von der Rechtsordnung missbilligt und die Vertragsfreiheit insofern eingeschränkt. Das BAG beschreibt diese Rechtslage prägnant: „Das ohne den benachteiligenden Beweggrund zulässige Handeln des Arbeitgebers ist wegen des Maßregelungsverbots in § 612a BGB untersagt.“298
II. Persönlicher Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote Neben der Feststellung, dass die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse grundsätzlich ein tatbestandlich relevantes Arbeitgeberverhalten ist, ist erforderlich, dass dieses Verhalten auch in den persönlichen Anwendungsbereich der Verbote fällt, da es gegenüber einer Person vorgenommen wird, die im Zeitpunkt der Maßnahme von den Verboten geschützt wird. Als problematisch wird sich herausstellen, ob auch die Nicht-Wiedereinstellung nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse erfasst ist. Dafür ist in einem ersten Schritt zu untersuchen, wie der Zeitpunkt der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses bestimmt werden kann [1.], bevor die Anwendungsbereiche der einzelnen Verbote untersucht werden [2.]. 1. Zeitpunkt der tatbestandlichen Nichtfortsetzung Es ist problematisch, den Zeitpunkt der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen zu bestimmen, da das Unterlassen einer Maßnahme ein andauernder Zustand ist: Es dauert an, solange Arbeitgeber:innen eine auf die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärung nicht abgeben. Es kann aber jedenfalls der Beginn des tatbestandlichen Unterlassens ermittelt werden, der für die Weichenstellung, ob die Benachteiligung im Arbeitsverhältnis oder danach stattgefunden hat, entscheidend ist. Alle Benachteiligungsverbote setzen tatbestandlich voraus, dass die Nichtfortsetzung aufgrund eines verbotenen Anknüpfungspunkts erfolgt ist.299 Das Unterlassen einer Willenserklärung ist jedenfalls erst dann tatbestandsmäßig, wenn es von einer bestimmten Motivation der Arbeitgeber:innen getragen wird. Allerdings begründet auch die verwerfliche Motivation allein noch keine Benachteiligung; die Benachteiligungsverbote bestrafen kein Gesinnungsunrecht der Arbeitgeber:innen, sondern setzen voraus, dass ihre Entscheidung auch in einer objektiven, für Arbeitnehmer:innen spürbaren Schlechterstellung manifestiert wird. Entscheidend ist mithin, in welchem Moment Arbeitnehmer:innen aufgrund eines Merkmals oder 298 299
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 42). Siehe ausführlich unten 5. Kap. B. I.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Verhaltens schlechter behandelt werden, als sie ohne eine verbotene Anknüpfung behandelt worden wären. Das Unterlassen einer auf die Fortsetzung gerichteten Willenserklärung wird spätestens in dem Zeitpunkt manifest, in dem Arbeitgeber:innen die Abgabe einer solchen Willenserklärung durch Erteilung einer Absage verweigern. Die Benachteiligung kann aber auch unabhängig von einer Absage festgestellt werden: Arbeitnehmer:innen werden in dem Zeitpunkt durch die Nichtabgabe einer Willenserklärung benachteiligt, in dem Arbeitgeber:innen ohne Anknüpfung an ein Merkmal oder Verhalten der Arbeitnehmer:innen die Willenserklärung abgegeben hätten. Wann diese hypothetische Willenserklärung abgegeben worden wäre, ist als Internum der Arbeitgeber:innen nicht ohne weiteres erkennbar. Ein Anhaltspunkt, der von Arbeitnehmer:innen im Rahmen eines Indizienbeweises vorzubringen ist,300 ist beispielsweise der Zeitpunkt der besseren Behandlung vergleichbarer Arbeitnehmer:innen in der Gegenwart oder Vergangenheit.301 Auf diesen Zeitpunkt der hypothetischen Willenserklärung kommt es auch dann an, wenn Arbeitgeber:innen später eine Absage erteilen: Nicht die Absage ist das tatbestandlich relevante Verhalten, sondern die Unterlassung des Vertragsschlusses selbst. Macht eine Arbeitnehmerin beispielsweise geltend, dass ihr Arbeitsverhältnis – anders als die Arbeitsverhältnisse ihrer Kollegen – nicht entfristet wurde, liegt die ungünstige Behandlung im Nichtangebot eines unbefristeten Arbeitsvertrags vor Befristungsende. Teilt der Arbeitgeber der Arbeitnehmerin nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags auf Nachfrage mit, dass keine Entfristung erfolgen sollte, ändert das nichts am Bezugspunkt der ungünstigen Behandlung: Der Nachteil setzt weiterhin am Nichtangebot des Folgearbeitsvertrags zu dem Zeitpunkt an, in dem die vergleichbaren Arbeitnehmer:innen Folgearbeitsverträge angeboten bekommen haben, und nicht an einer späteren Mitteilung hierüber. Die Benachteiligung findet also in dem Zeitpunkt statt, indem Arbeitgeber:innen ohne Anknüpfung an ein von den Benachteiligungsverboten geschütztes Merkmal oder Verhalten eine auf die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärung abgegeben hätten, wenn nicht vorher bereits die Abgabe dieser Willenserklärung durch eine Absage verweigert wurde.
2. Persönlicher Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote a) Persönlicher Anwendungsbereich der Diskriminierungsverbote gem. § 6 AGG Da der deutsche Gesetzgeber arbeits- und zivilrechtliche Antidiskriminierungsvorschriften im AGG bündeln wollte, musste er für den zweiten Abschnitt des Gesetzes, dessen Gegenstand der Schutz des Beschäftigten ist, einen eigenen per300 301
Siehe unten 7. Kap. D. I. 1. a) bb). Siehe dazu ausführlich unten 5. Kap. B. II. und 7. Kap. D. II. 1. c).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
231
sönlichen Anwendungsbereich festlegen. § 7 I AGG verbietet dementsprechend nur die Benachteiligung von „Beschäftigten“. Der Begriff des Beschäftigten selbst ist in § 6 I AGG definiert. Beschäftigte sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (§ 6 I 1 Nr. 1 AGG), die „zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten“ (§ 6 I Nr. 2 AGG) sowie arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter (§ 6 I Nr. 3 AGG). Da sich die vorliegende Untersuchung mit dem befristeten Normalarbeitsverhältnis beschäftigt, ist hier nur Nr. 1 relevant. In § 6 I 2 AGG wird der Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht erweitert: Als Beschäftigte gelten auch Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis sowie Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist. Für das Vorliegen einer verbotenen Benachteiligung i. S. v. § 7 I AGG ist damit entscheidend, ob die benachteiligte Person im Zeitpunkt der Benachteiligung „Beschäftigter“ gem. § 6 I AGG ist. aa) Benachteiligungen im laufenden Arbeitsverhältnis (1) Schutz von Arbeitnehmer:innen im laufenden Arbeitsverhältnis gem. § 6 I 1 Nr. 1 AGG Finden Benachteiligungen im Laufe des Arbeitsverhältnisses statt, erfolgen sie gegenüber Arbeitnehmer:innen i. S. v. § 6 I 1 Nr. 1 AGG.302 Dies gilt unabhängig davon, ob ein unterlassener Folgearbeitsvertrag in direktem Anschluss oder nach zeitlicher Unterbrechung an die Vorbeschäftigung begonnen hätte. (2) Schutz von Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG Als Beschäftigte gelten gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG auch „die Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis“. Das ist konsequent, da der Zugang zu einem Beschäftigungsverhältnis vom sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinien (jeweils Art. 3 I lit. a)) und des AGG (§ 2 I Nr. 1) umfasst ist. Arbeitnehmer:innen können im bestehenden Arbeitsverhältnis zugleich Bewerber:innen sein, wenn sie sich währenddessen auf ihre – direkt im Anschluss oder mit zeitlichem Abstand – wieder zu besetzende Stelle bewerben. Nach Ansicht von Roettekens kann es auf die Eigenschaft als Bewerber:in i. S. v. § 6 I 2 Var. 1 AGG „nach der Systematik“ des AGG aber nie ankommen, wenn die betreffende Person schon in einem Arbeitsverhältnis steht, da die Bewerbung um ein Arbeitsverhältnis gerade das einem Arbeitsverhältnis vorausgehende Anbahnungsverhältnis betreffe.303 Nach dieser Ansicht würden Arbeitnehmer:innen nicht zusätzlich als Bewerber:innen vom AGG geschützt werden, wenn sie sich um einen Folgearbeitsvertrag bewerben. Diese Sichtweise verkennt in ihrer Pauschalität jedoch die Besonderheiten von Folgearbeitsverträgen nach Fristende: Arbeitsplätze werden regelmäßig neu ausgeschrieben mit der Folge, dass befristet beschäftigte 302 303
BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1346 (Rn. 19). T. v. Roetteken, AGG (2021), § 6 AGG Rn. 26l.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Arbeitnehmer:innen im Wettbewerb zu externen Bewerber:innen stehen können. Sie bewerben sich wie Außenstehende erneut um ihren Arbeitsplatz. Werden solche Arbeitnehmer:innen nicht weiterbeschäftigt, taugen als Anknüpfungspunkte einer Benachteiligung daher zwei verschiedene Anknüpfungspunkte: der Vergleich mit anderen Arbeitnehmer:innen, deren Arbeitsverhältnisse fortgesetzt wurden, und mit externen Mitbewerber:innen. Dieser Dualität entsprechend können Arbeitnehmer:innen, die mit externen Bewerber:innen konkurrieren, sowohl als Arbeitnehmer:innen, als auch als Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG geschützt sein. Klärungsbedürftig bleibt nur noch, unter welchen Voraussetzungen Arbeitnehmer:innen als Bewerber:innen gelten. Neben dem allgemeinen Bewerberbegriff des AGG [(a)] könnten auch Besonderheiten der Bewerbungssituation aus dem befristeten Arbeitsverhältnis heraus zu beachten sein [(b)]. (a) Allgemeiner Bewerberbegriff: Formelle Bewerbungssituation Der Schutzumfang im Zusammenhang mit Bewerbungssituationen ist vom Gesetz nicht vorgezeichnet und daher von der Rechtsprechung und Literatur konturiert worden: § 6 I 2 Alt. 1 AGG enthält einen formalen Bewerberbegriff, nach dem Bewerber:in jedenfalls ist, wer eine Bewerbung eingereicht hat.304 Das Bewerbungsverfahren ist ein Auswahlprozess mit dem Ziel, einen Arbeitsvertrag mit einer geeigneten Person abzuschließen. Um potenzielle Bewerber:innen auf eine Beschäftigungsmöglichkeit aufmerksam zu machen und zu Bewerbungen aufzufordern, schreiben Arbeitgeber:innen eine Stelle üblicherweise aus. Interessenten reichen daraufhin ihre Bewerbungen ein, in denen sie ihre Bereitschaft, auf dem Arbeitsplatz eingesetzt zu werden, bekunden305 und ihre Qualifikationen darlegen. Diese Situation kann auch im Kontext der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses auftreten: Arbeitgeber:innen schreiben dieselbe Stelle neu aus und bisher beschäftigte Arbeitnehmer:innen bewerben sich wie Außenstehende erneut darauf. Sie sind Bewerber:innen i. S. d. § 6 I 2 Var. 1 AGG. (b) Besonderheiten der Bewerbungssituation im Kontext der Vertragsfortsetzung Angesichts der bestehenden Vertragshistorie zwischen den Parteien werden Gespräche über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen jedoch oft auch außerhalb einer formellen Ausschreibungssituation stattfinden. Es ist vorstellbar, dass Arbeitnehmer:innen bei Begründung oder während der Laufzeit des befristeten Arbeitsverhältnisses formell oder informell Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bekunden. Entweder geschieht eine solche Interessenbekundung auf eigene Initiative hin oder als Reaktion darauf, dass Arbeitgeber:innen durch eine Erklärung oder sonstiges Verhalten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in 304 BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/14, NZA 2016, 1394, 1402 (Rn. 62); BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737, 738 (Rn. 20); BeckOK ArbR/S. Roloff, § 6 AGG Rn. 2; ErfK/M. Schlachter, § 6 AGG Rn. 3; anders noch zu § 611a BGB a. F. BAG, Urt. v. 12. 11. 1998 – 8 AZR 365/97, NZA 1999, 371, 373. 305 T. v. Roetteken, AGG (2021), § 6 AGG Rn. 26m.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Aussicht stellen. Fraglich ist, ob Arbeitnehmer:innen auch dann Bewerber:innen i. S. d. § 6 I 2 Var. 1 AGG sind. Dass die erstmalige Kontaktaufnahme mit potenziellen Arbeitgeber:innen üblicherweise mit Bezug auf eine Stellenausschreibung stattfindet, ist dem Umstand geschuldet, dass Arbeitsuchende anderenfalls gar nicht wissen, welche Arbeitgeber:innen Beschäftigungsbedarf in ihrem Interessen- und Kompetenzbereich haben. Die Ausschreibung ist aber kein notwendiges Kriterium für den Status als Bewerber:in. Entscheidend ist nur, dass Arbeitgeber:innen die Bewerbung für eine aktuelle oder zukünftige Stellenbesetzung wahrnehmen und nicht ohne Prüfung zurückweisen.306 Nur, wenn Arbeitgeber:innen Handlungen vornehmen, die überhaupt auf die Besetzung einer Stelle gerichtet sind, ist der Zugang zu einem Beschäftigungsverhältnis i. S. v. § 2 I Nr. 1 AGG betroffen und Bewerber:innen vor diskriminierenden Entscheidungen der potenziellen Arbeitgeber:innen zu schützen. Nur die Möglichkeit eines zukünftigen Vertrags rechtfertigt es, Bewerber:innen anders zu behandeln als den Jedermann, dem (insbesondere durch §§ 823 ff. BGB) nur die Beachtung des Prinzips neminem laedere geschuldet wird, und sie aufzunehmen in den Kreis der Vertragspartner gem. § 6 I AGG, denen Arbeitgeber:innen erhöhte Rücksicht schulden („Brückenfunktion des Anbahnungsverhältnisses“).307 Der Schutz als Bewerber:in für ein Beschäftigungsverhältnis i. S. v. § 6 I 2 Var. 1 AGG setzt also voraus, dass eine Stellenbesetzung überhaupt im Raum steht. Unter diesen Voraussetzungen ist die Interessenlage dieselbe wie bei einer vorherigen Ausschreibung. Bekunden befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen ihr Interesse an einer Wiedereinstellung, können sie unabhängig von einer Ausschreibung Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG sein, wenn Arbeitgeber:innen die Bewerbung zur Kenntnis nehmen und die Stelle später tatsächlich neu besetzen möchten. Da sich Arbeitgeber:innen und Bewerber:innen bei Bewerbungen um eine Vertragsfortsetzung bereits kennen, ist außerdem fraglich, welche Anforderungen an die Qualität der Bewerbung zu stellen sind: Müssen bisherige Arbeitnehmer:innen ein formelles Bewerbungsschreiben einreichen oder genügen informelle Interessensbekundungen? Ausgangspunkt der Überlegungen muss erneut sein, dass § 2 I Nr. 1 AGG sowie Art. 3 lit. a) der RL 2000/43/EG und RL 2000/78/EG den Zugang zu unselbstständiger Tätigkeit schützen. Bewerber:innen müssen ihre Bewerbung daher so kommuniziert und gestaltet haben, dass Arbeitgeber:innen sie in eine Stellenbesetzungsentscheidung einbeziehen und berücksichtigen oder dies bei benachteiligungsfreiem Verhalten tun würden. Diese Anforderungen sind dann erfüllt, wenn Arbeitgeber:innen die informelle Interessensbekundung von Arbeitnehmer:innen nach dem objektiven Empfängerhorizont gem. §§ 133, 157 BGB ernst nehmen, also als Angebot der eigenen Arbeitsleistung nach Fristende auffassen und Arbeitneh306
So im Ergebnis auch J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 6 AGG Rn. 12a; BeckOGK/ M. Benecke, § 6 AGG Rn. 42; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 6 AGG Rn. 11. 307 R. Wank, in: FS Richardi (2007), Von ungeeigneten Bewerbern und schwangeren Bewerberinnen, S. 441, 442 f.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
mer:innen daher bei der Wiederbesetzung berücksichtigen mussten. Für die Ernsthaftigkeit der Bewerbung spricht insbesondere, wenn Arbeitnehmer:innen die Erklärung gegenüber einer personalverantwortlichen Person abgegeben haben, ein hinreichender zeitlicher Zusammenhang zwischen der Äußerung und der Wiedereinstellung besteht und Arbeitnehmer:innen nach den unternehmerischen Gepflogenheiten von einer Berücksichtigung ihrer informellen Bewerbung ausgehen durften. Letzteres kann beispielsweise dann abzulehnen sein, wenn Bewerbungsverfahren in einem gesonderten, ggf. teilweise automatisierten Verfahren, stattfinden und für Arbeitnehmer:innen erkennbar ist, dass sie sich wie Außenstehende formell bewerben müssen. Haben Arbeitgeber:innen den Arbeitnehmer:innen bei Abschluss oder während des befristeten Arbeitsvertrags eine Fortsetzung in Aussicht gestellt, also einen Vertrauenstatbestand ohne die Qualität einer rechtsgeschäftlichen Zusage gesetzt, können die Anforderungen an die Ausdrücklichkeit der Interessensbekundung weiter abgesenkt sein: Vertrauen Arbeitnehmer:innen für Arbeitgeber:innen erkennbar auf die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse, müssen vernünftige Arbeitgeber:innen dieses Verhalten als Interessenbekundung und fortbestehendes Angebot der Arbeitsleistung verstehen. Voraussetzung wird auch hier wieder sein, dass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Arbeitnehmer:innen und der Vertragsfortsetzung besteht. bb) Benachteiligungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse (1) Schutz ehemaliger Arbeitnehmer:innen gem. § 6 I 2 Var. 2 AGG Entscheiden Arbeitgeber:innen erst nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse über eine Wiedereinstellung ehemaliger Arbeitnehmer:innen (z. B. in Saisonbetrieben), ist fraglich, ob sie dabei § 7 AGG beachten müssen, da § 6 I 2 Var. 2 AGG auch Personen schützt, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist. Nach unbefangener Lesart fällt jeder ehemals Beschäftigte unter § 6 I 2 Var. 2 AGG mit der Folge, dass § 7 I AGG anwendbar ist. Ein derart weites Verständnis der Norm entspricht jedoch nicht dem Schutzzweck des AGG, Benachteiligungen im Zusammenhang mit Beschäftigungsverhältnissen zu verhindern. § 6 I 2 Var. 2 AGG soll lediglich klarstellen, dass Benachteiligungen verboten sind, die im Beschäftigungsverhältnis wurzeln, aber sich erst nach seiner Beendigung auswirken.308 Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers ist § 6 I 2 Var. 2 AGG dementsprechend auf Personen zu beschränken, „deren Beschäftigungsverhältnis bereits beendet ist, bei denen aber noch nachwirkende Folgen wie z. B. bei der betrieblichen Altersvorsorge eintreten können.“309 Der Schutz für ehemalige Beschäftigte reicht nur so weit wie die nachwirkenden Beziehungen aus dem Arbeitsverhältnis.310 Eine Benachteiligung ist daher nur in Bezug auf die nachwirkenden Folgen des ehemaligen Beschäfti308 309 310
DHSW/P. Berg, § 6 AGG Rn. 6. BT Drs. 16/1780, 34. BeckOGK/M. Benecke, § 6 AGG Rn. 52; ErfK/M. Schlachter, § 6 AGG Rn. 4.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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gungsverhältnisses verboten. Als nachwirkende Folgen nennt das Schrifttum den Zeugnisanspruch, Geheimhaltungspflichten, nachvertragliche Wettbewerbsverbote, Ansprüche aus Sozialplänen und Interessenausgleichen und betriebliche Leistungen an ausgeschiedene Beschäftigte (z. B. Vergünstigungen und Teilnahme an Weihnachtsfeiern).311 Entscheidend ist damit, ob sich aus einem befristeten Arbeitsverhältnis die nachvertragliche Pflicht ergibt, ehemalige Arbeitnehmer:innen bei der Wiederbesetzung von Arbeitsplätzen zu berücksichtigen. Diese Pflicht müsste dann wegen § 6 I 2 Var. 2 AGG diskriminierungsfrei ausgeübt werden. Dass eine gewisse Sonderrechtsbeziehung zwischen den Parteien eines Vertrags auch nach seiner Beendigung besteht, ist seit der Mitte des letzten Jahrhunderts einhellige Ansicht:312 Gemäß § 362 I BGB erlöschen durch Vertragserfüllung regelmäßig nur die konkreten Hauptleistungspflichten, während Nebenpflichten der Parteien post contractum finitum fortexistieren.313 Eine Pflicht zur Berücksichtigung von Arbeitnehmer:innen für eine Wiedereinstellung könnte Ausdruck einer Nebenpflicht der Arbeitgeber:innen gem. §§ 241 II, 242 BGB sein, auf die berechtigten Interessen der Arbeitnehmer:innen Rücksicht zu nehmen [(a)], die nach Ende des Arbeitsverhältnis fortwirkt [(b)].314 (a) Inhalt der Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 241 II, 242 BGB Arbeitgeber:innen müssen aufgrund ihrer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht aus § 241 II BGB auf die Rechte und Interessen ihrer Arbeitnehmer:innen Rücksicht nehmen.315 Im Kontext des Wiedereinstellungsanspruchs nach wirksamer Kündigung haben das BAG sowie große Teile der Literatur die Rücksichtnahmepflicht dahingehend konkretisiert, dass Arbeitgeber:innen insbesondere auf die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen Rücksicht nehmen müssen.316 Diese Ausprägung der Rücksichtnahmepflicht kann im befristeten Arbeitsverhältnis jedoch nicht fruchtbar gemacht werden. Der Inhalt des Schuldverhältnisses, der gem. § 241 II BGB den Umfang der Rücksichtnahmepflichten definiert, ist nämlich ein anderer. 311 So z. B. J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 6 AGG Rn. 14; BeckOGK/M. Benecke, § 6 AGG Rn. 53; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 6 AGG Rn. 12; NK ArbR/R. von SteinauSteinrück/V. Schneider, § 6 AGG Rn. 4; siehe auch die Aufzählung in BAG, Urt. v. 24. 11. 1956 – 2 AZR 345/56, (juris) Rn. 6. 312 Z. B. BGH, Urt. v. 13. 7. 1956 – VI ZR 88/55, NJW 1956, 1513; BAG, Urt. v. 14. 12. 1956 – 1 AZR 29/55, NJW 1957, 764; ders., RdA 1957, 361; H. Mohnen, RdA 1957, 405. 313 C. Herresthal, in: GS Unberath (2015), Nachwirkende Leistungstreue- und Rücksichtnahmepflichten, S. 179, 180. 314 So argumentierten auch der BGH (BGH, Urt. v. 13. 7. 1956 – VI ZR 88/55, NJW 1956, 1513) und das BAG (BAG, Urt. v. 14. 12. 1956 – 1 AZR 29/55, NJW 1957, 764) unter dem damaligen Begriff der nachwirkenden „Fürsorgepflicht“ von Arbeitgeber:innen. Daraus leiteten sie einen Wiedereinstellungsanspruch gekündigter Arbeitnehmer:innen ab. 315 Statt aller: BAG, Urt. v. 4. 10. 2005 – 9 AZR 598/04, NZA 2006, 545, 549 (Rn. 57). 316 Siehe oben 1. Kap. C. III. 1. b) bb).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Arbeitgeber:innen müssen das Interesse der Arbeitnehmer:innen daran, ihren Arbeitsplatz über das Fristende hinaus innezuhalten, schon während des Arbeitsverhältnisses nicht berücksichtigen. Es wurde oben ausführlich herausgearbeitet, dass Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis abschließend bei Vereinbarung der Befristungsabrede gegen das Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber:innen abgewogen werden.317 Ist eine Befristung wirksam vereinbart worden, dürfen Arbeitnehmer:innen nicht mit einer Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse über den Fristablauf hinaus rechnen. Sie können die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse bei Wegfall des sachlichen Grundes der Befristungsabrede oder aus erwecktem Vertrauen unterhalb der Schwelle einer rechtsgeschäftlichen Fortsetzungszusage nicht beanspruchen. Spiegelbildlich sind Arbeitgeber:innen frei in ihrer Entscheidung, wie sie nach Befristungsende mit dem Arbeitsplatz verfahren möchten. Eine Auslegung der Rücksichtnahmepflicht im laufenden Arbeitsverhältnis gem. §§ 241 II, 242 BGB anhand der widerstreitenden Interessen der Vertragsparteien – der Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen einerseits und dem Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen andererseits – ergibt damit, dass Arbeitgeber:innen nicht dazu verpflichtet sind, das Interesse der Arbeitnehmer:innen an einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen.318 (b) Nachwirkende Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 241 II, 242 BGB Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht nach Ende des Vertrags: Auch Inhalt und Reichweite nachvertraglicher Pflichten sind gem. § 241 II BGB anhand des Vertragsinhalts zu bestimmen.319 Herresthal bezeichnet diesen Zusammenhang als „pflichtenprägende und pflichtenbegrenzende Wirkung der vertraglichen Abrede.“320 Nachvertragliche Pflichten reichen danach grundsätzlich nicht weiter als die vertraglichen Pflichten; insbesondere dürfen sie nicht den Pflichteninhalt nachträglich erweitern oder die Risikoverteilung ändern.321 Im Gegenteil: Es geht gerade nicht um die Aufrechterhaltung eines beendeten Schuldverhältnisses, sondern nur um seine interessengerechte Abwicklung. In der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur ist man sich darüber einig, dass nachwirkende Rücksichtnahmepflichten der Arbeitgeber:innen schwache „Restbestände“322 sind, die „endbezogen“323 auf die Abwicklung von Arbeitsverhältnissen gerichtet seien und aufgrund
317
Siehe oben 1. Kap. D. II. 1. b). So schon BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/59, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16. 319 T. Bodewig, JURA 2005, 505, 509. 320 C. Herresthal, in: GS Unberath (2015), Nachwirkende Leistungstreue- und Rücksichtnahmepflichten, S. 179, 187. 321 C. Herresthal, in: GS Unberath (2015), Nachwirkende Leistungstreue- und Rücksichtnahmepflichten, S. 179, 187, 193 f., 198, 200. 322 K. Larenz, Anm. BAG AP § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 4. 323 BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 304. 318
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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ihres „zeitlichen Verblassens“324 einer Pflicht zur Wiedereinstellung, die letztlich auf die Erfüllung von Hauptpflichten des Arbeitsverhältnisses gerichtet ist, diametral entgegenstehen.325 Also: Wenn schon in befristeten Arbeitsverhältnissen keine Rücksichtnahmepflicht mit dem Inhalt besteht, die Interessen von Arbeitnehmer:innen an einer Vertragsfortsetzung zu berücksichtigen, besteht diese Pflicht erst Recht nicht als nachwirkende Pflicht nach Ablauf der Arbeitsverhältnisse.326 Damit findet eine (diskriminierende) Wiedereinstellungsentscheidung nach Fristablauf nicht gegenüber Beschäftigten i. S. v. § 6 I 2 Var. 2 AGG statt. (2) Schutz von Bewerber:innen gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG Ein Schutz ehemaliger Arbeitnehmer:innen kann sich in solchen Fällen aber aus den Vorwirkungen des neuen Arbeitsverhältnisses ergeben, wenn Arbeitnehmer:innen diesbezüglich Bewerber:innen i. S. v. § 6 I 2 Var. 1 AGG sind. Die Anforderungen entsprechen denjenigen bei einer Bewerbung im bestehenden Arbeitsverhältnis. Insbesondere kann eine Bewerbung auch außerhalb einer Stellenausschreibungssituation stattfinden oder durch informelle Interessenbekundungen während des abgelaufenen Arbeitsverhältnisses geschehen. Für die Einzelheiten wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. cc) Ergebnis: Schutz befristeter beschäftigter Arbeitnehmer:innen als Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen Entscheiden Arbeitgeber:innen während der Laufzeit befristeter Arbeitsverhältnisse über ihre Fortsetzung, werden Beschäftigte als Arbeitnehmer:innen (§ 6 I Nr. 1 AGG) oder unter zusätzlichen Voraussetzungen als Bewerber:innen (§ 6 I 2 Var. 1 AGG) vor Diskriminierungen geschützt. Die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte sind insbesondere relevant für die Festlegung der Vergleichsgruppe im Rahmen der unmittelbaren Benachteiligung. Entscheiden Arbeitgeber:innen nach Ablauf be324
BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 304. BAG, Urt. v. 19. 10. 2017 – 8 AZR 845/15, NZA 2018, 436, 437 (Rn. 15); BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 303 (Rn. 34); BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1100; D. Boewer, NZA 1999, 1177, 1177; D. Kaiser, ZfA 2000, 205, 220; K. Larenz, Anm. BAG AP § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 4; H. Mohnen, RdA 1957, 361, 368; ders., RdA 1957, 405, 406 f.; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 649; T. Raab, RdA 2000, 147, 149; O. Ricken, NZA 1998, 460, 463; J. vom Stein, RdA 1991, 85, 90; ders., in: FS Willemsen (2018), Wiedereinstellungsanspruch bei ungeplantem Betriebsübergang, S. 575, 581; C. von Bar, AcP 179 (1979), 452, 473; R. Wank, Anmerkung zu BAG AP § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl Nr. 2. 326 So sehr ähnlich schon BAG, Beschl. v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/59, AP BGB § 620 Befristeter Arbeitsvertrag Nr. 16: „Auch aus dem Gesichtspunkt der nachwirkenden Fürsorgepflicht ist es nicht möglich, dem Arbeitgeber eine Pflicht zur Weiterbeschäftigung der schwangeren Arbeitnehmerin aufzuerlegen. Eine solche Fürsorgepflicht müßte zum Inhalt haben, trotz des durch Zeitablauf endenden Arbeitsverhältnisses die Arbeitnehmerin weiterzubeschäftigen, mit ihr also eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu vereinbaren. Die Fürsorgepflicht besteht jedoch nur im Rahmen des abgeschlossenen Arbeitsvertrages.“ 325
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
fristeter Arbeitsverhältnisse, sind sie gem. § 6 I 2 Var. 1 AGG nur gegenüber ehemaligen Arbeitnehmer:innen zu diskriminierungsfreiem Verhalten verpflichtet, die sich um ihre Arbeitsplätze erneut beworben haben. b) Persönlicher Anwendungsbereich von § 612a BGB aa) Benachteiligungen im laufenden Arbeitsverhältnis Nach seinem Wortlaut verbietet § 612a BGB, dass Arbeitgeber:innen „einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme“ benachteiligen, „weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt.“ Die Norm erfasst also jedenfalls Fälle, in denen die Rechtsausübung und die Maßregelung im laufenden Arbeitsverhältnis stattfinden. bb) Benachteiligungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse Der Wortlaut von § 612a BGB erfasst nicht die Konstellation, dass Benachteiligungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse stattfinden. In diesem Fall wird nämlich nicht ein „Arbeitnehmer“ bei einer Vereinbarung oder Maßnahme benachteiligt, sondern ein ehemaliger Arbeitnehmer und ggf. potenzieller Bewerber um einen Folgearbeitsvertrag. Es ist unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen § 612a BGB über seinen Wortlaut hinaus zeitlich zu erstrecken ist. Einig ist man sich darin, dass die Vorschrift zwingend eine Rechtsausübung im Arbeitsverhältnis voraussetzt und nicht auf Rechtsausübungen im Anbahnungsverhältnis anwendbar ist, weil Bewerber:innen noch keine Arbeitnehmer:innen sind.327 Diese Betrachtung entspricht dem Zweck der Norm, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte zu schützen und damit den Gefahren des Arbeitsverhältnisses als einem wechselseitigen Dauerschuldverhältnis mit persönlicher Abhängigkeit zu begegnen. Noch nicht untersucht wurde jedoch, ob Benachteiligungen nach Beendigung befristeter Arbeitsverhältnisse verbotene Maßregelungen sind, wenn Arbeitgeber:innen damit an die Rechtsausübung von Arbeitnehmer:innen im Laufe des Arbeitsverhältnisses anknüpfen. Es kommt eine Erstreckung des persönlichen Anwendungsbereichs der Norm über seine Wortlautgrenze hinaus im Wege der Rechtsfortbildung in Betracht. (1) Methodische Grundlagen: Maßstäbe einer Rechtsfortbildung Grundsätzlich bestimmt der demokratisch legitimierte Gesetzgeber als politischer Entscheidungsträger die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer gesetzlichen Re327
BAG, Urt. v. 15. 11. 2012 – 6 AZR 339/11, NZA 2013, 429, 431 (Rn. 13); NK ArbR/ W. Boecken, § 612a BGB Rn. 6; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 3; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 3; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 4; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 4; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 163.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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gelung selbst und abschließend durch den Normtext. Gerichte sind jedoch zur Rechtsfortbildung, insbesondere zur Anwendung einer Norm über ihre Wortlautgrenze hinaus befugt, wenn sie damit eine Regelungslücke im Gesetz schließen.328 Als Regelungslücke wird nach der gängigen, von Canaris entwickelten Definition „eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts […] gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“329 verstanden. Neben die Tatsachenfeststellung, dass das positive Recht für den zu entscheidenden Fall keine Regelung enthält, tritt also das Werturteil, dass der Fall in einer ideal gedachten Konzeption geregelt sein sollte.330 Da Gerichte aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes Rechtsfortbildung nicht nutzen dürfen, indem sie „ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen, […] dürfen [sie] sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren.“331 Eine Lücke ist also anhand der dem Gesetz oder der Norm zugrunde liegenden Regelungskonzeption festzustellen. Die Unvollständigkeit einer Norm ist dann planwidrig, wenn sie der „eigenen Absicht und immanenten Teleologie“ des Gesetzes widerspricht, da die Norm ohne die Ergänzung ihre ratio legis verfehlt oder die Erweiterung geboten ist, da die aus dem Sinn und Zweck der Norm abstrahierte Wertung gleichermaßen für einen parallel gelagerten Sachverhalt gültig ist.332 Teil der Gesamtrechtsordnung ist also neben den hinter den Normen stehenden Wertungen auch der Gleichheitssatz.333 Die Annahmen fußen auf der Prämisse, dass das Recht systemgerecht ist, mit einem Gesetz also eine kohärente und konsequente Regelung verfolgt wird.334 Unter diesen Voraussetzungen kann dem Gesetzgeber unterstellt werden, dass er die Regelung auch für den vergleichbaren, nicht geregelten Sachverhalt vorgesehen hätte, hätte er diesen vor Augen gehabt.335 Je nach Blickwinkel kann zur Ermittlung des Regelungsziels einer Norm mit Larenz und Canaris primär mit „objektiv-teleologischen Kriterien“336 operiert 328 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Rechtsfortbildung durch Gerichte siehe grundlegend BVerfG, Beschl. v. 14. 2. 1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221, 1225 und jüngst BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 73). 329 C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 39. 330 C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 16; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 522. 331 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 73). 332 Vgl. C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 71 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1969), S. 360. 333 C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 88. 334 Vgl. R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (2017), S. 85. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 54. 335 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 546. 336 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1969), S. 360.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
werden oder wie Rüthers nach dem tatsächlichen Regelungswillen des Gesetzgebers gefragt werden.337 Hinter dieser Uneinheitlichkeit verbirgt sich die Frage, ob Gesetze anhand des tatsächlichen oder eines in der Norm manifestierten objektivierten gesetzgeberischen Willens auszulegen sind. Dieses rechtstheoretische Grundproblem kann hier nicht diskutiert werden. Es wird im Folgenden stattdessen die aktuelle Rechtsprechung des BVerfG Bezug zugrunde gelegt, nach der „für die die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption im Gesetz zugrunde liegt, […] neben Wortlaut und Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu[kommt].“ Denn: „Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mitbestimmt. Jedenfalls darf der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht übergangen oder verfälscht werden. So verwirklicht sich auch die in Art. 20 III und Art. 97 I G vorgegebene Bindung der Gerichte an das ,Gesetz‘, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers, dessen Erwägungen zumindest teilweise in den Materialien dokumentiert sind.“338
Als für die Ermittlung der Regelungskonzeption relevante Materialien nennt das Gericht die unverändert verabschiedete Begründung eines Gesetzesentwurfs, die Stellungnahmen von Bundesrat und Bundesregierung sowie die Stellungnahmen, Empfehlungen und Berichte von Ausschüssen.339 Im Unterschied zu seiner früheren Rechtsprechung betont das Gericht, dass die Regelungsabsicht des Gesetzgebers eine Rechtsfortbildung begrenzt, und zwar auch ohne, dass sie im Wortlaut der betreffenden Norm zum Ausdruck gekommen sein muss.340 Ist eine Norm nach ihrer insbesondere unter Rückgriff auf die Materialien festgestellten Regelungskonzeption planwidrig unvollständig, ist die Lücke durch die Gerichte zu schließen. Ein Mittel der Lückenschließung ist der Analogieschluss, also die Erstreckung der Norm auf einen nicht geregelten Sachverhalt, dessen Gemeinsamkeiten mit dem geregelten Fall für die rechtliche Bewertung nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift wesentlich und dessen Unterschiede dafür unwesentlich
337
B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 445. BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 74 f.). 339 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 74). 340 Ähnlich BVerfG, Beschl. v. 22. 3. 2018 – 2 BvR 780/16, NJW 2018, 1935, 1950 (Rn. 150): „Ein Normverständnis, das im Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers steht, kann auch im Wege der verfassungskonformen Auslegung nicht begründet werden. Eine verfassungskonforme Auslegung scheidet auch aus, wenn der Vorschrift ein vom Gesetzgeber gewollter und hinreichend bestimmter Regelungsgehalt nicht zu entnehmen ist“ (Hervorhebung der Verf.); anders noch, indem Wortlaut und Regelungsabsicht als kumulative Grenzen der Rechtsfortbildung identifiziert wurden: BVerfG, Beschl. v. 14. 6. 2007 – 2 BvR 1447/05; 2 BvR 136/05, NJW 2007, 2977, 2982 (Rn. 121); BVerfG, Beschl. v. 26. 9. 2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669, 671 (Rn. 56); BVerfG, Beschl. v. 23. 5. 2016 – 1 BvR 2230/15; 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1370 (Rn. 49). 338
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
241
sind.341 Ist die Einbeziehung des vergleichbaren Sachverhalts schon nach dem Normzweck selbst geboten, da die Norm das mit ihr verfolgte Regelungsziel sonst nicht vollständig erfüllt, spricht man von einer teleologischen Extension.342 (2) Anwendung der Maßstäbe: Rechtsfortbildung von § 612a BGB § 612a BGB könnte so fortzubilden sein, dass auch Benachteiligungen nach Beendigung von Arbeitsverhältnissen verboten sind, wenn sie an eine zulässige Rechtsausübung der Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis anknüpfen. Voraussetzungen sind nach dem Obenstehenden eine Regelungslücke sowie die Vergleichbarkeit der Interessenlage mit der gesetzlich geregelten. (a) Feststellung einer Regelungslücke (aa) Zurückbleiben des Normtextes hinter dem Normzweck Die Lückenhaftigkeit des § 612a BGB könnte sich daraus ergeben, dass die Norm ohne eine Einbeziehung von Benachteiligungen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ihre ratio legis verfehlt. Die ratio legis der Norm ist insbesondere anhand ihrer Gesetzesmaterialien zu ermitteln. § 612a BGB wurde gemeinsam mit § 611a BGB a. F., der erstmals ein geschlechterbezogenes Benachteiligungsverbot im Privatrecht normierte, eingeführt. Diese rechtspolitisch stark umstrittene Regelung hat das Maßregelungsgebot in den Gesetzesmaterialien weitgehend in den Schatten gestellt. Die ausführlichste Stellungnahme zu § 612a BGB enthält der Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Dort steht: „Das Maßregelungsverbot ist ein besonderes Benachteiligungsverbot, wonach ein Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden darf, weil er in zulässiger Weise seine Rechte ausgeübt hat. Dieses ,selbstverständliche‘ Maßregelungsverbot hat für den Arbeitsalltag große Bedeutung. Es wurde in Artikel 7 der Richtlinie vom 9. Februar 1976 und in Artikel 5 der Richtlinie vom 10. Februar 1975 nur für den Fall der Kündigung aufgenommen. Da aber auch andere, ebenso ungerechtfertigte Maßregelungen denkbar sind, erfaßt die Vorschrift auch diese Fälle. […] Praktisch ergibt sich ein solches Maßregelungsverbot für die von diesen Gesetzen erfaßten Arbeitnehmer schon aus dem Ku¨ ndigungsschutzgesetz und aus der Regelung des § 84 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz, wonach dem Arbeitnehmer aus der
341 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 546. Sofern die Lücke selbst erst durch die Vergleichbarkeit eines nicht normierten mit einem normierten Sachverhalt in allen wesentlichen Punkten festgestellt wurde, kommt der Analogiebildung selbst neben der Lückenfeststellung kein eigener Wertungsgehalt zu (C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 71 f.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1969), S. 363). 342 Nach B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 553 ist die teleologische Extension ein Unterfall der Analogie, während C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 90 und K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1969), S. 376 zwischen diesen beiden Arten der Lückenschließung differenzieren. Diese Unterscheidung hat jedoch kaum praktische Konsequenzen.
242
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Erhebung einer Beschwerde keine Nachteile entstehen dürfen. Diese Rechtslage soll durch die neue Vorschrift verdeutlicht und zugleich allgemein geregelt werden.“343 Und: „Schließlich wird dem Arbeitgeber untersagt, einen Arbeitnehmer in irgendeiner Form zu benachteiligen, weil dieser sich auf seine ihm zustehenden Rechte beruft und diese geltend macht.344
Mit der Formulierung von § 612a BGB hat sich die Regierung von dem unionsrechtlich zwingend vorgeschriebenen Mindestgehalt des Maßregelungsverbots gelöst und ein allgemeines Verbot der Maßregelung normiert, das alle ungerechtfertigten Maßregelungen in irgendeiner Form erfassen soll. Der Bundesrat hat sich in einer Stellungnahme gegen die Einführung des § 612a BGB ausgesprochen: Das Maßregelungsverbot folge „als ,selbstverständlich‘ bereits aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen.“345 Welche allgemeine Rechtsgrundsätze gemeint sind, erklärt der Bundesrat nicht. Die Bundesregierung hat die Einwände des Bundesrates zurückgewiesen. Eine Normierung sei „zur Verdeutlichung der Rechtslage und zur Gewinnung von Rechtsklarheit durchaus geboten“ und erstrecke das Maßregelungsverbot ja gerade auch auf Maßregelungen, die nicht durch das KSchG oder § 84 III BetrVG erfasst werden.346 Diese Einschätzung hat der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung geteilt und sich in seiner Beschlussempfehlung für eine Einführung des § 612a BGB ausgesprochen, da dieser zur „Festigung der Rechtsstellung der Arbeitnehmer […] jede Kündigung oder Benachteiligung deswegen, weil der betroffene Arbeitnehmer sich in zula¨ ssiger Weise seiner Rechte bedient hat, ausschließt“.347 In den Gesetzgebungsmaterialien ist also der Wille aller am Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe dokumentiert, dass jede Form der Maßregelung eines Arbeitnehmers verboten sein soll.348 Die Gründe für diesen vollständigen Schutz nennen die am Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe nicht explizit. Es wird stattdessen auf die „Selbstverständlichkeit“ der Erstreckung des § 612a BGB auf alle Formen der Benachteiligung verwiesen. Es kann an dieser Stelle auf die Interpretation des Schutzzwecks durch das BAG und die ganz h. L. zurückgegriffen werden: Danach soll mit Maßregelungsverboten gewährleistet werden, dass Arbeitnehmer:innen die Entscheidung, ein Recht auszuüben, „ohne Furcht vor wirtschaftlichen oder sonstigen Repressalien des Arbeitgebers treffen können.“349 Für den Anwen343
BT-Drs. 8/3317, S. 10. BT-Drs. 8/3317, S. 7. 345 BT-Drs. 8/3317, S. 14. 346 BT-Drs. 8/3317, S. 16. 347 BT-Drs. 8/4259, S. 8. 348 Auch der Bundesrat teilt diese Ansicht. Gegen eine Einführung des § 612a BGB spricht er sich nur aus, da er die Norm aufgrund bereits existierender allgemeiner Rechtsgrundsätze für obsolet hält. 349 BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 805 f. (Rn. 21). 344
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
243
dungsbereich des § 612a BGB ist im Hinblick auf seinen Regelungszweck entscheidend, dass die Willensfreiheit des Arbeitnehmers im Laufe des Arbeitsverhältnisses geschützt wird. Diese Willensfreiheit wird aber durch Sanktionen im wie nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses gefährdet. Ein Teil der Literatur weist ausdrücklich darauf hin, dass § 612a BGB daher Maßregelungen betreffend nachwirkenden Rechten und Pflichten der Parteien, wie beispielsweise der Verweigerung der Zeugniserteilung, verbiete.350 Wie oben ausführlich geprüft wurde, gibt es nach Beendigung des befristeten Arbeitsverhältnisses aber keine nachvertragliche Pflicht von Arbeitgeber:innen, eine Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen zu erwägen, die sie durch Anknüpfung an eine zulässige Rechtsausübung maßregelnd ausüben könnten.351 Eine Einschränkung auf nachwirkende Rechte und Pflichten entspricht aber auch nicht dem Schutzzweck des § 612a BGB: Auch wenn sich eine Maßregelung nicht auf nachwirkende Rechte und Pflichten der Parteien bezieht, sondern in der Vorenthaltung vertraglich nicht geschuldeter Vorteile liegt, kann deren maßregelnde Vorenthaltung das Verhalten von Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis beeinflussen. Der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags ist für befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen typischerweise von so großer finanzieller und persönlicher Bedeutung, dass ihre Entscheidungsfreiheit, im Arbeitsverhältnis bestimmte Rechte auszuüben, beeinträchtigt wäre, dürften Arbeitgeber:innen bei der Wiedereinstellungsentscheidung daran anknüpfen. Für den Schutz der Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis spielt es keine Rolle, ob Arbeitgeber:innen ihre Entscheidung, das Arbeitsverhältnisses fortzusetzen oder nicht, im oder nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses maßregelnd ausüben: In beiden Fällen sind Arbeitnehmer:innen an der Ausübung ihnen zustehender Rechte gleichermaßen gehemmt, wenn Arbeitgeber:innen die Fortsetzungsentscheidung zur Sanktionierung vorangegangene Rechtsausübung betätigen dürften. Die freie Ausübung von Rechten wird im besonders prekären befristeten Arbeitsverhältnis also nur dann gewährleistet, wenn auch eine Benachteiligung nach Fristablauf von § 612a BGB erfasst und verboten wird. Vor diesem Hintergrund entspricht die in den Gesetzgebungsmaterialien dokumentierte Entscheidung der Organe, Maßregelungen jeglicher Art verbieten zu wollen, dem Regelungszweck der Vorschrift. Ohne die Einbeziehung von Benachteiligungen nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses bleibt die Norm hinter ihrer ratio legis zurück. (bb) Keine bewusste Nichtregelung des Gesetzgebers Auch wenn der Normtext hinter dem Normzweck zurückbleibt, ist die Regelung dann nicht lückenhaft, wenn die Unvollständigkeit dem Gesetzgeber bewusst war. 350
So jeweils ohne Auseinandersetzung mit dem insoweit zu engen Wortlaut des § 612a BGB: BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 10; K. Gamillscheg, in: AR-Blattei SD, 1183: Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) Rn. 9; DHSW/B. Kraushaar, § 612a BGB Rn. 4; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 4; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 162 f. 351 Siehe ausführlich oben 5. Kap. A. II. 2. a) bb) (1) (a).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Die Feststellung einer Lücke setzt stets voraus, dass die Unvollständigkeit keine Entscheidung des Gesetzgebers war, sondern er eine regelungsbedürftige Frage übersehen hat.352 Da der Gesetzgeber ausweislich der Materialien jede Benachteiligung verbieten wollte, müsste die Annahme einer bewussten Nichtregelung gerade der Maßregelung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf hinreichende Indizien zu stützen sein. Ein solches Indiz könnte sein, dass der Gesetzgeber gleichzeitig mit § 612a BGB das Verbot geschlechtsbezogener Benachteiligung in § 611a BGB a. F. eingeführt hat und in § 611a I BGB a. F. eine Benachteiligung „insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses“ verboten hat. In § 611a II, III BGB a. F. wurden die Rechtsfolgen einer benachteiligenden Nichteinstellung präzisiert und in § 611a IV BGB a. F. eine Frist für die Geltendmachung der nach § 611a II, III BGB a. F. bestehenden Ansprüche eingeführt. Aus einem Vergleich mit § 611a BGB a. F. könnte der systematische Umkehrschluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber auch bei § 612a BGB die maßregelnde Nicht(wieder)einstellung explizit geregelt hätte, hätte er diese erfassen wollen. Die Formulierung in § 612a BGB, dass ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht benachteiligen dürfe, könnte gerade darauf hinweisen, dass Benachteiligungen gegenüber Bewerber:innen nicht erfasst sein sollen. Diese Überlegungen werden durch die Materialien aber nicht gestützt: Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber die Anbahnungssituation bewusst nicht in § 612a BGB geregelt hat. Da der Gesetzgeber jegliche Form der Maßregelung verbieten wollte, liegt die Annahme viel näher, dass der Gesetzgeber den Fall der Maßregelung im Anbahnungsverhältnis übersehen hat. Die unterschiedliche rechtliche Behandlung des Anbahnungsverhältnisses in § 611a BGB a. F. und § 612a BGB a. F. ist dadurch zu erklären, dass die diskriminierende Nichteinstellung einer der offenkundigen Hauptanwendungsfälle der Geschlechterdiskriminierung ist und dem Gesetzgeber daher vor Augen war. Das Verbot der Maßregelung jedoch wurzelt im und schützt ein bestehendes Arbeitsverhältnis; es erfasst daher nur die viel weniger augenscheinlichen Konstellationen einer Wiedereinstellung. Die Annahme eines gesetzgeberischen Versehens liegt näher als das Gegenteil: dem Gesetzgeber eine bewusste Nichtregelung des Anbahnungsverhältnisses zu unterstellen. (cc) Ergebnis: Regelungslücke des § 612a BGB für Maßregelungen ehemaliger Arbeitnehmer:innen Der Normzweck von § 612a BGB gebietet es, auch Maßregelungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse zu verbieten, mit denen eine Rechtsausübung im vorangegangenen Arbeitsverhältnis sanktioniert wird. Es liegt hier also eine normimmanente Regelungslücke vor: § 612a BGB bleibt ohne teleologische Extension des persönlichen Anwendungsbereichs hinter seinem Regelungszweck zurück.
352
K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1969), S. 373 ff.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
245
(b) Schließung der Regelungslücke durch eine teleologische Extension Die Feststellung, dass § 612a BGB Maßregelungen nach Ende eines Arbeitsverhältnisses seinem Normzweck gemäß erfassen sollte, genügt als Legitimation einer Rechtsfortbildung durch teleologische Extension nicht. Auch bei regelungsimmanenten Normlücken ist zusätzlich festzustellen, dass der geregelte und der nicht geregelte Sachverhalt in allen relevanten Belangen vergleichbar sind, also kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung besteht.353 Mit § 612a BGB hat der Gesetzgeber nämlich einen rechtspolitischen Ausgleich zwischen der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen und der Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen geschaffen. Griffe eine teleologische Extension stärker in die Rechte der Arbeitgeber:innen ein als bei einer wortlautgetreuen Anwendung der Norm, obläge dem Gesetzgeber, Maßregelungen nach Fristablauf einzubeziehen oder andere Rechtsfolgen anzuordnen. Dass die Willensfreiheit befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen ähnlich gefährdet ist, wenn Arbeitgeber:innen im Laufe oder nach Ablauf der Arbeitsverhältnisse über eine Wiedereinstellung entscheiden, wurde oben bereits ausgeführt.354 Insofern sind Benachteiligungen gegenüber Arbeitnehmer:innen also mit Benachteiligungen gegenüber ehemaligen Arbeitnehmer:innen vergleichbar. Fraglich ist, ob auch der zweite Teil der Interessenlage, die Rechte der Arbeitgeber:innen, in beiden Fällen ähnlich gelagert ist. Sowohl im laufenden Arbeitsverhältnis wie nach dessen Beendigung sind Arbeitgeber:innen nicht dazu verpflichtet, von sich aus eine Vertragsfortsetzung zu erwägen oder Arbeitnehmer:innen tatsächlich wiedereinzustellen. Unterlassen sie das Angebot eines Folgevertrags grundlos, üben sie damit in zulässiger Weise ihre Vertragsabschlussfreiheit aus. Knüpfen sie bei ihrer Entscheidung jedoch an die zulässige Ausübung von Rechten aus, übertreten sie damit die Grenzen zulässiger Vertragsfreiheit.355 Ihre Vertragsfreiheit ist in beiden Fallgruppen gleichermaßen gewährleistet und durch § 612a BGB gleichermaßen begrenzt. Es besteht damit kein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung der Maßregelung von Arbeitnehmer:innen im bestehenden Arbeitsverhältnis und nach dessen Ablauf. (c) Ergebnis: Teleologische Extension von § 612a BGB hinsichtlich Maßregelungen gegenüber ehemaligen Arbeitnehmer:innen Der persönliche Anwendungsbereich von § 612a BGB ist teleologisch zu extendieren: Arbeitgeber:innen dürfen auch ehemalige Arbeitnehmer:innen bei der Wiedereinstellungsentscheidung nicht benachteiligen, weil sie während des Arbeitsverhältnisses in zulässiger Weise ihre Rechte ausgeübt haben. Ohne diese Rechtsfortbildung bliebe die Norm ohne sachlichen Grund hinter ihrem Normzweck zurück. 353 354 355
Vgl. B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 544 f. Siehe oben 5. Kap. A. II. 2. b) bb) (2) (a) (aa). BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 42).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
c) Persönlicher Anwendungsbereich von § 78 S. 2 BetrVG Gem. § 78 S. 2 BetrVG dürfen Amtsinhaber:innen „wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden; dies gilt auch für ihre berufliche Entwicklung.“ Von der Norm eindeutig erfasst sind Benachteiligungen gegenüber amtierenden Amtsinhaber:innen. Die von § 78 S. 2 BetrVG betroffenen Ämter werden aber – vorbehaltlich der Möglichkeit einer Wiederwahl – nur vorübergehend übernommen; die Amtszeit eines Betriebsratsmitglieds beträgt beispielsweise vier Jahre (§ 21 S. 1 BetrVG) und endet damit potenziell vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Damit § 78 S. 2 BetrVG sein Regelungsziel, die innere und äußere Unabhängigkeit von Arbeitnehmer:innen bei der Amtsausübung sicherzustellen,356 erreichen kann, müssen also auch Maßregelungen und Sanktionen nach Ablauf der Amtszeit verboten sein. Dementsprechend ist man sich auch in der Literatur einig darüber, dass § 78 S. 2 BetrVG zeitlich unbegrenzt nachwirkt.357 Diese Interpretation von § 78 S. 2 BetrVG ist auch noch vom Wortlaut der Norm umfasst und kann daher durch eine Auslegung erreicht werden: Dass Amtsträger:innen wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt werden dürfen, kann bei einem weiten Sprachgebrauch auch Benachteiligungen nach Ablauf des Amtes umfassen. Dieses Ergebnis wird in systematischer Hinsicht insbesondere auch durch § 78 S. 2 Hs. 2 BetrVG bestätigt, der das Benachteiligungsverbot ausdrücklich auf die berufliche Entwicklung von Arbeitnehmer:innen erstreckt, die auch nach Beendigung der Amtstätigkeit eine Rolle spielt. Nachwirkend geschützt werden erstens ehemalige Amtsträger:innen im Laufe ihres Arbeitsverhältnisses. Da die innere und äußere Unabhängigkeit von befristet beschäftigten Amtsinhaber:innen nur unvollkommen geschützt wird, wenn sie befürchten müssten, aufgrund ihrer Tätigkeit nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses nicht wiedereingestellt zu werden, gilt der nachwirkende Schutz richtigerweise auch über das Ende eines befristeten Arbeitsverhältnisses hinaus. Es kann hier auf die bei § 612a BGB angestellten Erwägungen verwiesen werden. Eine Erstreckung des Benachteiligungsverbots in § 78 S. 2 BetrVG ist allerdings bereits vom Normtext umfasst, der aufgrund seiner passiven Formulierung weiter als § 612a BGB reicht.358 § 78 S. 2 BetrVG verbietet Arbeitgeber:innen also, Amtsinhaber:innen in ihrer beruflichen Entwicklung zu benachteiligen, indem sie sich im oder nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses aufgrund der ehemaligen Amtstätigkeit gegen eine Wiedereinstellung entscheiden.359 356
BAG, Beschl. v. 20. 1. 2010 – 7 ABR 68/08, NZA 2010, 777, 777 (Rn. 10). Fitting, § 78 BetrVG Rn. 16; GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 62; APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 13; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 64; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 190. 358 Dieser lautet: „Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen.“ Der Anwendungsbereich dieser Norm ist durch die aktive Formulierung auf Benachteiligungen gegenüber Arbeitnehmer:innen begrenzt. 359 So auch knapp Düwell/F. Lorenz, § 78 BetrVG Rn. 14. 357
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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III. Ergebnis: Begrenzung der Vertragsfortsetzungsfreiheit durch Benachteiligungsverbote Die Fortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen wird durch Benachteiligungsverbote begrenzt: Das Unterlassen eines (Folge-)Vertragsschlusses ist als „ungünstige Behandlung“ von § 3 I AGG erfasst, da es den Zugang zu einem Beschäftigungsverhältnis betrifft und von den Maßregelungsverboten erfasst, da es die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei einer Rechtsausübung im befristeten Arbeitsverhältnis beeinträchtigen kann. Eine Benachteiligung findet ab dem Zeitpunkt statt, in dem Arbeitgeber:innen ohne Anknüpfung an ein von den Benachteiligungsverboten geschütztes Merkmal oder Verhalten eine auf die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärung abgegeben hätten, oder vorher, wenn die Abgabe dieser Willenserklärung durch eine Absage verweigert wurde. Liegt der so bestimmte Zeitpunkt nach Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses, unterfällt die Entscheidung des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin dem AGG nur dann, wenn sich der ehemalige Arbeitnehmer oder die ehemalige Arbeitnehmerin um eine Wiedereinstellung beworben hat. Die Anforderungen an die Qualität der Bewerbung sind aufgrund der bereits bestehenden Vertragshistorie abgesenkt. Aufgrund ihres Schutzzwecks erfassen die Maßregelungsverbote Benachteiligungen im wie nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses gleichermaßen. Dieses Ergebnis ist für § 612a BGB durch eine teleologische Extension zu erzielen.
B. Motivlage von Arbeitgeber:innen als Bezugspunkt der Benachteiligungsverbote und Grenze ihrer Vertragsfreiheit Der Kern aller Benachteiligungsverbote ist der Kausalzusammenhang. Erst die Anknüpfung an bestimmte, vom Gesetzgeber als besonders schutzwürdig herausgehobene Attribute oder Verhaltensweisen macht aus einer freien und erlaubterweise willkürlichen Entscheidung eine tatbestandsmäßige Benachteiligung. Das Gesetz gibt nämlich weder (positiv) Entscheidungsgründe vor, die einer Fortsetzungsentscheidung zugrunde gelegt werden dürfen (wie beispielsweise § 1 KSchG für die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung), noch verbietet es die bloße Koinzidenz vom Vorliegen eines Merkmals mit der Zufügung eines Nachteils (wie beispielsweise § 17 MuSchG für die Unwirksamkeit der Kündigung einer Schwangeren). Verboten ist stattdessen, dass Arbeitgeber:innen ihrer Entscheidung über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen bestimmte, abschließend benannte Gründe zugrunde legen. Die rechtlich missbilligte Motivlage macht also aus einer zulässigen Betätigung der Vertragsfreiheit einen Gesetzesverstoß. Teilweise wird für die Annahme einer tatbestandlichen Benachteiligung zusätzlich ein objektiver Ungleichheitserfolg verlangt, der eine Besserstellung anderer
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Arbeitnehmer:innen voraussetze. Es wird zu zeigen sein, dass ein Vergleich mit anderen Arbeitnehmer:innen bei personellen Einzelmaßnahmen wie der (Nicht-) Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse richtigerweise keine materiell-rechtliche Relevanz hat, sondern allenfalls den Beweis eines Kausalzusammenhangs auf prozessualer Ebene ermöglichen kann. Die Anforderungen an den Kausalzusammenhang von Motivlage und Nachteilszufügung werden nun zuerst dargestellt [I.] und anschließend die Voraussetzungen und Funktionen einer Vergleichsbetrachtung untersucht [II.]. Da die Fortsetzungsentscheidung ein innerer Bewusstseinsakt ist, dessen Motive regelmäßig nur den Arbeitgeber:innen bekannt sind, ist die Kausalität eines verbotenen Merkmals in der Praxis schwer beweisbar. Wie diese Beweisprobleme in der Praxis gehandhabt werden und welche prozessuale Bedeutung eine Vergleichspersonenbetrachtung dabei einnehmen kann, wird im 7. Kapitel ausführlich behandelt.
I. Anforderungen an den Kausalzusammenhang von Motivlage und Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse 1. Absolutes Anknüpfungsverbot gem. § 3 I AGG § 3 I 1 AGG verbietet, dass eine ungünstige Behandlung gerade wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt. Das ist der Fall, wenn die weniger günstige Behandlung an ein in § 1 genanntes Merkmal anknüpft oder dadurch motiviert ist.360 Nach einhelliger Ansicht ist nicht erforderlich, dass das Merkmal ausschließliches oder ausschlaggebendes Motiv, gewissermaßen „Triebfeder“ des Verhaltens war. Ein verbotener Kausalzusammenhang ist vielmehr bereits bei bloßer Mitursächlichkeit anzunehmen, also schon, wenn das Merkmal Bestandteil eines Motivbündels ist, welches die Entscheidung beeinflusst.361 Dieses extensive Kausalitätsverständnis wurzelt in einer Entscheidung des BVerfG zu § 611a BGB a. F. Das Gericht urteilte darin: „Eine Benachteiligung wegen des Geschlechts i. S. von Art. 3 II GG liegt bereits vor, wenn eine rechtliche Ungleichbehandlung an das Geschlecht anknüpft. Es kommt nicht darauf an, ob daneben auch andere Gründe maßgeblich waren. Soll die Beachtung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots auch für den Arbeitgeber bei Einstellungsentscheidungen verbindlich gemacht werden – und darin liegt der Sinn des § 611a I BGB –, so muß es diesem verwehrt sein, das Geschlecht eines Bewerbers bei seiner Entscheidung überhaupt zu dessen Lasten zu berücksichtigen. Das ist aber bereits dann der Fall, wenn in dem Motiv360
BT-Drs. 16/1780, S. 32. St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 26. 6. 2014 – 8 AZR 547/13, AP AGG § 22 Nr. 10; BAG, Urt. v. 26. 9. 2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258, 260 f. (Rn. 25) m. w. N.; BeckOGK/ A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 48; DHSW/V. Braun, § 3 AGG Rn. 6; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 16; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 45; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 8; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 4. 361
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
249
bündel, das seine Entscheidung beeinflußt hat, das Geschlecht des abgewiesenen Bewerbers als negatives oder das andere Geschlecht als positives Kriterium enthalten ist.“362
Dieser Interpretation des geschlechtsspezifischen Benachteiligungsverbots als verfassungsrechtlich gebotenes und absolutes Anknüpfungsverbot ist das BAG bei der Auslegung von § 611a BGB a. F.363 und schließlich auch von § 3 I AGG gefolgt.364 Nicht erforderlich ist außerdem eine subjektive Komponente im Sinne einer Benachteiligungsabsicht oder eines Verschuldens der Arbeitgeber:innen.365 Nach diesen Grundsätzen dürfen die in § 1 AGG genannten Gründe nicht in die Fortsetzungsentscheidung einfließen und sie negativ beeinflussen. Anderenfalls benachteiligen Arbeitgeber:innen befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen unmittelbar gem. § 3 I AGG, unabhängig davon, ob sie ihre Entscheidung daneben auch auf legitime Gründe, z. B. die schlechte Arbeitsleistung von Arbeitnehmer:innen stützen. Umgekehrt liegt keine Benachteiligung vor, wenn ein verbotenes Merkmal nicht einmal mitursächlich für die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses ist, wenn Arbeitgeber:innen die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen gar nicht erwogen haben oder sie auf objektiven Faktoren basiert, die nicht in Zusammenhang mit einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG stehen. a) Abgrenzung von der mittelbaren Benachteiligung gem. § 3 II AGG Die unmittelbare ist von der mittelbaren Benachteiligung i. S. v. § 3 II AGG abzugrenzen, da die unmittelbare Benachteiligung als schwerere Form der Benachteiligung erheblich restriktiveren Rechtfertigungsmöglichkeiten unterliegt.366 Die Benachteiligungsmodi sind danach zu unterscheiden, ob das Differenzierungskriterium zu einer ausschließlichen Benachteiligung bestimmter Merkmalsträger führt – dann handelt es sich um eine unmittelbare Benachteiligung – oder ob es grundsätzlich auch von Nichtmerkmalsträgern erfüllt werden kann, aber bestimmte Merkmalsträger überproportional benachteiligen kann – dann liegt eine mittelbare 362 BVerfG, Beschl. v. 16. 11. 1993 – 1 BvR 258/86, NZA 1994, 745, 746; anknüpfend an BVerfG, Urt. v. 28. 1. 1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, NJW 1992, 964, 965. 363 Statt aller: BAG, Urt. v. 5. 2. 2004 – 8 AZR 112/03, NZA 2004, 540, 544. 364 Diese Auslegung ist insbesondere auch unionsrechtskonform, da die dem AGG zugrundeliegenden Richtlinien den Mitgliedstaaten nicht nur erlauben, für die Arbeitnehmer: innen günstigere Vorschriften – wozu auch eine extensive Auslegung der Kausalität gehört – einzuführen, sondern sogar eine Absenkung des bisher geltenden Schutzniveaus ausdrücklich untersagen (vgl. BAG, Urt. v. 26. 6. 2014 – 8 AZR 547/13, AP AGG § 22 Nr. 10 Rn. 37 mit Verweis auf die einschlägigen Erwägungsgründe der verschiedenen Richtlinien sowie schon oben 4. Kap. B. I. 1. a). 365 BAG, Urt. v. 26. 6. 2014 – 8 AZR 547/13, AP AGG § 22 Nr. 10; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 49; DHSW/V. Braun, § 3 AGG Rn. 6; Schleusener/Suckow/Plum/ M. Plum, § 3 AGG Rn. 15; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 12; Däubler/Bertzbach/ P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 46; MüKo BGB/G. Thüsing, § 7 AGG Rn. 8; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 4. 366 Siehe dazu unten 5. Kap. C., D. III.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Benachteiligung vor.367 Knüpfen Arbeitgeber:innen direkt an ein Merkmal gem. § 1 AGG an, handelt es sich zweifellos um eine unmittelbare Benachteiligung. Charakteristische Folge ist hier eine homogene Gruppenbildung auf Seiten der Begünstigten und der Benachteiligten: Würde das Differenzierungskriterium als allgemeine Regel abstrahiert, ergäbe sich eine Aufspaltung dahingehend, dass die Gruppe der begünstigen Arbeitnehmer:innen nur aus Nichtmerkmalsträgern besteht und jene der benachteiligten Gruppe nur aus Merkmalsträgern.368 Beispiel: Eine Arbeitgeberin entschließt sich gegen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses einer Arbeitnehmerin, da sie sich im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses als lesbisch geoutet hat. Eine verallgemeinerte, kategoriale Anwendung des Differenzierungskriteriums „Homosexualität“ auf befristete Beschäftigungsverhältnisse ergäbe, dass die Gruppe der Beschäftigten mit fortgesetzten Arbeitsverhältnissen nur aus heterosexuell gelesenen Personen und die Gruppe der Beschäftigten ohne Vertragsangebot nur aus homosexuell gelesenen Personen besteht. Daher handelt es sich um eine unmittelbare Benachteiligung.
Um eine unmittelbare Benachteiligung handelt es sich auch, wenn Arbeitgeber:innen nicht ausschließlich oder direkt an ein in § 1 AGG genanntes Merkmal anknüpfen, sondern an ein anderes oder zusätzliches Kriterium, sodass zwar nur Merkmalsträger benachteiligt werden, aber nicht alle. § 3 I AGG verbietet nämlich, wie oben bereits ausgeführt, jede ungünstige Behandlung, aufgrund eines in § 1 genannten Merkmals.369 Weichenstellend für eine Einordnung als unmittelbare Benachteiligung ist damit auch hier die homogene – und nicht nur disproportional verteilte – Merkmalsausprägung aufseiten der Benachteiligten; eine heterogene Merkmalsausprägung aufseiten der Begünstigten ist irrelevant.370 Aus diesem Grund benachteiligen Arbeitgeber:innen unmittelbar, die Teilgruppen von Merkmalsträgern keinen Folgearbeitsvertrag anbieten und dabei entweder an ein zusätzliches Merkmal aus § 1 AGG anknüpfen, wie beispielsweise bei der intersektionellen Diskriminierung afroamerikanischer Frauen (unmittelbare geschlechtsbezogene und rassistische Benachteiligung) oder zusätzlich an ein nicht verbotenes Merkmal anknüpfen, wie beispielsweise bei der Benachteiligung übergewichtiger Frauen (sog. „Sex-Plus-Diskriminierung“). In beiden Fällen ist die (hypothetische) Gruppe der benachteiligten Beschäftigten merkmalshomogen aus Frauen zusammengesetzt. Die Tatsache, dass nicht alle Frauen, sondern nur die afroamerikanischen bzw. übergewichtigen benachteiligt werden, beseitigt deren unmittelbare Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts nicht.
367
K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 3 AGG Rn. 70; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 53; Schleusener/Suckow/Plum/M. Plum, § 3 AGG Rn. 94; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 9. 368 Vgl. H.-J. Rupp, RdA 2009, 307, 308. 369 BT-Drs. 16/1780, S. 32. 370 H.-J. Rupp, RdA 2009, 307, 308.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
251
Ebenfalls unmittelbar benachteiligend ist eine Anknüpfung an Kriterien, die untrennbar mit einem Merkmal gem. § 1 AGG verbunden sind, wenn die Maßnahme also kategorial, zwingend nur Beschäftigte mit bestimmter Merkmalsausprägung benachteiligt.371 Oft wird betont, dass dadurch verhindert werden solle, dass Arbeitgeber:innen ihre diskriminierenden Absichten durch Anknüpfen an neutrale Merkmale verschleiern;372 das Phänomen wird daher oft unter dem Begriff der verdeckten unmittelbaren Ungleichbehandlung besprochen. Das Problem besteht aber unabhängig von einer Verschleierungsabsicht der Arbeitgeber:innen; eine Diskriminierungsabsicht ist für die Annahme von Kausalität ohnehin nicht erforderlich. Beispiele für untrennbar mit einem Merkmal aus § 1 AGG verbundene Kriterien sind die Anknüpfung der Benachteiligung an eine frühe Rentenbezugsberechtigung, wenn diese selbst eine Behinderung373 oder das (weibliche) Geschlecht374 voraussetzt. Verbieten Arbeitgeber:innen das Tragen von bestimmten religiösen Symbolen (z. B. muslimischen Kopftüchern) oder religiösen Symbolen im Allgemeinen (Kreuzketten, Turbane, Kopftücher, Kippas, Burkas), benachteiligen sie Angehörige bestimmter Religionen gegenüber allen anderen Arbeitnehmer:innen oder religiöse Arbeitnehmer:innen gegenüber areligiösen Arbeitnehmer:innen unmittelbar.375 Und mit einer Anknüpfung an eine gleichgeschlechtliche Ehe werden ausschließlich Homosexuelle benachteiligt. Für die Annahme einer unmittelbaren Benachteiligung ist wiederum unschädlich, dass nicht alle Merkmalsträger benachteiligt werden, weil nicht alle Menschen mit Behinderung oder Frauen frühe Rente beziehen, nicht alle Religionszugehörige religiöse Symbole tragen und nicht jede homosexuelle Person verheiratet ist.
371 BAG, Urt. v. 21. 11. 2017 – 9 AZR 141/17, NZA 2018, 786, 788 (Rn. 21); BAG, Urt. v. 13. 10. 2016 – 3 AZR 439/15, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 74 (Rn. 61); BeckOGK/ A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 54; MüHa ArbR/H. Oetker, § 16 Rn. 76; Schleusener/Suckow/ Plum/M. Plum, § 3 AGG Rn. 17; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 13; KR/J. Treber, § 3 AGG Rn. 15; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 3; einen „typischen“ oder „regelmäßigen“ Zusammenhang lassen Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 1 AGG Rn. 16 genügen. 372 MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 15; diese Fallgruppe eigenständig behandeln aber K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 3 AGG Rn. 74; H.J. Rupp, RdA 2009, 307, 311. 373 Vgl. zur vorzeitigen Altersrente gem. § 236a I 2 SGB VI: BAG, Urt. v. 21. 11. 2017 – 9 AZR 141/17, NZA 2018, 786, 788 (Rn. 20 ff.); BAG, Urt. v. 12. 11. 2013 – 9 AZR 484/12, AP TVG § 2 Altersteilzeit Nr. 63 (Rn. 13 ff.) in unausgesprochener Abkehr von BAG, Beschl. v. 6. 10. 2011 – 6 AZN 815/11, NZA 2011, 1431, 1433 (Rn. 8); zur Erwerbsminderungsrente gem. § 43 II 2 SGB VI: BAG, Urt. v. 7. 6. 2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370, 1372 (Rn. 24 ff.); offen gelassen in BAG, Urt. v. 12. 5. 2016 – 6 AZR 265/15, NZA 2016, 1345, 1347 f. (Rn. 24 ff.). 374 Vgl. EuGH, Urt. v. 12. 9. 2013 – C-614/11 (Niederösterreichische Landes-Landwirtschaftskammer/Anneliese Kuso), NZA 2013, 1071, 1074 (Rn. 43); EuGH, Urt. v. 18. 11. 2010 – C-356/09, NZA 2010, 1401, 1402 (Rn. 30 f.). 375 Vgl. EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017 – C-188/15 (Bougnaoui), NZA 2017, 375, 377 (Rn. 34); MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 54.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
b) Sonderfall: Benachteiligungen wegen einer Schwangerschaft oder Mutterschaft Gem. § 3 I 2 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts „auch im Falle einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft vor“. Damit hat der deutsche Gesetzgeber Richtlinienvorgaben376 umgesetzt, die auf eine ständige Rechtsprechung des EuGH zu Benachteiligungen aufgrund von Schwangerschaft und Mutterschaft zurückgehen.377 Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse aufgrund einer Schwangerschaft ist daher gem. § 3 I 2 AGG eine unmittelbare Benachteiligung aufgrund des Geschlechts.378 Sowohl den Normtexten als auch der EuGH-Rechtsprechung liegt das zum Zeitpunkt ihres Erlasses bzw. Ausspruchs vorherrschende Verständnis einer binären Geschlechterverteilung zugrunde. Danach war die Schwangerschaft untrennbar mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht verbunden; § 3 I 2 AGG betrifft gemäß seinem Wortlaut daher nur die Benachteiligung von Frauen aufgrund ihrer Schwangerschaft. In den letzten Jahren hat in Deutschland aber ein gesellschaftspolitischer Bewusstseinswandel stattgefunden, der insbesondere durch Entscheidungen des BVerfG zur Anerkennung und Stärkung der Rechte inter- und transsexueller Personen auch die Rechtsordnung verändert hat.379 Seitdem transsexuelle Personen für die Anerkennung eines Personenstandswechsels nicht mehr „dauernd fortpflanzungsunfähig“ sein müssen und Menschen mit nicht eindeutig zuordenbaren biologischen Merkmalen als „divers“ oder ohne Geschlecht im Personenstandsregister erfasst werden dürfen, ist es anerkannt, dass auch Menschen, die keine Frauen sind, schwanger werden und Kinder gebären können. Aus diesem Grund gilt das MuSchG gem. § 1 IV MuSchG seit seiner Novellierung zum 1. Januar 2018 auch für schwangere inter- und transsexuelle Menschen.380 Über den Wortlaut von § 3 I 2 AGG hinaus ist eine Benachteiligung aufgrund eines Geschlechts daher jede Benachteiligung, die eine Person wegen ihrer Schwangerschaft erfährt, da darin eine Benachteiligung von Frauen, intersexuellen oder transsexuellen Menschen gegenüber Cis-Männern liegt. Benachteiligungen wegen Schwangerschaft und – mangels geschlechtsneutralen Begriffs – „Mutterschaft“ sind alle Benachteiligungen im Zusammenhang mit der Schwangerschaft, Entbindung und Stillzeit.381 Nicht unmittelbar benachteiligend 376 Art. 2 VII RL 76/207/EWG; aufgehoben und ersetzt durch RL 2006/54/EG; dort nunmehr in Art. 2 II lit. c). 377 Grundlegend EuGH, Urt. v. 8. 11. 1990 – C-177/88 (Dekker), NZA 1991, 171, 172 (Rn. 12). 378 EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn. 47) zu Art. 2 I, 3 I RL 76/207/EWG; ArbG Mainz, Urt. v. 2. 9. 2008 – 3 Ca 1133/08, BeckRS 2008, 56479. 379 Siehe dazu oben 4. Kap. B. III. 1. b). 380 Siehe ausdrücklich die Gesetzesbegründung: BT-Drs. 18/8963, S. 53. 381 EuGH, Urt. v. 19. 10. 2017 – C-531/15, NZA 2017, 1448, 1450 (Rn. 57 ff.).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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gem. § 3 I 2 AGG ist die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen aufgrund der Inanspruchnahme von Elternzeit, da diese Behandlung alle, auch cis-männliche, Beschäftigte treffen kann.382 Sie kann aber mittelbar benachteiligend sein gem. § 3 II AGG383 oder gegen das Maßregelungsverbot in § 612a BGB verstoßen. 2. Anforderungen an den Maßregelungswillen von Arbeitgeber:innen a) Kausalzusammenhang bei Maßregelungen gem. § 612a BGB aa) Restriktives Verständnis des Kausalzusammenhangs im Sinne der conditio sine qua non § 612a BGB verbietet Benachteiligungen, „weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt“, wenn also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Rechtsausübung und der Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses besteht. Nach einhelliger Ansicht handelt es sich dann um eine verbotene Maßregelung, wenn eine Rechtsausübung conditio sine qua non für eine Benachteiligung ist. Diese Kausalität ist subjektiv-final nach der Motivlage der Arbeitgeber:innen zu bestimmen; erforderlich ist ein Maßregelungswille: Die Rechtsausübung muss der „tragende Beweggrund, das heißt das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme sein. Es reicht nicht aus, dass die Rechtsausübung nur den äußeren Anlass der Maßnahme bildet“384 oder nur eine Ursache unter mehreren gleichrangigen ist.385 Ist die Rechtsausübung wesentliches oder ausschließliches Motiv, ist es aber unbeachtlich, wenn die Nichtfortsetzung auch auf einen anderen, nicht mit der Rechtsausübung zusammenhängenden Sachverhalt hätte gestützt werden können:386 Da § 612a BGB auf die Motivation der Arbeitgeber:innen bei einer Maßnahme – und z. B. nicht wie § 1 KSchG auf die objektive Sachlage bei Zugang der Kündigung – abstellt, ist für die Kausalität allein entscheidend, ob andere Motive die Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich ausgelöst haben. In den Worten des BAG „schneidet § 612a BGB […] die Kausalkette für andere Gründe ab“387, die die Benachteiligung nicht bestimmt haben. § 612a BGB verbietet die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen also nur, wenn der Maßregelungswille von Arbeitgeber:innen das dominante Motiv ist, Ar382
BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361, 1363 (Rn. 17). Zu den Voraussetzungen der mittelbaren Benachteiligung unten 5. Kap. D. II. 384 St. Rspr. BAG, Urt. v. 14. 2. 2007 – 7 AZR 95/06, NZA 2007, 803, 806 (Rn. 22). 385 NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 15; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 10; NK BGB/V. Klappstein, § 612a BGB Rn. 14; DHSW/B. Kraushaar, § 612a BGB Rn. 17; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 13; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 16; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 11; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 150. 386 BAG, Urt. v. 23. 4. 2009 – 6 AZR 189/08, NZA 2009, 974, 975. (Rn. 12); APS/R. Linck (2017), § 612a BGB Rn. 15. 387 BAG, Urt. v. 22. 5. 2003 – 2 AZR 426/02, AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 18. 383
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
beitgeber:innen ein Arbeitsverhältnis also ohne Anknüpfung an eine zulässige Rechtsausübung fortgesetzt hätten. Dass die Anforderungen an die Annahme eines Kausalzusammenhangs deutlich strenger sind als im Rahmen von § 3 I AGG, entspricht den unterschiedlichen Schutzzielen der Benachteiligungsverbote: Da das AGG unter anderem die Würde und Persönlichkeit des Menschen schützen soll, ist es konsequent, jede negative Berücksichtigung eines Merkmals gem. § 1 AGG zu verbieten, da jede Anknüpfung stigmatisierende und persönlichkeitsrechtsverletzende Auswirkungen haben kann. § 612a BGB reagiert hingegen auf die Gefahr, dass Arbeitgeber:innen eine Rechtsausübung maßregeln, also Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer Rechtsausübung einen Nachteil zufügen und Arbeitnehmer:innen daher von der Rechtsausübung absehen. Ist die Rechtsausübung aber nur ein untergeordnetes Motiv unter mehreren, findet eine Benachteiligung nicht wegen der Rechtsausübung, sondern ohnehin statt. Die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen ist in solchen Fällen nicht beeinträchtigt, da die Entscheidung für oder gegen eine Rechtsausübung im Hinblick auf die Nachteilserlangung keine Konsequenzen hat. Das subjektiv-finale Kausalitätsverständnis ist damit aus teleologischer Perspektive konsequent. bb) Sonderfall: Kausalzusammenhang bei der Nichtfortsetzung aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten Dass ein Maßregelungswille schwierig festzustellen sein kann, zeigt das Beispiel der Deutsche Post AG, die die Entfristung von Arbeitsverträgen von der Anzahl der Krankheitstage abhängig macht.388 Dabei würde es sich jedenfalls dann um eine verbotene Maßregelung handeln, wenn die Post damit sanktioniert, dass ihre Mitarbeiter entsprechend der ihnen zustehenden Rechtsposition gehandelt haben, also wegen Arbeitsunfähigkeit der nach § 275 I BGB erloschenen Leistungspflicht nicht mehr nachgekommen sind und ggf. einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gem. § 3 EFZG geltend gemacht haben. Gegen eine solche Unterstellung spricht ein Urteil des BAG zu der parallel gelagerten Frage, ob eine Kündigung wegen hoher Entgeltfortzahlungskosten von oft kranken Arbeitnehmer:innen wirksam sein könne. Das Gericht entschied, dass es keine verbotene Maßregelung darstelle, wenn ein Arbeitgeber eine Kündigung auf die Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten stütze, weil diese Belastung aus der Krankheit des Arbeitnehmers herrühre und nicht aus einer Rechtsausübung. Außerdem könne eine krankheitsbedingte Kündigung, die nach § 1 KSchG auch gerade wegen der Berücksichtigung von Entgeltfortzahlungskosten sozial gerechtfertigt ist, nicht zugleich eine Maßregelung i. S. v. § 612a BGB sein.389 Diese Argumentation überzeugt nicht: Erstens ist die Annahme, dass der tragende Beweggrund für eine Vertragsbeendigung die Krankheit an sich ist, nicht plausibel. 388 389
Siehe die Nachweise in Fn. 9. BAG, Urt. v. 16. 2. 1989 – 2 AZR 299/88, NZA 1989, 923, 927.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Naheliegender ist, dass Arbeitgeber:innen auf die mit einer Krankheit verbundenen Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses reagieren. Knüpfen Arbeitgeber:innen die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen an krankheitsbedingte Ausfallzeiten, erfolgt die Benachteiligung also nicht wegen der Krankheit selbst, sondern wegen der gem. § 275 I BGB zulässigen Nichterbringung der Arbeitsleistung und den damit einhergehenden Entgeltfortzahlungsansprüchen. Die Beendigung knüpft damit entgegen der Auffassung des BAG an eine Rechtsausübung i. S. v. § 612a BGB an.390 Zweitens existiert der vom Gericht befürchtete Konflikt zu den Wertungen des § 1 KSchG nicht, da § 1 KSchG und § 612a BGB verschiedene Zwecke zugrunde liegen: Die soziale Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung setzt eine negative Gesundheitsprognose voraus. Erlaubt sind danach Kündigungen, wenn langfristig Störungen der Betriebsabläufe zu erwarten sind. Die Prognose basiert zwar auf festgestellten Krankheitstagen in der Vergangenheit, ist aber zukunftsgerichtet. Im Unterschied dazu verbietet § 612a BGB die vergangenheitsbezogene Bestrafung einer Rechtsausübung. Sind tragender Beweggrund einer Kündigung die auf Grundlage einer negativen Prognose erwarteten Betriebsablaufstörungen, handeln Arbeitgeber:innen ohne Maßregelungswillen und die Kündigung kann sozial gerechtfertigt sein gem. § 1 KSchG. Sind Fehlzeiten in der Vergangenheit der tragende Beweggrund einer Kündigung, ist sie eine Maßregelung gem. § 612a BGB. Dass die Kündigung zwar auch auf eine mit den Fehlzeiten begründbare negative Prognose gestützt und damit gem. § 1 KSchG sozial gerechtfertigt sein könnte, ist als hypothetische Ersatzursache unbeachtlich. Es besteht daher kein Bedürfnis für die vom BAG vorgenommene künstliche Unterscheidung zwischen einer zulässigen Anknüpfung an die Krankheit an sich und einer unzulässigen Anknüpfung an krankheitsbedingte Fehlzeiten oder Entgeltfortzahlungskosten. Arbeitgeber:innen handeln auch dann mit Maßregelungswillen, wenn sie mit der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen auf mit der Krankheit von Arbeitnehmer:innen verbundene betriebliche oder finanzielle Belastungen in der Vergangenheit reagieren. In Abgrenzung dazu ist ein Maßregelungswille abzulehnen, wenn Arbeitgeber:innen präventiv Störungen des Betriebsablaufs in der Zukunft vermeiden wollen. Da der Nichtfortsetzungsentscheidung in beiden Fällen derselbe Sachverhalt zugrunde liegt – Fehltage in der Vergangenheit – dürfte der Beweis eines Maßregelungswillens praktisch nicht zu erbringen sein. Die anhand von Krankheitstagen differenzierende Entfristungspraxis kann allenfalls unter dem Aspekt einer mittelbaren Diskriminierung von Menschen mit Behinderung auf den Prüfstand gestellt werden.391 b) Kausalzusammenhang bei Benachteiligungen gem. § 78 S. 2 BetrVG Amtsträger:innen dürfen gem. § 78 S. 2 BetrVG wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt werden. Fraglich ist, welche Anforderungen an die Verknüpfung 390 Ähnlich, aber nur zum Aspekt der Entgeltfortzahlungskosten ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 12. 391 Siehe ausführlich unten 5. Kap. D. IV.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
zwischen Amtstätigkeit und Benachteiligung zu stellen sind. Einig ist man sich darüber, dass eine Benachteiligungsabsicht oder ein Verschulden von Arbeitgeber:innen jedenfalls nicht erforderlich sind.392 Umstritten ist jedoch, ob die Amtstätigkeit tragender Beweggrund im Sinne einer conditio sine qua non sein muss, wie es auch im Rahmen von § 612a BGB erforderlich ist, oder ob es wie bei § 3 AGG ausreicht, dass die Amtstätigkeit Teil eines Motivbündels ist.393 Die ganz herrschende Meinung in der Literatur verlangt, dass die Amtstätigkeit tragendes Motiv der Benachteiligung ist, also die Benachteiligung bei Hinwegdenken der Amtstätigkeit entfallen würde.394 Andere Beweggründe dürfen danach nur eine untergeordnete Rolle spielen. Diese Ansicht liegt auch der regelmäßigen Rechtsprechung der Instanzgerichte sowie des BAG zugrunde: Eine Benachteiligung i. S. v. § 78 S. 2 BetrVG setze voraus, dass die berufliche Entwicklung gerade wegen der Amtstätigkeit unterblieben ist.395 Es genüge nicht, dass Arbeitnehmer:innen ohne ihre Amtstätigkeit die konkrete Chance einer Vertragsfortsetzung gehabt hätten,396 sondern es muss feststehen, dass ihr Arbeitsverhältnis gerade wegen ihrer Betriebsratstätigkeit nicht fortgesetzt worden ist.397 Diese Ansicht ist jedenfalls dann überzeugend, wenn man wie die Gerichte in den zitierten Entscheidungen einen Anspruch auf die berufliche Entwicklung direkt aus § 78 S. 2 BetrVG herleitet: Würde § 78 S. 2 BetrVG bereits verbieten, dass Arbeitgeber:innen die Betriebsratsmitgliedschaft als Teil eines Motivbündels in ihre Fortsetzungsentscheidung einfließen lassen, wäre ein Arbeitsverhältnis aber auch ohne Anknüpfung an die Amtstätigkeit nicht fortgesetzt worden, führte ein Anspruch direkt aus § 78 S. 2 BetrVG zu einer Besserstellung der Betriebsratsmitglieder, die gegen das Begünstigungsverbot des § 78 S. 1 BetrVG verstößt.398 Dieses Ergebnis wird vermieden, wenn man einen Anspruch nicht aus § 78 S. 2 BetrVG direkt herleitet, sondern über Sekundäransprüche, die insbesondere mit der „haftungs-
392
BAG, Urt. v. 14. 8. 2018 – 1 AZR 287/17, NZA 2019, 100, 102 (Rn. 22); DKW/ R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 23; GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 61; APS/ R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 37; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 78 ff.; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 21; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 16. 393 So LAG Hamburg, Beschl. v. 19. 9. 2012 – H 6 TaBV 2/12, BeckRS 2013, 67957; APS/ R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 47; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 81. 394 Fitting, § 78 BetrVG Rn. 14; GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 58; APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 36; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 164; H. Oetker, RdA 1990, 343, 352; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 16. 395 BAG, Urt. v. 17. 8. 2005 – 7 AZR 528/04, NZA 2006, 448, 450 (Rn. 19); BAG, Urt. v. 11. 12. 1991 – 7 AZR 75/91, NZA 1993, 909, 910; LAG München, Urt. v. 27. 10. 2016 – 3 Sa 318/16, BeckRS 2016, 111262 (Rn. 44); LAG München, Urt. v. 3. 12. 2013 – 9 Sa 590/13, BeckRS 2016, 73506; LAG München, Urt. v. 23. 10. 2013 – 5 Sa 458/13, BeckRS 2014, 71921 (Rn. 68); ArbG Berlin, Urt. v. 1. 9. 2011 – 33 Ca 5877/11, BeckRS 2011, 77524. 396 BAG, Urt. v. 11. 12. 1991 – 7 AZR 75/91, NZA 1993, 909, 910. 397 BAG, Urt. v. 4. 11. 2015 – 7 AZR 972/13, NZA 2016, 1339, 1343 (Rn. 31). 398 LAG Niedersachsen, Urt. v. 21. 11. 2003 – 16 Sa 147/03, NZA-RR 2004, 414, 414 f.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
257
ausfüllenden Kausalität“ ein Korrektiv bereithalten.399 Ob § 78 S. 2 BetrVG selbst eine Anspruchsgrundlage ist, muss hier jedoch noch400 nicht entschieden werden, da auch andere gewichtige Gründe dafür sprechen, eine Kausalität im Sinne der conditio sine qua non zu fordern: Entscheidend ist wieder eine Auslegung der Norm anhand ihres Zwecks: § 78 S. 1 und S. 2 BetrVG schützen die unbefangene Amtsausübung und innere Unabhängigkeit von Amtsträger:innen, indem sie jegliche Besser- oder Schlechterstellung verbieten, die Amtsträger:innen ohne ihre Amtsausübung nicht erfahren hätten. Arbeitnehmer:innen sollen also genauso stehen und sich genauso beruflich entwickeln, wie sie ohne Amtsausübung stünden und sich entwickeln würden. Diesem Schutzzweck zuwider laufen nur solche Behandlungen von Arbeitnehmer:innen, die ohne ihre Amtsausübung nicht eingetreten wären. § 78 S. 2 BetrVG soll Arbeitnehmer:innen hingegen nicht auch gegen Maßnahmen immunisieren, die auch ohne Anknüpfung an die Amtsübung, also rechtmäßig, erfolgt wären. Insoweit bestehen eine strukturelle und teleologische Nähe zu § 612a BGB und ein Unterschied zu § 3 AGG. Nach überzeugender Ansicht verbietet § 78 S. 2 BetrVG Arbeitgeber:innen die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses also nur, wenn eine Amtstätigkeit dafür das dominante und nicht bloßes Begleitmotiv ist, das Arbeitsverhältnis also bei Wegdenken dieses Entscheidungsgrunds fortgesetzt worden wäre.
II. Voraussetzungen und Funktion einer Vergleichsbetrachtung bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse 1. Vergleichspersonenkonzept in § 3 I AGG a) Herkunft und Funktion des Vergleichspersonenkonzepts Gemäß § 3 I AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine Benachteiligung wird tatbestandlich also durch die günstigere Behandlung einer Vergleichsperson festgestellt. Nach den drei Varianten des § 3 I AGG kommen dafür aktuelle Personen, die gleichzeitig mit dem Anspruchsteller behandelt werden, in der Vergangenheit besser behandelte Personen sowie hypothetische Personen in Betracht. Mit der Anerkennung einer hypothetischen Vergleichsperson ist klargestellt, dass es nicht zwingend eines äußerlich manifestierten Ungleichheitserfolges bedarf, um eine verbotene Benachteiligung
399 400
Vgl. LAG Hamburg, Beschl. v. 19. 9. 2012 – H 6 TaBV 2/12, BeckRS 2013, 67957. Siehe die Stellungnahme unten 6. Kap. B. IV. 2. a) bb).
258
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
festzustellen, sondern dass es genügt, dass einer Entscheidung verbotene Gründe zugrunde liegen.401 Damit ist zu fragen, welche Funktion das Vergleichspersonenkonzept neben dem Kausalzusammenhang überhaupt erfüllt. § 611a BGB a. F., die Vorgänger-Regelung des AGG, hat für die Feststellung einer rechtswidrigen geschlechtsbezogenen Benachteiligung nicht ausdrücklich einen Vergleich mit einer Person des anderen Geschlechts vorausgesetzt. Die Vergleichspersonendogmatik hat das deutsche Recht erst durch entsprechende Formulierungen unionsrechtlicher GleichbehandlungsRichtlinien402 erreicht: zuerst im Wege einer unionrechtskonformen Auslegung des § 611a BGB a. F.403 und schließlich durch die Formulierung von § 3 I AGG. Vorbild des Vergleichspersonenkonzepts in den unionsrechtlicher Richtlinien sind die britischen Diskriminierungsverbote.404 Schramm hat herausgearbeitet, dass sich die Funktion des Vergleichspersonenkonzepts im britischen Recht in einer beweisrechtlichen erschöpft: Um den Beweis zu führen, dass eine Person aufgrund eines geschützten Merkmals weniger günstig behandelt wurde, als sie ohne Anknüpfung an dieses Merkmal behandelt worden wäre, kann der Vergleich mit realen Vergleichspersonen ein aussagekräftiges Indiz sein.405 Fehlen konkrete Vergleichspersonen, können notfalls aber auch andere Anhaltspunkte herangezogen werden, die eine hypothetische bessere Behandlung anderer Arbeitnehmer:innen wahrscheinlich machen.406 Bei der britischen Vergleichspersonendogmatik handelt es sich also um eine tatbestandliche Verquickung von materiellen Voraussetzungen einerseits und prozessualen Anforderungen an den Indizienbeweis andererseits, die über die Gleichbehandlungsrichtlinien ins deutsche Recht eingeführt worden ist:407 Das Kriterium konkretisiert die Voraussetzungen, die prozessual an die Indizien für einen Kausalzusammenhang zu stellen sind.408 Durch den erforderlichen Vergleich sind „von der Vielzahl möglicher Benachteiligungen diejenigen herauszufiltern, die ,suspekt‘
401 BAG, v. 20. 6. 2013 – 8 AZR 482/12, NZA 2014, 21, 23 (Rn. 34); Schleusener/Suckow/ Plum/M. Plum, § 3 AGG Rn. 5 f.; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5. Ausführlich zur insoweit missverständlichen Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1780) statt aller G. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz (2013), Rn. 232 f. 402 Art. 2 II lit. a RL 2000/43/EG; Art. 2 II lit. a) RL 2000/78/EG; Art. 2 II lit. a) RL 2002/ 73/EG (nun: Art. 2 II lit. a) RL 2006/54/EG). 403 Vgl. ErfK 2006/M. Schlachter, § 611a BGB a. F. Rn. 8. 404 Schiek/D. Schiek, § 3 AGG Rn. 2. 405 H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 121 ff. 406 H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 121. 407 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 266 ff.; Schiek/D. Schiek, § 3 AGG Rn. 2. 408 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 266 ff.; H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 111.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
259
sind“.409 So soll die Gefahr eingedämmt werden, dass Gerichte ohne hinreichende Anhaltspunkte vom Vorliegen einer Diskriminierung überzeugt werden.410 Eine Benachteiligung, die sich in einer unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Beschäftigter niedergeschlagen hat, wird also offenbar als besonders aussagekräftiges Indiz angesehen. Dafür spricht auch die Reihenfolge der in § 3 I AGG genannten Varianten, zwischen denen nach Ansicht der deutschen Literatur ein zwingendes Stufenverhältnis besteht: Ein Vergleich mit der Behandlung von Arbeitnehmer:innen in der Vergangenheit scheide aus, wenn es gegenwärtige Personen in einer vergleichbaren Lage gibt. Ein Rückgriff auf eine hypothetische Betrachtung sei erst dann zulässig, wenn es keine Person in einer vergleichbaren Lage gibt oder gegeben hat.411 Die Reihenfolge ergebe sich „logisch“412 aus der „Verkehrsanschauung“413 oder erkläre sich mit einer unterschiedlichen „Richtigkeitschance“414 der drei Vergleichsmaßstäbe. Dass diese Maßstäbe bei genauer Betrachtung untauglich sind, um unmittelbare Benachteiligungen bei personellen Einzelmaßnahmen zu identifizieren, wird nun anhand der Nichtfortsetzungsentscheidung dargelegt. b) Anwendung des Vergleichspersonenkonzepts auf die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Die Benachteiligung befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen ist gem. § 3 I AGG dadurch festzustellen, dass eine andere Person [bb)] in einer vergleichbaren Situation [aa)] besser behandelt wurde. aa) Vergleichbare Situation Da es sich bei der Vertragsfortsetzung um eine Einstellung im vertraglich vorgeprägten Raum handelt, kommen zwei Vergleichssituationen zur Feststellung einer Benachteiligung in Betracht: Entscheiden Arbeitgeber:innen bei Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses über die Fortsetzung, kann ein Vergleich mit ebenfalls befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen stattfinden. Wird die Stelle im Wege eines Stellenbesetzungsverfahrens neu besetzt, kann ein Vergleich mit anderen Bewerber:innen erfolgen. Da die Bewerbungssituation die von der Rechtsprechung 409
M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 648 f. H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 110 f. 411 M. Diller/S. Krieger/C. Arnold, NZA 2006, 887, 892; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 9; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 34; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5; a. A. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 272. 412 M. Diller/S. Krieger/C. Arnold, NZA 2006, 887, 892. 413 J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 17. 414 U. Wendeling-Schröder/A. Stein, § 3 AGG Rn. 9. 410
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
und Literatur am häufigsten besprochene Vergleichssituation i. S. v. § 3 I AGG ist, werden ihre Voraussetzungen zuerst untersucht. (1) Auswahlsituation als vergleichbare Situation von Bewerber:innen Rechtsprechung und Literatur haben die Koordinaten des nach § 3 I AGG anzustellenden Vergleichs im Rahmen einer Bewerbungssituation weitgehend abgesteckt: Personen befinden sich grundsätzlich dann in einer vergleichbaren Situation, wenn sie sich für dieselbe Stelle beworben haben.415 Früher hat das BAG einschränkend vertreten, dass eine Auswahlsituation nur für Bewerber:innen vergleichbar sei, die für die zu besetzende Stelle objektiv geeignet sind.416 Maßgeblich für die objektive Eignung sei in erster Linie das Anforderungsprofil, das Arbeitgeber:innen erstellt haben und aufgrund der Erfordernisse der wahrzunehmenden Aufgabe nach der Verkehrsanschauung stellen durften. Grund dieser Einschränkung war der Gedanke, dass eine Benachteiligung nach dem Schutzzweck des AGG nicht verboten sei, wenn feststeht, dass Bewerber:innen ohne Diskriminierung nicht anders behandelt worden wären. Diese Ansicht vermag aus mehreren Gründen, die auch das BAG zur Aufgabe seiner Rechtsprechung mit Urteil vom 19. Mai 2016 veranlasste,417 nicht zu überzeugen: Arbeitgeber:innen hätten es ansonsten in der Hand, das Anforderungsprofil über die zwingend erforderlichen Anforderungen hinaus zu gestalten und so die Vergleichbarkeit der Situationen selbst zu definieren, wodurch der Schutz des AGG beeinträchtigt würde. Möchten Arbeitgeber:innen befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen aus diskriminierenden Gründen nicht weiter anstellen, könnten sie das Anforderungsprofil beispielsweise so verändern, dass es den Arbeitnehmer:innen bereits an der objektiven Eignung fehlt, obwohl sie alle für den Arbeitsplatz nicht zwingend erforderlichen Anforderungen erfüllen. Es ist sachgerechter, fachliche und persönliche Qualifikationen als Entscheidungskriterium bei der Kausalität zwischen Merkmal des § 1 AGG und Benachteiligung zu berücksichtigen: Haben Arbeitgeber:innen sich nur aufgrund der fehlenden Eignung und nicht aufgrund eines Merkmals gem. § 1 AGG gegen die Einstellung von Bewerber:innen entschieden, scheidet eine Benachteiligung gem. § 3 I AGG mangels Kausalität ohnehin aus. Ist ein Merkmal des § 1 AGG zwar in die Entscheidung eingeflossen, aber wären Bewerber:innen auch anderenfalls nicht eingestellt worden, ist dies im Rahmen des ersatzfähigen Schadens gem. § 15 AGG zu berücksichtigen: Ohne Vorliegen der haftungsausfüllenden Kausalität scheidet ein Anspruch gem. § 15 I AGG aus; § 15 II 2 AGG sieht für solche Fälle ausdrücklich nur eine hö415 BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/14, NZA 2016, 1394, 1397 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 16. 2. 2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667, 669 (Rn. 35); BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 370/09, NZA 2011, 200, 201 (Rn. 29 ff.); BAG, Urt. v. 17. 8. 2010 – 9 AZR 839/08, NZA 2011, 153, 155 (Rn. 29); ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 3. 416 BAG, Urt. v. 16. 2. 2012 – 8 AZR 697/10, NZA 2012, 667, 669. 417 BAG, Urt. v. 23. 11. 2017 – 8 AZR 372/16, NZA-RR 2018, 287, 288 (Rn 13); BAG, Urt. v. 26. 1. 2017 – 8 AZR 73/16, NZA-RR 2017, 342, 343 (Rn. 13 f.); BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/14, NZA 2016, 1394, 1397 (Rn. 18 ff.).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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henmäßige Beschränkung, aber keinen Ausschluss eines Entschädigungsanspruchs vor. Diese gesetzgeberische Entscheidung ist zu berücksichtigen. In einer vergleichbaren Situation i. S. v. § 3 I AGG befinden sich daher alle Bewerber:innen, die sich für dieselbe Stelle beworben haben, unabhängig von ihrer Eignung. (2) Befristete Arbeitsverhältnisse als vergleichbare Situation von Arbeitnehmer:innen Entscheiden Arbeitgeber:innen außerhalb einer Bewerbungssituation über die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse, kann eine Benachteiligung dadurch indiziert sein, dass Arbeitgeber:innen anderen Arbeitnehmer:innen in einer vergleichbaren Situation einen Folgearbeitsvertrag angeboten haben. Es ist schwierig, festzustellen, welche Arbeitnehmer:innen sich in Bezug auf arbeitgeberseitige Maßnahmen in einer vergleichbaren Situation befinden. Betrachtet man die Eigenschaften verschiedener Arbeitnehmer:innen und ihrer Situationen, sind sie „stets sowohl ungleich als auch gleich, da mindestens eine Eigenschaft sie stets unterscheidet und es praktisch kaum vorstellbar ist, daß zwei Dinge keinerlei übereinstimmende Eigenschaften haben“418. Da der Gruppenzuschnitt darüber entscheidet, ob Arbeitnehmer:innen innerhalb der Gruppe gleich oder ungleich behandelt werden, wird mit der Auswahl der wesentlichen Übereinstimmungskriterien bereits das Ergebnis des Vergleichs bestimmt.419 Die Festlegung des Vergleichsmaßstabs ist damit ein hoch normativer Vorgang,420 der nur im Hinblick auf die jeweilige, konkrete Behandlung erfolgen kann: Um das möglicherweise diskriminierende Element einer ungünstigen Behandlung herauszufiltern, muss die Vergleichbarkeit daher unter Berücksichtigung des Zwecks und der Voraussetzungen der konkreten Maßnahme beurteilt werden.421 Maßstab ist also, dass die Lebenssachverhalte gerade in Bezug auf die Situation, an der der Nachteil ansetzt, so ähnlich wie möglich sind.422 Nur dann ist die Ungleichbehandlung zweier Personen so suspekt, dass das Vergleichspersonenkonzept seine prozessuale Hilfsfunktion erfüllen kann.423 Für die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen sind danach die Umstände in den Vergleich einzubeziehen, die Arbeitgeber:innen ihrer Fortsetzungsentscheidung typischerweise zugrunde legen. Diese Umstände sind die Art der ausgeübten Tätigkeit, der Grund für die Befristung und der Verlauf des bisherigen Arbeitsver418
So zum allgemeinen Gleichheitssatz U. Kischel, AöR 124 (1999), 174, 182. So auch H.-J. Rupp, RdA 2009, 307, 307. 420 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 35; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 649. 421 EuGH, Urt. v. 1. 10. 2015 – C-432/14 (O/Bio Philippe Auguste SARL), NZA 2015, 1309, 1310 (Rn. 32); EuGH, Urt. v. 12. 12. 2013 – C-267/12, NZA 2014, 153, 155; EuGH, Urt. v. 10. 5. 2011 – C-147/08, NZA 2011, 556, 559; BAG, Urt. v. 7. 6. 2011 – 1 AZR 34/10, NZA 2011, 1370, 1372 f. (Rn. 29). 422 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 36; H.-J. Rupp, RdA 2009, 307, 307; ErfK/ M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 3. 423 Vgl. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 276. 419
262
3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
hältnisses, also insbesondere der Umstand, ob Arbeitgeber:innen mit der Leistung der Arbeitnehmer:innen zufrieden sind. Ob das letztgenannte Kriterium für den Zuschnitt der vergleichbaren Situation herangezogen werden darf, ist aus denselben Gründen zweifelhaft, die gegen eine Berücksichtigung der objektiven Eignung in Bewerbungssituationen sprechen: Würden nur diejenigen Arbeitnehmer:innen in einen Vergleich einbezogen, die sich auf eine ähnliche Weise im Unternehmen bewährt haben, wären Fälle schon gar nicht tatbestandsgemäß, in denen eine Fortsetzungsentscheidung sowohl auf mangelnder Bewährung als auch einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG beruht. Diese Folge widerspricht dem Zweck von § 3 I AGG, jede Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG zu verbieten, sowie der Regelung in § 15 II 2 AGG.424 Der Verlauf des bisherigen Arbeitsverhältnisses ist daher nur im Rahmen des Kausalzusammenhangs relevant und auch nur dann, wenn diskriminierende Motive daneben keine Rolle gespielt haben.425 Eine vergleichbare Situation ist also anzunehmen, wenn die zu vergleichenden Personen gleichartige Tätigkeiten in einem gleichartig befristeten Arbeitsverhältnis ausüben. Diese Ansicht scheint das BAG zu teilen: „Die Klägerin ist ungünstiger behandelt worden als ihre Kolleginnen Frau B und Frau F, deren Arbeitsverhältnisse jeweils entfristet worden sind. […]. Die Situation der ungünstiger behandelten Kl. war mit der ihrer Kolleginnen B und F vergleichbar. […] Unstreitig wurden aber die Kolleginnen B und F wie die Kl. als Sachbearbeiterinnen bei der Bekl. beschäftigt. Alle drei Arbeitnehmerinnen waren ohne Sachgrund befristet eingestellt worden. Die Bekl. hat nicht dargelegt, dass zwischen der Tätigkeit oder den Vertragsbedingungen der Kl. und ihren Kolleginnen B und F wesentliche Unterschiede bestanden. Alle verrichteten zumindest gleichartige Tätigkeiten unter im Wesentlichen denselben Arbeitsvertragsbedingungen.“426
Arbeitnehmer:innen sind typischerweise dann vergleichbar, wenn sie identische oder im Wesentlichen gleichartige Tätigkeiten ausüben. Dafür ist ein Gesamtvergleich der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten, Arbeitsvertragsbedingungen und ggf. Ausbildungsanforderungen des Arbeitsplatzes vorzunehmen. Ein gleichartig befristetes Arbeitsverhältnis ist dann anzunehmen, wenn die zu vergleichenden Arbeitsverträge entweder sachgrundlos befristet wurden oder auf demselben Sachgrund beruhen.427 Dass Befristungen auf unterschiedlichen Gründen beruhen, spricht gegen eine ausreichende Vergleichbarkeit: Hat beispielsweise ein Arbeitgeber den Arbeitsvertrag eines zur Erprobung befristet beschäftigten Arbeitnehmers (§ 14 I Nr. 5 TzBfG) entfristet, erlaubt dies keine Schlüsse auf ihr Motiv, das Arbeitsverhältnis einer Arbeitnehmerin nicht zu verlängern, die im selben Tätigkeitsbereich zur Vertretung einer Mitarbeiterin (§ 14 I 2 Nr. 3 TzBfG) eingestellt wurde. Sind aber in 424
Vgl. die Nachweise in Fn. 417. Siehe oben 5. Kap. B. I. 1. a). 426 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 26 – 28). 427 Vgl. zur Vergleichbarkeit parallel abgeschlossener sachgrundloser Befristungen BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347 (Rn. 28); BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27. 425
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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einem Betrieb – z. B. in Presseunternehmen oder Rundfunkanstalten – eine Vielzahl inhaltlich identischer Arbeitsverhältnisse aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG befristet und wird nur ein Teil von ihnen verlängert, ist die Nichtverlängerung der anderen potenziell suspekt und daher auf eine Diskriminierung hin überprüfbar. Auch in Saison- und Kampagnebetrieben wird oft derselbe Sachgrund des vorübergehenden Bedarfs an der Arbeitsleistung (§ 14 I 2 Nr. 1 TzBfG) mehreren Arbeitsverhältnissen identischen Inhalts zugrunde liegen. Miteinander vergleichbar sind schließlich auch sachgrundlose befristete Arbeitsverträge. bb) Trias der Vergleichspersonen Eine unmittelbare Benachteiligung setzt gem. § 3 I AGG voraus, dass eine andere Person in der vergleichbaren Situation die ungünstige Behandlung nicht erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Als Vergleichspersonen kommen also Personen in Betracht, die gleichzeitig mit den Anspruchstellern behandelt werden und in der Vergangenheit besser behandelte Personen [(1)] sowie hypothetische Personen [(2)]. (1) Reale Vergleichspersonen Gegenwärtige Vergleichspersonen sind alle Arbeitnehmer:innen gegenteiliger Merkmalsausprägung, deren befristete Arbeitsverhältnisse gleichzeitig auslaufen und deren Arbeitsverhältnisse fortgesetzt wurden. Eine solche zeitliche Koinzidenz ist z. B. bei den prognosebezogenen Sachgründen vorstellbar, da Arbeitnehmer:innen, die vergleichbare Tätigkeiten ausüben, oft von der Dauer derselben vorübergehend bestehenden Beschäftigungsmöglichkeit abhängig sind. Typische Fälle sind der Einsatz mehrerer gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen auf einem Projekt mit ungewisser Dauer, die Beschäftigung einer Vielzahl von Saisonarbeiter:innen bis zum Ende einer Saison, oder die Vergütung mehrerer Arbeitnehmer:innen aus denselben Haushaltsmitteln i. S. v. § 14 I 2 Nr. 7 TzBfG. Auch wenn Arbeitgeber:innen mehrere Arbeitnehmer:innen für ähnliche Tätigkeiten gleichzeitig einstellen, was insbesondere in Großunternehmen oder neu gegründeten Unternehmen vorkommt, und sie probeweise sachgrundlos befristet werden, laufen mehrere vergleichbare Arbeitsverhältnisse zeitgleich aus.428 Als gegenwärtige Vergleichspersonen kommen ebenso Mitbewerber:innen in einem Bewerbungsverfahren um den Arbeitsplatz in Betracht. Eine günstigere Behandlung haben insbesondere erfolgreiche Bewerber:innen erfahren.429 428 So hatte etwa das BAG über einen Fall zu entscheiden, in dem gemeinsam mit der Klägerin 18 weitere Arbeitnehmer:innen mit gleichlautenden Verträgen eingestellt wurden, von denen elf in demselben Tätigkeitsbereich arbeiteten und die alle gleichzeitig ein Angebot auf Vertragsverlängerung erhalten haben (BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27). 429 Der Einstellung vorgelagert kann bereits die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch eine günstigere Behandlung sein, wenn die Bewerbung (ehemaliger) Arbeitnehmer:innen schon vorher aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschieden wurden. Die Benachteiligung liegt dann
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Als in der Vergangenheit günstiger behandelte Vergleichspersonen kommen solche Personen in Betracht, deren vergleichbare befristete Arbeitsverhältnisse in der Vergangenheit fortgesetzt wurden430 oder die in einem früheren Bewerbungsverfahren um einen Arbeitsplatz mit demselben Aufgaben- und Anforderungsprofil eingestellt wurden.431 Grundlage des Vergleichs mit diesen Personen ist die Vermutung, dass sich die vergangene Behandlung in der Gegenwart wiederholen würde.432 Nach Ansicht der herrschenden Literatur kann aufgrund der besseren Behandlung von Vergleichspersonen mit anderer Merkmalsausprägung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit darauf geschlossen werden, dass die unterschiedliche Behandlung der Personen auch auf eine Anknüpfung an das betreffende Merkmal zurückzuführen ist. Aus diesem Grund sei vorrangig auf den Vergleich mit realen Vergleichspersonen abzustellen. Diese Ansicht überzeugt jedenfalls bei der Beurteilung von Statusmaßnahmen, wie insbesondere der Personalauswahl, nicht: In Bewerbungssituationen, in denen sich mehrere Personen auf einen Arbeitsplatz bewerben, ist die ungleiche Behandlung der Bewerber:innen eine durch die Konkurrenzsituation bedingte Folge. Dass Bewerber:innen mit anderer Merkmalsausprägung eingestellt und damit besser behandelt wurden als andere ist für sich genommen nicht „suspekt“ und hat keine Aussagekraft für die Behauptung, erfolglose Bewerber:innen seien aufgrund eines gem. § 1 AGG geschützten Merkmals nicht eingestellt worden. Es sind stets weitere Kriterien – wie diskriminierende Stellenausschreibungen, Äußerungen der Arbeitgeber:innen oder die schlechtere Qualifikation der erfolgreichen Bewerber:innen – erforderlich, um annehmen zu können, dass die ungleiche Behandlung tatsächlich aufgrund eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG geschehen ist. Die bessere Behandlung erfolgreicher Bewerber:innen kann für sich daher allenfalls notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium sein, um eine Benachteiligung aufgrund eines geschützten Merkmals zu vermuten. Die Richtigkeitschance des Vergleichs mit einer realen Person ist bei Auswahlsituationen marginal. Zu überlegen ist, ob jedenfalls die bessere Behandlung anderer befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen aussagekräftig ist, wenn die zu vergleichenden Arbeitnehmer:innen nicht in Konkurrenz stehen, sondern prinzipiell alle Arbeitsverhältnisse fortgesetzt werden könnten. Entfaltet es eine hohe Indizwirkung, wenn in der Vorenthaltung einer Chance auf Einstellung (BAG, Urt. v. 22. 10. 2015 – 8 AZR 384/14, NZA 2016, 625, 627 (Rn. 26) mit m. w. N. aus der ständigen Rechtsprechung). Ein Vergleich mit nicht eingestellten, aber zum Bewerbungsverfahren eingeladenen Bewerber:innen ist sinnvoll, wenn im Ergebnis niemand eingestellt wurde. Da das Vergleichskonzept aber ohnehin nicht zielführend ist, wird diese nuancierte Unterscheidung zwischen einem Vergleich mit eingestellten und mit eingeladenen Vergleichspersonen hier nicht weiterverfolgt. 430 So z. B. in BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1347. 431 T. v. Roetteken, AGG (2021), § 3 AGG Rn. 290; DHSW/V. Braun, § 3 AGG Rn. 4. 432 T. v. Roetteken, AGG (2021), § 3 AGG Rn. 290; ähnlich BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 40: Bindungswirkung des Arbeitgeberverhaltens.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
265
die Arbeitsverträge vergleichbarer befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen anderer Merkmalsausprägung fortgesetzt werden? Dagegen spricht, dass die Entscheidung über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen ein individueller Vorgang ist, der an eine Vielzahl von Faktoren anknüpft und auch anknüpfen darf. Arbeitgeber:innen sind bei ihrer Entscheidung, ob sie befristete Arbeitsverhältnisse fortsetzen möchten, grundsätzlich frei und an keine Voraussetzungen gebunden. Anders als bei kollektiven Maßnahmen, die grundsätzlich ohne Ansehung der einzelnen Person erfolgen, wie beispielsweise die Zahlung eines Weihnachtsgelds, bewerten Arbeitgeber:innen bei der Entscheidung über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses regelmäßig die bisher erbrachten Leistungen der Arbeitnehmer:innen, ihre Integration in den Betrieb, wechselseitige Sympathien sowie den weiteren Bedarf an der Arbeitsleistung. Aus diesem Grund unterliegt die Fortsetzungsentscheidung auch regelmäßig nicht dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz.433 Da die Zahl üblicher und zulässiger Entscheidungsfaktoren bei individuellen Maßnahmen in Ansehung einzelner Arbeitnehmer:innen höher ist als bei kollektiven Maßnahmen, legt die ungleiche Behandlung der Arbeitnehmer:innen in geringerem Maße eine verbotene Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG nah. Auch bei der Fortsetzungsentscheidung außerhalb einer Auswahlsituation ist der Vergleich mit anderen Arbeitnehmer:innen, denen eine Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse angeboten wurde, also allenfalls ein erforderliches, aber kein hinreichendes Indiz für eine Benachteiligung gem. § 3 I AGG. (2) Hypothetische Vergleichsperson Nach der dritten Variante des § 3 I 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung schließlich vor, wenn hypothetische Mitbewerber:innen ohne Merkmal gem. § 1 AGG eingestellt oder vergleichbare Arbeitsverhältnisse hypothetischer Arbeitnehmer:innen ohne Merkmal gem. § 1 AGG fortgesetzt worden wären.434 Damit das Vergleichspersonenprinzip nicht ausgehebelt wird, sind beliebige, spekulative Mutmaßungen über die Behandlung einer bloß gedachten Vergleichsperson nicht ausreichend. Die Filterfunktion des Vergleichs wird stattdessen dadurch sichergestellt, dass anstelle der besseren Behandlung einer vergleichbaren Person andere konkrete Anhaltspunkte für eine Anknüpfung an verbotene Merkmale vorliegen müssen.435 Diese können sich beispielsweise aus im Betrieb verwendeten generellen Regeln,436 diskriminierenden Äußerungen der Arbeitgeber:innen437 oder diskriminierenden Stellenausschreibungen438 ergeben. 433
Siehe ausführlich oben 3. Kap. A. III. 2. b). So z. B. in BAG, v. 20. 6. 2013 – 8 AZR 482/12, NZA 2014, 21, 23. 435 LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 17. 3. 2014 – 1 Sa 23/13, BeckRS 2014, 68737; ArbG Düsseldorf, Urt. v. 12. 3. 2013 – 11 Ca 7393/11, BeckRS 2013, 67785; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 9; Schiek/D. Schiek, § 3 AGG Rn. 3; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5; H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 110 f.; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 3 AGG Rn. 304. 436 ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 3 AGG Rn. 307. 434
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Die Feststellung, dass eine hypothetische Vergleichsperson besser behandelt worden wäre, erfordert also Indizien dafür, dass bei der benachteiligten Person an Merkmale i. S. v. § 1 AGG angeknüpft worden ist. Damit ist ein Vergleich mit der hypothetischen Vergleichsperson im Ergebnis nichts anderes als der Nachweis des Kausalzusammenhangs: die Feststellung, dass Personen einen Nachteil erfahren und Arbeitgeber:innen dabei an verbotene Merkmale angeknüpft haben.439 Anders formuliert: Immer dann, wenn Indizien dafür bestehen, dass ein in § 1 AGG genannter Grund die Fortsetzungsentscheidung beeinflusst hat, bestehen auch Indizien dafür, dass eine hypothetische Vergleichsperson mit gegenteiliger Merkmalsausprägung besser behandelt worden wäre. Im Gegensatz zum Vergleich mit gegenwärtigen oder vergangenen Vergleichspersonen sind die Indizien hier nicht auf bestimmte, vom europäischen Gesetzgeber als besonders aussagekräftige Umstände – die tatsächliche Besserbehandlung einer anderen Person – beschränkt. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Voraussetzungen auf einen Vergleich mit einer realen Vergleichsperson verzichtet werden kann und andere Indizien genügen, um auf die hypothetische Behandlung einer fiktiven Vergleichsperson zu schließen. In der Literatur wird auf eine hypothetische Betrachtung überwiegend nur zurückgegriffen, wenn sich keine Person gegenteiliger Merkmalsausprägung in einer vergleichbaren Situation befindet oder befunden hat.440 Das ist eine Konsequenz der überwiegend angenommenen Rangfolge der Vergleichspersonen.441 Wie relevant diese Fallgruppe im Kontext der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ist, wird zuerst besprochen [(a)]. Anschließend wird gezeigt, dass die Annahme einer Rangfolge bei der Nichtfortsetzung als personeller Einzelfallentscheidung ihren Zweck verfehlt und daher abzulehnen ist [(b)]. (a) Anwendungsbereich des hypothetischen Vergleichs bei Annahme einer Rangfolge: Fehlen realer Vergleichspersonen Reale Vergleichspersonen fehlen typischerweise bei Einzelfallmaßnahmen ohne Präzedenzfall (z. B. bei der verhaltensbedingten Kündigung eines kriminellen homosexuellen Mitarbeiters ohne vergleichbaren Pflichtverstoß eines heterosexuellen Mitarbeiters im Betrieb442). Bei Fortsetzungsentscheidungen liegt diese Situation vor, wenn weder gegenwärtig noch in der Vergangenheit Arbeitnehmer:innen eine vergleichbare Tätigkeit mit vergleichbarer Befristungsabrede ausgeübt haben. Weitere Anwendungsfälle des hypothetischen Vergleichs sind nach der Literatur 437
DHSW/V. Braun, § 3 AGG Rn. 4. BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 10; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/ V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5. 439 H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 110. 440 M. Diller/S. Krieger/C. Arnold, NZA 2006, 887, 892; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 9; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 34; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5. 441 Siehe die Nachweise in Fn. 411 – 414. 442 Beispiel nach M. Diller/S. Krieger/C. Arnold, NZA 2006, 887, 892. 438
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
267
Konstellationen, in denen sich zwar Personen in einer vergleichbaren Situation befinden, aber keine von ihnen eine gegenteilige Merkmalsausprägung aufweist. Als Beispiele werden mehrfach- oder multidimensionale Diskriminierungen443 sowie merkmalshomogene Arbeitnehmergruppen z. B. in Migrantenbetrieben oder geschlechtsspezifischen Tätigkeitsbereichen444 angeführt. Der Verweis auf solche Sonderkonstellationen ist nur notwendig, wenn Anwendungsfälle für Maßnahmen kollektiver Natur gesucht werden, die typischerweise eine Großzahl von Arbeitnehmer:innen in einem Betrieb erfassen. In diesen Fällen dürfte es nur ausnahmsweise vorkommen, dass innerhalb einer Vergleichsgruppe keine Arbeitnehmer:innen mit gegenteiliger Merkmalsausprägung existieren. Anders sieht es aber bei Maßnahmen aus, die nur einzelne Arbeitnehmer:innen oder jedenfalls eine überschaubare Anzahl betreffen. Ist nur ein kleiner Personenkreis aufgrund eines bestimmten Projekts gem. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG befristet beschäftigt oder bewirbt sich auf eine Ausschreibung nur ein kleiner Personenkreis, kommt es nicht selten vor, dass all diese Personen dieselbe „unerwünschte“ Merkmalsausprägung – beispielsweise das weibliche Geschlecht oder ein zu hohes Alter – aufweisen. Kommt es in diesen Fällen zu keiner Fortsetzung oder Einstellung, da Arbeitgeber:innen die Stelle nachweislich mit einer Person gegenteiliger Merkmalsausprägung – einem Mann oder einer jungen Person – besetzen wollten, kann die Benachteiligung auf die hypothetische günstigere Behandlung fiktiver Kolleg:innen bzw. Mitbewerber:innen gestützt werden.445 Die hypothetische Vergleichsperson ist also selbst bei Annahme einer starren Rangfolge der Vergleichsmaßstäbe keine solch seltene Erscheinung, wie in der deutschen Kommentarliteratur teilweise suggeriert wird.446 (b) Hypothetischer Vergleich trotz Existenz realer Vergleichspersonen? Nach einer verbreiteten Literaturansicht scheidet eine hypothetische Betrachtung aus, wenn vergleichbare Arbeitnehmer:innen oder Mitbewerber:innen mit gegenteiliger Merkmalsausprägung vorhanden sind, diese aber nicht besser behandelt werden. Begründet wird diese Annahme mit der unterschiedlichen Richtigkeitschance der verschiedenen Vergleichspersonen: Eine Spekulation über hypothetisches Verhalten müsse ausscheiden, wenn Arbeitgeber:innen vergleichbare Fälle in der Gegenwart oder Vergangenheit gleichförmig behandelt haben.447 Diese Argu443
BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 41; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5. BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 41; D. Schiek, NZA 2004, 873, 874; Däubler/ Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 30. 445 Vgl. K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 3 AGG Rn. 33; DHSW/V. Braun, § 3 AGG Rn. 4; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 10; Schleusener/Suckow/Plum/M. Plum, § 3 AGG Rn. 6. 446 Vgl. Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 30: „Fallgruppen hierzu sind allerdings noch immer schwer auszumachen“ und ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 5: „selten praktisch“. 447 J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 17. 444
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
mente treffen regelmäßig zu, wenn es um kollektive Arbeitgebermaßnahmen geht, die nach einem generalisierenden Prinzip und nicht in Ansehung der einzelnen Arbeitnehmer:innen erfolgen. Zahlt eine Arbeitgeberin beispielsweise ihrer gesamten – männlichen und weiblichen – Belegschaft dieselbe Summe Weihnachtsgeld, ist die hypothetische Annahme, dass eine Arbeitnehmerin ohne Anknüpfung an ihr Geschlecht mehr Weihnachtsgeld erhalten hätte, fernliegend. Es besteht kein Anlass für Hypothesen. Etwas anderes kann jedoch bei Einzelfallmaßnahmen gelten, die konkret in Ansehung der Qualifikation und der Persönlichkeit einzelner Beschäftigter erfolgen. Es ist daran zu erinnern, dass sich Personen bereits dann in einer vergleichbaren Situation befinden, wenn sie vergleichbare Arbeitsverhältnisse innehaben oder sie sich auf dieselbe Stelle beworben haben, ohne dass es dabei auf ihre objektive Eignung, Qualifikation oder Bewährung im vorangehenden Arbeitsverhältnis ankommt.448 Die Behandlung realer Personen hat in diesen Fällen keine höhere, sondern eine niedrigere Richtigkeitschance als andere Indizien. Der Illustration dieser These soll ein Beispielsfall dienen: A und B sind zu Bewährungszwecken sachgrundlos befristet eingestellt worden. Vor der Entfristungsentscheidung erkundigt sich Personalleiterin P nach der Familienplanung der A. Nur A ist schwanger. Sowohl das Arbeitsverhältnis von A als auch B wird nicht entfristet. Wurde A unmittelbar benachteiligt?
Bei strikter Befolgung der von der Literatur angenommenen Rangfolge scheidet ein Vergleich mit der hypothetischen Behandlung einer nicht schwangeren A aus, da B als gegenwärtige Vergleichsperson vorhanden und vorrangig zu berücksichtigen ist, obwohl aufgrund der Nachfrage der P eindeutige Anhaltspunkte für eine Diskriminierung aufgrund der Schwangerschaft bestehen. An einer solch pauschalen Betrachtungsweise ist problematisch, dass gegenwärtige Vergleichspersonen in einer Personalentscheidungssituation alle Arbeitnehmer:innen bzw. Mitbewerber:innen unabhängig von ihrer Qualifikation sind. Die Annahme einer starren Rangfolge der Vergleichspersonen könnte es daher nicht abbilden, wenn sich im Beispielsfall nur A und nicht B bewährt hat und daher die ebenfalls ungünstige Behandlung von B keine Rückschlüsse darauf zulässt, wie A ohne Anknüpfung an die Schwangerschaft behandelt worden wäre. Anders formuliert: Die Nichtfortsetzung anderer Arbeitsverhältnisse kann nicht die Verdachtswirkung diskriminierender Äußerungen oder anderer Indizien widerlegen. Dies wird umso deutlicher, je zugespitzter der Beispielsfall skizziert wird: Würde man an einer strikten Rangfolge der unterschiedlichen Vergleichspersonen in § 3 I 1 AGG festhalten, wäre eine hypothetische Betrachtung dann zulässig, wenn sich 20 weibliche, qualifizierte Arbeitnehmer:innen auf eine geschlechterdiskriminierende Stellenausschreibung beworben und allesamt abgelehnt worden sind; es fehlt nämlich eine Person mit gegenteiliger Merkmalsausprägung. Hätte sich aber zusätzlich ein männlicher, nicht qualifizierter Bewerber ebenso erfolglos beworben, müsste eine Benachteiligung ausscheiden, da er eben448
Dazu oben 5. Kap. B. II. 1. b) aa).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
269
falls ungünstig behandelt wurde und seine Existenz gleichzeitig eine hypothetische Betrachtung ausschließen soll. Mit einer solchen Betrachtungsweise werden bei personellen Statusmaßnahmen, wie der Entscheidung über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses die Entscheidungsrealitäten ausgeblendet: Da die Entscheidung von diversen Faktoren, insbesondere der Bewährung oder der Qualifikation abhängt, hat der Vergleich mit einer realen, gegenwärtigen Vergleichsperson nicht zwingend eine höhere Richtigkeitschance, als die auf konkrete Anhaltspunkte gestützte Vermutung, eine Person wäre mit gegenteiliger Merkmalsausprägung anders behandelt worden. Der Vergleich mit einer realen Vergleichsperson ist erforderlich, wenn mangels anderer Indizien nur so eine potenziell benachteiligende Behandlung nachgewiesen werden kann; zwingend ist der Vergleich aber nicht. Entscheidend ist, dass Arbeitnehmer:innen ohne Anknüpfung an ein geschütztes Merkmal eine günstigere Behandlung erfahren hätten. Konkrete Anhaltspunkte einer Benachteiligung sind auch aussagekräftigere Indizien als der Vergleich mit anderen Personen, wenn qualifizierte Vergleichspersonen mit gegenteiliger Merkmalsausprägung ungünstig behandelt wurden:449 Sowohl dann, wenn im Beispielfall die qualifizierte B aus anderen sachwidrigen Gründen, beispielsweise aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit entlassen wurde, als auch dann, wenn ihre Ablehnung auf erlaubten Gründen, beispielsweise der wechselseitigen Antipathie mit P beruhte, kann diese Behandlung nicht die Vermutung einer Geschlechtsdiskriminierung der A kontraindizieren. Die Fortsetzungsentscheidung ist in so hohem Maße von der individuellen Beurteilung einer Person abhängig, dass die Benachteiligung anderer Arbeitnehmer:innen oder Mitbewerber:innen unabhängig von ihrer Qualifikation keine Rückschlüsse auf die Motivlage für eine Ablehnung erlaubt. Eine Rangfolge der Vergleichspersonen in § 3 I 1 AGG ist also abzulehnen: Eine gleichförmige Behandlung von Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen gegenteiliger Merkmalsausprägungen in Gegenwart oder Vergangenheit schließt eine Diskriminierung nicht aus. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Arbeitsverhältnis fortgesetzt worden wäre, wenn nicht an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG angeknüpft worden wäre, ist diese hypothetische Betrachtung unabhängig davon zulässig, ob die Arbeitsverhältnisse anderer geeigneter oder ungeeigneter Vergleichspersonen fortgesetzt worden sind.450
449
So dezidiert auch LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 1. 2. 2011 – 22 Sa 67/10, NZA-RR 2011, 237, 239. 450 I. E. ebenso LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 1. 2. 2011 – 22 Sa 67/10, NZA-RR 2011, 237, 239; O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 267; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 10; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 3 AGG Rn. 310; NK ArbR/R. von SteinauSteinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 5; R. Wank, NZA-Beilage 2004, 16, 22.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
(c) Ergebnis: Keine Subsidiarität der hypothetischen Betrachtung bei personellen Einzelmaßnahmen Die Entscheidung über die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ist eine Einzelfallmaßnahme, die in Ansehung der Qualifikation, der Bewährung und der Persönlichkeit einzelner Arbeitnehmer:innen erfolgt. Daher geht von dem Vergleich mit realen Vergleichspersonen – anderen Arbeitnehmer:innen oder Mitbewerber:innen – keine höhere Richtigkeitschance aus als von konkreten Anhaltspunkten, die auf eine hypothetische Behandlung der konkreten Person ohne die relevante Merkmalsausprägung hindeuten. Sprechen Indizien dafür, dass Arbeitgeber:innen bei der Fortsetzungsentscheidung an Gründe i. S. v. § 1 AGG anknüpfen, ist immer der Schluss zulässig, dass eine hypothetischen Vergleichsperson ohne die Merkmalsausprägung besser behandelt worden wäre. Der Vergleich mit einer realen Vergleichspersonen ist bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen innerhalb wie außerhalb einer Auswahlsituation also kein erforderliches Indiz für die Annahme einer Benachteiligung gem. § 3 I AGG. c) Ergebnis: Redundanz des Vergleichspersonenkonzepts bei personellen Einzelmaßnahmen Das Vergleichspersonenkonzept erfüllt seine Schwellen- und Filterfunktion, Bedingungen für den Nachweis einer Diskriminierung aufzustellen, bei der Fortsetzungsentscheidung als personeller Einzelmaßnahme nicht. Der Vergleich mit einer realen Person ist auf prozessualer Ebene weder hinreichendes noch erforderliches Indiz für die Annahme eines Kausalzusammenhangs.451 Es kommt stets auf andere, weitere Indizien an, die eine benachteiligende Motivlage von Arbeitgeber:innen wahrscheinlich machen. Das Vergleichspersonenkonzept stellt bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse damit keine eigenständigen materiellen Voraussetzungen auf, die über die prozessualen Anforderungen an den Nachweis eines Kausalzusammenhangs hinausgehen. Diese Anforderungen werden im 7. Kapitel erneut aufgegriffen. 2. Vergleichspersonenbetrachtung zur Feststellung einer Maßregelung gem. § 612a BGB? Eine Maßnahme oder Vereinbarung ist benachteiligend i. S. v. § 612a BGB, wenn Arbeitnehmer:innen schlechter stehen als sie hypothetisch ohne Maßregelung stünden. Dafür ist nach einhelliger Ansicht grundsätzlich kein Vergleich mit anderen 451
Auch O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 266 ff. hat sich ausführlich mit der Funktion des Vergleichspersonenkonzepts beschäftigt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Nachweis einer konkreten Vergleichsperson und der Nachweis der diskriminierenden Entscheidungsmaxime als solcher zwei gleichrangige Wege seien, um den Nachweis einer Diskriminierung zu führen.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
271
Personen erforderlich.452 Das BAG scheint allerdings davon auszugehen, dass die Vorenthaltung von Vorteilen nur dann eine Benachteiligung ist, wenn „dem Arbeitnehmer Vorteile vorenthalten werden, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt, die entsprechende Rechte nicht ausgeübt haben“.453 Diese Floskel wird von Teilen der Kommentarliteratur wiederholt.454 Nach dieser Ansicht wäre die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses nur eine Maßregelung, wenn die Arbeitsverhältnisse vergleichbarer Arbeitnehmer:innen fortgesetzt worden sind. Fehlen solche Vergleichspersonen, wäre die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses keine verbotene Maßregelung. Das BAG und die herrschende Lehre bleiben eine Begründung für diese Einschränkung schuldig. Soweit ersichtlich begründet nur Wilken das Erfordernis des Vergleichspersonenprinzips: Sie behauptet, dass Arbeitnehmer:innen, die von der Gewährung eines Vorteils ausgenommen wurden, bei isolierter Betrachtung keine Einbuße erlitten haben. Der Nachteil erwachse ihnen erst aus einem Vergleich mit anderen Arbeitnehmer:innen.455 Insoweit folgerichtig kommt Wilken zu dem Ergebnis, dass immer auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt ist, wenn Arbeitgeber:innen einen Vorteil entgegen § 612a BGB vorenthalten.456 Diese Ansicht ist unzutreffend. Sie widerspricht sowohl dem Wortlaut als auch dem Zweck von § 612a BGB: Zum Wortlaut: Arbeitnehmer dürfen gem. § 612a BGB nicht benachteiligt werden, weil sie in zulässiger Weise ihre Rechte ausüben. Anders als § 3 I AGG ordnet die Norm also gerade nicht an, dass die Benachteiligung durch einen Vergleich mit einer anderen Person festzustellen ist. Auch der Begriff der Benachteiligung setzt nicht voraus, dass andere Personen konkret besser behandelt worden sind. Eine Benachteiligung kann auch festgestellt werden, indem der Status Quo mit der hypothetischen Situation verglichen wird, die im Falle einer Vorteilsgewährung bestünde. Zum Zweck der Norm: Es wurde bereits herausgearbeitet, dass das Maßregelungsverbot des § 612a BGB und der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz unterschiedlich strukturiert sind und verschiedene Schutzzwecke verfolgen:457 Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz dient der Verteilungsgerechtigkeit, wenn Arbeitgeber:innen Leistungen nach überindividuellen Gesichtspunkten verteilen. Demgegenüber bezweckt § 612a BGB, die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen bei der Entscheidung zu schützen, ob sie ein Recht in Anspruch nehmen.458 Dieser Schutz452 BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 28; NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 9; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 8. 453 St. Rspr. des BAG. Konkret zur Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 321 (Rn. 34) m. w. N. 454 BeckOK BGB/A. Baumgärtner, § 612a BGB Rn. 5; NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 9; NK BGB/V. Klappstein, § 612a BGB Rn. 13; ausdrücklich anders aber MüKo BGB/ R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 15. 455 F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 133. 456 F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 161. 457 4. Kap. C. III. 458 4. Kap. C. III. 1.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
zweck ist immer dann tangiert, wenn Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer Rechtsausübung einen Nachteil erfahren, den sie ohne die Ausübung nicht erfahren hätten. Das gilt nicht nur bei Maßnahmen mit kollektivem Bezug, bei denen typischerweise ein Vergleich mit anderen Arbeitnehmer:innen möglich ist, sondern auch bei benachteiligenden Einzelmaßnahmen. Müssen befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen befürchten, dass ihre Arbeitsverhältnisse aufgrund einer Rechtsausübung nicht fortgesetzt werden, können sie ihre Rechte nicht frei ausüben. Die Gefährdungslage besteht unabhängig davon, ob es vergleichbare Arbeitnehmer:innen gibt, deren Arbeitsverträge fortgesetzt wurden. Für die Schutzzwecke des § 612a BGB kommt es daher richtigerweise auch bei Maßregelungen durch Vorenthalten von Vorteilen nur darauf an, dass Arbeitnehmer:innen ohne Anknüpfung an eine Rechtsausübung besser behandelt worden wären. Die nachweislich bessere Behandlung von Arbeitnehmer:innen, die ihre Rechte nicht ausgeübt haben, ist daher auch nach dem Zweck des § 612a BGB keine Tatbestandsvoraussetzung. Sie kann aber indizielle Wirkung entfalten und auf diese Weise den Beweis der Kausalität erleichtern.459
3. Vergleichspersonenbetrachtung zur Feststellung einer Maßregelung gem. § 78 S. 2 BetrVG? Fraglich ist, ob eine Benachteiligung gem. § 78 S. 2 BetrVG im Vergleich zu anderen Personen festzustellen ist. Ist die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse von Interessenvertreter:innen nur verboten, wenn vergleichbare nicht amtierende Arbeitnehmer:innen weiterbeschäftigt wurden? In diese Richtung deutet die Standardformulierung des BAG, nach der eine Benachteiligung nach § 78 S. 2 BetrVG die „Schlechterstellung gegenüber Nichtbetriebsratsmitgliedern“ ist.460 In dem Urteil des BAG zur Nichtverlängerung des Arbeitsverhältnisses eines Betriebsratsmitglieds heißt es zudem: „Eine Maßnahme rechtsgeschäftlicher oder tatsächlicher Art kann auch in einem Unterlassen liegen, etwa indem einem von § 78 S. 2 BetrVG geschützten Mandatsträger Vorteile vorenthalten werden, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt.“461 Diese Formulierungen verleiten Lipp zu der Annahme, zur Feststellung einer Benachteiligung sei notwendig ein Vergleich mit der Behandlung anderer Arbeitnehmer:innen anzustellen.462 Dafür spreche insbesondere, dass ansonsten entweder der Begriff der Benachteiligung oder das Kausalitätsmerkmal an Bedeutung verlören, was gegen den Wortlaut des Gesetzes spreche, der beide Tatbestandsmerkmale nebeneinander enthalte.463 459
Siehe unten 7. Kap. E. IV. BAG, Urt. v. 10. 11. 2015 – 3 AZR 574/14, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 74 (Rn. 47); BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 29); BAG, Beschl. v. 20. 1. 2010 – 7 ABR 68/08, NZA 2010, 777, 777 (Rn. 11). 461 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 29). 462 H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 163 f.; wohl auch Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 21. 463 H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 163 f. 460
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Diese Ansicht überzeugt nicht. Sie folgt weder aus dem Wortlaut des § 78 S. 2 BetrVG, noch entspricht sie dem Zweck der Norm. Es können hier die zu § 612a BGB angestellten Erwägungen übertragen werden: Zum Wortlaut: Amtsträger:innen dürfen gem. § 78 S. 2 BetrVG „wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt […] werden.“ Anders als § 3 I AGG ordnet die Norm also gerade nicht an, dass die Benachteiligung durch einen Vergleich mit einer anderen Person festzustellen ist. Auch der Begriff der Benachteiligung an sich setzt nicht zwingend voraus, dass andere Personen konkret besser behandelt worden sind. Eine Benachteiligung kann auch isoliert festgestellt werden durch den Vergleich des Status Quo mit der hypothetischen Situation ohne Anknüpfung an die Amtsinhaberschaft. Zum Zweck: § 78 S. 2 BetrVG bezweckt, betriebsverfassungsrechtliche Amtsträger:innen vor Repressalien im Zusammenhang mit ihrer Amtstätigkeit zu schützen und auf diese Weise ihre innere und äußere Unabhängigkeit zu sichern.464 Dieser Schutzzweck ist immer dann tangiert, wenn Amtsträger:innen aufgrund ihrer Amtsstellung einen Nachteil erfahren, den sie ohne die Amtsstellung nicht erfahren hätten. Müssen befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen fürchten, dass ihre Arbeitsverhältnisse nur aufgrund ihrer Amtstätigkeit nicht fortgesetzt werden, können sie ihr Amt nicht unabhängig ausüben. Diese Gefährdungslage besteht unabhängig davon, ob Arbeitsverhältnisse anderer Arbeitnehmer:innen fortgesetzt wurden. Für Amtsträger:innen allein entscheidend ist, dass ihre eigene berufliche Laufbahn durch die Amtstätigkeit nicht beeinträchtigt wird. Für den Schutzzweck des § 78 S. 2 BetrVG kommt es daher mit der herrschenden Ansicht in der Literatur richtigerweise darauf an, dass Amtsträger:innen hypothetisch ohne ihr Amt in der konkreten Situation besser behandelt worden wären.465 Trotz der oben zitierten irreführenden Definition des BAG scheint dieser Anknüpfungspunkt auch für das Gericht entscheidend zu sein: Die Schlechterstellung gegenüber anderen Arbeitnehmer:innen stellt das Gericht nie gesondert fest; entscheidend ist immer, ob Amtsträger:innen ohne ihr Amt keinen Nachteil erfahren hätten.466 Die bessere Behandlung von NichtAmtsträger:innen ist daher keine materielle Tatbestandsvoraussetzung von § 78 S. 2 BetrVG; sie kann aber indizielle Wirkung haben und dadurch den Beweis der Kausalität im Prozess erleichtern.467
464
Siehe oben 4. Kap. C. III. 2. a). GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 57; H. Oetker, RdA 1990, 343, 351; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 78; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 16; HWGNRH/M. Worzalla, § 78 BetrVG Rn. 15. 466 Vgl. BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 29); BAG, Urt. v. 15. 1. 1992 – 7 AZR 194/91, AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 84; BAG, Urt. v. 11. 12. 1991 – 7 AZR 75/91, NZA 1993, 909, 910. 467 L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 78; HWGNRH/M. Worzalla, § 78 BetrVG Rn. 15. 465
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
C. Erlaubte Benachteiligungen bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Nachdem in den vergangenen Abschnitten dargestellt wurde, dass die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse unmittelbar benachteiligend sein kann, wird nun erörtert, ob solche Benachteiligungen aufgrund überwiegender Interessen der Arbeitgeber:innen erlaubt sein können. Die Maßregelungsverbote enthalten keine Erlaubnistatbestände. Das ist auch konsequent: Eine Rechtsausübung muss zulässig sein, um von § 612a BGB geschützt zu werden; die Interessen der Arbeitgeber:innen werden abschließend auf dieser Stufe berücksichtigt. Ist die Rechtsausübung zulässig, gibt es kein anerkennenswertes Arbeitgeberinteresse, das Arbeitsverhältnis deswegen nicht fortzusetzen. Gleiches gilt für die Übernahme von Ämtern i. S. v. § 78 S. 2 BetrVG. Im BetrVG hat der Gesetzgeber mit der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen einen Ausgleich zwischen den Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen geschaffen. Die gesetzlich gestattete Partizipation und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen von einzelnen Arbeitsverhältnissen und unternehmerischer Freiheit der Arbeitgeber:innen sind von ihnen stets hinzunehmen. Weder Interessenkonflikte noch ein der Betriebsratstätigkeit geschuldeter teilweiser oder vollständiger Ausfall der Arbeitszeit berechtigen Arbeitgeber:innen zur Verweigerung einer Vertragsfortsetzung. Eine maßregelnde Nichtfortsetzung ist also stets verboten. Dass die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse aus unmittelbar benachteiligenden Gründen gem. § 3 I AGG unterlassen wird, kann hingegen gem. §§ 8 – 10 AGG ausnahmsweise zulässig sein. Es gelten hier weitgehend die von der Rechtsprechung und Literatur zu der benachteiligenden Kündigung, Fristabrede und Nicht-Einstellung entwickelten Grundsätze, sodass auf eine umfassende Darstellung verzichtet und stattdessen drei sowohl dogmatisch interessante als auch praxisrelevante Fallgruppen herausgegriffen werden: die Rechtfertigung schwangerschafts[I.], alters- [II.] und behinderungsbedingter [III.] Benachteiligungen.
I. Rechtfertigung schwangerschaftsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 I AGG? 1. Meinungsstand Die Rechtfertigung von Benachteiligungen aufgrund einer Schwangerschaft beschäftigt Literatur und Rechtsprechung seit Anfang der 1990er Jahre, damals im Gewand des § 611a BGB a. F., dem die RL 76/207/EWG – nunmehr abgelöst durch die RL 2006/54/EG – zugrunde lag. Die Gerichte hatten überwiegend über die erstmalige Einstellung einer schwangeren Arbeitnehmerin, und nicht die Vertrags-
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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fortsetzung zu entscheiden. Entfacht hat sich der Streit in der Regel an der Frage, ob Arbeitgeber:innen im Bewerbungsverfahren nach der Schwangerschaft fragen dürfen. Erkennt man ein solches Fragerecht an, dürfen sie die Schwangerschaft bei ihrer Einstellungsentscheidung auch berücksichtigen: Sie dürfen also Bewerber:innen, die ihre Schwangerschaft offenbart haben, deswegen ablehnen und Arbeitsverhältnisse anfechten, wenn Bewerber:innen ihre Schwangerschaft wahrheitswidrig verschwiegen haben. Im Ergebnis läuft der Streit um die Anerkennung eines Fragerechts im Bewerbungsverfahren also auf die Frage hinaus, ob die Nichteinstellung aufgrund einer Schwangerschaft zulässig ist. Viele Argumente können daher auf die hier besprochene Frage übertragen werden. a) Ansichten der Rechtsprechung Der EuGH hat im Jahr 1990 in der Rechtssache Dekker entschieden, dass ein Arbeitgeber Frauen entgegen dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 2 I, III 1 RL 76/202/EWG benachteilige, wenn er es ablehnt, mit einer schwangeren Bewerberin einen (unbefristeten) Arbeitsvertrag zu schließen. Insbesondere würden finanzielle Nachteile, die der Arbeitgeber wegen des Mutterschaftsurlaubs der Frau tragen muss, die Benachteiligung nicht rechtfertigen.468 Das BAG hat diese Rechtsprechung zwei Jahre später aufgegriffen und geurteilt, dass die Frage nach der Schwangerschaft im Bewerbungsverfahren gegen § 611a BGB a. F. verstoße.469 In einem obiter dictum „neigt der Senat dazu, eine Anfechtung [des Arbeitsvertrags] durchgreifen zu lassen, wenn das eingegangene Vertragsverhältnis überhaupt nicht realisiert werden kann“.470 Dies sei beispielsweise dann anzunehmen, wenn die Tätigkeit aufgrund von Beschäftigungsverboten nicht erbracht oder ein befristetes Arbeitsverhältnis aufgrund von Schutzfristen zugunsten Schwangerer gar nicht aufgenommen werden kann.471 Insofern konsequent urteilte der Senat im selben Jahr, dass die Frage nach der Schwangerschaft vor der Einstellung einer Arzthelferin gerechtfertigt sei, wenn die berufliche Tätigkeit besonderen Beschäftigungsbeschränkungen zugunsten werdender Mütter unterliegt.472 Dass die Beschäftigungsbeschränkungen nur während der Schwangerschaft einer vertragsgemäßen Tätigkeit entgegenstanden und nicht für die gesamte Dauer des unbefristeten Arbeitsverhältnisses, hat der Senat nicht thematisiert. Diesen Faktor berücksichtigte hingegen der EuGH im Jahr 1994, als er auf eine Vorlagefrage des ArbG Regensburg betreffend die Anfechtung eines unbefristeten Arbeitsvertrags mit einer Schwangeren antwortete. Die Arbeitnehmerin war zur Verrichtung von Nachtarbeit eingestellt worden, die sie aufgrund eines gesetzlichen Nachtarbeitsverbots473 während ihrer Schwangerschaft und Stillzeit 468 469 470 471 472 473
EuGH, Urt. v. 8. 11. 1990 – C-177/88 (Dekker), NZA 1991, 171, 172 (Rn. 12, 14). BAG, Urt. v. 15. 10. 1992 – 2 AZR 227/92, NZA 1993, 257. BAG, Urt. v. 15. 10. 1992 – 2 AZR 227/92, NZA 1993, 257, 258. BAG, Urt. v. 15. 10. 1992 – 2 AZR 227/92, NZA 1993, 257, 258 f. BAG, Urt. v. 1. 7. 1993 – 2 AZR 25/93, NZA 1993, 933. Damals § 8 MuSchG, heute § 5 MuSchG.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
nicht leisten durfte. Der EuGH entschied, dass eine Anfechtung des Vertrags eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung i. S. v. Art. 2 I, III RL 76/207/EWG ist, da das Nachtarbeitsverbot nur für eine im Verhältnis zur Gesamtdauer des unbefristeten Vertrags beschränkte Zeit gilt.474 Dass eine Benachteiligung nicht dadurch gerechtfertigt werden kann, dass eine schwangere Arbeitnehmerin aufgrund eines gesetzlichen Verbots vorübergehend an der Erbringung aller oder einzelner vertraglicher Tätigkeiten gehindert ist, hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung bestätigt.475 Der Schutz schwangerer Arbeitnehmer:innen könne auch nicht von finanziellen Belastungen der Arbeitgeber:innen oder der Tatsache, dass die Arbeitnehmer:innen für das „ordnungsgemäße Funktionieren des Unternehmens unerlässlich“ sind, abhängen. Sonst würde dem Benachteiligungsverbot der Richtlinien ihre praktische Wirksamkeit genommen.476 Diese Rechtsprechung des EuGH hat das BAG bei der Auslegung von § 611a BGB a. F. umgesetzt: Gegen die Rechtfertigung einer Benachteiligung spreche vor allem, dass das „nach dem unbefristetem Arbeitsvertrag vorausgesetzte langfristige Gleichgewicht“ durch die nur vorübergehenden mutterschutzrechtlich bedingten Fehlzeiten nicht erheblich gestört sei.477 Aufsehen erregt hat der EuGH schließlich im Jahr 2001: In der Rechtssache Tele Danmark hat er die zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen entwickelten Grundsätze auf befristete Arbeitsverhältnisse übertragen: Der befristete Arbeitsvertrag mit einer Arbeitnehmerin dürfe auch dann nicht gekündigt werden, wenn sie aufgrund ihrer Schwangerschaft während eines wesentlichen Teils ihrer Vertragszeit nicht würde arbeiten können.478 Ansonsten verstoße der Arbeitgeber gegen das Benachteiligungsverbot in Art. 5 I RL 76/207/EWG. Für den Gleichlauf mit der rechtlichen Behandlung unbefristeter Arbeitsverhältnisse führt der EuGH zwei Argumente an: Erstens sei auch die Dauer eines befristeten Arbeitsverhältnisses ungewiss, da es nach Fristende fortgesetzt werden könne. Und zweitens unterschieden auch die Richtlinien 76/207/EWG und 92/85/EWG nicht nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses.479 Das BAG hatte bislang keinen Anlass, zu dieser EuGH-Rechtsprechung Stellung zu nehmen. Das LAG Köln hat im Jahr 2012 über einen Fall entschieden, in dem eine Arbeitnehmerin befristet als Schwangerschaftsvertretung eingestellt wurde und dem 474
EuGH, Urt. v. 5. 5. 1994 – C-421/92, NZA 1994, 609, 610 (Rn. 25). EuGH, Urt. v. 27. 2. 2003 – C-320/01, NZA 2003, 373, 375 (Rn. 41 ff.); EuGH, Urt. v. 3. 2. 2000 – C-207/98, NZA 2000, 255, 256 (Rn. 27); EuGH, Urt. v. 14. 7. 1994 – C-32/93, NZA 1994, 783, 784 (Rn. 27). 476 EuGH, Urt. v. 14. 7. 1994 – C-32/93, NZA 1994, 783, 784 (Rn. 26). 477 BAG, Urt. v. 6. 2. 2003 – 2 AZR 621/01, NZA 2003, 848, 849. 478 EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – C-109/00 (Tele Danmark), NZA 2001, 1241, 1243 (Rn. 34 ff.); implizit bestätigt in EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243, 1246 (Rn 47), wo es um die erneut befristete Verlängerung eines Arbeitsverhältnisses ging. 479 EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – C-109/00 (Tele Danmark), NZA 2001, 1241, 1243 (Rn. 37 ff.). 475
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
277
Arbeitgeber ihre eigene Schwangerschaft bei Bewerbung nicht offengelegt hat. Das Gericht erkannte, dass die Annahme einer Offenbarungspflicht gegen § 3 I 2 AGG verstoßen würde. Allerdings musste das LAG sich dafür nicht mit dem Konflikt zwischen der alten Rechtsprechung des BAG, nach der Fragen nach der Schwangerschaft in Fällen eines dauerhaften oder partiellen Beschäftigungsverbots ausnahmsweise zulässig sein konnten, und der neuen Rechtsprechung des EuGH auseinandersetzen, da die Vertragsdurchführung im Streitfall in den ersten Beschäftigungsmonaten bis zur Anfechtungserklärung störungsfrei durchgeführt wurde. Obiter hat das Gericht dennoch erwähnt, dass die Tatsache, dass das Arbeitsverhältnis befristet war, wegen der neuen EuGH-Rechtsprechung zu keiner abweichenden Beurteilung führe.480 b) Literaturauffassungen Das Meinungsspektrum in der Literatur ist weit gefächert: Teilweise wird ein Fragerecht nach der Schwangerschaft komplett abgelehnt und in Übereinstimmung mit dem EuGH die benachteiligende Nichteinstellung schwangerer Personen sowohl in unbefristeten als auch befristeten Arbeitsverhältnissen als nicht gerechtfertigt angesehen.481 Dies wird überwiegend pauschal mit dem durch das AGG und die Richtlinien bezweckten Diskriminierungsschutz begründet, der bei Annahme eines Fragerechts und einer Rechtfertigung der Nichteinstellung ausgehöhlt werde. Eine andere Auffassung erkennt Ausnahmefälle an, in denen ein Fragerecht nach der Schwangerschaft besteht und dementsprechend auch eine Anknüpfung an die Schwangerschaft bei der Nichteinstellungsentscheidung gerechtfertigt ist. Als solche Ausnahmefälle werden überwiegend Fälle genannt, in denen die Arbeitsleistung im befristeten Arbeitsverhältnis aufgrund eines Beschäftigungsverbots gar nicht erbracht werden könnte.482 Wesentliches Argument der Vertreter dieser Ansicht ist, dass das Arbeitsverhältnis ein Austauschverhältnis und kein einseitiges Versorgungsverhältnis zugunsten der Arbeitnehmer:innen und dieser Austausch in den genannten Ausnahmefällen unmöglich sei. Einige Autoren halten schwangerschaftsbedingte Benachteiligungen für unzulässig, aber wollen vermeintlich unbil480
LAG Köln, Urt. v. 11. 10. 2012 – 6 Sa 641/12, BeckRS 2012, 76145. NK KSchR/A. Böhm, § 17 MuSchG Rn. 40; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 611a BGB Rn. 114; DHSW/T. Kreuder, § 611a BGB Rn. 162; NK ArbR/W. Mestwerdt, § 611 BGB Rn. 274 f.; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 8 AGG Rn. 205; wohl auch E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 232: „Aus generalpräventiven Gründen sind die Diskriminierungsverbote in Bezug auf die Schwangerschaft besonders strikt zu interpretieren.“ 482 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 8 AGG Rn. 34; H. Buchner/U. Becker, Mutterschutzgesetz und Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (2008), § 5 MuSchG Rn. 56; H. Buchner, in: FS Stahlhacke (1995), Gleichbehandlungsgebot und Mutterschutz, S. 83, 91; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 7 AGG Rn. 43; A. Nicolai, SAE 2001, 77, 81; U. Pallasch, NZA 2007, 306, 308; Rancke/G. Pepping, § 15 MuSchG Rn. 37 ff.; R. Wank in: FS Richardi (2007), Von ungeeigneten Bewerbern und schwangeren Bewerberinnen, S. 441, 459. 481
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
lige Ergebnisse dadurch verhindern, dass sich Arbeitnehmer:innen nicht auf eine Diskriminierung berufen dürfen, wenn sie bereits bei Bewerbung Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hatten und aufgrund von Schutzvorschriften im befristeten Arbeitsverhältnis gar nicht arbeiten können.483 2. Eigene Ansicht: Orientierung an den Voraussetzungen des § 8 I AGG Die Frage, ob Benachteiligungen schwangerer Personen484 gerechtfertigt sein können, muss anhand von § 8 I AGG beantwortet werden, mit dem der Gesetzgeber die Interessen von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen zum Ausgleich gebracht hat. Eine Benachteiligung ist danach gerechtfertigt, wenn der in § 1 AGG genannte Anknüpfungspunkt „wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und angemessen ist.“ Nach einer prägnanten Zusammenfassung des BAG kann ein Merkmal „nur dann i. S. des § 8 I AGG eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung bilden, wenn die Tätigkeit ohne das Merkmal jedenfalls nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Abzustellen ist auf die konkret vom Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit, die sich nach dem vom Arbeitgeber festgelegten Unternehmenskonzept richtet. Das vom Arbeitgeber geforderte Merkmal muss um wesentlich sein zu können, für die vom Arbeitgeber vorgegebene berufliche Anforderung eine prägende Bedeutung haben, wobei es nicht darauf ankommt, welcher zeitliche Anteil der Tätigkeit betroffen ist, sondern darauf, ob das Merkmal für die Erreichung des unternehmerischen Zwecks erforderlich ist. Das Differenzierungsmerkmal darf nicht nur für unbedeutende, für den Arbeitsplatz nicht charakteristische Tätigkeiten notwendig sein.“485
Die Abwesenheit einer Schwangerschaft muss also eine in diesem Sinne unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit sein. Dafür ist erforderlich, dass eine schwangere Person ihre Tätigkeit entweder gar nicht mehr oder nicht mehr ordnungsgemäß leisten kann und diese Leistungsmängel eine Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Die beeinträchtigten Tätigkeiten dürfen nicht nur eine untergeordnete Rolle spielen, sondern müssen zentraler, prägender Bestandteil des Arbeitsverhältnisses sein.486 In einem ersten Schritt ist daher herauszuarbeiten, ob und unter welchen Umständen Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer Schwangerschaft 483
E. Herrmann, SAE 2003, 125, 130; S. Kamanabrou, AP BGB § 611a Nr. 21; NK ArbR/ W. Mestwerdt, § 611 BGB Rn. 275; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 21. 484 Damit sind alle schwangeren Personen unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität gemeint, siehe oben 5. Kap. B. I. 1. b). 485 BAG, Urt. v. 18. 3. 2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872, 875 (Rn. 26). 486 Vgl. allgemein zu § 8 I AGG BAG, Urt. v. 18. 3. 2010 – 8 AZR 77/09, NZA 2010, 872, 875 (Rn. 26); BAG, Urt. v. 28. 5. 2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1016, 1019 (Rn. 37 f.); BeckOGK/M. Benecke, § 8 AGG Rn. 15 ff.; DHSW/P. Berg, § 8 AGG Rn. 5 ff.; NK ArbR/ R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 8 AGG Rn. 5.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Tätigkeiten nicht mehr ausüben [a)] und dadurch wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen nicht erfüllen können [b)]. Wurde das Nichtvorliegen einer Schwangerschaft danach als berufliche Anforderung i. S. v. § 8 I AGG eingeordnet, ist dieses Ergebnis anschließend darauf hin zu überprüfen, ob die Anforderung auch einen rechtmäßigen Zweck verfolgt [c)]. a) Nichtvorliegen der Schwangerschaft als tätigkeitsbezogene Anforderung Eine Schwangerschaft schränkt die beruflichen Fähigkeiten von Arbeitnehmer:innen regelmäßig nicht erheblich ein. Ebenfalls nicht zu berücksichtigen sind mit der Schwangerschaft verbundene finanzielle Belastungen für Arbeitgeber:innen: Erstens, weil ihr Großteil gem. §§ 19 I, II MuSchG i. V. m. § 1 II AAG im Ergebnis gar nicht durch Arbeitgeber:innen getragen wird, und zweitens, weil sie auf jeden Fall nicht die Arbeitsleistung selbst betreffen, sondern nur mittelbare wirtschaftliche Belange der Arbeitgeber:innen sind, § 8 I AGG aber einen Tätigkeitsbezug der beruflichen Anforderungen verlangt.487 Es gibt aber eine Reihe gesetzlicher Schutzvorschriften im MuSchG, die die Erbringung der Arbeitsleistung selbst einschränken oder verbieten: Gem. § 3 I, II MuSchG dürfen Arbeitgeber:innen schwangere Personen in den letzten sechs Wochen vor und bis zum Ablauf von acht Wochen nach Entbindung nicht beschäftigen. Die Schutzfrist vor Entbindung kann gem. § 16 I MuSchG zeitlich erweitert sein, soweit nach einem ärztlichen Zeugnis die Gesundheit der schwangeren Person oder des Kindes bei Fortdauer ihrer Beschäftigung gefährdet ist. Zusätzlich ordnen §§ 4 – 6 MuSchG arbeitszeitliche Restriktionen an: Schwangere und stillende Arbeitnehmer:innen dürfen regelmäßig nicht zur Vornahme von Mehrarbeit verpflichtet werden, nicht zwischen 22.00 und 6.00 und nicht an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden. §§ 11, 12 MuSchG verbieten schließlich, dass schwangere oder stillende Personen Tätigkeiten ausüben oder Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, bei denen sie Gefahrstoffen, physikalischen Einwirkungen (z. B. Lärm, Hitze, Kälte und Nässe) oder anderen körperlichen Belastungen oder mechanischen Einwirkungen (z. B. Beförderung von Lasten, Einnahme von Zwangshaltungen, Tragen von Schutzausrüstungen) ausgesetzt sind, die für sie oder ihr Kind eine unverantwortbare Gefährdung darstellen. Können diese Arbeitsbedingungen nicht durch Schutzmaßnahmen umgestaltet werden und die Arbeitnehmer:innen nicht in für sie und ihre Arbeitgeber:innen zumutbarer Weise auf einem anderen geeigneten Platz beschäftigt werden, dürfen Arbeitgeber:innen sie gar nicht weiter beschäftigen gem. § 13 I MuSchG.488 Das rechtliche Vermögen, die vertraglich geschuldete Tätigkeit erbringen zu dürfen, ist tätigkeitsbezogen, sodass die Benachteiligung wegen der Schwanger-
487 488
Statt aller ErfK/M. Schlachter, § 8 AGG Rn. 1. Dazu ausführlich Rancke/G. Pepping, § 13 MuSchG Rn. 14 ff.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schaft einer Person aufgrund beruflicher Anforderungen i. S. v. § 8 I AGG gerechtfertigt sein könnte. b) Nichtvorliegen einer Schwangerschaft als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung Fraglich ist, ob diese Anforderung auch wesentlich und entscheidend ist. Die Abwesenheit der Beschäftigungsverbote muss eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit sein. Das ist anzunehmen, wenn eine schwangere oder stillende Person ihre Tätigkeit entweder gar nicht mehr oder zentrale, prägende Bestandteile nicht mehr ordnungsgemäß ausführen kann. Die erste Weichenstellung für diese Beurteilung ist die Dauer der Tätigkeit, ob es sich bei dem Folgearbeitsvertrag also um eine Entfristung oder einen weiteren befristeten Vertrag handelt. aa) Folgearbeitsvertrag ist ein unbefristeter Arbeitsvertrag Die unterlassene Entfristung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Schwangerschaft kann nach der fast einhellig in Rechtsprechung und Literatur vertretenen und zutreffenden Ansicht nicht gem. § 8 I AGG gerechtfertigt sein. Alle mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote sind nämlich zeitlich begrenzt, und zwar regelmäßig auf die Zeit der Schwangerschaft sowie die Stillzeit. Schwangere oder stillende Beschäftigte sind also nur vorübergehend an der Leistung ihrer geschuldeten Verpflichtungen gehindert. In Relation zu dem langfristigen Gleichgewicht des Leistungsaustausches fallen die mutterschutzrechtlich bedingten Fehlzeiten nicht derart ins Gewicht, dass ihre Abwesenheit eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der unbefristeten Tätigkeit sein könnte. Pallasch wendet gegen die Annahme eines langfristigen Gleichgewichts ein, dass erstens eine ordentliche Kündigung stets möglich sei, sich Arbeitnehmer:innen also nach Ablauf der Schutzfristen nach § 3 I, II MuSchG vom Arbeitsverhältnis lösen können, und sich zweitens der Ausfall bei Inanspruchnahme von Elternzeit gem. § 15 I, II BEEG bis hin zu drei Jahren verlängern könne.489 Diese Argumente überzeugen jedoch nicht: Die Annahme einer ordentlichen Kündigung ist bloße Spekulation und im Übrigen realitätsfern, da der Berufseinstieg gerade für junge Eltern oft schwierig ist. Außerdem entfernt sich diese Argumentation vom Normtext und -zweck des § 8 I AGG: Entscheidend ist das Vorliegen tätigkeitsbezogener Anforderungen. Diese gründen sich nicht auf Spekulationen, wie eventuelle Kündigungen, sondern nur auf das feststehende, rechtliche Unvermögen der Beschäftigten, die Arbeitsleistung zu erbringen. Aus demselben Grund verfängt auch der Verweis auf § 15 I, II BEEG nicht, der kein Beschäftigungsverbot anordnet, sondern Arbeitnehmer:innen einen Anspruch einräumt, den sie ausüben können oder nicht. Es bleibt also dabei, dass die hier maßgebliche berufliche Anforderung i. S. v. § 8 I AGG nach überzeugender 489
U. Pallasch, NZA 2007, 306, 308 f.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Ansicht das wegen zwingender Beschäftigungsverbote rechtliche Unvermögen ist, die Arbeitsleistung zu erbringen. Diese Verbote gelten stets nur zeitlich begrenzt, sodass die berufliche Anforderung, nicht aufgrund einer Schwangerschaft an der Arbeitsleistung gehindert zu sein, im unbefristeten Arbeitsverhältnis nie wesentlich und entscheidend ist. Unterlassen Arbeitgeber:innen die Entfristung eines Arbeitsverhältnisses aufgrund der Schwangerschaft, ist diese Benachteiligung nie gerechtfertigt nach § 8 I AGG. bb) Folgearbeitsvertrag ist ein befristeter Arbeitsvertrag Die Situation könnte anders zu bewerten sein, wenn der Folgearbeitsvertrag befristet ist. Dann ist nicht per se von einem langfristigen Gleichgewicht des Leistungsaustausches auszugehen. Um festzustellen, ob schwangere Beschäftigte wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen erfüllen können, sind Art und Umfang der durch Beschäftigungsverbote gestörten Arbeitsleistung mit der Gesamtdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses in Relation zu setzen. Dabei sind drei Szenarien zu unterscheiden: vollständige Beschäftigungsverbote während der gesamten Vertragslaufzeit [(1)], Beschäftigungsverbote bezüglich einzelner Arbeitsmodalitäten und Tätigkeiten während der gesamten Vertragslaufzeit [(2)] sowie Beschäftigungsverbote während eines Teils des Befristungszeitraums [(3)]. (1) Vollständige Beschäftigungsverbote während der gesamten Vertragslaufzeit Dürfen Arbeitnehmer:innen während der gesamten Dauer eines befristeten Arbeitsvertrags nicht beschäftigt werden, ist die Erbringung der Arbeitsleistung nicht nur vorübergehend, sondern zu 100 % unmöglich. Es besteht hier kein langfristiges Gleichgewicht des Leistungsaustausches, sondern das Arbeitsverhältnis kann aufgrund der Beschäftigungsverbote gar nicht realisiert werden. Damit fallen die durch die Schwangerschaft bedingten Fehlzeiten derart ins Gewicht, dass ihre Abwesenheit eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der unbefristeten Tätigkeit darstellt. Das Nichtvorliegen der Schwangerschaft ist also eine für die konkrete befristete Tätigkeit erforderliche und wesentliche Anforderung. Die Wertungsgesichtspunkte, die Teile der Literatur zur Ablehnung der wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung verleiten, sind richtigerweise erst bei der Beurteilung des „rechtmäßigen Zwecks“ der beruflichen Anforderung zu verorten: Dass die Rechtfertigung geschlechtsspezifischer Benachteiligungen durch mutterschutzrechtliche Beschäftigungsverbote wertungswidersprüchlich sein könnte, ändert nichts daran, dass die Berufsausübung wesentlich beeinträchtigt ist, wenn Arbeitnehmer:innen während der gesamten Dauer ihrer befristeten Arbeitsverträge gar nicht arbeiten dürfen. Ein Beschäftigungsverbot während der gesamten Vertragsdauer besteht nur, wenn ein Arbeitsverhältnis in die insgesamt 16-wöchigen Schutzfristen vor und nach
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Entbindung gem. § 3 I, II MuSchG fällt, die schwangere Person bereits vorher aufgrund eines ärztlichen Beschäftigungsverbots gem. § 16 I MuSchG nicht arbeiten darf oder ein Beschäftigungsverbot gem. § 13 I Nr. 3 MuSchG während der gesamten Frist besteht. Eine solche zeitliche Koinzidenz ist wohl die Ausnahme; regelmäßig wird das Arbeitsverhältnis nur partiell von Beschäftigungsverboten betroffen sein. Es ist dann im Einzelfall zu beurteilen, wann wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen fehlen. (2) Beschäftigungsverbote bezüglich einzelner Arbeitsmodalitäten und Tätigkeiten während der gesamten Vertragslaufzeit Das MuSchG ordnet nicht nur vollständige Beschäftigungsverbote an, sondern enthält auch Verbote betreffend die Arbeit in bestimmten Zeiträumen (Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit) oder die Ausübung spezifischer gefahrgeneigter Tätigkeiten (siehe die Aufzählung in §§ 11, 12 MuSchG). Diese Verbote gelten während der gesamten Schwangerschaft, also ab der Konzeption,490 und während der Stillzeit.491 Auch diese Beschäftigungsverbote können dazu führen, dass schwangeren Arbeitnehmer:innen wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen i. S. v. § 8 I AGG fehlen. Dafür darf die rechtlich unmöglich gewordene Arbeitsleistung nach allgemeinen zu § 8 I AGG entwickelten Grundsätzen für die Berufsausübung nicht nur eine untergeordnete Rolle spielen, sondern muss unverzichtbarer, zentraler, prägender Bestandteil sein.492 Es ist eine funktionale Betrachtung493 der konkret auszuübenden Tätigkeit vorzunehmen und zu ermitteln, ob die vom Beschäftigungsverbot erfassten Tätigkeiten einen erheblichen, charakteristischen Teil des gesamten Aufgabenfelds ausmachen.494 Thüsing schlägt als Testfrage vor, ob der Arbeitsplatz unbesetzt geblieben wäre, wenn sich nur Personen mit derselben Merkmalsausprägung beworben hätten;495 hier also nur schwangere Arbeitnehmer:innen. Nach diesen Grundsätzen rechtfertigen die Verbote der Mehr-, Sonn- und Feiertagsarbeit (§§ 4, 6 MuSchG) eine Benachteiligung wohl nur in Ausnahmefällen, da diese Arbeitszeiten in der Regel kein Charakteristikum von Arbeitsplätzen sind. Anderes kann allerdings für das Verbot der Nachtarbeit in § 5 MuSchG gelten, da viele Tätigkeiten dauerhaft und ihrer Natur nach nur zwischen 20.00 Uhr und 490
Exemplarisch zu § 9 MuSchG a. F. BAG, Urt. v. 26. 3. 2015 – 2 AZR 237/14, NZA 2015, 734, 734 f. (Rn. 14 ff.); zu § 4 MuSchG BeckOK ArbR/K. Dahm, § 4 MuSchG Rn. 5. 491 Es ist umstritten, ob die Stillzeit analog § 7 II 1 MuSchG auf sechs Monate begrenzt ist, dafür z. B. BeckOK ArbR/K. Dahm, § 7 MuSchG Rn. 19 f.; dagegen Rancke/G. Pepping, § 4 MuSchG Rn. 6. 492 BAG, Urt. v. 28. 5. 2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1016, 1019 (Rn. 37 f.); BeckOGK/ M. Benecke, § 8 AGG Rn. 15 ff.; DHSW/P. Berg, § 8 AGG Rn. 5 ff.; NK ArbR/R. von SteinauSteinrück/V. Schneider, § 8 AGG Rn. 5. 493 BAG, Urt. v. 28. 5. 2009 – 8 AZR 536/08, NZA 2009, 1016, 1019 (Rn. 38). 494 Vgl. MüKo BGB/G. Thüsing, § 8 AGG Rn. 7. 495 MüKo BGB/G. Thüsing, § 8 AGG Rn. 7.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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6.00 Uhr erbracht werden: Geht es beispielsweise um eine befristete Tätigkeit als Kellnerin in einer Bar, Konzertmusikerin, Reinigungskraft in Büros oder Objektschützerin, betrifft das Verbot der Nachtarbeit den Kern der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit. Hätten sich nur schwangere Personen um den Arbeitsplatz beworben, hätten Arbeitgeber:innen die Stelle unbesetzt gelassen. Vergleichbare Erwägungen gelten bei den tätigkeitsbezogenen Beschäftigungsverboten in §§ 11, 12 MuSchG: Besteht die zentrale Aufgabe einer Laborantin darin, mit in § 11 I-III MuSchG genannten Gefahrstoffen zu arbeiten, charakterisieren diese Arbeitsbedingungen ihren Arbeitsplatz. Dass die Laborantin nicht daran gehindert ist, ihre Labortätigkeit am Computer zu dokumentieren, fällt dagegen nicht ins Gewicht. Wird die Arbeitnehmerin als Handwerkerin oder Bauarbeiterin angestellt, sind oft gem. § 11 V MuSchG verbotene körperliche Belastungen prägender Bestandteil ihrer Tätigkeit. Und wenn die Arbeitnehmerin ihre Arbeit im Akkord, Takt oder am Fließband zu erbringen hat, sind zentrale berufliche Tätigkeiten gem. § 11 VI MuSchG verboten. Die von Arbeitgeber:innen gem. § 13 MuSchG zu ergreifenden Schutzmaßnahmen – Umgestaltung der Arbeitsbedingungen (Nr. 1), die Versetzung auf einem anderen Arbeitsplatz (Nr. 2) oder – als ultima ratio – ein komplettes Beschäftigungsverbot (Nr. 3) führen allesamt in der Regel dazu, dass schwangere Arbeitnehmer:innen nicht mehr die Tätigkeiten ausüben können, für die sie eingestellt wurden. Verbieten Beschäftigungsverbote des MuSchG die Ausübung unverzichtbarer Bestandteile der geschuldeten Tätigkeit während des gesamten Zeitraums des befristeten Arbeitsverhältnisses, ist das Nichtvorliegen der Schwangerschaft eine wesentliche und entscheidende Anforderung i. S. v. § 8 I AGG. (3) Beschäftigungsverbote während eines Teils des Befristungszeitraums Unklar ist, wie die Situation zu beurteilen ist, wenn ein Beschäftigungsverbot nur während eines Teils des befristeten Arbeitsverhältnisses gilt. Zu dieser Situation kann es einerseits kommen, wenn ein vollständiges Beschäftigungsverbot nach § 3 I, II AGG besteht, und andererseits dann, wenn spezifische Beschäftigungsverbote der §§ 4 – 6, 11, 12 MuSchG einen Teil des Arbeitsvertrags erfassen. Entscheidend ist dann, welche Anforderungen an die Dauer der Ausfallzeit in Relation zur Befristung zu stellen sind, damit ein hinreichender Tätigkeitsbezug i. S. v. § 8 I AGG besteht. Sofern die Problematik überhaupt behandelt wird, ist man sich darüber einig, dass ein „erheblicher“496, „überwiegender“497 oder „wesentlicher“498 Teil der Arbeitsleistung
496
U. Pallasch, NZA 2007, 306, 308. R. Wank, in: FS Richardi (2007), Von ungeeigneten Bewerbern und schwangeren Bewerberinnen, S. 441, 458 f. 498 EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – C-109/00 (Tele Danmark), NZA 2001, 1241, 1243 (Rn. 34); H. Buchner/U. Becker, Mutterschutzgesetz und Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (2008) § 5 MuSchG Rn. 56. 497
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
ausfallen muss. Pepping verlangt – jedoch ohne Bezugnahme auf § 8 I AGG – eine „empfindliche Störung des Austauschverhältnisses“.499 Sowohl Pepping als auch Pallasch ziehen zur Beurteilung sowohl quantitative als auch qualitative Faktoren heran. Nach Pepping ist eine empfindliche Störung „idR nur gegeben, wenn der Arbeitsvertrag für nicht länger als 12 Monate (neun Monate Schwangerschaftszeitraum zzgl. zwölf Wochen nachgeburtliche Mutterschaftsfrist) geschlossen wurde und vom Befristungszweck (zB Einstellung zur Schwangerschaftsvertretung) eine Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrages ausscheidet.“500 Hinzutreten müssten außerdem „weitere Aspekte wie die Schwierigkeit, kurzfristig geeignetes Ersatzpersonal finden zu können bzw. die Dringlichkeit der von der Schwangeren zu erledigenden Arbeiten, die zu einer Störung des Betriebsablaufs führen.“501 Pallasch hält eine Ausfallzeit von 50 % für erheblich, nicht aber eine von nur 10 % und stellt daneben auf weitere qualitative und quantitative Aspekte ab wie beispielsweise „die Art des Arbeitsverhältnisses (z. B. als Aushilfsoder Probearbeitsverhältnis), eine Zweckbefristung (z. B. Schwangerschaftsvertretung) oder die Dringlichkeit des Arbeitsbedarfs“.502 Die Berücksichtigung von sowohl quantitativen als auch qualitativen Faktoren überzeugt im Ergebnis, ihr fehlt jedoch bislang der systematische Anschluss an § 8 I AGG. Ausgangspunkt der Überlegungen ist richtigerweise, dass ein nur zeitweise bestehendes Beschäftigungsverbot wesentlichen und entscheidenden Anforderungen des gesamten Arbeitsverhältnisses entgegenstehen muss. Die insgesamt geschuldete Tätigkeit muss also wegen der vorübergehenden rechtlichen Unmöglichkeit der Arbeitsleistung nicht mehr ordnungsgemäß durchgeführt werden können. Auch hier bietet sich die Kontrollfrage an: Hätten Arbeitgeber:innen den Arbeitsplatz lieber unbesetzt gelassen, anstatt eine schwangere Person einzustellen? Es sei daran erinnert, dass finanzielle Belastungen aufgrund von Entgeltfortzahlungen für Arbeitgeber:innen nicht zu berücksichtigen sind; es geht ausschließlich darum, ob die Leistungserbringung gerade während des gesamten Zeitraums – oder jedenfalls eines größeren Zeitraums als rechtlich zulässig – eine unverzichtbare Voraussetzung für die ordentliche Ausübung der Tätigkeit ist. Das ist umso eher anzunehmen, je höher der Anteil der Fehlzeiten an der gesamten Befristungsdauer ist. Die Aufnahme der Tätigkeit wird nämlich immer ineffektiver, da Arbeitnehmer:innen üblicherweise eingearbeitet und mit betrieblichen Strukturen und Abläufen sowie Projekten, anderen Arbeitnehmer:innen und ggf. Kund:innen bekannt gemacht werden müssen. Diese Wertung drückt auch § 15 III TzBfG aus, der eine ordentliche Kündigung auch seitens der Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis ausschließt. Je geringer die Ausfallquote ist, desto stärker müssen qualitative Faktoren ins Gewicht fallen, um eine Betroffenheit der gesamten Tä499 500 501 502
Rancke/G. Pepping, § 15 MuSchG Rn. 37. Rancke/G. Pepping, § 15 MuSchG Rn. 37. Rancke/G. Pepping, § 15 MuSchG Rn. 39. U. Pallasch, NZA 2007, 306, 308.
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tigkeit zu belegen. Es müssen Anforderungen gerade des konkreten Arbeitsplatzes vorliegen, die eine langfristigere Leistungserbringung erfordern, oder aufgrund des nur kurzfristigen Einsatzes der Beschäftigten spezifische Störungen des Betriebsablaufs zu erwarten sein. Bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse besteht die Besonderheit, dass die Arbeitnehmer:innen bereits mit ihrem Arbeitsplatz vertraut sind. Damit entsteht kein Einarbeitungsbedarf und es sind keine die Arbeitsleistung beeinträchtigenden Reibungsverluste zu befürchten.503 Es muss zwar ggf. eine Schwangerschaftsvertretung eingestellt und eingearbeitet werden, dadurch fällt aber nicht signifikant mehr Aufwand an, als wäre von Anfang an jemand neues eingestellt worden. Hinsichtlich eventueller Störungen des Betriebsablaufs aufgrund der Einarbeitung einer Vertretung ist die Fortbeschäftigung der bisherigen Arbeitnehmer:innen daher ein Nullsummenspiel. Im Übrigen kontraindiziert die Tatsache, dass Arbeitsverhältnisse bereits zum mindestens zweiten Mal befristet vereinbart wurden, die Annahme eines gesteigerten und schutzwürdigen Kontinuitätsinteresse der Arbeitgeber:innen. Eine erneute Beantwortung der Kontrollfrage wird in der Regel folgendermaßen ausfallen: Arbeitgeber:innen würden lieber die bereits vorbeschäftigte und eingearbeitete Person für einen kurzen Zeitraum fortbeschäftigen, als den Arbeitsplatz gar nicht zu besetzen. Ausnahmen sind wohl denkbar, wenn für den exakten Zeitraum des Folgearbeitsverhältnisses eine konstante Arbeitskraft zur Verfügung stehen soll. Diese Überlegungen könnten z. B. für den über ein Schuljahr befristeten Einsatz von Lehrpersonal oder anderen Erziehungsbeauftragten oder Vertrauenspersonen angestellt werden. Da bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ansonsten kaum qualitative Faktoren vorstellbar sind, die eine langfristige Einsetzbarkeit der befristet Beschäftigten während ihres Anschlussarbeitsverhältnisses zwingend erfordern, sind besonders hohe Anforderungen an die quantitative Störung des Austauschverhältnisses zu stellen. Nach überzeugender Ansicht steht das nur vorübergehende Beschäftigungsverbot wesentlichen und entscheidenden Anforderungen des gesamten Arbeitsverhältnisses nur entgegen, wenn die Arbeitsleistung nur für einen zu vernachlässigenden Zeitraum erbracht werden kann. cc) Ergebnis: Nichtvorliegen einer Schwangerschaft als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung in Ausnahmefällen Der Fortbeschäftigung schwangerer Arbeitnehmer:innen stehen nur dann wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen i. S. v. § 8 I AGG entgegen, wenn aufgrund mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote
503 Vgl. im Kontext der Nichtbeförderung schwangeren Arbeitnehmer:innen auch die Argumentation vom ArbG Berlin, Urt. v. 19. 10. 2006 – 2 Sa 1776/06, BeckRS 2006, 44764.
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die berufliche Tätigkeit insgesamt (vgl. §§ 3 I, II, 16 MuSchG) oder wesentliche, prägende Bestandteile der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit (§§ 4 – 6, 11, 12 MuSchG) für den gesamten oder beinahe den gesamten Zeitraum eines befristeten Folgearbeitsvertrags verboten sind oder ausnahmsweise besondere Umstände des konkreten Arbeitsplatzes eine längere Beschäftigung während des befristeten Arbeitsverhältnisses zwingend erfordern. c) Rechtmäßiger Zweck der beruflichen Anforderung
Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen sind in aller Regel ein rechtmäßiger Zweck i. S. v. § 8 I Hs. 2 AGG. Hier könnte wegen des Zwecks der Beschäftigungsverbote aber ausnahmsweise eine gesonderte Prüfung angezeigt sein:504 Es könnte wertungswidersprüchlich sein, dass die Beschäftigungsverbote im MuSchG gem. § 8 I AGG eine Benachteiligung rechtfertigen könnten, obwohl sie eingeführt wurden, um schwangere Personen zu schützen: Die Leitidee des MuSchG ist ausweislich der Gesetzesbegründung, dass „die Chancen der Frauen verbessert und ihre Rechte gestärkt [werden], dem Beruf während Schwangerschaft und Stillzeit ohne Beeinträchtigung ihrer Gesundheit und der ihres Kindes weiter nachzugehen.“505 Diesem Zweck entsprechend wurden die einzelnen Regelungsziele zu Beginn des Gesetzes folgendermaßen niedergeschrieben: „1Dieses Gesetz schützt die Gesundheit der Frau und ihres Kindes am Arbeits-, Ausbildungs- und Studienplatz während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und in der Stillzeit. 2Das Gesetz ermöglicht es der Frau, ihre Beschäftigung oder sonstige Tätigkeit in dieser Zeit ohne Gefährdung ihrer Gesundheit oder der ihres Kindes fortzusetzen und wirkt Benachteiligungen während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und in der Stillzeit entgegen.“
Es geht also um Gesundheits- und Diskriminierungsschutz sowie Teilhabesicherung506 und zwar gem. § 1 IV AGG nicht nur von Frauen, sondern auch gebärfähigen inter- und transsexuellen Menschen. Damit wird der Gesetzeszweck des MuSchG eng mit dem Diskriminierungsschutz zugunsten Schwangerer nach § 3 I 2 AGG verknüpft.507
504
Vgl. M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 688: Die Verfügbarkeit schwangerer Arbeitnehmer:innen als grundsätzlich wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung ist „von Rechts wegen“ zu modifizieren. 505 BT-Drs. 18/8963, S. 1. 506 Vgl. Rancke/G. Pepping, § 1 MuSchG Rn. 2. 507 Vgl. ErfK/M. Schlachter, § 1 MuSchG Rn. 4. Dementsprechend wird in der Gesetzesbegründung zum MuSchG auch darauf hingewiesen, dass bei der Anwendung des MuSchG nicht nur die durch das MuSchG umgesetzte RL 92/85/EG (BT-Drs. 18/8963, S. 33), sondern auch die RL 2006/54/EG zu berücksichtigen sei (BT-Drs. 18/8963, S. 42).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Die verschiedenen Ziele sind ambivalent und können in Konflikt zueinander treten: Zwar gehen Teilhabesicherung und Diskriminierungsschutz regelmäßig Hand in Hand: Da schwangerschaftsbedingte Diskriminierungen besonders häufig die fortgesetzte Teilhabe am Arbeitsleben betreffen, wird mit mutterschutzrechtlichen Teilhabesicherungen zugleich Diskriminierungen vorgebeugt. Die Teilhabesicherungsfunktion steht jedoch im Konflikt mit dem Gesundheitsschutz: Um die Gesundheit schwangerer Personen und ihrer Kinder zu gewährleisten, können Einschränkungen der beruflichen Teilhabe geboten sein. Diese Schutzzweckkollision wird bei den Beschäftigungsverboten besonders eklatant: Der Gesundheitsschutz wird hier zulasten der Teilhabesicherungsfunktion realisiert. Daher haben der unionale und deutsche Gesetzgeber Beschäftigungsverbote nur als ultima ratio vorgesehen:508 Ein absolutes Beschäftigungsverbot besteht nur, wenn es sich um den Zeitraum unmittelbar vor und nach der Geburt handelt (§ 3 I, II MuSchG sowie Art. 8 RL 92/85/EG) oder die Gesundheit der Schwangeren oder ihres Kindes nachweisbar gefährdet ist (§ 16 MuSchG); ansonsten sind Arbeitgeber:innen zur Ausschöpfung aller verfügbaren und zumutbaren Präventionsmaßnahmen verpflichtet, ehe sie die schwangere Person nicht weiter beschäftigen dürfen (§§ 11 f., 13 I MuSchG sowie Art. 5 RL 92/85/EG). Durch diese Abstufung sollen berufliche Nachteile vermieden werden, indem die berufliche Kontinuität weitgehend ermöglicht wird.509 Diese Ausgleichsbestrebungen dürfen nicht dort aufhören, wo der Gesetzgeber die Beschäftigung schwangerer Personen als ultima ratio tatsächlich verboten hat. Hier ist regelmäßig nicht nur die Teilhabe am Berufsleben eingeschränkt, sondern damit einhergehend auch die Gefahr geschlechtsspezifischer Diskriminierungen besonders hoch. Teilhabesicherung und Diskriminierungsschutz müssen also durch flankierende Maßnahmen sichergestellt werden.510 Ansonsten liefen die in § 1 S. 2 MuSchG gleichrangig neben dem Gesundheitsschutz genannten Teilhabeund Gleichstellungssicherungen gerade dann leer, wenn schwangere Personen typischerweise am schutzbedürftigsten sind, nämlich während der Schutzfristen des § 3 I, II MuSchG unmittelbar vor und nach der Geburt. Dass ein solches Schutzdefizit dem Zweck der Richtlinien und dem nationalen Verständnis von Mutterschutz und Geschlechtergleichstellung widerspricht, hat auch der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zum neuen MuSchG erkannt: Er müsse der Gefahr begegnen, „dass sich die von ihm erlassenen Schutzvorschriften für besonders schutzbedürftige Personengruppen in der Praxis des Arbeitslebens diskriminierend auswirken können. Er muss diese Gefahr so weit wie möglich durch geeignete Regelungsmechanismen ausgleichen.“511 Dazu gehören beispielsweise der solidarische Ausgleich der Ar-
508 509 510
Rn. 3. 511
So ausdrücklich BT-Drs. 18/8963, S. 48. Vgl. BT-Drs. 18/8963, S. 34. Ähnlich K. Nebe, jurisPR-ArbR 2017/25, Anm. 1; Rancke/G. Pepping, § 1 MuSchG BT-Drs. 18/8963, S. 37.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
beitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlungen nach dem AAG,512 in unbefristeten Arbeitsverhältnissen das Kündigungsverbot gem. § 17 KSchG und Art. 10 RL 92/85/ EWG sowie § 3 I 2 AGG, der ausdrücklich Benachteiligungen schwangerer Personen in Bezug auf den Zugang zu Arbeit und alle Arbeitsbedingungen verbietet. Beschäftigungsverbote sollen also gerade nicht Arbeitsverträge mit schwangeren Personen verhindern, sondern ihre Gesundheit schützen und dabei gem. § 1 I 2 MuSchG so gehandhabt werden, dass sie die benachteiligungsfreie Teilhabe so wenig wie möglich behindern. Zweifelhaft ist allenfalls, ob es überhaupt um berufliche Teilhabe geht, wenn schwangere Personen in einem Arbeitsverhältnis aufgrund mutterschutzrechtlicher Beschäftigungsverbote gar nicht arbeiten würden. Teile der Literatur behaupten, dass ein „von vornherein austauschlose[s] Austauschverhältnis“513 ein bloßes Versorgungsverhältnis sei514 und nicht das Interesse schwangerer Personen an einer gleichberechtigten Teilhabe am Berufsleben befriedige, sondern allein ihr Interesse, eine sozial, rechtlich und wirtschaftlich vorteilhafte Position zu erlangen.515 Wenn diese Einschätzung zutreffen würde, wäre das Interesse der schwangeren Arbeitnehmer:innen auch nicht vom beschäftigungsrechtlichen Teil des AGG gem. § 2 I Nr. 1 – 4 AGG geschützt, auf den § 3 I 2 AGG verweist, sondern vom Sozialschutz i. S. v. § 2 I Nr. 5 AGG, der üblicherweise öffentlich-rechtlich organisiert ist und nicht Arbeitgeber:innen als private Akteure in die Pflicht nimmt. Dafür, dass eine berufliche Teilhabe im Sinne des MuSchG betroffen ist, spricht erstens, dass das MuSchG keine Wartezeit enthält,516 sondern die Schutzvorschriften ab dem vertraglich vereinbarten Einstellungstermin gelten, unabhängig davon, ob Arbeitnehmer:innen zu diesem Zeitpunkt ihre Beschäftigung tatsächlich aufnehmen.517 Außerdem erhöht selbst der Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags, in dem schwangere Personen gar nicht arbeiten, die Chancen, über das Fristende hinaus am Arbeitsmarkt teilzuhaben: Der bereits bestehende Kontakt zu Arbeitgeber:innen erhöht die Chancen auf eine Vertragsfortsetzung. Das gilt umso mehr, wenn nicht die erstmalige Einstellung, sondern bereits eine Vertragsfortsetzung aufgrund einer Schwangerschaft unterlassen wird: Der Umstand, dass Arbeitgeber:innen bei 512 Danach haben Schwangere einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegenüber den Arbeitgeber:innen, wodurch Einkommenseinbußen der Schwangeren vermieden werden. Die von Arbeitgeber:innen zu zahlenden Beträge werden ihnen im Rahmen des Arbeitgeberumlageverfahrens nach dem sog. U2-Umlageverfahren von der Krankenkasse ersetzt, BT-Drs. 18/ 9863, S. 37. 513 R. Wank, in: FS Richardi (2007), Von ungeeigneten Bewerbern und schwangeren Bewerberinnen, S. 441, 459. 514 H. Buchner, in: FS Stahlhacke (1995), Gleichbehandlungsgebot und Mutterschutz, S. 83, 91; A. Nicolai, SAE 2001, 77, 79. 515 Vgl. A. Nicolai, SAE 2001, 77, 81; U. Pallasch, NZA 2007, 306, 308. 516 Wie beispielsweise § 3 III EFZG für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder § 1 I KSchG für das Eingreifen des allgemeinen Kündigungsschutzes. 517 H. Buchner/U. Becker, Mutterschutzgesetz und Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (2008); § 1 MuSchG Rn. 30; Rancke/G. Pepping, § 1 MuSchG Rn. 91.
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Fristablauf überhaupt an die Schwangerschaft angeknüpft haben, setzt voraus, dass die Beendigung mit Fristablauf nicht von vornherein feststand, sondern es die Möglichkeit einer längerfristigen Beschäftigung gab. Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Arbeitsverträge oft zur Deckung eines langfristigen Arbeitsbedarfs eingesetzt werden, insbesondere als verlängerte Probezeit oder als Kettenbefristung mit Sachgrund. Es kann dann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Arbeitsverhältnis noch einmal über den konkreten, aufgrund des Beschäftigungsverbots gestörten Arbeitsvertrags hinaus fortgesetzt worden wäre.518 Diese Chance mag dadurch verringert sein, dass schwangere Personen nicht tatsächlich beschäftigt werden können. Bleiben sie aber in einem befristeten Arbeitsverhältnis, stehen ihre Namen auf Gehaltszetteln und Organigrammen, werden sie in organisatorische Maßnahmen mit einbezogen und nehmen ggf. an informellen Besprechungen teil, behalten sie – salopp formuliert – weiterhin einen „Fuß in der Tür“. Die Chance, dass Arbeitgeber:innen sie nach Ablauf ihrer Beschäftigungsverbote wieder auf ihrem Arbeitsplatz einsetzen möchten und zu diesem Zweck ihren Vertrag erneuern, ist höher, als wenn die Vertragsbeziehungen bereits vor Monaten schwangerschaftsbedingt beendet worden wären. Es ist außerdem auf die mittelbaren Folgen hinzuweisen, die an den Status als Arbeitnehmer:in geknüpft sind: Bewerbungen bei anderen Arbeitgeber:innen werden oft erfolgsversprechender sein, wenn man sich als Arbeitnehmer:in und nicht als Arbeitslose:r bewirbt, da Arbeitslosigkeit häufig stigmatisiert wird. Außerdem hat die Dauer der Beschäftigungszeiten weitreichende Konsequenzen, beispielsweise für die Berechnung von Sozialleistungen und tarifliche Eingruppierungen. Nimmt man die gesetzgeberische Konzeption des MuSchG ernst, eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen – und nun auch inter- und transsexuellen Gebärenden – am Arbeitsleben zu gewährleisten, sind auch solche mittel- und langfristigen Auswirkungen, beispielsweise auf den Gender Pension Gap mitzudenken. Die Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge betrifft also auch dann die Teilhabe am Arbeitsleben, wenn schwangere Personen während der Laufzeit des unterlassenen Vertrags gar nicht gearbeitet hätten. Dass die Beschäftigungsverbote des MuSchG eine schwangerschaftsbezogene Benachteiligung gem. § 8 I AGG rechtfertigen, würde daher den mit ihnen bezweckten Schutz in ihr Gegenteil verkehren. Das rechtliche Vermögen, nicht wegen schwangerschaftsbedingter Beschäftigungsverbote arbeitsunfähig zu sein, ist keine rechtmäßige berufliche Anforderung. Auf eine richtlinienkonforme Auslegung des deutschen Rechts in Übereinstimmung mit der oben zitierten EuGH-Rechtsprechung519 kommt es daher nicht an. 518
Dieser Gedanke liegt auch der Argumentation des EuGH zugrunde: Eine Rechtfertigung der Nichteinstellung einer Schwangeren könne auch bei befristeten Arbeitsverhältnissen nicht gerechtfertigt sein, da die Dauer bei befristeten Arbeitsverhältnissen aufgrund der Möglichkeit einer Erneuerung oder Verlängerung nicht von vornherein feststehe, EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – C-109/00 (Tele Danmark), NZA 2001, 1241, 1243 (Rn. 32). 519 Siehe oben Fn. 474 – 478.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
3. Ergebnis: Keine Rechtfertigung schwangerschaftsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 I AGG Die Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses von schwangeren Arbeitnehmer:innen kann nicht gem. § 8 I AGG gerechtfertigt werden. Unabhängig davon, dass schwangerschaftsbedingte Beschäftigungsverbote nur dann wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen i. S. v. § 8 I AGG entgegenstehen, wenn die berufliche Tätigkeit insgesamt oder wesentliche, prägende Bestandteile für den gesamten oder beinahe den gesamten Zeitraum eines befristeten Folgearbeitsvertrags verboten sind, verfolgen diese Anforderungen keinen rechtmäßigen Zweck.
II. Rechtfertigung altersbedingter Benachteiligungen gem. § 8 AGG und § 10 AGG Da der Anstieg des Lebensalters bei Vertragsschluss vorhersehbar ist, knüpfen oft Befristungsabreden selbst benachteiligend an das Lebensalter von Arbeitnehmer:innen an, indem das Ende von Arbeitsverhältnissen an das Erreichen einer bestimmter Altersgrenzen geknüpft wird. Ist eine solche Befristungsabrede sachlich gerechtfertigt, ist konsequenterweise auch die Entscheidung von Arbeitgeber:innen, Arbeitsverhältnisse nach Erreichen einer zulässigen Altersgrenze aufgrund des Alters der Arbeitnehmer:innen nicht fortzusetzen, ebenso gerechtfertigt. Ist die Befristungsabrede selbst altersneutral, verlagert sich die Prüfung aber auf eine Rechtfertigung der Nichtfortsetzungsentscheidung im einzelnen Fall. Als Rechtfertigungsgrund kommen jeweils sowohl § 8 I AGG als auch § 10 AGG in Betracht (siehe § 10 S. 1 a. A.): § 8 I AGG betrifft Benachteiligungen im Zusammenhang mit speziellen Anforderungen der Tätigkeit und § 10 AGG Benachteiligungen aus anderen, insbesondere beschäftigungspolitischen Gründen.520 Am relevantesten ist wohl § 10 S. 3 Nr. 5 AGG, nach dem eine Befristung von Arbeitsverhältnissen bis zum Regelrenteneintrittsalter der Arbeitnehmer:innen zulässig ist.521 Damit ist auch die daran anschließende Nichtfortsetzung der Arbeitsverhältnisse zulässig.522 Andere Altersgrenzen können gem. § 8 I AGG gerechtfertigt sein, wenn das Alter wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt. Einigkeit besteht darin, dass die pauschale Annahme, die 520 BeckOGK/M. Benecke, § 8 AGG Rn. 46; vgl. auch BAG, Urt. v. 18. 1. 2012 – 7 AZR 112/ 08, NZA 2012, 575, 578 f. (Rn. 34 und 40). 521 St. Rspr. BAG, Urt. v. 18. 6. 2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302, 1304 f. (Rn. 24 ff.); die Europarechtskonformität wurde bestätigt in EuGH, Urt. v. 12. 10. 2010 – C-45/09 (Rosenbladt), NZA 2010, 1167, 1171 (Rn. 77). 522 Da § 10 S. 3 Nr. 5 AGG die Rechtfertigung von „Vereinbarungen“ legitimiert, unter die eine einseitig entschiedene Nichtfortsetzung nicht fällt, werden die i. R. v. § 10 S. 3 Nr. 5 AGG geltenden Erwägungen im Rahmen der Generalklausel des § 10 S. 1, 2 AGG zu berücksichtigen sein.
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmer:innen nehme im Alter ab, nicht zur Rechtfertigung einer Benachteiligung taugt.523 Sind besondere physische oder psychische Fähigkeiten für die konkrete Leistungserbringung aber tatsächlich essenziell und lassen diese Fähigkeiten nachweislich altersbedingt nach, kann ein jüngeres Alter eine wesentliche berufliche Anforderung darstellen.524 Knüpft bereits die Befristungsabrede selbst an eine Altersgrenze an, kommt es darauf an, ob Arbeitnehmer:innen bei typisierender Betrachtungsweise ab dem festgelegten Alter aufgrund altersbedingten Leistungsnachlasses für die Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mehr geeignet sind.525 Solche Befristungen werden insbesondere in Berufen mit viel Verantwortung genutzt, in denen sich altersbedingte Schwächen auf Sicherheit, Gesundheit oder Leben der Allgemeinheit oder des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin selbst auswirken und Altersgrenzen daher in Tarifverträgen vereinbart werden.526 Prominenteste Beispiele sind Altersgrenzen für Pilot:innen, Kabinenpersonal und Fluglots:innen. Eine pauschale Altersgrenze ist aber nach der strengen Rechtsprechung von BAG und EuGH nur dann zulässig gem. § 8 I AGG und Art. 4 I RL 2000/78/EG, wenn belastbare Erkenntnisse die Annahme rechtfertigen, dass mit zunehmendem Alter tatsächlich das Risiko der Gefährdung von Rechtsgütern oder sonstigen massiven Leistungsstörungen steigt527 und die signifikante Leistungsbeeinträchtigung typischerweise tatsächlich in dem festgelegten Lebensalter zu erwarten ist.528 Dieser Nachweis ist schwer zu erbringen. Dass Arbeitsverträge zulässigerweise altersbedingt befristet wurden und ihre Nichtfortsetzung nach denselben Erwägungen gerechtfertigt ist, ist daher hauptsächlich bei Anknüpfung an die Regelrenteneintrittsgrenze praxisrelevant. Ist die Befristung selbst altersneutral vereinbart worden, ist die Nichtfortsetzung gem. § 8 I AGG gerechtfertigt, wenn konkrete Arbeitnehmer:innen aufgrund ihres Alters für die Ausübung der Tätigkeit tatsächlich nicht mehr geeignet sind. Das ist der Fall, wenn für den Beruf gewisse körperliche oder geistige Fähigkeiten unverzichtbar sind, die Arbeitnehmer:innen im Zeitpunkt des Fristablaufs altersbedingt 523
J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 8 AGG Rn. 37; BeckOGK/M. Benecke, § 8 AGG Rn. 48; Däubler/Bertzbach/C. Brors, § 8 AGG Rn. 25. 524 Zu § 8 I AGG: BAG, Urt. v. 18. 1. 2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575, 578 (Rn. 35); zu Art. 4 I RL 2000/78/EG: EuGH, Urt. v. 13. 9. 2011 – C-447/09, NZA 2011, 1039, 1043 (Rn. 67). 525 Vgl. hierzu instruktiv die Rechtsprechungshistorie skizzierend BAG, Urt. v. 23. 6. 2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248, 1249 (Rn. 16 ff.). 526 BAG, Urt. v. 18. 1. 2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575, 578 (Rn. 35): „Für Verkehrspiloten ist es wesentlich, dass sie über besondere körperliche Fähigkeiten verfügen, weil körperliche Schwächen in diesem Beruf erhebliche Konsequenzen haben können.“ 527 Nach BAG, Urt. v. 23. 6. 2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248, 1249 f. (Rn. 20 f.) war daher eine Altersbegrenzung von Kabinenpersonal auf 60 Jahre mangels Gefährdung von Rechtsgütern im Falle altersbedingter Ausfallerscheinungen nicht zulässig. 528 Unter anderem deshalb haben das BAG in BAG, Urt. v. 18. 1. 2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575, 578 (Rn. 37) und der EuGH zu Art. 4 I RL 2000/78/EG in EuGH, Urt. v. 13. 9. 2011 – C-447/09, NZA 2011, 1039, 1043 (Rn. 74) eine absolute Altersgrenze für Piloten von 60 Jahren verworfen.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
nachweisbar nicht mehr aufweisen und dass der mit diesen Anforderungen verfolgte Zweck so bedeutend ist, dass die altersbedingte Benachteiligung angemessen ist.529 Nach diesem strengen Maßstab rechtfertigen normale „alterstypische“ Einschränkungen in aller Regel nicht die Nichtfortsetzung, da sie die Leistungserbringung meist nicht erheblich beeinträchtigen und die finanziellen Einbußen, die Arbeitgeber:innen ggf. hinnehmen müssen, nicht so bedeutend sind, dass sie die Benachteiligung aufwiegen würden. Etwas anderes gilt insbesondere dann, wenn altersbedingte Einschränkungen die Leistungserbringung der Arbeitnehmer:innen massiv und langhaltig beeinträchtigen. In solchen Fällen kann die Einschränkung regelmäßig auch eine Behinderung i. S. v. § 1 AGG darstellen, sodass eine Benachteiligung zusätzlich (vgl. § 4 I AGG) die gleich dargestellten Anforderungen an die Rechtfertigung einer Benachteiligung aufgrund einer Behinderung erfüllen muss.
III. Rechtfertigung behinderungsbedingter Benachteiligungen gem. § 8 AGG 1. Nichtvorliegen der Behinderung als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung Das Nichtvorliegen einer Behinderung kann eine berufliche Anforderung i. S. v. § 8 I AGG sein, wenn sich die Behinderung auf die Fähigkeit der Leistungserbringung auswirkt.530 Dass Behinderungen häufig die Leistungserbringung in standardisierten Arbeitsabläufen oder nicht barrierefrei ausgestatteten Arbeitsplätzen erschweren, korreliert mit dem kombinierten Behinderungsbegriff, nach dem eine Behinderung eine Einschränkung ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft auf Dauer hindern kann.531 Das Nichtvorliegen einer Behinderung ist nicht pauschal als berufliche Anforderung einzuordnen; stereotypisierende oder abstrakte Annahmen einer verminderten Arbeitsplatzeignung von Menschen mit Behinderung können die Benachteiligung nicht rechtfertigen. Stattdessen sind die Auswirkungen einer konkreten Behinderung im Hinblick auf die spezifischen arbeitsplatzbezogenen Anforderungen zu beurteilen. Die Funktionsbeeinträchtigungen müssen nach den oben skizzierten Grundsätzen von erheblicher Relevanz für einen zentralen Bestandteil des Aufgabenspektrums sein. Beispiele sind zahlreich: Gehörlosigkeit und Blindheit verhindern die Ausübung von Tätigkeiten, die verbale Kommunikation bzw. Sehfähigkeit voraussetzen, was beinahe jeden Arbeitsplatz betreffen wird. Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates und Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule können körperliche Arbeit erheblich erschweren, da Arbeitnehmer:innen nur noch 529 530 531
Siehe zu diesem Maßstab die Nachweise in Fn. 485. ErfK/M. Schlachter, § 8 AGG Rn. 7; MüKo BGB/G. Thüsing, § 8 AGG Rn. 41. Siehe oben 4. Kap. B. III. 1. d) aa).
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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für kürzere Zeiträume am Stück, für weniger körperlich belastende Tätigkeiten oder gar nicht mehr eingesetzt werden können. Auch die Tätigkeit im Büro kann behindert sein, wenn Arbeitnehmer:innen nicht mehr über lange Zeiträume an ihrem Arbeitsplatz sitzen können. Sind Arbeitnehmer:innen infolge Erkrankungen oder Unfällen im Laufe eines befristeten Arbeitsverhältnisses zukünftig auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen, kann diese Entwicklung die Arbeitsleistung verhindern, wenn ihre Arbeitsplätze nicht barrierefrei ausgestaltet sind. Psychische Erkrankungen, wie Depressionen oder Suchtverhalten, die die Schwelle zur Behinderung überschritten haben,532 können eine Tätigkeit beeinflussen, wenn sie mit stark verminderter Konzentrationsfähigkeit, Kommunikationswilligkeit, Leistungsbereitschaft oder gar einem Fernbleiben vom Arbeitsplatz einhergehen. 2. Angemessenheit der beruflichen Anforderung Gem. § 8 I AGG muss die berufliche Anforderung, dass Arbeitnehmer:innen eine konkrete Behinderung nicht aufweisen, auch angemessen sein. Angemessen sind Anforderungen nur, wenn sie erforderlich sind. Als milderes Mittel kommt im Kontext der Benachteiligung aufgrund Behinderung insbesondere in Betracht, dass Arbeitgeber:innen Arbeitsplätze behinderungsgerecht gestalten. Entscheidend ist daher, welche Maßnahmen Arbeitgeber:innen ergreifen müssen, um die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmer:innen mit Behinderung zu ermöglichen. Unterlassen sie solche Maßnahmen, sind berufliche Anforderungen, die der nicht angepassten Arbeitsplatzgestaltung zugrunde liegen, nicht erforderlich.533 Eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung ist also nur gerechtfertigt, wenn eine Fortsetzung der Beschäftigung auch auf einem mit verhältnismäßigem Aufwand geänderten Arbeitsplatz nicht möglich ist.534 a) Grundlage der Pflicht zur Ergreifung angemessener Vorkehrungen Art. 5 RL 2000/78/EG i. V. m. Art. 4 UAbs. 2 UN-BRK schreiben den europäischen Mitgliedstaaten vor, Arbeitgeber:innen dazu zu verpflichten, „die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen [zu ergreifen], um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes […] zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber:innen unverhältnismäßig belasten.“ Der deutsche Gesetzgeber ist dieser Verpflichtung nur unzureichend nachgekommen, indem er entsprechende Pflichten für Arbeitgeber:innen in § 164 SGB IX normiert hat, der aber nur im bestehenden Arbeitsverhältnis und nicht in der Bewerbersituation und nur gegenüber schwerbehinderten und nicht 532
Siehe dazu oben 4. Kap. B. III. 1. d) bb). BAG, Urt. v. 22. 5. 2014 – 8 AZR 662/13, NZA 2014, 924, 927 (Rn. 42); BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378 (Rn. 50). 534 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378 (Rn. 54); Däubler/ Bertzbach/C. Brors, § 8 AGG Rn. 33. 533
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
„einfach“ behinderten Arbeitnehmer:innen gilt.535 Die Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen ergibt sich nach Ansicht der Rechtsprechung und Literatur daher in diesen Fällen aus einer europarechtskonformen Auslegung von § 241 II BGB.536 b) Umfang und Grenzen der Pflicht zur Ergreifung angemessener Vorkehrungen Arbeitgeber:innen sind dazu verpflichtet, Barrieren abzubauen, die Arbeitnehmer:innen mit Behinderung die fortgesetzte Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeiten erschweren oder unmöglich machen. Dazu zählen alle denkbaren materiellen und organisatorischen Maßnahmen, wie beispielsweise eine Umgestaltung der Räumlichkeiten, eine Anpassung der Arbeitsgeräte und eine Umstellung von Arbeitsrhythmus oder Aufgabenverteilung.537 Zur Überwindung der oben exemplarisch genannten Arbeitsplatzanforderungen sind folgende Maßnahmen denkbar: Damit gehörlose Arbeitnehmer:innen ihre Tätigkeit fortsetzen können, werden ihnen Gebärdendolmetscher zur Verfügung gestellt; haben Arbeitnehmer:innen Wirbelsäulenschäden, können sie eine bürobasierte Tätigkeit weiterausüben, indem sie einen verstellbaren Stehschreibtisch erhalten, und eine körperliche Tätigkeit, indem die Aufgabenverteilung in ihren Teams angepasst wird. Und damit Arbeitnehmer:innen im Rollstuhl ihre Arbeitsplätze weiter erreichen können, können Fahrstühle und/oder Rampen im Gebäude installiert werden. Würden Arbeitgeber:innen all diese Maßnahmen uneingeschränkt abverlangt, würde ihnen jedoch teilweise ein enormer administrativer und finanzieller Aufwand auferlegt werden. Daher ist die Pflicht zur Ergreifung von Maßnahmen gem. Art. 5 S. 2 RL 2000/78/EG, dessen Inhalt die unionsrechtskonforme Auslegung von § 241 II BGB konkretisiert, sowie gem. § 164 IV 3 SGB IX ausgeschlossen, wenn sie Arbeitgeber:innen unverhältnismäßig belasten. Dafür ist der finanzielle und sonstige Aufwand unter Berücksichtigung der Größe und Finanzkraft der Arbeitgeber:innen zu beurteilen.538 Die Zurverfügungstellung eines Dolmetschers und der Einbau eines Fahrstuhls werden Arbeitgeber:innen danach regelmäßig nicht abverlangt werden; Kauf und Installation höhenverstellbarer Schreibtische sowie die Umverteilung von Aufgaben innerhalb eines Teams hingegen schon.
535
G. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz (2013), Rn. 353. BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378 (Rn. 53); ErfK/ M. Schlachter, § 8 AGG Rn. 7; MüKo BGB/G. Thüsing, § 8 AGG Rn. 42. 537 Diese Maßnahmen sind in dem nicht abschließenden Erwägungsgrund Nr. 20 der RL 2000/78/EG aufgezählt. 538 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378 (Rn. 52) sowie auch Erwägungsgrund Nr. 21 der RL 2000/78/EG. 536
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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D. Sonderfall: Mittelbar benachteiligende Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse In den voranstehenden Abschnitten wurde untersucht, ob und unter welchen Voraussetzungen die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse eine unmittelbare Benachteiligung gem. § 3 I AGG ist und gegen die ähnlich strukturierten Maßregelungsverbote verstößt. Es soll abschließend betrachtet werden, wann die Nichtfortsetzung eine mittelbare Benachteiligung gem. § 3 II AGG ist, weil „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
I. Neutrale Regelung Vorschriften sind neutral, wenn sie nicht explizit an ein Merkmal nach § 1 AGG anknüpfen. Ihr benachteiligender Charakter ergibt sich daraus, dass sie aber überwiegend Personen mit einem Merkmal gem. § 1 AGG betreffen. Eine mittelbare Benachteiligung liegt also nur dann vor, wenn die Vorschrift zwar potenziell Personen mit und ohne Merkmal des § 1 AGG betrifft, aber tatsächlich bestimmte Merkmalsträger überproportional belastet. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt dagegen vor, wenn ein Kriterium ausschließlich Personen mit einer bestimmten Merkmalsausprägung ausgrenzt.539 „Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ i. S. d. § 3 II AGG müssen daher zwingend eine derart große Zahl von Personen betreffen können, dass unter ihnen ein Gruppenvergleich angestellt werden kann. Eine gegenüber einzelnen Arbeitnehmer:innen vorgenommene Einzelmaßnahme muss auf die „Aufstellung oder Anwendung einer allgemeinen Regel bzw. eines verallgemeinernden Kriteriums zurückgehen“.540 Die Nichtfortsetzung eines Arbeitsvertrags als Einzelmaßnahme kann also entweder dann mittelbar benachteiligen, wenn Arbeitgeber:innen abstrakte Kriterien für die Fortsetzung von Arbeitsverträgen in dem Betrieb oder die Einstellung von Bewerber:innen aufgestellt haben, die nun im Einzelfall vollzogen werden, oder wenn das der Nichtfortsetzung zugrundeliegende Kriterium derart verallgemeinerungsfähig ist, dass es potentiell eine Vielzahl befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen betrifft. 539
Siehe dazu ausführlich oben 5. Kap. B. I. 1. a). BAG, Urt. v. 22. 6. 2011 – 8 AZR 48/10, NZA 2011, 1226, 1229 (Rn. 37); so auch K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 3 AGG Rn. 70; EuArbR/ J. Mohr, Art. 2 RL 2000/78/EG Rn. 13; Schleusener/Suckow/Plum/M. Plum, § 3 AGG Rn. 97; ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 9; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 49. 540
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
II. Feststellung einer benachteiligenden Wirkung Die in § 3 II AGG angelegte Gegenüberstellung verlangt die Bildung von Vergleichsgruppen.541 Diese Gruppen werden aus den Arbeitnehmer:innen zusammengesetzt, die von der Maßnahme konkret betroffen sind oder, wie im Fall der verallgemeinerungsfähigen Einzelmaßnahme, potenziell betroffen sein können.542 Bei der Nichtfortsetzung sind dies andere befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen und ggf. andere Bewerber:innen, wenn die Wiedereinstellungsentscheidung im Rahmen einer Auswahlsituation getroffen wird. Geht es also beispielsweise darum, dass eine Arbeitgeberin eine Person wegen ihrer Teilzeittätigkeit nicht verlängert, ist eine Gruppe aus allen in Vollzeit befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen mit einer Gruppe aus allen in Teilzeit befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen zu vergleichen. Die besondere Betroffenheit von Merkmalsträgern wird in erster Linie durch einen statistischen Vergleich festgestellt: Sind Merkmalsträger prozentual wesentlich häufiger in der nachteilig betroffenen Gruppe vertreten als in der anderen, liegt eine mittelbare Benachteiligung nahe.543 Kann ein solcher statistischer Nachweis nicht erbracht werden, genügt nach herrschender Meinung, dass das Kriterium „bei wertender, typisierender Betrachtung geeignet ist“, Merkmalsträger überproportional stark zu beeinträchtigen.544 Diese hypothetische Betrachtungsweise wird insbesondere dann relevant, wenn statistische Daten (insbesondere aus Datenschutzgründen) nicht erhoben werden können, weil z. B. innere Merkmale wie Religionszugehörigkeit, Weltanschauung und sexuelle Ausrichtung betroffen sind.545
III. Fehlende Rechtfertigung Eine mittelbare Benachteiligung scheidet gem. § 3 II Hs. 2 AGG schon tatbestandlich aus, wenn die Ungleichbehandlung durch „ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel […] zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“ sind. Die Anforderungen an diesen Rechtfertigungsgrund sind erheblich geringer als §§ 8 – 10 AGG im Rahmen der unmittelbaren Benachteiligung: Es ge-
541
BT-Drs. 16/780, S. 32 f. Vgl. BeckOK ArbR/S. Roloff, § 3 AGG Rn. 17. 543 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 78 ff.; Däubler/Bertzbach/P. Schrader/ J. M. Schubert, § 3 AGG Rn. 54 ff.; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 31. 544 BAG, Beschl. v. 18. 8. 2009 – 1 ABR 47/08, NZA 2010, 222, 224 f. (Rn. 29); K. Adomeit/ J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 3 AGG Rn. 144; J.-H. Bauer/ S. Krieger/J. Günther, § 3 AGG Rn. 26a; BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 85; ErfK/ M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 12; MüKo BGB/G. Thüsing, § 3 AGG Rn. 32; ablehnend NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 3 AGG Rn. 10. 545 BeckOGK/A. Baumgärtner, § 3 AGG Rn. 85. 542
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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nügt, dass die Maßnahme ein legitimes, nicht selbst diskriminierendes Ziel verfolgt und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht.546
IV. Relevanz der mittelbaren Benachteiligung bei der Vertragsfortsetzung: Anknüpfung an krankheitsbedingte Fehlzeiten als Beispiel Fälle, in denen Statusmaßnahmen gegenüber einzelnen Arbeitnehmer:innen an ein mittelbares Kriterium anknüpfen, sind überschaubar.547 Es wird daher ein praktisch relevanter Anknüpfungspunkt herausgegriffen und besprochen: die Anknüpfung an krankheitsbedingte Fehlzeiten als mittelbare Diskriminierung aufgrund einer Behinderung. Die Deutsche Post AG wurde im Jahr 2018 öffentlich dafür kritisiert, dass sie die Entfristung von Arbeitsverträgen von den Krankheitstagen ihrer Arbeitnehmer:innen abhängig macht. Nach einem konzernweiten „Entfristungskonzept“ wird nur solchen Mitarbeitern ein unbefristeter Arbeitsvertrag angeboten, die in den zwei Jahren ihrer befristeten Anstellung höchstens in sechs Fällen und für maximal 20 Tage krankheitsbedingt der Arbeit ferngeblieben sind.548 Die Deutsche Post AG dürfte mit dieser Personalpolitik nicht alleine sein: krankheitsbedingte Fehlzeiten belasten Arbeitgeber:innen finanziell und administrativ und sind daher ein wirtschaftlich rationales Motiv, Arbeitnehmer:innen nicht weiter zu beschäftigen. Die Maßnahme kann entweder in Anwendung einer allgemeinen Regel erfolgen, wie im Falle der Deutsche Post AG, oder aber im Einzelfall, unter Zugrundelegung der Krankheitszeit als verallgemeinerungsfähiges Kriterium, entschieden werden. Die Umstände, unter denen die Anknüpfung an Krankheitstage eine gem. § 612a BGB verbotene Maßregelung ist, wurden oben bereits herausgearbeitet.549 1. Feststellung einer benachteiligenden Wirkung In beiden Fällen kann die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen Arbeitnehmer:innen mit Behinderung mittelbar benachteiligen. Es handelt sich nicht um eine unmittelbare Benachteiligung, da nicht ausschließlich Menschen mit Behinderung benachteiligt werden: Eine Krankheit an sich ist nämlich keine Behinderung 546
Statt aller: BAG, Urt. v. 28. 1. 2010 – 2 AZR 764/08, NZA 2010, 625, 626 f. (Rn. 19 ff.); ErfK/M. Schlachter, § 3 AGG Rn. 13. 547 Der früher rege geführte Diskurs zur Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten als mittelbarer Geschlechterdiskriminierung hat seit Normierung des § 4 II TzBfG als spezielles Benachteiligungsverbot seine Relevanz verloren. 548 K. Ludwig, „Krank sein bei der Post? Besser nicht“, online veröffentlicht am 6. 8. 2018 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brief-und-paketbotenkrank-sein-bei-der-post-besser-nicht-1.3969098). 549 Siehe oben 5. Kap. B. I. 2. a) bb).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
i. S. v. § 1 AGG550 und krankheitsbedingte Fehlzeiten sind auch nicht untrennbar mit dem Vorliegen einer Behinderung verbunden. Krankheitsbedingte Fehlzeiten können also von Arbeitnehmer:innen mit oder ohne Behinderung angesammelt werden. Wenn Arbeitnehmer:innen mit Behinderung aber tatsächlich überproportional viele krankheitsbedingte Fehltage ansammeln, werden sie durch die Maßnahme ggf. mittelbar benachteiligt.551 Dafür ist entweder der statistische Beweis zu erbringen, dass im Betrieb befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen mit Behinderung prozentual wesentlich häufiger krankheitsbedingt fehlen oder ein wesentlich größerer Teil die der Benachteiligung zugrundeliegenden Schwellenwerte überschreitet. Ein solcher statistischer Nachweis gelingt regelmäßig nicht, wenn die Zahl der Menschen mit Behinderung nicht aussagekräftig genug ist oder die im Betrieb vorkommenden Behinderungen verschiedenartig und nicht alle gleichermaßen „krankheitsanfällig“ sind. Allerdings scheinen der EuGH und das BAG auf einen statistischen Nachweis zu verzichten: Arbeitnehmer:innen mit Behinderung seien einem höheren Risiko ausgesetzt, an einer mit seiner Behinderung zusammenhängenden Krankheit zu erkranken, und haben danach auch ein höheres Risiko, krankheitsbedingte Fehltage anzusammeln. Dieser Umstand könne die Annahme einer mittelbaren Benachteiligung erlauben.552 Ohne explizit zu den Anforderungen an den Nachweis einer mittelbaren Benachteiligung Stellung zu nehmen, wenden sich die Gerichte damit vom Erfordernis eines statistischen Nachweises ab und einer wertenden, typisierenden Betrachtung zu. Diesem Ansatz ist zuzustimmen: Birgt die konkrete Behinderung von Arbeitnehmer:innen ein spezifisches Risiko, an einer damit zusammenhängenden Krankheit zu erkranken, ist die Annahme folgerichtig, dass ein statistischer Nachweis eine überproportionale Betroffenheit von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung ergeben würde, befände sich im Betrieb eine aussagekräftige Anzahl an Arbeitnehmer:innen mit derselben Behinderung. Voraussetzung für diese Annahme ist, dass die Korrelation für die spezifische Behinderung und die erhöhte Zahl an Krankheitstagen medizinisch nachweisbar ist. Das ist bei amputierten oder gehörlosen Menschen weniger, bei chronischen orthopädischen oder internistischen Leiden, wie Autoimmunerkrankungen, Diabetes oder Organerkrankungen aber durchaus vorstellbar. Machen Arbeitgeber:innen die Fortbeschäftigung von einer bestimmten Anzahl an Krankheitstagen abhängig, ist weiter erforderlich, dass Arbeitnehmer:innen mit Behinderung einem signifikant erhöhten Risiko ausgesetzt sind, gerade diesen Schwellenwert zu überschreiten. Daran könnte es scheitern, wenn der Schwellenwert so niedrig ist, dass er von beinahe jedem, auch 550
Siehe oben 4. Kap. B. III. 1. d). Vgl. EuGH, Urt. v. 18. 1. 2018 – C-270/16, NZA 2018, 159, 161 (Rn. 39) und EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11, C-337/11, NZA 2013, 553, 557 (Rn. 76) zu Art. 2 II lit. b) RL 2000/ 78/EG; BAG, Urt. v. 20. 6. 2013 – 6 AZR 907/12, NZA-RR 2013, 662, 665 (Rn. 46 f.); BAG, Urt. v. 22. 10. 2009 – 8 AZR 642/08, NZA 2010, 280, 282 (Rn. 25). 552 EuGH, Urt. v. 18. 1. 2018 – C-270/16, NZA 2018, 159, 161 (Rn. 39); EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 557 (Rn. 76); BAG, Urt. v. 20. 6. 2013 – 6 AZR 907/12, NZA-RR 2013, 662, 665 (Rn. 46 f.). 551
5. Kap.: Nichtfortsetzung als verbotene Benachteiligung
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gesunden Arbeitnehmer:innen, überschritten wird. Solche Fälle, beispielsweise eine Festlegung von zwei Krankheitstagen als Schwellenwert, sind jedoch praxisfremd. Ein aufgrund einer Behinderung erhöhtes Risiko an Krankheitstagen erlaubt also die hypothetische Annahme, dass die Anknüpfung an krankheitsbedingte Fehlzeiten dazu geeignet ist, Arbeitnehmer:innen mit Behinderung überproportional stark zu beeinträchtigen. In solchen Fällen liegt eine mittelbare Benachteiligung vor, sofern die Anknüpfung nicht gem. § 3 II a. E. AGG gerechtfertigt ist. 2. Fehlende Rechtfertigung Dass die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung aufgrund ihrer krankheitsbedingten Fehltage nicht fortgesetzt werden, kann prinzipiell durch jedes legitime Ziel gerechtfertigt werden gem. § 3 II a. E. AGG. Der EuGH hat beispielsweise das Interesse von Arbeitgeber:innen, hohe Entgeltfortzahlungskosten zu vermeiden, als legitim angesehen, fordert aber eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die insbesondere die Kosten für Arbeitgeber:innen und die Nachteile für Arbeitnehmer:innen mit Behinderung einzustellen sind.553 Dieser Maßstab ähnelt den vom BAG und der Literatur aufgestellten Kriterien zur sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung, auf die daher als Anhaltspunkt zurückgegriffen werden kann:554 Danach ist erstens die negative Gesundheitsprognose im Zeitpunkt der Nichtfortsetzung erforderlich, dass Arbeitnehmer:innen im Falle der Vertragsfortsetzung weiterhin krankheitsbedingt ausfallen oder weniger leisten können werden, zweitens müssen diese krankheitsbedingten Einschränkungen betriebliche Interessen erheblich beeinträchtigen – diese beiden Aspekte konkretisieren das „legitime Ziel“ i. S. v. § 3 II a. E. AGG – und drittens ist eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, die zugunsten der Arbeitgeber:innen ausfallen muss.555 In der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind insbesondere die Höhe der Entgeltfortzahlungskosten, die wirtschaftliche Belastbarkeit der Arbeitgeber:innen, potentielle Überbrückungsmaßnahmen zur Vermeidung von betrieblichen Beeinträchtigungen, die ordnungsgemäße Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements gem. § 84 II SGB IX und ob die durch die Behinderung verursachte Erkrankung oder die Behinderung selbst (auch) auf betriebliche Ursachen zurückzuführen sind.556 Als solch eine betriebliche Ursache kommt auch ein Unterlassen der nach Art. 5 RL 2000/78/EG gebotenen Vorkehrungen gem. § 164 II SGB IX oder § 241 II BGB zum Schutze von Menschen mit Behinderung in Betracht. In diesem Fall beruhen die krankheitsbedingten Fehltage nämlich auf der Untätigkeit 553
EuGH, Urt. v. 18. 1. 2018 – C-270/16, NZA 2018, 159, 161 (Rn. 44 ff.) zu Art. 2 II lit. b) Nr. 1 RL 2000/78/EG. 554 BeckOK BGB/M. Horcher, § 2 AGG Rn. 52; ErfK/H. Oetker, § 1 KSchG Rn. 110. 555 St. Rspr. seit BAG, Urt. v. 16. 2. 1989 – 2 AZR 299/88, NJW 1989, 3299. 556 ErfK/H. Oetker, § 1 KSchG Rn. 146 ff.; DHSW/B. Roos/A. Bufalica, § 1 KSchG Rn. 72 f.; APS/R. Vossen, § 1 KSchG Rn. 173 ff.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
der Arbeitgeber:innen und es ist ihnen verwehrt, sich gem. § 3 II a. E. AGG darauf zu berufen.557 Das Arbeitgeberinteresse überwiegt dasjenige der Arbeitnehmer:innen in der Regel dann, wenn sie dauernd leistungsunfähig oder vermindert leistungsfähig sind, da in diesen Fällen sogar der Rechtfertigungsgrund nach § 8 I AGG erfüllt wäre, an den höhere Anforderungen als an § 3 II AGG zu stellen sind, und da das Antidiskriminierungsrecht nicht gebietet, ein funktionsloses Arbeitsverhältnis fortzuführen.558 Häufige Kurzzeiterkrankungen können die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nur nach umfassender Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall rechtfertigen. Für die Details der sozialen Rechtfertigung krankheitsbedingter Kündigungen ist an dieser Stelle auf die äußerst umfassende Literatur zu verweisen.559
E. Ergebnisse des fünften Kapitels Die Untersuchungen dieses Kapitels haben ergeben, dass die Vertragsfortsetzungsfreiheit der Arbeitgeber:innen durch Benachteiligungsverbote begrenzt wird. Das Unterlassen eines Vertragsangebots fällt nach Wortlaut und Zweck in den Anwendungsbereich der Benachteiligungsverbote, und zwar unabhängig davon, ob eine vergleichbare Person besser behandelt wurde. Der Unrechtserfolg der verbotenen Nichtfortsetzung liegt darin, dass Arbeitgeber:innen an ein schützenswertes Kriterium – ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG oder eine Rechtsausübung oder Amtsinhaberschaft – zulasten von Arbeitnehmer:innen anknüpfen. Der Vergleich mit einer besser behandelten Person kann ein Indiz für den Kausalzusammenhang zwischen Anknüpfungstatsache und Nichtfortsetzung sein. Aufgrund der Besonderheit, dass es sich bei der Vertragsfortsetzung um eine Einstellung aus dem Arbeitsverhältnis heraus handelt, kann ein Vergleich sowohl mit anderen befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen als auch externen Mitbewerber:innen um die Stelle angestellt werden. Dem unterschiedlichen Schutzzweck des AGG und der Maßregelungsverbote entsprechend verstößt die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse schon dann gegen § 3 I AGG, wenn ein in § 1 AGG genannter Grund in dem Motivbündel der Arbeitgeber:innen enthalten ist. Die Nichtfortsetzung verstößt erst gegen § 612a BGB und § 78 S. 2 BetrVG, wenn die Rechtsausübung der Arbeitnehmer:innen, ggf. in Form der Ausübung von Mitwirkungsrechten, das dominante, und nicht bloß ein untergeordnetes Motiv für die Entscheidung der Arbeitgeber:innen ist. Maßregelungsverbote sind jedoch insofern umfassender, als sie auch Maßregelungen nach 557
EuGH, Urt. v. 11. 4. 2013 – C-335/11; C-337/11, NZA 2013, 553, 557 (Rn. 66). BeckOK BGB/M. Horcher, § 2 AGG Rn. 53. 559 Z. B. NK ArbR/C. Kerwer, § 1 KSchG Rn. 432 ff. und APS/R. Vossen, § 1 KSchG Rn. 134 ff. 558
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
301
Ablauf des Arbeitsverhältnisses verbieten. Benachteiligungen nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses fallen hingegen nur dann in den persönlichen Anwendungsbereich des AGG, wenn sich ehemalige Arbeitnehmer:innen um eine Wiedereinstellung beworben haben. Die Anforderungen an die Qualität der Bewerbung sind aber aufgrund der bereits bestehenden Vertragshistorie abgesenkt. Eine Benachteiligung kann gem. §§ 8 ff. AGG gerechtfertigt sein: Anhand der schwangerschafts-, alters- und behinderungsbedingten Benachteiligung wurden die Voraussetzungen beispielhaft dargestellt. Eine Benachteiligung aufgrund einer Schwangerschaft ist danach stets unzulässig; eine Benachteiligung aufgrund des Alters oder einer Behinderung grundsätzlich nur, wenn Arbeitnehmer:innen das Rentenalter erreicht haben oder wesentliche berufliche Anforderungen nicht mehr erfüllen können. Machen Arbeitgeber:innen die Fortsetzung von krankheitsbedingten Fehlzeiten abhängig, kann darin sowohl eine Maßregelung gem. § 612a BGB als auch eine mittelbare Benachteiligung aufgrund der Behinderung liegen gem. § 3 II AGG. Insgesamt wird Arbeitgeber:innen damit bis zu der hohen Schwelle in §§ 8 ff. AGG verboten, Arbeitnehmer:innen aus bestimmten Gründen zu benachteiligen, selbst wenn eine Zusammenarbeit aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen belastend ist. Mit den Benachteiligungsverboten nimmt der Gesetzgeber Arbeitgeber:innen in die Pflicht, am Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsund Arbeitnehmergruppen auch wider die eigenen Präferenzen mitzuwirken. Arbeitgeber:innen dürfen bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse zwar willkürlich entscheiden, ohne (positiv) an bestimmte Voraussetzungen gebunden zu sein; sie dürfen aber nicht (negativ) gegen Benachteiligungsverbote verstoßen. 6. Kapitel
Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung A. Fortsetzungsansprüche als ungeklärte Rechtsfrage der Gleichheitsdogmatik I. Hybridcharakter der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse So einig sich Rechtsprechung und Literatur darin sind, dass das Diskriminierungsverbot in § 7 I AGG und die verschiedenen Maßregelungsverbote die Entscheidungsfreiheit der Arbeitgeber:innen bei der Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse begrenzen, so umstritten sind die Rechtsfolgen eines Verbotsverstoßes. Weitgehend konsentiert ist, dass Betriebsräte nach Maßgabe von § 17 II AGG und § 75 BetrVG Unterlassungsansprüche gegen die Arbeitgeber:innen im Beschluss-
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
verfahren geltend machen können.560 Ebenfalls einig ist man sich darüber, dass Arbeitnehmer:innen Schadensersatz in Geld verlangen können; über die Höhe solcher Ansprüche wird aber vehement gestritten. Als weitgehend ungeklärte Rechtsfrage der Gleichheitsdogmatik kann die Frage bezeichnet werden, ob Arbeitnehmer:innen auch die ihnen verweigerte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verlangen können. Auffällig ist an der Diskussion, dass Befürworter:innen von Fortsetzungsansprüchen beinahe jede erdenkliche Anspruchsgrundlage vorschlagen und Gegner solcher Ansprüche oberflächlich mit der scheinbar kritikimmunen Durchsetzungsmacht der Privatautonomie argumentieren, die nach der gesetzgeberischen Wertung des § 15 VI AGG Fortsetzungsansprüche innerhalb sowie außerhalb des AGG ausschließen solle. In diesem Streit manifestiert sich sowohl ein unterschiedliches Verständnis von Vertragsfreiheit und distributiven Gerechtigkeitselementen im Privatrecht als auch der Hybridcharakter der Vertragsfortsetzung, die zugleich Vertragsbegründung und Nicht-Beendigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses ist. Während (Neu-)Einstellungsansprüche als Rechtsfolge von Benachteiligungen nämlich nicht in Betracht kommen (als Rechtsfolge von Maßregelungen sind sie tatbestandlich nicht denkbar und als Rechtsfolge von Diskriminierungen unstreitig gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen), sind benachteiligende Kündigungen und Befristungsabreden nach herrschender Ansicht unwirksam, sodass die unwirksam beendeten Arbeitsverhältnisse fortbestehen.561 Zu untersuchen ist, wo in diesem Spektrum die benachteiligende Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse einzuordnen ist.
II. Meinungsstand: Fortsetzungsansprüche infolge von Verbotsverstößen 1. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das AGG a) Ansichten der Rechtsprechung aa) Ansichten der Rechtsprechung vor Inkrafttreten des AGG Der Zweite Senat des BAG hat sich im Jahr 1963 erstmals mit der Nichtverlängerung eines Arbeitsverhältnisses aus einem heute durch das AGG verbotenen Grund auseinandergesetzt: Die klagende Arbeitnehmerin wurde durch einen „zunächst“ auf eine Probezeit befristeten Arbeitsvertrag bei der Arbeitgeberin angestellt.562 Die Arbeitnehmerin hatte aber eine Daueranstellung gesucht und auch der Arbeitsvertrag war mit Ausnahme der Befristungsabrede auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zugeschnitten. Trotz voller Bewährung wurde die Arbeitnehmerin nach Fristablauf 560 Siehe für die gerichtliche Durchsetzung der Grundsätze in § 75 I BetrVG schon oben 3. Kap. A. IV. 2. 561 Dazu ausführlich unten 6. Kap. C. II. 4. 562 BAG, Urt. v. 28. 11. 1963 – 2 AZR 140/63, NJW 1964, 567.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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nicht weiter beschäftigt, und zwar, wie das BAG feststellte, nur aufgrund der inzwischen der Arbeitgeberin bekannt gegebenen Schwangerschaft. Nach der Rechtsauffassung des BAG stellt „die Berufung der Beklagten auf den vereinbarten Auslauf des Vertrages eine unzulässige Rechtsausübung dar. Sie widerspricht demonstrativ dem Grundgedanken nicht nur des MuSchG, sondern auch dem des Art. 6 Abs. 4 GG, wonach jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft hat. Die Stärke und Eindeutigkeit des Widerspruchs liegen darin, daß die Schwangerschaft der Klägerin ihr Ausscheiden aus dem Betrieb der Beklagten nicht nur nicht verhindert, sondern gerade herbeigeführt hat.“563 Im Jahr 1989 hatte der Zweite Senat erneut Anlass, zu der Frage der diskriminierenden Nichtverlängerung eines Arbeitsverhältnisses Stellung zu beziehen.564 Zu der Frage, ob der befristete Arbeitsvertrag einer schwangeren und schwerbehinderten Arbeitnehmerin zu entfristen sei, wenn die Arbeitgeberin die unbefristete Übernahme bei Bewährung der Arbeitnehmerin bei Vertragsschluss ausdrücklich „beabsichtigt“ hatte, äußerte sich der Senat folgendermaßen: Eine Analyse der im Jahr 1963 angestellten Überlegungen ergebe, dass die Rechtsmissbräuchlichkeit des Festhaltens am Fristablauf primär daraus resultierte, dass die Arbeitnehmerin unter den besonderen Umständen des Falls erwarten konnte, ihr Arbeitsverhältnis werde bei Bewährung nach Ablauf der Probezeit entfristet.565 Die Frage einer Selbstbindung von Arbeitgeber:innen infolge hervorgerufenen Vertrauens hat der Senat in seinem Urteil von 1989 sodann weiter argumentativ ausgebaut. Ob die Stellungnahme zu den Urteilsgründen aus dem Jahr 1963 ihre Relativierung bezweckte und eine Diskriminierung allein keinen Fortsetzungsanspruch (mehr) begründen sollte oder der Senat primär seine Rechtsprechung zum Fortsetzungsanspruch bei enttäuschtem Vertrauen unterfüttern wollte, bleibt jedoch unklar. Einem Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus aus dem Jahr 2000 lag zugrunde, dass eine Arbeitgeberin aufgrund eines gestiegenen Arbeitsvolumens allen bis zum 30. Juni 2000 als „Agent“ eingestellten Mitarbeitern eine Entfristung anbot, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Arbeitnehmer:innen am 1. Juli 2000 tatsächlich ihre Arbeitsleistung erbringen können.566 Die Klägerin befand sich zu diesem Zeitpunkt im Mutterschaftsurlaub und wurde daher nicht weiterbeschäftigt. Das Gericht urteilte mit Hinweis auf das Urteil des BAG von 1963, dass sich die Arbeitgeberin nicht auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Befristung berufen dürfe, da die Nichtfortsetzung die Arbeitnehmerin wegen ihres Geschlechts benachteilige. Dies folge aus Art. 2 I RL 76/207/EWG, der Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts verbot.567 563
BAG, Urt. v. 28. 11. 1963 – 2 AZR 140/63, NJW 1964, 567, 568. BAG, Urt. v. 16. 3. 1989 – 2 AZR 325/88, NZA 1989, 719. 565 BAG, Urt. v. 16. 3. 1989 – 2 AZR 325/88, NZA 1989, 719, 721. 566 ArbG Cottbus, Urt. v. 13. 9. 2000 – 6 Ca 2170/00, NZA-RR 2000, 626. 567 ArbG Cottbus, Urt. v. 13. 9. 2000 – 6 Ca 2170/00, NZA-RR 2000, 626, 627; die RL 76/ 207/EWG ist seit 2009 abgelöst durch die RL 2006/54/EG. 564
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
bb) Ansichten der Rechtsprechung seit Inkrafttreten des AGG Nachdem das BAG im Jahr 2008 ausdrücklich offengelassen hatte, ob und, falls ja, mit welchen Rechtsfolgen eine Nichtverlängerung gegen § 7 AGG verstößt,568 hat das LAG Hamm im Jahr 2010 über die Rechtsfrage geurteilt: Die beklagte (öffentliche) Arbeitgeberin hatte eine Arbeitnehmerin nur deshalb nicht bei der Vergabe eines weiteren befristeten Arbeitsvertrags berücksichtigt, da sie das Höchstalter von 33 Jahren zur Verbeamtung überschritten hatte. Der darin liegende Verstoß gegen § 7 I AGG begründe aber gem. 15 VI AGG keinen Anspruch auf Abschluss eines Folgearbeitsvertrags. Zwar lasse der Wortlaut der Norm offen, ob sie auch bei der Vertragsfortsetzung gelte, die „Erwägungen zur Privatautonomie greifen jedoch auch bei anderen Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen in gleichem Maße ein wie bei Einstellung und beruflichem Aufstieg“569. Im Jahr 2011 urteilte das BAG schließlich, dass ein Fortsetzungsanspruch bei einer gegen § 612a BGB verstoßenden Nichtfortsetzung ausscheide, da § 15 VI AGG analog anzuwenden sei.570 Voraussetzung dieser Analogie ist die unausgesprochene Prämisse, dass § 15 VI AGG auch im Anwendungsbereich des AGG einen Anspruch auf Vertragsfortsetzung ausschließt. Diese Rechtsauffassung scheint das BAG ohne Problembewusstsein und ohne Blick auf den Meinungsstreit in der Literatur seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. b) Literaturauffassungen Die Literatur ist zwiegespalten: Teilweise werden Fortsetzungsansprüche von Arbeitnehmer:innen bei Verstößen gegen das AGG mit Verweis auf § 15 VI AGG generell abgelehnt.571 Befürworter solcher Ansprüche572 argumentieren, dass die Fortbeschäftigung bereits angestellter Arbeitnehmer:innen anders zu werten sei als 568
BAG, Urt. v. 13. 8. 2008 – 7 AZR 513/07, NZA 2009, 27, 29 (Rn. 24). LAG Hamm, Urt. v. 26. 2. 2009 – 17 Sa 923/08, BeckRS 2010, 72245. 570 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 45). 571 J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 68; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 16a; S. Braun, ZTR 2007, 78, 81 zu § 611a II BGB a. F.; Däubler/Bertzbach/ O. Deinert, § 15 AGG Rn. 148; P. Hanau, ZIP 2006, 2189, 2201; M. Horcher, RdA 2014, 93, 99; ErfK/R. Müller-Glöge, § 15 TzBfG Rn. 7; Schleusener/Suckow/Plum/M. Plum, § 15 AGG Rn. 136; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 214; R. Strecker, RdA 2009, 381, 385; MüKo BGB/ G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 43. 572 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 118; KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90; NK ArbR/ W. Boecken/M. J. Pils, § 105 GewO Rn. 17; H.-J. Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag (2011), Rn. 765; F. Hartmann, in: FS von Hoyningen-Huene (2014), Altersdiskriminierende Befristungsdauer bei Arbeitsverträgen, S. 123, 135; MüKo BGB/D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 7; W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245, 256 f.; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112 f.; ders., NZA 2017, 353, 355; J. Sievers, TzBfG (2021), § 14 TzBfG Rn. 85; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 17; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 31 ff.; knapp erwogen von M. Grobys/R. von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2009, 52; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 21. 569
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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die Nichteinstellung einer Person, zu der bisher noch keine vertraglichen Beziehungen bestanden haben. § 15 VI AGG lasse Einstellungsansprüche aufgrund anderer Rechtsgrundlagen auch ausdrücklich zu. Nach Backhaus und ihm folgend Hesse sollen Fortsetzungsansprüche aus der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht gem. § 241 II BGB als anderer Rechtsgrund i. S. v. § 15 VI AGG folgen, im Rahmen derer – parallel zur Rechtsprechung des BAG zum Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung – die widerstreitenden Grundrechte der Arbeitgeber:innen aus Art. 12 I GG und der Arbeitnehmer:innen aus Art. 3 III GG abzuwägen seien.573 Auch Bader leitet Fortsetzungsansprüche aus der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber:innen ab: Die Fürsorgepflicht sei ein anderer Rechtsgrund i. S. v. § 15 VI AGG, der Arbeitgeber:innen insgesamt zum Unterlassen von Diskriminierungen und daher bei ansonsten eintretender Diskriminierung zur Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen verpflichte.574 Nach Sievers folgt ein Fortsetzungsanspruch aus der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber:innen, da nur so ein effektiver Diskriminierungsschutz gewährleistet und Wertungswidersprüche zur diskriminierenden Befristungsabrede, die nach allgemeiner Ansicht auch zu einem unbefristeten Arbeitsverhältnis führt, vermieden werden könnten.575 Wroblewski erkennt Fortsetzungsansprüche als Folge rechtsmissbräuchlichen Verhaltens von Arbeitgeber:innen an. § 15 VI AGG erfasse nur den Fall der Neueinstellung und nicht jenen der Vertragsverlängerung und schließe ausdrücklich keine Ansprüche aus anderen Anspruchsgrundlagen aus. Eine solche Anspruchsgrundlage sei der Einwand des Rechtsmissbrauchs, der verfange, wenn man die Befristung als Ausnahme vom unbefristeten Regelarbeitsverhältnis betrachte.576 Auch Tillmanns bejaht die Existenz von Fortsetzungsansprüchen mit dem Argument des Rechtsmissbrauchs als anderer Rechtsgrund i. S. v. § 15 VI AGG. Solche Ansprüche habe die Rechtsprechung vor Inkrafttreten des AGG anerkannt und sie dürften wegen des Verschlechterungsverbots in Art. 8 Abs. 2 RL 2000/78/EG nicht aberkannt werden. Darüber hinaus komme es ansonsten zu Wertungswidersprüchen mit der diskriminierenden Befristungsabrede.577 Pallasch versteht die Benachteiligungsverbote als unmittelbare Abschlussgebote. Wenn die Verweigerung eines Vertragsschlusses verboten sei, sei der Abschluss rechtlich geboten. Diese „unmittelbare Störungsbeseitigung“ sei unmittelbar dem
573
APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 118; MüKo BGB/D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 7. KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90. 575 J. Sievers, TzBfG (2021), § 14 TzBfG Rn. 85, 92 ausdrücklich nur für Diskriminierungen aufgrund von Schwangerschaft und Alter, aber ohne merkmalsspezifische Begründung, die eine unterschiedliche Beurteilung von Diskriminierungen aufgrund der anderen Merkmale in § 1 AGG nahelegt. 576 DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 35. 577 DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 17. 574
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
jeweiligen Verbot zu entnehmen. § 15 VI AGG stehe dieser Rechtsfolge nicht entgegen, da die Norm teleologisch auf die Bewerbersituation zu reduzieren sei.578 Hartmann plädiert für die Anerkennung eines schadensersatzrechtlichen Anspruchs auf Vertragsfortsetzung. § 15 VI AGG stehe dem nicht entgegen, da es nicht um die Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses gehe; im Unterschied zu den Beförderungsfällen gehe es auch „lediglich um eine Weiterbeschäftigung zu identischen Bedingungen“.579 2. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 612a BGB a) Ansichten der Rechtsprechung Das BAG hatte 1984 über einen Fall zu urteilen, in dem ein Arbeitgeber seinem Auszubildenden die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis verweigerte, da er in einer Schülerzeitung mit militanten Demonstrationen gegen Atomkraft sympathisiert hatte.580 Das BAG stellte damals fest, dass die Entscheidung der Nichtübernahme anhand des allgemeinen Willkürverbots des § 75 BetrVG zu überprüfen sei. Ein Verstoß sei insbesondere anzunehmen, falls sich die Entscheidung auf die politische Einstellung oder gewerkschaftliche Betätigung des Auszubildenden stütze. Die Norm räume auch dem Arbeitnehmer ein individuelles Recht ein, nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt zu werden, da sie ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 II BGB sei und die Treue- und Fürsorgepflichten des Arbeitgebers konkretisiere. Die Entscheidung des BAG, einen Verstoß gegen das Willkürverbot im konkreten Fall abzulehnen, hob das daraufhin angerufene BVerfG wegen unzureichender Berücksichtigung der Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers auf und verwies die Sache an das BAG zurück.581 Das BAG verurteilte den Arbeitgeber sodann dazu, mit dem Auszubildenden einen Arbeitsvertrag abzuschließen;582 die dogmatische Konstruktion des Anspruchs ist dabei unklar geblieben. Anders hat das BAG 2011 über einen vergleichbaren Sachverhalt entschieden.583 In dem Streitfall bot ein Arbeitgeber einem befristet beschäftigten Arbeitnehmer keinen Folgevertrag an, weil der Arbeitnehmer in seiner Funktion als gewerkschaftlicher Vertrauenskörper auf einer Betriebsversammlung im Betrieb des Arbeitgebers kritische Anmerkungen über die Beschäftigungspolitik gemacht hatte. Das BAG sah in diesem Verhalten eine Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen Ausübung seiner Grundrechte auf Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) und individuelle 578
U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112 f.; ders., NZA 2017, 353, 355. F. Hartmann, in: FS von Hoyningen-Huene (2014), Altersdiskriminierende Befristungsdauer bei Arbeitsverträgen, S. 123, 135. 580 BAG, Urt. v. 5. 4. 1984 – 2 AZR 513/82, NZA 1985, 329. 581 BVerfG, Beschl. v. 19. 5. 1992 – 1 BvR 126/85, NJW 1992, 2409, 2411. 582 BAG, Urt. v. 11. 11. 1992 – 2 AZR 334/92, BeckRS 1992, 30743023. 583 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317. 579
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) und damit einen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB. Wegen der gesetzgeberischen Wertung in § 15 VI AGG resultiere aus dem Verstoß aber kein Fortsetzungsanspruch des Arbeitnehmers im Wege der Naturalrestitution gem. §§ 280, 249 I BGB. Wenn der Arbeitgeber gem. § 15 VI AGG selbst bei „massivsten Diskriminierungen“ im Rahmen des AGG nicht zur Eingehung eines Arbeitsverhältnisses verpflichtet werden solle, könne ein Kontrahierungszwang nicht bei den „typischerweise deutlich weniger gewichtigen Verstößen“ gegen § 612a BGB angenommen werden.584 b) Literaturauffassungen Teile des Schrifttums schließen sich Argumentation und Ergebnis der jüngsten BAG-Entscheidung an.585 Ebenso wie im Kontext von § 7 AGG wenden kritische Gegenstimmen586 ein, dass § 15 VI AGG nicht auf die Weiterbeschäftigung anwendbar sei und die Norm einen Kontrahierungszwang auf anderer Rechtsgrundlage zulasse. Adam möchte Arbeitgeber:innen aus diesen Gründen verwehren, sich auf die Befristung zu berufen, wenn sie damit ein zulässiges Arbeitnehmerverhalten maßregeln.587 Bader nimmt Fortsetzungsansprüche für aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Betätigung benachteiligte Arbeitnehmer:innen aus der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht der Arbeitgeber:innen an.588 Wroblewski erkennt einen Schadensersatzanspruch der wegen ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit gemaßregelten Arbeitnehmer:innen an, der gem. § 249 I BGB auf Naturalrestitution in Form eines Fortsetzungsanspruchs gerichtet sei. § 15 VI AGG sei nicht analog anzuwenden: „Berufs-, Vertrags- und Koalitionsfreiheit und gegebenenfalls auch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verlangen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses“; im Unterschied zu § 15 VI AGG gehe es außerdem nicht um den Neuabschluss eines Vertrags, „sondern um die Nichtübernahme als Sanktions- und Disziplinierungsinstrument des Arbeitgebers.“589
584
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44). APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 118b; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 TzBfG Rn. 68a; BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 16b; B. Göpfert, ArbRAktuell 2012, 148; S. Grosse-Brockhoff, GWR 2012, 192; MüKo BGB/D. Hesse, § 15 TzBfG Rn. 7; M. Horcher, RdA 2014, 93, 99; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 18. 586 R. F. Adam, EzA BGB 2002 § 612a Nr. 7 (2012), 17, 21; KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90; U. Pallasch, RdA 2015, 108 112, 114; ders., NZA 2017, 353, 355; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 34. 587 R. F. Adam, EzA BGB 2002 § 612a Nr. 7 (2012), 17, 21 f. 588 KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90. 589 DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 34. 585
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Pallasch überträgt seine zu § 7 AGG entwickelten Gedanken auch auf § 612a BGB und betrachtet § 612a BGB als unmittelbares Abschlussgebot, dem in der Fortsetzungssituation § 15 VI AGG nicht entgegenstehe.590 3. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 78 S. 2 BetrVG a) Ansichten der Rechtsprechung In den Jahren 2011 bis 2013 haben verschiedene Instanzgerichte über Entfristungsverlangen von Betriebsratsmitgliedern geurteilt. Der Fokus der Entscheidungen lag darauf, eine automatische Entfristung jedes befristet beschäftigten Betriebsratsmitglieds abzulehnen; dabei wiesen die Gerichte darauf hin, dass sich ein Fortsetzungsanspruch (nur) unter den Voraussetzungen und als Rechtsfolge von § 78 S. 2 BetrVG ergeben könne.591 Diese Entscheidungen wurden vom BAG bestätigt: Einem Arbeitnehmer, dem wegen seiner Betriebsratstätigkeit der Abschluss eines Folgearbeitsvertrags verwehrt wurde, stehe ein Fortsetzungsanspruch als Schadensersatz gem. § 78 S. 2 BetrVG i. V. m. §§ 280 I, 823 II, 249 I BGB im Wege der Naturalrestitution zu.592 § 15 VI AGG stehe diesem Anspruch nicht entgegen, da das AGG einen personenbezogenen Schutzzweck verfolge, hingegen § 78 S. 2 BetrVG neben den Betriebsratsmitgliedern als Personen aber auch den Betriebsrat als Organ schütze. Der damit verwirklichte „kollektiv gremienbezogene Normzweck des § 78 S. 2 BetrVG“593 sichere unter anderem die personelle Kontinuität des Betriebsrats, die durch einen Fortsetzungsanspruch gewahrt werden könne. Im konkreten, dem BAG vorliegenden Fall konnte das Betriebsratsmitglied das Vorliegen einer unzulässigen Benachteiligung jedoch nicht hinreichend darlegen, sodass der Anspruch abzuweisen war. Ein Jahr zuvor hatte das LAG Hamm einen vergleichbaren Fall zugunsten des Arbeitnehmers entschieden, rechtsdogmatisch aber einen anderen Weg gewählt, indem es dem Arbeitgeber die Berufung auf den Befristungsablauf als rechtsmissbräuchlich verwehrt hat.594
590
U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112 ff.; ders., NZA 2017, 353, 355. LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 4. 11. 2011 – 13 Sa 1549/11, BeckRS 2011, 77573; erwogen von LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/11, BeckRS 2012, 73706. 592 BAG, Urt. v. 20. 6. 2018 – 7 AZR 690/16, NZA 2019, 324, 328 f. (Rn. 51); BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 28); BAG, Urt. v. 5. 12. 2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515, 521 (Rn. 47). 593 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 34). 594 LAG Hamm, Urt. v. 5. 11. 2013 – 7 Sa 1007/13, BeckRS 2014, 65473. 591
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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b) Literaturauffassungen Die Literatur stimmt den Auffassungen der Gerichte im Ergebnis – der Annahme von Fortsetzungsansprüchen – einhellig zu.595 Hinsichtlich der dogmatischen Konstruktion pflichten Teile des Schrifttums dem BAG bei;596 außerdem wird vertreten, Fortsetzungsansprüche ergäben sich direkt aus § 78 S. 2 BetrVG selbst597 oder aus der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber:innen.598
III. Gang der Untersuchung Die eigene Untersuchung ist dreiteilig strukturiert: Zuerst wird untersucht, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Rechtsordnung Fortsetzungsansprüche infolge von Diskriminierungen und Maßregelungen als dogmatisch schlüssiges Anspruchsziel beinhaltet [B.]. An diesen Befund schließt eine Auseinandersetzung mit der Reichweite von § 15 VI AGG an: Es wird untersucht, ob § 15 VI AGG auch die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse als Rechtsfolge von Diskriminierungen und – im Wege der Analogie – von Maßregelungen ausschließt [C.]. Abschließend wird überprüft, ob das gefundene Ergebnis mit der verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und -anwender vereinbar ist [D.].
B. Beurteilung von Anspruchsgrundlagen und -zielen I. Einwand unzulässiger Rechtsausübung Die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen oder darauf gerichtete Ansprüche der Arbeitnehmer:innen können nicht damit begründet werden, dass sich Arbeitgeber:innen gem. § 242 BGB nicht auf den Fristablauf berufen dürfen, wenn sie die Vertragsfortsetzung aus gesetzlich verbotenen Gründen unterlassen. Zwar liegt der Einwand unzulässiger Rechtsausübung insofern nahe, als dass Arbeitgeber:innen mit dem Festhalten am Fristablauf und der Verweigerung eines 595 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 118a; KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90; J.-H. Bauer, ArbRAktuell 2014, 537; M. Benecke, EuZA 2016, 34, 43; M. Horcher, RdA 2014, 93, 100; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112 ff.; ders., NZA 2017, 353, 355; J. Sievers, TzBfG (2021), § 14 TzBfG Rn. 90; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 18; DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 34. 596 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG118a; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 18; DDZ/ A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 34. 597 M. Horcher, RdA 2014, 93, 100; W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245, 249 f.; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112 ff. 598 KR/P. Bader, § 17 TzBfG Rn. 90.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Folgevertrags ihr Recht betätigen, frei über die Vertragsfortsetzung zu entscheiden, und es unzulässig ist, wenn sie dabei gegen gesetzliche Verbote verstoßen. Allerdings begründet der Einwand unzulässiger Rechtsausübung keine Fortsetzungsansprüche der Arbeitnehmer:innen. Es wird insofern auf die Ausführungen zu den Rechtsfolgen einer unzulässigen Rechtsausübung infolge widersprüchlichen Verhaltens verwiesen,599 die für alle Fallgruppen der unzulässigen Rechtsausübung gelten: Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung ist eine Einwendung der Arbeitnehmer:innen, die einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten von Arbeitgeber:innen die Rechtswirkungen entzieht. Es handelt sich um ein Abwehrrecht der Arbeitnehmer:innen, um „Schild, nicht Schwert“. Ansprüche von Arbeitnehmer:innen entstehen daher nicht originär aufgrund des Einwands rechtsmissbräuchlichen Verhaltens, sondern nur, wenn sie auf einem anderen Rechtsgrund beruhen; § 242 BGB beseitigt dann die diese Ansprüche hindernde Rechtstatsachen und lässt die ohne den Rechtsmissbrauch bestehende Rechtslage wiederaufleben. Bei diskriminierungsfreiem Verhalten ihrer Arbeitgeber:innen hätten Arbeitnehmer:innen aber keinen Anspruch auf Vertragsfortsetzung gehabt, sondern die Arbeitgeber:innen wären frei gewesen in der Entscheidung, ob sie Arbeitnehmer:innen fortbeschäftigen oder sich aus diskriminierungsfreien Gründen dagegen entscheiden. Daran ändert entgegen Wroblewski600 auch nicht, dass die Befristung als eine Ausnahme vom unbefristeten Regelarbeitsverhältnis betrachtet werden kann: Dem Ausnahmecharakter des befristeten Arbeitsvertrags wird nämlich bereits dadurch Rechnung getragen, dass die Befristungsabrede selbst den Vorgaben des § 14 TzBfG und einer Rechtsmissbrauchskontrolle standhalten muss. Ist eine Befristungsabrede selbst rechtsmissbräuchlich, entsteht ein unbefristetes „Normalarbeitsverhältnis“, denn erst die wirksame Befristungsabrede rechtfertigt eine Ausnahme vom bestandsgeschützten unbefristeten Arbeitsverhältnis. Von dieser Situation ist die diskriminierende Nichtfortsetzung aber zu trennen: Die Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses ist hier nicht die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme, sondern der vom TzBfG vorgesehene Regelfall. Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung begründet daher keinen Anspruch auf Vertragsfortsetzung.
II. Unmittelbar auf die Vertragsfortsetzung gerichtete vertragliche Fürsorgepflicht „Die vertragliche Nebenpflicht zum erneuten Abschluss eines Arbeitsvertrags (§ 242 BGB) konkretisiert die Pflicht, auf die berechtigten Interessen des Vertragspartners Rücksicht zu nehmen.“601 So begründet das BAG die Existenz von 599 600 601
Siehe oben 2. Kap. C. II. DDZ/A. Wroblewski, § 15 TzBfG Rn. 31 ff. BAG, Urt. v. 25. 10. 2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357, 359 (Rn. 21).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Wiedereinstellungsansprüchen nach ordentlicher Kündigung. Entgegen einer Literaturmeinung602 ist diese Rechtsprechung nicht auf die Situation der benachteiligenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse übertragbar. Charakteristikum der Wiedereinstellungsansprüche nach Kündigung ist nämlich, dass die im Rahmen der nach §§ 241 II, 242 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung zu beachtenden Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen unmittelbar auf ihre Wiedereinstellung abzielen. Die Wiedereinstellung ist also eine selbstständige Neben(leistungs)pflicht der Arbeitgeber:innen.603 Die Situation im befristeten Arbeitsverhältnis ist eine andere: Wie oben bereits herausgearbeitet wurde,604 schulden Arbeitgeber:innen nicht die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse an sich: Nach Abschluss einer wirksamen Befristungsabrede überwiegen ihre Flexibilisierungsinteressen die Interessen der Arbeitnehmer:innen am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse. Auch die Diskriminierungsverbote verpflichten Arbeitgeber:innen nicht unmittelbar zu einer Vertragsfortsetzung, sondern in erster Linie zu einem Unterlassen: dem Unterlassen einer Anknüpfung an bestimmte Differenzierungsmerkmale (vgl. auch die negative Formulierung in § 7 III AGG). Es besteht daher keine unmittelbar auf die Vertragsfortsetzung gerichtete Nebenpflicht der Arbeitgeber:innen gem. §§ 241 II, 242 BGB.
III. Allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist keine Anspruchsgrundlage, die bei Verstößen gegen Benachteiligungsverbote regelmäßig einschlägig ist. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist nämlich nicht typischerweise mitbetroffen, wenn Arbeitnehmer:innen diskriminiert oder gemaßregelt werden, sondern verfolgt eine eigenständige Gleichheitskonzeption und hat eigene Anwendungsvoraussetzungen:605 Ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung gemäß dem Gleichbehandlungsgrundsatz kommt nur dann in Betracht, wenn Arbeitgeber:innen über die Vertragsfortsetzungen ausschließlich nach abstrakten Kriterien entschieden und dabei einen rechtmäßigen übergeordneten Zweck verfolgt haben. Arbeitgeber:innen müssen sachwidrig ausgegrenzte Arbeitnehmer:innen dann entsprechend den selbst gesetzten Zwecken weiterbeschäftigen. Ist das Differenzierungskriterium, aufgrund dessen Arbeitnehmer:innen keinen Anschlussvertrag erhalten haben, diskriminierend oder maßregelnd und im Hinblick auf den Differenzierungszweck sachwidrig, haben Arbeitnehmer:innen einen Anspruch auf Vertragsfortsetzung nach den Grundsätzen des Gleichbehandlungsgrundsatzes, ohne dass es auf die Diskrimi602 603 604 605
Siehe die Nachweise in Fn. 573 – 575. H. Oetker, ZIP 2000, 643, 648. Siehe oben 2. Kap. D. II. 1. b). Siehe hierzu sowie zu den nachstehenden Absätzen ausführlich oben 4. Kap. B. II. 1. a).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
nierungs- oder Maßregelungsverbote und die Reichweite von § 15 VI AGG ankommt. Ist das Differenzierungskriterium im Hinblick auf den Regelungszweck der Arbeitgeber:innen konsequent, aber wegen eines Verstoßes gegen gesetzliche Verbote unzulässig, kommt ein Fortsetzungsanspruch als Rechtsfolge des Gleichbehandlungsgrundsatzes in Betracht, soweit § 15 VI AGG diesem Ergebnis nicht entgegensteht. Ist bereits die von Arbeitgeber:innen bestimmte Zwecksetzung selbst maßregelnd oder diskriminierend, möchten Arbeitgeber:innen beispielsweise nur junge Arbeitnehmer:innen weiterbeschäftigen, ist der Gleichbehandlungsgrundsatz keine taugliche Anspruchsgrundlage, da ein gültiges Bezugssystem der Gleichbehandlungspflicht fehlt. Ein Fortsetzungsanspruch ergibt sich daher nur als Sekundäranspruch einer Verbotsverletzung und nur, sofern § 15 VI AGG dieser Rechtsfolge nicht entgegensteht.
IV. Sekundäransprüche infolge einer Verbotsverletzung Die Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ergeben sich also nicht aus der bereits bestehenden vertraglichen Sonderverbindung. Stattdessen kommen die allgemeinen Rechtsfolgen verbotener Benachteiligungen in Betracht: Schadensersatz- [1.] und quasinegatorische Ansprüche [2.]. 1. Schadensersatzansprüche bei der benachteiligenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Es werden zuerst die haftungsbegründenden Tatbestände konturiert [a)] und anschließend Art und Umfang des Schadensersatzes untersucht [b)]. a) Haftungsbegründende Tatbestände aa) Haftungsbegründende Tatbestände im Anwendungsbereich des AGG gem. § 15 I AGG Verstöße gegen § 7 I AGG sanktioniert § 15 AGG mit Ansprüchen auf Ersatz der materiellen Schäden gem. § 15 I AGG und mit Entschädigungsansprüchen für immaterielle Schäden gem. § 15 II AGG. Dass Schadensersatzansprüche gem. § 15 I 2 AGG ausscheiden, wenn Arbeitgeber:innen eine Benachteiligung nicht zu vertreten haben, ist nach herrschender Ansicht richtlinienwidrig: Wenn ein Mitgliedsstaat sich für eine Sanktionierung von Diskriminierungen durch Schadensersatzansprüche entscheide, müssten diese verschuldensunabhängig sein, um effektiv, wirksam und
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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abschreckend im Sinne der Richtlinien zu sein.606 Außerdem sahen die Benachteiligungsverbote in § 611a BGB a. F. und § 81 SGB IX a. F. verschuldensunabhängige Ansprüche auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden vor, sodass § 15 I 2 AGG im Anwendungsbereich dieser Verbote (Geschlecht und Behinderung) gegen das Absenkungsverbot der Richtlinien verstieße.607 Eine Gegenansicht verweist darauf, dass der verschuldensunabhängige Entschädigungsanspruch den Vorgaben der Richtlinie genüge.608 Da § 15 II AGG keinen vollen Ausgleich der Diskriminierungsschäden ermöglicht und den Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot nicht beseitigt, ist von einer Unionsrechtswidrigkeit des Verschuldenserfordernisses auszugehen. Eine richtlinienkonforme teleologische Reduktion kommt aber nicht in Betracht: Sie würde aufgrund des im Wortlaut und den Materialien609 manifestierten entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers die contra-legem-Grenze richtlinienkonformer Rechtsgewinnung610 übertreten.611 Ebenfalls nicht möglich ist es, die Vorschrift unangewendet zu lassen, da diese Rechtsfolge nach vorzugswürdiger Interpretation des Mangold-Urteils des EuGH612 nur bei Verstößen gegen primäres Unionsrecht eintritt.613 Arbeitgeber:innen sind also de lege lata richtlinienwidrig nur dann zum Ersatz materieller Schäden verpflichtet, wenn sie die Benachteiligung verschuldet haben gem. §§ 276 ff. BGB.614 Eine Exkulpation nach § 15 I 2 AGG ist bei der diskriminierenden Nichtfortsetzung aber ohnehin praktisch ausgeschlossen. Eine unmittelbare Benachteiligung setzt mit dem Kausalitätserfordernis nämlich schon tatbestandlich eine subjektive 606 EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 22); EuGH, Urt. v. 8. 11. 1990 – C-177/88 (Dekker), NJW 1991, 628, 629 (Rn. 22 ff.). 607 Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 70; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 3; HWK/H.-J. Rupp, § 15 AGG Rn. 3; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 210; T. von Roetteken, NZA-RR 2013, 337, 344. 608 J.-H. Bauer/M. Evers, NZA 2006, 893; BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 2; EuArbR/J. Mohr, Art. 17 RL 2000/78/EG Rn. 5; BVerwG, Urt. v. 25. 7. 2013 – 2 C 12/11, NVwZ 2014, 300, 304 (Rn. 58). 609 BT-Drs. 16/1780, S. 38 zu § 15 I AGG: „Er übernimmt die Formulierung von § 280 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB. Damit wird klargestellt, dass der materielle Schadensersatzanspruch – anders als bei der Entschädigung – nur entsteht, wenn der Arbeitgeber:innen die Pflichtverletzung zu vertreten hat.“ 610 Dazu oben 4. Kap. B. I. 1. b) aa). 611 Schaub/M. Ahrendt, § 36 Rn. 113; Erman/K. Riesenhuber, § 15 AGG Rn. 2; Staudinger/ S. Serr, § 15 AGG Rn. 12. 612 EuGH, Urt. v. 22. 11. 2005 – C-144/04 (Mangold), NJW 2005, 3695, 3698 (Rn. 78). 613 Dieser Ansicht sind auch: Schaub/M. Ahrendt, § 36 Rn. 113; Erman/K. Riesenhuber, § 15 AGG Rn. 2; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 3; HWK/H.-J. Rupp, § 15 AGG Rn. 3; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 24; wohl auch G. Wagner/N. Potsch, JZ 2006, 1085, 1093; a. A. Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 31; Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 20; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 3 mit Verweis auf das durch die Richtlinien ausgeformte Diskriminierungsverbot der Art. 21, 23 GrCh. 614 BT-Drs. 16/1780, S. 38.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Verknüpfung von verbotenem Merkmal und dem benachteiligenden Unterlassen voraus (das Merkmal muss jedenfalls Teil eines Motivbündels sein)615 und geschieht daher regelmäßig wissen- und willentlich, mithin vorsätzlich.616 Eine mittelbar benachteiligende Wirkung i. S. v. § 3 II AGG kann hingegen auch bei neutral intendierten Differenzierungskriterien und ohne Wissen und Wollen der Arbeitgeber:innen um die diskriminierende Wirkung eintreten. Eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung scheidet dann aus. Allerdings sind die mittelbar diskriminierenden Folgen einer Gruppenbildung für Arbeitgeber:innen in der Regel bei Beachtung der verkehrserforderlichen Sorgfalt erkennbar und vermeidbar, sodass sie sich jedenfalls nicht von einem Fahrlässigkeitsvorwurf i. S. v. § 276 II BGB exkulpieren können. Das Verschulden personalverantwortlicher Personen ist Arbeitgeber:innen nach allgemeinen Grundsätzen zuzurechnen.617 § 15 I, II AGG verdrängt als lex specialis Ansprüche gem. § 280 I BGB i. V. m. § 7 III AGG.618 Deliktische Ansprüche gem. § 823 II BGB i. V. m. § 7 AGG, die auf demselben Sachverhalt beruhen, sind zwar denkbar (vgl. § 15 V AGG), aber bedeutungslos, da Arbeitnehmer:innen gem. § 823 II 2 BGB die Beweislast für ein Verschulden tragen und die Ausschlussfristen des § 15 IV AGG analog anwendbar sind.619 Bedeutung haben nur Ansprüche aus § 823 I BGB, mit denen Arbeitnehmer:innen die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts rügen. Diese Ansprüche beruhen zwar auf demselben Lebenssachverhalt, setzen aber einen gesondert von der Benachteiligung festzustellenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer:innen voraus620 und sind damit von den hier untersuchten Rechtsfolgen einer benachteiligenden Nichtfortsetzung dogmatisch eigenständig.621 Sie werden im Folgenden ausgeklammert. bb) Haftungsbegründende Tatbestände bei der Verletzung von Maßregelungsverboten Maßregelungsverbote beinhalten die vertragliche Nebenpflicht, eine maßregelnde Behandlung von Arbeitnehmer:innen zu unterlassen.622 Sie fügen sich in die 615
Dazu oben 5. Kap. B. I. 1. Vgl. zum zivilrechtlichen Vorsatzbegriff BGH, Urt. v. 19. 12. 2017 – VI ZR 128/16, NJW 2018, 1751, 1752 (Rn. 13). 617 Siehe dazu oben Einl. C. II. 618 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211, 1214 (Rn. 40 ff.) m. w. N. aus dem Schrifttum. 619 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211, 1215 (Rn. 49 f.). 620 Vgl. BAG, Urt. v. 24. 9. 2009 – 8 AZR 636/08, NZA 2010, 159, 163 (Rn. 46). 621 Vgl. BAG, Urt. v. 18. 5. 2017 – 8 AZR 74/16, NZA 2017, 1530, 1536 (Rn. 40) im Kontext des unionsrechtlichen Äquivalenzgebots. 622 GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 96; BeckOGK/M. Maties, § 611a BGB Rn. 1560; dies entspricht wohl auch der h. M., die ohne dogmatische Herleitung einen Schadensersatz gem. § 280 I BGB als Rechtsfolge einer verbotenen Maßregelung annimmt, z. B. 616
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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zahlreichen Arbeitnehmerschutzbestimmungen ein, die den Pflichtenkatalog der Arbeitgeber:innen ausgestalten.623 Arbeitgeber:innen haften jedenfalls gem. §§ 280 I, 241 II BGB wegen Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis, wenn sie Arbeitnehmer:innen im Laufe des Arbeitsverhältnisses unzulässigerweise benachteiligen, indem sie das Angebot einer Vertragsfortsetzung in maßregelnder Weise unterlassen. Benachteiligen Arbeitgeber:innen durch das Nichtangebot einer Wiedereinstellung nach Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses, haften sie gem. § 280 I BGB nur, wenn sie damit eine nachvertragliche Pflicht verletzt haben. Es wurde oben schon herausgearbeitet, dass die Maßregelungsverbote ihrem Zweck entsprechend auch Benachteiligungen nach Ablauf eines Arbeitsverhältnisses verbieten, wenn damit auf Rechtsausübungen im Laufe des Arbeitsverhältnisses reagiert wird.624 Eine schuldvertragliche Haftung löst die Maßregelung aber nur aus, wenn ein Verbotsverstoß nach Ablauf des befristeten Arbeitsverhältnisses noch dem schuldvertraglichen Pflichtengefüge zuzurechnen ist; ansonsten werden Arbeitnehmer:innen nur deliktisch geschützt. Dass die Maßregelungsverbote Schutzgesetze i. S. v. § 823 II BGB sind, ist allgemein anerkannt.625 Praktisch relevant ist die Frage nach den nachvertraglichen Pflichten aufgrund der unterschiedlichen Verschuldensanforderungen aber dennoch: Im Unterschied zu einer Haftung nach § 280 I 1, 2 BGB müssen Arbeitnehmer:innen ein Verschulden ihrer Arbeitgeber:innen gem. § 823 II 2 BGB beweisen. Außerdem wird Arbeitgeber:innen das Verschulden anderer Mitarbeiter als Erfüllungsgehilfen gem. § 278 BGB zugerechnet; im außervertraglichen Bereich haften Arbeitgeber:innen nur gem. § 831 BGB für ein vermutetes, aber BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44); APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 31; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 23; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 23. 623 Anderer Ansicht ist L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 103, die nicht das Arbeitsverhältnis als das zugrunde liegende Schuldverhältnis betrachtet, da sich die Pflichten von Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in nicht aus dem Arbeitsverhältnis, sondern einer betriebsverfassungsrechtlichen Sonderverbindung ergeben würden. Dieser Ansicht ist mit GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 96 im Kontext des Benachteiligungsverbots des § 78 S. 2 BetrVG entgegenzutreten: Diese Vorschrift schützt gerade davor, dass Arbeitgeber:innen Sanktionen im Arbeitsverhältnis verhängen, mit denen sie auf die Amtsinhaberschaft reagieren. Erfasst sind also solche Fälle, in denen das Betriebsratsamt und das korrespondierende Benachteiligungsverbot auf die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses durchschlagen. Von dem allgemeinen Maßregelungsverbot des § 612a BGB unterscheidet sich § 78 S. 2 BetrVG dementsprechend nicht bezüglich der verbotenen Verhaltensweisen, sondern nur im Hinblick auf die „Quelle“ der benachteiligenden Motivation. Eine Benachteiligung ist daher sowohl im Kontext des allgemeinen Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB als auch ggü. Amtsinhaber:innen eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten. 624 Siehe oben 5. Kap. A. II. 2. b) bb) (2). 625 Zu § 612a BGB z. B. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44); APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 31; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 23; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 23. Zu § 78 S. 2 BetrVG z. B. BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 30); ErfK/T. Kania, § 78 BetrVG Rn. 8; Richardi/ G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 36.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
widerlegbares Organisationsverschulden. Diesen Haftungsunterschieden entsprechend sind auch Inhalt und Reichweite nachvertraglicher Bindungen zu beurteilen: „Maßgebende Wertungsfrage ist, ob noch ein besonderes Vertrauen auf eine gesteigerte Achtung der Schutzpositionen durch die Gegenseite aufgrund der früheren besonderen Einwirkungsmöglichkeit im Rahmen der rechtsgeschäftlichen Sonderverbindung gerechtfertigt ist, oder ob unter anderem die zeitliche Distanz zur Erfüllung mittlerweile so groß ist, dass sich die Parteien des Schuldverhältnisses wieder wie Dritte gegenüber stehen und eine besondere Pflicht nicht mehr gerechtfertigt ist.“626 Entscheiden Arbeitgeber:innen über die Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen, besteht ein derart gesteigertes Interesse der Arbeitnehmer:innen an einer Einhaltung der Maßregelungsverbote, dass eine Nachwirkung der entsprechenden vertraglichen Pflicht auch über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus anzunehmen ist. Diese Rechtsauffassung basiert auf folgenden Gründen: Maßregelungsverbote schützen die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen, ggf. in Gestalt innerer und äußerer Unabhängigkeit, indem sie das Versprechen erteilen, dass eine Ausübung individueller Rechte oder bestimmter Ämter für Arbeitnehmer:innen keine Nachteile zur Folge haben wird. Da es für den Schutz der Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen in einem befristeten Arbeitsverhältnis keine Rolle spielt, ob Arbeitgeber:innen sie dafür im oder nach dem Arbeitsverhältnis sanktionieren – wann sie z. B. ihre Entscheidung, Arbeitnehmer:innen nicht wiedereinzustellen, treffen –, müssen Arbeitnehmer:innen in beiden Fällen gleichermaßen auf ein rechtstreues Verhalten der Arbeitgeber:innen vertrauen dürfen. Damit Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis in ihrer Rechtsausübung frei sind, müssen die Maßregelungsverbote also das Arbeitsverhältnis überdauern.627 Entscheidend für die Annahme einer schuldrechtlichen Nachwirkung der durch die Maßregelungsverbote konkretisierten Nebenpflicht ist, dass Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen sich im Hinblick auf eine maßregelnde Nichtfortsetzung gerade nicht wie nur deliktisch geschützte „Jedermänner“ gegenüberstehen. Arbeitnehmer:innen dürfen gerade deshalb auf eine Einhaltung der Maßregelungsverbote vertrauen, weil sie sich im Arbeitsverhältnis einem besonderen Risiko ausgesetzt haben. Genau dieses Risiko – und kein deliktisch geschütztes allgemeines Lebensrisiko – realisiert sich, wenn Arbeitgeber:innen nach Fristablauf aus maßregelnden Gründen die Wiedereinstellung unterlasen. Geltungsgrund des Maßregelungsverbots ist also auch nach Fristende, dass Arbeitnehmer:innen ihre Interessen einer besonderen Einwirkungsmöglichkeit der Arbeitgeber:innen in der rechtsgeschäftlichen Sonderverbindung „befristetes Arbeitsverhältnis“ exponiert haben. Das damit einhergehende und ihre Arbeitsverhältnisse überdauernde besondere Vertrauen der Arbeitnehmer:innen in die Wahrung ihrer Interessen ist damit nicht bloß im Sinne des neminem laedere des § 823 II BGB 626 C. Herresthal, in: GS Unberath (2015), Nachwirkende Leistungstreue- und Rücksichtnahmepflichten, S. 179, 198. 627 Dazu schon oben 5. Kap. A. II. 2. b) bb) (2) (a) (aa).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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geschützt, sondern als nachvertragliche Rücksichtnahmepflicht gem. §§ 280 I, 241 II BGB.628 Arbeitgeber:innen haften für die maßregelnde Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen also stets schuldvertraglich gem. §§ 280 I, 241 II BGB, ggf. post contractum finitum. Dass ihnen eine Exkulpation gem. § 280 I 2 BGB gelingt, ist praktisch ausgeschlossen, da eine Nichtfortsetzung nur gegen Maßregelungsverbote verstößt, wenn eine zulässige Rechtsausübung, ggf. in Form der Ausübung von Mitwirkungsrechten, ihr dominantes Motiv war.629 Maßregelungsverbote können also nur vorsätzlich i. S. v. § 276 I 1 BGB verwirklicht werden. b) Art und Umfang des Schadensersatzes Art und Umfang des Schadensersatzes richten sich – auch im Kontext von § 15 I AGG630 – nach §§ 249 ff. BGB. Arbeitgeber:innen müssen gem. § 249 I BGB grundsätzlich den Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Unter den Voraussetzungen der §§ 249 II, 250 f. BGB ist statt der Herstellung der dazu erforderliche Geldbetrag zu leisten. aa) Haftungsausfüllende Kausalität Ersatzfähig sind alle Schäden der Arbeitnehmer:innen, die ohne die Benachteiligung nicht eingetreten wären. Schäden wegen des Nichtangebots eines neuen Arbeitsvertrags, wie insbesondere die daraus entgangenen materiellen Vorteile, sind also nur dann ersatzfähig, wenn das Arbeitsverhältnis ohne Benachteiligung tatsächlich fortgesetzt worden wäre. Bei den Maßregelungsverboten hat dieser Kausalzusammenhang auf Rechtsfolgenseite keinen eigenständigen Gehalt, da die Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen nur dann rechtswidrig gem. §§ 612a BGB, 78 S. 2 BetrVG ist, wenn eine Rechtsausübung, ggf. in Form der Ausübung von Mitwirkungsrechten, das dominante und nicht bloß ein untergeordnetes Motiv für die Entscheidung der Arbeitgeber:innen war.631 Die Rechtslage im AGG ist eine andere: Die Nichtfortsetzung verstößt bereits dann gegen § 3 I AGG, wenn ein in § 1 AGG genannter Grund als negatives oder (sein Fehlen) als positives Kriterium in dem Motivbündel der Arbeitgeber:innen enthalten ist.632 Es handelt sich also auch dann 628 Dies unterscheidet die Maßregelungsverbote vom Diskriminierungsverbot des AGG: Zwar ist auch die Diskriminierung eine Verletzung vertraglicher Pflichten von Arbeitgeber: innen gem. § 7 III AGG; diese Pflicht wirkt jedoch nur nach, soweit auch andere Pflichten des Arbeitsverhältnisses nachwirken; sie ist insofern akzessorisch. Die Pflicht zur Nicht-Maßregelung wirkt jedoch ihrem Zweck entsprechend eigenständig nach. 629 Siehe oben 5. Kap. B. I. 2. 630 Vgl. statt aller BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 75). 631 Siehe ausführlich oben oben 5. Kap. B. I. 2. 632 Siehe oben 5. Kap. B. I. 1.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
um eine verbotene Benachteiligung gem. § 7 I AGG, wenn Arbeitgeber:innen auch ohne Anknüpfung an ein Merkmal des § 1 AGG eine Vertragsfortsetzung unterlassen hätten. In diesen Fällen wären Schadensersatzansprüche für die aus einem Folgearbeitsverhältnis entgangenen Gewinne eine überschießende Rechtsfolge, da Arbeitnehmer:innen mehr eingeräumt würde, als sie bei rechtstreuem Verhalten der Arbeitgeber:innen erhalten hätten. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch setzt also voraus, dass Arbeitgeber:innen einen Folgearbeitsvertrag geschlossen hätten, wenn kein Merkmal des § 1 AGG ihre Entscheidung beeinflusst hätte. Dann stellen Schadensersatzansprüche genau die diskriminierungsfreie Vermögenslage her, die die Arbeitgeber:innen ursprünglich hätten herbeiführen müssen. Das Kausalitätsmerkmal stellt Arbeitnehmer:innen in der Praxis vor Beweisprobleme. Die prozessuale Handhabung dieser Probleme wird später eingehend behandelt.633 bb) Art des Schadensersatzes (1) Vertragsschluss als Naturalrestitution gem. § 249 I BGB Schadensersatz ist gem. § 249 I BGB im Regelfall im Wege der Naturalrestitution zu leisten. Arbeitgeber:innen müssen eingetretene Schäden ersetzen, indem sie den Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn sie Arbeitnehmer:innen nicht benachteiligt hätten. Die entgangenen Gewinne aus einer Vertragsfortsetzung sind danach primär dadurch zu ersetzen, dass Arbeitgeber:innen rückwirkend den unterlassenen Vertragsschluss nachholen und auf dieser Grundlage die arbeitsvertraglich geschuldeten Leistungen erbringen.634 Da Schadensersatzansprüche – anders als der quasinegatorische Rechtsschutz635 – dem Ausgleich bereits eingetretener Nachteile dienen,636 kommen Ansprüche auf Vertragsfortsetzung im Wege der Naturalrestitution nur in Betracht, wenn Arbeitnehmer:innen bereits Schäden erlitten haben. Voraussetzung eines Fortsetzungsanspruchs gem. § 249 I BGB ist also, dass das Anfangsdatum des rechtswidrig unterlassenen Folgevertrags bereits verstrichen ist.637 Gegen die Herleitung eines Kontrahierungszwangs als Naturalrestitution erheben Teile der Literatur Einwände: Der Abschluss eines neuen, vorher noch nicht existenten Vertrags könne keine „Wiederherstellung eines früheren Zustands im Sinne des § 249 Abs. 1 BGB“ sein.638 Diese Einwände überzeugen nicht: Naturalrestitution 633
Siehe ausführlich 7. Kap. D, E. Vgl. zur Naturalrestitution durch Abschluss eines unterlassen Vertrags auch MüKo BGB/H. Oetker, § 249 BGB Rn. 355 sowie im Kontext von § 78 S. 2 BetrVG BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 30). 635 Siehe dazu unten 6. Kap. B. IV. 2. 636 MüKo BGB/H. Oetker, § 249 BGB Rn. 8. 637 Vgl. im Kontext des allgemeinen Kontrahierungszwangs T. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 428; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 11. 638 U. Pallasch, RdA 2015, 108, 112; zum allgemeinen zivilrechtlichen Kontrahierungszwang W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 82. 634
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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bedeutet gerade nicht, den status quo ante vor Eintritt des schädigenden Verhaltens herzustellen, sondern den Zustand herzustellen, der jetzt ohne das schädigende Verhalten hypothetisch bestünde. Das Ziel der Naturalrestitution ist also genau genommen keine Wiederherstellung.639 Ein Anspruch auf Naturalrestitution ist allerdings ausgeschlossen, soweit § 15 VI AGG einen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses ausschließt.640 Die Reichweite dieses Ausschlusses ist umstritten und wird unten ausführlich besprochen.641 (2) Entgangener Gewinn als Schadensersatz in Geld (a) Voraussetzungen eines Schadensersatzes in Geld Eine Ausnahme vom Grundsatz der Naturalrestitution ist nur in den gesetzlich angeordneten Fällen möglich. Neben § 15 VI AGG sind §§ 249 II, 251 BGB relevant: Gem. § 249 II BGB können Gläubiger statt der Herstellung in Natur den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen, wenn Schadensersatz wegen einer Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache zu leisten ist. Ist die Herstellung nicht möglich, zur Entschädigung nicht genügend oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden, sind Schuldner gem. § 251 I, II BGB nur zum Ersatz des Wertinteresses verpflichtet. (aa) Pflicht zur Schadenskompensation gem. § 251 BGB Arbeitgeber:innen müssen Arbeitnehmer:innen in Geld entschädigen, soweit die Naturalrestitution nicht möglich oder zu ihrer Entschädigung nicht genügend ist (§ 251 I BGB); sie haben eine entsprechende Ersetzungsbefugnis, wenn die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist. Fraglich ist, ob Ansprüche auf Vertragsfortsetzung – unabhängig von der Reichweite des § 15 VI AGG – unmöglich sind, wenn Arbeitgeber:innen bereits andere Personen auf der ehemaligen Stelle der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen eingestellt haben. Insofern könnte eine Parallele zu dem vom BAG im Jahr 2017 entschiedenen Fall gezogen werden, bei welchem der Arbeitgeber eine freie Stelle mit einem Arbeitnehmer besetzt hat, ohne seiner aus § 9 TzBfG folgenden Verpflichtung nachzukommen, einen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer bevorzugt zu berücksichtigen. Das Gericht urteilte, dass der Anspruch des teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmers gem. § 275 I BGB untergegangen sei, da dem Arbeitgeber die aus § 9 TzBfG folgende Verpflichtung rechtlich unmöglich geworden sei.642 Gegen eine Übertragung dieser Rechtsauffassung auf den Fortsetzungsanspruch nach Fristablauf spricht allerdings, 639
Staudinger/G. Schiemann, § 249 BGB Rn. 182. Zum Charakter des § 15 VI AGG als Ausschluss einer Naturalrestitution nach § 249 I BGB BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 75). 641 6. Kap. C. 642 BAG, Urt. v. 18. 7. 2017 – 9 AZR 259/16, NZA 2017, 1401, 1402 (Rn. 18). 640
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
dass der Anspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit gem. § 9 TzBfG tatbestandlich die Existenz eines freien Arbeitsplatzes voraussetzt: Verlangt werden kann der Einsatz auf einem konkreten freien und zu besetzenden Arbeitsplatz. Ansprüche auf Vertragsfortsetzung gem. § 249 I BGB sind hingegen nicht auf die Beschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz, sondern auf die Abgabe oder Annahme eines Vertragsangebots gerichtet; dieser Leistungserfolg wird infolge einer Einstellung einer anderen Person nicht tatsächlich oder rechtlich unmöglich. Die Frage, ob die Einstellung und Bezahlung zweier Arbeitnehmer:innen wirtschaftlich sinnvoll und zumutbar ist, betrifft nicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Vertragsschlusses.643 Unabhängig davon, ob sich Arbeitgeber:innen auf eine Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung überhaupt berufen dürfen oder ob der Rechtsgedanke des § 162 BGB dagegen spricht,644 sind Aspekte der Unverhältnismäßigkeit einer Vertragsfortsetzung spezialgesetzlich und abschließend mit § 15 VI AGG berücksichtigt. Für eine Berücksichtigung von Zumutbarkeitsgesichtspunkten gem. § 251 II 1 BGB besteht daneben kein Raum. (bb) Ersetzungsbefugnis der Arbeitnehmer:innen analog § 249 II BGB Fraglich ist, ob Arbeitnehmer:innen Ersatz in Geld anstelle einer Vertragsfortsetzung verlangen dürfen, falls § 15 VI AGG einen Vertragsfortsetzungsanspruch nicht ausschließt oder Arbeitgeber:innen, ohne dazu verpflichtet zu sein, eine Vertragsfortsetzung anbieten, um die Verpflichtung zur Zahlung von Geldersatz zu vermeiden. Für eine solche Ersetzungsbefugnis spricht, dass es Arbeitnehmer:innen nicht immer zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis mit Arbeitgeber:innen, durch die sie benachteiligt wurden, fortzusetzen. Der Sachverhalt ist nicht gesetzlich geregelt; es könnte aber § 249 II BGB analog anwendbar sein. § 249 II BGB räumt dem Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs das Recht ein, statt der Naturalrestitution den dazu erforderlichen Geldbetrag zu verlangen. Primärer Anwendungsfall dieser Vorschrift sind Fälle, in denen Gegenstände oder die körperliche Integrität des Anspruchstellers verletzt wurden und der Anspruchsteller das Recht haben soll, über die Reparatur oder Heilbehandlung selbst zu entscheiden. Die BGB-Protokolle enthalten das Motiv für den Erlass der Ersetzungsbefugnis: „Es gehe nicht an, dem Gläubiger nur das Recht auf Naturalrestitution einzuräumen. Denn in vielen Fällen entspreche es seinem Interesse, die beschädigte Sache, statt ihre Herstellung zu 643 So auch im Kontext des Wiedereinstellungsanspruchs nach Kündigung T. Raab, RdA 2000, 147, 156 f. 644 Sowohl einem allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung als auch einem Bewerbungsverfahrensanspruch gem. Art. 33 II GG können Arbeitgeber:innen nach Ansicht des BAG entsprechend dem Rechtsgedanken aus § 162 BGB nicht entgegenhalten, dass die Stelle neu besetzt worden ist, wenn sie „den Arbeitsplatz in Kenntnis des Wiedereinstellungsverlangens des Arbeitnehmers treuwidrig mit einem anderen Arbeitnehmer besetzt“ (BAG, Urteil v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1100 f.) bzw. den effektiven Rechtsschutz des Bewerbers vereitelt haben ( BAG, Urt. v. 12. 12. 2017 – 9 AZR 152/17, NZA 2018, 515, 517, Rn. 34).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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verlangen, durch eine neue zu ersetzen, und sehr oft würde die Herstellung eine Einwirkung des Schuldners oder der von ihm gewählten Werksleute auf die Sache erfordern, deren Gestattung dem Gläubiger billigerweise nicht zugemutet werden könne. Dazu komme, daß über die Frage, ob die Herstellung gelungen sei und vom Gläubiger als Ersatzleistung angenommen werden müsse, nur zu leicht Streit entstehe.“645
Kurz: Dem Gläubiger soll nicht zugemutet werden, seine Rechtsgüter erneut der Sphäre des Schädigers auszusetzen. Diesem gesetzgeberischen Zweck entsprechend ist § 249 II 1 BGB nach der herrschenden Ansicht auch auf die Verletzung der Freiheit oder des Persönlichkeitsrechts zu erstrecken.646 Nach der Rechtsauffassung des BGH soll § 249 II BGB den Geschädigten darüber hinaus nicht nur davor befreien, dass der Schädiger unmittelbar physisch auf die Rechtsgüter des Geschädigten einwirkt, beispielsweise indem er ein beschädigtes Auto selbst repariert, sondern auch davor, dass der Schädiger einen Dritten mit der Wiederherstellung des Rechtsguts beauftragt. Nur dann, wenn der Geschädigte selbst und ohne Zwischenschaltung des Schädigers in vertragliche Beziehungen mit dem Werkunternehmer treten dürfe, sei gewährleistet, dass „der Werkunternehmer die Ausführung des Reparaturauftrags ausschließlich an seinen Interessen orientiert und nicht auch gegebenenfalls gegenläufige Interessen des Schädigers […] in den Blick nimmt.“647 Mit dieser Interessenlage ist der Verzicht auf einen Fortsetzungsanspruch vergleichbar: Erstens führen auch Fortsetzungsansprüche dazu, dass sich Arbeitnehmer:innen der Sphäre ihrer Schädiger – der Arbeitgeber:innen – aussetzen müssen. Arbeitnehmer:innen begeben sich mit ihrer ganzen Person in ein Vertragsverhältnis, auf das sie wirtschaftlich angewiesen und in dem sie weisungsabhängig sind und integrieren sich in betriebliche Personalstrukturen, Räumlichkeiten und weitere Arbeitsbedingungen, von denen ihr psychisches und körperliches Wohlbefinden abhängen. Die Einwirkungsmöglichkeiten der Arbeitgeber:innen sind möglicherweise nicht so intensiv, als würde ein körperlich Verletzter sich zur Heilbehandlung unter das Messer des Schädigers legen, aber intensiver, als wenn ein Geschädigter sein Auto dem Schädiger überlassen muss, damit dieser es in eine Werkstatt seiner Wahl bringt. Der Schädiger selbst wird hier zum Vertragspartner eines Dauerschuldverhältnisses, das gleichzeitig ein gewisses Vertrauensverhältnis voraussetzt und einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen herstellen muss. Unter diesen Umständen kann es Arbeitnehmer:innen nicht vorgeschrieben werden, sich erneut in die Sphäre der Arbeitgeber:innen zu begeben: Zwar geht nicht mit jeder Benachteiligung eine Persönlichkeitsrechtsverletzung einher, die § 249 II 1 BGB nach herrschender Meinung betrifft; Arbeitgeber:innen haben Arbeitnehmer:innen aber zu Unrecht einen 645 Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band I, S. 296 f.; aufgegriffen auch vom BGH in st. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 29. 10. 1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160, 161. 646 MüKo BGB/H. Oetker, § 249 BGB Rn. 408; Staudinger/G. Schiemann, § 249 BGB Rn. 217. 647 BGH, Urt. v. 18. 3. 2014 – VI ZR 10/13, NJW 2014, 2874, 2876 (Rn. 29).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Nachteil zugefügt und dabei ihre persönlichen Merkmale oder berechtigten Interessen (insbesondere eine individuelle oder kollektive Rechtsausübung) sanktioniert. Arbeitnehmer:innen dürfen unter diesen Umständen bezweifeln, dass die Arbeitgeber:innen in Zukunft auf ihre Interessen Rücksicht nehmen und das Arbeitsverhältnis vertrauensvoll fortgeführt wird. Die vom Gesetzgeber mit § 249 II BGB kodifizierte Interessenlage ist mit derjenigen der Fortsetzungsansprüche nach Fristablauf vergleichbar. Arbeitnehmer:innen können analog § 249 II BGB anstelle der Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses Schadensersatz in Geld verlangen.648 (b) Schadensbemessung oder: ein Blick in die Kristallkugel? Ist Schadensersatz – gem. § 15 VI AGG oder analog § 249 II BGB – in Geld zu leisten, wird er in der Regel primär auf den Ersatz des entgangenen Gewinns gerichtet sein, den Arbeitnehmer:innen aus einem unterlassenen Folgearbeitsverhältnis gezogen hätten.649 Entgangener Gewinn ist gemäß des deklaratorischen § 252 S. 1 BGB ein ersatzfähiger Schaden, der nach § 249 II BGB als Herstellung des Zustands, der ohne schädigendes Ereignis bestehen würde, ersatzfähig ist.650 (aa) Ersatzfähigkeit entgangenen Gewinns Entgangener Gewinn ist nach den Grundsätzen der Differenzhypothese ersatzfähig als der Vermögenswert, den Arbeitnehmer:innen vor der Schädigung noch nicht hatten, der ihnen aber ohne die Schädigung zugeflossen wäre.651 Können Arbeitnehmer:innen die Höhe des entgangenen Gewinns nicht beweisen, kommt ihnen die Beweiserleichterung in § 252 S. 2 BGB zugute, wonach der Gewinn als entgangen gilt, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte.652 Der entgangene Gewinn benachteiligter Arbeitnehmer:innen ist grundsätzlich das Entgelt, das sie für die Dauer des unterlassenen Vertragsverhältnisses erhalten hätten. Im Wege der Vorteilsanrechnung ist Arbeitnehmer:innen jedoch das aus einem neuen Arbeitsverhältnis bezogene Entgelt oder, wenn Arbeitnehmer:innen keine neue Beschäftigung aufnehmen, die Entgeltersatzleistungen (ALG I und II) anzurechnen, 648
I. E. ebenso Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 52; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 211. 649 Vgl. BAG, Urt. v. 18. 5. 2017 – 8 AZR 74/16, NZA 2017, 1530, 1538 f. (Rn. 70); BAG, Urt. v. 26. 1. 2017 – 8 AZR 736/15, NZA 2017, 854, 859 (Rn. 48). 650 Dass auch § 15 I AGG auf den Ersatz des positiven Interesses gerichtet ist, entspricht der heute ganz herrschenden Ansicht: Aus der Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 18. 5. 2017 – 8 AZR 74/16, NZA 2017, 1530, 1538 f. (Rn. 70); BAG, Urt. v. 26. 1. 2017 – 8 AZR 736/15, NZA 2017, 854, 859 (Rn. 48); aus der Lit. J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 24; ErfK/ M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 4. 651 Staudinger/G. Schiemann, § 252 BGB Rn. 1. 652 Zur ganz herrschenden sog. „Beweiserleichterungstheorie“ Staudinger/G. Schiemann, § 252 BGB Rn. 4 m. w. N. aus Rechtsprechung und Schrifttum.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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sodass gem. § 252 BGB die Differenz zwischen diesen Posten und dem entgangenen Entgelt ersatzfähig ist.653 Nehmen ehemalige Arbeitnehmer:innen keine neue Beschäftigung auf, ist daher potenziell das gesamte Entgelt abzüglich der Sozialleistungen fortzuzahlen, ohne dass Arbeitnehmer:innen dafür arbeiten müssen. Eine Anrechnung ihrer nicht genutzten Arbeitskraft scheidet aus, da die Arbeitskraft ohne Abnehmer keinen wirtschaftlichen Wert hat.654 In Anlehnung an den in § 615 S. 2 BGB verkörperten Gedanken kann Arbeitnehmer:innen aber der Vorwurf gemacht werden, ihre Arbeitskraft nicht am Arbeitsmarkt kommerzialisiert zu haben. Dieser Vorwurf ist dogmatisch in der Schadensminderungsobliegenheit der Geschädigten gem. § 254 II 1 BGB verortet:655 Unterlassen Arbeitnehmer:innen es, eine zumutbare anderweitige Beschäftigung aufzunehmen, ist ihnen das Entgelt anzurechnen, das sie dadurch verdient hätten.656 Zwar tragen grundsätzlich die Arbeitgeber:innen als Schädiger die Beweislast für ein Mitverschulden der Arbeitnehmer:innen; da es sich bei der Suche nach alternativen Arbeitsplätzen aber um einen Umstand aus der Sphäre der Geschädigten handelt, müssen sie nach ständiger BGH-Rechtsprechung an der Sachaufklärung mitwirken und darlegen, was sie zur Minderung des Erwerbsschadens unternommen haben.657 Ob, in welcher Höhe und ab welchem Zeitpunkt Arbeitnehmer:innen in zumutbarer Weise ein Einkommen hätten erzielen können, hängt von einer Vielzahl an Umständen ab. Besonders bedeutsam sind dabei die Lebenssituation der Arbeitnehmer:innen inklusive ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt (vor allem bei einer Diskriminierung aufgrund des Alters, einer Behinderung oder der Schwangerschaft können diese vermindert sein), ihre Ausbildung und ihr Spezialisierungsgrad, die früher ausgeübten Tätigkeiten und die Größe sowie konjunkturelle Lage der Branche.658 Eine Bewertung dieser Umstände unterliegt im Streitfall der freien tatrichterlichen Würdigung (§ 287 ZPO).659 (bb) Dauer des entgangenen Gewinns: Gefahr eines Dauererwerbsschadens? Soweit der Anspruch auf Ersatz des entgangenen Gewinns auch unter Anrechnung eines tatsächlichen oder schuldhaft nicht verdienten anderen Arbeitsentgelts besteht, was insbesondere dann in Betracht kommt, wenn es keine zumutbaren alternativen Arbeitsplätze gibt oder der Verdienst aus einer anderen Tätigkeit hinter dem entgangenen Gewinn zurückbleibt, ist fraglich, für welchen Zeitraum das 653
J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 25. J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 25; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 212. 655 J.-H. Bauer/M. Evers, NZA 2006, 893, 895; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 212. 656 BGH, Urt. v. 26. 9. 2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64, 65 f. (Rn. 9); J.-H. Bauer/ M. Evers, NZA 2006, 893, 895; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 4; A. Schlewing, RdA 2019, 257, 269. 657 BGH, Urt. v. 26. 9. 2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64, 65 (Rn. 8) m. w. N. 658 Vgl. BGH, Urt. v. 26. 9. 2006 – VI ZR 124/05, NJW 2007, 64, 65 f. (Rn. 9); BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 16. 659 BGH, Urt. v. 24. 6. 1986 – VI ZR 222/85, NJW 1986, 2945, 2946; MüKo BGB/ H. Oetker, § 254 BGB Rn. 117 m. w. N. 654
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
entgangene Entgelt ersatzfähig ist. Unproblematisch ist die Berechnung des entgangenen Entgelts nach der Differenzhypothese dann, wenn der Folgearbeitsvertrag befristet und die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung nicht vereinbart worden wäre (vgl. § 15 III TzBfG). In diesem Fall wären die Entgeltzahlungen mit Ende des befristeten Arbeitsvertrags ausgelaufen.660 Arbeitnehmer:innen wird daher eine für die tatrichterliche Überzeugung hinreichende Darlegung des entgangenen Gewinns gelingen. Problematisch ist jedoch die Berechnung des entgangenen Entgelts, wenn Arbeitgeber:innen die Entfristung eines Arbeitsverhältnisses unterlassen haben, da kaum sicher vorhergesagt werden kann, wie sich das verhinderte Arbeitsverhältnis entwickelt hätte. Im Kontext der – insoweit vergleichbaren – Frage der Schadensersatzhöhe bei der diskriminierenden Nichteinstellung wird vehement diskutiert, wie der dafür anzustellende „Blick in die Kristallkugel“661 rechtlich zu handhaben ist. Die Diskussion bewegt sich dabei in einem unionsrechtlichen Koordinatenfeld: Sanktionen für Diskriminierungen, die auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen zugleich wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.662 Teile der Literatur663 und Instanzrechtsprechung664 plädieren für einen Ersatz des positiven Interesses in zeitlich unbegrenztem Umfang. Gegenstimmen lehnen die Ersatzfähigkeit eines solchen potenziellen Dauererwerbsschadens ab: Dass Bewerber:innen einen Endlosschaden verlangen können, ohne zu arbeiten, sei dem deutschen Arbeitsrecht fremd – § 615 S. 2 BGB und § 11 KSchG berücksichtigten beispielsweise eine Störung des Synallagmas665 – oder liefe gar auf einen verfassungsrechtlich problematischen Strafschadensersatz hinaus.666 (a) Keine Begrenzung bis zur ersten hypothetischen Kündigungsmöglichkeit Zur Deckelung des Schadensersatzes werden verschiedene Vorschläge unterbreitet: Viele Autoren stellen auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses bis zum ersten hypothetischen Kündigungstermin ab.667 Der Schutzzweck der Diskriminierungs660
J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 28a; Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 48; Staudinger/S. Serr, § 15 AGG Rn. 29; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 15 AGG Rn. 3. 661 Heidel/Hüßtegel/Mansel/Noack/C. Legerlotz, § 15 AGG Rn. 12. 662 Art. 15 RL 2000/43/EG; Art. 17 RL 2000/78/EG; Art. 25 RL 2006/54/EG. 663 DHSW/P. Berg, § 15 AGG Rn. 6; Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 45; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 4; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 4. 664 LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26. 11. 2008 – 15 Sa 517/08, NJOZ 2008, 5205, 5223. 665 BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 14. 666 M. Stoffels, RdA 2009, 204, 212. 667 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 38; J.-H. Bauer/M. Evers, NZA 2006, 893, 895; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 27; Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 43; T. Kania/S. Merten, ZIP 2007, 8, 14; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213; G. Thüsing/G. Stiebert, in: FS von Hoyningen-Huene (2014), Sanktionen einer verbotenen Diskriminierung: Geklärtes und Ungeklärtes zu § 15 AGG, S. 487, 488; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/V. Schneider, § 15 AGG Rn. 3.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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verbote erfordere nur einen Ersatz derjenigen Vermögenswerte, die Bewerber:innen ohne Diskriminierung in jedem Fall zugeflossen wären. Bewerber:innen, die einen kündbaren Vertrag schließen, müssten ohnehin damit rechnen, dass Arbeitgeber:innen die Kündigungsmöglichkeit ausüben.668 Es handele sich insoweit um ein rechtmäßiges Alternativverhalten der Arbeitgeber:innen, das eine Zurechnung darüberhinausgehender Vermögensnachteile ausschließe.669 Maßgeblich sei die Kündigungsfrist des hypothetischen Vertrags oder hilfsweise die gesetzliche Frist.670 Diese Rechtsauffassung ist problematisch: Erstens widerspricht eine pauschale Begrenzung des Schadensersatzes auf die Mindestdauer den unionsrechtlichen Anforderungen an wirksame Sanktionen im AGG: Besonders deutlich formuliert die RL 2006/54/EG, dass der „einer Person durch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts entstandene Schaden – je nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten – tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird, wobei dies auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss.“ Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein vollständiger Ersatz des individuellen Schadens zu leisten. Eine Begrenzung auf die frühestmögliche Kündigungsmöglichkeit kommt daher nur in Betracht, wenn ein Arbeitsverhältnis tatsächlich zu diesem Zeitpunkt gekündigt worden wäre.671 Zweitens beträgt die Kündigungsfrist für neu begründete Arbeitsverhältnisse nur vier oder – bei Vereinbarung einer Probezeit – zwei Wochen (§ 622 I, III BGB). Dass Schadensersatzzahlungen in der Höhe von maximal einem oder einem halben Monatsgehalt die von den Gleichbehandlungsrichtlinien vorgeschriebene abschreckende Wirkung entfalten, wird zu Recht bezweifelt.672 Im Falle der unterlassenen Entfristung ist die Dauer des vergangenen befristeten Arbeitsverhältnisses bei der Berechnung der Kündigungsfrist gem. § 622 BGB zwar in der Regel anzurechnen;673 da die meisten befristeten Arbeitsverhältnisse aber weniger als fünf Jahre dauern,674 ist auch hier regelmäßig eine kurze Kündigungsfrist von einem Monat zu veranschlagen (§ 622 II Nr. 1 BGB). Hinzu kommt, dass ein entfristetes Arbeitsverhältnis aufgrund der auch für § 1 I KSchG anzurechnenden Dauer des befristeten Arbeitsvertrags675 oft bereits Bestandsschutz genießen würde und eine Kündigung daher sozial gerechtfertigt sein 668
M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213. J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 28. 670 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 38. 671 EuGH, Urt. v. 21. 2. 2008 – C-348/06 P, BeckRS 2008, 141607 (Rn. 76 f.). 672 BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 15; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213. 673 St. Rspr. z.B BAG, Urt. v. 18. 9. 2003 – 2 AZR 330/02, NZA 2004, 319, 320. 674 Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtes, Destatis, https://www.destatis.de/ DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-4/befristet-beschaeftigte.html: 53 % der befristeten Arbeitsverträge hatten eine Laufzeit von weniger als einem Jahr; 22 % zwischen einem und zwei Jahren; 13 % zwischen 2 und 3 Jahren und 12 % länger als drei Jahre. Ähnliche Ergebnisse zeigt die IAB-Stellenerhebung 2018, gefunden bei N. Gürtzgen/A. Kubis/ B. Küfner, IAB-Kurzbericht 17/2019, S. 3. 675 St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 22. 9. 2005 – 6 AZR 607/04, NZA 2006, 429, 429 f. 669
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
müsste. Unabhängig davon, dass eine hypothetische Kündigung im Zeitpunkt der ersten Kündigungsmöglichkeit vermutlich unwirksam wäre, da das diskriminierende Motiv der Nichteinstellung fortwirken würde676 oder eine unzulässige Maßregelung gem. § 16 AGG wäre,677 ist sie im Anwendungsbereich des KSchG jedenfalls in aller Regel nicht sozial gerechtfertigt und damit kein rechtmäßiges Alternativverhalten. Eine andere Beurteilung kommt nur in Betracht, wenn Arbeitgeber:innen nachweisen können, dass sie eine diskriminierungsfreie Kündigung aus einem in § 1 II KSchG genannten Grund ausgesprochen hätten.678 Dieser Beweis wird aber nicht gelingen: Arbeitgeber:innen hätten ein befristetes Arbeitsverhältnis ohne Anknüpfung an ein Merkmal des § 1 AGG nicht entfristet, wenn Gründe für eine personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung in absehbarer Zeit vorgelegen hätten. (b) Keine Orientierung an Abfindungshöhen gem. §§ 9, 10 KSchG Alternativ wird daher – vor allem im Kontext diskriminierender Beförderungsentscheidungen, die in bereits bestandsgeschützten Arbeitsverhältnissen stattfinden – eine Orientierung anhand der Abfindungshöhen gem. §§ 9, 10 KSchG vorgeschlagen. Genießen diskriminierte Arbeitnehmer:innen bereits Bestandsschutz nach dem KSchG, sei der Rechtsgedanke der §§ 9, 10 KSchG anwendbar, der die allgemeine gesetzgeberische Wertung normiere, welchen Wert ein Arbeitsplatz habe.679 Andere Autoren begründen die Anwendbarkeit der §§ 9, 10 KSchG mit einer analogen Anwendung von § 628 II BGB:680 Provozieren Arbeitgeber:innen durch vertragswidriges Verhalten Eigenkündigungen von Arbeitnehmer:innen, sind sie zum Ersatz des durch die Aufhebung der Arbeitsverhältnisse entstandenen Schadens verpflichtet. Nach der Ansicht des BAG ist grundsätzlich der Verfrühungsschaden bis zur nächsten Kündigungsmöglichkeit der Arbeitgeberseite ersatzfähig; wenn Arbeitnehmer:innen aber schon Bestandsschutz nach dem KSchG genossen haben, sei der Verlust dieses Bestandsschutzes durch eine zusätzliche Abfindung analog §§ 9, 10 KSchG abzugelten.681 Die Situation diskriminierter Bewerber:innen ist insoweit vergleichbar, als dass Arbeitgeber:innen den Auslöser für die Beendigung der Arbeitsverhältnisse gesetzt haben und eine Fortsetzung entweder gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen ist oder sich Arbeitnehmer:innen gem. § 249 II 1 BGB gegen eine Vertragsfortsetzung ent676
Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 17; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 4; M. Schreier, KJ 2007, 278, 282; KR/J. Treber, § 15 AGG Rn. 17; a. A. K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 38; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213. 677 LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26. 11. 2008 – 15 Sa 517/08, NJOZ 2008, 5205, 5222. 678 Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 17. 679 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 42; J.-H. Bauer/M. Evers, NZA 2006, 893, 895; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 29; knapp erwogen auch von F. Bayreuther, NJW 2009, 806, 810. 680 P. Hanau, ZIP 2006, 2189, 2200; KR/J. Treber, § 15 AGG Rn. 19 explizit auch für den Fall der Entfristung. 681 BAG, Urt. v. 26. 7. 2001 – 8 AZR 739/00, NZA 2002, 325, 330.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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schieden haben. Anders als in den Fällen, in denen §§ 9, 10 KSchG unmittelbar oder über § 628 II BGB analog anwendbar sind, ist ein befristetes Arbeitsverhältnis aber nicht bestandsgeschützt gem. § 1 KSchG. Die Zuerkennung einer Abfindung gem. §§ 9, 10 KSchG trägt dem Umstand Rechnung, dass Arbeitnehmer:innen darauf vertrauen durften, ihre Arbeitsverhältnisse nur unter den gesteigerten Voraussetzungen des § 1 II KSchG zu verlieren; dieser Bestandsschutz hat einen eigenen wirtschaftlichen und persönlichen Wert, den Arbeitgeber:innen durch eine Abfindung „abkaufen“. Befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen haben eine derart bestandsgeschützte Position aber gerade noch nicht inne: Sie dürfen nicht damit rechnen, dass ihre Arbeitsverhältnisse nur bei Vorliegen eines sachlichen Grunds im Zeitpunkt des Fristablaufs tatsächlich beendet werden.682 Die Entfristung befristeter Arbeitsverhältnisse bewegt sich insofern in einer rechtlichen Hybridstellung: Auf die nächste hypothetische Kündigungsmöglichkeit kann nicht abgestellt werden, da Arbeitnehmer:innen im Falle einer Entfristung meist Bestandsschutz genießen würden. Im Zeitpunkt der unterlassenen Entfristung selbst genießen sie aber noch keinen Bestandsschutz, sodass auch die hinter §§ 9, 10 KSchG stehenden Wertungen nicht zutreffen.683 (c) Richterliche Prognose über die Verweildauer im Betrieb gem. § 252 S. 2 BGB Die Lösung des vermeintlichen Problems liegt richtigerweise in einer sorgfältigen Anwendung der allgemeinen schadensersatzrechtlichen Vorschriften. Bereits eine gewöhnliche Berechnung des Schadensersatzanspruchs nach der Differenzhypothese verlangt, die Dauer des konkreten unterlassenen Arbeitsverhältnisses zu prognostizieren: Ersatzfähig ist gerade nur der Schaden in der Höhe, der ohne die Diskriminierung entstanden wäre. Beruht der Schaden auf zukünftigen Entwicklungen, wie es bei entgangenem Gewinn der Fall ist, hält § 252 S. 2 BGB eine Beweiserleichterung684 für Geschädigte bereit: Ersatzfähig ist der Gewinn, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Der wesentliche zu berücksichtigende Umstand ist hierbei die durchschnittliche Verweildauer der Arbeitnehmer:innen in der betreffenden Position in dem jeweiligen Unternehmen.685 Diese fällt je nach Fluktuation höher oder niedriger aus. Je länger Arbeitnehmer:innen in der betreffenden Position im Unternehmen durchschnittlich verweilen, desto länger wäre auch die diskriminierte Person mit Wahrscheinlichkeit im Unternehmen verblieben und desto höher ist ihr finanzieller Diskriminierungsschaden. Der Einwand Steins, dass 682
Dazu ausführlich oben 1. Kap. D. II. 1. Aus diesem Grund lehnen Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 44 und MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 28 eine Anwendung der §§ 9, 10 KSchG auf diskriminierende Nichteinstellungen ab. 684 Vgl. statt aller BGH, Urt. v. 27. 8. 2001 – IV ZR 281/00, NJW 2002, 825, 826. 685 So i. E. auch O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 449; M. Stoffels, RdA 2009, 204, 213 f.; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 29; G. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 396. 683
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
diese Berechnungsmethode zu einer unangemessenen Privilegierung der Arbeitgeber:innen führe, die weniger Wert auf eine Bindung der Arbeitnehmer:innen an ihr Unternehmen legen,686 überzeugt nicht: Die erhöhte finanzielle Belastung der Arbeitgeber:innen korreliert nämlich mit dem erhöhten finanziellen Wert, den die Entfristung für die Arbeitnehmer:innen gehabt hätte. Für die Berechnung des Schadensersatzes ist – bis zur Grenze der Unzumutbarkeit – entscheidend, dass der Schaden vollständig kompensiert wird. Genauso wie die Schadenshöhe bei der Beschädigung eines Autos von dem Wert des Autos abhängt – und je nach Modell unterschiedlich hoch ausfallen kann –, ist der aus einem Arbeitsverhältnis entgangene Gewinn unterschiedlich hoch. Dementsprechend ist beispielsweise auch nicht das durchschnittliche Monatsentgelt zu veranschlagen, sondern das Entgelt, das diskriminierte Arbeitnehmer:innen erhalten hätten, auch wenn es über der branchenüblichen Vergütung liegt. Genauso ist mit der Dauer der entgangenen Monatsverdienste zu verfahren. Im Streitfall müssen Arbeitnehmer:innen daher Anknüpfungstatsachen darlegen und in den Grenzen des § 287 ZPO beweisen, die eine bestimmte Dauer ihrer hypothetischen Arbeitsverhältnisse wahrscheinlich machen.687 Arbeitgeber:innen können nach den gleichen Maßstäben den Gegenbeweis antreten.688 Eine Anwendung dieser Grundsätze erfüllt auch die unionsrechtlichen Vorgaben: Aus dem Zusammenspiel der §§ 249, 252, 254 I, II 1 BGB ergibt sich, dass diskriminierte Arbeitnehmer:innen das Entgelt aus unterlassenen Folgearbeitsverträgen für die Dauer der durchschnittlichen Verweildauer im Unternehmen auf ihrer Position verlangen können, aber abzüglich derjenigen Entgeltleistungen, die sie aus stattdessen eingegangenen Arbeitsverhältnissen beziehen oder unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei einer rechtzeitigen und ordentlichen Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt erzielen könnten. Die verbleibende Entgeltdifferenz für den Zeitraum der durchschnittlichen Verweildauer im Unternehmen ist eine zugleich verhältnismäßige und abschreckende Sanktion im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinien. Außerdem wird durch eine den §§ 249 ff. BGB immanente Begrenzung des Dauererwerbsschadens ein weitgehender Gleichlauf der Sanktionierung von Diskriminierungsschäden im Kontext der Richtlinien mit anderen Fällen nationaler Schadensersatzverpflichtungen hergestellt und damit dem unionsrechtlichen Äquivalenzgebot689 am besten entsprochen.690 686
Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 15 AGG Rn. 23. Nach Ansicht des BGH und des BAG genügt hierfür eine „gewisse“ Wahrscheinlichkeit (BGH, Urt. v. 30. 5. 2001 – VIII ZR 70/00, NJW-RR 2001, 1542; BAG, Urt. v. 21. 4. 2016 – 8 AZR 753/14, NZA 2016, 1271, 1275 (Rn. 44)) oder dass die Gewinnerzielung wahrscheinlicher ist als ihr Ausbleiben (BGH, Urt. v. 27. 8. 2001 – IV ZR 281/00, NJW 2002, 825, 826). 688 Vgl. BGH, Urt. v. 30. 5. 2001 – VIII ZR 70/00, NJW-RR 2001, 1542; BAG, Urt. v. 21. 4. 2016 – 8 AZR 753/14, NZA 2016, 1271, 1271 (Rn. 44). 689 Vgl. EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 29); Streinz/R. Streinz, Art. 4 EUV Rn. 54 f.; im Kontext der Gleichbehandlungs-Richt687
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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cc) Zusammenfassung zu Art und Umfang des Schadensersatzes Gemäß § 249 I BGB haben Arbeitgeber:innen bereits entstandene Schäden an Rechtsgütern der Arbeitnehmer:innen in erster Linie durch Naturalrestitution zu beseitigen. Entgangene Gewinne aus dem unterlassenen Arbeitsverhältnis sind daher primär durch Abschluss und Erfüllung dieses Arbeitsverhältnisses zu ersetzen. Soweit § 15 VI AGG eine Naturalrestitution ausschließt oder Arbeitnehmer:innen analog § 249 II BGB Schadensersatz in Geld verlangen, ist der entgangene Gewinn gem. § 252 BGB zu ersetzen. Wäre ein befristetes Arbeitsverhältnis wiederum befristet verlängert worden, ist der entgangene Gewinn bis zum Fristablauf ersatzfähig. Wäre das Arbeitsverhältnis entfristet worden, ist der entgangene Gewinn für die nach § 252 S. 2 BGB zu prognostizierende durchschnittliche Dauer des Arbeitsverhältnisses ersatzfähig. Anzurechnen sind auf diesen Gewinn allerdings Entgeltleistungen, die Arbeitnehmer:innen aus einem stattdessen eingegangenen Arbeitsverhältnis beziehen oder unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei einer rechtzeitigen und ordentlichen Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt erzielen könnten (§ 254 I, II 1 BGB). Eine Begrenzung des Dauererwerbsschadens bis zum ersten hypothetischen Kündigungstermin oder eine Orientierung an einer Abfindung gem. §§ 9, 10 KSchG ist daneben weder erforderlich noch sachgerecht. 2. Quasinegatorische Ansprüche bei der benachteiligenden Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen Der zivilrechtliche Schutz gegen Rechtsverletzungen wäre unzureichend, wenn Geschädigte nur auf eine verschuldensabhängige retrospektive Kompensation ihrer Schäden verwiesen würden, ohne berechtigt zu sein, Rechtsverletzungen abzuwehren, wenn sie gerade stattfinden oder kurz bevorstehen. Ansprüche auf Unterlassung und Beseitigung von Beeinträchtigungen hat der Gesetzgeber im BGB zwar nur in § 1004 für Eigentumsverletzungen festgeschrieben; eine Verallgemeinerung des Rechtsgedankens und Ausweitung der Vorschrift über ihren Anwendungsbereich hinaus ist aber seit Inkrafttreten des BGB anerkannt: Schon im Jahr 1905 hat das Reichsgericht die actio quasi negatoria entwickelt, wenn Beeinträchtigungen eines anderen durch das BGB geschützten Rechtsguts zu befürchten sind. Es sei ein „Gebot der Gerechtigkeit, daß auch ohne ein solches [Verschulden, Anm. d. Verf.] gegen die Wiederholung auch nur objektiv widerrechtlicher Eingriffe ein Schutz gegeben werde, damit der Zufügung weiterer Schäden vorgebeugt werde“.691 Ebenso geboten
linien E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 57. 690 Ähnlich LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26. 11. 2008 – 15 Sa 517/08, NJOZ 2008, 5205, 5223. 691 Seit RG, Urt. v. 5. 1. 1905 – VI 38/04, RGZ 60, 6, 7.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
sei ein Anspruch auf Beseitigung einer fortdauernden Beeinträchtigung analog § 1004 BGB.692 Seitdem hat sich der quasinegatorische Schutz analog § 1004 I, II BGB für jedes Rechtsgut, das als absolutes Recht gem. § 823 I BGB anerkannt ist oder durch Schutzgesetze i. S. v. § 823 II BGB geschützt wird, durchgesetzt.693 Wer Gefahr läuft, durch ein rechtswidriges Handeln einer anderen Person geschädigt zu werden, muss also nicht den Schadenseintritt abwarten und nachträglich verschuldensabhängige Kompensation einfordern, sondern kann verschuldensunabhängig präventive Abwehransprüche geltend machen.694 Es wird zu zeigen sein, dass dieser „Fundamentalgrundsatz des dreifachen Rechtsschutzes“695 – Unterlassung, Beseitigung und Haftung – auch für rechtswidrige Benachteiligungen gilt. Sowohl ein Verstoß gegen § 7 I AGG als auch gegen Maßregelungsverbote löst quasinegatorische Ansprüche analog § 1004 I 1, 2 BGB aus. An die Herleitung quasinegatorischer Ansprüche als Rechtsfolge von Benachteiligungen [a)] schließt sich eine Untersuchung ihres Inhalts an [b)]. a) Herleitung quasinegatorischer Ansprüche aa) Quasinegatorische Ansprüche als Rechtsfolge von Verstößen gegen § 7 I AGG Anders als im zivilrechtlichen Teil des AGG (dort: § 21 I) ist der quasinegatorische Rechtsschutz im arbeitsrechtlichen Teil nicht ausdrücklich geregelt. Daraus kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass es ihn nicht geben soll. Im Gegenteil: Erklärter Zweck des AGG ist gem. § 1 AGG, Benachteiligungen zu „verhindern oder zu beseitigen“, um egalitaristische, integritätsschützende und integrationspolitische Ziele zu realisieren.696 Damit die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen im Berufsleben sichergestellt und die Integrität der Arbeitnehmer:innen geschützt wird, dürfen Arbeitnehmer:innen nicht darauf verwiesen werden, diskriminierende Behandlungen hinzunehmen, auszuhalten und den Ersatz daraus resultierender Schäden über einen verschuldensabhängigen Schadensersatzanspruch zu verlangen. Dementsprechend hat der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung selbst auf quasinegatorische Ansprüche verwiesen: Im Kontext der Legaldefinition einer unmittelbaren Benachteiligung wird ein Unterlassungsan692
Seit RG, Urt. v. 5. 6. 1935 – II 332/34, RGZ 148, 114, 123. Vgl. BGH, Urt. v. 18. 1. 1952 – I ZR 87/51, NJW 1952, 417, 418; BGH, Urt. v. 14. 10. 1994 – V ZR 76/93, NJW 1995, 132, 134; BGH, Urt. v. 17. 7. 2008 – I ZR 219/05, NJW 2008, 3565, 3566 (Rn. 13); NK BGB/C. Katzenmeier, Vor §§ 823 ff. BGB Rn. 79; Staudinger/H.P. Mansel, Vor §§ 823 ff. BGB Rn. 63. 694 MüKo BGB/G. Wagner, Vor § 823 BGB Rn. 40; Erman/R. Wilhelmi, Vor § 823 BGB Rn. 6a. 695 J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 387. 696 Siehe dazu ausführlich oben 4. Kap. B. II. 693
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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spruch bei Wiederholungs- oder Erstbegehungsgefahr einer Benachteiligung angesprochen697 und nach § 15 VAGG sollen insbesondere Unterlassungsansprüche gem. § 1004 BGB neben dem AGG anwendbar sein.698 Wenn neben dem AGG schon Ansprüche auf die Abwehr zukünftiger Beeinträchtigungen durch Unterlassungsansprüche bestehen sollen, muss eine Abwehr bereits eingetretener und andauernder Beeinträchtigungen durch Beseitigungsansprüche erst recht möglich sein. Dass das AGG die Beseitigung von Benachteiligungen gebietet, wird systematisch dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber die Unwirksamkeit diskriminierender rechtsgeschäftlicher Handlungen als „primäre Sanktionierung derartiger Rechtsverstöße“699 begreift und nicht bloß auf sekundäre Schadensersatzansprüche verweist: Diskriminierende Regelungen in Individual- und Kollektivvereinbarungen sind unwirksam gem. § 7 II AGG und jedenfalls für die Vergangenheit „nach oben“ anzugleichen, sodass ein verschuldensunabhängiger Anspruch auf eine darin zu Unrecht vorenthaltene Leistung entstehen kann.700 Anders könne eine Gleichbehandlung der diskriminierten Personen nicht hergestellt werden.701 Diskriminierende Befristungsabreden sind unwirksam, sodass ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entsteht.702 Einseitige rechtsgeschäftliche Handlungen, wie Kündigungen, Versetzungen oder Weisungen sind unwirksam gem. § 7 I AGG i. V. m. § 134 BGB und haben keine Rechtswirkung (vgl. auch § 16 I 1 AGG). Ist eine Benachteiligung nicht rechtsgeschäftlich in einer Vereinbarung geregelt, sondern erschöpft sie sich in dem tatsächlichen Unterlassen einer Vorteilsgewährung, fehlt dem Unwirksamkeitsverdikt der §§ 7 I, II AGG, 134 BGB aber ein Bezugspunkt: Ein Unterlassen kann nicht unwirksam im Sinne dieser Vorschriften sein703 und damit auch nicht nach den oben skizzierten Grundsätzen unangewendet bleiben oder angepasst werden. Es besteht aber dasselbe Schutzbedürfnis der benachteiligten Person, die Benachteiligung zu beseitigen. Die Benachteiligung kann in diesen Fällen nur durch die Gewährung des ursprünglich vorenthaltenen Vorteils beseitigt werden. Der Zweck der Benachteiligungsverbote erfordert also einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf Beseitigung der Benachteiligung.704 697
BT-Drs. 16/1780, S. 32. BT-Drs. 16/1780, S. 38. 699 BT-Drs. 16/1780, 34. 700 Zu Kollektivvereinbarungen: BAG, Urt. v. 20. 3. 2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803, 806 (Rn. 27); vgl. auch MüKo BGB/G. Thüsing, § 7 AGG Rn. 13 m. w. N. aus der Rechtsprechung des EuGH und BAG; zu arbeitsvertraglichen Vereinbarungen DHSW/P. Berg, § 7 AGG Rn. 18; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 7 AGG Rn. 31. 701 BAG, Urt. v. 21. 11. 2017 – 9 AZR 141/17, NZA 2018, 786, 789 (Rn. 33). 702 BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970, 973 (Rn. 34): ErfK/ M. Schlachter, § 7 AGG Rn. 6; Staudinger/S. Serr, § 15 AGG Rn. 73; MüKo BGB/G. Thüsing, § 7 AGG Rn. 13. 703 Darauf weist auch BeckOK ArbR/S. Roloff, § 7 AGG Rn. 4 hin. 704 M. Grünberger/T. Husemann, in: Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht (2019), § 5: Gleichbehandlung Rn. 5267; BeckOK BGB/M. Horcher, § 7 AGG Rn. 8; Schiek/ 698
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Nach der wohl herrschenden Ansicht im Schrifttum ist eine Benachteiligung durch einen unmittelbaren „Erfüllungs-“ oder „Gleichbehandlungsanspruch“ unmittelbar aus § 7 I AGG zu beseitigen.705 Gegenstimmen verweisen auf Beseitigungsansprüche gem. § 15 V AGG i. V. m. § 1004 BGB analog.706 Gegen eine anspruchsbegründende Lesart von § 7 I AGG spricht, dass die Norm negativ als Verbot formuliert ist: „Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden“. Adressat des Verbots sind primär Arbeitgeber:innen, denen ein bestimmtes Verhalten untersagt wird. Die Norm enthält weder Aussagen über eine mit dem Verbot korrespondierende Rechtsstellung der Arbeitnehmer:innen noch die Rechtsfolgen einer Verbotsverletzung. Ansprüche der Arbeitnehmer:innen sind stattdessen im Unterabschnitt „Rechte der Beschäftigten“ (§§ 13 – 16 AGG) normiert. Für die dort nicht geregelten Ansprüche verweist die Gesetzesbegründung zu § 15 VAGG ausdrücklich auf den quasinegatorischen Rechtsschutz analog § 1004 BGB.707 Die Systematik des AGG legt daher nahe, Ansprüche von Arbeitnehmer:innen infolge einer Diskriminierung als eigenständige Sekundäransprüche zu betrachten. Entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Ansicht erfasst § 1004 BGB jeden Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG708 und nicht nur Benachteiligungen mit dem Charakter einer § 823 I BGB unterfallenden Ehrverletzung.709 Der quasinegatorische Rechtsschutz analog § 1004 BGB erstreckt sich nämlich auch auf Rechtsgüter und Interessen, die durch § 823 II BGB geschützt sind und § 7 I AGG ist nach herrschender Ansicht ein Schutzgesetz i. S. v. § 823 II BGB.710
E. Kocher, § 15 AGG Rn. 64; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 7 AGG Rn. 22b ff.; H. Wiedemann, NZA 2007, 950, 953. 705 M. Grünberger/T. Husemann, in: Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht (2019), § 5: Gleichbehandlung Rn. 5267; BeckOK BGB/M. Horcher, § 7 AGG Rn. 8; Schiek/ E. Kocher, § 15 AGG Rn. 64; H.-P. Mansel, in: FS Canaris I (2007), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – persönlicher und internationaler Anwendungsbereich, S. 809, 813; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 7 AGG Rn. 22i; H. Wiedemann, NZA 2007, 950, 953; dezidiert gegen eine anspruchsbegründende Wirkung J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 7 AGG Rn. 1; Staudinger/S. Serr, § 7 AGG Rn. 4. 706 J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 386 ff.; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 7 AGG Rn. 26; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 7 AGG Rn. 4. 707 BT-Drs. 16/1780, S. 38. 708 Siehe die Nachweise in Fn. 706. 709 So aber K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 147; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 15 AGG Rn. 66; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 54. 710 Vgl. § 7 AGG BeckOGK/M. Benecke, § 15 AGG Rn. 102; Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 67; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 18; T. v. Roetteken, AGG (2021), Rn. 592; a. A. MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 53; offen gelassen von BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211, 1215 (Rn. 48). Einen anderen Begründungsansatz hat J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 386 entwickelt: Wenn § 7 I AGG schon Persönlichkeitsrechtsverletzungen unterhalb der Schwelle der herkömmlichen Würdeverletzung verbietet, muss auch der quasinegatorische Schutz entsprechend erweitert werden.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Jeder Verstoß gegen § 7 I AGG kann damit nach der zivilrechtlichen Dogmatik durch Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche analog § 1004 BGB abgewehrt werden. Eine Herleitung des Beseitigungsanspruchs als quasinegatorischer Anspruch analog § 1004 BGB fügt sich also besser in Wortlaut und Systematik des AGG ein und erlaubt zugleich einen Rückgriff auf die zu § 1004 BGB und seiner speziellen Ausprägung in § 21 I AGG etablierten Anspruchsvoraussetzungen. Die Annahme eines diskriminierungsrechtlichen Beseitigungsanspruchs als quasinegatorischer Anspruch analog § 1004 BGB ist daher vorzugswürdig und wird der Arbeit zugrunde gelegt. bb) Quasinegatorische Ansprüche als Rechtsfolge von Verstößen gegen Maßregelungsverbote Auch der Zweck der Maßregelungsverbote erfordert einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf Gewährung vorenthaltener Vorteile: Maßregelungsverbote bezwecken, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Entscheidung zu schützen, ob sie ihre Rechte ausüben. Geht es um die Ausübung von Mitwirkungsrechten, wird damit zugleich die innere und äußere Unabhängigkeit von Amtsträger:innen geschützt, die ihre gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben unparteilich und unabhängig wahrnehmen können sollen.711 Dieses Schutzziel kann nur dann vollständig realisiert werden, wenn Benachteiligungen unabhängig von einem Verschulden der Arbeitgeber:innen zu beseitigen und zu unterlassen sind.712 Die effektive und unabhängige Rechtsausübung der Arbeitnehmer:innen wird nämlich durch die Gefahr jeden Nachteils beeinträchtigt, unabhängig davon, ob Arbeitgeber:innen die Benachteiligung zu vertreten haben oder nicht. Maßregelungsverbote sind diesem Zweck entsprechend Verbotsnormen i. S. v. § 134 BGB mit der Folge, dass maßregelnde rechtsgeschäftliche Handlungen unwirksam sind: Kündigungen sind unwirksam und können ein Arbeitsverhältnis nicht beendigen, Weisungen sind nicht zu befolgen.713 Wie bei § 7 I AGG erfasst dieses Unwirksamkeitsverdikt nicht das bloße Unterlassen einer Vorteilsgewährung, sodass eine Beseitigung der Benachteiligung nur qua Vorteilsgewährungsanspruch möglich ist. Auch im Kontext der Maßregelungsverbote ist man sich einig, dass es Ansprüche auf Gewährung vorenthaltener Leistungen geben muss, aber streitet über ihre dogmatische Verankerung: Anfang der 2000er Jahre haben der Zehnte und der Zweite Senat des BAG eine anspruchsbegründende Wirkung von § 612a BGB selbst verschiedentlich bejaht: Ein gemaßregelter Arbeitnehmer sei so zu stellen, als sei die 711 712
250.
Siehe dazu ausführlich oben 4. Kap. C. III. So ausdrücklich z. B. W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245,
713 Zu § 612a BGB statt aller: BAG, Urt. v. 2. 4. 1987 – 2 AZR 227/86, AP BGB § 612a Nr. 1; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 23; zu § 78 S. 2 BetrVG statt aller: BAG, Beschl. v. 20. 1. 2010 – 7 ABR 68/08, NZA 2010, 777 (Rn. 10); GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 25.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Maßregelung nicht erfolgt und kann daher eine ihm vorenthaltene Höhergruppierung,714 Erfolgsbeteiligung,715 oder Zuweisung des von ihm gewünschten Arbeitsumfangs beanspruchen.716 In den Folgejahren hat das BAG die Frage der anspruchsbegründenden Wirkung von § 612a BGB überwiegend offengelassen;717 darauf hat auch der Siebte Senat im Kontext der maßregelnden Nichtfortsetzung eines befristeten Arbeitsvertrags hingewiesen und die Frage als „noch nicht abschließend geklärt“ bezeichnet.718 Im Schrifttum ist man sich uneinig: Oft wird ein Leistungsanspruch nur qua Verknüpfung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz oder dem Leistungsstörungs- oder Deliktsrecht angenommen;719 teilweise werden Ansprüche aber auch direkt aus § 612a BGB abgeleitet.720 Ein ähnlicher Streit wird zu § 78 S. 2 BetrVG geführt: Sowohl in der Rechtsprechung des BAG721 als auch im Schrifttum722 wird § 78 S. 2 BetrVG als Anspruchsgrundlage herangezogen – oft aber nur für die Begründung eines Anspruchs auf benachteiligungsfreie berufliche Entwicklung nach Hs. 2. Ein Anspruch auf Fortsetzung eines befristeten Arbeitsvertrags soll qua Schadensersatz gem. §§ 280 I, 823 II BGB in Betracht kommen.723 Diese Unterscheidung ist inkonsequent und nicht nachvollziehbar, wenn man die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses als berufliche Entwicklung i. S. v. § 78 S. 2
714 BAG, Urt. v. 23. 2. 2000 – 10 AZR 1/99, NZA 2001, 680, 683; zustimmend, aber im Ergebnis ohne Entscheidungsrelevanz BAG, Urt. v. 15. 9. 2009 – 9 AZR 685/08, AP BGB § 611 Lehrer, Dozenten Nr. 186 (Rn. 40). 715 BAG, Urt. v. 12. 6. 2002 – 10 AZR 340/01, NZA 2002, 1389, 1391. 716 BAG, Urt. v. 7. 11. 2002 – 2 AZR 742/00, NZA 2003, 1139, 1141. 717 Jüngst BAG, Urt. v. 14. 8. 2018 – 1 AZR 287/17, NZA 2019, 100, 105 f. (Rn. 54). 718 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 321 (Rn. 36) m. w. N. aus der BAG-Judikatur. 719 BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 62; dies., NZA 2011, 481, 482; NK ArbR/ W. Boecken, § 612a BGB Rn. 16; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 27; APS/ R. Linck, § 612a BGB Rn. 31; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 22. 720 U. Isenhardt, in: FS Richardi (2007), Schein und Sein des Maßregelungsverbots nach § 612a BGB, S. 269, 284; DHSW/B. Kraushaar, § 612a BGB Rn. 27; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 171. 721 BAG, Urt. v. 4. 11. 2015 – 7 AZR 972/13, NZA 2016, 1339, 1343 (Rn. 30); BAG, Urt. v. 17. 8. 2005 – 7 AZR 528/04, NZA 2006, 448, 450 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 15. 1. 1992 – 7 AZR 194/91, AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 84. 722 Fitting, § 78 BetrVG Rn. 15; W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245, 250; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 160; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 24; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 32; HWGNRH/M. Worzalla, § 78 BetrVG Rn. 22; a. A. GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 98; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 47. 723 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 28); Fitting, § 78 BetrVG Rn. 21; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 36; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 31; anders und konsequent aber MüHa ArbR/C. Krois, § 295: Rechtsstellung der Betriebsratsmitglieder Rn. 178: § 78 S. 2 BetrVG als Anspruchsgrundlage für eine Vertragsfortsetzung.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
335
Hs. 2 BetrVG einordnet.724 Die anspruchsbegründende Lesart von § 78 S. 2 Hs. 2 BetrVG wird damit begründet, dass die Vorschrift auch ein positives Gebot enthalte, Betriebsratsmitgliedern die berufliche Entwicklung zu ermöglichen, die sie ohne Betriebsratsamt genommen hätten. Mit diesem Gebot korrespondiere ein selbstständiger Erfüllungsanspruch,725 der (anders als ein auf die vorenthaltene berufliche Entwicklung gerichteter Schadensersatzanspruch) nicht vom Verschulden des Arbeitgebers abhängig sei.726 Die Annahme eines Leistungsanspruchs unmittelbar aus den Benachteiligungsverboten stößt – genau wie bei § 7 I AGG – an die Wortlautgrenze: „Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen“ gem. § 612a BGB und Betriebsratsmitglieder „dürfen wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt […] werden“ gem. § 78 S. 2 BetrVG. Für eine Überdehnung des Wortlauts besteht aber auch hier kein Grund, da sämtliche Maßregelungsverbote Schutzgesetze i. S. v. § 823 II BGB sind.727 Es ist daher auch hier vorzugswürdig, die Rechtsfolgen eines Verbotsverstoßes aus der bereits etablierten quasinegatorischen Haftung analog § 1004 BGB abzuleiten.728 b) Inhalt quasinegatorischer Ansprüche aa) Beseitigungsanspruch In Abgrenzung zum retrospektiv-kompensatorisch eingreifenden Schadensersatz ist ein Beseitigungsanspruch analog § 1004 I 1 BGB auf die Beseitigung andauernder Beeinträchtigungen gerichtet. Durch jede Benachteiligung werden Arbeitnehmer:innen in ihrem Recht auf benachteiligungsfreie Behandlung beeinträchtigt.729 Diese Beeinträchtigung dauert an, solange der benachteiligende Zustand aufrechterhalten bleibt.730 Benachteiligenden Maßnahmen, die dem Unwirksamkeitsverdikt des § 134 BGB (ggf. i. V. m. § 7 II AGG) unterfallen, werden Rechts724 Dies tun DKW/R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 28; Fitting, § 78 BetrVG Rn. 19; NK ArbR/M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 22. 725 BAG, Urt. v. 15. 1. 1992 – 7 AZR 194/91, AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 84; NK ArbR/ M. Waskow, § 78 BetrVG Rn. 32. 726 So explizit zur Parallelvorschrift in § 46 Abs. 3 Satz 3 BPersVG a. F. (nun: § 8 BPersVG): BAG, Urt. v. 26. 9. 1990 – 7 AZR 208/89, NZA 1991, 694, 695. 727 Zu § 612a BGB BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44) m. w. N.; zu § 78 S. 2 BetrVG BAG, Urt. v. 12. 2. 1975 – 5 AZR 79/74, AP BetrVG 1972 § 78 Nr. 1 m. w. N. 728 Da mit § 1004 I 1 BGB eine geeignete innerstaatliche Rechtsgrundlage für Gleichbehandlungsansprüche existiert, ist nicht auf den von E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 304 hilfsweise vorgeschlagenen Anpassungsanspruch unmittelbar aus Art. 21 GrCh zurückzugreifen. 729 Vgl. Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 21 AGG Rn. 23. 730 Vgl. Staudinger/S. Serr, § 21 AGG Rn. 11; MüKo BGB/G. Thüsing, § 21 AGG Rn. 9.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
wirkungen versagt, sodass sie keine andauernden Beeinträchtigungen auslösen. Anders ist es bei der Vorenthaltung individueller Vorteile, wie der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse: Wie oben bereits gezeigt wurde,731 sehen die Benachteiligungsverbote für solche Benachteiligungen keinen Heilungsmechanismus vor. Die benachteiligende Wirkung eines Unterlassens dauert an, solange Arbeitgeber:innen ihren Arbeitnehmer:innen keine auf die Vertragsfortsetzung gerichteten Angebote unterbreitet haben. Der Inhalt eines Beseitigungsanspruchs und dessen Abgrenzung zum Schadensersatzrecht sind im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 1004 BGB seit Jahrzehnten vehement umstritten. Diese Abgrenzungsprobleme spielen im Kontext der Benachteiligungsverbote aber nach einhelliger Ansicht keine Rolle, da die verschiedenen Ansichten zu identischen Ergebnissen gelangen: Die zur Beseitigung fortdauernder Beeinträchtigungen allein geschuldeten Handlungen sind von dem nur verschuldensabhängig zu leistenden Ausgleich bereits eingetretener Folgeschäden klar unterscheidbar.732 Zur Beseitigung andauernder Benachteiligungen analog § 1004 I 1 BGB schulden Arbeitgeber:innen danach stets nur die ursprünglich gebotene Behandlung und das auch nur für die Zukunft. In der Praxis beginnt die Zukunft mit der letzten mündlichen Verhandlung. Alle über die andauernde Benachteiligung selbst hinausgehenden materiellen und immateriellen Nachteile der Arbeitnehmer:innen und insbesondere eine vergangenheitsbezogene Wiederherstellung des hypothetischen benachteiligungsfreien Zustands sind allenfalls im Wege des Schadensersatzes zu kompensieren.733 Als Beseitigung schulden Arbeitgeber:innen die Abgabe einer auf Vertragsfortsetzung gerichteten Willenserklärung,734 wenn sie sie ohne Verstoß gegen ein Benachteiligungsverbot tatsächlich abgegeben hätten.735 Dann liegt die ursprünglich gebotene und nun nachzuholende Behandlung in der Vertragsfortsetzung und nicht bloß in der benachteiligungsfreien (Neu)Entscheidung über die Vertragsfortsetzung, die sich aufgrund der Vielzahl erlaubter Entscheidungsgründe in der Regel nicht zu 731
Siehe oben 6. Kap. B. IV. 2. a) aa). So ausdrücklich zu § 21 AGG M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 727; J. Kossak, Rechtsfolgen (2009), S. 129 ff. 733 Vgl. M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 726; BeckOGK/O. Mörsdorf, § 21 AGG Rn. 28 ff.; Staudinger/S. Serr, § 21 AGG Rn. 12; MüKo BGB/G. Thüsing, § 21 AGG Rn. 15. 734 Ein Kontrahierungszwang als Rechtsfolge des Beseitigungsanspruchs ist im Kontext des § 21 AGG anerkannt: M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 726; J. Kossak, Rechtsfolgen (2009), S. 145; Staudinger/S. Serr, § 21 AGG Rn. 17; MüKo BGB/G. Thüsing, § 21 AGG Rn. 17; G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 21 f.; S. Wendt/F. Schäfer, JuS 2009, 206, 207. Auch ein allgemeiner zivilrechtlicher Kontrahierungszwang, insbesondere in den Bereichen der Daseinsvorsorge, wird bisweilen auf den Beseitigungsanspruch analog § 1004 BGB gestützt, z. B. W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 82; J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 230 ff. 735 Vgl. zum Kausalzusammenhang im Rahmen des § 21 AGG Staudinger/S. Serr, § 21 AGG Rn. 21 ff.; G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 23. 732
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
337
einem Anspruch auf Vertragsfortsetzung verdichtet.736 Vereinzelt verlautbarten Einwänden, ein Kontrahierungszwang komme als Beseitigung einer Benachteiligung nicht in Betracht, da er den Rechtskreis des Betroffenen erweitere737 und man Benachteiligte damit „besser als jeden anderen Vertragsinteressenten“ stelle,738 entzieht die sine qua non-Betrachtung den Boden. Die im Rahmen der Schadensersatzansprüche zur haftungsausfüllenden Kausalität entwickelten Maßstäbe können hier übertragen werden: Bei Diskriminierungen nach dem AGG ist der Kausalzusammenhang zwischen Benachteiligung und Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses gesondert festzustellen; bei den Maßregelungsverboten setzt bereits der Verbotsverstoß einen conditio sine qua non-Zusammenhang voraus.739 bb) Anspruch auf Unterlassung einer zukünftigen Benachteiligung Haben Arbeitgeber:innen noch nicht über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses entschieden, besteht aber die konkrete Gefahr i. S. v. § 1004 I 2 BGB (Erstbegehungsgefahr), dass sie dabei gegen ein Benachteiligungsverbot verstoßen werden, können befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen Unterlassung der Benachteiligung verlangen. Der Anspruch ist in der Regel nur auf Vornahme einer benachteiligungsfreien Entscheidung gerichtet. Ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung kommt nur in Betracht, wenn schon im Vorhinein die Parameter feststehen, anhand derer Arbeitgeber:innen entscheiden werden. Nur, wenn die Fortsetzungsentscheidung gebunden ist, kann sich der Unterlassungsanspruch zu einem Fortsetzungsanspruch verdichten. Ansonsten kann wohl nie prognostiziert werden, welche Kriterien Arbeitgeber:innen ihrer Entscheidung zugrunde legen. Selbst für den praktisch wohl eher seltenen Fall, dass Arbeitgeber:innen ankündigen, das Arbeitsverhältnis nur aufgrund eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG nicht verlängern zu werden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass dieses Merkmal bis zur endgültigen Benachteiligung tatsächlich allein maßgeblich sein wird. Arbeitgeber:innen dürfen ihre Motive und Entscheidungsparameter nämlich bis zur tatsächlichen Entscheidung ändern. Ein Anspruch auf Unterlassung einer zukünftigen Benachteiligung nach § 1004 I 2 BGB ist damit in der Praxis irrelevant. 3. Abschließende Beurteilung der Sekundäransprüche infolge Verbotsverletzung Benachteiligungsverbote selbst ordnen nur negativ das primäre Verbot einer benachteiligenden Behandlung an. Verstoßen Arbeitgeber:innen gegen diese Verbote, wird der ursprüngliche Anspruch auf benachteiligungsfreie Behandlung in 736 737 738 739
Vgl. zu § 21 AGG J. Kossak, Rechtsfolgen (2009), S. 169 f. J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 397. C. Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1497. Siehe oben 5. Kap. B. I. und die dortigen Nachweise.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Sekundäransprüche transformiert. Dazu gehört neben Schadensersatzansprüchen gem. §§ 15 I AGG, 280 I, 241 II BGB auch der quasinegatorische Rechtsschutz analog § 1004 I BGB. Beseitigungsansprüche können dabei als „Fortsetzung des primären Gleichbehandlungsanspruchs“740 oder „erneute Anordnung der dem anderen privaten Akteur bereits gesetzlich geschuldeten Gleichbehandlung“ verstanden werden.741 Dass Beseitigungsansprüche im Diskurs über Fortsetzungsansprüche nach Fristablauf oft unterschlagen werden, ist auf den ersten Blick kurios, ist man sich doch außerhalb des arbeitsrechtlichen Teils des AGG weitgehend darüber einig, dass Vertragsschlusszwänge nicht primär die Schadenskompensation, sondern die Durchsetzung der ursprünglichen Verhaltenspflicht bezwecken.742 Das Schattendasein der Beseitigungsansprüche ist daher wohl der Tatsache geschuldet, dass sie nur auf die Abwehr zukünftiger Beeinträchtigungen gerichtet sind: Streiten sich Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen vor Gericht über die Vertragsfortsetzung, beginnt die Zukunft mit der letzten mündlichen Verhandlung. Einem Anspruch auf Vertragsschluss gem. § 1004 I 1 BGB kann gerichtlich also nur für den Zeitpunkt ab der letzten mündlichen Verhandlung stattgegeben werden. Hätten unterlassene Folgearbeitsverträge vor diesem Zeitpunkt begonnen, bleiben Arbeitnehmer:innen für den Differenzzeitraum vertrags- und kompensationslos. Insoweit greifen allerdings Schadenersatzansprüche ein, die tatbestandlich gerade voraussetzen, dass (im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung) bereits ein Schaden eingetreten ist: Schadensersatz dient nämlich nicht der Beseitigung künftiger oder andauernder Beeinträchtigungen, sondern der Wiedergutmachung erlittener Einbußen. Die Vornahme der ursprünglich gebotenen Handlung ist nur dann eine Naturalrestitution nach § 249 I BGB, wenn dadurch Schäden der Anspruchsteller wiedergutgemacht werden.743 Ein Anspruch auf Vertragsschluss gem. § 15 I AGG oder §§ 280 I, 823 II BGB i. V. m. Maßregelungsverboten kommt also nur dann in Betracht, wenn im Zeitpunkt der Anspruchstellung – oder vor Gericht: der letzten mündlichen Verhandlung – bereits ein Schaden eingetreten ist. Anders als der gem. § 15 II AGG ersatzfähige immaterielle Schaden, der bereits im Zeitpunkt der Benachteiligung, also dem Nichtangebot eines Vertrags, eintritt, erleiden Arbeitnehmer:innen die im Wege der Naturalrestitution herzustellenden Vermögensschäden erst nach Beginn der vorenthaltenen Folgearbeitsverträge. Für das Verhältnis der Ansprüche zueinander bedeutet dies folgendes: Machen Arbeitnehmer:innen Fortsetzungsansprüche geltend, bevor ein verweigertes Ar740
H. Wiedemann, NZA 2007, 950, 953. Vgl. zu §§ 19, 21 AGG M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 726. 742 Zu § 21 AGG MüKo BGB/G. Thüsing, § 21 AGG Rn. 19; zu Kontrahierungszwängen außerhalb des AGG; T. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 427 f.; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 11; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 82; J. Neuner, JZ 2003, 57, 61. 743 Vgl. BeckOK BGB/J. Fritzsche, § 1004 BGB Rn. 63; Staudinger/G. Schiemann, § 249 BGB Rn. 2. 741
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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beitsverhältnis begonnen hätte, kommen ausschließlich Beseitigungsansprüche analog § 1004 I 1 BGB in Betracht. Werden Fortsetzungsansprüche nach Beginn unterlassener Arbeitsverhältnisse geltend gemacht, sind die Voraussetzungen beider Ansprüche erfüllt: Gem. § 1004 I 1 BGB können Arbeitnehmer:innen aber nur die Vertragsfortsetzung für die Zukunft verlangen; gem. §§ 15 I AGG, 280 I BGB, 823 II BGB auch für die Vergangenheit. Da es in der Praxis auf die Tatsachen- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt, ist ausschlaggebend, ob diese Verhandlung vor oder nach Beginn des unterlassenen Vertragsschlusses liegt. Je nachdem, ob und wann Arbeitnehmer:innen von der Nichtfortsetzung erfahren, wann das Folgearbeitsverhältnis begonnen hätte (direkt im Anschluss oder mit zeitlicher Unterbrechung) und wie schnell das Gericht unter Berücksichtigung der besonderen Prozessförderungspflicht gem. § 61a ArbGG den Prozess vorantreibt,744 ist daher entweder ein Beseitigungs- oder ein Schadensersatzanspruch zielführend (siehe illustrierend die Abb. 1).
Fristablauf und rechtswidrige Nichtfortsetzung
Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
Beseitigungsanspruch analog § 1004 I 1 BGB
Andauernde Beeinträchtigung
Befristetes Arbeitsverhältnis
Schaden
Unterlassungsanspruch analog § 1004 I 2 BGB
Schadensersatzanspruch gem. § 15 I AGG/§ 280 BGB
Abbildung 1: Darstellung des Zusammenspiels der Sekundäransprüche bei Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsvertrags
V. Zusammenfassung zur Beurteilung von Anspruchsgrundlagen und -zielen Ansprüche auf Vertragsfortsetzung können nicht unmittelbar aus einem bereits bestehenden befristeten Arbeitsverhältnis abgeleitet werden. Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung begründet keine Fortsetzungsansprüche der Arbeitneh744 Dazu, dass § 61a ArbGG auch Streitigkeiten über Vertragsfortsetzungen erfasst, z. B. GMP/A. Schleusener, § 61a ArbGG Rn. 4.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
mer:innen, da es sich dabei nur um eine Einwendung handelt, die keine neuen Ansprüche entstehen lässt, sondern nur Ansprüchen zur Durchsetzung verhilft, die auf anderen Rechtsgründen beruhen. Es besteht keine vertragliche Nebenpflicht von Arbeitgeber:innen zur Vertragsfortsetzung, da keine schutzwürdigen Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen eine solche Pflicht begründen und sich die Benachteiligungsverbote in der Verbotsanordnung erschöpfen. Aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben sich Fortsetzungsansprüche nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen. Da Arbeitgeber:innen selten anhand abstrakt-genereller Regelungen über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen entscheiden, hat diese Anspruchsgrundlage wenig praktische Bedeutung. Die Rechtsfolgen einer Benachteiligung ergeben sich stattdessen – wie auch bei sonstigen Pflicht- und Verbotsverletzungen im Zivilrecht – aus Sekundäransprüchen. Diskriminierende Arbeitgeber:innen sind gem. § 15 I AGG zur Leistung materiellen Schadensersatzes verpflichtet; maßregelnde Arbeitgeber:innen gem. §§ 280 I, 241 II BGB. Diese Verpflichtung besteht bei Benachteiligungen bezüglich einer Wiedereinstellung nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses: § 15 I AGG erfasst jede Benachteiligung i. S. v. § 7 I AGG gegenüber Bewerber:innen für das neue Beschäftigungsverhältnis, nicht aber gegenüber nur ehemaligen Arbeitnehmer:innen. Die Pflicht, Arbeitnehmer:innen nicht zu maßregeln, wirkt auch über das Ende des Arbeitsverhältnisses als nachvertragliche Rücksichtnahmepflicht i. S. v. § 241 II BGB nach. Schadensersatz ist primär im Wege der Naturalrestitution gem. § 249 I BGB zu leisten. Der Zustand, wie er ohne das schädigende Ereignis bestehen würde, wird durch Abschluss der ursprünglich verweigerten Folgeverträge wiederhergestellt. Soweit eine solche Naturalrestitution gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen ist oder Arbeitnehmer:innen analog § 249 II 1 BGB Schadensersatz in Geld verlangen, ist der infolge der Nichtfortsetzung eingetretene Vermögensschaden zu ersetzen. Ersatzfähig sind insbesondere die aus den Arbeitsverträgen entgangenen Gewinne bis zu deren voraussichtlichen Ende mit Fristablauf oder – im Falle der Entfristung – für ihre nach § 252 S. 2 BGB zu prognostizierende durchschnittliche Dauer. Auf diese Gewinne sind Entgeltleistungen, die Arbeitnehmer:innen aus stattdessen eingegangenen Arbeitsverhältnissen beziehen oder unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei einer rechtzeitigen und ordentlichen Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt hätten erzielen können (§ 254 I, II 1 BGB), anzurechnen. Es entspricht dem Zweck und der Systematik der Benachteiligungsverbote, dass Arbeitnehmer:innen nicht den Eintritt einer Benachteiligung und die damit einhergehenden Schäden abwarten müssen und auf deren retrospektiven Ersatz verwiesen werden, sondern eine (andauernde) Benachteiligung durch Unterlassungsund Beseitigungsansprüche abwehren können. Erschöpft sich eine Benachteiligung in einem Begünstigungsausschluss, kann die Beseitigung nur durch Erfüllungsansprüche beseitigt werden, die sich nach der herrschenden Ansicht unmittelbar aus den Benachteiligungsverboten ergeben. Sämtliche Benachteiligungsverbote werden
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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durch quasinegatorische Schutzrechte analog § 1004 I BGB flankiert und effektuiert. Ansprüche auf Vorteilsgewährung in Form der Vertragsfortsetzung ergeben sich daher als Beseitigungsansprüche analog § 1004 I 1 BGB.
C. Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen gemäß oder analog § 15 VI AGG I. Die „erregende Kraft“ des Kontrahierungszwangs Während Ansprüche auf Vorteile, die im bestehenden Arbeitsverhältnis vorenthalten worden sind, keinen fundamentalen Bedenken ausgesetzt sind, berührt die Frage nach Ansprüchen auf Begründung eines (neuen) Vertragsverhältnisses eine Grundsatzdiskussion, die Nipperdey vor 100 Jahren mit seiner Arbeit zum Kontrahierungszwang ins Rollen gebracht hat. Ein Kontrahierungszwang ist nach seiner noch heute geläufigen Definition „die auf Grund einer Norm der Rechtsordnung einem Rechtssubjekt ohne seine Willensbildung im Interesse eines Begünstigten auferlegte Verpflichtung, mit diesem einen Vertrag bestimmten oder von unparteiischer Seite zu bestimmenden Inhaltes abzuschließen“745. Durch Kontrahierungszwänge zwängt der Staat Privatrechtssubjekten den Vertragsschluss als heteronom gewünschtes Ergebnis auf746 und negiert damit ihr Recht, die Vertragsfreiheit als Ausdruck individueller Selbstbestimmung auszuüben. In den Worten Bydlinskis sind sich Kontrahierungszwang und Vertragsfreiheit „in einer sonst nicht anzutreffenden Radikalität entgegengesetzt.“747 Im Mittelpunkt der zahlreichen zivilrechtlichen Abhandlungen über die Berechtigung und dogmatische Verankerung von Kontrahierungszwängen in unserer Privatrechtsordnung748 standen Abschlusspflichten zur Sicherung der Vertragsbegründungsfreiheit strukturell unterlegener Verbraucher749 auf dem Gebiet der Da-
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H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 7. Zu dieser Lesart des Kontrahierungszwangs H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 100; MüKo BGB/J. Busche, Vor § 145 BGB Rn. 12; ders., Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 111 ff.; J. Gernhuber, Das Schuldverhältnis (1989), S. 130 f. 747 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 5. 748 Insbesondere sind zu nennen J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999); J. Biermann, JhJb 52 (1893), 267; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1; ders., JZ 1980, 378; K. Hackl, Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang im deutschen, im österreichischen und im italienischen Recht (1980); J. W. Hedemann, in: FS Nipperdey (1955), Der Kontrahierungszwang: Erinnerung und Ausblick, S. 251; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47; E. Molitor, JhJb 73 (1923), 1; H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920); L. Raiser, JZ 1958, 1; ders., ZHR 1948, 75. 749 J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 124 ff. 746
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
seinsvorsorge.750 Hauptanwendungsfall war dementsprechend die Verpflichtung von Monopolisten oder gleichermaßen marktbeherrschenden Unternehmen, Verträge mit Abnehmer:innen zu schließen, die auf ihre Leistungen oder Güter angewiesen sind.751 Bereits früh wurden aber auch Pflichten von Arbeitgeber:innen zum Abschluss von Arbeitsverträgen unter dem Stichwort des Kontrahierungszwangs diskutiert.752 Die Pflicht zum Abschluss eines Arbeitsvertrags als Beseitigung oder Naturalrestitution einer verbotenen Benachteiligung reiht sich in diese Rechtstradition ein: Anders als Vertragsfortsetzungsansprüche infolge rechtsgeschäftlicher Zusage oder gemäß dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, die als „Weiterentwicklung aus vorangegangener freiwilliger Bindung“ begriffen werden können, bei denen die Vertragsverpflichtung also „durch eigenes Handeln, wenn auch ungewollt herbeigeführt und in den Kauf genommen“ wurde,753 ist ein Zwang zum Vertragsschluss als Rechtsfolge einer Benachteiligung ein heteronomer Abschlusszwang nicht nur ohne, sondern geradezu gegen die Willensbeteiligung der Arbeitgeber:innen. Ob und zu welchen Zwecken der Staat die Vertragsbegründungsfreiheit der Arbeitgeber:innen derart beschränken darf, ist heute noch vehement umstritten. Insbesondere im Kontext des AGG hat die Frage nach einem Kontrahierungszwang die dieser Rechtsfigur innewohnende „[e]rregende Kraft“754 nicht verloren. Dreh- und Angelpunkt der heute im Kontext arbeitsrechtlicher Benachteiligungsverbote geführten Diskussion ist § 15 VI AGG: „Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 begründet keinen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg, es sei denn, ein solcher ergibt sich aus einem anderen Rechtsgrund.“
Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber der Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen jedenfalls für Benachteiligungen bei (Erst-)Einstellung und Beförderung und jedenfalls im Anwendungsbereich des AGG Vorrang vor einem An750 MüKo BGB/J. Busche, Vor § 145 BGB Rn. 15; BeckOK BGB/H.-W. Eckert, § 145 BGB Rn. 14; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 53 f.; H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 36 ff. 751 Vgl. J. Biermann, JhJb 52 (1893), 267, 280 ff.; J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 151 ff.; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 29 ff.; BeckOK BGB/H.W. Eckert, § 145 BGB Rn. 15 ff.; J. Gernhuber, Das Schuldverhältnis (1989), S. 134 ff.; K. Hackl, Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang im deutschen, im österreichischen und im italienischen Recht (1980), S. 26 ff.; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 56 ff.; K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts – Allgemeiner Teil (1987), S. 46 ff.; E. Molitor, JhJb 73 (1923), 1, 19 ff.; H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 53 ff.; L. Raiser, ZHR 1948, 75, 86 ff. 752 A. Hueck, in: FS Hedemann (1958), Die Pflicht des Arbeitgebers zur Wiedereinstellung entlassener Arbeitnehmer, S. 131, 141; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 66 ff. 753 Zur Abgrenzung dieses Verhaltens von der Rechtsfigur des Kontrahierungszwangs H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 17. 754 J. W. Hedemann, in: FS Nipperdey (1955), Der Kontrahierungszwang: Erinnerung und Ausblick, S. 251.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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spruch auf Rückgängigmachung der Benachteiligung durch Kontrahierungsansprüche eingeräumt. Die Reichweite von § 15 VI AGG und der mit ihr kodifizierten gesetzgeberischen Wertung ist vehement umstritten: Teilweise wird der Vorschrift die allgemeine Wertentscheidung entnommen, sämtliche Ansprüche auszuschließen, die auf den Abschluss eines Vertrags gerichtet sind – und zwar im Anwendungsbereich des AGG sowie darüber hinaus.755 Begründet wird dieser Rundumschlag mit dem Schutz der Privatautonomie der Arbeitgeber:innen, der eine kritikimmune Durchsetzungskraft innezuwohnen scheint. Eine derart pauschale Aussage verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der Reichweite schützenswerter Arbeitgeberinteressen: Die Vertragsfreiheit – auch von Arbeitgeber:innen – ist nicht bedingungs- und grenzenlos zu schützen, sondern unter Beachtung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen in den Kontext der Benachteiligungsverbote einzubetten und sorgfältig dagegen abzuwägen.756 Das gilt auch für die kontrovers diskutierte Frage, ob § 15 VI AGG Ansprüche auf Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse ausschließt, wenn sie unter Verstoß gegen § 7 I AGG [II.] oder andere Benachteiligungsverbote [III.] unterlassen worden ist.
II. Ausschluss einer Vertragsfortsetzung im Anwendungsbereich des AGG gem. § 15 VI AGG 1. Vorbemerkungen zur Auslegung von § 15 VI AGG Bevor § 15 VI AGG anhand seines Wortlauts, seiner Entstehungsgeschichte, seinem systematischen Zusammenhang und seinem Zweck ausgelegt wird, sind das auslegungsbedürftige Tatbestandsmerkmal [a)] und die Auslegungsrelevanz höherrangigen Rechts [b)] zu bestimmen.
755
Z. B. BAG, Urt. v. 18. 7. 2017 – 9 AZR 259/16, NZA 2017, 1401, 1404 (Rn. 39). Vgl. auch A. K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht (2021), S. 202 f.: „in der Tat sind wohl in allen Privatrechtsordnungen verschiedenste Formen von Beschränkungen und Vorgaben bis hin zu Kontrahierungszwängen bekannt. Die Vertragsfreiheit als rechtliche Freiheit hat niemals vollkommen ungebunden und unbeschränkt von gesetzlichen Vorgaben existiert. Generalverdikte gegen Diskriminierungsverbote aufgrund bestimmter Kategorien als ,Totenglocke des Privatrechts‘ müssen immerhin diese Frage beantworten, was solche gesetzlichen Beschränkungen der Vertragsfreiheit so grundsätzlich unterscheidet von anderen gesetzlichen Ausgestaltungen der Vertragsfreiheit und sie viel ,schlimmer‘ macht als etwa herkömmliche Verbote von Wucher und Sittenwidrigkeit. Erst und nur die abstrahierende Fiktion einer ungebundenen, vorrechtlichen Privatautonomie ermöglicht derart weitreichende Aussagen, die sich als zu undifferenziert und geschichtsvergessen erweisen.“ 756
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
a) Reichweite des Auslegungsspielraums aa) Tatbestandliche Erfassung des Beseitigungsanspruchs § 15 VI AGG wird primär als Ausschluss eines Anspruchs auf Schadensersatz in Form der Naturalrestitution gem. § 15 I AGG i. V. m. § 249 I BGB verstanden.757 Dieses Normverständnis bedeutet aber nicht, dass § 15 VI AGG Beseitigungsansprüche nicht erfassen soll, sondern ist allein der Tatsache geschuldet, dass Beseitigungsansprüche neben Schadensersatzansprüchen als Rechtsfolgen diskriminierender Nichteinstellung, -beförderung oder -fortsetzung von Arbeitsverhältnissen in der Rechtsprechung und Literatur ein Schattendasein führen.758 Dass § 15 VI AGG auch auf Beseitigungsansprüche anwendbar ist, kommt im Normtext nämlich unmissverständlich zum Ausdruck: Die Vorschrift erfasst tatbestandlich alle Ansprüche, die auf einen „Verstoß des Arbeitgebers gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1“ gestützt werden. Ansprüche auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg können sich nur aus davon verschiedenen „Rechtsgründen“ ergeben, zu denen beispielsweise vertragliche Zusagen, das Prinzip der Bestenauslese gem. Art. 33 II GG oder tarifliche Bewährungsansprüche gehören.759 Der dieser Arbeit zugrunde liegende Anspruch auf Beseitigung einer Benachteiligung analog § 1004 I 1 BGB i. V. m. § 15 V AGG wurzelt tatbestandlich im Verstoß gegen § 7 I AGG und nicht in einem anderen Rechtsgrund. § 15 VI AGG schließt damit ebenfalls aus, dass eine Benachteiligung analog § 1004 I 1 BGB durch „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg“ beseitigt wird. bb) Tatbestandliche Erfassung der Vertragsfortsetzung als „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ Nicht so eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob § 15 VI AGG mit einem „Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ auch einen Anspruch auf Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses ausschließt. Da der Wortsinn der Vorschrift insoweit nicht eindeutig ist [dazu 2.], eröffnet er einen Auslegungsspielraum. Ziel der Auslegung ist es, das Normverständnis zu ermitteln, das den Regelungszweck des Gesetzes verwirklicht, dabei die Regelungskompetenz des Gesetzgebers berücksichtigt und zugleich die Einheit des Rechts wahrt, also sich widerspruchsfrei in den Kontext gleich- oder höherrangiger Rechtsnormen einfügt.760 757
Z. B. ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 21. Siehe dazu bereits oben 6. Kap. B. IV. 3. 759 Vgl. BT-Drs. 16/1780. S. 38; Staudinger/S. Serr, § 15 AGG Rn. 74. 760 Vgl. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 40. Im Einzelnen ist alles umstritten. Zum Theoriestreit um die Zugrundelegung einer objektiven oder subjektiven Auslegungsmethode vgl. T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 227 ff.; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 493 ff. 758
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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b) Auslegungsrelevanz höherrangigen Rechts Da das AGG zur Umsetzung mehrerer Richtlinien erlassen wurde, sind die Anforderungen zu untersuchen, die das Unionsrecht nach den gerade dargestellten Maßgaben an die Auslegung von § 15 VI AGG stellt. aa) Kein Gebot richtlinienkonformer oder -orientierter Auslegung (1) Keine Vorgaben durch das Gebot wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen Die Gleichbehandlungsrichtlinien enthalten keine konkreten Vorgaben über die Rechtsfolgen einer Benachteiligung, sondern überlassen den Mitgliedstaaten die Festlegung der Sanktionen.761 Die einzige Vorgabe ist qualitativer Art: Die Sanktionen müssen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“762 Um diesen Maßstäben standzuhalten muss eine Sanktion nach der Rechtsprechung des EuGH „einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus der Richtlinie hergeleiteten Rechte gewährleisten“ und in ihrer Härte „der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet“.763 Innerhalb dieses Rahmens ist den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen freigestellt, im Anwendungsbereich der RL 2006/54/EG dabei aber mit der Einschränkung, dass die gewählten Sanktionen gem. Art. 18 einen Ausgleich oder Ersatz des erlittenen Schadens umfassen müssen. Ob dieser Ausgleich der Benachteiligung durch finanzielle Kompensation oder durch eine tatsächliche Gleichbehandlung erfolgen muss, lassen sowohl die Richtlinientexte764 als auch der sie interpretierende EuGH offen:765 Dass ein Kontrahierungszwang als Sanktion einer Diskriminierung nicht notwendig ist, hat der EuGH im Kontext der – nun durch RL 2006/54/EG abgelösten – RL 76/207/EG entschieden. In der Rechtssache von Colson und Kamann urteilte der Gerichtshof, dass der Ausschluss eines Einstellungsanspruchs in § 611a II BGB a. F. den Vorgaben der damals geltenden RL 76/207/EG entspreche: Die Richtlinie schreibe keine bestimmte Sanktion für Diskriminierungen vor, setze aber voraus, dass die gewählte „Sanktion geeignet ist, einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. Sie muß ferner eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber haben.“766 761
Art. 15 S. 1 RL 2000/43/EG; Art. 17 S. 1 RL 2000/78/EG; Art. 25 S. 1 RL 2006/54/EG. Art. 15 S. 2 RL 2000/43/EG; Art. 17 S. 1 RL 2000/78/EG; Art. 25 S. 2 RL 2006/54/EG; ähnlich: Art. 8 II Hs. 2 RL 2002/14/EG: „wirksam, angemessen und abschreckend“. 763 St. Rspr., z. B. EuGH, Urt. v. 25. 4. 2013 – C-81/12 (Asociatia ACCEPT), NZA 2013, 891, 895 (Rn. 63) m. w. N. 764 Gem. Art. 15 S. 2 RL 2000/43/EG, Art. 17 S. 2 RL 2000/78/EG und Art. 25 S. 1 RL 2006/54/EG können Sanktionen auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen. Gem. Art. 18 S. 1 RL 2006/54/EG muss der Schaden „ausgeglichen oder ersetzt werden“. 765 So auch ausdrücklich S. Kamanabrou, ZfA 2006, 327, 329. 766 EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), NJW 1984, 2021, 2021. 762
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Zu den richtlinienkonformen Sanktionen „könnten zum Beispiel Vorschriften gehören, die den Arbeitgeber zur Einstellung des diskriminierten Bewerbers verpflichten oder eine angemessene finanzielle Entschädigung gewähren […]. Allerdings schreibt die Richtlinie keine bestimmte Sanktion vor, sondern beläßt den Mitgliedstaaten die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen, zur Verwirklichung ihrer Zielsetzung geeigneten Lösungen.“767 Die Richtlinie schrieb also gerade nicht zwingend vor, dass diskriminierte Bewerber:innen einen Anspruch auf Abschluss eines Arbeitsvertrages haben. Ähnliche Erwägungen hat der Gerichtshof im Kontext einer diskriminierenden Entlassung angestellt: Gleichheit könne „ohne Wiedereinstellung der diskriminierten Person oder aber finanzielle Wiedergutmachung des ihr entstandenen Schadens nicht wiederhergestellt werden“.768 Es ist davon auszugehen, dass dieses Rechtsverständnis auch den neuen Gleichbehandlungsrichtlinien zugrunde liegt, da auch sie die Ausgestaltung der Sanktionen den Mitgliedstaaten überlassen und sie mit ihrer Maßgabe der wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen die Rechtsprechung des EuGH zu RL 76/207/EG kodifiziert haben.769 Die Gleichbehandlungs-Richtlinien erfordern also keinen Kontrahierungszwang als Rechtsfolge einer Diskriminierung, da die Mitgliedstaaten eine wirksame und abschreckende Sanktion auch durch Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche – wie in § 15 I, II AGG – verhängen können. Weder der Richtliniengeber noch der EuGH differenziert bei der Beurteilung der Sanktionsvorgaben anhand der konkret diskriminierenden und zu sanktionierenden Maßnahme; für die diskriminierende Nichteinstellung und die diskriminierende Kündigung gelten dieselben Grundsätze: Sie können gleichermaßen durch eine finanzielle Kompensation sanktioniert werden. Es besteht damit aus der Perspektive des Unionsrechts kein Anlass, die Sanktionen einer diskriminierenden Nichtfortsetzung anders zu beurteilen.770 Art. 15 S. 1 RL 2000/43/EG; Art. 17 S. 1 RL 2000/78/EG; Art. 25 S. 1 RL 2006/54/EG erfordern daher keinen Anspruch auf Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses. § 15 VI AGG ist insofern in allen möglichen Auslegungsvarianten eine zulässige Ausgestaltung des den Mitgliedstaaten überlassenen Regelungsspielraums. (2) Keine Vorgaben aufgrund einer Pflicht zur Anpassung nach oben Außerhalb des Sanktionsgefüges der Richtlinien besteht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ein Erfüllungsanspruch auf vorenthaltene Begünstigungen, die in einer kollektiven Regelung in diskriminierender Weise verteilt wurden. Es könne 767
EuGH, Urt. v. 10. 4. 1984 – Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), NJW 1984, 2021. EuGH, Urt. v. 2. 8. 1993 – C-271/91 (Marshall), BeckRS 2004, 75871, Rn. 25 [Hervorheb. d. Verf.]. 769 Vgl. EuArbR/J. Mohr, Art. 17 RL 2000/78/EG Rn. 2. 770 In einem Urteil über die Nichtverlängerung eines Arbeitsverhältnisses wegen Schwangerschaft hat sich der EuGH mit den Rechtsfolgen des Richtlinienverstoßes nicht auseinandergesetzt, EuGH, Urt. v. 4. 10. 2001 – Rs. C-438/99 (Melgar/de Los Barrios), NZA 2001, 1243. 768
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dann nämlich, „solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nur dadurch gewährleistet werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie die, die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen. Die benachteiligten Personen müssen also in die gleiche Lage versetzt werden wie die Personen, die den Vorteil genießen.“771 Zwingende Voraussetzung dieser Rechtsfolge ist nach Ansicht des EuGH aber, dass es ein gültiges Bezugssystem gibt, anhand dessen eine „Anpassung nach oben“ erfolgen kann.772 Da Arbeitgeber:innen über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses üblicherweise im Einzelfall entscheiden, fehlt es regelmäßig am kollektiven Bezug der Diskriminierung, sodass eine unionsrechtskonforme Anpassung nach oben nicht möglich ist. bb) Kein Gebot richtlinienorientierter Auslegung Jenseits von der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung sind die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht dazu verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinien auslegungsleitend zu berücksichtigen. Es wurde oben bereits herausgearbeitet, dass Richtlinien insoweit nicht verbindlich i. S. v. Art. 288 III AEUV sind, als sie den Mitgliedstaaten innerhalb bestimmter Ober- oder Untergrenzen einen Gestaltungsspielraum überlassen: Innerhalb dieses Spielraums treffen die Gerichte die Auswahl des Auslegungsergebnisses nach der normalen innerstaatlichen Methodik.773 Es gibt also kein unionsrechtliches Gebot, § 15 VI AGG so auszulegen, dass die Vorgaben einer wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktion ideal verwirklicht werden. cc) Konsequenz: Auslegungsrelevanz nationaler Grundrechte Bei der Auslegung von § 15 VI AGG sind aber die Grundrechte der betroffenen Privatrechtssubjekte zu berücksichtigen, und zwar erstens durch eine Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts – dem Gebot, unter mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu wählen, die mit Grundrechten vereinbar ist – und zweitens durch das Gebot, auch unterhalb der Schwelle der Normverwerfung diejenige Auslegung zu wählen, die den Vorgaben der Grundrechte am ehesten entspricht.774 Bei der Auslegung von Vorschriften, die Richtlinienvorgaben umsetzen, ist zu fragen, ob die Grundrechte der GrCh oder des GG anwendbar sind. Oben wurde bereits herausgearbeitet, dass unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes Recht primär am Maßstab der Grundrechte des GG, unionsrechtlich 771 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017 – C-406/15, NZA 2017, 439, 442 (Rn. 66); st. Rspr.; jüngst EuGH, Urt. v. 22. 1. 2019 – C-193/17, NZA 2019, 297, 301 (Rn. 79). 772 EuGH, Urt. v. 9. 3. 2017 – C-406/15, NZA 2017, 439, 443 (Rn. 68) m. w. N. 773 Siehe ausführlich oben 4. Kap. B. I. 1. b) bb). 774 Siehe oben 4. Kap. B. I. 2. a) sowie unten 6. Kap. C. II. 5. a) aa) (1), 6.
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determiniertes Recht anhand der Unionsgrundrechte auszulegen und anzuwenden ist.775 Die Anwendung von nationalen oder völkerrechtlichen Grundrechten hängt also davon ab, ob § 15 VI AGG unionsrechtlich vollvereinheitlicht ist oder unionsrechtlich überlassene Gestaltungsspielräume ausfüllt. Da eine Richtlinie nie unmittelbar im Mitgliedstaat gilt, sondern ihrer Rechtsnatur gemäß ins nationale Recht transformiert werden muss, kommt es darauf an, „ob sie auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt ist, oder ob sie nur dazu dienen soll, besonderen Sachgegebenheiten hinreichend flexibel Rechnung zu tragen, dabei aber von dem Ziel der gleichförmigen Rechtsanwendung getragen ist.“776 Die Gleichbehandlungsrichtlinien sind darauf ausgelegt, ein gleichförmiges Verbot bestimmter Diskriminierungen in bestimmten Lebensweisen zu verwirklichen. Die Wahl der Sanktionen dient nur der Effektuierung dieses primären Regelungsanliegens. Indem die Richtlinien nur den weiten Gestaltungskorridor der „wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen“ setzen und nicht einmal einen Katalog denkbarer Sanktionen vorgeben, delegieren sie die Wertungs- und Entscheidungsbefugnis an die Mitgliedstaaten. Den Mitgliedstaaten wird mehr Freiraum zugebilligt, als die Regelungstechnik von Richtlinien zwingend verlangt; es geht nicht nur um notwendige Flexibilität, sondern die Ermöglichung von Vielfalt. Bei § 15 VI AGG handelt es sich also um eine unionsrechtlich nicht vollvereinheitlichte Vorschrift, sodass sie am Maßstab der Grundrechte des GG auszulegen ist.777 2. Wortsinn des § 15 VI AGG: Eröffnung eines Auslegungsspielraums Die Auslegung von § 15 VI AGG hinsichtlich der Frage, ob mit dem Ausschluss eines Anspruchs auf „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ auch Ansprüche auf Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen sind, beginnt mit dem Wortlaut der Vorschrift. Nur wenn der Wortlaut verschiedene Lesarten zulässt, ist ein Auslegungsspielraum eröffnet. Ansonsten muss ggf. Rechtsfortbildung betrieben werden. Das AGG enthält keine Legaldefinition für die „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“. Es verwendet den Begriff des „Beschäftigungsverhältnisses“ zwar in anderen Vorschriften, gibt aber keinen Aufschluss darüber, ob es auch durch eine Vertragsfortsetzung begründet wird i. S. v. § 15 VI AGG. Es muss damit der allgemeine juristische Sprachgebrauch analysiert werden. Möglich sind eine formale Lesart, nach der ein „Beschäftigungsverhältnis“ die Rechtsfolge eines spezifischen Vertragsschlusses darstellt, sodass es auch durch eine Vertragsfortsetzung neu be775
Siehe oben 4. Kap. B. III. 1. d). BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, 321 (Rn. 80). 777 I. E. ebenso M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 329 (Fn. 127); H. Reichold, ZfA 2006, 257, 264; M. Schlachter, in: FS Preis (2021), Diskriminierungsschutz zwischen Unionsrecht und Grundgesetz – Relevante Prüfungsmaßstäbe einer Grundrechtskontrolle, S. 1157, 1161. 776
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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gründet wird [a)] oder eine wertende Lesart, nach der ein „Beschäftigungsverhältnis“ die Gesamtheit der zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bestehenden Rechtsbeziehungen bezeichnet, sodass die Vertragsfortsetzung die Modifikation eines bereits begründeten Beschäftigungsverhältnisses und nicht seine Begründung ist [b)]. a) Formale Lesart: Beschäftigungsverhältnis als Rechtsfolge eines spezifischen Vertragsschlusses Nähert man sich dem Begriff des Beschäftigungsverhältnisses über ein formales Verständnis an, kann man ihn als die sich aus einer konkreten arbeitsvertraglichen Abrede ergebende Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen für den vertraglich vereinbarten Zeitraum verstehen. Danach begründet ein wirksam befristeter Arbeitsvertrag ein Arbeitsverhältnis nur bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs. Zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist eine neue Vereinbarung erforderlich, die das Arbeitsverhältnis auf eine „neue rechtliche Grundlage“ stellt und für die „Vertragsbeziehung künftig allein maßgeblich“ ist.778 Es wird mithin ein neues Arbeitsverhältnis begründet, und zwar auch dann, wenn die Vertragsfortsetzung nur den einvernehmlichen Aufschub der Frist beinhaltet: Auch die einfache Verlängerungsvereinbarung ist ein eigenständiges Rechtsgeschäft,779 das ein neues Arbeitsverhältnis für den Zeitpunkt ab Fristablauf begründet, welches jedenfalls durch eine juristische Sekunde von dem vorangehenden befristeten Arbeitsverhältnis getrennt ist.780 Da § 15 VI AGG nicht zwischen der erstmaligen und erneuten Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses unterscheidet, schließt ein formales Verständnis des Wortsinns die vertragliche Fortsetzung eines befristeten Arbeitsvertrags ein und die Vorschrift damit Ansprüche auf Vertragsfortsetzung aus. b) Wertende Lesart: Beschäftigungsverhältnis als Gesamtheit der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen Zwingend ist eine formale Lesart des Begriffs nicht. Ebenso möglich ist ein normatives Verständnis, nach dem ein „Beschäftigungsverhältnis“ die gesamten zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen bestehenden Rechtsbeziehungen bezeichnet, denen auch mehrere Vertragsschlüsse zugrunde liegen können. Der Begriff „Beschäftigungsverhältnis“ i. S. v. § 15 VI AGG würde damit alle (bei formaler Betrachtung verschiedenen) Arbeitsverhältnisse umfassen, die bei einer 778 St. Rspr. des BAG, z. B. BAG, Urt. v. 19. 10. 2005 – 7 AZR 31/05, NZA 2006, 154 (Rn. 10) m. w. N. 779 So ausdrücklich BAG, Urt. v. 15. 1. 2003 – 7 AZR 535/02, NZA 2003, 1092. 780 Vgl. APS/R. Linck, § 622 BGB Rn. 38; BAG, Urt. v. 18. 9. 2003 – 2 AZR 330/02, NZA 2004, 319, 320 im Kontext der Berechnung der Wartezeiten des § 622 II BGB und § 1 I KSchG bei fortgesetzten Arbeitsverhältnissen.
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wertenden Betrachtung eine Einheit darstellen. Folge eines solchen normativen Ansatzes ist, dass eine Vertragsfortsetzung dem vorherigen Arbeitsverhältnis zuzurechnen sein kann und damit kein Beschäftigungsverhältnis begründet i. S. v. § 15 VI AGG. Ein wertendes Verständnis des Begriffs „Arbeitsverhältnis“, das synonym zum „Beschäftigungsverhältnis“ verwendet wird, ist dem Arbeitsrecht nicht fremd, sondern liegt insbesondere verschiedenen Vorschriften des Kündigungsrechts zugrunde: Das Kündigungsschutzrecht macht die Anforderungen an eine Kündigung von der Bestandsdauer eines „Arbeitsverhältnisses“ abhängig: Die Frist für ordentliche Arbeitgeberkündigungen bemisst sich nach der Dauer eines Arbeitsverhältnisses gem. § 622 II BGB. Der Kündigungsschutz nach dem KSchG setzt voraus, dass ein Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat (§ 1 KSchG) und im Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden oder, sofern mehr als fünf beschäftigt werden, das Arbeitsverhältnis vor dem 31. Dezember 2003 begonnen hat (§ 23 I 2, 3 KSchG). Es entspricht einhelliger Ansicht, dass sich das „Arbeitsverhältnis“ im Sinne dieser Vorschriften auch aus mehreren einzelnen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnissen zusammensetzen kann, wenn diese entweder ohne zeitliche Unterbrechung aufeinanderfolgen oder die Unterbrechung verhältnismäßig kurz ist und zwischen den aufeinanderfolgenden Arbeitsverhältnissen ein enger sachlicher Zusammenhang besteht.781 Es ist dann – in den Worten des BAG im Kontext von § 1 I KSchG – „typischerweise von einem ,ununterbrochenen‘ Arbeitsverhältnis auszugehen“.782 Dass diese Auslegung des Begriffs „Arbeitsverhältnis“ noch von seinem Wortsinn umfasst ist, hat das Gericht im Kontext des § 23 I 3 KSchG betont: „§ 23 I 3 KSchG stellt auf das ,Arbeitsverhältnis‘ und dessen Beginn ab. Der Wortlaut des Gesetzes lässt es zwanglos zu, bei der Beurteilung, wann das Arbeitsverhältnis, das die Zugehörigkeit zum Betrieb vermittelt, ,begonnen hat‘, rechtliche Unterbrechungen außer Acht zu lassen und vorangegangene Vertragsbeziehungen mit in den Blick zu nehmen.“783 Dieser Sprachgebrauch hat Entsprechungen im Befristungsrecht: Für die nach § 14 II TzBfG zulässige „Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses“784 betrachtet das BAG die Dauer des ersten Arbeitsvertrags zuzüglich seiner Verlängerungen i. S. v. § 14 II 1 TzBfG.785 Der Begriff des „Arbeitsverhältnisses“ wird also wertend verstanden als die Zusammenfassung mehrerer Arbeitsverhältnisse, die zwar durch einzelne Verlängerungsverträge begründet und insofern formal eigenständig sind, 781 St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 23. 5. 2013 – 2 AZR 54/12, NZA 2013, 1197, 1198 f. (Rn. 20); BAG, Urt. v. 22. 9. 2005 – 6 AZR 607/04, NZA 2006, 429, 429 f. 782 BAG, Urt. v. 7. 7. 2011 – 2 AZR 12/10, NZA 2012, 148, 149 (Rn. 21), [Hervorheb. d. Verf.]; parallele Formulierungen in BAG, Urt. v. 19. 6. 2007 – 2 AZR 94/06, NZA 2007, 1103, 1104 (Rn. 10); BAG, Urt. v. 23. 5. 2013 – 2 AZR 54/12, NZA 2013, 1197, 1198 f. (Rn. 20); BAG, Urt. v. 20. 2. 2014 – 2 AZR 859/11, NZA 2014, 1083, 1085 (Rn. 19). 783 BAG, Urt. v. 23. 5. 2013 – 2 AZR 54/12, NZA 2013, 1197, 1199 (Rn. 22). 784 BAG, Urt. v. 9. 9. 2015 – 7 AZR 190/14, NZA 2016, 232, 233 (Rn. 22). 785 Vgl. auch BAG, Urt. v. 18. 3. 2015 – 7 AZR 272/13, NZA 2015, 821, 822 (Rn. 17).
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aber zeitlich zusammenhängen. Eine ähnliche Wertung klingt an, wenn das BAG im Kontext von § 14 II 1 und 2 TzBfG anhand der zeitlichen Zäsur zwischen den Vertragserneuerungen „zwischen dem Neuabschluss eines befristeten Arbeitsvertrags und der Verlängerung eines bereits bestehenden befristeten Arbeitsvertrags“786 unterscheidet. Außerhalb des AGG hat sich also der juristische Sprachgebrauch entwickelt, das „Arbeitsverhältnis“ im Sinne einer Rechtsnorm als Zusammenfassung verschiedener einzelner Arbeitsverhältnisse zu betrachten, wenn diese einzelnen Arbeitsverhältnisse nach dem Zweck der Rechtsnorm als Einheit zu bewerten sind. Bei Zugrundelegung dieser Gesamtbetrachtung ist nicht jede Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses auch zwingend die „Begründung eines Arbeitsverhältnisses“ i. S. v. § 15 VI AGG. Bei einem engen Zusammenhang zum vorherigen Vertragsverhältnis könnte das unterlassene Folgearbeitsverhältnis keine „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ i. S. v. § 15 VI AGG sein, sondern die nicht tatbestandliche Fortsetzung eines bereits begründeten Beschäftigungsverhältnisses. Unter welchen Voraussetzungen die notwendige Einheit zwischen den einzelnen Vertragsverhältnissen anzunehmen ist – ob sie nur bei Vertragsverlängerungen i. S. v. § 14 II 1 TzBfG anzunehmen ist oder in Übertragung der zu § 1 I KSchG entwickelten Grundsätze auch bei Wiedereinstellung nach längerer Unterbrechung – kann nur mit Blick auf den Normzweck beurteilt werden und ist dort zu diskutieren.787 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Wortsinn der „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ die Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses nicht zwingend umfasst. Bei einem weiten Wortlautverständnis steht § 15 VI AGG der Annahme eines Fortsetzungsanspruchs also nicht entgegen. c) Ergebnis: Uneindeutigkeit des Wortsinns und Eröffnung eines Auslegungsspielraums Die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses kann bei einem formalen Verständnis der „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ vom Wortsinn des § 15 VI AGG erfasst sein; bei Zugrundelegung einer wertenden Gesamtbetrachtung ist diese Auslegung aber nicht zwingend. Der Wortsinn von § 15 VI AGG eröffnet damit einen Auslegungsspielraum, der unter Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte [3.], den systematischen Zusammenhang [4.] und den Zweck der Vorschrift [5.] auszuloten ist.
786 BAG, Urt. v. 15. 1. 2003 – 7 AZR 346/02, NZA 2003, 914, 915; ebenso BAG, Urt. v. 15. 1. 2003 – 7 AZR 535/02, NZA 2003, 1092, 1093; ErfK/R. Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 96. 787 Siehe unten 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (aa) (c).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
3. Historisch-genetische Auslegung Für die Auslegung von § 15 VI AGG ist der Regelungswille des Gesetzgebers bei der Schaffung der Norm zu erforschen.788 Um die Genese des konkreten Gesetzes nachzuvollziehen, sind alle amtlichen Materialien des Gesetzgebungsverfahrens auszuwerten, also insbesondere „die Begründung eines Gesetzentwurfes, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat (Art. 76 GG II 2 GG) und Bundesregierung (Art. 76 III 2 GG) und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse. In solchen Materialien finden sich regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen.“789 Zusätzlich zur Entstehungsgeschichte von § 15 VI AGG kann auch die Vorläufernorm § 611a BGB a. F. im Wege einer historischen Auslegung im eigentlichen Sinn herangezogen werden, da davon auszugehen ist, dass der jüngere Gesetzgeber Kontinuität herstellen wollte. a) Genetische Auslegung des § 15 VI AGG Der dem AGG zugrundeliegende Gesetzentwurf wurde von der Bundesregierung gem. Art. 76 I 1 GG in den Bundestag eingebracht.790 Soweit der Entwurf dem verabschiedeten AGG entspricht, ist davon auszugehen, dass sich das Parlament die amtliche Begründung zu dem Regierungsentwurf zu eigen gemacht hat; der dort ausgedrückte Regelungszweck ist als Regelungswille des Gesetzgebers der genetischen Auslegung zugrunde zu legen.791 Dies gilt auch für § 15 AGG, dessen Entwurf mit Ausnahme einer Verkürzung der Ausschlussfrist in § 15 IV AGG, unverändert verabschiedet wurde. Die Begründung zu § 15 VI AGG fällt leider sehr knapp aus: „Absatz 6 greift die bestehende Regelung des § 611a Abs. 2 und 5 BGB auf. Einen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder auf einen beruflichen Aufstieg gewährt diese Vorschrift nicht. Rechtsansprüche auf einen beruflichen Aufstieg, die sich aus anderen Gründen ergeben, etwa ein tariflicher Bewährungsaufstieg, bleiben unberührt.“792
788 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 486 ff. Die Entstehungsgeschichte der Norm ist sowohl bei einer objektiven als auch subjektiven Auslegungsmethode zu beachten. Darauf, ob der in den Materialien manifestierte „Wille des Gesetzgebers“ unumstößlich ist (so die Vertreter der subjektiven Auslegung), oder es einen davon abweichenden objektiven Gesetzeszweck geben kann, kommt es hier nicht an. 789 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 74); vgl. auch T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 158 ff. 790 BT-Drs. 16/1780. 791 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 205 f.; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 159. 792 BT-Drs. 16/1780, S. 38.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Die Begründung der Vorschrift erschöpft sich also in der Wiedergabe ihres Wortlauts und dem Verweis auf § 611a II, V BGB a. F. Auch der weitere Gesetzgebungsprozess hat § 15 VI AGG nicht mit Leben gefüllt: Der Bundesrat hat im ersten Durchgang ohne intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Regierungsentwurf eine Beschlussempfehlung i. S. v. Art 76 II GG ausgesprochen.793 Die erste Beratung im Bundestag war zwar kontrovers, betraf aber hauptsächlich die Ausgestaltung der Beweislast, das Beschwerderecht der Gewerkschaften und die zivilrechtlichen Benachteiligungsverbote.794 Der Rechtsausschuss befasste sich in seiner Beschlussempfehlung und seinem Bericht ebenfalls nicht mit den individuellen Rechtsfolgen einer Diskriminierung.795 Auch bei der zweiten und dritten Beratung im Bundestag796 und dem zweiten Durchgang im Bundesrat797 wurde nicht über den Ausschluss eines Einstellungsanspruchs und seine Reichweite gesprochen. b) Historische Auslegung i. e. S.: Regelungszweck des § 611a II, V BGB a. F. Der einzige Anhaltspunkt in den Materialien zum AGG ist damit der Verweis auf die frühere Rechtslage in § 611a II, V BGB a. F. in der Begründung zum Regierungsentwurf. Durch diesen Verweis drückt der Gesetzgeber aus, eine Kontinuität zur bisherigen Rechtslage herstellen zu wollen; es „findet das historisch Gewordene Eingang in den Entstehungsprozess des Gesetzes.“798 Als historische Auslegung im eigentlichen Sinn ist damit auch § 611a BGB a. F. zu betrachten und insbesondere wiederum im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte zu untersuchen.799 aa) Befund: Genese des § 611a BGB a. F. § 611a BGB a. F. ist durch das „Arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz“ vom 13. August 1980 in das BGB eingefügt800 und zwei Mal nachgebessert worden, um nicht hinter umzusetzenden europäischen Richtlinien zurückzubleiben: erst durch das „Zweite Gleichberechtigungsgesetz“ vom 24. Juni 1994801 und anschließend durch das „Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Arbeits793
S. 3. 794
BR-Plenarprotokoll 82, TOP 21, S. 168 ff.; Beschlussempfehlung in BR-Drs. 329/06,
BT-Plenarprotokoll 16/28, S. 3508 ff. BT-Drs. 16/2022. 796 BT-Plenarprotokoll 16/43, S. 4027 ff. 797 BR-Plenarprotokoll 824, TOP 62, S. 229 ff. 798 R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 42. 799 Vgl. zum Kontinuitätsgedanken und zur historischen Auslegung i. e. S. T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 155 f. 800 BGBl. I 1308. 801 BGBl. I 1406. 795
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gerichtsgesetzes“ vom 29. Juni 1998.802 Die Entwicklung des Normtexts wird in Tabelle 4 dargestellt:803 Tabelle 4 Entwicklung des Normtexts des § 611a BGB a. F. Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz
Abs. 2: „Ist ein Arbeitsverhältnis wegen eines von dem Arbeitgeber zu vertretenden Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 nicht begründet worden, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der Arbeitnehmer dadurch erleidet, daß er darauf vertraut, die Begründung des Arbeitsverhältnisses werde nicht wegen eines solchen Verstoßes unterbleiben. Satz 1 gilt beim beruflichen Aufstieg entsprechend, wenn auf den Aufstieg kein Anspruch besteht.“
Zweites Gleichberechtigungsgesetz
Änd.-Abs. 2: „Hat der Arbeitgeber bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 zu vertreten, so kann der hierdurch benachteiligte Bewerber eine angemessene Entschädigung in Geld in Höhe von höchstens drei Monatsverdiensten verlangen. […]“ Neu-Absatz 3: „Ist ein Arbeitsverhältnis wegen eines vom Arbeitgeber zu vertretenden Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 nicht begründet worden, so besteht kein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses.“ Neu-Absatz 5: „Die Absätze 2 und 4 gelten beim beruflichen Aufstieg entsprechend, wenn auf den Aufstieg kein Anspruch besteht.“
Gesetz zur Änderung des BGB und des ArbGG
Änd.-Abs. 2: „Verstößt der Arbeitgeber gegen das in Absatz 1 geregelte Benachteiligungsverbot bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, so kann der hierdurch benachteiligte Bewerber eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen; ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses besteht nicht.“ Änd.-Abs. 3: Wäre der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden, so hat der Arbeitgeber eine angemessene Entschädigung in Höhe von höchstens drei Monatsverdiensten zu leisten.
Ansprüche auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder auf beruflichen Aufstieg waren also von vornherein ausgeschlossen, zuerst wegen der Beschränkung möglicher Ansprüche auf den Ersatz von Vertrauensschäden und später durch ausdrückliche Ausnahmevorschriften. Anhaltspunkte für die zugrundelie802 803
BGBl. I 1694. Hervorhebungen jeweils d. Verf.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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genden Motive sind über alle drei Gesetzgebungsverfahren verteilt zu finden, aber jeweils ausschließlich in den amtlichen Drucksachen und nicht in den Plenarprotokollen.804 (1) Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz Da Schadensersatzansprüche der Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen in der ersten Fassung des § 611a BGB a. F. (richtlinienwidrig) auf den Ersatz des Vertrauensschadens begrenzt waren, konnte daraus schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen ein „Anspruch auf Abschluß eines Arbeitsvertrags nicht erwachsen“805. Diese Rechtslage betonte die Regierung in ihrem Gesetzentwurf auch für den Fall der unterbliebenen Beförderung: Sofern ein Arbeitnehmer nicht aus anderen Gründen (insbesondere aus Zusagen oder tariflichen Vereinbarungen) einen Anspruch auf beruflichen Aufstieg hat, „kann dieser Anspruch ebenso wenig wie bei der unterbliebenen Einstellung im Wege des Schadensersatzes erwachsen. Für den Fall des individuellen Aufstiegs (Aufstieg auf Grund Auswahl eines einzelnen Arbeitnehmers für eine Beförderungsstelle) hat ein Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Beförderung bzw. höhere Einstufung, es sei denn, ein solcher Anspruch ist arbeits- oder tarifvertraglich vereinbart […]. Auch wenn der Arbeitnehmer alle Voraussetzungen für eine Beförderung im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten erfüllt, hat er […] weder auf Beförderung noch auf entsprechenden Schadensersatz Anspruch. Der Grundsatz der Gleichbehandlung tritt hier gegenüber dem Grundsatz der Vertragsfreiheit zurück. Das in Absatz 1 Satz 1 für diesen Fall vorgesehene Verbot der Diskriminierung ändert daran nichts; es begründet weder einen Anspruch auf die nächste freiwerdende Stelle noch auf Schadensersatz in Höhe der Differenz gegenüber der Vergütung für die höherwertige Tätigkeit. Entsprechend der bisherigen Rechtslage kann daher ein in geschlechtsdiskriminierender Weise beim individuellen Aufstieg übergangener Arbeitnehmer nur Schadensersatz in Höhe des negativen Interesses, also des Vertrauensschadens, verlangen.“806
Da § 611a II BGB a. F. in der Fassung des Regierungsentwurfs verabschiedet worden war, war die amtliche Begründung als konsentierter gesetzgeberischer Wille jedenfalls für diese Vorschrift auslegungsrelevant. (2) Zweites Gleichberechtigungsgesetz Mit dem Zweiten Gleichberechtigungsgesetz wurde § 611a III BGB a. F. aufgenommen, der einen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses ausschloss. Damit entwickelte die Bundesregierung einen Gegenentwurf zu zwei in 804 Dass die Plenarprotokolle keine Hinweise auf die Motive enthalten, hat eine Durchsicht sämtlicher Protokolle der Bundestags- und Bundesratssitzungen ergeben, die auf der Website des Deutschen Bundestags zum AGG, dem arbeitsrechtlichen Anpassungsgesetz, dem Zweiten Gleichberechtigungsgesetz und dem Gesetz zur Änderung des BGB und des ArbGG bereitgestellt sind. 805 Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3317, S. 9. 806 Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3317, S. 9 f.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
der vorigen Legislaturperiode vom Bundestag abgelehnten Entwürfen, die einen Einstellungsanspruch als Sanktion einer Diskriminierung vorsahen.807 Nach der in der amtlichen Begründung dargelegten Auffassung der Bundesregierung war ein Einstellungsanspruch abzulehnen, weil er „mit dem geltenden Arbeitsrecht nicht zu vereinbaren“808 sei und „einen unzulässigen Eingriff in den Grundsatz der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers darstellen würde; er wird auch vom EG-Recht nicht gefordert. Außerdem würde seine Durchsetzung vor allem im Hinblick auf die Rechte des anstelle des diskriminierten Bewerbers eingestellten Arbeitnehmers kaum lösbare Probleme aufwerfen (z. B. Recht auf Versetzung oder Kündigung). Auch dürfte ein über eine erzwungene Einstellung zustande gekommenes Arbeitsverhältnis kaum langfristig Bestand haben.“809
Indem der Bundestag § 611a III, V BGB a. F. in der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Fassung verabschiedete, machte er sich die Regelungsintention der Regierung, so wie sie in der ursprünglichen amtlichen Begründung zum Ausdruck kommt, zu eigen. (3) Gesetz zur Änderung des BGB und des ArbGG In der zweiten Novellierung des § 611a BGB beschränkte sich der Gesetzesentwurf der Bundesregierung darauf, die Regelung, „wonach sich aus einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot bei der Einstellung kein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses herleiten läßt“, innerhalb der Vorschrift zu verschieben.810 In einer Stellungnahme hatte der Bundesrat gerügt, der Entwurf trage den unionsrechtlichen Vorgaben und der gleichstellungspolitischen Zielsetzung nicht hinreichend Rechnung: „Bei dem aktuellen Arbeitsplatzmangel und der bestehenden hohen Arbeitslosigkeit laufen insbesondere Frauen Gefahr, vom Arbeitsmarkt verdrängt zu werden. Diese Gefahr wird durch die Zuerkennung eines Entschädigungsanspruches, der zudem nur bei der bestqualifizierten Person der Höhe nach nicht begrenzt ist, allein nicht gebannt. Vielmehr muß der betroffenen bestqualifizierten Person wahlweise ein Recht auf Naturalrestitution, d. h. ein Anspruch auf Einstellung, oder ein der Höhe nach unbegrenzter Schadensersatzanspruch und den übrigen diskriminierten Bewerberinnen und Bewerbern ein angemessener Scha-
807 Entwurf der Fraktion DIE GRÜNEN, BT-Drs. 11/3266, S. 30 und Entwurf der Fraktion der SPD, BT-Drs. 11/3728, S. 24. 808 Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 44. 809 Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 22. Der Hinweis auf die Rechte der Mitbewerber ist vermutlich als Reaktion auf eine Stellungname des Bundesrats (Anlage 2 zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 62) eingefügt worden (siehe wortgleiche Gegenäußerung der Bundesregierung, Anlage 3 zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 74). 810 Regierungsentwurf, BT-Drs. 13/10242, S. 7.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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densersatz zustehen.“811 Wie schon im vorherigen Gesetzgebungsverfahren lehnte die Bundesregierung „einen Einstellungsanspruch des bestqualifizierten diskriminierten Stellenbewerbers ab. Ein solcher Anspruch hätte zur Folge, daß dem – in gutem Glauben – eingestellten Bewerber gekündigt werden muß, um den Arbeitsplatz für den diskriminierten Stellenbewerber freizumachen. Die vom EuGH geforderte Sanktionswirkung würde folglich nicht den Arbeitgeber, sondern den zunächst eingestellten Stellenbewerber treffen. Die Bundesregierung hält einen solchen Vorschlag für praxisfremd und hat sich deshalb bewußt für eine Entschädigungsregelung entschieden.“812
Auch der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfahl einen Beschluss des Regierungsentwurfes inklusive der unveränderten Fassung von § 611a II BGB813 und lehnte damit gleichzeitig einen Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion ab, der einen Einstellungsanspruch vorsah.814 Mit Annahme des Gesetzesentwurfs in der Fassung der Bundesregierung konsentierten der Bundestag als Plenum und der Ausschuss als Expertengremium wiederum den Regelungswillen der Bundesregierung, wie er in der amtlichen Begründung und der Gegenäußerung zu der Stellungnahme des Bundesrates ausgedrückt wird. bb) Auswertung des Befunds Die § 611a BGB in seinen verschiedenen Fassungen zugrundeliegenden gesetzgeberischen Intentionen sind nicht automatisch auch dem Regelungswillen des AGG-Gesetzgebers zuzurechnen. Die amtliche Begründung zum AGG nimmt nur die letzte Version des § 611a BGB a. F. in Bezug, indem sie auf die § 611a II, V BGB a. F. verweist. Über diesen Verweis können die Vorgängerversionen des § 611a BGB a. F. allerdings wiederum dann zur Auslegung hinzugezogen werden, wenn das Kontinuitätsnarrativ, das der historischen Auslegung zugrunde liegt, so weit zurückwirkt. Neben der ausdrücklich in Bezug genommenen letzten Version des § 611a BGB ist nach diesem Maßstab auch der dem Zweiten Gleichberechtigungsgesetz zugrunde liegende gesetzgeberische Regelungswille beachtlich; der Ausschluss eines Anspruchs auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses wurde nämlich nur innerhalb der Norm verschoben, ohne dass damit eine rechtliche Neubewertung einhergehen sollte. Problematischer ist hingegen die Beurteilung der ersten Version von § 611a BGB a. F.: Dieser Norm lag die Fehlvorstellung des Gesetzgebers zugrunde, Diskriminierungen mit einem Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens unionsrechtskonform zu sanktionieren. Diesem Normverständnis entsprechend 811
S. 10. 812
Stellungnahme des Bundesrats, Anlage 2 zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 13/10242,
Gegenäußerung der Bundesregierung, Anlage 3 zum Regierungsentwurf, BT-Drs- 13/ 10242, S. 1. 813 BT-Drs. 13/10575 unter Hinweis auf Uneinigkeit innerhalb des Ausschusses in Bezug auf einen Einstellungsanspruch, S. 10. 814 Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, BT-Drs. 13/7896.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
musste ein Kontrahierungszwang, der auf den Ersatz des positiven Interesses gerichtet ist, nicht explizit im Gesetz ausgeschlossen werden. § 15 VI AGG hatte in der ersten Version des § 611a BGB a. F. daher kein textuelles Pendant. In diesem Kontext ist auch die Regierungsbegründung zur ersten Fassung des § 611a BGB a. F. zu lesen: Mit dem Argument der vorrangigen Vertragsfreiheit wird nicht nur ein Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses i. S. v. § 15 VI AGG ausgeschlossen, sondern jeder Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses. Da ein Anspruch auf den Ersatz des positiven Interesses aber schon durch das Zweite Gleichstellungsgesetz eingeführt wurde und auch § 15 I AGG zugrunde liegt, hat sich die Rechtslage so stark verändert, dass die Normkontinuität suspendiert ist.815 Die erste Fassung von § 611a BGB und die entsprechenden Materialien sind nicht im Wege einer historischen Auslegung zur Interpretation von § 15 VI AGG heranzuziehen. Im Wege der historischen Auslegung ist also § 611a BGB a. F. in den beiden letzten Fassungen zu berücksichtigen, die wiederum durch eine genetische Betrachtung untersucht wurden. Die Analyse ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens begründen die dem Gesetzgeber zuzurechnenden Äußerungen der Bundesregierung den Ausschluss eines Anspruchs auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses mit der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen sowie den schützenswerten Interessen der anstelle der diskriminierten Bewerber:innen eingestellten Arbeitnehmer:innen und mit der praktischen Erwägung, dass ein über eine erzwungene Einstellung zustande gekommenes Arbeitsverhältnis kaum langfristig Bestand haben würde. Diese gesetzgeberischen Erwägungen werden der teleologischen Betrachtung des § 15 VI AGG zugrunde gelegt. Zweitens hat die Auswertung aller Gesetzgebungsmaterialien ergeben, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die beteiligten Organe über die Behandlung einer Vertragsfortsetzung nachgedacht haben. Im Gegenteil: Die zitierten Passagen sprechen ausdrücklich von Einstellungen und Stellenbewerbern, sie nehmen also vornehmlich die erstmalige Einstellungssituation in Blick, sowie von der Beförderung. Sie erlauben keine darüberhinausgehenden Rückschlüsse. Dass Ansprüche auf Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen sein sollen, ergibt sich nicht ausdrücklich aus den Gesetzgebungsmaterialien. 4. Systematische Auslegung Das Gebot systematischer Auslegung beruht auf einem Ideal der Rechtsordnung als „geordnetes Normengefüge widerspruchsfreier normativer Wertmaßstäbe“.816 Dieser Idee gemäß ist eine einzelne Vorschrift vorzugsweise so zu verstehen, dass Widersprüche zu anderen Normen und den in ihnen kodifizierten Zwecksetzungen 815 Vgl. T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 222; F. Müller/R. Christensen, Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis (2013), S. 371 f. (Rn. 361b). 816 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 460.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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und Gerechtigkeitsvorstellungen vermieden werden, sodass die gesamte Rechtsordnung einheitlich und folgerichtig ist.817 Der Vergleich eines Fortsetzungsanspruchs mit Einstellungs- und Beförderungsansprüchen, die zweifelsfrei von § 15 VI AGG erfasst sind, ist eine normimmanente Wertung, die vorzugsweise als Gesichtspunkt der teleologischen Auslegung zu verstehen ist.818 Normexterne und damit systematische Gesichtspunkte können sich aber aus Regelungen über die diskriminierende Beendigung von Arbeitsverhältnissen ergeben. Die Nichtfortsetzung eines Arbeitsvertrags ist nämlich, wie bereits mehrmals festgestellt wurde, gleichzeitig die Nichtbegründung eines neuen Arbeitsvertrags und die Beendigung des früheren Arbeitsverhältnisses. Aus diesem Grund liegt eine systematische Bezugnahme auf § 2 IV AGG nahe, demzufolge für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten [a)]. Außerdem sind die Rechtsfolgen der diskriminierenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse mit den Rechtsfolgen diskriminierender Befristungsabreden zu vergleichen [b)]. a) Wertungsvergleich mit den Rechtsfolgen diskriminierender Kündigungen gem. § 2 IV AGG Ein unbefangener Blick auf § 2 IV AGG, nach dem für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz gelten, suggeriert, dass diskriminierende Kündigungen nicht per se unwirksam sein sollen, solange sie den Anforderungen des Kündigungsschutzes standhalten. Es drängt sich ein Erst-Recht-Schluss auf: Wenn schon diskriminierende Kündigungen nicht per se unwirksam sind und gekündigte Arbeitnehmer:innen daher unter Umständen nicht weiterbeschäftigt werden müssen, muss dann nicht erst recht ein Anspruch auf Fortsetzung von aus diskriminierenden Gründen nicht fortgesetzten befristeten Arbeitsverhältnissen ausscheiden? Seit Inkrafttreten des AGG ist man sich in der Literatur einig, dass die Regelung in § 2 IVAGG missglückt ist. Kritisiert wird insbesondere der Widerspruch zu § 2 Nr. 2 AGG und damit übereinstimmenden Richtlinienvorgaben,819 wonach Benachteiligungen unzulässig sind in Bezug auf die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. Bemängelt wird ebenfalls eine Schutzabsenkung gegenüber der früheren Rechtslage, nach der Kündigungen aus Gründen des Geschlechts gem. § 611a BGB a. F. und gegenüber Menschen mit Behinderung gem. § 164 II 2 SGB IX a. F. unwirksam waren. Darüber, dass Kündigungen trotz § 2 IV AGG anhand des AGG kontrolliert werden müssen, ist man sich aus diesen Gründen einig. Wie aber die
817 818 819
EG.
R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 36, 44. Siehe dazu unten 6. Kap. C. II. 5. a) cc). Art. 3 I lit. c RL 2000/43/EG; Art. 3 I lit. c RL 2000/78/EG; Art. 14 I lit. c RL 2006/54/
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gesetzgeberische „Fehlentscheidung“820 zu korrigieren und die Unwirksamkeit diskriminierender Kündigungen zu erreichen ist, ist umstritten. Teile der Literatur halten § 2 IV AGG für unionsrechtswidrig und insgesamt unanwendbar,821 andere Stimmen befürworten eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts.822 Das BAG hat den Streit mit zwei Urteilen zu diskriminierenden Kündigungen innerhalb und außerhalb des KSchG in den Jahren 2008823 bzw. 2013824 jedenfalls für die Praxis beigelegt: § 2 IVAGG sei unionsrechtskonform auszulegen, da die Vorschrift nur eine Verzahnung des AGG mit dem Kündigungsrecht bezwecke.825 Vermieden werden sollte ein doppelter Kündigungsschutz. Die Diskriminierungsverbote seien daher bei Kündigungen innerhalb des KSchG bei der Auslegung des Rechtsbegriffs der Sozialwidrigkeit zu berücksichtigen.826 Bei Kündigungen außerhalb des KSchG bestehe gar kein Konflikt zwischen zwei Kündigungssystemen, da für diese Kündigungen von vornherein kein eigenes Schutzsystem bestehe, sondern nur eine Negativliste bestehend aus Diskriminierung, Sittenwidrigkeit und Treuwidrigkeit, die unproblematisch durch das AGG ergänzt werden könne.827 In der Konsequenz erfasse § 2 IV AGG keine Kündigungen außerhalb des KSchG, und da das AGG den Generalklauseln vorgehe, seien diskriminierende Kündigungen in der Wartezeit und im Kleinbetrieb gem. § 134 BGB i. V. m. §§ 7 I 1, 3 AGG unwirksam.828 Im Ergebnis ist man sich also darüber einig, dass diskriminierende Kündigungen unwirksam sind und die unwirksam gekündigten Arbeitsverhältnisse fortbestehen.829 Mit den Worten des BAG kann „ange-
820
APS/U. Preis, Grundlagen: J. Rn. 71a. Z. B. Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 2 AGG Rn. 296; M. Körner, NZA 2008, 497, 500; A. Sagan, NZA 2006, 1257, 1259. 822 Z. B. BeckOGK/A. Baumgärtner, § 2 AGG Rn. 80; MüHa ArbR/H. Oetker, § 16 Rn. 59 f.; APS/U. Preis, Grundlagen: J. Rn. 71g; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 27; H. J. Willemsen/U. Schweibert, NJW 2006, 2583, 2584 f. 823 BAG, Urt. v. 6. 11. 2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361. 824 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372. 825 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 375 (Rn. 30); BAG, Urt. v. 6. 11. 2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361, 364 (Rn. 39). 826 BAG, Urt. v. 6. 11. 2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361, 364 f. (Rn. 34 ff.); bestätigt für eine Berücksichtigung des Alters bei einer Sozialauswahl durch BAG, Urt. v. 15. 12. 2011 – 2 AZR 41/10, NZA 2012, 1044, 1048 f. (Rn. 47 ff.); und für die Berücksichtigung einer Behinderung bei krankheitsbedingter Kündigung durch BAG, Urt. v. 20. 11. 2014 – 2 AZR 664/13, NZA 2015, 931, 937 (Rn. 57 ff.). 827 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 375 (Rn. 31). 828 BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 374 (Rn. 14, 22); zustimmend BeckOGK/A. Baumgärtner, § 2 AGG Rn. 85; MüHa ArbR/H. Oetker, § 16 Rn. 59 f.; ErfK/M. Schlachter, § 2 AGG Rn. 17; KR/J. Treber, § 2 AGG Rn. 15; a. A. für eine Berücksichtigung der Diskriminierungsverbote innerhalb der §§ 138, 242 BGB: DHSW/V. Braun, § 2 AGG Rn. 15; S. Kamanabrou, RdA 2007, 199, 201 ff.; APS/U. Preis, Grundlagen: J. Rn. 71g. 829 So ausdrücklich BAG, Urt. v. 23. 7. 2015 – 6 AZR 457/14, NZA 2015, 1380, 1381 (Rn. 22). 821
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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nommen werden, die Unwirksamkeit der Kündigung sei eine Naturalrestitution i. S. d. § 15 I AGG.“830 Aus § 2 IV AGG lässt sich also nicht ableiten, dass Ansprüche auf Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse erst recht ausscheiden müssen. Umgekehrt können aus der Tatsache, dass ein Arbeitsverhältnis nach einer diskriminierenden Kündigung fortbesteht, aber auch keine Schlüsse für die Existenz von Fortsetzungsansprüchen gezogen werden. Die Sachverhalte sind insofern nämlich nicht vergleichbar: Während ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gem. § 620 II BGB durch eine Kündigung als Gestaltungsrecht beendet wird, endet ein befristetes Arbeitsverhältnis automatisch mit Fristablauf (vgl. § 620 I, III BGB, § 15 TzBfG). In beiden Fällen dürfen Arbeitgeber:innen gem. § 7 I AGG zwar nicht diskriminieren, im unbefristeten Arbeitsverhältnis gibt es mit der Kündigung aber ein Gestaltungsrecht, dessen Wirksamkeit geprüft und dessen Rechtsfolgen versagt werden können. Dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht, ordnet das AGG nicht gesondert an, sondern folgt ipso iure aus der Unwirksamkeit dieses Rechtsgeschäfts. Die Tatsache, dass Arbeitgeber:innen bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse kein Gestaltungsrecht ausüben, dessen Wirksamkeit überprüft werden kann, ist nicht willkürlich, sondern das Ergebnis des gesetzgeberischen Regelungskonzepts, mit dem TzBfG einen zum unbefristeten Arbeitsverhältnis alternativen Vertragsmechanismus zur Verfügung zu stellen. Würden die Rechtsfolgen einer diskriminierenden Kündigung und einer Nichtfortsetzung unterschiedlich behandelt, wäre dies kein systematischer Bruch.831 b) Wertungsvergleich mit der diskriminierenden Befristungsabrede Ist bereits eine Befristungsabrede selbst diskriminierend – wird ein Arbeitsverhältnis beispielsweise im Hinblick auf eine anstehende Schwangerschaft oder ein fortgeschrittenes Lebensalter überhaupt oder kürzer befristet – ist sie unwirksam gem. § 7 II AGG. Die Rechtsfolge der unwirksamen Befristung ergibt sich aus § 16 S. 1 TzBfG: Der befristete Arbeitsvertrag gilt als auf unbestimmte Zeit geschlossen.832 § 15 VI AGG steht dieser Entfristung nach einhelliger Ansicht nicht entgegen.833 Um vermeintliche Wertungswidersprüche mit dieser Rechtslage zu vermeiden, befürworten es einige Autoren, § 15 VI AGG nicht auf die Fortsetzung eines 830
BAG, Urt. v. 19. 12. 2013 – 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 376 (Rn. 38). Die eigentliche Frage ist, ob nicht die gleichen (verfassungsrechtlichen) Wertungen, die hinter dem Bestandsschutz im unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen, nicht auch einen Fortsetzungsanspruch im befristeten Arbeitsverhältnis fordern. Damit ist aber nicht der systematische Vergleich verschiedener Regelungen im einfachen Recht angesprochen, sondern das vertikale Verhältnis zu Art. 12 GG. Dazu unten 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (cc) (b). 832 Wohl herrschende Ansicht; a. A. nur F. Hartmann, in: FS von Hoyningen-Huene (2014), Altersdiskriminierende Befristungsdauer bei Arbeitsverträgen, S. 123, 129 ff., der aber über § 15 I AGG einen Anspruch auf eine diskriminierungsfrei bemessene Vertragslaufzeit annimmt. 833 BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970, 973 (Rn. 34) mit Zustimmung aus der Kommentarliteratur, z. B. ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 21; Staudinger/S. Serr, § 15 AGG Rn. 73; MüKo BGB/G. Thüsing, § 7 AGG Rn. 13. 831
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
befristeten Arbeitsverhältnisses anzuwenden:834 Unterschiedlich sei in den beiden Fällen „nur der Weg zu dem gleichen Ziel.“835 Voraussetzung für eine solche systematische Argumentation ist, dass die in § 15 VI AGG und in § 7 II AGG i. V. m. § 16 S. 1 TzBfG kodifizierten Fallgruppen tatsächlich so vergleichbar sind, dass unterschiedliche Rechtsfolgen – die Annahme einer Entfristungsfiktion bei gleichzeitiger Ablehnung von Fortsetzungsansprüchen – ein systematischer Bruch sind. Dagegen spricht, dass mit der Kontrolle einer Befristungsabrede ein eigener Schutzzweck verfolgt wird: Der Gesetzgeber hat mit dem Befristungsrecht in §§ 14 ff. TzBfG einen Ausgleich zwischen der Vertragsbeendigungsfreiheit der Arbeitgeber:innen und den Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen geschaffen. Während die grundrechtlich gewährleisteten Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen im unbefristeten Arbeitsverhältnis durch die rechtlichen Anforderungen an eine Kündigung geschützt werden, hat der Gesetzgeber seinen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag im Befristungsrecht dadurch verwirklicht, dass die Interessen der Arbeitgeber:innen an einer nur vorübergehenden Beschäftigung schon bei Vertragsschluss die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen überwiegen müssen.836 Wird das Arbeitsverhältnis aber wegen eines Merkmals in § 1 AGG befristet abgeschlossen, ist der Befristungsgrund weder sachlich i. S. v. § 14 I TzBfG noch nehmen Arbeitgeber:innen die mit § 14 II TzBfG bezweckte Möglichkeit wahr, auf wechselnde Marktbedingungen, unsteten Personalbedarf und Branchenbesonderheiten zu reagieren und eine „Brücke zur Dauerbeschäftigung“ zu bauen.837 Ist eine diskriminierende Befristungsabrede unwirksam gem. § 7 II AGG, fehlen also bereits Arbeitgeberinteressen, die eine zeitliche Begrenzung des Bestandsschutzes überhaupt rechtfertigen könnten. Es ist folgerichtig, dass der Befristungsabrede als Beendigungstatbestand des Arbeitsverhältnisses die Wirksamkeit abgesprochen wird und sich gem. § 16 S. 1 TzBfG die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen durchsetzen. Indem § 7 II AGG auch Befristungsabreden erfasst, werden also die Anforderungen an eine wirksame Vertragsbeendigung nach dem TzBfG konkretisiert.838 War die Befristungsabrede wirksam, schützt das TzBfG Arbeitnehmer:innen vor Verlust des Arbeitsplatzes nur bis zum Fristende. Eine unterschiedliche Behandlung 834
Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 7 AGG Rn. 328; DHSW/C. Tillmanns, § 15 TzBfG Rn. 17; R. Wank, Anmerkung zu BAG AP § 22 AGG Nr. 6; ihm zustimmend W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245, 256; J. Sievers, TzBfG (2021), § 14 TzBfG Rn. 85; zweifelnd Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 15 AGG, 98. 835 J. Sievers, TzBfG (2021), § 14 TzBfG Rn. 85. 836 Dazu schon ausführlich oben 1. Kap. D. I. 2. a). 837 Zu diesen Gesetzeszielen siehe oben 1. Kap. D. I. 2. b). 838 Parallele Wertungen liegen auch anderen Beendigungstatbeständen zugrunde: Eine diskriminierende Kündigung ist unwirksam und kann daher ein Arbeitsverhältnis nicht beenden (vgl. BAG, Urt. v. 6. 11. 2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361, 363, Rn. 28); ähnliches gilt für eine diskriminierende Nichtverlängerungsanzeige in der Bühnenbranche (BAG, Urt. v. 20. 3. 2019 – 7 AZR 237/17, NZA 2019, 1492, 1497, Rn. 40).
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der Befristungsabrede und der Fortsetzungsentscheidung ist nach der Systematik des TzBfG – Gewährung von Bestandsschutz durch eine anfängliche Kontrolle der Befristungsabrede – gerechtfertigt. Es sind insofern keine Wertungswidersprüche zu vermeiden.839 c) Ergebnis: Uneindeutigkeit der systematischen Auslegung Sowohl diskriminierende Kündigungen als auch Befristungsabreden sind unwirksam; unwirksam beendete Arbeitsverhältnisse bestehen fort. Diese Erkenntnis erlaubt jedoch keine Rückschlüsse auf die Behandlung der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen nach Fristende, da es sich dabei nicht um einen Beendigungstatbestand handelt, der Arbeitnehmer:innen einen nach dem KSchG oder TzBfG begründeten Bestandsschutz entzieht. Weder die Anerkennung noch der Ausschluss eines Fortsetzungsanspruchs würde daher zu systematischen Brüchen führen, die durch eine systematische Auslegung zu vermeiden wären. 5. Teleologische Auslegung Es ist schließlich zu untersuchen, ob Fortsetzungsansprüche nach dem Telos des § 15 VI AGG von der Vorschrift umfasst sein müssen. Die historisch-genetische Analyse von § 15 VI AGG hat ergeben, dass der Gesetzgeber einen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg aus drei Gründen ausschließt: um einen unzulässigen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen zu verhindern [a)], da ein Kontrahierungszwang kaum lösbare Probleme im Hinblick auf die Rechte des anstelle der diskriminierten Person eingestellten Mitbewerbers aufwerfen [b)] und ein erzwungenes Arbeitsverhältnis kaum langfristig Bestand haben würde [c)]. Die Verwirklichung dieser rationes legis ist das Ziel der (teleologischen) Auslegung.840 a) Erste ratio legis: Verhinderung unzulässiger Eingriffe in die Vertragsfreiheit Da ein Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg nach der Regelungsintention des Gesetzgebers abzulehnen ist, 839
So auch Staudinger/S. Serr, § 15 AGG Rn. 73; R. Strecker, RdA 2009, 381, 385. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 73) m. w. N. Es ist hier keine Auseinandersetzung mit dem Streit um eine subjektive oder objektive Auslegung erforderlich, da es keine Anhaltspunkte für ein Auseinanderfallen der beiden Lesarten gibt: Es fallen weder der in den Materialien dokumentierte Regelungswille und der Wortlaut der Norm auseinander, noch ist das Gesetz bereits derart gealtert, dass es an die Anforderungen der heutigen Zeit anzupassen wäre, noch ist § 15 VI AGG ein „objektiver“ Gesetzeszweck beizumessen, der in den Materialien keinen Ausdruck gefunden hat. Vgl. zu diesen Problemfeldern des Theorienstreits B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 450 ff., 488 ff.; R. Wank, Juristische Methodenlehre (2020), S. 157 ff. 840
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weil er „einen unzulässigen Eingriff in den Grundsatz der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers darstellen würde“,841 ist die Kernfrage der teleologischen Auslegung, ob auch ein Fortsetzungsanspruch ein unzulässiger Eingriff in den Grundsatz der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers im Sinne der Gesetzesbegründung ist. aa) Prüfungsmaßstab: Einfallstor für die Berücksichtigung von Verfassungsvorgaben? Die Vertragsfreiheit ist nicht nur ein Grundprinzip des Privatrechts, sondern auch verfassungsrechtlich geschützt. Mit der Formulierung, § 15 VI AGG solle einen „unzulässigen Eingriff in die Vertragsfreiheit“ ausschließen, verwendet der Gesetzgeber Begrifflichkeiten aus der Grundrechtsdogmatik. Es liegt daher nahe, den Gesetzeszweck so zu verstehen, dass nicht gerechtfertigte Eingriffe in die von Art. 12 GG gewährleistete Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen verhindert werden sollen. Die teleologische Auslegung eröffnet Raum für eine argumentative Berücksichtigung grundrechtlicher Wertungen. Fraglich ist, welcher Maßstab an die Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Fortsetzungsansprüchen anzulegen ist. Es kommen zwei Anknüpfungspunkte in Betracht: die Grundrechtsbindung der Gerichte bei der Auslegung privatrechtlicher Normen und die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers bei Erlass dieser Normen. (1) Originäre Bindung der Gerichte an die Grundrechte: Verfassungskonforme und -orientierte Auslegung Da die Gerichte unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind (Art. 1 III GG), müssen sie jede Vorschrift des einfachen Rechts auch unter Beachtung der Verfassung interpretieren und anwenden.842 Neben der Befugnis zur verfassungskonformen Auslegung, durch die bereits gefundene Auslegungsergebnisse anhand der Verfassungsvorgaben kontrolliert werden und ein verfassungswidriges Ergebnis verworfen werden muss,843 ist anerkannt, dass auch schon bei der Auslegung der Norm nach dem Kanon diejenige Auslegung (unter mehreren verfassungskonformen) vorzugswürdig ist, „die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht und die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt. Der Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Normen ist nicht auf Generalklauseln beschränkt, sondern erstreckt 841
BT-Drs. 12/5468, S. 44, 22. Für die mittlerweile herrschende Ansicht ausführlich C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 23 ff.; jüngst R. Singer, in: FS Windbichler (2020), Grundrechte im Privatrecht: Eingriffsverbote, Schutzgebote und Teilhaberechte, S. 139, 143. 843 Dazu BVerfG, Beschl. v. 22. 3. 2018 – 2 BvR 780/16, NJW 2018, 1935, 1950 (Rn. 150); C. Herresthal, JuS 2014, 289, 295 f.; C. Höpfner, RdA 2018, 321, 329; T. Möllers, in: FS Vedder (2017), Die Trias von verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung sowie der verfassungskonformen Rechtsfortbildung, S. 721. 842
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sich auf alle auslegungsfähigen und -bedürftigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften.“844 Wirkt sich eine Vorschrift beschränkend auf eine grundrechtlich geschützte Tätigkeit aus, müssen die Gerichte im Rahmen auslegungsfähiger Tatbestandsmerkmale eine Abwägung zwischen den grundrechtlichen Belangen einerseits und dem gesetzlich geschützten Rechtsgut andererseits vornehmen.845 In der Sache geht es dabei darum, die vom BVerfG in der „Lüth-Entscheidung“ etablierte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ins Privatrecht846 nicht nur durch Generalklauseln zu verwirklichen, sondern auch bei der Auslegung anderer interpretationsoffener Normen. In der Literatur wird dafür häufig der Begriff der verfassungsorientierten Auslegung genutzt.847 Die argumentative Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte aufs Privatrecht spricht dafür, das Auslegungsergebnis zu wählen, das die verfassungsrechtlichen Wertungen am besten berücksichtigt.848 Dieses Argument ist aber nicht unüberwindbar, sondern mit den anderen Auslegungskriterien abzuwiegen.849 Es ist außerdem begrenzt durch das Ziel der Auslegung, die gesetzgeberische und im 844 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 3432 (Rn. 86) m. w. N. 845 BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 1996 – 1 BvR 1183/90, NZA 1997, 158, 159 f. 846 St. Rspr. seit BVerfG, Urt. v. 15. 1. 1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257: Das Grundgesetz beeinflusst als „Wertsystem“ auch „das bürgerliche Recht; keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden. Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften.“ Aus jüngerer Zeit: BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, 1668 Rn. 32; BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 305 f. (Rn. 76). Die dogmatische Konzeption der „mittelbaren Drittwirkung“ wird in der Literatur bisweilen kritisiert: Insbesondere C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 30 ff. und J. Neuner, NJW 2020, 1851, 1853 f. weisen darauf hin, dass sich die Probleme der mittelbaren Drittwirkung mit denselben Ergebnissen, aber einer dogmatisch überzeugenderen Herleitung über die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte und die Schutzpflichtenlehre lösen lassen. Auf eine Stellungnahme wird hier verzichtet, da sich die Problematik der Grundrechtskollision zwischen Privaten hier in dem unproblematischen Gewand stellt, dass der Gesetzgeber verhindern will, mit einer Norm in Grundrechte einzugreifen. Es geht hier also nicht um eine verfassungsrechtliche Kontrolle von Privatrechtsakten, sondern der Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Gesetzgebung (vgl. Art. 1 III GG). 847 H. Dreier, Verw 36 (2003), 105, 111 f. (Fn. 43); S. Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 448; T. Möllers, in: FS Vedder (2017), Die Trias von verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung sowie der verfassungskonformen Rechtsfortbildung, S. 721, 729; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177, 180; R. Wank, Juristische Methodenlehre (2020), S. 277; R. Wendt, in: FS Würtenberger (2013), Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 123, 128. 848 H. Dreier, Verw 36 (2003), 105, 112; C. Herresthal, JuS 2014, 289, 296; T. Möllers, in: FS Vedder (2017), Die Trias von verfassungsorientierter und verfassungskonformer Auslegung sowie der verfassungskonformen Rechtsfortbildung, S. 721, 727 ff.; ders., Juristische Methodenlehre (2020), S. 398 f.; R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (2017), S. 61; R. Wendt, in: FS Würtenberger (2013), Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 123, 130. 849 H. Kudlich, JZ 2003, 127, 129 f.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Gesetz manifestierte Grundentscheidung zu verwirklichen.850 Nur in diesem Rahmen können sich verfassungsrechtliche Vorgaben argumentativ durchsetzen; das gebietet der Grundsatz der Gewaltenteilung gem. Art. 20 II 2 GG.851 Die Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen darf „nicht dazu führen, dass das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird. Einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz darf nicht im Weg der Auslegung ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.“852 Das bedeutet: Nur soweit sich die Wertung der Verfassung unter Beachtung des Gesetzeszwecks realisieren lässt, ist das praktisch konkordanteste Ergebnis zu wählen.853 (2) Grundrechtsbindung und -gewichtung des Gesetzgebers als Maßstab der Auslegung Die Besonderheit bei der Auslegung von § 15 VI AGG ist, dass der erklärte Gesetzeszweck, dessen Grenzen eine verfassungsorientierte Auslegung wahren muss, selbst auf die Wahrung verfassungsrechtlicher Vorgaben abzielt. Auch der Gesetzgeber ist bei dem Erlass privatrechtlicher Normen gem. Art. 1 III GG an die Grundrechte gebunden.854 Hinter § 15 VI AGG steht die Erwägung, dass der Gesetzgeber mit dem Benachteiligungsverbot im AGG zwar in zulässiger Weise in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingegriffen hat, aber eine nach dem Zweck und der Systematik des AGG konsequente Naturalrestitution nach § 15 I AGG und analog § 1004 BGB855 die Grenze der Zulässigkeit übertreten würde und daher ausgeschlossen werden muss. Für die Auslegung von § 15 VI AGG kommt es also in erster Linie darauf an, an welchen verfassungsrechtlichen Maßstäben sich der Ge850 Vgl. auch BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255, 258 (Rn. 29): Die Gerichte „müssen die im Gesetz zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachvollziehen, die die konkurrierenden Grundrechte der verschiedenen Grundrechtsträger beachtet“ [Hervorheb. d. Verf.]. 851 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 75). 852 BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255, 258 (Rn. 29); ähnlich BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 909 (Rn. 28). 853 R. Wank, Juristische Methodenlehre (2020), S. 256 f.; R. Wendt, in: FS Würtenberger (2013), Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung, S. 123, 130: Bei der verfassungsorientierten Auslegung werden „bestimmte Normverständnisse deswegen ausgeschieden, weil im Vergleich zu ihnen ein verfassungsnäheres Normverständnis möglich und geboten ist; die verworfenen Norminhalte könnten aber durchaus möglicher Gegenstand einer gesetzlichen Regelung sein, wenn der Gesetzgeber dies wollte und sich ausdrücklich und unmissverständlich zu ihnen bekenne.“ 854 Zu der früher umstrittenen Frage, inwiefern der Gesetzgeber bei der Setzung privatrechtlicher Normen an die Grundrechte gebunden ist, siehe ausführlich C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 11 ff. 855 Dazu bereits ausführlich oben 6. Kap. B. IV. 2. a) aa).
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setzgeber bei Erlass des § 15 VI AGG orientiert hat.856 Maßstab der teleologischen Auslegung ist damit in erster Linie die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers und nicht diejenige der Gerichte. Die vom BVerfG entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die zivilrechtliche – und damit auch arbeitsrechtliche – Gesetzgebung bilden ab, dass der Gesetzgeber auf diesen Gebieten nicht einseitig in Grundrechte Privater eingreift, sondern eine verbindliche Lösung für die Interessenkonflikte gleichgeordneter Rechtssubjekte schaffen muss.857 Bei „privatrechtlichen Regelungen, die der freien Vertragsgestaltung Grenzen setzen […] handelt es sich nicht um einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater, sondern um einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind […] in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und – unter Berücksichtigung des sozialstaatlichen Auftrags – nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Entsprechend kann die hierbei vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung und Abwägung nicht allein aus der Perspektive eines einzelnen Grundrechts vorgenommen werden, sondern hat sich auf den Ausgleich zwischen gleichberechtigten Grundrechtsträgern zu beziehen. […] Für die Herstellung eines solchen Ausgleichs verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum. Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen liegt in seiner politischen Verantwortung, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkungen seiner Regelung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, d. h. die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, jenseits allgemein-zivilrechtlicher Generalklauseln spezielle Schutzmechanismen einzuführen, auch wenn er hierzu nicht aufgrund des Eingreifens grundrechtlicher Schutzpflichten angehalten sein mag […]. Eine Grundrechtsverletzung kann in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann.“858
Beim Erlass privatrechtlicher Regelungen hat der Gesetzgeber einerseits die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte zu beachten, in die er nicht übermäßig eingreifen darf, und andererseits das Untermaßverbot grundrechtlicher Schutz856 Vgl. T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 116 f.: Der in den Materialien geäußerte „Konformitätswille“ des Gesetzgebers enthält eine eigenständige Auslegung der verfassungsrechtlichen Vorgaben, da diese Vorgaben die notwendige Bedingung für die Wertung ist, dass das zu verabschiedende Gesetz verfassungskonform ist. 857 Zu dieser Hauptaufgabe privatrechtlicher Gesetzgebung BVerfG, Beschl. v. 19. 4. 2005 – 1 BvR 1644/00 u. a., NJW 2005, 1561, 1564. 858 BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 2013 – 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 (Rn. 68 ff.); ähnlich BVerfG, Urt. v. 31. 5. 2016 – 1 BvR 1585/13, NJW 2016, 2247, 2248 (Rn. 70 f.); BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 39; BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
pflichten. Sowohl bei der Wahl der Maßnahmen zur Erfüllung des Schutzauftrags als auch der Rechtfertigung von Eingriffsmaßnahmen hat er aber nach den oben dargestellten Grundsätzen einen weiten Gestaltungsspielraum: Erst wenn von einem angemessenen Ausgleich der Grundrechtspositionen nicht mehr gesprochen werden kann, verlässt der Gesetzgeber die Grenzen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Dazwischen bewegt er sich in einer „Gestaltungsschicht“, in der er frei ist, „private Rechtsverhältnisse zulasten der einen oder anderen Seite auszugestalten oder es aber nicht zu tun, und damit diesen Bereich vollständig privatautonomer Regelung zu überlassen.“859 Auch bei dem Ausschluss eines Kontrahierungszwangs gem. § 15 VI AGG hat der Gesetzgeber nach diesen Maßstäben ein Regelungsermessen, da die Rechtsfolgen verbotener Benachteiligungen im AGG nicht durch die europäischen Richtlinien determiniert sind und der Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung des Privatrechts auch die Verfolgung berufs-, arbeits- und sozialpolitischer Ziele umfasst.860 Dieser Befund wirft die Frage auf, was der Gesetzgeber beabsichtigt, wenn er mit dem Ausschluss eines Kontrahierungszwangs „unzulässige Eingriffe“ in die Vertragsfreiheit vermeiden möchte. Es kommen zwei Deutungen dieser ratio legis in Betracht: Nach dem Wortlaut der Gesetzesbegründung ist es erstens möglich, dass der Gesetzgeber bezweckt hat, einen verfassungswidrigen Eingriff in die Vertragsfreiheit zu verhindern, da ein Kontrahierungszwang nach den oben dargestellten Grundsätzen den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum zulasten der Arbeitgeber:innen übertreten würde. Die ratio legis wäre also, verfassungswidrige Rechtsfolgen zu vermeiden; für eine teleologische Bewertung von Fortsetzungsanspruchs käme es (nur) darauf an, ob sie verfassungskonform oder -widrig wären. Zweitens könnte man die Gesetzesmaterialien so verstehen, dass der Gesetzgeber innerhalb seines verfassungsrechtlich erlaubten Gestaltungsspielraums eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen vorgenommen hat, die zugunsten der Vertragsfreiheit ausgefallen ist. Die jedenfalls von § 15 VI AGG erfassten „Ansprüche auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses, Berufsausbildungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg“ wären danach zwar nicht verfassungswidrig, aber insofern „unzulässig“, als sie nach der gesetzgeberischen Wertung nicht durch ausreichend gewichtige Schutzbelange gerechtfertigt sind. Nach dieser Auffassung käme es für die teleologische Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen nicht darauf an, ob sie in verfassungswidriger Weise in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen würden. Es käme stattdessen darauf an, ob Fortsetzungsansprüche praktische Konkordanz zwischen den Grundrechtspositionen herstellen würden. Da die mit § 15 VI AGG getroffene Interessengewichtung und -abwägung des Gesetzgebers zu be859
T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2020), S. 387. Allgemeine Ansicht, z. B. BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 909 (Rn. 33) m. w. N. 860
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rücksichtigen ist, ist entscheidend, ob gewichtige Unterschiede zwischen Fortsetzungsansprüchen und den Ansprüchen auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses, Berufsausbildungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg nach § 15 VI AGG bestehen, die eine Abweichung von § 15 VI AGG rechtfertigen. Der Maßstab der teleologischen Auslegung von § 15 VI AGG variiert also je nach Lesart der Gesetzesmaterialien. Es sprechen keine offensichtlichen Gründe für das eine oder andere Verständnis, da die relevanten Passagen in den Materialien zu kurz und oberflächlich sind. Der einzige Anhaltspunkt ist die Prämisse, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Kompetenzen selbst kennt und seinem Handeln zugrunde legt. Dass der Gesetzgeber verfassungswidrige Eingriffe in die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen vermeiden wollte, kann danach nur angenommen werden, wenn die von § 15 VI AGG zweifelsfrei erfassten Ansprüche tatsächlich verfassungswidrig wären. Ansonsten ist der teleologischen Auslegung die zweite vorgeschlagene Deutung zugrunde zu legen. (3) Konsequenzen für die teleologische Auslegung Das Ziel der teleologischen Auslegung ist, zu ermitteln, ob ein Fortsetzungsanspruch ein „unzulässiger Eingriff in die Vertragsfreiheit“ der Arbeitgeber:innen im Sinne der Gesetzesbegründung ist. Der Maßstab für diese verfassungsrechtlichen Beurteilung ist die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, der er mit § 15 VI AGG Rechnung tragen wollte. Da der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Privatrechts einen weiten Gestaltungsspielraum hat, ist unklar, ob er mit § 15 VI AGG nur verfassungswidrige Ergebnisse ausschließen wollte oder auch ein politisches Regelungsermessen ausgeübt hat. Da die teleologische Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen von dieser Weichenstellung abhängt, wird in einem ersten Schritt geprüft, ob die zweifelsfrei von § 15 VI AGG erfassten Ansprüche in verfassungswidriger Weise in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen würden. Ansprüche auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses und Berufsausübungsverhältnisses werden im Folgenden verkürzt als „Einstellungsansprüche“ zusammengefasst; für die Ansprüche auf einen beruflichen Aufstieg wird das geläufigere Wort des „Beförderungsanspruchs“ verwendet.861 Der mit Einstellungsund Beförderungsansprüchen einhergehende Grundrechtseingriff wird dargestellt und die Möglichkeit seiner Rechtfertigung unter Berücksichtigung des legislativen Gestaltungsspielraums untersucht [bb)]. Es wird sich herausstellen, dass Einstellungs- und Beförderungsansprüche nicht in verfassungswidriger Weise in die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen eingreifen und der Gesetzgeber mit § 15 VI AGG ein politisches Regelungsermessen 861
Ein „beruflicher Aufstieg“ i. S. v. § 15 VI AGG bezeichnet nämlich eine vertragliche Veränderung des Tätigkeits- oder Verantwortungsbereichs von Arbeitnehmer:innen, die ihren Status in der beruflichen Rangordnung verbessert (BeckOGK/A. Baumgärtner, § 2 AGG Rn. 32; ErfK/M. Schlachter, § 2 AGG Rn. 7), also das, was gemeinhin als „Beförderung“ bezeichnet wird.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
ausgeübt hat. Ausgehend von dieser Prämisse hängt die „Zulässigkeit“ von Fortsetzungsansprüchen nicht davon ab, ob sie verfassungskonform sind. Stattdessen ist die gesetzgeberische Abwägung nachzuvollziehen, dass die Arbeitnehmerinteressen jedenfalls für die Fälle der erstmaligen Einstellung und der Beförderung keinen Eingriff in die Vertragsfreiheit durch einen Kontrahierungszwang rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat die widerstreitenden Interessen der betroffenen Privatrechtssubjekte – der Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen – innerhalb des Gestaltungsspielraums austariert und das Abwägungsergebnis in § 15 VI AGG normiert; diese Abwägung ist auch für die Normauslegung in Zweifelsfällen verbindlich. Nur wenn sich Fortsetzungsansprüche in wesentlichen Abwägungsfaktoren von Einstellungsund Beförderungsansprüchen unterscheiden, kann die gesetzgeberische Interessenbewertung als nicht abschließend beurteilt werden und die Reichweite von § 15 VI AGG bleibt unklar [cc)].862 Sollten auch die anderen Gesetzeszwecke kein eindeutiges Ergebnis zeigen [b) und c)], ist Raum für eine eigenständige Abwägung durch die Gerichte im Wege einer verfassungsorientierten Auslegung [6.]. bb) Annäherung an die ratio legis: Verfassungsrechtliche Beurteilung von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen (1) Einstellungs- und Beförderungsansprüche als Grundrechtseingriffe (a) Schutz der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen gem. Art. 12 I GG Die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen ist als Teil ihrer unternehmerischen Freiheit eine gem. Art. 12 GG geschützte Berufsausübung.863 Insofern verdrängt Art. 12 I GG als lex specialis den allgemeinen Schutz privatautonomer Entscheidungen gem. Art. 2 I GG.864 Arbeitgeber:innen setzen Arbeitnehmer:innen ein, um mit Hilfe ihrer Arbeitskraft in einem arbeitsteiligen Prozess bestimmte unternehmerische Ziele zu realisieren. Arbeitnehmer:innen werden dafür für einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum in unternehmerische Strukturen eingebunden; sie schulden regelmäßig nicht nur die Erbringung einer spezifischen Leistung, sondern als Person ein Gesamtverhalten, das neben dem Zusammenwirken mit Arbeitgeber:innen und anderen Arbeitnehmer:innen auch die Pflicht beinhaltet, die Interessen der Arbeitgeber:innen zu wahren.865 Ein Arbeitsverhältnis hat einen personalen Charakter.866 Da der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens „weitgehend von der 862
R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 59 ff. bezeichnet das Vorgehen, einen zweifelhaften Anwendungsfall einer Norm mit den jedenfalls erfassten Fällen zu vergleichen, als „typisierenden Fallvergleich“. 863 Siehe schon oben 1. Kap. B. II. 1. 864 Siehe die Nachweise in 1. Kap. Fn. 21. 865 G. Wiese, ZfA 1996, 439, 461 f. 866 C. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit (2000), S. 492; U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 129; M. Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz (2018), S. 82; vgl. auch BAG, Urt. v. 7. 9. 1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637, 638: Im
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Qualität der Belegschaft und dem Frieden im Betrieb ab[hängt]“,867 beeinflussen Arbeitgeber:innen mit der Auswahl ihrer Arbeitnehmer:innen die Verwirklichung ihrer unternehmerischen Ziele.868 Das gilt tendenziell insbesondere in kleinen Unternehmen, die auf die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer:innen und Persönlichkeitsmerkmale, „die für die Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind“, angewiesen sind.869 Die erstmalige Begründung von Arbeits- und Berufsausbildungsverhältnissen sowie die Beförderung von Arbeitnehmer:innen liegen daher grundsätzlich – mit Ausnahme spezialgesetzlicher Abschluss- und Übernahmegebote870 und individual- oder tarifvertraglicher Aufstiegsregelungen – im durch Art. 12 I GG geschützten Belieben von Arbeitgeber:innen. (b) Eingriffswirkungen der Einstellungs- und Beförderungsansprüche Die Freiheit, bei einer Personalentscheidung an jedes beliebige Kriterium anzuknüpfen, ist bereits durch das Diskriminierungsverbot des § 7 I AGG eingeschränkt: Arbeitgeber:innen dürfen die Entscheidung nicht frei vornehmen, sondern müssen die in § 1 AGG genannten Gründe außer Acht lassen. Die Intensität dieses Eingriffs in die Vertragsfreiheit hängt unter anderem von den Rechtsfolgen eines Verbotsverstoßes ab: Wäre eine Diskriminierung gar nicht sanktionsbewehrt, wäre die unternehmerische Betätigungsfreiheit nur marginal beeinträchtigt, nämlich allenfalls durch die faktische Signalwirkung des Verbots. Mit § 15 I, II AGG hat sich der Gesetzgeber aber jedenfalls für eine finanzielle Kompensation der erlittenen Schäden entschieden, die gleichzeitig auch das Verhalten der Arbeitgeber:innen sanktioniert und einen mittelbaren Druck zum Vertragsschluss ausüben kann. An der Vereinbarkeit dieses Eingriffs mit der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen bestehen – jedenfalls aus der Sicht des Gesetzgebers – keine grundsätzlichen Zweifel. Erst die Existenz eines Kontrahierungszwangs als Folge rechtswidriger Benachteiligungen soll die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen in unzulässiger Weise verletzen und daher gem. § 15 VI AGG ausdrücklich ausgeschlossen werden. Zu untersuchen ist daher, worin der zusätzliche spezifische Eingriffsgehalt eines Kontrahierungszwangs liegt. (aa) Eingriff durch Einstellungsansprüche § 15 VI AGG schließt Einstellungsansprüche aus, die ansonsten nach § 15 I AGG im Wege der Naturalrestitution oder analog § 1004 BGB als Beseitigungsansprüche Arbeitsverhältnis wird der Inhalt der Nebenpflichten „durch eine besondere persönliche Bindung der Vertragspartner geprägt. Das Arbeitsverhältnis beinhaltet spezifische Pflichten zur Rücksichtnahme auf die Interessen des jeweiligen Vertragspartners.“ 867 BVerfG, Beschl. v. 19. 5. 1992 – 1 BvR 126/85, NJW 1992, 2409, 2410. 868 Vgl. S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 72, 220. 869 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472. 870 Z. B. § 78a BetrVG, § 10 I AÜG, § 613a BGB.
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bestünden. Eine Einstellung könnte gemäß beider Anspruchsgrundlagen nur beansprucht werden, wenn betroffene Bewerber:innen ohne die Benachteiligung tatsächlich eingestellt worden wären (haftungsausfüllende Kausalität).871 In der Literatur wird der Nachweis dieser hypothetischen Einstellungsentscheidung meist mit dem der „Bestqualifikation“ der diskriminierten Bewerber:innen umschrieben.872 Damit wird eine Formulierung aus dem Regierungsentwurf des Gesetzes zur Änderung des BGB und ArbGG übernommen, durch das die höhenmäßige Begrenzung des Entschädigungsanspruchs aller diskriminierten Bewerber:innen gem. § 611a II BGB a. F. geändert wurde: Eine unionsrechtskonforme Sanktion war „nach deutschem Recht nicht für den Bewerber gegeben, der bei diskriminierungsfreier Auswahl die Position erhalten hätte (sog. Bestqualifizierter).“873 Der Begriff des Bestqualifizierten meint danach entgegen einer in der Literatur vereinzelt vertretenen Ansicht874 nicht die objektive Eignung von Bewerber:innen, sondern das Ergebnis der hypothetischen diskriminierungsfreien Einstellungsentscheidung. Nur so wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass private Arbeitgeber:innen – anders als der Staat gem. Art. 33 II GG – nicht zu einer objektiven Bestenauslese verpflichtet sind:875 Sie dürfen anhand subjektiver Kriterien wie insbesondere Sympathie, der subjektiven Einschätzung von Selbstbewusstsein, Teamfähigkeit und sozialer Kompetenz der Bewerber:innen entscheiden,876 solange die Kriterien keinen Bezug zu Merkmalen des § 1 AGG haben. Diese Freiheit setzt sich in der über die diskriminierungsfreie Einstellungsentscheidung anzustellenden Hypothese fort: Die haftungsausfüllende Kausalität setzt nicht voraus, dass Bewerber:innen objektiv am besten geeignet, sondern, dass sie unter Zugrundelegung aller erlaubter Kriterien der Arbeitgeber:innen die Favoriten gewesen wären. Vorzugswürdig ist statt des Begriffs des „Bestqualifizierten“ daher der Begriff des „Bestplatzierten“.877 Einstellungsansprüche würden nach diesen Grundsätzen nur dazu führen, dass Arbeitgeber:innen die Bewerber:innen einstellen müssten, sie sie eingestellt hätten, wenn sie sie nicht diskriminiert hätten. § 15 VI AGG schützt Arbeitgeber:innen dementsprechend nicht davor, Arbeitnehmer:innen einzustellen, ohne Einsatzmöglichkeiten für sie zu haben oder die die ihnen übertragenen Tätigkeiten mangels fachlicher Qualifikationen oder Soft Skills nicht pflichtgemäß ausüben können oder 871 BAG, Urt. v. 11. 8. 2016 – 8 AZR 406/14, AP AGG § 15 Nr. 22 (Rn. 105); BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 76); ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 4. 872 BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 13; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 4; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 27; NK ArbR/R. von Steinau-Steinrück/ V. Schneider, § 15 AGG Rn. 3. 873 BT-Drs. 13/10242, S. 6. 874 Z. B. BeckOGK/M. Benecke, § 15 AGG Rn. 64. 875 So explizit auch Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 76; H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 91. 876 Vgl. Schaub/M. Ahrendt, § 36 Rn. 109. 877 Vgl. DHSW/P. Berg, § 15 AGG Rn. 5; M. Jacobs, RdA 2009, 193, 204; Däubler/ Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 76.
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die aufgrund bestimmter Eigenschaften, die mit Merkmalen gem. § 1 AGG nicht im Zusammenhang stehen, nicht ins Unternehmen passen (z. B. Egoismus). Können Arbeitnehmer:innen gerade aufgrund ihrer Merkmalsausprägung wesentliche berufliche Anforderungen nicht erfüllen, ist eine Benachteiligung außerdem gem. §§ 8 ff. AGG schon gar keine verbotene Diskriminierung. Als Belastungen, die Arbeitgeber:innen infolge von Einstellungsansprüchen hinzunehmen hätten, verbleiben daher nur die folgenden: Erstens: Beruht eine Diskriminierung auf zweckrationalen Gründen, da mit der Beschäftigung der betreffenden Person wirtschaftliche Belastungen einhergehen,878 würden Arbeitgeber:innen zur Hinnahme dieser Belastungen gezwungen. Diese Fallgruppe kann beispielsweise die Beschäftigung von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung, schwangeren und älteren Arbeitnehmer:innen betreffen, die weniger körperlich belastbar sein und höhere Fehlzeiten haben können879 und deren individuelle Bedürfnisse Arbeitgeber:innen unter Umständen bei der Arbeitsplatzgestaltung berücksichtigen müssen. Die Voraussetzungen, unter denen diese Beeinträchtigungen wesentlichen und beruflichen Anforderungen i. S. v. § 8 I AGG entgegenstehen, sind hoch; insbesondere rechtfertigt selbst ein Beschäftigungsverbot Schwangerer während der gesamten Befristungsdauer keine Benachteiligung und Arbeitgeber:innen sind unter Umständen verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu ergreifen, um Arbeitnehmer:innen mit Behinderung eine Beschäftigung zu ermöglichen. Arbeitgeber:innen würden durch Einstellungsansprüche also zur Hinnahme administrativer und finanzieller Belastungen unterhalb der Schwelle des § 8 I AGG verpflichtet.880 Zweitens: Hat eine Merkmalsausprägung keinen Bezug zur Arbeitsleistung der Arbeitnehmer:innen (z. B. die sexuelle Identität, die Religion oder Weltanschauung oder im Falle rassistischer Diskriminierung) und ist eine Benachteiligung nicht 878 Zu der begrifflichen Unterscheidung von zweck- und wertrationaler Diskriminierung ausführlich oben 4. Kap. B. III. 2. a). 879 Die Fehlzeiten Schwangerer wurden oben (5. Kap. C. I. 2. a)) bereits dargestellt. Schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen haben Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr gem. § 208 SGB IX; schwerbehinderte und ältere Arbeitnehmer:innen können außerdem ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben, das zu einer höheren Zahl an krankheitsbedingten Fehlzeiten inklusive Entgeltfortzahlungspflicht führen kann. 880 Eine Pflicht zur Beschäftigung Schwangerer, behinderter und älterer Menschen mit den entsprechenden finanziellen Belastungen ergibt sich nicht nur aus Einstellungsansprüchen: Eine Schwangerschaft, Behinderung und ein höheres Lebensalter können auch im Laufe eines (Arbeits-)Verhältnisses auftreten. Eine Kündigung aufgrund der wirtschaftlichen Belastungen wäre dann in der Regel unwirksam, da sie diskriminierend ist. Ganz ausschließen können Arbeitgeber:innen die beschriebenen wirtschaftlichen Belastungen also auch ohne Einstellungsansprüche nicht. Nichtsdestotrotz bedeutet die Einstellung einer Person, die schon im Zeitpunkt der Einstellung einen wirtschaftlichen Mehraufwand verursacht, eine Belastung zusätzlich zu den vom Arbeitgeber:innen nicht beeinflussbaren Entwicklungen der bereits angestellten Arbeitnehmer:innen und hat daher einen eigenen Eingriffsgehalt.
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aufgrund diskriminierender Kundenerwartungen gerechtfertigt,881 schützt § 15 VI AGG Arbeitgeber:innen davor, gegen ihren Willen ein Dauerschuldverhältnis mit personalem Charakter mit Menschen einzugehen, mit denen sie aufgrund bestimmter Merkmale nicht zusammenarbeiten möchten. Die Eingriffswirkung von Einstellungsansprüchen liegt nicht in wirtschaftlichen Belastungen, sondern darin, dass Arbeitgeber:innen dazu gezwungen würden, Arbeitnehmer:innen wider die eigenen Stigmen in den Betrieb zu integrieren und ihnen Aufgaben anzuvertrauen. (bb) Eingriff durch Beförderungsansprüche Parallel zu Einstellungs- setzen Beförderungsansprüche – § 15 VI AGG weggedacht – eine Kausalität zwischen Benachteiligung und unterlassener Beförderung voraus. Beförderungsansprüche bestünden also nur für Arbeitnehmer:innen, die Arbeitgeber:innen bei diskriminierungsfreier Auswahl tatsächlich befördert hätten. Anders als bei der erstmaligen Einstellung wird im bestehenden Vertragsverhältnis befördert: Arbeitgeber:innen haben sich bereits dafür entschieden, mit den betreffenden Arbeitnehmer:innen ein Dauerschuldverhältnis zu begründen und sie in die unternehmerische Organisation zu integrieren. Administrativen Mehraufwand für die alters-, behinderungs- oder schwangerschaftsgerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen und -bedingungen sowie ggf. eine verminderte Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer:innen müssen Arbeitgeber:innen auch dann hinnehmen, wenn sie Arbeitnehmer:innen aus diskriminierenden Gründen nicht befördern, sondern auf dem bisherigen Arbeitsplatz weiterbeschäftigen. Wer deshalb denkt, dass bei Beförderungsentscheidungen kein Raum für diskriminierende Motive ist, irrt jedoch: Die Zuweisung einer anderen Tätigkeit und insbesondere die Übertragung von mehr Verantwortung für unternehmerische Entscheidungen und die Führung anderer Mitarbeiter setzen eine neue Beurteilung der betroffenen Arbeitnehmer:innen voraus. Dass bei Beförderungsentscheidungen neue Stigmen wirksam werden, beschreibt die Metapher der „gläsernen Decke“: Insbesondere Frauen, Menschen mit Behinderung und Menschen mit Migrationshintergrund haben eingeschränkte Aufstiegschancen an ihrem Arbeitsplatz.882 Beförderungsansprüche würden Arbeitgeber:innen dazu zwingen, Arbeitnehmer:innen entgegen ihren persönlichen Vorurteilen und entgegen (e contrario § 8 I AGG unbeachtlichen) Wirtschaftlichkeitserwägungen befördern zu müssen. (cc) Schlussfolgerung: spezifischer Eingriffsgehalt von Kontrahierungszwängen Der Eingriffsgehalt von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen besteht also darin, dass Arbeitgeber:innen nachträglich zur Vornahme derjenigen Handlung gezwungen werden, die sie bei anfänglicher Beachtung der Diskriminierungsverbote 881 Überblick zum Meinungsstand bei ErfK/M. Schlachter, § 8 AGG Rn. 5; MüKo BGB/ G. Thüsing, § 8 AGG Rn. 17; monographisch M. Buhk, „Kundenpräferenzen“ als Rechtfertigungsgrund (2016), S. 350 ff. 882 Zur gläsernen Decke aus der deutschen Arbeitsrechtsprechung z. B. BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93.
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vorgenommen hätten: Sie müssen Arbeitnehmer:innen – ggf. infolge staatlichen Zwangs – tatsächlich benachteiligungsfrei behandeln. Bei der Frage, ob diese Inpflichtnahme von Arbeitgeber:innen zur Beschäftigung wert- oder zweckrational diskriminierter Personen gerechtfertigt ist, geht es also hauptsächlich um die Rechtfertigung der durch die Diskriminierungsverbote angeordneten Verhaltensgebote selbst.883 Verhaltensgebote und -verbote dürfen nur angeordnet und sanktioniert werden, wenn die Befolgung ihrer Imperative den Normadressaten überhaupt zumutbar ist. Andernfalls sind das Verbot selbst sowie jede noch so niedrige Sanktion eines Verstoßes unangemessene Grundrechtseingriffe. Da die finanziellen Sanktionen gem. § 15 I, II AGG einen nicht unerheblichen Zwang ausüben, Einstellungen und Beförderungen nichtdiskriminierend zu treffen (sog. „mittelbarer Kontrahierungszwang“), geht der Gesetzgeber erkennbar davon aus, dass der in § 7 I AGG erzeugte Imperativ, die bestplatzierten Bewerber:innen einzustellen und bestplatzierten Arbeitnehmer:innen zu befördern, obwohl Stigmen der Arbeitgeber:innen oder wirtschaftliche Erwägungen dagegensprechen, im Hinblick auf die Berufsausübungsfreiheit der Arbeitgeber:innen angemessen ist. Es kann für die Rechtsfolge des Kontrahierungszwangs nichts anderes gelten. Das Gesetz enthält insofern eine abschließende Abwägung.884
883 Aus diesem Grund wurde der hitzige Diskurs um die Einführung des AGG auch weitgehend losgelöst von den Rechtsfolgen geführt. Gestritten wurde um das Verbot an sich, diskriminierend zu entscheiden. Mittlerweile herrscht weitgehend Konsens darüber, dass weder die Diskriminierungsverbote selbst noch die in § 15 I, II AGG angeordneten Sanktionen die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen unzulässigerweise beschränken. Insbesondere dem lautstarken „Widerstand der ,Altvorderen‘“ (R. Singer, in: GS Zachert (2010), Grundfragen der Gleichbehandlung im Zivil- und Arbeitsrecht, S. 341, 348) gegen das AGG (rhetorisch überspitzt und dogmatisch einseitig belichtet: E. Picker, JZ 2002, 880; ders., JZ 2003, 540; ders., ZfA 2005, 167 sowie K. Adomeit, NJW 2002, 1622, der insbesondere homo- und transfeindliche Ressentiments bedient sowie F. J. Säcker, ZRP 2002, 286, dessen skandalisierende Beispiele der vermeintlichen neuen jakobinischen Tugendrepublik die Rechtfertigungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbestände des AGG außer Acht lassen) wurde durch die konkrete Ausgestaltung des AGG – die Begrenzung des Anwendungsbereichs und die Einführung von Rechtfertigungsgründen – der normative Boden entzogen (M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 318 (Fn. 86)). Vgl. auch G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 358, die darauf hinweist, dass die Auseinandersetzung um das AGG „eigenartig“ ist, da juristische Argumente „rar gesät“ sind. 884 In diesem Sinne auch M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 731: Bei der Frage nach einem Kontrahierungszwang soll die „Freiheitsausübung des Diskriminierenden […] erneut abgewogen werden mit dem Gleichbehandlungsanspruch oder auch der positiven Abschlussfreiheit des Benachteiligten. Voller Abwägungseuphorie übersieht man, dass es für den Rechtsanwender nichts mehr abzuwägen gibt. Der Gesetzgeber hat die dafür maßgeblichen Entscheidungen bereits getroffen. Das Gesetz berücksichtigt die negative Vertragsfreiheit an mehreren Stellen, insbesondere bei der Festlegung des sachlichen Anwendungsbereichs und dem Katalog der Rechtfertigungsgründe. Verstößt ein Verhalten danach immer noch gegen das Benachteiligungsverbot, setzt sich der Gleichbehandlungsanspruch durch. Das ist das Ergebnis der vom Gesetz vorgenommenen Abwägung.“
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Raum für eine Verfassungswidrigkeit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen besteht nach der gesetzlichen Konzeption damit nur noch insoweit, als ihr Eingriffsgehalt über den Eingriffsgehalt der Verbote selbst und des mittelbaren Kontrahierungszwangs durch § 15 I, II AGG hinausgeht. Der spezifische Eingriffsgehalt von Kontrahierungszwängen besteht darin, dass sich Arbeitgeber:innen von ihrer an sich zumutbaren Gleichbehandlungspflicht nicht freikaufen können, sondern ihnen ein Vertragsschluss oktroyiert wird. Das dem Vertragsrecht zugrundeliegende Konsensprinzip wird aufgehoben und eine vertragliche Bindung gegen den privatautonom geformten Willen der Arbeitgeber:innen begründet. Dieser Eingriff in die negative Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen ist nicht wirtschaftlicher Natur, sondern betrifft ihre Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung als grundlegende Form ihrer Vertragsfreiheit. (2) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einstellungsund Beförderungsansprüchen In einem nächsten Schritt ist zu untersuchen, ob der gerade bestimmte Eingriffsgehalt von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen gerechtfertigt sein kann oder der Gesetzgeber zum Erlass von § 15 VI AGG verpflichtet war, um verfassungswidrige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen auszuschließen. Von dem Ergebnis dieser Prüfung hängt ab, welche Maßstäbe an die „Zulässigkeit“ eines Fortsetzungsanspruchs im Sinne der Gesetzesmaterialien zu stellen sind. (a) Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit von Einstellungsund Beförderungsansprüchen Gem. Art. 12 I 2 GG kann die Berufsausübung „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“ Dieser Passus wird einhellig als einfacher Gesetzesvorbehalt verstanden, der sich auf alle Eingriffe in die Berufsfreiheit – sowohl betreffend die Berufswahl als auch die -ausübung – bezieht.885 Der Gesetzgeber darf also in die Berufsfreiheit von Arbeitgeber:innen eingreifen. Verfassungsrechtlich ist er dabei durch das Übermaßverbot begrenzt, das als Maxime allen staatlichen Handelns verlangt, dass Eingriffe zur Erreichung eines erlaubten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind.886 Die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs steigen mit der Eingriffsintensität. Diesen Grundsatz hat das BVerfG früher mit der „Stufentheorie“ typisierend festgehalten:887 „Die Freiheit der Berufsausübung kann im Wege der ,Regelung‘ beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen. Die Freiheit 885 St. Rspr. seit BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1037; aus der Literatur stellvertretend Sachs/T. Mann, Art. 12 GG Rn. 107; Dreier/J. Wieland, Art. 12 GG Rn. 81. 886 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1998 – 1 BvR 2296/96 u. a., NJW 1999, 935, 936. 887 So auch BVerfG, Beschl. v. 17. 7. 1961 – 1 BvL 44/55, NJW 1961, 2011, 2012: Die „,Stufentheorie‘ ist das Ergebnis strikter Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit“.
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der Berufswahl darf dagegen nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger (,überragender‘) Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert, d. h.: soweit der Schutz von Gütern in Frage steht, denen bei sorgfältiger Abwägung der Vorrang vor dem Freiheitsanspruch des Einzelnen eingeräumt werden muß und soweit dieser Schutz nicht auf andere Weise, nämlich mit Mitteln, die die Berufswahl nicht oder weniger einschränken, gesichert werden kann.“888
Obwohl die strikte Stufenzuordnung durchbrochen werden muss, um eine flexible Prüfung von Ausnahmekonstellationen (insbesondere Berufsausübungsregelungen mit der Intensität einer Berufswahlregelung) zu ermöglichen, und obwohl bei einer normalen Anwendung des Übermaßverbots ähnliche Anforderungen an eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen gestellt würden, dient die Formel nach wie vor als „Grundraster“889 für die Verhältnismäßigkeitsprüfung von Eingriffen in die Berufsfreiheit.890 Auch im Kontext der hier zu beurteilenden Kontrahierungszwänge soll die Stufentheorie als Orientierungspunkt dienen. Danach gilt: Arbeitgeber:innen betätigen ihre Berufswahlfreiheit, indem sie unternehmerische Tätigkeiten auswählen und auf dem Markt anbieten. Um sich im Wettbewerb behaupten zu können, müssen sie ihre unternehmerische Strategie an den Bedürfnissen des Marktes ausrichten. Als Komponenten ihrer Berufsausübungsfreiheit gem. Art. 12 GG sind daher sämtliche Facetten unternehmerischer Entscheidungen geschützt. Dazu gehört insbesondere auch die Vertrags- und Dispositionsfreiheit der Arbeitgeber:innen, die unter anderem umfasst, das Personal auszuwählen und zu organisieren.891 In diese Freiheit wird insbesondere durch Regelungen eingegriffen, die Einstellungen, Arbeitsbedingungen und Entlassungen von Arbeitnehmer:innen betreffen. Die Diskriminierungsverbote im AGG sind danach Berufsausübungsregelungen, die grundsätzlich durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt werden können. Fraglich ist, ob diese Einordnung auch für die Rechtsfolge des Abschlusszwangs gilt. Dessen Eingriffsintensität könnte höher zu
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BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1038. Dreier/J. Wieland, Art. 12 GG Rn. 92. 890 Vgl. aus neuerer Zeit z. B. BVerfG, Beschl. v. 23. 8. 2013 – 1 BvR 2912/11, NJW 2013, 3357, 3358 (Rn. 21); BVerfG, Beschl. v. 3. 7. 2007 – 1 BvR 2186/06, BeckRS 2007, 33074 (Rn. 71, 82); aus der Literatur z. B. Sachs/T. Mann, Art. 12 GG Rn. 125: „einprägsame Eckpfeiler für die praktische Umsetzung der verfassungsrechtsdogmatisch durchgängig gebotenen Abstufung bei Grundrechtsingerenzen“ und von Münch/Kunig/J. A. Kämmerer, Art. 12 GG Rn. 110: die Stufenformel „dient aber noch als Orientierungsmaßstab für die Verhältnismäßigkeitsprüfung“. 891 BVerfG, Beschl. v. 6. 7. 2010 – 2 BvR 2661/06, NZA 2010, 995, 996 (Rn. 50); BVerfG, Urt. v. 10. 6. 2009 – 1 BvR 706/08, NJW 2009, 2033, 2038 (Rn. 164 ff.); BAG, Urt. v. 18. 2. 2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, 1392, 1395; HWK/C. W. Hergenröder, Art. 12 GG Rn. 40; M. Horcher, RdA 2014, 93, 94; S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 60 f.; H.-J. Papier, RdA 1989, 137, 139; ErfK/I. Schmidt, Art. 12 GG Rn. 9; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 277, 281; Maunz/Dürig/ders., Art. 12 GG Rn. 140; M. Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz (2018), S. 82. 889
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bewerten sein, da er Arbeitgeber:innen tatsächlich zu einer anderen als der gewünschten Personalausstattung zwingt. Lieske hält Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge des AGG für schlechthin verfassungswidrig: Art. 12 I GG schütze die Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen als „unentziehbares Maß an freier Marktbetätigung“.892 Dieser Grundrechtsgehalt lasse „sich nicht so weit reduzieren, dass die unternehmerische Auswahlentscheidung gänzlich ausgeschlossen wird.“893 Kontrahierungszwänge lägen „außerhalb jeder Zumutbarkeitsgesichtspunkte“,894 seien einer Rechtfertigung durch legitime Zwecke also von vornherein entzogen. Mit dieser Extremposition ist Lieske allein. Zwar wird die hohe Eingriffsintensität von Kontrahierungszwängen auch von anderen Autoren betont: Oetker formuliert beispielsweise, dass ein Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung auf besonders legitimierte Ausnahmefälle beschränkt werden müsse. Dazu zwinge „die Intensität der Grundrechtsbeschränkung, da die mit der Abschlussfreiheit akzeptierte Willkür nicht nur domestiziert, sondern auf ,Null‘ reduziert wird.“895 Lieskes Auffassung, dass Abschlusszwänge einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung per se entzogen sein sollen, überzeugt nicht: Sie fügt sich nicht in das allgemein konsentierte Verständnis von Art. 12 GG ein, nach der selbst die intensivsten Eingriffe in die Berufsfreiheit, nämliche Eingriffe betreffend die freie Berufswahl, dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 I 2 GG unterliegen und unter hohen Anforderungen gerechtfertigt sein können. Eine pauschale Aburteilung von Kontrahierungszwängen berücksichtigt auch nicht ihre unterschiedliche Eingriffsintensität im Einzelfall, der durch eine unterschiedlich hohe Rechtfertigungslast Rechnung getragen werden kann und muss. Dass Einstellungszwänge nicht unmittelbar den freien Zugang von Arbeitgeber:innen zum Markt beeinträchtigen, aber im Einzelfall eine ähnliche Eingriffsintensität entwickeln können, hat Scholz zutreffend herausgestellt: Lässt sich die von Unternehmern gewählte berufliche Tätigkeit nur arbeitsteilig ausführen, beeinflusst die Zusammenstellung der Arbeitnehmer:innen auch den Erfolg des Unternehmens am Markt. Im Einzelfall können Regelungen betreffend die Personalpolitik daher den Marktzugang mittelbar verhindern oder gravierend erschweren.896 Solche Beschränkungen der freien Berufsausübungen, die wegen ihrer Auswirkungen einem Eingriff in die freie Berufswahl nahekommen, sind nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG nur zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter gerechtfertigt.897 Außerhalb jeder Zumutbarkeitsgesichtspunkte sind sie damit aber nicht.
892
S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 223. S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 222. 894 S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 223. 895 H. Oetker, ZIP 2000, 643, 644. 896 Maunz/Dürig/R. Scholz, Art. 12 GG Rn. 140 f. 897 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 1992 – 1 BvR 298/86, NJW 1992, 2621, 2622; BVerfG, Beschl. v. 6. 10. 1987 – 1 BvR 1086/82 u. a., NJW 1988, 1195, 1196. 893
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge von Diskriminierungen können also gerechtfertigte Eingriffe in die Berufsfreiheit der Arbeitgeber:innen sein. Die Anforderungen an ihre Rechtfertigung hängen davon ab, ob Arbeitgeber:innen faktisch in ihrer freien Berufswahl beeinträchtigt werden. Das ist insbesondere anzunehmen, wenn Regelungen solche Gewinneinbußen hervorrufen, dass die „betroffenen Berufsangehörigen in aller Regel und nicht nur in Ausnahmefällen wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sind, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur Grundlage ihrer Lebensführung oder – bei juristischen Personen – zur Grundlage ihrer unternehmerischen Erwerbstätigkeit zu machen.“898 Vorschriften über die Personalzusammensetzung können diese Folgen nach der Ansicht Scholz’ hervorrufen, wenn ein „unternehmerischer Beruf wesensgemäß auf die Mitarbeit ganz spezieller Arbeitnehmer angewiesen ist“, Arbeitgeber:innen aber zur Einstellung anderer Arbeitnehmer:innen ohne die notwendigen Qualifikationen verpflichtet werden.899 Als weitere Beispiele für Regelungen mit Berufswahlcharakter nennt die Literatur hypothetische Fälle, in denen Arbeitgeber:innen überhaupt zur Einstellung von Arbeitnehmer:innen ggf. in einer bestimmten Anzahl gezwungen werden, sodass sie ihr Unternehmen nicht mehr aufgeben oder die Größenordnung selbst bestimmen können.900 Mit diesen Fällen sind Einstellungs- und Beförderungsansprüche gem. § 15 I AGG oder analog § 1004 I BGB nicht vergleichbar: Arbeitgeber:innen wird weder verwehrt, ihre Unternehmen fortzuführen oder sie aufzugeben, noch werden sie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen mit ungeeigneten, nicht einsetzbaren oder sonst unzumutbaren Arbeitnehmer:innen gezwungen. Wie oben herausgearbeitet wurde,901 führen die Ansprüche nur dazu, dass Arbeitgeber:innen diejenigen Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen auf einem konkreten Arbeitsplatz einsetzen müssen, die sie ohne Anknüpfung an ein Merkmal des § 1 AGG darauf eingesetzt hätten, die also ansonsten die – aus fachlichen und zwischenmenschlichen Gründen – Bestplatzierten gewesen wären. Rechtsfolge einer Diskriminierung ist also niemals der Zwang zur Beschäftigung eines komplett Fremden oder Ungeeigneten; stattdessen wird im Rahmen des erforderlichen Kausalzusammenhangs der Auswahlentscheidung der Arbeitgeber:innen, soweit rechtlich erlaubt, nachgespürt. Die Pflicht zur Einstellung einzelner Arbeitnehmer:innen wider die eigenen Vorurteile oder wirtschaftlichen Interessen beseitigt auch nicht die Möglichkeit, sich unternehmerisch am Markt zu betätigen: Wenn eine bestimmte Merkmalseigenschaft dafür tatsächlich unabdingbar ist, ist die Benachteiligung ohnehin gem. § 8 ff. AGG gerechtfertigt. Verboten sind nur Benachteiligungen, die nicht aus unternehmeri898
BVerfG, Beschl. v. 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667/66, NJW 1971, 1255, 1256. Maunz/Dürig/R. Scholz, Art. 12 GG Rn. 140 f. 900 H.-J. Papier, RdA 1989, 137, 139 f.; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 103. Zum parallel gelagerten Fall, dass zu strenge Kündigungsschutzvorschriften den Arbeitgeber:innen die Möglichkeit nehmen, ein Unternehmen aufzugeben U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 64. 901 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (1) (b). 899
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schen Gründen erforderlich sind. Der AGG-Gesetzgeber hat so bereits auf Tatbestandsseite gewährleistet, dass die freiwillige oder mit Zwang durchgesetzte Befolgung der Diskriminierungsverbote die unternehmerische Betätigung von Arbeitgeber:innen nicht unmöglich machen.902 Die (hypothetischen) Abschlusspflichten der Arbeitgeber:innen bei Verstoß gegen das AGG wirken sich damit faktisch nicht auf ihre freie Berufswahl aus, sondern schränken, wie für Abschlusspflichten im Arbeitsrecht allgemein anerkannt, nur ihre freie Berufsausübung ein.903 Einstellungs- und Beförderungsansprüche gem. § 15 I AGG oder analog § 1004 I 1 BGB wären daher verfassungsgemäß, wenn sie zur Verfolgung vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls geeignet, erforderlich und angemessen wären.904 Sowohl bei der Bestimmung der vernünftigen Gemeinwohlbelange als auch bei der Einschätzung der Eignung und Erforderlichkeit einer Regelung hat der Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum. Die Gemeinwohlbelange müssen insbesondere nicht selbst Verfassungsrang haben; es kommen sogar Zweckmäßigkeitserwägungen in Betracht.905 Das legislative Ziel bleibt erst dann hinter den Anforderungen der Stufentheorie zurück, wenn es offensichtlich fehlerhaft ist, da es keine Grundlage für die gesetzgeberischen Maßnahmen abgeben kann oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.906 Einstellungs- und Beförderungsansprüche als Rechtsfolge von Diskriminierungen wären also nur dann verfassungswidrig, wenn sie nach diesen Maßstäben keine legitimen Ziele verfolgen [(b)], zu ihrer Verfolgung nicht geeignet [(c)] und erforderlich [(d)] sind oder die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen unzumutbar beeinträchtigen [(e)].
902 Vgl. auch H. Reichold, ZfA 2006, 257, 271: „Eine Nichtbeachtung solcher Kernbereiche kann […] den EG-Richtlinien wohl nicht vorgeworfen werden“; i. E. ebenso M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 731 für den zivilrechtlichen Teil des AGG. 903 Vgl. auch H.-J. Papier, RdA 1989, 137, 139 f. und W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 103 f. nach dem ein Kontrahierungszwang für bestimmte, besonders schutzwürdige Arbeitnehmergruppen verfassungsrechtlich legitimiert werden kann. 904 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. 1. 2016 – 1 BvR 3102/13, NJW 2016, 930, 932 (Rn. 40); BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 1987 – 1 BvR 563/85 u. a., NJW 1988, 1899, 1900; BVerfG, Beschl. v. 4. 10. 1983 – 1 BvR 1633, 1549/82, NJW 1984, 556, 556 f. 905 BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1038; ähnlich BVerfG, Urt. v. 9. 6. 2004 – 1 BvR 636/02, NJW 2004, 2363, 2367; BVerfG, Beschl. v. 15. 12. 1987 – 1 BvR 563/85 u. a., NJW 1988, 1899, 1900; vgl. zur eingeschränkten Kontrolle durch das BVerfG auch BVerfG, Beschl. v. 17. 7. 1961 – 1 BvL 44/55, NJW 1961, 2011, 2012 f.; aus der Literatur z. B. von Münch/Kunig/J. A. Kämmerer, Art. 12 GG Rn. 111. Maunz/Dürig/R. Scholz, Art. 12 GG Rn. 336 geht so weit, aus diesen Grundsätzen eine Kompetenz des Gesetzgebers „zur eigenen, materiellen Schrankenbestimmung“ abzuleiten. 906 BVerfG, Beschl. v. 12. 12. 2006 – 1 BvR 2576/04, NJW 2007, 979, 980 (Rn. 64); BVerfG, Beschl. v. 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667/66, NJW 1971, 1255, 1256; von Münch/Kunig/ J. A. Kämmerer, Art. 12 GG Rn. 112.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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(b) Schutzzwecke des AGG als legitime Ziele von Einstellungsund Beförderungsansprüchen Die Rechtsfolgen verbotener Diskriminierungen bestimmen, wie effektiv und mit welcher Stoßrichtung die Verbote wirken. Sie sind damit ein integraler Bestandteil der Schutzkonzeption des AGG. Als legitime Ziele von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen kommen damit die dem AGG zugrundeliegenden Schutzzwecke in Betracht. Wie oben herausgearbeitet wurde,907 sind dies die Herstellung materialer Gleichheit [(aa)], ihr teilhaberechtlicher Reflex, der im Kontext der Einstellungsund Beförderungsansprüche die Berufsfreiheit der Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen betrifft [(bb)] und der Schutz vor mit Diskriminierungen einhergehenden Integritätsverletzungen [(cc)]. (aa) Herstellung materialer Gleichheit Mit dem AGG hat der Gesetzgeber das dem unionsrechtlichen Gleichbehandlungskonzept zugrundeliegende Ziel verfolgt, materielle Gerechtigkeit in der sozialen Realität herzustellen und allen Gesellschaftsgruppen die Chance einzuräumen, zu gleichen Bedingungen am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.908 Die Diskriminierungsverbote basieren auf der paradigmatischen Vorstellung, dass jeder Mensch in den verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft die gleichen Freiheitsmöglichkeiten haben soll, und reagieren auf die davon abweichende gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese egalitaristische Zielsetzung des AGG spricht für die Annahme eines Kontrahierungszwangs als Rechtsfolge von Diskriminierungen. Eine finanzielle Kompensation des Diskriminierungsschadens stellt die vorenthaltene Gleichbehandlung nämlich nicht wieder her; im Dienst der egalitaristischen Zielsetzung steht sie nur als abschreckende Sanktion, indem sie die Arbeitgeber:innen generalpräventiv von Diskriminierungen abhalten soll. Um die anhaltende Benachteiligung und Ausgrenzung bestimmter Personengruppen tatsächlich zu beseitigen ist ein Anspruch auf Beseitigung der diskriminierenden Personalentscheidung das wirksamste Mittel.909 Erst ein Anspruch darauf, tatsächlich ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG behandelt zu werden, also ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung, stellt die ursprünglich verweigerte Gleichheit her. Je mehr sich eine Personalstruktur mittelfristig diversifiziert – und sei es als Folge zwangsweiser Einstellungen, Beförderungen und Vertragsfortsetzungen –, umso eher wird der Nexus aus einer bestimmten Merkmalsausprägung und einer Benachteiligung aufgebrochen. Das Ziel materiale Gleichheit zu realisieren, spricht also für eine wirksame Beseitigung jeder Benachteiligung, unabhängig davon, worin der Nachteil besteht.
907 908 909
293.
4. Kap. B. II. Dazu ausführlich oben 4. Kap. B. II. 1. b). Vgl. zur Effektivität von Kontrahierungszwängen im AGG auch S. Baer, ZRP 2002, 290,
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Zu untersuchen bleibt noch, ob es sich damit um einen Gemeinwohlbelang handelt, der grundsätzlich ein legitimes Ziel von Berufsausübungsregelungen sein kann. Über den verfassungsrechtlichen Gehalt des AGG wird in der Literatur eine rege Auseinandersetzung geführt, in der sich unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit kristallisieren. Im Kern streitet man sich um die privatrechtlichen Dimensionen des besonderen Gleichheitssatzes in Art. 3 III 1 GG. Umstritten ist, ob Art. 3 III GG nur dem Staat Diskriminierungen bei der Ausübung seiner Befugnisse verbietet910 oder ob er auch eine objektiv-rechtliche Wirkung enthält, die einerseits im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung auf private Rechtsverhältnisse ausstrahlt911 und andererseits eine grundrechtliche Schutzpflicht für den Gesetzgeber entfaltet, Diskriminierungen im Privatrechtsverkehr zu verhindern.912 In der Gesetzesbegründung zum AGG wurde die mittelbare Drittwirkung von Art. 3 III GG betont, aber keine Aussage darüber getroffen, ob der Gesetzgeber mit dem AGG eine grundrechtliche Schutzpflicht erfüllt.913 Für die Beurteilung, ob das AGG legitime Gemeinwohlbelange verfolgt, kommt es auf beide Fragestellungen aber auch nicht an: Der Gesetzgeber darf Regelungen zum Schutz bestimmter Personengruppen nämlich nicht nur erlassen, wenn er dazu verfassungsrechtlich verpflichtet ist oder der Regelungsgehalt ohnehin im Wege der mittelbaren Drittwirkung über die Generalklauseln in Privatrechtsverhältnisses realisiert wird. Beim 910 Diese abwehrrechtliche Komponente ist unstreitig der Kerngehalt der Gleichheitsrechte gem. Art. 3 GG, statt aller Maunz/Dürig/C. Langenfeld, Art. 3 III GG Rn. 80. 911 Offen gelassen von BVerfG, Beschl. v. 27. 8. 2019 – 1 BvR 879/12, NJW 2019, 3769, 3770 (Rn. 14); BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, 1669 (Rn. 40); dafür: von Mangoldt/S. Baer/N. Markard, Art. 3 GG Rn. 415 ff.; T. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 409: „Art. 3 III GG enthält daher für die Zivilgerichte lediglich einen flexiblen Schutzauftrag, bei der Auslegung einfachen Rechts auch die besonderen Gleichheitsgrundrechte der Hintangesetzten zu beachten und sie mit kollidierenden Freiheits- und Vermögensgrundrechten der Hintansetzenden abzuwägen“; E. Eichenhofer, DVBl 2004, 1078, 1080; Dreier/W. Heun, Art. 3 GG Rn. 139; Jarass/Pieroth/H. Jarass, Art. 3 GG Rn. 150; Sachs/ A. Nußberger, Art. 3 GG Rn. 233 f.; M. Wrase, ZESAR 2005, 229, 236: Die Annahme einer mittelbaren Drittwirkung führt dazu, dass die Gerichte bei der Auslegung von Generalklauseln praktische Konkordanz mit der Privatautonomie des Gegenübers herstellen müssen. Noch weiter geht C.-W. Canaris, AcP 1984, 201, 235 ff., der eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 3 II, III GG dadurch konstruiert, dass aus Art. 3 II, III GG ein gesetzliches Verbot i. S. v. § 134 BGB folge, wonach Rechtsgeschäfte, die an die dort genannten Differenzierungskriterien anknüpfen, unwirksam seien. Dagegen G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 361 ff.; Maunz/ Dürig/C. Langenfeld, Art. 3 III GG Rn. 81 f. unter Verweis auf den grundrechtlichen Schutz der Privatautonomie des Diskriminierenden; M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 330 ff.; wohl auch H. Reichold, ZfA 2006, 257, 266. 912 Dafür J. C. Dammann, Die Grenzen zulässiger Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht (2005), S. 48 ff. E. Eichenhofer, DVBl 2004, 1078, 1081; Jarass/Pieroth/H. Jarass, Art. 3 GG Rn. 151; M. Wrase, ZESAR 2005, 229, 241; dagegen G. Britz, VVDStRL 64 (2005), 355, 361 ff.; Dreier/W. Heun, Art. 3 GG Rn. 117, 139; Maunz/Dürig/C. Langenfeld, Art. 3 III GG Rn. 83; R. Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte (2013), S. 107 ff.; J. Neuner, JZ 2003, 57, 60; 139; H. Reichold, ZfA 2006, 257, 266; U. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichbehandlung (1996), S. 201. 913 BT-Drs. 16/1788, S. 22.
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Erlass von Berufsausübungsregelungen hat er stattdessen ein weites Regelungsermessen und darf Privatrechtssubjekte auch grundrechtsfakultativ aufgrund einer eigenen politischen Einschätzung schützen.914 Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit unterscheiden sich insofern insbesondere von Eingriffen in vorbehaltlose Grundrechte, die nur gerechtfertigt sind, soweit sie zwingend erforderlich sind, um das Untermaßverbot widerstreitender Schutzpflichten zu erfüllen.915 Es ist daher auch nicht problematisch, dass die Merkmale in § 1 AGG – entsprechend der Richtlinienvorgaben – mit den Merkmalen in Art. 3 III GG nicht deckungsgleich sind. Entscheidend ist stattdessen, dass die Förderung materialer Gleichheit im Privatrechtsverkehr ein verfassungsrechtlich legitimes politisches Anliegen ist. Dies wird durch Art. 3 III GG bestätigt, der die objektive Wertentscheidung enthält, dass Personen vor Herabwürdigungen und Ausgrenzungen aufgrund askriptiver Merkmale zu schützen sind. Da die Grundrechte insbesondere im Kontext der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zu lesen sind, das als Abkehr vom Nationalsozialismus zu verstehen ist, steht als Negativparadigma hinter Art. 3 III GG nicht nur der Staatsterror der NS-Herrschaft, sondern gerade auch die Verfolgung von Juden, Homosexuellen und Menschen mit Behinderung durch die Zivilgesellschaft.916 Neuner hat überzeugend herausgestellt, dass die Absicht des historischen Verfassungsgebers darin bestand, „mit gleichem Nachdruck private Exzesse und Ausgrenzungen zu unterbinden.“917 Art. 3 III GG enthält daher die Wertentscheidung, dass auch der Schutz vor Diskriminierungen unter Privaten ein verfassungsrechtlich erlaubter Gemeinwohlbelang ist, der Grundrechtseingriffe legitimieren kann.918 Der strukturelle Unterschied zwischen der unmittelbaren Grundrechtsbin914
BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 2013 – 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 (Rn. 68 ff.). C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1999), S. 84 f., 89 f., der es sogar als die „relevante Funktion der Gesetzesvorbehalte“ betrachtet, dass Gesetzgeber und Judikative in das Grundrecht eingreifen dürfen, um einer anderen Partei mehr Schutz als grundrechtlich geboten zu gewähren. Vgl. auch V. Epping, Grundrechte (2021), Rn. 98; E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 576; L. Michael/M. Morlok, Grundrechte (2020), Rn. 733: Der Grund für die unterschiedlichen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist der besonders hohe Rang vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte. Eine Beschränkung muss ihre Vorbehaltlosigkeit berücksichtigen, indem sie nur so weit gehen, wie es logisch und systematisch zwingend ist. 916 Vgl. m. w. N. E. Eichenhofer, DVBl 2004, 1078, 1081. 917 J. Neuner, JZ 2003, 57, 60; ausführlich in Bezug auf die Bindung der Privatrechtssubjekte an die Menschenwürde gem. Art. 1 GG ders., Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 151 ff.; ebenso R. Uerpmann-Wittzack, ZaöRV 2008, 359, 366: „Angesichts der Erfahrungen der NS-Herrschaft und namentlich der Judenverfolgung ist nicht anzunehmen, dass das Grundgesetz allein staatliche Diskriminierungen ächten, sich aber gegenüber privaten Diskriminierungen indifferent verhalten wollte.“ 918 S. Baer, ZRP 2002, 290, 292; von Mangoldt/S. Baer/N. Markard, Art. 3 GG Rn. 417; J. Frowein, in: FS Zacher (1998), Die Überwindung von Diskriminierung als Staatsauftrag in Art. 3 Abs. 3 GG, S. 157, 162; ; M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 346 f.; Maunz/Dürig/ C. Langenfeld, Art. 3 III GG Rn. 92; R. Lehner, Zivilrechtlicher Diskriminierungsschutz und Grundrechte (2013), S. 263; H. Reichold, ZfA 2006, 257, 266 ff.: „verfassungsrechtliche Verstärkung des einfachgesetzlichen Schutzanliegens“ (S. 269); ErfK/M. Schlachter, Vorbem. 915
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
dung des Staates gem. Art. 1 III, 3 III GG und der Gleichbehandlungspflicht Privater, die sich selbst auf ihre grundrechtlich geschützte Vertrags- und Berufsfreiheit stützen können, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Bei der Anordnung einer Gleichbehandlungspflicht Privater muss der Gesetzgeber die gegenläufigen Grundrechte abwägen.919 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Einstellungs- und Beförderungsansprüche würden der Herstellung materialer Gleichheit dienen und insofern legitime Ziele verfolgen. (bb) Schutz der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I GG Das AGG verbietet Diskriminierungen in Bezug auf spezifische Lebensbereiche (vgl. § 2 I AGG). Die Benachteiligungsverbote und ihre Rechtsfolgen verwirklichen daher nicht nur gleichheitsrechtliche Ziele, sondern schützen – jedenfalls flankierend – auch durch Diskriminierungen beeinträchtigte Freiheitsrechte. Diskriminierungen bei der Einstellung und Beförderung betreffen nicht allein die gleichheitsrechtliche Dimension der Teilhabe am Arbeitsmarkt, sondern auch die freiheitsrechtlich geschützte Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen: Gem. Art. 12 I GG haben alle Deutschen das Recht, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen. Nach der in der „Warteschleife-Entscheidung“ etablierten und mittlerweile allgemein anerkannten Interpretation des BVerfG gewährleistet die Freiheit der Arbeitsplatzwahl die Entscheidung „für eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit oder ein bestimmtes Arbeitsverhältnis“, wozu „bei abhängig Beschäftigten auch die Wahl des Vertragspartners“ gehört. Geschützt ist die erstmalige Entscheidung, eine Beschäftigung auf einem bestimmten Arbeitsplatz ergreifen zu wollen sowie der Wille, diese Beschäftigung „beizubehalten oder aufzugeben.“920 Im Ausgangspunkt eines abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnisses sind daher sowohl die Modalitäten der Begründung als auch der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille, gleichermaßen durch Art. 12 I GG gewährleistet.921 Die abwehrrechtliche Dimension der freien AGG Rn. 5: AGG als „Konkretisierung“ von Art. 3 III GG; R. Uerpmann-Wittzack, ZaöRV 2008, 359, 367: „Bei der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Privatautonomie stellt die objektive Grundentscheidung gegen Diskriminierungen einen wichtigen Abwägungsbelang dar.“ 919 Vgl. im Kontext der mittelbaren Drittwirkung von Art. 3 III GG T. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 410; von Münch/Kunig/S. Boysen, Art. 3 GG Rn. 151 ff.; BVerfG, Beschl. v. 27. 8. 2019 – 1 BvR 879/12, NJW 2019, 3769, 3770 (Rn. 11) unter der nicht entschiedenen Prämisse, dass Art. 3 III GG überhaupt eine Drittwirkung entfaltet. 920 BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667; bestätigt durch BVerfG, Urt. v. 10. 3. 1992 – 1 BvR 454/91 u. a., NJW 1992, 1373, 1374 sowie BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; jüngst BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 775 (Rn. 38); vorher auch schon BAG, Urt. v. 29. 6. 1962 – 1 AZR 343/61, NJW 1962, 1981, 1983. 921 Aus der Literatur K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 50 f.; T. Lakies, DB 1997, 1078, 1078; H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996),
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Arbeitsplatzwahl hat das BVerfG jüngst bestätigt: Anlässlich der verfassungsrechtlichen Überprüfung von § 14 II 2 TzBfG hat das Gericht festgestellt, dass die Vorschrift die Chancen der Bewerber:innen bei der Arbeitsplatzsuche einschränke und daher ihr Recht beeinträchtige, bei gleicher Eignung die gleiche Chance auf einen Arbeitsplatz zu haben.922 Die mit der Norm verfolgten Schutzziele können nach Ansicht des Gerichts, „soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht“, die Beeinträchtigung des legitimen Interesses der Arbeitsuchenden nicht rechtfertigen.923 Anders als bei Selbstständigen wird die Arbeitsplatzwahlfreiheit von Arbeitnehmer:innen aber nicht primär durch den Staat gefährdet, sondern durch gesellschaftliche Kräfte: Sie verwirklichen ihre Berufsfreiheit in erster Linie im Privatrechtsverkehr und sind dabei auf die Kooperation von strukturell stärkeren Arbeitgeber:innen angewiesen. Arbeitnehmer:innen können ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit nicht verwirklichen, wenn Arbeitgeber:innen sie nicht einstellen oder befördern. Der Schwerpunkt der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 12 I GG verlagert sich für Arbeitnehmer:innen daher auf eine Schutzdimension. Ohne staatlichen Schutz läuft ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit Gefahr, eine leere Hülle zu werden. Ein Schutzauftrag an den Gesetzgeber, Arbeitnehmer:innen tatsächlich einen Arbeitsplatz bereitzustellen oder einen darauf gerichteten Anspruch gegen private Arbeitgeber:innen zu gewähren, resultiert daraus nach einhelliger Ansicht jedoch nicht.924 Art. 12 I GG verpflichtet den Gesetzgeber also nicht dazu, Diskriminierungen durch Einstellungs- oder Beförderungsansprüche zu kompensieren, um die Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen zu schützen. Auch ohne verfassungsrechtlich dazu verpflichtet zu sein, Arbeitnehmer:innen Zugang zu Arbeitsplätzen zu verschaffen, darf der Gesetzgeber aber darauf gerichtete Maßnahmen erlassen: Diese Befugnis folgt nicht bloß aus seinem weiten Gestaltungsspielraum auf dem Gebiet des Arbeitsrechts,925 sondern auch aus dem Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 I GG. Dieses Verfassungsprinzip richtet einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber, soziale Gegensätze auszugleichen und eine gerechte Sozialordnung zu schaffen.926 Dahinter steht die Erkenntnis, dass die an die Bürger gerichteten FreiS. 26 f.; S. Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes (2001), S. 47. 922 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 778 (Rn. 56). 923 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779 (Rn. 62). 924 St. Rspr. seit BVerfG, Urt. v. 24. 4. 1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667, 1667; P. Badura, RdA 1999, 8, 10; H.-J. Papier, DVBl 1984, 801, 810; ders., RdA 1989, 137, 138; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 92. 925 BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905, 909 (Rn. 33) m. w. N. 926 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 8. 6. 2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, 1657, 1662; BVerfG, Urt. v. 18. 7. 1967 – 2 BvF 3/62 u. a., NJW 1967, 1795, 1796; vgl. auch schon BVerfG, Beschl. v. 19. 12. 1951 – 1 BvR 220/51, NJW 1952, 297, 298.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
heitsversprechen des liberalen Rechtsstaats nur dann in der sozialen Realität gelten, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für eine persönliche und soziale Entfaltung vorliegen. Sind Teile der Gesellschaft aufgrund ihrer Lebensumstände oder gesellschaftlicher Strukturen daran gehindert, verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge.927 Der Gesetzgeber ist dazu aufgefordert und ermächtigt, aktiv gestaltend tätig zu werden.928Aufgrund der Weite und Unbestimmtheit des Prinzips lassen sich daraus regelmäßig keine konkreten Handlungspflichten des Gesetzgebers oder subjektive Rechte des Einzelnen ableiten; der Gesetzgeber hat einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Wahrnehmung seines Auftrags.929 Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft.930 Bedeutsam ist das Sozialstaatsprinzip daher vornehmlich bei der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen: Der Gesetzgeber kann sich auf den Handlungsauftrag aus Art. 20 I GG berufen, wenn er zur Verfolgung sozialstaatlicher Zwecke in die Grundrechte Dritter eingreift.931 Das gilt z. B. für gesetzliche Vorschriften, die einem sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewicht von Vertragspartnern entgegenwirken, indem sie das schwächere Privatrechtssubjekt vor der Überlegenheit des anderen schützen: Sie sind nicht nur zum Schutz material verstandener Privatautonomie gerechtfertigt, sondern verwirklichen zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip.932 Ähnliche Erwägungen gelten, wenn der Gesetzgeber zur Beschäftigungsförderung in Grundrechte eingreift:
927 BVerfG, Beschl. v. 22. 6. 1977 – 1 BvL 2/74, NJW 1978, 207; von Münch/Kunig/ M. Kotzur, Art. 20 GG Rn. 74; Dreier/F. Wittreck, Art. 20 GG Rn. 43. 928 Dreier/F. Wittreck, Art. 20 GG Rn. 35: „Auftrag an den demokratischen Verfassungsstaat, die vorgefundene Sozialordnung nicht einfach hinzunehmen bzw. als sozialstaatlicher Rettungssanitäter lediglich die ,Notfälle‘ durch Fürsorgemaßnahmen zu sedieren, sondern auf das eigene soziale Substrat aktiv-gestaltend einzuwirken.“ 929 St. Rspr. seit BVerfG, Beschl. v. 19. 12. 1951 – 1 BvR 220/51, NJW 1952, 297, 298; aus jüngerer Zeit BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, 2267, 2275 (Rn. 257); BVerfG, Beschl. v. 8. 6. 2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, 1657, 1662; BVerfG, Beschl. v. 29. 5. 1990 – 1 BvL 20/84 u. a., NJW 1990, 2869, 2870; BVerfG, Beschl. v. 13. 1. 1982 – 1 BvR 848/77, NJW 1982, 1447, 1449; S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 217; von Münch/Kunig/ M. Kotzur, Art. 20 GG Rn. 79; Sachs/M. Sachs, Art. 20 GG Rn. 47, 50. 930 BVerfG, Beschl. v. 8. 6. 2004 – 2 BvL 5/00, NJW-RR 2004, 1657, 1662; BVerfG, Beschl. v. 29. 5. 1990 – 1 BvL 20/84 u. a., NJW 1990, 2869, 2870; vgl. auch BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, 2267, 2275. 931 BVerfG, Beschl. v. 13. 1. 1982 – 1 BvR 848/77, NJW 1982, 1447, 1449; BVerfG, Beschl. v. 27. 4. 1999 – 1 BvR 2203/93 u. a., NJW 1999, 3033, 3034: „legitimierendes Gewicht“; vgl. auch Sachs/M. Sachs, Art. 20 GG Rn. 50; ob das auch für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte gilt, also das Sozialstaatsprinzip eine verfassungsimmanente Schranke darstellt, ist umstritten, kann hier aber dahinstehen. 932 BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470 („HandelsvertreterFall“) und BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 38 („BürgschaftsFall“).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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„Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat auf Grund des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 I GG) Verfassungsrang. Die Verringerung von Arbeitslosigkeit ermöglicht den zuvor Arbeitslosen, das Grundrecht aus Art. 12 I GG zu verwirklichen, sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren. Insofern wird das gesetzliche Ziel auch von Art. 1 I, 2 I GG getragen. Darüber hinaus ist der mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einhergehende Beitrag zur finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein Gemeinwohlbelang von hoher Bedeutung.“933
Durch Einstellungs- und Beförderungsansprüche diskriminierter Personen würden strukturell unterlegene Arbeitsuchende und Arbeitnehmer:innen in den Arbeitsmarkt integriert und ihnen ermöglicht, ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit gem. Art. 12 I GG wahrzunehmen. Auch wenn der Gesetzgeber diese Ziele mit dem AGG nicht primär verfolgt,934 könnte er sich zur Rechtfertigung der Diskriminierungsverbote und ihrer Rechtsfolgen auf seinen weiten Gestaltungsspielraum bei der Verfolgung sozialstaatlicher Ziele gem. Art. 20 I GG berufen. Obwohl weder Art. 12 I noch Art. 20 I GG ein durch Kontrahierungszwänge zu erfüllendes Untermaßverbot enthält, fällt die sozialstaatlich angereicherte Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I GG als legitimer Gemeinwohlbelang in die Waagschale.935 (cc) Integritätsschutz der Arbeitnehmer:innen Da Diskriminierungen auch die Würde und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen verletzen,936 könnten die Rechtsfolgen des AGG auch am legitimen Ziel zu messen sein, diese durch Art. 2 I, 1 I GG gewährleisteten Rechtsgüter zu schützen.937 Der verfassungsrechtlich untermauerte Gemeinwohlbelang kann als legitimes Ziel hypothetischer Einstellungs- und Beförderungsansprüche herangezogen werden, wenn diese Rechtsfolgen tatsächlich dem Persönlichkeitsschutz der betroffenen Personen dienen. Auf den ersten Blick ist das zweifelhaft: Dass Bewerber:innen oder Arbeitnehmer:innen diskriminierende Arbeitgeber:innen zur Einstellung oder Beförderung gegen deren Willen (aus „zähneknirschende[m] Scheingehorsam“938) zwingen, beseitigt regelmäßig nicht die diskriminierende Haltung der Arbeitgeber:innen und damit auch nicht vollständig die damit einhergehende Herabwürdi933 BVerfG, Beschl. v. 20. 3. 2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609, 611 (Rn. 37); BVerfG, Beschl. v. 11. 7. 2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51, 54 (Rn. 88 f.); BVerfG, Beschl. v. 3. 4. 2001 – 1 BvL 32/97, NZA 2001, 777, 779; BVerfG, Beschl. v. 27. 4. 1999 – 1 BvR 2203/93 u. a., NJW 1999, 3033, 3034 jeweils m. w. N. aus der Rechtsprechung. 934 Vgl. oben 4. Kap. B. II. 2. 935 Vgl. auch W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 101, nach dem die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und die gerechte Arbeitsplatzverteilung legitime Ziele sind, die der Gesetzgeber mit Berufsausübungsregelungen verfolgen darf. 936 Siehe ausführlich oben 4. Kap. B. II. 3. 937 Diese verfassungsrechtliche Verankerung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entspricht der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, z. B. BVerfG, Urt. v. 31. 1. 1989 – 1 BvL 17/ 87, NJW 1989, 891. 938 D. Medicus/S. Lorenz, SchuldR I (2021), Rn. 79.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gung der Diskriminierten. Busche geht daher davon aus, dass Diskriminierte regelmäßig gar nicht mehr an einem Vertragsabschluss mit den Diskriminierenden interessiert seien.939 Aus diesen Gründen lehnen Teile der Literatur einen Kontrahierungszwang im zivilrechtlichen940 sowie beschäftigungsrechtlichen Teil des AGG ab.941 Diese Sichtweise ist nicht überzeugend. Sie beruht auf der Annahme, dass sich eine Persönlichkeitsverletzung in der diskriminierenden Willensbildung der Arbeitgeber:innen erschöpft und daher mit der Verweigerung des Vertragsschlusses abgeschlossen ist.942 Damit wird vernachlässigt, worin der spezifische Verletzungsgehalt von Diskriminierungen im Arbeitsleben liegt: Es geht hier nicht um flüchtige Würde- und Persönlichkeitsverletzungen durch Beleidigungen oder tätliche Übergriffe, die mit Ausspruch oder Angriff beendet sind, sondern um Verletzungen, die darin bestehen, dass eine soziale Teilhabe unterlassen wird. Der Achtungsanspruch wird durch eine Ausgrenzung in Frage gestellt, die so lange andauert, bis die Person gleichberechtigt behandelt wird. Dagegen kann nicht eingewandt werden, dass sich Bewerber:innen auch bei anderen Arbeitgeber:innen bewerben können: Dadurch würden sie nämlich gezwungen, ihrer Diskriminierung auszuweichen und sich der Stigmatisierung der Arbeitgeber:innen zu beugen, was die ursprüngliche Herabsetzung perpetuiert.943 Hinzu kommt, dass es bei unterlassenen Beförderungen regelmäßig keine zumutbaren Alternativen gibt. Ebenfalls unzulässig ist der Einwand, Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen seien an einem Vertragsschluss mit diskriminierenden Arbeitgeber:innen nicht interessiert und ein Kontrahierungszwang könne ihren Achtungsanspruch schon deshalb nicht wiederherstellen. Wer so argumentiert, bedient paternalistische Argu939 J. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006), Effektive Rechtsdurchsetzung und Sanktionen bei Verletzung richtliniendeterminierter Diskriminierungsverbote, S. 159, 174 f. 940 C. Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1496 f.; H. Hanau, in: FS Adomeit (2008), „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ und Kontrahierungszwang, S. 237, 247; D. Medicus/ S. Lorenz, SchuldR I (2021), Rn. 79; G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 25; S. Wendt/ F. Schäfer, JuS 2009, 206, 208; zu Kontrahierungszwängen infolge Diskriminierung gem. § 826 BGB F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 44 f. (Fn. 69). 941 J. Bader, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz als Privatrecht (2012), S. 397; T. Lobinger, AcP 206 (2016), 29, 96. 942 So ausdrücklich T. Lobinger, AcP 206 (2016), 29, 96. 943 D. Looschelders, JZ 2012, 105, 111; M. Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht (2015), S. 192; zur rassistischen und an die Ethnie anknüpfenden Diskriminierung auch T. Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 430; vgl. auch M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 731, nach dem Diskriminierungsschutz nichts wert sei, wenn man sich einer Diskriminierung im Ergebnis doch beugen müsse. Einschränkend J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 295: Ein Zwang zum Ausweichen auf einen anderen Vertragspartner kann die Beeinträchtigung des persönlichen Geltungsanspruchs verfestigen und daher unzumutbar sein, wenn die Vertragsverweigerung ,in der Öffentlichkeit‘ stattgefunden hat, Staudinger/R. Bork, Vorb. § 145 BGB Rn. 24 für rassistische Diskriminierungen.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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mentationsmuster, vor denen das AGG gerade schützen soll: Niemand außer den benachteiligten Personen kann beurteilen, ob sie daran interessiert sind, für die Arbeitgeber:innen zu arbeiten.944 Unterschiedlichen Interessen diskriminierter Personen kann mit einem Wahlrecht zwischen Einstellungsanspruch und Schadensersatz in Geld analog § 249 II BGB945 Rechnung getragen werden. Einstellungs- und Beförderungsansprüche würden daher auch die Integrität diskriminierte Personen schützen und damit ein gem. Art. 2 I, 1 I GG verfassungsrechtlich geschütztes legitimes Ziel verfolgen. (dd) Ergebnis: Schutzzwecke des AGG als legitime Ziele Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären darauf gerichtet, den Zustand herstellen, der ohne die Diskriminierung bestanden hätte, würden also eine gleichberechtigte Teilhabe der diskriminierten Personen am Arbeitsleben realisieren. Diese Rechtsfolge wäre von den Schutzzwecken des Antidiskriminierungsrechts umfasst, materiale Gleichheit der benachteiligten Personen im Arbeitsleben herzustellen und damit gleichzeitig ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit und ihren persönlichen Achtungsanspruch zu schützen. Bei diesen Zielen handelt es sich um Gemeinwohlbelange, die verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (Art. 3 III, Art. 12 I, 20 I und Art. 2 I, 1 I GG) im Privatrecht realisieren. Einstellungs- und Beförderungsansprüche würden also legitime Ziele verfolgen. (c) Geeignetheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen, wenn sie zur Erreichung der legitimen Ziele nicht geeignet wären. Ein. Mittel ist geeignet, wenn „mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein Einschätzungs- und Prognosevorrang zu.“946 Dass die Einstellung oder Beförderung einer diskriminierten Person alle mit dem AGG insgesamt geschützten Gleichheits-, Zugangs- und Integritätsinteressen prinzipiell fördert, wurde bereits bei der Ermittlung legitimer Gemeinwohlbelange besprochen.947 Noch nicht erörtert ist allerdings, ob Kontrahierungszwänge auch unter praktischen Gesichtspunkten geeignete Mittel sind.
944 So dezidiert M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 731: „Ich weiß nicht, woran ,der Diskriminierte‘ interessiert ist“. Er erinnert außerdem mahnend an Argumentationsmuster des US Supreme Court aus dem 19. Jahrhundert, nach denen „sich die Rassen als Gleiche nur begegnen, wenn dies das Ergebnis eines ,voluntary consent of individuals‘ sei“; außerdem Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 21 AGG Rn. 87: „Wer will das messen?“; J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), S. 239: „bevormundend“. 945 Siehe oben 6. Kap. B. IV. 1. b) bb) (2) (a) (bb). 946 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 20. 3. 2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609, 611 (Rn. 40) m. w. N. 947 Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (2) (b).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
(aa) Langfristige Perspektive des erzwungenen Vertrags Zweifel an der praktischen Eignung von Kontrahierungszwängen erweckt eine Passage in den Gesetzgebungsmaterialien: Der Gesetzgeber hat den Ausschluss eines Einstellungsanspruchs in § 611a BGB a. F. auch damit begründet, dass „ein über eine erzwungene Einstellung zustande gekommenes Arbeitsverhältnis kaum langfristig Bestand haben“ dürfte.948 Arbeitsverhältnisse, die keinen langfristigen Bestand haben, könnten zum Schutz der Arbeitnehmer:innen ungeeignet sein.949 Es ist nicht eindeutig, welches Szenario der Gesetzgeber dabei im Blick hatte: den Umstand, dass Arbeitgeber:innen zwangsweise eingestellte Arbeitnehmer:innen ohne Angabe von Gründen direkt kündigen könnten (vgl. § 1 I KSchG), oder den Umstand, dass die Arbeitsverhältnisse mittelfristig nicht funktionieren, da das notwendige wechselseitige Vertrauen in einer auf einem Dissens fußenden Vertragsbeziehung nicht entstehen kann.950 Beide Erwägungen sind als rationes legis bei der Auslegung von § 15 VI AGG zu berücksichtigen,951 sie stehen aber nicht der Eignung von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen nach verfassungsrechtlichen Maßstäben entgegen, nach denen alle Maßnahmen geeignet sind, mit denen die Gemeinwohlbelange gefördert werden können.952 Einstellungs- und Beförderungsansprüche würden die Herstellung materialer Gleichheit und die freie Arbeitsplatzwahl der Arbeitnehmer:innen jedenfalls fördern: Die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder eines beruflichen Aufstiegs würde diskriminierten Personen jedenfalls die Chance eröffnen, gleichberechtigt den Arbeitsplatz ihrer Wahl zu ergreifen. Eine arbeitgeberseitige Kündigung unmittelbar nach Vertragsbegründung wäre zudem ohnehin unwirksam, da in ihr das diskriminierende Motiv fortwirken würde.953 Außerdem würden nur solche Arbeitnehmer:innen Einstellungsansprüche anstelle eines Geldersatzanspruchs geltend machen, die dazu bereit sind, sich trotz der Diskriminierungserfahrung im Unternehmen zu integrieren und die Arbeitsleistung wie geschuldet zu erbringen. Diese Bereitschaft kann beispielsweise damit zusammenhängen, dass Arbeitnehmer:innen (insbesondere bei zweckrationalen Diskriminierungen) subjektiv keine intensive Herabwürdigung empfunden haben oder dass die Diskriminierung von einer Person ausgegangen ist, mit der die diskriminierten Arbeitnehmer:innen im Arbeitsalltag keinen Kontakt haben. Schließlich ist der Aspekt des wechselseitigen Vertrauens nicht überzubewerten: Dass die 948 Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 22. Der Hinweis auf die Rechte der Mitbewerber ist vermutlich als Reaktion auf eine Stellungname des Bundesrats (Anlage 2 zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 62) eingefügt worden (siehe wortgleiche Gegenäußerung der Bundesregierung, Anlage 3 zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 74). 949 So auch im Kontext von § 21 AGG G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 25. 950 So Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 148; H. Reichold, JZ 2004, 384, 392. Diese Bedenken werden auch gegen die Eignung zivilrechtlicher Kontrahierungszwänge geäußert, z. B. C. Armbrüster, KritV 2005, 41, 47; T. Lobinger, AcP 206 (2016), 29, 98; M. Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht (2015), S. 196. 951 Siehe unten 6. Kap. C. II. 5. b), c). 952 Vgl. G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 25 im Kontext von § 21 I AGG. 953 Siehe dazu schon oben 6. Kap. B. IV. 1. b) bb) (2) (b) (aa) (a).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Subjektstellung der Arbeitnehmer:innen in einem Arbeitsverhältnis, das durch die Geltendmachung individueller Ansprüche sowie oftmals eine kollektive Interessenvertretung geprägt wird, immer in einem natürlichen Antagonismus zu den Interessen wirtschaftlich agierender Arbeitgeber:innen steht, erkennt die Rechtsordnung nicht nur durch die hohe Dichte zwingender Arbeitnehmerschutzvorschriften, sondern insbesondere auch durch die Existenz von Maßregelungsverboten an. Eine uneingeschränkt harmonische und kooperative Beziehung ist daher zwar der Idealzustand, aber keine unabdingbare Voraussetzung funktionierender Arbeitsverhältnisse. Auch unterhalb dieses Idealzustands sind funktionierende langfristige Arbeitsbeziehungen denkbar. Etwas anderes mag in besonders kleinen Betrieben gelten, in denen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen besonders eng und intensiv zusammenarbeiten müssen.954 Würde das Arbeitsverhältnis in diesen Betrieben aufgrund zwischenmenschlicher Unstimmigkeiten nicht mehr passen, trüge § 23 I KSchG der besonderen Nähebeziehung im Kleinbetrieb aber Rechnung. Vertragsstörungen, aufgrund derer Arbeitsverhältnisse nicht funktionieren, sind in den Fällen, in denen Arbeitnehmer:innen sich für die Geltendmachung eines Einstellungsanspruchs entschieden haben, also nicht so wahrscheinlich und so massiv, dass der Anspruch seinen Zweck nicht mehr erfüllen kann. Die vermeintlich fehlende langfristige Perspektive kann erst recht nicht Beförderungsansprüchen ihre Geeignetheit absprechen: Ein Ausschluss von Beförderungsansprüchen führt nämlich dazu, dass diskriminierte Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsverhältnisse mit den diskriminierenden Arbeitgeber:innen auf der bisherigen Hierarchieebene fortführen. Fortsetzungsansprüche würden also nicht zu einer Verschlechterung der beruflichen Zusammenarbeit führen. (bb) Keine Ineffektivität wegen langer Verfahrensdauer Nach Busche sind Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge von Diskriminierungen ungeeignet, da bis zur rechtskräftigen Entscheidung zu viel Zeit vergehe.955 Mit der Prozessdauer steigt in der Tat die Wahrscheinlichkeit, dass klagende Arbeitnehmer:innen neue Arbeitsverhältnisse angetreten haben und das Interesse am Arbeitsplatz nachgelassen hat. Ob eine solch lange Verfahrensdauer tatsächlich zu befürchten ist, ist aber unklar: Bestandsstreitigkeiten, zu denen nach teilweise vertretener Ansicht auch Streitigkeiten über Einstellungsansprüche gehören,956 sind 954
Ähnlich U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 131: „Eine enge persönliche Verbundenheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ sei keine notwendige Facette eines Arbeitsverhältnisses. Ausnahmen gebe es dort, wo Arbeitgeber: innen und Arbeitnehmer:innen eng zusammenarbeiten. 955 J. Busche, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006), Effektive Rechtsdurchsetzung und Sanktionen bei Verletzung richtliniendeterminierter Diskriminierungsverbote, S. 159, 174 f. 956 Natter/Gross/M. Rieker, § 61a ArbGG Rn. 5; HWK/W. Ziemann, § 61a ArbGG Rn. 4; a. A. BeckOK ArbR/A. Hamacher, § 61a ArbGG Rn. 5; GMP/A. Schleusener, § 61a ArbGG Rn. 5; DHSW/F. Schmitt, § 61a ArbGG Rn. 2.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gem. § 61a I ArbGG vorrangig zu erledigen. Nach einer vom BMAS veröffentlichten Statistik über die Arbeitsgerichtsbarkeit 2019 haben die Arbeitsgerichte erster Instanz ca. 187.000 Bestandsstreitigkeiten erledigt.957 Davon wurde ca. ein Viertel der Bestandsstreitigkeiten in unter einem Monat erledigt und knapp die Hälfte zwischen einem und drei Monaten. Es ist schwierig, aus diesen Zahlen Rückschlüsse auf die potenzielle Verfahrensdauer von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen zu ziehen, da vor allem Kündigungsschutzklagen zügig durch einen Abfindungsvergleich beendet werden, Einstellungs- oder Fortsetzungsansprüche aber gerade geltend gemacht werden würden, wenn sich Arbeitnehmer:innen nicht mit einer finanziellen Kompensation abfinden möchten. Selbst bei einer mehrmonatigen Verfahrensdauer würde ein stattgebendes Urteil aber noch die Arbeitnehmerinteressen an einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt befriedigen, da es Arbeitgeber:innen zur Abgabe einer Willenserklärung rückwirkend zum Zeitpunkt des unterlassenen Arbeitsvertrags verpflichten würde.958 Unabhängig von der Verfahrensdauer würde auch bereits die materiellrechtliche Anerkennung von Einstellungsund Beförderungsansprüchen die Grundrechtspositionen der Arbeitnehmer:innen stärken: Das Risiko, gerichtlich zum Vertragsschluss mit Arbeitnehmer:innen verurteilt zu werden und dadurch ggf. einen inzwischen besetzten Arbeitsplatz freikündigen oder mehr Arbeitnehmer:innen als notwendig beschäftigen zu müssen, erzeugt unter Umständen einen stärkeren wirtschaftlichen Druck als die Pflicht zur Leistung von Schadensersatz in Geld, der nach den oben dargestellten Grundsätzen gedeckelt ist.959 Müssten Arbeitgeber:innen befürchten, in einem Prozess zu unterliegen, da es Indizien für eine Benachteiligung gibt, würden sie daher eher freiwillig ein Vertragsangebot abgeben, als wenn ihnen nur ein Schadensersatz in Geld drohte. Eine solche Wirkung ist umso eher anzunehmen, je mehr Kontrahierungszwängen tatsächlich vor Gerichten stattgegeben würde: Sie könnten eine Signalwirkung entfalten, die das Verhalten von Arbeitgeber:innen mittelfristig regulativ steuert.960 Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären daher trotz der unter Umständen mehrmonatigen Verfahrensdauer dazu geeignet, die Interessen der Arbeitnehmer:innen an einem gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu schützen.
957
Ergebnisse der Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit 2019, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, online abrufbar unter https://www.bmas.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Arbeitsrecht/Statistiken/Ergebnisse-Statistik-Arbeitsgerichtsbarkeit-2019. pdf;jsessionid=684FF135E533A54781A45ECC98938A1A.delivery2-replication?__blob=pu blicationFile&v=1. 958 Siehe unten 8. Kap. B. 959 Siehe oben 6. Kap. B. IV. 1. b) bb) (2) (b) (bb) (c). 960 Darauf weist auch S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 390 f. hin, der damit für einen Kontrahierungszwang als Rechtsfolge in § 21 I AGG argumentiert.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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(d) Erforderlichkeit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen Einstellungs- oder Beförderungsansprüche wären zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen nicht erforderlich, „wenn ein anderes, gleich wirksames, aber die Berufsfreiheit weniger fühlbar einschränkendes Mittel“961 existiert. Auch bei der Einschätzung der Erforderlichkeit verfügt der Gesetzgeber über einen Beurteilungsund Prognosespielraum, der erst überschritten ist, „wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für die getroffene Maßnahme abgeben können.“962 Ein milderes Mittel als Kontrahierungszwänge könnten Ansprüche auf Schadensersatz in Geld gem. § 15 I, II AGG sein.963 Würde ein Schadensersatz in Geld den gesamten entgangenen Gewinn bis zum Ende des unterlassenen Arbeitsverhältnisses umfassen, könnte bereits bezweifelt werden, ob die Pflicht zur Geldzahlung ein milderes Mittel ist, verpflichtet sie Arbeitgeber:innen doch zu einer Entgeltleistung ohne die Arbeitsleistung zu erhalten.964 Allerdings ist der entgangene Gewinn nur für die nach § 252 S. 2 BGB zu prognostizierende durchschnittliche Dauer des Arbeitsverhältnisses ersatzfähig. Auf den Gewinn sind Entgeltleistungen, die Arbeitnehmer:innen aus einem neuen Arbeitsverhältnis beziehen oder unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei einer rechtzeitigen und ordentlichen Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt erzielen könnten (§ 254 I, II 1 BGB), anzurechnen. Damit ist die Höhe der Schadensersatzleistung oft viel geringer. Außerdem besteht der besondere Eingriffsgehalt von Kontrahierungszwängen darin, dass die Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen komplett beseitigt. Diese Eingriffswirkung von Kontrahierungszwängen würde durch einen Schadensersatzanspruch verhindert werden, der also ein milderes Mittel wäre. Entscheidend ist damit, dass Schadensersatzansprüche nicht gleich geeignet sind: Geldleistungen stellen materiale Gleichheit nicht wieder her, beseitigen nicht die mit Ausgrenzungen entstandene andauernde Herabwürdigungen und erfüllen nicht das Interesse der Arbeitnehmer:innen, Arbeitsplätze ihrer Wahl zu bekleiden. Die Pflicht zum Schadensersatz in Geld übt zwar eine verhaltenssteuernde Wirkung auf Arbeitgeber:innen aus, da das Risiko, zur Zahlung von Schadensersatzansprüchen verpflichtet zu werden, wirtschaftlich denkende Arbeitgeber:innen dazu veranlassen kann, nicht zu diskriminieren und Arbeitnehmer:innen einzustellen oder zu befördern.965 Dieser mittelbare Zwang zum Vertragsschluss ist aber nicht genauso wirk961
547. 962
St. Rspr., statt aller BVerfG, Beschl. v. 5. 5. 1987 – 1 BvR 724/81 u. a., NJW 1988, 545,
BVerfG, Beschl. v. 20. 3. 2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609, 611 (Rn. 45). So S. Lieske, Diskriminierungsschutz und unternehmerische Freiheit (2011), S. 223 (Fn. 62). 964 So im Kontext von § 21 I AGG S. Wendt/F. Schäfer, JuS 2009, 206, 209. 965 Vgl. zu der verhaltenssteuernden Wirkung der Ersatzpflicht G. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 352, 398 ff.; M. Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht (2015), S. 152. 963
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
sam wie unmittelbare Kontrahierungszwänge: Arbeitgeber:innen mögen Diskriminierungen zwar weniger leichtfertig vornehmen, sondern erst nach einer Abwägung der Vor- und Nachteile. Je unliebsamer Bewerber:innen oder Arbeitnehmer:innen den Arbeitgeber:innen sind, desto mehr Geld werden sie sich aber Diskriminierungen kosten lassen. Damit kann das Risiko einer finanziellen Sanktion von Diskriminierungen die Gleichheits- und Zugangsinteressen von Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen nicht genauso wirksam gewährleisten wie Einstellungs- und Beförderungsansprüche.966 Schadensersatzansprüche gem. § 15 I, II AGG sind damit kein gleich geeignetes Mittel. (e) Angemessenheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären schließlich verfassungswidrig, wenn sie unzumutbar in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen, weil das Maß der Belastung der Arbeitgeber:innen in keinem „vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht. Um eine solche Angemessenheit feststellen zu können, ist eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung der Eingriff in die Grundrechte erforderlich ist, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der davon Betroffenen notwendig.“967 Es wurde oben bereits der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beim Ausgleich kollidierender Grundrechtspositionen Privater herausgestellt: Ihm obliegt die Gewichtung einander entgegenstehender Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Erst wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann, ist die Grenze der Zumutbarkeit übertreten.968 Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären also verfassungswidrig, wenn nach diesen Maßstäben von einem angemessenen Ausgleich zwischen der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen und dem Schutz der Gleichheit, Ar966 Ähnlich zu der Frage, ob eine Abfindungslösung die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen genauso schützt wie die Unwirksamkeit einer Kündigung K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 89 f.; H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 36; ders., RdA 1997, 9, 17; D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 425; R. Weißflog, Abfindungsansprüche zur Ergänzung oder Ablösung des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes (2007), S. 472, 480, 483; vgl. im Kontext von § 21 AGG S. Wendt/F. Schäfer, JuS 2009, 206, 209. 967 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 27. 2. 2008 – 1 BvR 1295/07, NJW 2008, 1293, 1297 (Rn. 54); BVerfG, Beschl. v. 16. 3. 1971 – 1 BvR 52, 665, 667/66, NJW 1971, 1255, 1256 f. m. w. N. 968 BVerfG, Beschl. v. 23. 10. 2013 – 1 BvR 1842/11 u. a., NJW 2014, 46, 47 (Rn. 68 ff.); ähnlich BVerfG, Urt. v. 31. 5. 2016 – 1 BvR 1585/13, NJW 2016, 2247, 2248 (Rn. 70 f.); BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 19. 10. 1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36, 39; BVerfG, Beschl. v. 7. 2. 1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469, 1470.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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beitsplatzwahlfreiheit und Integrität der Beschäftigten nicht mehr gesprochen werden kann. Ebenfalls bereits erörtert wurde, dass der Richtlinien- und der nationale Gesetzgeber mit dem Erlass der Diskriminierungsverbote bzw. der Ausgestaltung der Sanktionen in § 15 I, II AGG bereits die (hier nicht zu überprüfende) Abwägung getroffen haben, dass Arbeitgeber:innen eine Pflicht zur Einstellung und Beförderung von Menschen zumutbar ist, die sie aus stigmatisierenden oder wirtschaftlichen Gründen nicht beschäftigen möchten. Die Annahme, dass der Gesetzgeber eine Durchsetzung dieser Pflicht durch Einstellungs- und Beförderungsansprüche als verfassungswidrige Eingriffe in die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen beurteilt hat, setzt daher voraus, dass die Unangemessenheit gerade dem Mittel der Verbotsdurchsetzung, also dem Kontrahierungszwang selbst, anhaftet. Der spezifische Eingriffsgehalt eines Kontrahierungszwangs liegt darin, dass der Konsens als Grundprinzip der Rechtsgeschäftslehre aufgehoben wird und die Selbstbestimmung von Arbeitgeber:innen über ihre vertraglichen Bindungen nicht nur durch Verbote und finanzielle Sanktionen „domestiziert“, sondern durch einen – notfalls gem. § 894 ZPO zwangsvollstreckbaren Anspruch – „auf Null reduziert“ wird.969 Entscheidend ist daher, ob und unter welchen Voraussetzungen Kontrahierungszwänge als Mittel privatrechtlicher Verhaltenssteuerung angemessen sein können. (aa) Maßstabsbildung: Rechtfertigung von Kontrahierungszwängen im allgemeinen Zivilrecht Um die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Kontrahierungszwängen zu konkretisieren, dienen etablierte Kontrahierungszwänge als Orientierungspunkte. Da das Arbeitsrecht keine Kontrahierungszwänge kennt, die nicht an bestehende Vertragsbeziehungen anknüpfen,970 ist ein Blick in das allgemeine Zivilrecht zu werfen, in dem Vertragsschlusspflichten mit Fremden seit langer Zeit anerkannt sind: Seinen Ausgang nahm das Phänomen Kontrahierungszwang im Anfang des letzten Jahrhunderts bei der zivilrechtlichen Herleitung von Abschlusspflichten zur Sicherung der Vertragsbegründungsfreiheit strukturell unterlegener Verbraucher971 auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge.972 Gemein ist allen Fallgruppen – sowohl den ausdrücklich gesetzlich angeordneten, sog. „besonderen Kontrahierungszwän969
So für den allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch H. Oetker, ZIP 2000, 643, 644. Der Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung knüpft an ein gekündigtes Arbeitsverhältnis an, die Pflicht zur Übernahme von Auszubildenden gem. § 78a BetrVG an ein Ausbildungsverhältnis, § 613a I 1 BGB und § 10 I AÜG an einen Vertrag der Verpflichteten mit dem vorherigen Betriebsinhaber bzw. Verleiher. 971 J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 124 ff. 972 MüKo BGB/J. Busche, Vor § 145 BGB Rn. 15; BeckOK BGB/H.-W. Eckert, § 145 BGB Rn. 14; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 53 f.; H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 36 ff. 970
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
gen“973 als auch dem durch die Rechtsprechung und Literatur entwickelten „allgemeinen Kontrahierungszwang“ gem. § 826 BGB974 –, dass sie auf eine Funktionsstörung des Markts reagieren:975 Die marktliberale Prämisse, dass das Prinzip einvernehmlicher Vertragsbegründung in einer freien Marktwirtschaft regelmäßig die Bedürfnisse aller Marktteilnehmer zum Ausgleich bringt, setzt voraus, dass Abnehmer die Wahl zwischen mehreren Anbietern haben und die Anbieter in einem Wettbewerb um Vertragsschlüsse mit den Abnehmern konkurrieren.976 Dieses System schlägt fehl, wenn Abnehmer auf den Vertragsschluss mit einer bestimmten, abschlussunwilligen Person angewiesen sind, da sie keine Ausweichmöglichkeiten haben. Korrekturbedürftig ist diese Abhängigkeit dann, wenn es sich um Waren oder Leistungen handelt, mit denen lebenswichtige Bedürfnisse befriedigt werden. Kontrahierungszwänge sind daher dann als Korrektiv der Marktwirtschaft anerkannt, wenn Abnehmer auf einen Vertragsschluss angewiesen sind, da es erstens um lebenswichtige Güter oder Leistungen geht und zweitens Anbieter eine besondere Marktmacht haben, da sie entweder Monopolist sind oder eine ähnliche marktbeherrschende Stellung innehaben.977 Eine Renaissance, Weiterentwicklung und verfassungsrechtliche Bestätigung hat der zivilrechtliche Kontrahierungszwang in den letzten Jahren durch eine Reihe an Entscheidungen des BVerfG erfahren: Den Auftakt machte der umstrittene „Stadionverbot-Beschluss“ vom 11. April 2018, in dem das Gericht aus Art. 3 I GG gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten für spezifische Konstellationen, zu denen auch ein bundesweites Stadionverbot gehöre, abgeleitet hat: „Maßgeblich für die mittelbare Drittwirkung des Gleichbehandlungsgebots ist dessen Charakter als einseitiger, auf das Hausrecht gestützter Ausschluss von Veranstaltungen, die 973
Besondere Kontrahierungszwänge adressieren insbesondere Unternehmen der Verkehrs- und Energiewirtschaft, aus dem Versicherungs-, Post- und Telekommunikationswesen. Übersichten aus jüngerer Zeit bei J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 301 ff. und S. Sprafke, Diskriminierungsschutz durch Kontrahierungszwang (2013), S. 155 ff. 974 Monographisch J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 142 ff. 975 Dies ist natürlich vereinfacht formuliert: J. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 124 ff. stellt beispielsweise eine Störung der Vertragsfreiheit des Einzelnen in den Vordergrund, während sich F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 34 f. auf ein Versagen der Versorgungsfunktion der Rechtsgeschäftsordnung stützt. 976 F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 34 f.; K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts – Allgemeiner Teil (1987), S. 43; H. Reichold, JZ 2004, 384, 392. 977 Vgl. J. Biermann, JhJb 52 (1893), 267, 280 ff.; MüKo BGB/J. Busche, Vor § 145 BGB Rn. 21; ders., Privatautonomie und Kontrahierungszwang (1999), S. 151 ff.; F. Bydlinski, AcP 180 (1980), 1, 29 ff.; BeckOK BGB/H.-W. Eckert, § 145 BGB Rn. 16 ff.; J. Gernhuber, Das Schuldverhältnis (1989), S. 134 ff.; K. Hackl, Vertragsfreiheit und Kontrahierungszwang im deutschen, im österreichischen und im italienischen Recht (1980), S. 26 ff.; W. Kilian, AcP 180 (1980), 47, 56 ff.; K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts – Allgemeiner Teil (1987), S. 46 ff.; E. Molitor, JhJb 73 (1923), 1, 19 ff.; H. C. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag (1920), S. 53 ff.; L. Raiser, ZHR 1948, 75, 86 ff.; H. Reichold, JZ 2004, 384, 392.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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aufgrund eigener Entscheidung der Veranstalter einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Indem ein Privater eine solche Veranstaltung ins Werk setzt, erwächst ihm von Verfassungs wegen auch eine besondere rechtliche Verantwortung. Er darf seine hier aus dem Hausrecht – so wie in anderen Fällen möglicherweise aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit – resultierende Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen.“978
Rund ein Jahr später beschloss das Gericht am 22. Mai 2019 im einstweiligen Rechtsschutz über die zivilrechtlichen Befugnisse eines sozialen Netzwerks, Nutzer zu sperren. Im Anschluss an den „Stadionverbot-Beschluss“ erwog das Gericht (ohne sich dazu abschließend zu positionieren), dass sich aus Art. 3 I GG gleichheitsrechtliche Pflichten für „private Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben“ könnten.979 Weiter entwickelt hat der Erste Senat diese Rechtsprechungslinie mit Beschluss vom 27. August 2019: Er wiederholte seine Rechtsauffassung, dass sich gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten aus Art. 3 I GG für spezifische Konstellationen ergeben könnten. Dazu zählten – wie im „StadionverbotBeschluss“ entschieden – der „Ausschluss von Veranstaltungen, die aufgrund eigener Entscheidung der Veranstalter einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet.“980 Das Gericht führt weiter aus: „Auch in anderen Fällen darf die aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit resultierende Entscheidungsmacht nicht dazu genutzt werden, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem bestimmten Ereignis auszuschließen.“981 Im streitgegenständlichen Fall lag eine solche spezifische Konstellation aber nicht vor: Bei dem Begehren eines NPD-Parteifunktionärs, Zutritt zu einem Wellness-Hotel zu erhalten, ging es weder „um eine Veranstaltung, die in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet, noch hat die Hotelbetreiberin eine Monopolstellung oder eine strukturelle Überlegenheit“, da sie nicht das einzige Hotel im Ort betreibt.982 In der Literatur wurden die Entscheidungen primär unter dem Gesichtspunkt der staatsgleichen Grundrechtsbindung privater Akteure kritisch rezipiert:983 Ein Novum der Entscheidungen sei, dass Privatpersonen, die im weiten Sinne eine gesellschaftlich bedeutsame Einrichtung errichteten, ihre Macht nicht ausnutzen dürften, 978 979 980 981 982 983
BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, 1669 (Rn. 41). BVerfG, Beschl. v. 22. 5. 2019 – 1 BvQ 42/19, NJW 2019, 1935, 1936 (Rn. 15). BVerfG, Beschl. v. 27. 8. 2019 – 1 BvR 879/12, NJW 2019, 3769, 3770 (Rn. 7). BVerfG, Beschl. v. 27. 8. 2019 – 1 BvR 879/12, NJW 2019, 3769, 3770 (Rn. 7). BVerfG, Beschl. v. 27. 8. 2019 – 1 BvR 879/12, NJW 2019, 3769, 3770 (Rn. 8). A. Hellgardt, JZ 2018, 901 ff.; F. Michl, JZ 2018, 910 ff.; C. Smets, NVwZ 2019, 34 ff.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
um Personen sachgrundlos auszuschließen. Damit würden Privatpersonen unmittelbar an die Grundrechte gebunden, ohne dass die Grundrechte durch den Gesetzgeber oder die Zivilgerichte mediatisiert werden müssten.984 Auf eine Auseinandersetzung mit dieser grundrechtsdogmatischen Entwicklung ist nicht näher einzugehen, da hier untersucht wird, ob der Gesetzgeber die Grundrechte entsprechend hätte mediatisieren dürfen. Für den Gang der Untersuchung ist daher interessant, dass das Gericht in allen drei Fällen über das Begehren einer Person entscheidet, einen Vertrag mit einem unwilligen Privaten zu schließen, um Teilhabe am sozialen Leben zu haben.985 Was sich auf den ersten Blick als gleichheitsrechtliche Thematik kleidet, betrifft im Kern also auch eine verfassungsrechtliche Bewertung von Kontrahierungszwängen unter Privaten. Unabhängig von der Frage, ob sich Kontrahierungszwänge tatsächlich unmittelbar aus der Verfassung ergeben, erlauben die Entscheidungen jedenfalls das argumentum a maiore ad minus, dass eine gesetzliche Normierung von Kontrahierungszwängen mit den Grundrechten der verpflichteten Privaten – insbesondere Art. 12 GG und Art. 14 GG986 – vereinbar sein kann. Die in der Zivilrechtsdogmatik entwickelten Maximen, die eine Einschränkung der Abschlussfreiheit rechtfertigen, sind die gleichen, die nach dem BVerfG die verfassungsrechtliche Inanspruchnahme Privater gebieten können: die Angewiesenheit auf einen Vertragsschluss, die sich aufgrund der besonderen Machtstellung eines Anbieters sowie der hohen Bedeutung der Leistung ergibt.987 Bemerkenswert ist allerdings, dass es sich bei den vorenthaltenen Leistungen um die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben handelt, deren hohe Bedeutung das BVerfG mit Verweis auf das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben gem. Art. 15 Ia des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte betont.988 Insofern geht das Gericht über die zivilrechtliche Lehre des allgemeinen Kontrahierungszwangs hinaus, die sich überwiegend auf die Versorgung mit lebenswichtigen und infrastrukturellen Gütern und Dienstleistungen beschränkt. Es ist festzuhalten: Ein Blick in das allgemeine Zivilrecht zeigt, dass Kontrahierungszwänge nicht nur aus privatrechtsdogmatischer, sondern auch verfassungsrechtlicher Perspektive gerechtfertigt sein können. Ein derart starker Eingriff in die Vertragsabschlussfreiheit eines Privaten setzt allerdings voraus, dass das positive Interesse am Vertragsschluss der einen Partei die negative Vertragsfreiheit der anderen überwiegt. Das ist der Fall, wenn eine Partei auf den Vertragsschluss in be984
F. Michl, JZ 2018, 910, 912. J. Neuner, NJW 2020, 1851, 1854. 986 Zu den Grundrechten des Stadionbetreibers BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/ 09, NJW 2018, 1667, 1668 f. (Rn. 36); zur Grundrechtsbetroffenheit der Betreiber sozialer Netzwerke OLG Dresden, Beschl. v. 8. 8. 2018 – 4 W 577/18, NJW 2018, 3111, 3113 (Rn. 15). Diese Grundrechtsgewährleistungen gelten mutatis mutandis auch für Hotelbetreiber sowie die Vertragsverweigerung und Hausverbote anderer Unternehmen. 987 J. Neuner, NJW 2020, 1851, 1854; R. Singer, in: FS Windbichler (2020), Grundrechte im Privatrecht: Eingriffsverbote, Schutzgebote und Teilhaberechte, S. 139, 152. 988 BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, 1669 (Rn. 42). 985
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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sonderem Maße angewiesen ist, was regelmäßig nur bei einer Funktionsstörung der Vertragsrechtsordnung angenommen werden kann. Voraussetzungen eines Kontrahierungszwangs sind danach sowohl nach der konsentierten Zivilrechtslehre als auch der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG ein Marktzugangshindernis, das sich aus der besonderen Marktmacht eines vertragsunwilligen Anbieters ergeben kann, sowie die besondere Bedeutung der vertraglichen Leistung für die Lebensführung des Nachfragers. Dazu gehört neben existenziell notwendigen Gütern auch der Zugang zum gesellschaftlichen Leben. (bb) Anwendung der Maßstäbe auf Einstellungs- und Beförderungsansprüche Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären nach diesen Maßstäben, die als vorstrukturierter Abwägungsprozess begriffen werden können, angemessen, wenn damit auf eine korrekturbedürftige Funktionsstörung der marktwirtschaftlich eingerichteten und auf dem Konsensprinzip gegründeten Vertragsordnung reagiert würde. Eine solche Funktionsstörung ist dann anzunehmen, wenn diskriminierte Bewerber:innen oder Arbeitnehmer:innen auf den Vertragsschluss angewiesen sind, da ansonsten der Marktzugang zu einem für die Lebensführung bedeutsamen Gut behindert wäre. Dass es sich bei einem Arbeitsvertrag um einen Vertragsschluss mit existenzieller Bedeutung für Arbeitsuchende handelt, wurde oben bereits ausführlich dargestellt: Ein Arbeitsverhältnis ist für einen Großteil der Menschen die Grundlage der materiellen Existenzsicherung und dient zugleich ihrer persönlichen Selbstverwirklichung.989 Dieser hohe Wert eines Arbeitsplatzes wird insbesondere durch seinen grundrechtlichen Schutz gem. Art. 12 I GG demonstriert. Zusätzliche verfassungsrechtliche Legitimation erhält das Bestreben, Arbeitsuchenden einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen, durch das Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 I GG.990 Einstellungs- und Beförderungsansprüche wären jedenfalls dann eine angemessene Reaktion auf die Ablehnung von Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen, wenn sie ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit nicht bei anderen Arbeitgeber:innen verwirklichen könnten. Gegen diese Annahme spricht grundsätzlich, dass der Arbeitsmarkt wettbewerblich eingerichtet ist: Arbeitgeber:innen konkurrieren um die benötigten Arbeitskräfte und Arbeitsuchende um Arbeitsplätze. Dass einzelne Arbeitgeber:innen unterschiedliche – unter Umständen diskriminierende – Einstellungspräferenzen haben, stellt für sich genommen noch keine Marktstörung dar, da abgewiesene Bewerber:innen auf andere Arbeitgeber:innen ausweichen können. Ein Großteil aller beruflichen Tätigkeiten kann nämlich bei verschiedenen Arbeitgeber:innen ausgeübt werden. Zwar mag es Nischenberufe geben, die nur bei einem oder wenigen Arbeitgeber:innen ausgeübt werden können; eine derartige Monopolstellung oder ähnliche Marktmacht wird aber die Ausnahme sein. Da der arbeitsrechtliche Teil des AGG nicht an die Marktmacht von Arbeitgeber:innen an989 990
Siehe ausführlich oben 1. Kap. B, Siehe schon oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (2) (b) (bb).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
knüpft, würde der Großteil der Einstellungs- oder Beförderungsansprüche im AGG kein derartiges Marktzugangshindernis korrigieren. Aus diesem Grund könnte man in den Diskriminierungsfällen eine korrekturbedürftige Störung der Vertragsordnung ablehnen.991 Der Topos des Marktzugangshindernisses könnte jedoch über die klassischen Fälle der Marktmacht Einzelner hinaus weiterentwickelt werden. Um den Konsens als Grundlage einer vertraglichen Bindung zu substituieren, ist nämlich entscheidend, dass die Selbstregulierungskräfte des Marktes darin versagen, die Bedürfnisse aller Marktteilnehmer zu befriedigen. Derartige Funktionsstörungen könnten sich auch aus dem Diskriminierungspotenzial der in § 1 AGG genannten Merkmale ergeben: Das ausgrenzende Marktverhalten könnte darin liegen, dass einzelne diskriminierende Arbeitgeber:innen zwar nicht die einzigen Anbieter:innen geeigneter Arbeitsplätze sind, aber andere Anbieter:innen ein ähnlich ablehnendes Marktverhalten zeigen, sodass die betroffenen Arbeitsuchenden im Ergebnis doch keine Ausweichmöglichkeiten haben, ihr Zutritt zum Arbeitsmarkt also insgesamt behindert wird.992 Dafür spricht, dass die Diskriminierungsverbote des AGG auf ein gesteigertes Ausgrenzungspotenzial bestimmter Persönlichkeitsmerkmale reagieren, das nicht nur gegenüber einzelnen, sondern einer Vielzahl potenzieller Vertragspartner:innen wirksam wird. Neuner formuliert anschaulich: „Sofern lediglich ein Einzelner einen anderen wegen eines bestimmten Merkmals exkludiert, ist dies prinzipiell eine hinnehmbare Folge von Wettbewerb und Privatautonomie. Wer beispielsweise seine Produkte oder Dienstleistungen nur Menschen mit einem speziellen Sternzeichen 991 So für die zivilrechtlichen Diskriminierungsverbote M. Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298, 341; ähnlich K. von Koppenfeld, WM 2002, 1489, 1492, 1495. 992 Diese Sichtweise ist insbesondere im zivilrechtlichen Schrifttum, das sich mit dem Geltungsgrund und den Rechtsfolgen des Antidiskriminierungsrechts gem. §§ 19 ff. AGG auseinandersetzt, verbreitet: Diskriminierungsverbote bewirken, dass alle Personen ihre Vertragsfreiheit tatsächlich beanspruchen und am Markt teilnehmen können (M. Coester, in: FS Canaris I (2007), Diskriminierungsschutz im Privatrechtssystem, S. 115, 123; Schiek/ D. Schiek, § 21 AGG Rn. 8; M. Wrase, ZESAR 2005, 229, 241; M. Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht (2015), S. 39, 191; a. A.: Maunz/Dürig/C. Langenfeld, Art. 3 III GG Rn. 96, die eine andere Bewertung für den Arbeitsmarkt aber ausdrücklich für möglich hält.). Dieser Sichtweise entspricht es, dass der Beseitigungsanspruch gem. § 21 I AGG nach Auffassung der herrschenden Ansicht im Schrifttum auf einen Vertragsschluss gerichtet ist (S. Arnold, Vertrag und Verteilung (2014), S. 387 ff.; M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 731; J. Kossak, Rechtsfolgen (2009), S. 154 f.; BeckOGK/O. Mörsdorf, § 21 AGG Rn. 33; Schiek/D. Schiek, § 21 AGG Rn. 8; G. Thüsing/K. von Hoff, NJW 2007, 21, 25; G. Wagner/N. Potsch, JZ 2006, 1085, 1098; S. Wendt/F. Schäfer, JuS 2009, 206, 207 ff.); a. A.: C. Armbrüster, NJW 2007, 1494, 1496 f., der im Wege einer sehr einseitigen „verfassungsorientierten“ Auslegung einen Vorrang der negativen Vertragsfreiheit feststellt, da der Abschlussfreiheit des Diskriminierten gem. Art. 2 I GG kein Gewicht zukomme und die Wertungen der Gleichheitssätze des Art. 3 I GG nicht im Privatrechtsverkehr gelten würden; abweichend ebenfalls A. Bruns, JZ 2007, 385, 392, der einen Kontrahierungszwang bei Geschäften in Ansehung der Person nur bejaht, wenn ein Ausweichen auf andere Vertragspartner unmöglich ist.
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anbietet, schließt eher sich selbst aus als andere. Zu einem gesellschaftlichen Ausgrenzungsproblem wird ein Diskriminierungsmerkmal erst dann, wenn es intersubjektiv als maßgebliches Kriterium für eine Benachteiligung erachtet wird.“993 Die in § 1 AGG genannten Persönlichkeitsmerkmale wirken auf diese Weise intersubjektiv, und zwar entweder aufgrund historisch gewachsener Stigmatisierungen von als fremd erscheinenden Menschen anderer Hautfarbe, Religion, Herkunft oder sexuellen Identität oder der auf biologischen Gegebenheiten oder tradierten Rollenvorstellungen basierenden Annahme, bestimmte Personen (Frauen, Ältere, Menschen mit Behinderung) seien weniger leistungsstark.994 Dass insbesondere schwangeren Frauen, Menschen mit (erkennbarer) Behinderung, älteren Bewerber:innen, Kopftuchträgerinnen und Menschen mit dunkler Hautfarbe die Partizipation am Arbeitsmarkt insgesamt (also nicht nur der Vertragsschluss mit einzelnen Arbeitgeber:innen) erschwert wird, ist eine realistische Annahme.995 Davon, dass Diskriminierungen ein Strukturproblem des deutschen Arbeitsmarkts sind – und der Richtliniengeber mit den Gleichbehandlungsrichtlinien nicht etwa nur auf Marktzugangshindernisse in anderen Mitgliedstaaten reagiert hat996 –, geht auch der AGGGesetzgeber aus: „Durch die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden bestimmte Personengruppen als besonders schutzbedürftig definiert und in den Katalog der geschützten Merkmale aufgenommen. Auch in Deutschland gibt es Hinweise dafür, dass diese Bevölkerungsgruppen schlechtere Chancen haben als andere. So zeigen bestimmte Bevölkerungsgruppen eine deutlich geringere Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung, was in der Folge zu einem insgesamt schlechteren sozialen und wirtschaftlichen Status führt. Die vorhandenen Daten zeigen deutliche merkmalsbezogene Unterschiede in Bezug auf die Integration in den Arbeitsmarkt, Erwerbslosigkeit und Beschäftigungsfelder. Insbesondere Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, behinderte und ältere Menschen sind schlechter in die Arbeitswelt eingebunden. Viele Menschen vereinen mehrere dieser Merkmale auf sich und erleben dadurch häufiger Ausgrenzung, wirtschaftliche Einbußen und andere materielle und immaterielle Nachteile.“997
Zum Beleg dieser These verweist die Gesetzesbegründung auf diverse Studien zur sozialen Lage und Ausgrenzungserfahrung von Menschen mit einer bestimmten von § 1 AGG erfassten Merkmalsausprägung. Es sprechen damit gute Gründe dafür, das Diskriminierungspotenzial einer marktwirtschaftlich verfassten Arbeitsordnung als Funktionsstörung zu begreifen, die für bestimmte Personengruppen ähnliche Wir993
J. Neuner, JZ 2003, 57, 62; vgl. auch M. Schreier, KJ 2007, 278, 279, der schlichte Differenzierungen von strukturellen Diskriminierungen infolge sozialer Prozesse und institutionalisierten Denk- und Verhaltensmustern unterscheidet. 994 Dazu oben 4. Kap. B. III. 2. a). 995 Vgl. für den allgemeinen Waren- und Dienstleistungsverkehr Schiek/D. Schiek, Vorb. § 19 AGG Rn. 6; dies., Differenzierte Gerechtigkeit (2000), S. 314, 396. 996 So mutmaßt aber K. Riesenhuber, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie? (2007), Privatautonomie und Diskriminierungsverbote – Grundlagen im deutschen Recht und europäische Regulierung, S. 19, 51 f. 997 BT-Drs. 16/1780, S. 23.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
kungen wie die besondere Marktmacht eines einzelnen Anbieters entfalten kann. Mit einer solchen Einschätzung der sozialen Realität hätte der Gesetzgeber jedenfalls den weiten Beurteilungsspielraum, den er bei der Bestimmung der Schutzwürdigkeit der abzuwägenden Belange hat, nicht übertreten. Dies gilt insbesondere, da Art. 3 III GG und Art. 2 I, 1 I GG dem Schutz vor Diskriminierungen verfassungsrechtliches Gewicht verleihen und der Gesetzgeber mit der Integration schutzwürdiger Personen in den Arbeitsmarkt einen aus dem Sozialstaatsprinzip folgenden Gestaltungsauftrag wahrnimmt. Es sprechen damit überzeugende Gründe dafür, dass Einstellungs- und Beförderungsansprüche die negative Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen nicht in einer Weise unterordnen, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite der betroffenen Grundrechte von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann. (cc) Ergebnis: Angemessenheit von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen Mit der Normierung von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen als Rechtsfolge von Diskriminierungen hätte der Gesetzgeber einen angemessenen Ausgleich zwischen der Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen als Facette ihrer gem. Art. 12 I GG geschützten Berufsausübung und den Interessen der diskriminierten Arbeitnehmer:innen getroffen. Die Abwägung, dass die Pflicht zur Einstellung oder Beförderung von Arbeitnehmer:innen angemessen ist, die Arbeitgeber:innen aus zweck- oder wertrationalen Diskriminierungsmotiven nicht (auf dem betreffenden Arbeitsplatz) beschäftigen möchten, haben der Richtliniengeber und der nationale Gesetzgeber bereits getroffen und in den Richtlinien und dem AGG normiert: Nur wenn die Befolgung des aus den Diskriminierungsverboten folgenden Imperativs angemessen ist, sind es nämlich auch die Verbote selbst und ihre Sanktionierung gem. § 15 I, II AGG. Dass auch das Mittel der Verbotsdurchsetzung – der oktroyierte und ggf. vollstreckbare Zwang zur Vertragsbegründung – angemessen wäre, hat ein Vergleich mit Kontrahierungszwängen im Zivilrecht gezeigt: Es bestehen gewichtige Gründe für die Annahme, dass der Arbeitsmarkt einige Personengruppen strukturell ausgrenzt, sodass Vertragsschlüsse auch ohne den Konsens der überlegenen Partei zum Schutz lebenswichtiger Bedürfnisse der anderen Partei zumutbar sein können. Mit einer derartigen Einschätzung und Gewichtung der sozialen Lage diskriminierter Menschen hätte der Gesetzgeber seinen weiten arbeitsmarktbezogenen Beurteilungsspielraum jedenfalls nicht übertreten. (3) Ergebnis: § 15 VI AGG als Ausübung eines politischen Regelungsermessens Einstellungs- und Beförderungsansprüche als Rechtsfolge von Diskriminierungen gem. § 15 I AGG i. V. m. § 249 I BGB oder analog § 1004 BGB wären also keine verfassungswidrigen Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen. Die gesetzgeberische Erwägung, mit § 15 VI AGG „unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers“ zu vermeiden, beruht auf einem politischen Regelungsermessen des Gesetzgebers, die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen höher
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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zu gewichten als die Interessen diskriminierter Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen an Einstellungs- und Beförderungsansprüchen. Ausgehend von diesem Verständnis der ratio legis hängt die teleologische Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen nicht davon ab, ob sie verfassungskonform oder -widrig wären – auch sie wären nach den oben herausgestellten Maßstäben verfassungskonform –, sondern davon, ob die vom Gesetzgeber vorgenommene und in § 15 VI AGG manifestierte Interessenabwägung auch für die Vertragsfortsetzung verbindlich ist oder es Gründe gibt, die ein abweichendes Ergebnis rechtfertigen. cc) Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen am Maßstab der gesetzgeberischen Interessenabwägung Die Gesetzesmaterialien enthalten keinen Hinweis darauf, dass im Gesetzgebungsprozess auch über Diskriminierungen nach Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse nachgedacht wurde. Die für Einstellungs- und Beförderungsansprüche vorgenommene Wertentscheidung ist aber für die Auslegung von § 15 VI AGG hinsichtlich Fortsetzungsansprüchen verbindlich, soweit die maßgeblichen Abwägungsfaktoren – die Intensität des Eingriffs [(1)] und das Gewicht der ihn rechtfertigenden Gemeinwohlbelange [(2)] – übereinstimmen. Dann wäre davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch Fortsetzungsansprüche, hätte er sie vor Augen gehabt, als unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen beurteilt und gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen hätte. (1) Geringere Eingriffsintensität von Fortsetzungsansprüchen? Der Siebte und der Neunte Senat des BAG haben sich mit den Eingriffswirkungen von Kontrahierungszwängen auseinandergesetzt, um zu begründen, dass § 15 VI AGG nicht die Rechtsfolgen einer gem. § 7 II AGG unwirksamen Befristungsabrede oder Ruhestandsvereinbarung betreffe: Es sei „wertungsmäßig ein Unterschied, ob ein Arbeitgeber verpflichtet ist, einen von ihm abgelehnten Arbeitnehmer einzustellen oder auf einer anderen (Beförderungs-)Position zu beschäftigen, oder ob er verpflichtet ist, einen Arbeitnehmer, den er aus eigener Willensentscheidung auf einer bestimmten Position eingestellt hat, weiterzubeschäftigen.“998 Teile der Literatur übertragen diese Erwägungen auf die Fälle der Vertragsfortsetzung nach Fristablauf: Auch hier unterscheide sich die Situation insofern von den Fällen der erstmaligen Einstellung, als sich Arbeitgeber:innen bereits freiwillig für die Begründung von Arbeitsverhältnissen mit den betroffenen Arbeitnehmer:innen entschieden haben. Da Fortsetzungsansprüche nicht zur zwangsweisen Begründung von Beschäftigungsverhältnissen mit fremden Personen führen würden, bedürften Ar-
998 BAG, Urt. v. 6. 4. 2011 – 7 AZR 524/09, NZA 2011, 970, 973 (Rn. 34); fast wortgleich BAG, Urt. v. 21. 11. 2017 – 9 AZR 141/17, NZA 2018, 786, 790 f. (Rn. 39).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
beitgeber:innen nicht des mit § 15 VI AGG intendierten Schutzes.999 Diese Argumentation wird nun auf den Prüfstand gestellt. Fortsetzungsansprüche setzen analog § 1004 I BGB oder gem. § 15 I AGG voraus, dass Arbeitgeber:innen mit Arbeitnehmer:innen ohne Anknüpfung an ein Merkmal gem. § 1 AGG einen neuen – befristeten oder unbefristeten – Arbeitsvertrag geschlossen hätten.1000 Der Anspruch führt also insbesondere nicht dazu, dass Arbeitnehmer:innen weiter beschäftigt werden müssen, an deren Arbeitsleistung aus betrieblichen Gründen kein Interesse mehr besteht oder die sich nicht bewährt haben. Fortsetzungsansprüche greifen insofern in die unternehmerische Dispositionsfreiheit der Arbeitgeber:innen ein, als sie dazu gezwungen werden, die vertraglichen Beziehungen mit Arbeitnehmer:innen fortzusetzen, die sie nur wegen eines in § 1 AGG genannten Grunds nicht mehr beschäftigen möchten. Wie bei den Fällen der erstmaligen Einstellung und der Beförderung ist damit – je nach Merkmal – entweder die Freiheit tangiert, mit Arbeitnehmer:innen aufgrund stigmatisierender Vorurteile nicht mehr zusammenarbeiten zu wollen, oder die Freiheit, keine neuen oder andauernden wirtschaftlichen Belastungen ertragen zu müssen. Diese Eingriffswirkungen sind aus drei Gründen mit denen von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen vergleichbar: Erstens würden Kontrahierungszwänge in allen Fällen nur dazu führen, dass Arbeitgeber:innen diejenigen Arbeitnehmer:innen (weiter) beschäftigen müssten, die sie ohne diskriminierendes Motiv (weiter) beschäftigt hätten. Auch bei der erstmaligen Einstellung würden Arbeitgeber:innen nur zur Einstellung derjenigen Bewerber:innen gezwungen, die nach allen erlaubten, ggf. auch subjektiven Kriterien die Bestplatzierten gewesen wären. Der Zwang zur Einstellung von Fremden ist daher schon nicht so eingriffsintensiv, wie teilweise suggeriert wird. Zweitens greifen Fortsetzungsansprüche nicht deshalb weniger in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen ein, weil sie Arbeitnehmer:innen ursprünglich autonom ausgewählt haben: Insbesondere dann, wenn eine Merkmalsausprägung i. S. v. § 1 AGG erst im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses zutage tritt, wirkt sie sich erstmals bei der Entscheidung über die Vertragsfortsetzung aus. Wenn eine Arbeitnehmerin beispielsweise im Laufe des Arbeitsverhältnisses schwanger wird, eine Behinderung erfährt oder dem Unternehmen nach mehrfacher Kettenbefristung „zu alt“ geworden ist, birgt erst die Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses potenzielle wirtschaftliche Belastungen, die ihr Arbeitgeber in der Zukunft vermeiden möchte. Outet sich eine Arbeitnehmerin erst im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses als homosexuell oder bekennt sie sich zum muslimischen Glauben, kann die Bereitschaft stigmatisierender Arbeitgeber:innen, auch in Zukunft kooperativ und rücksichtsvoll zusammenzuarbeiten, gestört sein, und zwar unabhängig von dem bisher konfliktfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses. Haben Ar999 APS/L. Backhaus, § 15 TzBfG Rn. 118; Däubler/Bertzbach/W. Däubler, § 7 AGG Rn. 328; F. Hartmann, in: FS von Hoyningen-Huene (2014), Altersdiskriminierende Befristungsdauer bei Arbeitsverträgen, S. 123, 135; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 113; ErfK/ M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 21. 1000 Siehe zu diesem Kausalitätserfordernis oben 6. Kap. B. IV. 1. b) bb) aa), 2. a), b) aa).
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beitgeber:innen ursprünglich eine nicht schwangere, junge, vermeintlich heterosexuelle oder christliche Arbeitnehmerin ohne Behinderung eingestellt, greift ein Fortsetzungsanspruch in ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit daher in demselben Maße ein wie erstmalige Einstellungsansprüche. Drittens und letztens sind mit § 15 VI Var. 3 AGG auch Beförderungsansprüche ausgeschlossen, die Statusveränderungen im bestehenden Arbeitsverhältnis betreffen. Auch für die Fälle, in denen bereits ein Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in besteht, es gerade nicht um den Zwang zum Kontrahieren mit einer fremden Person geht, hat der Gesetzgeber also einen unzulässigen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen angenommen. Ihre unternehmerische Freiheit ist also in allen Fallgruppen in ähnlicher Weise betroffen: § 15 VI AGG schützt sie jeweils davor, Arbeitnehmer:innen auf einem konkreten Arbeitsplatz einsetzen zu müssen, auf dem sie sie – aufgrund von Vorurteilen oder aus wirtschaftlichen Gründen – nicht beschäftigen wollen. In allen Fallgruppen würden Kontrahierungszwänge schließlich gleichermaßen die negative Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen beseitigen und das Prinzip konsensualer Vertragsbindung durchbrechen: Arbeitgeber:innen dürfen über die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nämlich frei entscheiden. Dass bereits vertragliche Beziehungen mit Arbeitnehmer:innen bestanden haben, begrenzt ihre Freiheit nur, wenn sie sich hinsichtlich der Vertragsfortsetzung bereits gebunden haben, beispielsweise qua vertraglicher Zusage oder gemäß dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Darüber hinaus sind Arbeitgeber:innen nicht dazu verpflichtet, das vergangene Beschäftigungsverhältnis zu berücksichtigen.1001 Die Entscheidung, ob ein Arbeitsverhältnis fortgesetzt wird, ist daher ebenso eine Betätigung der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung wie die erstmalige Einstellung oder Beförderung und ein Zwang zur Vertragsfortsetzung ebenso ein Eingriff in die Vertragsfreiheit wie ein Einstellungs- oder Beförderungsanspruch. Fortsetzungsansprüche sind also genauso eingriffsintensiv wie die durch § 15 VI AGG zweifelsfrei ausgeschlossenen Ansprüche.1002 (2) Höheres Gewicht der Gemeinwohlbelange? Mit § 15 VI AGG hat der Gesetzgeber die – jeweils verfassungsrechtlich legitimierten – Ziele, materiale Gleichheit herzustellen, die Integrität herabgesetzter Personen zu schützen und ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit zu realisieren, als nicht gewichtig genug bewertet, um Kontrahierungszwänge zulasten der Arbeitgeber:innen zu rechtfertigen. Der Schutz materialer Gleichheit ist bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen nicht schützenswerter als bei der erstmaligen Einstellung oder Beförderung. In allen Fällen sind Arbeitnehmer:innen vor Ausgrenzungen als sol1001
Siehe oben 1. bis 3. Kap. Ähnlich M. Stoffels, RdA 2009, 204, 214; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 43; vgl. auch BAG, Urt. v. 10. 12. 2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196, 199 (Rn. 33); BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 46). 1002
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
chen zu schützen; der Wert der gleichen individuellen Freiheit an sich kennt keine Abstufungen. Dass sich der Gesetzgeber mit § 15 VI AGG dafür entschieden hat, die egalitaristischen Ziele nicht konsequent zu Ende zu denken, sondern mit Blick auf die kollidierende Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen nur durch Kompensationen und Sanktionen finanzieller Art zu schützen, ist bei der Auslegung der Norm auch für Vertragsfortsetzungsansprüche zu respektieren. Der durch das AGG bezweckte Schutz materialer Gleichheit rechtfertigt Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen durch Fortsetzungsansprüche nach der gesetzgeberischen Konzeption also nicht. Gleiches gilt für die Erwägung, diskriminierten Personen mit einem Vertragsschluss die Möglichkeit zu gewähren, die mit der fortdauernden Ausgrenzung andauernde persönliche Herabwürdigung zu beseitigen: Auch dieser Gemeinwohlbelang hat in allen Fällen verweigerter Vertragsschlüsse dieselbe Qualität und kann nach der gesetzgeberischen Wertentscheidung Kontrahierungszwänge nicht rechtfertigen. Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt von der Nichteinstellung und Nichtbeförderung: Arbeitnehmer:innen wird nicht bloß die Beschäftigung auf einem neuen Arbeitsplatz verwehrt, sondern die Fortsetzung der Tätigkeit auf dem bereits innegehabten Arbeitsplatz. Arbeitnehmer:innen verlieren ihren Arbeitsplatz. Damit könnte die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse spezifische Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen beeinträchtigen, die sich qualitativ von der durch Nichteinstellung oder -beförderung betroffenen Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I GG unterscheiden.1003 Es könnte dann eine von § 15 VI AGG abweichende Interessenabwägung erforderlich sein. (a) Unterschiedliches Schutzniveau von Zugangs- und Bestandsinteressen Auf Grundlage des in der „Warteschleife-Entscheidung“ aufgestellten Schutzauftrags hat das BVerfG im „Kleinbetriebs-Beschluss“ das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß eines Bestandsschutzes herausgearbeitet: „In sachlicher Hinsicht geht es vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen. Zutreffend werden in der Literatur als Beispiele dafür Diskriminierungen i. S. von Art. 3 III GG genannt. Soweit unter mehreren Arbeitnehmern eine Auswahl zu treffen ist, gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme. Schließlich darf auch ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.“1004
Soweit das KSchG nicht reicht, sei dieses Mindestmaß an Bestandsschutz durch eine Anwendung zivilrechtlicher Generalklauseln zu realisieren.1005 Mittlerweile ist 1003 So knapp U. Pallasch, RdA 2015, 108, 113: Der Bestandsschutzgedanke gebiete einen Anspruch auf Vertragsfortsetzung. 1004 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472. 1005 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472.
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der Bestandsschutz ein fester Argumentationstopos in der Arbeitsrechtsprechung, um die Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen bei einer Vertragsbeendigung auszutarieren: Zu berücksichtigen sind die von Art. 12 GG gewährleisteten Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen beispielsweise bei Wiedereinstellungsansprüchen nach einer Kündigung und bei einer Missbrauchskontrolle von Kettenbefristungen.1006 Im Kontrast dazu ist der grundrechtliche Schutz von Zugangsinteressen zu Arbeitsplätzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsrechts lange Zeit nicht weiter entfaltet worden: Jenseits der Feststellung, dass Art. 12 I GG keinen „Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes“ bereithalte, hat das Gericht weder den Inhalt einer potenziellen Schutzpflicht von Zugangsinteressen präzisiert, noch thematisiert, ob das Bestandsschutzniveau im KSchG oder der Mindestkündigungsschutz gem. §§ 242, 138 BGB die Zugangsinteressen Arbeitsuchender beeinträchtigt. Erst im Jahr 2018 hat es anlässlich der Überprüfung von § 14 II 2 TzBfG festgestellt, dass die Regelung die Chancen der Bewerber:innen bei der Arbeitsplatzsuche einschränke und daher ihr Recht beeinträchtige, bei gleicher Eignung die gleiche Chance auf einen Arbeitsplatz zu haben.1007 Die mit der Norm verfolgten Schutzziele können nach Ansicht des Gerichts, „soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht“, die Beeinträchtigung des legitimen Interesses der Arbeitsuchenden nicht rechtfertigen.1008 Damit hat das Gericht jedenfalls die abwehrrechtliche Dimension des Rechts auf Wahl eines Arbeitsplatzes gem. Art. 12 I GG bestätigt. Im Hinblick auf verfassungsrechtliche Schutzpflichten sind Wahl und Beibehaltung eines Arbeitsverhältnisses in der Judikatur des BVerfG aber asymmetrisch geschützt.1009 Auch im einfachen Arbeitsrecht sind die Interessen an Begründung und Bestand eines Arbeitsverhältnisses unterschiedlich stark geschützt: Mit Ausnahme der Vorgaben des AGG, der anderen Benachteiligungsverbote und der besonderen Vorschriften für den Staatsdienst in Art. 33 GG gibt es keine Vorschriften, die den Bewerbungs- und Auswahlprozess von Arbeitgeber:innen regulieren. Arbeitgeber:innen dürfen aus willkürlichen und unsachlichen Gründen entscheiden und müssen keine Gründe für eine Ablehnung mitteilen. Erst recht gibt es keinen Anspruch auf Einstellung. Sobald Arbeitnehmer:innen eingestellt sind, dürfen sie ihren Arbeitsplatz aber nicht mehr aus sachfremden oder willkürlichen Grenzen verlieren: Insbesondere das KSchG und das TzBfG bestimmen die Voraussetzungen, unter 1006
Dazu oben 1. Kap. C. III. 1. b) bb) (1), D. I. 2. b). BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 778 (Rn. 56). 1008 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 779 (Rn. 62). 1009 So auch P. Badura, RdA 1999, 8, 11; M. Franzen, in: FS Otto (2008), Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers als Grundlage des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes, S. 71, 73 f.; J. F. Lindner, RdA 2005, 166, 167 f. 1007
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denen ein Arbeitsverhältnis beendet werden kann.1010 Diesem unterschiedlichen Schutzniveau entsprechend setzen alle gesetzlichen Einstellungs- und Übernahmezwänge eine bereits bestehende Nähebeziehung der Parteien voraus: § 10 I AÜG ein Leiharbeitsverhältnis, § 613a I BGB ein Arbeitsverhältnis im übernommenen Betrieb, § 78a II BetrVG ein Auszubildendenverhältnis. Diesen Abschlusszwängen liegt also nicht der Gedanke zugrunde, Arbeitnehmer:innen Zugang zu einem neuen Arbeitsverhältnis zu verschaffen, sondern das bereits innegehabte Arbeitsverhältnis zu erhalten. Auch hier geht es also um Bestandsschutz. Auch im Betriebsverfassungsrecht äußert sich die Privilegierung bereits beschäftigter Arbeitnehmer:innen: Der Betriebsrat ist berechtigt, die Zustimmung zu einer unbefristeten Einstellung zu verweigern, wenn ein gleich geeigneter befristet beschäftigter Arbeitnehmer nicht berücksichtigt wurde (§ 99 II Nr. 3 Hs. 2 BetrVG). Die Fürsorge des Betriebsrats für die durch ihn vertretenen Betriebsangehörigen darf also nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers zu Lasten der Außenseiter gehen, um „möglichst viele Arbeitnehmer aus der im Hinblick auf den Bestandsschutz weniger gesicherten befristeten in eine unbefristete Beschäftigung zu bringen“.1011 Besonders brisant ist die Frage nach einem Rangverhältnis von Bestands- und Zugangsinteressen bei der Ausgestaltung des Kündigungsschutzes. Brennpunkt der Diskussion ist die Erkenntnis, dass Bestandsschutz die betreffenden Arbeitsplätze dem freien Wettbewerb entzieht. Arbeitnehmer:innen, die sich im Wettbewerb bereits durchgesetzt haben, erhalten eine qualitativ bessere Position gegenüber nachfolgenden Wettbewerber:innen.1012 Die Beschränkung der Vertragsbeendigungsfreiheit verfestigt die bestehende Arbeitsplatzverteilung und erschwert Arbeitsuchenden den Zutritt zum Arbeitsmarkt. Auf diese Zweischneidigkeit des Bestandsschutzes haben sowohl Stimmen im Schrifttum1013 als auch das BVerfG1014 hingewiesen. Während das BVerfG aus dieser Erkenntnis keine Konsequenzen abgeleitet hat, hat sich die Literatur bemüht, das Verhältnis der Arbeitsuchenden und Arbeitsplatzinhaber:innen grundrechtlich zu erfassen: Man ist sich darin einig, dass Art. 12 I GG freien Zugang zum Arbeitsmarkt gewährleistet. In der abwehrrechtlichen Dimension schützt das Grundrecht eine „unreglementierte, nur durch ent1010
Siehe zum Bestandsschutzniveau oben 1. Kap. C und D. GK BetrVG/T. Raab, § 99 BetrVG Rn. 209. 1012 R. Scholz, ZfA 1981, 265, 281; P. Badura, RdA 1999, 8, 11. 1013 Monographisch K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 665 ff.; H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 45 ff.; V. Stelljes, Zu Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes (2002), S. 47 ff.; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 136 f.; außerdem H. Oetker, RdA 1997, 9, 20 f.; H.-J. Papier, DVBl 1984, 801, 813; D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 410; P. Schwerdtner, ZfA 1977, 47, 77; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 113 ff. 1014 BVerfG, Beschl. v. 13. 1. 1982 – 1 BvR 848/77, NJW 1982, 1447, 1449; zur Schutzwürdigkeit Arbeitsuchender im Kontext der Verfassungsgemäßheit von § 14 II 2 TzBfG jüngst auch BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 778 (Rn. 56). 1011
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sprechende arbeitgeberseitige Nachfrage nach den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Eigenschaften des Arbeitsuchenden beschränkte Chance zum Abschluß eines Arbeitsvertrages mit dem gewählten Arbeitgeber.“1015 In diesen Freiraum greifen Bestandsschutzregeln ein:1016 Die Bestandsinteressen der Arbeitsplatzinhaber:innen werden zulasten der Zugangsinteressen Arbeitsuchender geschützt. Die im Schrifttum unterbreiteten Versuche, die Privilegierung des innegehabten Arbeitsplatzes zu erklären, sollen im Folgenden dargestellt und bewertet werden [(b)]. Sofern tragfähige Gründe identifiziert werden können, die eine erhöhte Schutzwürdigkeit der Arbeitsplatzinhaber:innen begründen, können anschließend Konsequenzen für die durch die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse betroffenen Arbeitnehmerinteressen diskutiert werden [(c)]. (b) Gründe für die Privilegierung von Bestands- gegenüber Zugangsinteressen (aa) Unzureichende Begründung des BVerfG im „Kleinbetriebs-Beschluss“ Ausgangspunkt der Ursachenforschung für den unterschiedlichen Schutz von Bestands- gegenüber Zugangsinteressen sind die Arbeitnehmerbelange, mit denen das BVerfG selbst das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß eines Bestandsschutzes begründet hat: „Der Arbeitsplatz ist die wirtschaftliche Existenzgrundlage für [den Arbeitnehmer] und seine Familie. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard und Verlust von Nachbarschaftsbeziehungen zu finden, hängen vom Arbeitsmarkt ab. In Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit sind sie vor allem für den älteren Arbeitnehmer schlecht. Gelingt es ihm nicht, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu finden, gerät er häufig in eine Krise, in der ihm durch die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nur teilweise und auch nur für einen begrenzten Zeitraum geholfen wird.“1017
Bestandschutz ist nach der Ansicht des BVerfG also aus den materiellen und immateriellen Funktionen zu rechtfertigen, die ein Arbeitsplatz für Arbeitnehmer:innen erfüllt: die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz und ihres sozialen 1015 K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 674; ähnlich F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 246, 286. 1016 K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 678 ff.; F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 256 ff.; V. Stelljes, Zu Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes (2002), S. 59. Die Beeinträchtigung erfüllt auch die Anforderungen des BVerfG an die Eingriffswirkung von Maßnahmen: Es genügt, dass sie ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, das Grundrecht mittelbar zu beeinträchtigen (st. Rspr. seit BVerfG, Beschl. v. 30. 10. 1961 – 1 BvR 833/59, NJW 1961, 2299), siehe dazu auch D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 418. 1017 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 471 f.
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Geltungsanspruchs. So zutreffend diese Feststellung ist, so wenig kann sie eine spezifische Schutzbedürftigkeit gerade der Arbeitsplatzinhaber:innen begründen. Arbeitsuchende sind nämlich aus den gleichen Gründen auf die Begründung von Arbeitsverhältnissen angewiesen. Die vom BVerfG beschriebene Krise, die Arbeitslosigkeit bedeuten kann, ist für Arbeitsuchende bereits akute Realität und kein drohendes Schreckensszenario. Die vom BVerfG genannten Aspekte betreffen Arbeitsplatzinhaber:innen und -suchende daher gleichermaßen; die beiden Personengruppen sind insofern gleich schutzwürdig.1018 Diese Einschätzung scheint nun auch das BVerfG zu teilen: Im Jahr 2018 hat es das Gewicht der von § 14 II 2 TzBfG beeinträchtigten Zugangsinteressen von Arbeitsuchenden ausdrücklich auf die im „Kleinbetriebs-Beschluss“ herangezogenen Gründe gestützt.1019 Um eine Verfestigung des Bestandsschutzes von Arbeitnehmer:innen auf Kosten der Arbeitsuchenden zu legitimieren, sind daher andere Gründe erforderlich. (bb) Vertragsrechtsdogmatischer Erklärungsansatz Einen vertragsrechtsdogmatischen Erklärungsansatz unternimmt Badura: „Die vergleichsweise schwache privatrechtsgestaltende Wirkung, die das Recht, den Arbeitsplatz zu wählen, gegenüber dem Arbeitgeber zu entfalten vermag, hat ihren Grund letztlich darin, daß dieses Recht insoweit eine Ausformung der arbeitsrechtlichen Vertragsfreiheit (vgl. § 105 GewO) ist.“1020 Dieser Hinweis erklärt indes nicht, wieso die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses so viel höheren Anforderungen unterliegt als die Nichtbegründung. Der Verweis auf § 105 GewO allein hilft nicht weiter, ist doch die Herausnahme der freien Vertragsbeendigung aus dem Tatbestand der Norm bereits das mit dem Kündigungsschutz korrespondierende Ergebnis einer gesetzgeberischen Wertung, nach deren Ursachen hier gerade gefragt wird. Gegen eine qualitative Abstufung von Vertragsbegründungsfreiheit und Vertragsbeendigungsfreiheit als Ausformung der arbeitsrechtlichen Vertragsfreiheit argumentiert auch Oetker: Er hat überzeugend herausgearbeitet, dass die Vertragsbeendigungsfreiheit bei Dauerschuldverhältnissen ebenso Ausdruck der Selbstbestimmung und damit Schutzgut der Vertragsfreiheit ist wie die Vertragsbegründung. Die freie Vertragsbeendigung muss zwar bei Verträgen, die auf eine sofortige oder kurzfristige Abwicklung von Leistungen gerichtet sind, wie beispielsweise der Kaufvertrag, aus der Vertragsrechtsordnung immanenten Gründen begrenzt sein. „Soll die Vertragsrechtsordnung ihre Funktion erfüllen, nämlich den Vertragsparteien einen verläßlichen und stabilen Ordnungsrahmen zur Verfügung zu stellen, so ist der allgemeine Grundsatz der Vertragstreue, also der Rechtssatz pacta 1018 J. F. Lindner, RdA 2005, 166, 168; F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 159, 241, 293; V. Stelljes, Zu Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes (2002), S. 72 ff. 1019 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 778 (Rn. 56). 1020 P. Badura, RdA 1999, 8, 11.
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sunt servanda, zwingend geboten.“1021 Nach Ansicht Oetkers gilt diese Sichtweise aber nicht für Dauerschuldverhältnisse wie Arbeitsverhältnisse, da die uneingeschränkte Bindung an den Vertragsschluss in diesen Fällen dazu führen würde, dass sich die Parteien auf ewig binden müssten. Eine Bindung auf ewig beschränke aber gerade die durch den Grundsatz der Vertragsfreiheit geschützte Selbstbestimmung der Privatrechtssubjekte im Rechtsverkehr.1022 Dieser Widerspruch könne nur aufgelöst werden, indem Vertragsparteien das Recht gewährleistet werde, „sich einseitig von den vertraglichen Bindungen zu befreien und damit den Eintritt einer mit dem Sinngehalt der Vertragsfreiheit unvereinbaren Ewigkeitsbindung zu verhindern.“1023 Aus diesem Grund ist bei Dauerschuldverhältnissen nach einhelliger Ansicht neben der Abschluss- und der Inhaltsfreiheit auch die Freiheit der einseitigen Beendigung als Komponente der Vertragsfreiheit geschützt.1024 Einschränkungen der Vertragsbeendigungsfreiheit sind daher genauso rechtfertigungsbedürftig wie Einschränkungen der Vertragsabschlussfreiheit. Mit einem Verweis auf § 105 GewO ist nichts gewonnen. (cc) Qualitativ verschiedene Zielrichtungen der grundrechtlichen Schutzpflicht Die Ursache für die unterschiedliche Schutzausgestaltung von Bestands- und Zugangsinteressen sieht Rütten in den qualitativ verschiedenen Zielrichtungen der grundrechtlichen Schutzpflicht verankert. Seine These baut auf der Erkenntnis auf, dass die Berufsfreiheit für unselbstständig Tätige nur in der sozialen Bindung eines Arbeitsverhältnisses zu verwirklichen ist und gerade durch diesen „Zwang zur Sozialität“ bedroht ist. Arbeitsplatzinhaber:innen und Arbeitsuchende sind insofern gleichermaßen auf eine Grundrechtsausübung in Kooperation mit Arbeitgeber:innen angewiesen.1025 Während der Inhalt einer Schutzpflicht zugunsten der Arbeitsplatzinhaber:innen aber eindeutig sei, da ihre jeweiligen Arbeitgeber:innen als Störer:innen identifiziert werden könnten, sei die Pflicht zum Schutz der Arbeitsuchenden konturlos: Es bestehe jedenfalls kein „Recht auf Arbeit“, das den Staat zur Verschaffung von Arbeitsplätzen verpflichte, da ein solches Recht eine staatlich verwaltete Arbeitsplatzbewirtschaftung voraussetze, die mit der deutschen freiheitlich verfassten Marktwirtschaft unvereinbar sei und eine unmittelbare Dritt-
1021 H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 17 f. 1022 So auch K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 47; T. Lakies, DB 1997, 1078; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 283; S. Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes (2001), S. 44 f. 1023 H. Oetker, Der arbeitsrechtliche Bestandsschutz unter dem Firmament der Grundrechtsordnung (1996), S. 19; zustimmend M. Franzen, in: FS Otto (2008), Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers als Grundlage des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes, S. 71, 75 f. 1024 Siehe schon oben 1. Kap. B. II. 1., C. II. 1025 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 286.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
wirkung der Grundrechte bedeute.1026 Von Art. 12 I GG gewährleistet sei daher nur ein „Recht auf eine nicht chancenlose Teilnahme an der Arbeitsplatzkonkurrenz.“1027 Da sich jeder Arbeitsuchende auf dieses Recht berufen könne, dürfe der Staat nur ausnahmsweise zugunsten strukturell benachteiligter Gruppen in den freien Wettbewerb eingreifen und einzelnen Arbeitsuchenden zur Hilfe kommen, beispielsweise durch die Ausgleichsabgabe bei der Unterbeschäftigung von schwerbehinderten Menschen gem. § 160 SGB IX. Ansonsten müsse sich der Staat darauf beschränken, eine chancengleiche Teilhabe aller Akteure am Arbeitsmarkt zu sichern.1028 Gegen eine gezieltere Schutzpflicht spreche außerdem, dass beim Zugang zu einem Arbeitsverhältnis keine einzelnen Arbeitgeber:innen als Störer:innen identifiziert werden könnten. Während es bei der Kontrolle der Vertragsbeendigung darum gehe, die Arbeitsplatzwahlfreiheit vor einer Intervention durch Arbeitgeber:innen freizuhalten, sei der Prozess der Vertragsbegründung keine Konfliktsituation, sondern ein „gleichgerichtetes Handeln“ der Akteure.1029 Aufgrund dieser Unterschiede könne dem Schutz der Begründung von Arbeitsverhältnissen keine Richtung gewiesen werden, wie der Staat diese Pflicht zu erfüllen habe.1030 Daher besteht nach der Ansicht Rüttens ein „logischer Vorrang des Arbeitnehmerinteresses. Zugunsten der Arbeitnehmer ist eine grundrechtliche Verpflichtung des Staates erkannt worden, die Arbeitsplätze gegen unberechtigten Entzug zu sichern. Diese Schutzverpflichtung kann der Staat nur durch eine entsprechende gesetzgeberische Aktion erfüllen. […] Anders formuliert hebt die besondere Nähe zu den Arbeitgebern als Potential der sozialen Bedrohung beruflicher Freiheit im Arbeitsverhältnis die Arbeitnehmer aus der Masse der Arbeitsplatzinteressenten qualitativ heraus und begründet insofern eine gewisse Sonderstellung. Deshalb ist dieses Interesse der Arbeitnehmer logisch vorrangig gegenüber dem der Arbeitsuchenden.“1031 Das Argument Rüttens ist also ein grundrechtsdogmatisches: Die Schutzpflicht zugunsten der Arbeitsplatzwahlfreiheit könne nur dort ihre privatrechtsgestaltende Wirkung entfalten, wo ihr eine konkrete Schutzrichtung zugewiesen werden kann. Nur die Arbeitsplatzwahlfreiheit von Arbeitsplatzinhaber:innen habe sich bereits so konkretisiert, dass spezifische Arbeitgeber:innen als Störer:innen identifiziert werden könnten. Nicht erklären kann dieser Ansatz allerdings, wieso die Bewerbersituation bei konkreten Arbeitgeber:innen keine hinreichend spezifische Situation ist, Arbeitgeber:innen, die Bewerber:innen ablehnen, also keine Störer:innen 1026 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 243; ein Recht auf Arbeit wird allgemein abgelehnt, siehe auch beispielhaft H.-J. Papier, DVBl 1984, 801, 810 f.; J. Pietzcker, NVwZ 1984, 550, 556; R. Scholz, ZfA 1981, 265, 284; P. Schwerdtner, ZfA 1977, 47, 68; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 94. 1027 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 286. 1028 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 247 unter Verweis auf BVerfG, Urt. v. 11. 6. 1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1038. 1029 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 239. 1030 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 287. 1031 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 294.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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sein können. Auch unterhalb einer Einstellungspflicht wäre als Inhalt einer Schutzpflicht denkbar, das Auswahlermessen der Arbeitgeber:innen zu lenken oder eine Begründungspflicht für abgelehnte Bewerbungen einzuführen. Schließlich bleibt unklar, wieso die Schutzpflicht zugunsten der Arbeitsplatzinhaber:innen das Interesse der Arbeitsuchenden an einer Abwehr staatlicher Eingriffe durch Bestandsregelungen überwiegen soll. Auch Rütten bleibt es schuldig, materielle Gründe zu benennen, die rechtfertigen, dass der Gesetzgeber mit dem KSchG ein weit über das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß hinausgehendes Bestandsschutzkonzept normiert und insofern überobligatorisch in die Zugangsinteressen der Arbeitsuchenden eingegriffen hat. (dd) Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses als Flankenschutz Nach einer verbreiteten und erstmals von Reuter formulierten Auffassung dient Kündigungsschutz dazu, Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis vor den Folgen ihrer institutionellen Abhängigkeit zu schützen und ihre Subjektstellung im Arbeitsverhältnis zu gewährleisten.1032 Da sämtliche Arbeitnehmerrechte wirkungslos wären, „wenn ihre Ausübung unter dem Damoklesschwert einer unkontrollierbaren Arbeitgeberkündigung“ stünde, würden Kündigungsschutzvorschriften dem „Flankenschutz“ all dieser Arbeitnehmerrechte dienen.1033 Dorndorf entwickelt diesen Gedanken unter dem Begriff der „Vertragsdurchsetzung“ fort: Kündigungsschutz gewährleiste, dass die vertraglichen Rechte der Arbeitnehmer:innen tatsächlich durchgesetzt werden. Könnte eine Arbeitgeberin grundlos kündigen und müsste ein Arbeitnehmer mit einer jederzeitigen Kündigung rechnen, würde er sich „unter Umständen zu einem über seine Vertragspflichten hinausgehenden ,überobligationsmäßigen‘ Verhalten genötigt sehen“ und entweder aufgrund entsprechender Äußerungen der Arbeitgeberin oder aufgrund vorauseilenden Gehorsams unterlassen, eigene Rechte geltend zu machen oder mehr oder intensiver zu arbeiten als vertraglich geschuldet.1034 Auf die „Hilfsfunktion“1035 des Kündigungsschutzes zum Schutz darüber hinausgehender Belange stellt auch Rieble ab: Das KSchG bezwecke, Wettbewerb unter Arbeitnehmer:innen auszuschalten, um einen „ruinösen Unterbietungswettbewerb“ 1032 D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 424; die Flankenschutztheorie vertreten weiterhin K. Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis (2005), S. 699; E. Dorndorf, ZfA 1989, 345, 355 f.; M. Franzen, in: FS Otto (2008), Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers als Grundlage des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes, S. 71, 84 ff.; NK ArbR/S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 17; V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 303 ff.; V. Stelljes, Zu Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes (2002), S. 81; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 126. 1033 D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 424. 1034 E. Dorndorf, ZfA 1989, 345, 355 f. 1035 F. Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit und Grundgesetz (2000), S. 60.
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zu verhindern.1036 Durch das Gebot der Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung werde ein Unterbietungs- oder Leistungsverdrängungswettbewerb unter den Arbeitnehmer:innen verhindert und so vermieden, dass Arbeitnehmer:innen ihren Arbeitgeber:innen den Verbleib im Unternehmen abkaufen oder eine Kündigung der Leistungsschwachen die Arbeitnehmer:innen und ihre wirtschaftliche Existenz „zum Objekt betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Analysen“ degradiere.1037 Die Anforderungen an personen- und verhaltensbedingte Kündigungen würden einen Austauschwettbewerb mit unternehmensexternen Arbeitnehmer:innen verhindern, damit Arbeitnehmer:innen nicht befürchten müssten, den Arbeitsplatz nur zu verlieren, weil sie gelegentlich krank sind, ihre Leistung nachlässt, sie Arbeitgeber:innen verärgern oder eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen ablehnen.1038 Auch Stelljes betrachtet den Kündigungsschutz als Flankenschutz anderer Arbeitnehmerrechte, die diese vor „faktischem ,Leerlaufen‘“ schütze. Die Furcht, durch eine Kündigung diszipliniert zu werden „höhlte die Rechte des Arbeitnehmers aus und reduzierte sie auf eine nur formale Position, die für den Arbeitnehmer praktisch ohne jeden Wert wäre.“1039 Zu demselben Ergebnis kommt Franzen, der den freiheitssichernden Zweck des Kündigungsschutzes im Persönlichkeitsrecht von Arbeitnehmer:innen verortet.1040 Das Bedürfnis nach einem Flankenschutz ist in der Tat ein spezifisches Arbeitnehmerinteresse, da sich Arbeitsuchende gerade noch nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis mit Rechten und Pflichten befinden. Dass der Gesetzgeber mit dem KSchG auch die oben beschriebene Hilfsfunktion erfüllen wollte, wird im Entwurf zum Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz aus dem Jahr 1996, mit dem einige Vorschriften des KSchG geändert wurden (insbesondere Anhebung des Schwellenwerts in § 23 I KSchG) ausgedrückt: „Für den Arbeitnehmer, der auf seine Arbeit für sich und seine Familie existentiell angewiesen ist, ist ein gesetzlicher Kündigungsschutz unverzichtbar, auch als Voraussetzung dafür, ihm zustehende arbeitsrechtliche Ansprüche ohne Furcht vor betrieblichen Sanktionen geltend machen zu können.“1041 Die Flankenschutztheorie kann jedoch nicht vollends erklären, wieso gerade der Bestand des Arbeitsverhältnisses so wichtig ist, dass das Maßregelungsverbot in § 612a BGB den Flankenschutz nicht ausreichend gewährleistet, und wieso Ansprüche auf Schadensersatz nicht genügen, sondern das KSchG (trotz der Ausnahmen in §§ 1a, 9 f. KSchG) als Bestandsschutzgesetz konzipiert ist. Außerdem können auf diese Weise die hohen Anforderungen an eine soziale Rechtfertigung gem. § 1 KSchG, die insbesondere auch eine Interessenabwägung 1036 1037 1038 1039
S. 81.
V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 305 (Rn. 1019). V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 303 f. (Rn. 1012 ff.). V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb (1996), S. 304 f. (Rn. 1017 ff.). V. Stelljes, Zu Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes (2002),
1040 M. Franzen, in: FS Otto (2008), Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers als Grundlage des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes, S. 71, 88 f. 1041 BT-Drs. 13/4612, S. 8.
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verlangen, sowie die Rechtsprechung des BVerfG zum verfassungsrechtlich gebotenen Bestandsschutz, der eine Berücksichtigung langjährigen Vertrauens und ein Mindestmaß sozialer Rücksichtnahme verlangt, nicht schlüssig erklärt werden. Zu suchen ist nach weiteren Gründen, die gerade den Schutz des Bestands des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. (ee) Bestandsschutz als Schutz der Betriebszugehörigkeit Herschel hat sich bemüht, die soziale Stellung der Arbeitnehmer:innen im Betrieb als Geltungsgrund des Kündigungsschutzes herauszuarbeiten. Die Zugehörigkeit zum Betrieb sei besonders schutzbedürftig, da sich in ihm „intensive persönlichkeitsbetonte, vertikale und horizontale Beziehungen“ entfalteten.1042 Das Arbeitsverhältnis sei nicht nur in die „Zelle Betrieb“ eingebettet, sondern Teilhabe am Betrieb, sodass eine grundlose Aufhebung dieser Zugehörigkeit durch Arbeitgeber:innen den Wert der gesamten „Institution“ Betrieb und dessen „integrierende Wirkung“ aushöhle.1043 Herschel bezieht sich auf Benda als gedanklichen Urheber seiner Sichtweise,1044 der den Schutz der Betriebszugehörigkeit in einer Monographie aus dem Jahr 1966 mit der „Teilhabe am Betrieb“ und der „Zugehörigkeit zu einer personenrechtlichen Gemeinschaft“ gleichgesetzt hat. Ein Arbeitsvertrag begründe einen „Anspruch, Betriebsangehöriger zu sein und sich entsprechend zu betätigen“, da Arbeitnehmer:innen als „gemeinschaftsbezogene und -gebundene Menschen“ zu betrachten und zu schützen seien.1045 Eine gewisse Rückendeckung erhält diese Sichtweise durch die Entwurfsbegründung des KSchG aus dem Jahr 1951, das im Wesentlichen bis heute gilt: Der Entwurf weist darauf hin, dass der Kündigungsschutz nicht nur das „allgemeine wirtschaftliche Interesse des Arbeitnehmers“ schütze, sondern auch „den Arbeitsplatz und die Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers […], die die Grundlagen seiner wirtschaftlichen und sozialen Existenz bilden“, und erklärt so die erhöhten Anforderungen einer sozial gerechtfertigten Kündigung.1046 In der Tat sind die sozialen Bezüge eines Arbeitsplatzes für das Wohlbefinden von Arbeitnehmer:innen nicht von der Hand zu weisen und der Schutz der Betriebszugehörigkeit ist auch ein arbeitnehmerspezifischer Belang, der Arbeitsplatzinhaber:innen von -suchenden unterscheidet. Diesen Aspekt aber als alleinige Recht1042
W. Herschel, BB 1977, 708, 709. W. Herschel, RdA 1975, 28, 31. 1044 W. Herschel, in: FS Schnorr von Carolsfeld (1972), Betriebsbezogenheit des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes und ganzheitliche Abwägung, S. 157, 164; ders., RdA 1975, 28, 32. 1045 E. Benda, Industrielle Herrschaft und sozialer Staat (1966), S. 531 f. 1046 RegE zum KSchG 1951, BT-Drs. Nr. 2090 vom 27. 03. 1951, S. 11. Davon ist der Gesetzgeber auch durch die Änderung des KSchG im Jahr 1996 nicht abgerückt: Der in der Gesetzesbegründung genannte Flankenschutzaspekt wird durch das Wort „auch“ als Nebenzweck gekennzeichnet; vgl. auch A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 119. 1043
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fertigung des Bestandsschutzes zu begreifen, passt eher zum früheren und überholten Verständnis des Arbeitsverhältnisses als „personenrechtlichem Gemeinschaftsverhältnis“1047 als zur heutigen Konzeption von Arbeitsverhältnissen als den Erwerbsinteressen der Arbeitnehmer:innen dienende Austauschverhältnisse.1048 Mit der radikalen Ansicht Herschels lässt sich auch nicht in Einklang bringen, dass Arbeitgeber:innen frei darin sind, die Betriebe je nach betriebswirtschaftlicher Zweckmäßigkeit zu organisieren und zu verändern,1049 und dass eine Kündigung dann rechtswidrig ist, wenn Arbeitnehmer:innen auf einem anderen Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden können (§ 1 II 2 Nr. 1 lit. b Var. 2 KSchG). (ff) Bestandsschutz als Schutz des Stabilitätsinteresses Der Hauptgrund für Bestandsschutz liegt richtigerweise darin, dass Arbeitsverhältnisse ihre wesentlichen Funktionen für Arbeitnehmer:innen nur dann vollständig erfüllen können, wenn sie von einer gewissen Dauer und Stabilität sind.1050 Art. 12 GG gewährleistet, dass Menschen ihre Fähigkeiten einsetzen können, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, die ihnen eine frei bestimmte Selbstentfaltung und Lebensgestaltung ermöglicht. Damit Arbeitnehmer:innen die aus Arbeitsverhältnissen gewonnenen finanziellen Ressourcen tatsächlich dazu einsetzen können, ihren Lebenszuschnitt, ihr Wohnumfeld und ihr soziales Beziehungsgeflecht zu gestalten, müssen Arbeitsverhältnisse eine gewisse Stabilität haben: Nur wenn Arbeitnehmer:innen nicht damit rechnen müssen, jederzeit entlassen zu werden und ihre Einkommensquelle zu verlieren, können sie ihre finanziellen und sozialen Lebensentscheidungen auch langfristig planen. Erzwingt der Verlust und Wechsel eines Arbeitsplatzes auch einen Wohnortwechsel, werden Lebensentscheidungen wie Hauseigentum, die Schulwahl der Kinder und der wohnortbezogene Freundes- und Bekanntenkreis in Frage gestellt.1051 Das Risiko, im Falle einer Kündigung in ab1047 Damals schon dagegen D. Reuter, RdA 1973, 345 ff.; P. Schwerdtner, ZRP 1970, 62; dezidiert auch U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 128 f. 1048 U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 128 ff.; NK ArbR/S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 17. 1049 Darauf weist auch D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 422 hin. 1050 Es ist das Verdienst von A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 122 ff., diesen Kern der nachfolgenden Argumente herausgestellt zu haben. 1051 A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 122 f.; D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 423; H. Wiedemann, RdA 1961, 1, 5. Dass das KSchG auch die außerberufliche Lebensführung schützt, liegt auch der Rechtsprechung des BAG zugrunde: Eine Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit bei der Sozialauswahl sei deshalb gewichtig, da mit der Dauer auch die persönliche Bindung zunehme, „die etwa in einer arbeitsplatzbezogenen Wahl des Wohnorts und der Entwicklung von Freundschaften und Lebensgewohnheiten zum Ausdruck kommen kann.“ (BAG, Urt. v. 6. 2. 2003 – 2 AZR 623/01,
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sehbarer Zeit keinen neuen Arbeitsplatz zu finden, erzeugt Vorwirkungen auch während eines Arbeitsverhältnisses: Da die meisten Menschen risikoavers eingestellt sind, sehen sie ohne gesicherte finanzielle Perspektive von langfristigen Dispositionen, wie der Investition in Wohneigentum oder einer kostspieligen Familienplanung, ab.1052 Da es dem Wesen des Arbeitsvertrags entspricht, „dass der Arbeitnehmer die Verwertung seiner gesamten Arbeitskraft während einer nicht unerheblichen Zeit zur Verfügung stellt und währenddessen auf eine Daseinsvorsorge außerhalb des Arbeitsverhältnisses verzichtet […], muss das Arbeitsentgelt die Funktion einer wirtschaftlichen Mindestsicherung gewährleisten, […] die auch eine gewisse Stetigkeit der Entgeltzahlung erfordert.“1053 Nur wenn Arbeitnehmer:innen davor geschützt sind, ihre Einnahmequelle jederzeit verlieren zu können, ist sichergestellt, dass sie nicht nur ihre täglichen Ausgaben decken, sondern auch ihre Lebens- und Konsumentscheidungen längerfristig planen können.1054 Mit diesem Aspekt eng verknüpft sind die psychischen Auswirkungen eines unbeschränkten Leistungs- und Wettbewerbsdrucks: Wenn Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsplätze permanent behaupten müssten, könnte diese „, Wolf unter Wölfen‘Mentalität“1055 psychische und physische Schäden hervorrufen.1056 Bestandsschutz vermittelt Arbeitnehmer:innen also auch ein Gefühl von Sicherheit, das die Abhängigkeit von Arbeitgeber:innen auf Dauer erträglich macht.1057 Herschel formuliert das – dem historischen Hintergrund seiner Rechtsauffassung entsprechend1058 – etwas überspitzt, aber im Kern treffend: „Dem Arbeitnehmer ist mit einem noch so sozial ausgestalteten Betrieb nicht vollkommen gedient, wenn er jederzeit aus dem Arbeitsverhältnis aus unzulänglichen, ja willkürlichen Gründen gegen seinen Willen entfernt werden kann – genau wie alle Segnungen eines Staates für die Bürger NJOZ 2003, 3166, 3167); andeutungsweise auch U. Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen (1987), S. 125: Mit dem Arbeitsplatz hängt eine „ganze Reihe sozialer Komponenten“ zusammen. 1052 A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 123 f. 1053 R. Schwarze, RdA 2012, 321, 325 f. 1054 A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 124. Er weist auch darauf hin, dass Selbstständige wegen unsteter Marktbedingungen zwar auch in hoher Unsicherheit leben, diese Berufstätigen aber ihr Verhalten am Markt steuern und insofern selbst Einfluss auf die Stabilität ihres Einkommens nehmen können. Arbeitnehmer: innen sind hingegen von ihren Arbeitgeber:innen abhängig und insofern auf einen stabilisierenden Ausgleich ihrer Unsicherheit durch Bestandsregelungen angewiesen. 1055 H. Wiedemann, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Leistungsprinzip und Tarifvertragsrecht, S. 635, 659. 1056 A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 126; ähnlich W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 116: „Auch für den Leistungsdruck gilt, daß Gift eine Frage der Dosis ist. Gänzlich ohne Leistungsdruck verfällt eine Gesellschaft. Ein zuviel an Leistungsdruck zerstört entscheidende Lebenswerte.“ 1057 H. Wiedemann, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Leistungsprinzip und Tarifvertragsrecht, S. 635, 659; W. Zöllner, Gutachten DJT (1978), S. 116 f. 1058 Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (b) (ee).
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zweifelhaft würden, wenn sie von heute auf morgen ohne weiteres ausgewiesen werden könnten.“1059 Ein Interesse an einer Dauerhaftigkeit von Arbeitsverhältnissen resultiert auch daraus, dass sich Arbeitnehmer:innen auch im Arbeitsverhältnis regelmäßig nur selbst verwirklichen können, wenn sie für einen gewissen Zeitraum ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz entwickeln, sich betriebsspezifisch weiterbilden und sich in die soziale Struktur integrieren können.1060 Spiegelbildlich geht mit einer betriebsspezifischen Spezialisierung oft ein Verzicht auf allgemeine Weiterbildungen, die Wettbewerbsvorteile auf dem Markt verschaffen würden, einher, sodass der Fortbestand von Arbeitsplätzen auch als Kompensation arbeitsplatzbezogener Humaninvestitionen begriffen werden kann.1061 Das Interesse an einem stabilen Arbeitsverhältnis von gewisser Dauer unterscheidet sich qualitativ von dem Interesse, überhaupt einen Arbeitsplatz als Grundlage der Existenzsicherung erstmals zu erhalten oder weiter zu behalten. Es handelt sich also um ein spezifisches Bestandsinteresse, das eine Privilegierung gegenüber Zugangsinteressen rechtfertigen kann.1062 (gg) Ergebnis: Schutz der Stabilitätsinteressen ergänzt durch Flankenschutz als überzeugende Gründe von Bestandsschutz Die arbeitsrechtliche Literatur hat unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien überzeugende Gründe herausgestellt, die eine Privilegierung der innegehabten Arbeitsplätze gegenüber den Zugangsinteressen Arbeitsuchender und damit eine gewisse Beschränkung des freien Arbeitnehmerwettbewerbs rechtfertigen können. Besonders tragfähig ist das Argument, dass ein Arbeitsplatz seine Funktion als Grundlage materieller Existenzsicherung und immaterieller Selbstentfaltung der Arbeitnehmer:innen nur voll erfüllen kann, wenn er von einer gewissen Dauer und Stabilität ist. Verstärkt wird diese Argumentation durch die Flankenschutztheorie: Der Entzug des Arbeitsverhältnisses ist gerade auch aufgrund der spezifischen Bestandsinteressen ein so starkes Druckmittel der Arbeitgeber:innen, dass seine 1059
W. Herschel, RdA 1975, 28, 31. A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 123 f.; W. Herschel, RdA 1975, 28, 31; die Bedeutung der Weiterentwicklung beruflicher Fähigkeiten zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit betont auch E. Kocher, in: FS von Brünneck (2011), Recht am Arbeitsplatz und Recht an der Beschäftigungsfähigkeit, S. 287, 293. 1061 E. Dorndorf, ZfA 1989, 345, 356; D. Reuter, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Grundlagen des Kündigungsschutzes – Bestandsaufnahme und Kritik, S. 405, 423; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 124; vgl. auch H. Wiedemann, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Leistungsprinzip und Tarifvertragsrecht, S. 635, 657 ff. 1062 H. Wiedemann, in: FS 25 Jahre BAG (1979), Leistungsprinzip und Tarifvertragsrecht, S. 635, 659 geht sogar so weit zu behaupten, ohne Bestandsschutz „wäre letztlich auch den Arbeitsplatzsuchenden nicht gedient, die an einem dauernden und sicheren Arbeitsplatz, nicht dagegen an einer kurzfristigen Beschäftigung – bis zur nächsten, durch das Auftreten eines leistungsfähigeren Konkurrenten bedingten Phase der Arbeitslosigkeit – interessiert sind.“ 1060
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Beschränkung notwendig ist, damit die gesetzlich eingeräumten Arbeitnehmerrechte tatsächlich wirksam werden. Ergänzend ist auch der Schutz der Betriebszugehörigkeit als arbeitnehmerspezifisches Interesse am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu nennen, wenngleich die Bedeutung dieses Aspekts in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat. (c) Einordnung des Interesses an einer Vertragsfortsetzung als Hybrid von Bestands- und Zugangsinteressen Ob auch die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse spezifische Bestandsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen beeinträchtigt oder ob bloß ihr Interesse am fortgesetzten Zugang zu einem Arbeitsplatz betroffen ist, ist anhand der Rechts- und Interessenlage im befristeten Arbeitsverhältnis zu beurteilen. Entscheidend ist, ob sich auch im befristeten Arbeitsverhältnis trotz einer wirksamen Befristungsabrede Stabilitätsinteressen von Arbeitnehmer:innen entwickeln, die durch die Nichtfortsetzung ihrer Verträge beeinträchtigt werden [(aa)], ob die Rechtsfolgen der Nichtfortsetzung auch unter dem Aspekt des Flankenschutzes zu betrachten sind [(bb)] und inwieweit Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen abschließend durch das TzBfG berücksichtigt sind [(cc)]. (aa) Stabilitätsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen Nach den oben dargestellten Erwägungen fallen Stabilitätsinteressen bei der Beurteilung der (Nicht-)Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse in die Waagschale, wenn sich befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen typischerweise auf eine längerfristige Tätigkeit auf dem Arbeitsplatz einrichten, den Lebensmittelpunkt entsprechend ausrichten und den Arbeitsplatz auch zur finanziellen Grundlage ihrer Lebens- und Konsumentscheidungen machen (z. B. Familiengründung oder Immobilienkauf), sodass ein erwartungswidriger Verlust unter Umständen massive persönliche und finanzielle Belastungen verursacht. Außerdem ist entscheidend, ob sich befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen üblicherweise derart fachlich und persönlich in den Betrieb integrieren, dass sie infolge der Nichtfortsetzung ihr soziales Beziehungsgeflecht sowie arbeitsplatzbezogene Investitionen, insbesondere eine betriebliche Spezialisierung, verlieren. Dagegen mag eingewandt werden, dass wirksam befristete Arbeitsverhältnisse von Anfang an nur auf Zeit geschlossen werden und Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsplätze daher gar nicht erwartungswidrig verlieren. Da befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen um die Befristung ihrer Arbeitsverträge wissen, könnte man annehmen, dass sie ohnehin keine weitreichenden Dispositionen treffen und sich nicht langfristig in den Betrieb integrieren. Da Arbeitsverhältnisse ohnehin nur für einen begrenzten Zeitraum geschlossen werden, könnte auch der Verzicht auf eine allgemeine Weiterbildung zugunsten betriebsspezifischer Spezialisierungen nur geringe Ausmaße annehmen.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Eine solche Unterstellung setzt allerdings voraus, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen tatsächlich nur für eine kurze Zeit in einem Unternehmen arbeiten und davon ausgehen müssen, dass ihre befristeten Arbeitsverhältnisse mit Fristablauf enden. Diese Vorstellung entspricht nicht der Realität mannigfaltiger Befristungsmodalitäten im Arbeitsleben: Arbeitnehmer:innen entwickeln in zwei Szenarien ein Interesse an der Dauerhaftigkeit und Stabilität ihrer Arbeitsverhältnisse, infolgedessen die Nichtfortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse belastender ist als es die Nichteinstellung auf einem neuen Arbeitsplatz wäre: aufgrund einer langjährigen Beschäftigung auf dem Arbeitsplatz in der Vergangenheit [(a)] oder aufgrund der konkreten Perspektive einer langfristigen Beschäftigung [(b)]. (a) Langjähriger Bestand befristeter Arbeitsverhältnisse Schutzwürdige Bestandsinteressen sind erstens anzunehmen, wenn Arbeitsverhältnisse im Zeitpunkt der Nichtfortsetzung bereits mehrere Jahre bestanden haben. Es sind dann nämlich regelmäßig die einen Bestandsschutz rechtfertigenden Gründe betroffen: Zwar ist im Ausgangspunkt anzunehmen, dass Arbeitnehmer:innen durch die Unbeständigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse davon abgehalten werden, Lebenszuschnitt, Wohnumfeld und Beziehungsgeflecht an dem Arbeitsplatz auszurichten; je länger befristete Arbeitsverhältnisse jedoch dauern, desto weniger kommen Arbeitnehmer:innen um diese Dispositionen umhin. Für eine Arbeitnehmerin, die für einen Monat zur Vertretung oder projektbefristet eingesetzt ist, nimmt das Arbeitsverhältnis einen ganz anderen Stellenwert ein als für eine Arbeitnehmerin, die jahrelang befristet auf einem Arbeitsplatz beschäftigt ist. Ein Umzug in die Nähe des Arbeitsplatzes, die Suche eines Freundeskreises vor Ort und unter Umständen sogar langfristige finanzielle und familiäre Lebensentscheidungen lassen sich nicht jahrelang aufschieben. Mit zunehmender Beschäftigungsdauer wachsen zudem die soziale Integration der Arbeitnehmer:innen in einen Betrieb und ihre arbeitsplatzbezogene Spezialisierung; der Verlust des betrieblichen Beziehungsgeflechts und des spezifischen Sonderwissens wiegt immer schwerer. Um einen Zeitraum festzulegen, ab dem Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen typischerweise im beschriebenen Umfang ins Gewicht fallen, bietet sich eine Orientierung an der gesetzgeberischen Wertung in § 14 II TzBfG an: Danach ist die Befristung von Arbeitnehmer:innen ohne sachlichen Grund prinzipiell1063 für die Dauer von bis zu zwei Jahren möglich. Eine Befristung für diesen Zeitraum muss nicht durch individuelle Bedürfnisse der Arbeitgeber:innen gerechtfertigt sein; ihre Zulässigkeit fußt stattdessen auf der pauschalen rechtspolitischen Erwägung, dass § 14 II TzBfG sowohl den Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen als auch den Marktzugangsinteressen von Arbeitsuchenden Rechnung trägt, da die sachgrundlose Befristung eine „Brücke zur Dauerbeschäftigung“ sein könne.1064 Nach Ablauf von zwei Jahren sind Arbeitgeber:innen gezwungen, sich zwischen einer 1063 1064
Ausnahmen von diesem Grundsatz sind in § 14 II 3, IIa, III TzBfG normiert. Siehe die Nachweise in 1. Kap. D. I. 2. b).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Entfristung, Sachgrundbefristung oder Entlassung der Arbeitnehmer:innen zu entscheiden, wobei sie entweder dem Bestandsinteresse befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen Rechnung tragen oder anderen Arbeitsuchenden die Chance einer Bewährung eröffnen.1065 Zu diesem Zeitpunkt sind die Interessen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse und die Zugangsinteressen Arbeitsuchender nach der gesetzgeberischen Konzeption also gleich schutzwürdig. Ein spezifisches Bestandsinteresse, das zu einer Privilegierung der Arbeitsplatzinhaber:innen führen würde, widerspräche dieser Wertung. Erst bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als zwei Jahren schützt das TzBfG Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen so, dass eine Weiterbeschäftigung grundsätzlich1066 nur unbefristet oder mit einem sachlichen Grund zulässig ist. Dass befristete Arbeitsverhältnisse mehr als zwei Jahre andauern, kann auf verschiedenen Lebenssachverhalten beruhen: Erstens ist möglich, dass ein befristeter Arbeitsvertrag mit einer mehrjährigen Befristungsdauer vereinbart wird, und zwar entweder, da ein Sachgrund i. S. d. § 14 I TzBfG für einen entsprechenden Zeitraum vorliegt oder da eine sachgrundlose Befristung gem. §§ 14 II 3, 4 (Tariföffnungsklausel), IIa 1 (Privilegierung von Existenzgründern), III TzBfG (Befristung älterer Arbeitnehmer:innen) für länger als zwei Jahre zulässig ist. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hatte 2019 ein Viertel aller befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen einen Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit von über zwei Jahren.1067 Ebenso schutzwürdig sind Arbeitnehmer:innen, die auf der Grundlage mehrerer befristeter Arbeitsverträge bereits jahrelang auf demselben Arbeitsplatz tätig sind. Solche Kettenbefristungen werden beispielsweise dann eingesetzt, wenn zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses noch unsicher ist, wie lange ein Interesse an der Arbeitsleistung oder der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin bestehen wird: Musterbeispiele sind die Kettenbefristung von programmgestaltendem Rundfunkpersonal (vgl. § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG) oder von Arbeitnehmer:innen im Dritten Sektor, in dem Unternehmen ihr jährliches Budget aus Haushaltsmitteln und privaten Zahlungen beziehen und in der Personalplanung davon abhängig sind (vgl. § 14 I Nr. 1, 7 TzBfG).1068 Stellt sich bei Fristablauf heraus, dass Arbeitgeber:innen weiterhin an einem programmgestaltenden Rundfunkmitarbeiter interessiert sind bzw. die staatlichen Fördermittel weiterhin verfügbar sein werden, wird das Ar1065 BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 777 (Rn. 51). 1066 Siehe die Ausnahmen in Fn. 1063. 1067 Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtes, Destatis, https://www.destatis. de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-4/befristet-beschaeftigte. html: 53 % der befristeten Arbeitsverträge hatten eine Laufzeit von weniger als einem Jahr; 22 % zwischen einem und zwei Jahren; 13 % zwischen 2 und 3 Jahren und 12 % länger als drei Jahre. Ähnliche Ergebnisse zeigt die IAB-Stellenerhebung 2018, gefunden bei N. Gürtzgen/ A. Kubis/B. Küfner, IAB-Kurzbericht 17/2019, S. 3. 1068 Im IAB-Betriebspanel 2018 gaben knapp die Hälfte der befragten Betriebe in Organisationen ohne Erwerbszweck die begrenzte Finanzierung der Stelle als ihr wichtigstes Befristungsmotiv an.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
beitsverhältnis auf Basis desselben Sachgrunds verlängert. Weiterhin sind Kettenbefristungen zur Deckung eines vermeintlich nur vorübergehenden Arbeitskräftebedarfs verbreitet: Insbesondere in der öffentlichen Verwaltung und der Erziehungsund Unterrichtsbranche ist die Vertretungsbefristung der häufigste Befristungsgrund.1069 Die auch dort verbreitete Praxis, befristete Arbeitsverträge einzusetzen, um einen ständigen Vertretungsbedarf zu decken, hat das BAG – in Umsetzung von § 5 Nr. 1 lit. a) RL 1990/70/EG und einschlägiger EuGH-Rechtsprechung1070 – dazu veranlasst, Grundsätze für eine Rechtsmissbrauchskontrolle nach § 242 BGB zu etablieren.1071 Dabei werden primär die Gesamtdauer der Verträge und die Anzahl der Vertragsverlängerungen berücksichtigt.1072 Unproblematisch sind Kettenbefristungen nach ständiger Rechtsprechung des BAG jedenfalls „solange das Arbeitsverhältnis nicht die Gesamtdauer von sechs Jahren überschreitet und zudem nicht mehr als neun Vertragsverlängerungen vereinbart wurden, es sei denn, die Gesamtdauer übersteigt bereits acht Jahre oder es wurden mehr als zwölf Vertragsverlängerungen vereinbart.“1073 Auch unterhalb dieser Schwellenwerte – also in einem sechs oder acht Jahre bestehenden Arbeitsverhältnis – entwickeln sich aber die oben dargestellten Bestandsinteressen. (b) Perspektive einer langfristigen Beschäftigung Besondere Bestandsinteressen sind zweitens dann betroffen, wenn befristete Arbeitsverhältnisse mit der Perspektive einer langfristigen Beschäftigung abgeschlossen wurden. Sind Arbeitnehmer:innen befristete Arbeitsverhältnisse in der Erwartung eingegangen, über das Fristende hinaus langfristig beschäftigt zu werden, ist es wahrscheinlich, dass sie ihre Lebensmittelpunkte entsprechend ausgerichtet, langfristige Lebens- und Konsumentscheidungen im Vertrauen auf den Fortbestand der Einnahmequelle getätigt oder auf weitere Qualifikationen auf dem Markt verzichtet haben. Dass eine Fortsetzung befristeter Arbeitsverträge über das Fristende hinaus kein seltenes Szenario ist, wurde bereits in der Einleitung dieser Arbeit unter Bezug auf repräsentative Erhebungen des IAB herausgestellt, denen zufolge einem Großteil der befristeten Einstellungen eine längerfristige Beschäftigungsperspektive zugrunde liegt.1074 Mit diesem Befund korrespondieren Auskünfte befragter Arbeitgeber:innen über ihre wichtigsten Befristungsmotive: Im Jahr 2018 nannte nur 1069
Vgl. IAB-Betriebspanel 2018: 48,5 % in der öffentlichen Verwaltung und 41,9 % in der Erziehungs- und Unterrichtsbranche. 1070 EuGH, Urt. v. 26. 1. 2012 – C-586/10 (Kücük), NZA 2012, 135. 1071 BAG, Urt. v. 18. 7. 2012 – 7 AZR 443/09, NZA 2012, 1351, 1356 ff. (Rn. 38 ff.); BAG, Urt. v. 18. 7. 2012 – 7 AZR 783/10, NZA 2012, 1359, 1364 f. (Rn. 33 ff.). 1072 Siehe ausführlich BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 386 (Rn. 24 ff.). 1073 BAG, Urt. v. 26. 10. 2016 – 7 AZR 135/15, NZA 2017, 382, 386 (Rn. 26). 1074 Die Auswertung der IAB-Stellenbefragung 2018 hat nach N. Gürtzgen/A. Kubis/ B. Küfner, IAB-Kurzbericht 17/2019, S. 9 ergeben, dass ca. 85 % der befristeten Neueinstellungen mit einer längerfristigen Perspektive vorgenommen wurden.
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etwa ein Drittel der befragten Betriebe zeitlich begrenzten Ersatz- oder Mehrbedarf; ca. ein Fünftel eine unsichere wirtschaftliche Perspektive und begrenzte Finanzierung der Stelle und knapp 40 % die Erprobung der Mitarbeiter.1075 Mit diesen Ergebnissen korrespondiert ein hoher Anteil an Vertragsverlängerungen und Übernahmen: 75 % aller im Jahr 2019 ausgelaufenen befristeten Arbeitsverträge wurden nach Fristende entfristet oder verlängert.1076 Dem Abschluss eines befristeten Vertrags liegt also oft nicht die Perspektive zugrunde, dass die vertraglichen Beziehungen tatsächlich nach Ablauf der vereinbarten Frist enden. Fraglich ist, unter welchen Voraussetzungen Arbeitnehmer:innen mit der Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse rechnen dürfen. Ein erster Anhaltspunkt könnten die verschiedenen Tatbestände zulässiger Befristungen in § 14 TzBfG sein. Man könnte beispielsweise danach differenzieren, ob ein Befristungsgrund die Prognose voraussetzt, dass der Bedarf an der Arbeitsleistung in Zukunft wegfällt (vgl. § 14 I 2 Nr. 1, 3 TzBfG) oder ob mit der Möglichkeit einer Befristung auf andere Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen (vgl. § 14 I 2 Nr. 4, II TzBfG) reagiert wird. Im ersten Fall mag die Perspektive einer längerfristigen Beschäftigung im Betrieb ferner liegen als im zweiten. Gegen eine solche Differenzierung spricht aber, dass der Grund einer Befristung für Arbeitnehmer:innen meist gar nicht erkennbar ist: Nur wenn eine Zweckbefristung vereinbart ist, muss der Zweck, mit dessen Eintritt ein Arbeitsverhältnis enden soll, Vertragsgegenstand sein.1077 Bei Abschluss eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrags müssen Arbeitgeber:innen ihre Arbeitnehmer:innen weder darüber informieren, ob der Vertrag mit oder ohne Sachgrund befristet wird, noch einen etwaigen Sachgrund benennen.1078 Selbst wenn sie einen Sachgrund mitteilen, sind sie daran später nicht gebunden: In einem Befristungskontrollprozess dürfen sie andere Sachgründe nachschieben, sofern diese im Zeitpunkt der Befristungsabrede objektiv vorlagen.1079 Die Erwartung einer langfristigen Beschäftigung wird daher üblicherweise durch Begleitumstände erzeugt: Solche Begleitumstände sind insbesondere erwartungserzeugende Verhaltensweisen von Arbeitgeber:innen bei Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Dass die Kommunikation über das Schicksal der vertraglichen Beziehung nach Fristablauf im beiderseitigen Interesse der Vertragsparteien liegen kann und daher in der Praxis üblich ist, hat bereits ausführliche Untersuchungen im 1075
IAB-Betriebspanel 2018. Hochgerechnete Werte der Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2019: Ca. ein Drittel der befristeten Arbeitsverhältnisse wurde im Jahr 2019 nach Fristende verlängert, also erneut befristet fortgesetzt; ein Viertel lief mit Fristablauf aus und 44 % der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen wurden in ein entfristetes Arbeitsverhältnis übernommen. Damit hat der Anteil der Übernahmen einen neuen Höchststand erreicht. 1077 BAG, Urt. v. 21. 12. 2005 – 7 AZR 541/04, NZA 2006, 321, 323 (Rn. 37); BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 135 f. 1078 BAG, Urt. v. 23. 6. 2004 – 7 AZR 636/03, NZA 2004, 1333, 1334. 1079 BAG, Urt. v. 29. 6. 2011 – 7 AZR 774/09, NZA 2011, 1151, 1152 (Rn. 15); BeckOK ArbR/F. Bayreuther, § 14 TzBfG Rn. 7; MüKo BGB/D. Hesse, § 14 TzBfG Rn. 13. 1076
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zweiten Kapitel dieser Arbeit veranlasst.1080 Zur Erinnerung: Die Aussicht einer Weiterbeschäftigung nach Fristablauf kann für Arbeitnehmer:innen ein gewichtiger Anreiz sein, befristete Arbeitsverhältnisse überhaupt erst einzugehen und ggf. entsprechend zu disponieren (Kündigung anderer Arbeitsverhältnisse, Wohnortwechsel etc.). Dementsprechend können Arbeitgeber:innen ein Interesse daran haben, Arbeitsplätze durch die Perspektive einer Fortsetzung attraktiver zu präsentieren und dadurch qualifiziertere Arbeitnehmer:innen zu gewinnen. Außerdem steigen die Arbeitsmoral und Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmer:innen mit der Aussicht auf eine längerfristige Integration in den Betrieb. Dass Arbeitgeber:innen die Erwartung einer langfristigen Beschäftigung erzeugen, ist also vor allem dann denkbar, wenn sie ein Interesse an einer langfristigen Bindung der Arbeitnehmer:innen haben, aber einen unbefristeten Arbeitsvertrag aufgrund wirtschaftlicher Unwägbarkeiten nicht anbieten können – z. B. im Dritten Sektor, in dem Arbeitgeber:innen auf externe Fördermittel angewiesen sind – oder erst nach einer Erprobung abschließen möchten. Die Praktik, sachgrundlose Befristungen als verlängerte Probezeit zu nutzen, also Bewerber:innen pauschal zu befristen und für den Fall der Bewährung eine Entfristung in Aussicht zu stellen, ist weit verbreitet.1081 Fraglich ist, welcher Maßstab an die Erwartung einer langfristigen Beschäftigung auf dem Arbeitsplatz anzulegen sind. Im zweiten Kapitel wurde im Kontext der Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen herausarbeitet, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsordnung das Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss als so schutzwürdig ansieht, dass Arbeitgeber:innen für nutzlos gewordene Dispositionen der Arbeitnehmer:innen haften.1082 Diese Erwägungen können auch hier fruchtbar gemacht werden: Zwar sind Bezugspunkt und Inhalt der Haftung für Vertrauensschäden im Rahmen der culpa in contrahendo andere: Es geht dort um den finanziellen Ersatz derjenigen Aufwendungen und Gewinne, die im Vertrauen auf die Vertragsfortsetzung nutzlos geworden oder Arbeitnehmer:innen entgangen sind. Einen Vertragsschluss sieht der auf das negative Interesse gerichtete Schadensersatzanspruch gerade nicht vor. Hier hingegen wird das Vertrauen auf die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen argumentativ verwertet, um ein vom Zugangsinteresse qualitativ abgestuftes Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen zu begründen, das Fortsetzungsansprüche potenziell rechtfertigt. Trotz dieser Unterschiede geht es in beiden Konstellationen im Kern um dieselbe Wertungsfrage: unter welchen Voraussetzungen die Rechtsordnung das Vertrauen in einen zukünftigen Vertragsschluss als schützenswert erachtet. So wie durch die culpa in contrahendo konkret bezif1080
Siehe oben 2. Kap. A. C. Hohendanner, IAB-Kurzbericht 16/2018, S. 5; DHSW/C. Tillmanns, § 14 TzBfG Rn. 48. In der IAB-Stellenbefragung gaben ca. 40 % der Betriebe die Erprobung als ihr wichtigstes Befristungsmotiv an. Auf die funktionelle Austauschbarkeit der Probezeit des § 1 KSchG und der sachgrundlosen Befristung haben auch die CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2005 reagiert. Dort (Punkt B I 2.7.1) war vorgesehen, Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit einzuräumen, die Wartezeit des § 1 I KSchG auf zwei Jahre zu verlängern und dafür die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung zu streichen. 1082 2. Kap. C. III. 2. 1081
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ferbare Vermögensdispositionen ersetzt werden, schützt Bestandsschutz immaterielle Dispositionen, wie die Ausrichtung des örtlichen und sozialen Lebensmittelpunkts und betriebsspezifische Humaninvestitionen. Eine Übertragung der dort entwickelten Maßstäbe ist daher sachgerecht: Vertrauen in die langfristige Beschäftigung auf dem Arbeitsplatz ist schutzwürdig, wenn Arbeitgeber:innen die Bereitschaft zur Vertragsverlängerung oder -entfristung ausdrücklich oder konkludent (beispielsweise durch die Veranlassung zu langfristigen Dispositionen, durch die vorbehaltslose Einplanung in über das Vertragsende hinausgehende Projekte oder die Berücksichtigung bei der betrieblichen Urlaubsplanung) als sicher hingestellt haben. Oft stellen Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung nicht bedingungslos als sicher hin, sondern unter einen Vorbehalt, beispielsweise die Bewährung oder die Bewilligung weiterer staatlicher Fördermittel für den Arbeitsplatz. Fraglich ist, ob auch in diesen Konstellationen ein schützenswertes Vertrauen von Arbeitnehmer:innen in die langfristige Beschäftigung entsteht, dessen rechtswidrige Enttäuschung spezifische Bestandsinteressen beeinträchtigt. Es sprechen gute Gründe dafür: In der Bewertung, ob das Vertrauen eines Privatrechtssubjekts in das Zustandekommen eines zukünftigen Vertrags schutzwürdig ist, vollzieht sich ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Kontrahenten: dem Vertrauen des einen und der Vertragsfreiheit des anderen. Es wird dasjenige Maß an Verbindlichkeit identifiziert, ab dem der Vertrauende das Risiko des Nichtabschlusses des Vertrags nicht mehr allein tragen soll, sondern die das Vertrauen erweckende Partei mitbelastet wird – und zwar entweder durch eine Haftung für Vertrauensschäden nach der culpa in contrahendo oder indem Bestandsinteressen im Rahmen von § 15 VI AGG zugunsten der Arbeitnehmer:innen in die Waagschale fallen. Da es also um die Abgrenzung von Risikosphären geht, muss entscheidend sein, ob sich in der Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses ein Risiko realisiert, das Arbeitnehmer:innen allein tragen müssen, da sie es kannten und in Kauf genommen haben. Hängt die Vertragsfortsetzung beispielsweise von der Bewährung einer Arbeitnehmerin ab, kann und muss sie das Risiko ihrer Nichtbewährung einschätzen und mit den Vorteilen der Dispositionen abwägen, die sie im Vertrauen auf einen langfristigen Bestand ihres Arbeitsverhältnisses treffen würde. Das Risiko ist für sie aber kalkulierbar, solange sie damit rechnen darf, dass ihr Arbeitgeber den Vertragsschluss nicht aus anderen, rechtswidrigen Gründen scheitern lässt. Diese Grundsätze stellt die herrschende Ansicht auch im Kontext der Haftung für den grundlosen Abbruch von Vertragsverhandlungen an: Wurden bestimmte Vertragsgegenstande bereits verhandelt oder haben Arbeitgeber:innen bestimmte Unwägbarkeiten als für ihre Entscheidung unerheblich hingestellt, dürfen Arbeitnehmer:innen darauf vertrauen, dass der Vertrag nicht aus darin wurzelnden Gründen scheitert.1083 Soll die Vertragsfortsetzung nur noch von konkreten Faktoren, z. B. der Bewährung, abhängen, 1083 Vgl. T. Ackermann, Negatives Interesse (2007), S. 515; W. Küpper, Scheitern von Vertragsverhandlungen (1988), S. 243; M. Lutter, Der Letter of Intent (1998), S. 76.
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erklären Arbeitgeber:innen konkludent, dass andere Gründe keine Rolle mehr spielen. Festzuhalten ist, dass die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse auch dann spezifische Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen betrifft, wenn sie das Arbeitsverhältnis im schützenswerten Vertrauen auf die langfristige Beschäftigung auch über den Fristablauf hinaus eingegangen sind. Dass Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung bereits als sicher hin- oder nur unter bestimmte Vorbehalte gestellt haben, ist insbesondere bei der sachgrundlosen Befristung zur Erprobung vorstellbar. (c) Stabilitätsinteressen bei der Wiedereinstellung nach zeitlicher Unterbrechung Diskussionsbedürftig ist schließlich, ob es die Bewertung der Bestandsinteressen beeinflusst, wenn eine unterlassene Vertragsfortsetzung nicht zeitlich unmittelbar nach Fristablauf, sondern mit einer Unterbrechung begonnen hätte. Das paradigmatische Beispiel sind Saisonarbeitsverhältnisse, in denen Arbeitsbedarf mit einer mehrmonatigen Unterbrechung periodisch wiederkehrend anfällt und Arbeitnehmer:innen ggf. über mehrere Saisons hinweg wieder eingestellt werden. Auch diese Arbeitsverhältnisse können (mit Unterbrechung) über Jahre hinweg bestehen und auch in diesen Arbeitsverhältnissen ist die Perspektive einer Wiedereinstellung in der nächsten Saison aufgrund entsprechender erwartungserzeugender Aussagen der Arbeitgeber:innen denkbar.1084 Dennoch sind die einen Bestandsschutz erzeugenden Stabilitätsinteressen regelmäßig nicht betroffen: Ein Arbeitsplatz, der nur monatsweise mit zeitlicher Unterbrechung besteht, ist in der Regel nicht die finanzielle und soziale Grundlage langfristiger Lebens- und Konsumentscheidungen: Das monatliche Einkommen genügt nicht, um eine ganzjährige Existenzgrundlage für Arbeitnehmer:innen zu sein. Zwischen den Saisons müssen Arbeitnehmer:innen daher andere Tätigkeiten ergreifen, dafür ggf. den Wohnort wechseln und sich in andere betriebliche Strukturen einarbeiten. Gleichzeitig ist die soziale Integration in vorübergehend betriebenen Betrieben schwächer und das Maß der arbeitsplatzbezogenen Investitionen geringer. In einem Saisonarbeitsverhältnis können sich die bestandsschutzspezifischen Stabilitätsinteressen also von Vornherein nicht entwickeln; eine diskriminierende Nichteinstellung in der nächsten Saison betrifft damit keine spezifischen Bestandsinteressen. Anders zu beurteilen sind kurze Unterbrechungszeiten zwischen den Arbeitsverhältnissen, die insbesondere aus administrativen Gründen oder ferienbedingt erfolgen. Die wiederholte Vertretungsbefristung von Lehrern mit einer Pause in den Sommerferien ist ein bekanntes Beispiel hierfür.1085 Dauert die Unterbrechung nur 1084
Siehe dazu ausführlich oben 2. Kap. D. Siehe z. B. LAG Köln, Urt. v. 4. 12. 2014 – 13 Sa 448/14, NZA-RR 2015, 238; B. Gillmann/F. Specht, „Ferienarbeitslosigkeit bei Lehrern weiter hoch“, online veröffentlicht am 3. 12. 2021 im Handelsblatt (https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/schulen-feri enarbeitslosigkeit-bei-lehrern-weiter-hoch/26682928.html?ticket=ST-3345275-gglnkmUh VeeOCPRHflKt-ap6). 1085
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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ein paar Tage oder wenige Wochen, entwickeln sich die beschriebenen Stabilitätsinteressen. (d) Ergebnis: Stabilitätsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen Dass spezifische Interessen am Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse über das Fristende hinaus bestehen, obwohl Arbeitnehmer:innen um die Befristung ihrer Arbeitsverhältnisse wissen, ist begründungsbedürftig. Stabilitätsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen entwickeln sich insbesondere dann, wenn sie aufgrund der Gesamtumstände ihrer Arbeitsverhältnisse trotz der Befristung materielle und soziale Dispositionen treffen, aufgrund derer die Aufgabe des Arbeitsplatzes bei Fristablauf belastender ist als der Nichterhalt eines neuen Arbeitsplatzes. Das ist der Fall, wenn Arbeitnehmer:innen bereits seit mehr als zwei Jahren auf ihren Arbeitsplätzen tätig sind oder auf die dauerhafte Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse nach Fristablauf vertrauen dürfen. Der erforderlichen Langfristigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse stehen kurze Unterbrechungen zwischen den einzelnen Arbeitsverträgen nicht entgegen; insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen fehlt aber ein gesteigertes Stabilitätsinteresse. (bb) Flankenschutz von Arbeitnehmerrechten durch Fortbestand der Arbeitsverhältnisse Auf Grundlage der so herausgearbeiteten Bestandsinteressen ist schließlich auch der Aspekt des Flankenschutzes argumentativ zu entfalten. Da Arbeitnehmer:innen ein Interesse am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse haben können, das über ein monetäres Interesse an zukünftigen Gehaltszahlungen hinausgeht, könnte die Gewährleistung eines Fortsetzungsanspruchs – anstelle der Beschränkung auf finanzielle Ersatzansprüche gem. § 15 I, II AGG – geboten sein, um Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis in ihrer Subjektstellung zu stärken und vor den Folgen institutioneller Abhängigkeit zu schützen. Ein befristetes Arbeitsverhältnis kann für Arbeitnehmer:innen deshalb prekär sein, da sie mit einem Verlust ihrer Arbeitsplätze nach Fristablauf rechnen müssen und sich einen neuen Job suchen oder arbeitslos melden müssen. Besteht aber die Hoffnung oder Erwartung, nach Fristablauf weiter beschäftigt zu werden, nimmt die Prekarität andere Erscheinungsformen an: Das Recht der Arbeitgeber:innen, ohne die Angabe von Gründen über die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen zu entscheiden, ist ein Damoklesschwert, das die Subjektstellung von Arbeitnehmer:innen bereits im Laufe ihrer Arbeitsverhältnisse aushöhlen kann. Da der Fortbestand des Arbeitsplatzes die bereits beschriebene materielle und immaterielle Bedeutung für die Lebensführung eines Menschen hat, erzeugt die Entscheidungsfreiheit der Arbeitgeber:innen bei Fristablauf Druck auf Arbeitnehmer:innen, ihre Chancen auf eine Vertragsfortsetzung zu erhöhen, indem überobligatorische Leistungen erbracht
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und eigene Rechte nicht ausgeübt werden.1086 Solche Rechte sind neben individuellen Rechten und Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis selbst (beispielsweise die Inanspruchnahme von Urlaubstagen und die Arbeitsverweigerung im Krankheitsfall) auch die Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte. Darüber hinaus ist das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer:innen gefährdet: Die Befürchtung, dass Arbeitgeber:innen bestimmte Persönlichkeitsattribute – beispielsweise die Konfession oder sexuelle Orientierung – stigmatisieren, kann Arbeitnehmer:innen dazu veranlassen, sie in einem befristeten Arbeitsverhältnis geheim zu halten. Insbesondere für die sexuelle Identität und Orientierung ist diese These empirisch belegt: Die Gesetzesbegründung zum AGG zitiert eine Untersuchung, nach der 79 % der weiblichen und 69 % der männlichen Befragten angegeben haben, es im Berufsleben schon einmal für notwendig befunden zu haben, ihre Homosexualität am Arbeitsplatz zu verschweigen.1087 Zwei im Jahr 2017 veröffentlichte Studien bestätigen diesen Befund: Nach einer Studie des Instituts für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung gaben drei Viertel der befragten Personen an, es schon einmal als notwendig empfunden zu haben, die sexuelle oder geschlechtliche Identität am Arbeitsplatz zu verschweigen;1088 knapp die Hälfte derjenigen Personen, die verschlossen mit ihrer Identität umgehen, befürchteten Benachteiligungen durch ihre Führungskräfte.1089 Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu LSBTIQ*-Lehrkräften ergab, dass zwar über die Hälfte (51,4 %) der verbeamteten und 38,4 % der nicht verbeamteten unbefristeten Lehrkräfte angaben, offen mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität umzugehen, es bei den Befragten in einem befristeten Arbeitsverhältnis aber nur noch jeder Vierte (25,0 %) war. Nach Auffassung der Autor:innen der Studie werden hier die Risiken befristeter Arbeitsverhältnisse für die Arbeitnehmer:innen deutlich: Viele LSBTIQ*-Personen befürchteten negative Konsequenzen eines offenen Umfangs mit ihrer Identität für eine Entfristung oder Verbeamtung.1090 Der tatsächliche oder gefühlte Imperativ, eine wirtschaftlich effiziente Arbeitskraft sein zu müssen, um nach Fristablauf weiterbeschäftigt zu werden, wirkt sich auch repressiv auf die Familienplanung von Arbeitnehmer:innen aus: Die Angst, im Falle einer Schwangerschaft keinen neuen Arbeitsvertrag zu erhalten, kann sie dazu veranlassen, die eigentlich gewünschte Familienplanung aufzuschieben, je nach Dauer des befris1086
Vgl. M. Bossler/P. Grunau, Applied Economic Letters 26 (2019), 1148, 1151, die auf Grundlage der Beschäftigtenstatistik ermittelt haben, dass Arbeitnehmer:innen mehr Stunden arbeiten, wenn sie befristet beschäftigt sind und dieser Effekt noch verstärkt wird, wenn sie untereinander um Vertragsverlängerungen oder Entfristungen konkurrieren. 1087 BT-Drs. 16/1780, S. 24. 1088 D. Frohn/F. Meinhold/C. Schmidt, Out im Office?!, 2017, S. 62. 1089 D. Frohn/F. Meinhold/C. Schmidt, Out im Office?!, 2017, S. 48. 1090 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland, 2017, S. 20. Diese Einschätzung wird durch das Ergebnis bekräftigt, dass 15 % aller befragten Lehrkräfte, die nicht offen mit ihrer sexuellen Orientierung oder Identität umgehen, als ein Motiv dafür angaben, Angst zu haben, aus diesem Grund keine Festanstellung oder Verbeamtung zu erhalten (a. a. O. S. 17).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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teten Arbeitsverhältnisses ggf. über Jahre hinweg.1091 Es belastet die persönliche Selbstbestimmung von Arbeitnehmer:innen empfindlich, wenn sie ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität am Arbeitsplatz aus Angst vor Repressionen verheimlichen oder (vorerst) auf die eigene Familienplanung verzichten.1092 Im befristeten Arbeitsverhältnis sind also neben arbeitsplatzbezogenen Ansprüchen und Rechten auch die Betätigung des Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmer:innen gefährdet. Damit die Arbeitnehmerrechte im befristeten Arbeitsverhältnis nicht leerlaufen, ist die Entscheidung über die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses anhand der Maßregelungs- und Diskriminierungsverbote kontrollierbar. Die Effektivität dieser Verbote hängt aber maßgeblich von ihren Sanktionen ab. Da der Verlust eines Arbeitsplatzes unter Umständen auch einen Verlust des bisherigen Lebenszuschnitts, Wohnorts, sozialer Integration und betriebsspezifischer Spezialisierung nach sich zieht, sind nicht all seine Konsequenzen finanziell abbildbar und über §§ 15 I, II AGG oder §§ 280 I, 241 II BGB ersatzfähig. Würden Arbeitnehmer:innen auf diese Schadenersatzansprüche verwiesen, würden also nicht alle ihre Interessen kompensiert werden; der Druck, eine Diskriminierung oder Maßregelung bei Fristablauf zu vermeiden, bleibt hoch und die Arbeitnehmerrechte bleiben prekär. Auch Fortsetzungsansprüche nach Fristablauf garantieren zwar nicht, dass Diskriminierungen oder Maßregelungen der Arbeitnehmer:innen vollständig beseitigt werden und Arbeitnehmer:innen keine Repressalien mehr zu fürchten brauchen. Anders als im Anwendungsbereich des KSchG, in dem Arbeitgeber:innen die soziale Rechtfertigung einer Kündigung und damit die Abwesenheit einer Maßregelung oder Diskriminierung darlegen und beweisen müssen, obliegen Darlegung und Beweis einer Maßregelung oder Diskriminierung bei Fristablauf den Arbeitnehmer:innen.1093 Verschiedene Beweiserleichterungen helfen diesen Problemen allerdings teilweise ab.1094 Außerdem verbessert die Anerkennung von Fortsetzungsansprüchen jedenfalls ihre materielle Rechtsstellung, womit dem Flankenschutz der Arbeitnehmerrechte mehr geholfen ist als mit finanziellen Ansprüchen gem. § 15 I, II AGG, zumal Ansprüche auf Schadensersatz gem. § 15 I AGG dieselbe haftungsausfüllende Kausalität voraussetzen und damit denselben Beweislastschwierigkeiten wie Fortsetzungsansprüche ausgesetzt sind.1095
1091 Einen Zusammenhang zwischen befristeter Beschäftigung und der Familienplanung belegen W. Auer/N. Danzer/A. Fichtl, ifo Schnelldienst 18/2015, S. 35 ff.; vgl. auch die Interviews in z. B. „Immer wieder die Luft anhalten“, online veröffentlicht am 11. 6. 2010 in der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/karriere/befristete-arbeitsvertraege-einegeneration-auf-abruf-1.954926-2). 1092 Nach D. Frohn/F. Meinhold/C. Schmidt, Out im Office?!, 2017, S. 58 f. führt der verschlossene Umgang mit der sexuellen oder geschlechtlichen Identität sogar zu vermehrten psychosomatischen Beschwerden. 1093 Siehe ausführlich unten 7. Kap. D., E. 1094 Siehe unten 7. Kap. 1095 Siehe oben 6. Kap. B. IV. 1. b).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
(cc) Kein abschließender Schutz der Bestandsinteressen durch das TzBfG Mit §§ 14 f. TzBfG hat der Gesetzgeber seinen verfassungsrechtlichen Auftrag wahrgenommen, die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen zu schützen. Er hat die Kollision mit den ebenfalls verfassungsrechtlich validierten unternehmerischen Interessen von Arbeitgeber:innen an einer freien Vertragsbeendigung dergestalt aufgelöst, dass die Befristungsabrede nur unter bestimmten in § 14 TzBfG normierten Voraussetzungen rechtmäßig ist; unter diesen Voraussetzungen endet das Arbeitsverhältnis ohne weitere Beendigungskontrolle im Zeitpunkt des Fristablaufs.1096 Die Konsequenz dieser gesetzgeberischen Konzeption ist auf den ersten Blick, dass die Rechtsordnung die Interessen am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über die wirksam vereinbarte Frist hinaus nicht schützt. Eine Berücksichtigung der Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen bei der Auslegung von § 15 VI AGG müsste genauso ausscheiden wie Fortsetzungsansprüche bei Wegfall prognosebasierter Befristungsgründe.1097 Gegen die Annahme solcher allgemeinen Fortsetzungsansprüche spricht, dass sie an exakt dem Interessenkonflikt ansetzen, den der Gesetzgeber mit § 14 TzBfG abschließend geregelt hat: Die Abwägung zwischen den Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen und dem Arbeitgeberinteresse an einem flexiblen Personaleinsatz ohne Kündigungslast wird zeitlich vorgelagert bei Abschluss des Arbeitsvertrags vollzogen. Bei Fristablauf muss nach der gesetzgeberischen Konzeption kein Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mehr vorliegen. Fortsetzungsansprüche können also insoweit nicht mit Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen begründet werden, wie diese bereits abschließend mit den Beendigungsinteressen der Arbeitgeber:innen abgewogen worden sind. „Je präziser der Gesetzgeber den allgemein bestehenden verfassungsrechtlichen Grundkonflikt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen geregelt hat, desto weniger darf die Rechtsprechung mittelbar oder unmittelbar Grundrechtspositionen zur Korrektur gesetzlicher Wertungen heranziehen.“1098 Die hier entscheidende Frage ist damit, ob das TzBfG die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen für den Fall, dass ihre befristeten Arbeitsverträge ausschließlich aus diskriminierenden Gründen nicht fortgesetzt werden, abschließend berücksichtigt hat, sodass durch die diskriminierende Nichtfortsetzung keine rechtlich schützenswerten Bestandsinteressen, sondern ausschließlich Zugangsinteressen betroffen sind. (a) Reichweite des Interessenausgleichs im TzBfG Eine Ausnahme vom sozialpolitisch vorzugswürdigen unbefristeten Normalarbeitsverhältnis ist unter den Voraussetzungen des § 14 TzBfG zulässig. In der Vor1096 1097 1098
Siehe dazu ausführlich oben 1. Kap. D. I. 2. Siehe ausführlich oben 1. Kap. D. II. 1. U. Preis, NZA 1997, 1256, 1258.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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schrift sind Fallgruppen normiert, in denen Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen überwiegen. Vereinfacht zusammengefasst ist ein solches Überwiegen entweder dann anzunehmen, wenn im Einzelfall das Bestandsinteresse nur eingeschränkt schutzwürdig ist (§ 14 I 2 Nr. 6, 8 TzBfG) oder wenn das Befristungsinteresse der Arbeitgeber:innen aufgrund eines schützenswerten vorübergehenden Interesses an der Arbeitsleistung (§ 14 I 2 Nr. 1, 3, 7 TzBfG) oder an der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin (§ 14 I 2 Nr. 2, 4, 6 TzBfG) überwiegt.1099 Die Zulässigkeit von sachgrundlosen Befristungen basiert auf der abstrakten arbeitsmarktpolitischen Bewertung, dass bei einer Neueinstellung und in den zeitlichen Grenzen des § 14 II 2 TzBfG das Interesse von Arbeitgeber:innen, durch befristete Einstellungen flexibel auf wechselnde Marktbedingungen zu reagieren, verstärkt durch die damit verbundenen beschäftigungsfördernden Wirkungen (Stichwort: „Brücke in die Dauerbeschäftigung“) das Bestandsinteresse überwiegt.1100 In all diesen Fällen wird Arbeitgeber:innen ermöglicht, Arbeitnehmer:innen einzustellen, ohne die schwer prognostizierbare und kostenintensive Kündigungslast zu tragen. Der Personaleinsatz wird für Arbeitgeber:innen administrativ und finanziell plan- und kalkulierbar: Sie müssen bloß bei Vertragsschluss einschätzen, ob eine Befristungsabrede den Voraussetzungen des § 14 TzBfG standhält. Unter diesen Voraussetzungen ist bei Fristablauf kein objektiver Beendigungsgrund mehr erforderlich. Das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer:innen wird insofern eingehegt, als sie nicht damit rechnen dürfen, über das Fristende hinaus beschäftigt zu werden. Selbst wenn der Beschäftigungsbedarf nach Fristablauf fortbesteht und eine Kündigung nach § 1 KSchG sozialwidrig wäre, liegt der Vertragsbeendigung die Interessenlage zugrunde, die nach der Konzeption des TzBfG bereits abschließend durch die Kontrolle der Fristabrede berücksichtigt wurde. Damit, dass die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses vom Vorliegen eines sachlichen Grunds bei Fristende unabhängig ist, hat der Gesetzgeber aber nicht jeden Interessenkonflikt abschließend geregelt. Insbesondere ist damit nicht gesagt, was geschieht, wenn die Vertragsfortsetzung ausschließlich aus verbotenen Gründen unterbleibt. Dass Arbeitgeber:innen ohne die Bindung an sachliche Gründe über eine Vertragsfortsetzung entscheiden können, ist der Tatsache geschuldet, dass ihre Interessen im Zeitpunkt der Einstellung eine Befristung gerechtfertigt haben. Hätten sie das Arbeitsverhältnis aber ohne Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal i. S. v. § 1 AGG fortgesetzt, realisiert sich in der Vertragsbeendigung bei Fristablauf nicht das von §§ 14 f. TzBfG geschützte Flexibilisierungsinteresse, sondern in erster Linie eine Diskriminierung. Dieser Interessenkonflikt ist vom TzBfG nicht abschließend normiert worden. Die Konzeption des TzBfG, die Beendigungsinteressen der Arbeitgeber:innen im Zeitpunkt der Fristabrede zu berücksichtigen, führt zu einer
1099 1100
Siehe dazu ausführlich oben 1. Kap. D. I. 2. a) aa), bb). Oben 1. Kap. D. I. 2. b).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
offenen Flanke im Bestandsschutzkonzept, deren Bewältigung nicht durch das Gesetz vorgezeichnet ist. (b) Vergleich mit diskriminierenden Kündigungen außerhalb des KSchG Aufschlussreich ist auch ein Blick in das benachbarte Kündigungsschutzrecht: Zwar ist man sich einig, dass der Gesetzgeber die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen und die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen mit dem KSchG in verfassungskonformer Weise ausgeglichen hat, sodass Arbeitnehmer:innen innerhalb der Wartezeit des § 1 I KSchG und im Kleinbetrieb nach § 23 I 2, 3 KSchG ihre Arbeitsverhältnisse auch dann verlieren können, wenn kein sachlicher Grund nach § 1 KSchG vorliegt. Begründet wird die Differenzierung damit, dass die Beendigungsinteressen der Arbeitgeber:innen hier höher zu bewerten sind: Mit der Festlegung eines Schwellenwertes wird den gesteigerten persönlichen, administrativen und finanziellen Interessen von Kleinbetriebsinhaber:innen an flexibler Personalplanung Rechnung getragen.1101 Die Wartefrist ermöglicht Arbeitgeber:innen, Arbeitnehmer:innen zu erproben, bevor sie sich nur unter den gesteigerten Voraussetzungen des § 1 KSchG von ihnen trennen können.1102 Auch Arbeitnehmer:innen, die danach nicht den Bestandsschutz nach dem KSchG genießen, werden allerdings davor geschützt, dass sie ihre Arbeitsplätze aus rechtlich missbilligten Gründen verlieren. Das hat das BVerfG im Jahr 1998 für den Kündigungsschutz im Kleinbetrieb und 2006 für Kündigungen in der Probezeit entschieden: „In sachlicher Hinsicht geht es vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen. Zutreffend werden in der Literatur als Beispiele dafür Diskriminierungen i. S. von Art. 3 III GG genannt. Soweit unter mehreren Arbeitnehmern eine Auswahl zu treffen ist, gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme. Schließlich darf auch ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.“1103
Der erste Aspekt wird seit Inkrafttreten des AGG dadurch realisiert, dass diskriminierende Kündigungen innerhalb wie außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG unwirksam sind und nicht nur Schadenersatz- und Entschädigungsansprüche in Geld auslösen.1104 Auch wenn Arbeitnehmer:innen nicht damit rechnen dürfen, ihre Arbeitsplätze nur bei Vorliegen eines sachlichen Grunds zu verlieren, weil sie sich im Kleinbetrieb oder in der Probezeit befinden, sind ihre Bestandsinteressen bei der Prüfung einer Kündigung also zu berücksichtigen. Das wird einerseits daran deutlich, dass erdientes Vertrauen und eine soziale Schutzwürdigkeit zu berücksichtigen sind und andererseits daran, dass eine diskriminierende Kündigung un1101
BT-Drs. 13/4612, S. 9. Zu § 1 I KSchG 1951: BT-Drs. Nr. 2090 v. 27. 03. 1951, S. 11 f.; zum aktuellen KSchG z. B. BAG, Urt. v. 24. 1. 2008 – 6 AZR 96/07, NZA-RR 2008, 404, 406 (Rn. 28). 1103 BVerfG, Beschl. v. 27. 1. 1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470, 472; ähnlich BVerfG, Beschl. v. 21. 6. 2006 – 1 BvR 1659/04, NZA 2006, 913, 913. 1104 Siehe ausführlich oben 6. Kap. C. II. 4. 1102
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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wirksam ist und nicht bloß finanzielle Sekundäransprüche (z. B. nach § 15 I, II AGG) auslöst. Diese Interessenlage ist mit derjenigen im befristeten Arbeitsverhältnis vergleichbar: Auch hier dürfen Arbeitnehmer:innen nicht damit rechnen, ihre Arbeitsplätze nur zu verlieren, wenn betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Gründe eine Beendigung tatsächlich erfordern, da eine Vertragsbeendigung bei Fristablauf unterhalb dieser Schwelle aufgrund schutzwürdiger Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen gerechtfertigt ist. Auch in diesen Fällen ist aber Raum für ein Mindestmaß an Bestandsschutz nach Art. 12 GG, soweit die Bestandsinteressen nicht abschließend gegen die Beendigungsinteressen der Arbeitgeber:innen abgewogen worden sind, was insbesondere der Fall ist, wenn ein Arbeitsverhältnis ausschließlich aus diskriminierenden Gründen beendet wird. Besonders deutlich wird diese Wertungsparallelität des Mindestbestandsschutzes bei der Neueinstellung von Arbeitnehmer:innen: Bei einer unbefristeten Einstellung erlaubt § 1 I KSchG Kündigungen innerhalb einer Probezeit von sechs Monaten ohne soziale Rechtfertigung: Passt eine Arbeitnehmerin beispielsweise zwischenmenschlich nicht ins Team oder ist sie zu oft krank, ist eine Kündigung erlaubt. Erfährt ein Arbeitgeber in der Probezeit aber, dass die Arbeitnehmerin schwanger oder homosexuell ist und kündigt ihr aus diesem Grund, ist die Kündigung unwirksam und das Arbeitsverhältnis besteht fort.1105 Die Rechtsordnung schützt nicht bloß die finanziellen Interessen an dem Arbeitsplatz, sondern dessen Bestand. In der Arbeitsrealität hat sich mittlerweile indes die Praxis etabliert, die Möglichkeit sachgrundloser Befristungen als verlängerte Probezeit zu nutzen, also Bewerber:innen pauschal sachgrundlos zu befristen und eine Entfristung für den Fall der Bewährung in Aussicht zu stellen.1106 Erfahren Arbeitgeber:innen in diesem Zeitraum von einer Schwangerschaft oder sexuellen Orientierung und unterlassen sie aus diesem Grund die Entfristung, sind die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen grundsätzlich genauso beachtlich wie in der Probezeit nach § 1 I KSchG: Einen abschließenden Interessenausgleich hat der Gesetzgeber in beiden Fällen nur zwischen Bestands- und Flexibilisierungsinteressen getroffen und nicht zwischen Bestands- und Diskriminierungsinteressen. (c) Ergebnis: Kein abschließender Schutz der Bestandsinteressen durch das TzBfG Der Gesetzgeber hat mit §§ 14 f. TzBfG die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen also nicht abschließend berücksichtigt. Bestandsinteressen sind auch schutzwürdig, wenn sie für die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen über das Fristende hinaus streiten, sofern damit nicht der von §§ 14 ff. TzBfG abschließend geregelte Interessenkonflikt mit den Flexibilisierungsinteressen der Arbeitge-
1105 So schon vor Inkrafttreten des AGG gestützt auf § 242 BGB: BAG, Urt. v. 23. 6. 1994 – 2 AZR 617/93, NZA 1994, 1080 ff. 1106 Siehe oben Fn. 1081.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
ber:innen ausgehebelt wird, sondern sich in der Vertragsbeendigung ausschließlich eine Diskriminierung realisiert. (dd) Ergebnis: Betroffenheit von Bestandsinteressen unter besonderen Voraussetzungen Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse beeinträchtigt nicht nur Zugangs-, sondern auch Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen, wenn ihre Arbeitsverhältnisse bereits seit mehreren Jahren oder mit der Perspektive einer langfristigen Beschäftigung bestanden haben. In diesen Fällen geht das Interesse am Fortbestand des konkreten Arbeitsplatzes typischerweise über das Interesse, überhaupt einen Arbeitsplatz als Einkommensquelle zu haben, hinaus; Arbeitnehmer:innen entwickeln beruflich sowie außerberuflich Stabilitätsinteressen. Aus diesem Grund flankiert der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses auch die Arbeitnehmerrechte im Arbeitsverhältnis effektiver als finanzielle Schadensersatzansprüche. Das Bestandsinteresse hat der Gesetzgeber in §§ 14 f. TzBfG gegen das Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber:innen abgewogen; die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen sind durch das Gesetz insofern abschließend berücksichtigt, als Arbeitgeber:innen bei Ablauf des Verhältnisses nicht an sachliche Gründe gebunden sind. Das Gesetz hat allerdings nicht die Situation geregelt, dass die Vertragsbeendigung bei Fristablauf ausschließlich auf einer Diskriminierung beruht. Dass Bestandsinteressen der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach Fristablauf sprechen, bestätigt ein Vergleich mit dem Kündigungsschutz außerhalb des KSchG. dd) Ergebnis: Gesetzgeberische Abwägung in § 15 VI AGG ist für Fortsetzungsansprüche nur teilweise verbindlich Sofern die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen beeinträchtigt, unterscheiden sich Fortsetzungsansprüche von gem. § 15 VI AGG ausgeschlossenen Einstellungs- und Beförderungsansprüchen, die nur Zugangsinteressen betreffen. Bestandsinteressen sind – gemessen am verfassungs- und einfachrechtlichen Schutzniveau – qualitativ gewichtiger als Zugangsinteressen, können stärkere Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen rechtfertigen und insbesondere einen Schutz des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses anstelle einer finanziellen Kompensation erfordern. Das unterschiedliche Schutzniveau von Bestands- und Zugangsinteressen verschiebt die Interessenabwägung für den Fall der Vertragsfortsetzung zugunsten der Arbeitnehmer:innen. Es ist damit noch nicht beantwortet, ob ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung ein „zulässiger Eingriff in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers“ im Sinne der ratio legis und damit teleologisch aus dem Anwendungsbereich von § 15 VI AGG herauszunehmen ist. Umgekehrt bedeutet aber ein Gleichlauf aller betroffenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen mit den Fällen der Einstellungs- und Beförderungsansprüche,
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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dass Fortsetzungsansprüche zwingend ausscheiden, wenn befristete Arbeitsverhältnisse nicht länger als zwei Jahren bestanden haben und ohne schutzwürdige Erwartung einer Fortsetzung nach Fristablauf geschlossen wurden. Für diese Fälle steht fest, dass der Gesetzgeber auch Fortsetzungsansprüche als unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen bewertet hätte, hätte er sie vor Augen gehabt. Eine Auslegung von § 15 VI AGG darf diese gesetzgeberische Wertung nicht überwerfen. Für die oben genannten Fälle, in denen gute Gründe für eine abweichende Interessenabwägung sprechen,1107 ist das Ergebnis des ersten Teils der teleologischen Auslegung indes uneindeutig. Sofern auch die anderen Auslegungskriterien [b) und c)] keine eindeutigen Rückschlüsse auf den gesetzgeberischen Regelungswillen zulassen, Fortsetzungsansprüche auszuschließen oder nicht, ist Raum für eine verfassungsorientierte Auslegung [6.]. b) Zweite ratio legis: Praktische Schwierigkeiten der Ansprüche und fehlende Sanktionswirkung bei Arbeitgeber:innen? Die zweite ratio legis hinter § 15 VI AGG ist, dass Einstellungsansprüche praktisch nicht handhabbar wären und die von den Gleichbehandlungsrichtlinien vorgeschriebene Sanktionswirkung verfehlen würden. Die Durchsetzung der Ansprüche würde „im Hinblick auf die Rechte des anstelle des diskriminierten Bewerbers eingestellten Arbeitnehmers kaum lösbare Probleme aufwerfen (z. B. Recht auf Versetzung oder Kündigung)“1108 oder „hätte zur Folge, daß dem – in gutem Glauben – eingestellten Bewerber gekündigt werden muß, um den Arbeitsplatz für den diskriminierten Stellenbewerber freizumachen. Die vom EuGH geforderte Sanktionswirkung würde folglich nicht den Arbeitgeber, sondern den zunächst eingestellten Stellenbewerber treffen.“1109 Den Gesetzgebungsmaterialien ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die klassische Einstellungssituation vor Augen hatte, dass Arbeitgeber:innen eine Stelle ausschreiben, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt besetzen möchten. Es findet dann ein Auswahlprozess zwischen mehreren Bewerber:innen statt, in dem sich Arbeitgeber:innen – ggf. aus diskriminierenden Gründen – zwischen den Bewerber:innen entscheiden. Die Fortsetzungsansprüchen zugrundeliegende Konfliktlage unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht davon: Erstens korrespondiert nicht mit jeder Nichtfortsetzung unmittelbar die Einstellung einer anderen Person auf dem betreffenden Arbeitsplatz. Die Benachteiligung bei der Vertragsfortsetzung kann nicht nur in einer Auswahl1107
6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (aa). Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 22. 1109 Gegenäußerung der Bundesregierung, Anlage 3 zum Regierungsentwurf, BT-Drs- 13/ 10242, S. 1. M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 728 sieht darin den primären Schutzzweck des § 15 VI AGG. 1108
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
situation mit anderen – externen oder internen – Stellenbewerber:innen festgestellt werden, sondern auch außerhalb einer Konkurrenzsituation, wenn beispielsweise genug Kapazitäten für die Fortsetzung aller vergleichbaren Arbeitsverhältnisse vorhanden sind, aber nicht alle Arbeitsverhältnisse fortgesetzt werden. Eine Benachteiligung kann schließlich auch ganz ohne kollektiven Bezug stattfinden, also ohne, dass das Arbeitsverhältnis einer anderen Person tatsächlich fortgesetzt wurde. Selbst wenn die Nichtfortsetzung von Arbeitnehmer:innen nicht unmittelbar mit der Einstellung anderer Bewerber:innen oder der Weiterbeschäftigung anderer Arbeitnehmer:innen korreliert, werden Arbeitsplätze aber in der Regel früher oder später neu besetzt. Zur Erinnerung: Die Annahme von Fortsetzungsansprüchen infolge Diskriminierung setzen gem. § 15 I AGG sowie analog § 1004 I BGB tatbestandlich voraus, dass das Arbeitsverhältnis ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wäre, also Arbeitgeber:innen insbesondere weiterhin die Arbeitsleistung benötigen. Diesen Bedarf werden sie früher oder später durch die Einstellung anderer Arbeitnehmer:innen decken. Je nach Dauer des gerichtlichen Verfahrens sind daher auch bei der Durchsetzung von Fortsetzungsansprüchen potenziell die Rechte neuer Arbeitsplatzinhaber:innen zu berücksichtigen. Die vom Gesetzgeber skizzierten Probleme stellen sich in diesen Fällen aber nicht so akut wie bei Einstellungsansprüchen: Sind die neu eingestellten Arbeitnehmer:innen befristet beschäftigt, ohne dass sich Arbeitgeber:innen die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung vorbehalten haben (vgl. § 15 III TzBfG), können sie ohnehin nicht gekündigt werden, sodass die Sanktionswirkung doch die Arbeitgeber:innen trifft. Sind Arbeitnehmer:innen unbefristet eingestellt worden oder haben sich die Arbeitgeber:innen die Kündigungsmöglichkeit vertraglich vorbehalten, können Arbeitgeber:innen sie ohne Angabe von Gründen kündigen (vgl. § 1 I KSchG), sollte das Fortsetzungsbegehren innerhalb von sechs Monaten gerichtlich festgestellt werden. Die neuen Arbeitnehmer:innen sind in diesen Fällen aber nicht schutzlos gestellt: Da diskriminierende Arbeitgeber:innen um die Existenz eines Fortsetzungsanspruchs wissen müssen, verletzen sie vorvertragliche Pflichten gegenüber den neuen Arbeitnehmer:innen, wenn sie sie nicht auf die Möglichkeit ihrer Freikündigung hinweisen. Unterlassen sie einen solchen Hinweis, sind sie gem. §§ 311 II, 241 II, 280 I BGB zur Zahlung des Vertrauensschadens verpflichtet. „Kaum lösbare Probleme“ treten damit nicht auf; die dogmatische Lösung des Konflikts ist im BGB und KSchG vorgezeichnet. Außerdem werden Arbeitgeber:innen auch in diesem Fall durch die Schadensersatzpflicht gegenüber den neuen Arbeitnehmer:innen sanktioniert. Die eigentliche Frage ist, ob es sachgerecht ist, die neuen Arbeitnehmer:innen auf Schadensersatzansprüche zu verweisen und stattdessen den diskriminierten ehemaligen Arbeitnehmer:innen Bestandsschutz angedeihen zu lassen. Bei der Beantwortung dieser Frage manifestiert sich der zweite Unterschied zur Situation des Einstellungsanspruchs: Dort konkurrieren Bewerber:innen um einen Arbeitsplatz, den sie beide noch nicht innehaben. Die Einstellungsentscheidung betrifft ausschließlich ihre jeweiligen Zugangsinteressen, die qualitativ gleichwertig
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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sind. Sobald einer oder eine der Bewerber:innen eingestellt worden ist, genießt er oder sie das verfassungsrechtlich vorgegebene Mindestmaß an Bestandsschutz; eine Freikündigung des Arbeitsplatzes würde also in seine oder ihre Bestandsinteressen eingreifen, um dem Konkurrenten den Zugang zum Arbeitsplatz zu ermöglichen. Diese Situation wäre unbillig, da beide Bewerber:innen ursprünglich gleichermaßen schutzwürdig waren. In der Fortsetzungssituation sind zwar dieselben Bestandsinteressen der neuen Arbeitnehmer:innen betroffen, ihnen stehen jedoch noch gewichtigere Bestandsinteressen der diskriminierte Arbeitnehmer:innen entgegen: Erstens gehörten sie in der Regel länger dem Betrieb an als die neu eingestellten Arbeitnehmer:innen. Die Wertung, dass die Schutzwürdigkeit der Arbeitnehmer:innen mit der Betriebszugehörigkeit zunimmt, ist gesetzlich beispielsweise in § 1 I KSchG, § 622 BGB und § 14 II TzBfG kodifiziert. Zweitens drücken § 99 II Nr. 3 BetrVG und § 18 TzBfG deutlich aus, dass bei der Besetzung von unbefristeten Stellen bereits befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen bevorzugt behandelt werden sollen. Und drittens spricht der Aspekt des Flankenschutzes für eine besondere Schutzwürdigkeit der Bestandsinteressen derjenigen Arbeitnehmer:innen, die aus diskriminierenden Gründen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Es sprechen damit gute Gründe dafür, die Fortsetzungsinteressen der diskriminierten Arbeitnehmer:innen höher zu bewerten als die Interessen derjenigen Arbeitnehmer:innen, die innerhalb der Probezeit freigekündigt und auf den Ersatz ihres Vertrauensschadens verwiesen werden. Gleichrangig schutzwürdige Bestandsinteressen sind nur dann betroffen, wenn Arbeitgeber:innen zwischen mehreren befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen ausgewählt haben. Auch diese Konflikte sind aber mit den Mitteln des Arbeitsrechts zu bewältigen: Wurde der Arbeitsplatz weiterhin befristet besetzt und sind ausgewählte Arbeitnehmer:innen nicht kündbar, haben die Arbeitgeber:innen für die Dauer der Befristung beide Arbeitnehmer:innen zu beschäftigen; die Sanktion trifft die Arbeitgeber:innen und nicht die Arbeitnehmer:innen. Haben sie sich die ordentliche Kündigung vorbehalten oder das Arbeitsverhältnis entfristet, können sie den Arbeitsplatz unter Umständen freikündigen. Der oder die ausgewählte Arbeitnehmer:in hat aber zumeist bereits die Wartezeit des § 1 I KSchG absolviert – seine oder ihre befristete Beschäftigung wird darauf angerechnet. Eine ordentliche Kündigung ist daher nur möglich, wenn die Beschäftigung beider Arbeitnehmer:innen dringenden betrieblichen Erfordernissen widerspricht (vgl. § 1 II 1 KSchG). Unter den beiden Arbeitnehmer:innen ist dann eine Sozialauswahl vorzunehmen (§ 1 III KSchG), womit die konkurrierenden Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen austariert werden. Fortsetzungsansprüche greifen daher nicht in vergleichbarer Weise in die schutzwürdige Rechtsstellung der neuen Arbeitsplatzinhaber:innen ein wie Einstellungsansprüche. Die betroffenen Bestands- und Zugangsinteressen der involvierten Parteien sind mit Hilfe allgemeiner arbeits- und zivilrechtlicher Mechanismen sachgerecht zu bewältigen. Außerdem sind Arbeitgeber:innen in jedem Szenario entweder zur Weiterbeschäftigung beider Arbeitnehmer:innen oder zum Ersatz
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
eines Vertrauensschadens verpflichtet, sodass auch die von den Gleichbehandlungsrichtlinien geforderte Sanktionswirkung nicht fehlschlägt. c) Dritte ratio legis: Fehlende Perspektive eines erzwungenen Arbeitsverhältnisses? Der Gesetzgeber hat den Ausschluss eines Einstellungsanspruchs in § 611a BGB a. F. schließlich mit folgender Erwägung begründet: „Auch dürfte ein über eine erzwungene Einstellung zustande gekommenes Arbeitsverhältnis kaum langfristig Bestand haben.“1110 Es ist nicht eindeutig, welches Szenario der Gesetzgeber dabei im Blick hatte: entweder den Umstand, dass Arbeitgeber:innen die zwangsweise eingestellten Arbeitnehmer:innen ohne Angabe von Gründen direkt kündigen (vgl. § 1 I KSchG) oder, dass die Arbeitsverhältnisse mittelfristig nicht funktionieren, da das notwendige wechselseitige Vertrauen in einer auf einem Dissens fußenden Vertragsbeziehung nicht entstehen kann. Unabhängig davon, dass eine Kündigung in der Probezeit nach einem Einstellungsanspruch höchstwahrscheinlich aus diskriminierenden Gründen erfolgen und damit unwirksam sein würde, wird ein Großteil der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen bereits die Wartezeit des § 1 I KSchG absolviert haben, sodass eine Kündigung – wenn sie nicht ohnehin wegen § 15 III TzBfG ausgeschlossen ist – sozial gerechtfertigt sein muss. Für die Annahme, dass betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Kündigungsgründe in einem erzwungenermaßen fortgesetzten Arbeitsverhältnis mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit auftreten, besteht kein Anlass: Nur Arbeitnehmer:innen, die trotz der Diskriminierungserfahrung ein Interesse daran haben, weiter auf dem Arbeitsplatz tätig zu sein, werden die Fortsetzung begehren, anstatt Schadensersatz in Geld zu verlangen. Diese Bereitschaft kann beispielsweise damit zusammenhängen, dass Arbeitnehmer:innen (insbesondere bei zweckrationalen Diskriminierungen) subjektiv keine massive Herabwürdigung empfunden haben oder, dass die Diskriminierung von einer Person ausgegangen ist, mit der die Arbeitnehmer:innen im Arbeitsalltag keinen Kontakt haben. Vertragsstörungen, aufgrund derer erzwungene Arbeitsverhältnisse nicht funktionieren, sind in den Fällen, in denen Arbeitnehmer:innen sich für die Vertragsfortsetzung entschieden haben, also nicht wahrscheinlicher als in anderen Arbeitsverhältnissen. Die Einschätzung, dass nicht jede rechtswidrige Beendigung einer Vertragsbeziehung eine weitere Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsvertragsparteien unmöglich macht, wird durch § 9 I KSchG bestätigt: Die Norm durchbricht die Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes als Bestandsschutzgesetz1111 unter bestimmten Voraussetzungen zugunsten einer finanziellen Abfindung: Die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses ist danach auf Antrag von Arbeitnehmer:in oder 1110
Regierungsentwurf, BT-Drs. 12/5468, S. 22. St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 23. 10. 2008 – 2 AZR 483/07, NJW 2009, 1897, 1901 (Rn. 71). 1111
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Arbeitgeber:in hin zulässig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Arbeitnehmer:innen die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses nur dann überhaupt verlangen werden, wenn sie für sie nicht unzumutbar i. S. v. § 9 I 1 KSchG ist.1112 Für den Fall der Unzumutbarkeit steht es Arbeitnehmer:innen frei, analog § 249 II 1 BGB Schadensersatz in Geld zu verlangen;1113 der Ausschluss einer Naturalrestitution nach § 15 VI AGG ist daher jedenfalls nicht zu ihrem Schutz notwendig, sondern schmälert ihre Wahlmöglichkeiten. Unter dem Aspekt der Unzumutbarkeit ist also allenfalls der Anspruchsgegner zu schützen: Dass sich Arbeitgeber:innen aber auf einen Vertrauensfortfall infolge der eigenen Diskriminierung berufen können, ist nicht nur auf den ersten Blick unbillig, sondern widerspricht auch der in § 9 I 2 KSchG kodifizierten gesetzgeberischen Wertung und ihrer gerichtlichen Handhabung: Ein Auflösungsantrag von Arbeitgeber:innen ist nur statthaft, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht erwarten lassen. Dafür müssen Arbeitgeber:innen konkrete Anhaltspunkte vortragen, die im Verhalten oder der Person des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin im Arbeitsverhältnis oder während des Prozesses begründet sind und die „das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, die Wertung seiner Persönlichkeit, seiner Leistung oder seiner Eignung für die ihm gestellten Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen.“1114 Typische Anhaltspunkte sind „Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen.“1115 Die ausschließlich auf ein Fehlverhalten von Arbeitgeber:innen gestützte Befürchtung, das Arbeitsverhältnis werde in Zukunft gestört sein, genügt gerade nicht. Selbst wenn Arbeitgeber:innen nach den skizzierten Maßstäben signifikante Spannungen zwischen den Parteien beweisen können, ist es ihnen anzulasten, wenn sie durch die Kündigung und die sie begleitende Umstände maßgeblich zu diesen Spannungen beigetragen haben. Es kann ihnen dann verwehrt sein, sich auf den selbst herbeigeführten Auflösungsgrund zu berufen.1116 Diese Wertung manifestiert sich auch in § 13 II KSchG: „Verstößt eine Kündigung gegen die guten Sitten, so finden die Vorschriften des § 9 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 […] entsprechende Anwendung.“ Ausdrücklich nicht anwendbar ist damit § 9 I 2 KSchG. Arbeitgeber:innen dürfen nach Ausspruch einer sittenwidrigen Kündigung keinen Auflösungsantrag stellen; ein solcher Antrag würde das bereits durch die sittenwidrige Kündigung verübte Unrecht geradezu perpetuieren. Wenn nicht Arbeitnehmer:innen aufgrund einer Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung einen Auflösungsantrag gem. §§ 13 II, 9 I 1 KSchG stellen,
1112
6. Kap. C. II. 5. a) bb) (2) (c) (aa). Siehe oben 6. Kap. B. IV. 1. b) bb) (2) (a) (bb). 1114 BAG, Urt. v. 23. 10. 2008 – 2 AZR 483/07, NJW 2009, 1897, 1901 f. (Rn. 71); ähnlich BAG, Urt. v. 2. 6. 2005 – 2 AZR 234/04, AP KSchG 1969 § 9 Nr. 51; zustimmend NK ArbR/ M. Eylert, § 9 KSchG Rn. 48; MüKo BGB/C. W. Hergenröder, § 9 KSchG Rn. 48. 1115 St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 2. 6. 2005 – 2 AZR 234/04, AP KSchG 1969 § 9 Nr. 51. 1116 BAG, Urt. v. 23. 2. 2010 – 2 AZR 554/08, NZA 2010, 1123, 1127 (Rn. 44). 1113
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schützt und realisiert das KSchG den Fortbestand sogar des sittenwidrig gekündigten Arbeitsverhältnisses. Quintessenz dieser Betrachtungen ist, dass die Rechtsordnung nicht davon ausgeht, dass ein rechtswidrig, ggf. gar aus sittenwidrigen Gründen gekündigtes Arbeitsverhältnis in der Zukunft nicht mehr funktionieren werde und daher gem. § 9 KSchG aufzulösen sei. Für den Fall, dass bereits ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, bestätigt die Rechtsordnung den befürchteten Befund also nicht. Diese Wertung ist auf die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse zu übertragen: Sofern Arbeitsverhältnisse nicht für die Arbeitnehmer:innen unzumutbar sind (vgl. § 9 I 1 KSchG) oder andere konkrete Anhaltspunkte für eine Störung der Arbeitsverhältnisse in der Zukunft sprechen (vgl. § 9 I 2 KSchG), können die Arbeitsverhältnisse fortgesetzt werden. Da Arbeitnehmer:innen bei einer Unzumutbarkeit der Fortsetzung schon keinen darauf gerichteten Anspruch stellen werden, steht die Befürchtung, dass erzwungene Arbeitsverhältnisse nicht langfristig Bestand haben werden, jedenfalls einer Vertragsfortsetzung nicht entgegen. d) Ergebnis: Gespaltenes Ergebnis der teleologischen Auslegung Die teleologische Auswertung hat einen gespaltenen Befund ergeben. Erstens: In dem archetypischen befristeten Arbeitsverhältnis, das von vornherein für einen zeitlich überschaubaren, vorübergehenden Zeitraum geschlossen wird, befinden sich Arbeitnehmer:innen nach einer Diskriminierung in einer ähnlichen Situation wie nicht eingestellte Bewerber:innen: So wie Bewerber:innen keinen Zugang zu gewünschten neuen Arbeitsplätzen erhalten, erhalten Arbeitnehmer:innen keinen Zugang zu ihren bisherigen Arbeitsplätzen, mit dessen Fortbestand sie aufgrund der Befristungsabrede ohnehin nicht rechnen durften. Der Unrechtsgehalt der Diskriminierung liegt in beiden Fällen in der Verwehrung materialer Gleichheit, einer Integritätsverletzung und der Beeinträchtigung ihrer Arbeitsplatzwahlfreiheit in Form von Zugangsinteressen. Dass gerade diese Interessen nach der gesetzgeberischen Konzeption keinen Kontrahierungszwang zulasten der Arbeitgeber:innen rechtfertigen, sondern darauf gerichtete Ansprüche unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen wären, ist auch für die Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen verbindlich. Dass die anderen beiden Gesetzeszwecke den Ausschluss von Fortsetzungsanspruchs nicht gebieten, fällt daneben nicht ins Gewicht: Dass Fortsetzungsansprüche unzulässige Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen wären, gebietet einen Ausschluss gem. § 15 VI AGG unabhängig davon, ob zusätzlich Rechte von Konkurrent:innen oder Praktikabilitätserwägungen zu berücksichtigen sind. Zweitens: Empirische Daten haben gezeigt, dass befristete Arbeitsverhältnisse oft zur Deckung eines längerfristigen Beschäftigungsbedarfs eingesetzt werden. Haben befristete Arbeitsverhältnisse im Zeitpunkt der Fortsetzungsverweigerung bereits seit über zwei Jahren oder mit der schutzwürdigen Erwartung einer langfristigen
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Beschäftigung auch über das Fristende hinaus bestanden, beeinträchtigt die Diskriminierung nicht nur die oben beschriebenen Gleichheitsrechte, die Integrität und die Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen, sondern greift zugleich in spezifische Bestandsinteressen ein, die sich qualitativ von dem Interesse am Zugang zu einem Arbeitsplatz unterscheiden. Sowohl das Verfassungs- als auch das einfache Recht zeigen, dass es jedenfalls plausibel ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber für diese Fälle eine abweichende Interessenabwägung getroffen hätte, hätte er sie vor Augen gehabt. Auch die anderen Gesetzeszwecke lassen keine eindeutigen teleologischen Rückschlüsse auf eine Handhabung von Fortsetzungsansprüchen zu. Für die Fälle, in denen befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen seit mehr als zwei Jahren oder mit der Perspektive einer langfristigen Beschäftigung befristet auf dem betreffenden Arbeitsplatz angestellt sind, ist ein Wille des Gesetzgebers daher nicht erkennbar. Der Auslegungsspielraum ist daher durch eine eigenständige verfassungsorientierte Auslegung durch die Rechtsanwender, insbesondere die Gerichte, auszufüllen, ohne dass sie damit „ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen“ und „unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers“ eingreifen.1117 6. Verfassungsorientierte Auslegung Innerhalb des gerade konturierten Auslegungsspielraums ist diejenige Auslegung von § 15 VI AGG vorzugswürdig, „die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt“.1118 Da Fortsetzungsansprüche die Berufsfreiheit der Arbeitgeber:innen beschränken, müssen die Gerichte im Rahmen des auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmals „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ eine Abwägung zwischen den grundrechtlichen Belangen der Arbeitgeber:innen einerseits und den gesetzlich geschützten Rechtsgütern der Arbeitnehmer:innen andererseits vornehmen.1119 Für die Abwägung können nach Auffassung des BVerfG „insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen.“1120 Die für und gegen Fortsetzungsansprüche sprechenden Interessen wurden bereits an anderer Stelle herausgearbeitet. Sie sollen nun zusammengetragen und abschließend gegeneinander gewichtet werden.
1117 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 6. 6. 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, NZA 2018, 774, 780 (Rn. 73). 1118 St. Rspr. z. B. BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 3432 (Rn. 86) m. w. N. 1119 BVerfG, Beschl. v. 8. 10. 1996 – 1 BvR 1183/90, NZA 1997, 158, 159 f. 1120 BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, NJW 2020, 300, 306 (Rn. 77); BVerfG, Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, 1668 (Rn. 33).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Eine verfassungsorientierte Auslegung von § 15 VI AGG muss berücksichtigen, dass Annahme oder Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen sowohl die Berufsfreiheit der Arbeitgeber:innen als auch der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I GG berühren. Obwohl dasselbe Grundrecht für und wider Fortsetzungsansprüche in Stellung gebracht werden kann, ist eine Gewichtung der grundrechtlich geschützten Interessen möglich: Der Ausgangspunkt dieser Gewichtung ist die Feststellung, dass viele Menschen nicht den Wunsch oder die Mittel haben, sich selbstständig am Markt zu betätigen. Sie nehmen ihre Berufswahl stattdessen durch den Abschluss von Arbeitsverträgen wahr. Durch den Vertragsschluss mit bestimmten Arbeitgeber:innen betätigen sie ihre Arbeitsplatzwahlfreiheit, die qualitativ zwischen der Berufswahl, der sie nachfolgt und die sie konkretisiert, und der Berufsausübung, die an dem gewählten Arbeitsplatz stattfindet, einzuordnen ist. Von der Arbeitsplatzwahlfreiheit gem. Art. 12 I 1 GG geschützt ist die erstmalige Entscheidung, eine Beschäftigung auf einem bestimmten Arbeitsplatz ergreifen zu wollen, sowie der Wille, diese Beschäftigung beizubehalten oder aufzugeben. Für Arbeitgeber:innen ist der Abschluss von Arbeitsverträgen demgegenüber nur eine Komponente ihrer Berufsausübungsfreiheit gem. Art. 12 I 2 GG, die nach der Systematik des Art. 12 I GG und der Rechtsprechung des BVerfG typischerweise weniger gewichtig ist.1121 Diese abstrakte Interessengewichtung setzt sich bei der konkreten Beurteilung von Fortsetzungsansprüchen fort: Da Arbeitsuchende den Arbeitgeber:innen bei der Aushandlung ihrer Beschäftigungsbedingungen strukturell unterlegen sind, können sie den langfristigen Bestand ihrer Arbeitsverhältnisse meist nicht vertraglich aushandeln. Auf diese Verhandlungsschwäche hat der Gesetzgeber mit Erlass des normativen Bestandsschutzes durch das Kündigungs- und Befristungsrecht reagiert. Dahinter steht die Erwägung, dass Arbeitsverhältnisse finanzielle Lebensgrundlage und Grundlage beruflicher Selbstverwirklichung nur sein können, wenn Arbeitnehmer:innen ihren Lebensmittelpunkt entsprechend ausrichten und die Arbeitsplätze zur finanziellen Grundlage ihrer Lebens- und Konsumentscheidungen (z. B. Familiengründung oder Immobilienkauf) machen können.1122 Das Befristungsrecht ermöglicht eine Ausnahme von dem hohen Bestandsschutzniveau des KSchG in den Grenzen des § 14 TzBfG. Durch eine anfängliche Kontrolle der Befristungsabreden sollen die Bestandsinteressen der Arbeitnehmer:innen hinreichend gewahrt werden.1123 Problematisch ist an dieser Konzeption, dass die Befristungskontrolle nicht abbilden kann, wie sich die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen im Laufe des Arbeitsverhältnisses entwickeln. Da Befristungen heutzutage inflationär sachgrundlos eingesetzt werden und dauerhafter Beschäftigungsbedarf in den Grenzen des Rechtsmissbrauchs durch Kettenbefristungen gedeckt werden kann, wird das Interesse von Arbeitnehmer:innen, die ursprüngliche Vertragsabrede kontrollieren zu lassen, um das Interesse an einer Kontrolle der Fortsetzungsentscheidung nach 1121 Siehe für das Gewicht der Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (1), zu den Bestandsinteressen 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (a). 1122 Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (b) (ff). 1123 Siehe oben 1. Kap. D. I. 2.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Fristablauf ergänzt. Dieses Interesse ist insbesondere dann schützenswert, wenn Arbeitnehmer:innen auf die Vertragsfortsetzung angewiesen sind, da ihre befristeten Arbeitsplätze für sie nicht nur eine vorübergehende Einnahmequelle sind, sondern auch die Grundlage langfristiger Konsum- und Familienentscheidungen und ihrer persönlichen Entfaltung durch die Ausübung einer Tätigkeit in einem sozialen Umfeld. Da der Verlust des Arbeitsplatzes unter diesen Umständen auch einen Verlust des bisherigen Lebenszuschnitts, Wohnorts, sozialer Integration und betriebsspezifischer Spezialisierung nach sich zieht, sind nicht all seine Konsequenzen finanziell abbildbar und über § 15 I, II AGG in Geld ersatzfähig. Um die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer:innen vor diesen Konsequenzen der Nichtfortsetzung zu beurteilen, ist entscheidend, ob sie die Situation selbst hätten verhindern können. Dagegen spricht erstens, dass befristete Arbeitsverhältnisse regelmäßig im einseitigen Interesse der Arbeitgeber:innen geschlossen werden und Arbeitnehmer:innen sie nicht beeinflussen können.1124 Außerdem sind die materiellen und immateriellen Dispositionen, die bei Verlust der Arbeitsplätze bedroht sind, gerade dann gerechtfertigt oder jedenfalls nicht vermeidbar, wenn Arbeitnehmer:innen auf die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse vertrauen dürfen oder bereits mehrere Jahre auf ihren Arbeitsplätzen tätig sind: Wohnortwechsel können nicht ewig aufgeschoben werden und Spezialisierungen und soziale Netzwerke entwickeln sich im Lauf der Zeit automatisch. Unter den Voraussetzungen, unter denen überhaupt ein Auslegungsspielraum besteht,1125 sind die Arbeitnehmer:innen also schutzwürdig. Die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse stellt die beschriebenen Funktionen des Arbeitsverhältnisses für diejenigen befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen in Frage, die trotz ihrer Befristungsabrede materielle und immaterielle Dispositionen treffen durften oder mussten, da Arbeitgeber:innen die Erwartung einer langfristigen Beschäftigung geweckt haben oder die Arbeitnehmer:innen über mehrere Jahre auf dem Arbeitsplatz tätig waren.1126 Dass Arbeitnehmer:innen unter diesen Umständen frei über eine Vertragsfortsetzung entscheiden, ist eine offene Flanke im Befristungsrecht. Spiegelbildlich dazu sind Fortsetzungsansprüche Arbeitgeber:innen auch gerade zumutbar, weil sie den Anlass für die gesteigerten Bestandsinteressen gesetzt haben, indem sie Arbeitnehmer:innen trotz langfristigen oder unsicheren Beschäftigungsbedarfs befristet eingesetzt haben. Sie profitieren von der Kettenbefristung, da sie Arbeitnehmer:innen, die bereits geschult und in den Betrieb integriert sind, weiter beschäftigen können und keine Kosten für die Rekrutierung und Einarbeitung neuen Personals aufbringen müssen. Indem sie Befristungen mit der ausdrücklichen Perspektive einer Vertragsfortsetzung nach Fristablauf abschließen, steigern sie die Attraktivität eines Arbeitsplatzes und können besser qualifizierte Arbeitnehmer:innen ansprechen. Außerdem fördert die Erwartung einer Entfristung die Be1124 1125 1126
Siehe oben 1. Kap. B. II. 2. Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) dd). Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (aa).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
reitschaft der Arbeitnehmer:innen, sich in Betriebsstrukturen einzuarbeiten und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach Fristablauf weiter zur Verfügung stehen und sich nicht anderweitig umschauen.1127 Arbeitgeber:innen ziehen also viele Vorteile aus der Nutzung befristeter Arbeitsverträge zur Deckung eines längerfristigen Beschäftigungsbedarfs. Es ist ihnen daher zumutbar, dass sie auch die Kehrseite dieser Personalpolitik – die Entwicklung schützenswerter Bestandsinteressen – tragen. Nach der gesetzgeberischen Konzeption des TzBfG sind Arbeitgeber:innen bei Fristablauf gleichwohl frei darin, sich gegen eine Vertragsfortsetzung zu entscheiden; das Gesetz schützt insofern ihre Interessen an einer flexiblen Personalplanung.1128 Auch Vertrauen in eine Vertragsfortsetzung begründet nach der Vertrauensschutzkonzeption des bürgerlichen Rechts allein keinen Anspruch auf Abschluss eines Arbeitsvertrags.1129 Dadurch wird die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen als Komponente ihrer Berufsausübungsfreiheit geschützt. Unterlassen Arbeitgeber:innen die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse allein aus diskriminierenden Gründen, verschiebt sich die Waage aber in Richtung der Bestandsinteressen: Arbeitgeber:innen betätigen mit ihrer Entscheidung nicht ihre durch Art. 12 I 2 GG und § 14 TzBfG unternehmerische Freiheit, frei von Rechtfertigungsgründen über Vertragsfortsetzungen entscheiden zu dürfen, sondern ausschließlich eine diskriminierende Motivlage. Art. 3 III GG und Art. 2 I, 1 I GG enthalten die objektive Wertentscheidung, dass Personen vor Herabwürdigungen und Ausgrenzungen aufgrund askriptiver Merkmale gerade auch durch andere Private zu schützen sind.1130 Diskriminierungen aufgrund der in Art. 3 III GG und § 1 AGG genannten Merkmale sind gerade deshalb verboten, da die Merkmale weitgehend unveränderlich sind und intrasubjektiv wirken, also ein erhöhtes gesellschaftliches Ausgrenzungspotenzial bergen.1131 Dieser Wertentscheidung gemäß ist das Interesse von Arbeitgeber:innen, nicht zur Weiterbeschäftigung diskriminierter Person gezwungen zu werden, nicht schützenswert. Ihrer Berufsausübungsfreiheit wird durch die Rechtfertigungsgründe in §§ 8 ff. AGG hinreichend Rechnung getragen. Umgekehrt bergen befristete Arbeitsverhältnisse für bestimmte Personengruppen ein gesteigertes Risiko, ihre Arbeitsplätze trotz mehrjähriger Mitarbeit oder Vertrauen in die Vertragsfortsetzung zu verlieren. Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge von Diskriminierungen würden diese strukturelle Gefahr kompensieren. Der Schutz der Bestandsinteressen erhält durch die objektive Wertentscheidung in Art. 3 III GG und Art. 2 I, 1 I GG also ein zusätzliches Gewicht. Die von der Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen umfassten Bestandsinteressen wiegen daher höher als das von der Berufsausübungsfreiheit der Arbeitgeber:innen umfasste Interesse, nicht zur Fortsetzung von 1127 1128 1129 1130 1131
Siehe oben 2. Kap. A. Siehe oben 1. Kap. D. II. 1. b). Siehe oben 2. Kap. C. III. 2. a) bb), ) cc) (1) (a). Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (2) (b) (aa). Siehe oben 4. Kap. B. II. 1., 6. Kap. C. II. 5. a) (2) (e) (bb).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Arbeitsverhältnissen mit Arbeitnehmer:innen verpflichtet zu werden, die sie aufgrund eines Merkmals gem. § 1 AGG nicht weiterbeschäftigen möchten. Eine Auslegung von § 15 VI AGG, „die die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung bringt“1132, führt dazu, dass die Interessen von Arbeitnehmer:innen, ihren Arbeitsplatz nicht aus diskriminierenden Gründen zu verlieren, die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen überwiegen, wenn Arbeitnehmer:innen infolge erwartungserzeugender Verhaltensweisen der Arbeitgeber:innen oder nach mehr als zweijähriger Beschäftigung ein spezifisches Interesse am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse entwickelt haben. Da diese Bestandsinteressen durch finanzielle Kompensation gem. § 15 I, II AGG nicht hinreichend geschützt werden, ergibt eine verfassungsorientierte Auslegung von § 15 VI AGG für die beschriebenen Konstellationen, dass Fortsetzungsansprüche keine „Ansprüche auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ im Sinne der Vorschrift sind. 7. Ergebnis: Teilweiser Ausschluss eines Fortsetzungsanspruchs gem. § 15 VI AGG Weder die Gleichbehandlungsrichtlinien noch der Wortlaut, die Systematik und die Historie von § 15 VI AGG beantworten die umstrittene Frage, ob die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse die „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ im Sinne der Vorschrift ist. Für die Auslegung kommt es stattdessen ausschließlich darauf an, ob ein Fortsetzungsanspruch nach dem Zweck von § 15 VI AGG ausgeschlossen sein muss. Jedenfalls zwei der drei identifizierten Gesetzeszwecke – die Verhinderung praktischer Schwierigkeiten eines Kontrahierungszwangs und die fehlende Perspektive eines erzwungenen Arbeitsverhältnisses – erfordern den Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen nicht. Der Schwerpunkt der Auslegung von § 15 VI AGG lag daher darauf, ob ein Fortsetzungsanspruch ein „unzulässiger Eingriffe in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers“ nach der ratio legis ist. Dafür wurde herausgearbeitet, dass auch die von § 15 VI AGG zweifelsfrei erfassten Einstellungs- und Beförderungsansprüche keine verfassungswidrigen Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen wären, der Gesetzgeber mit § 15 VI AGG daher ein politisches Regelungsermessen ausgeübt hat. Dieses Regelungsermessen ist für die Einschätzung der Vertragsfortsetzung beachtlich, soweit ihr dieselben Abwägungsparameter zugrunde liegen. Da die Nichteinstellung, Nichtbeförderung und Nichtfortsetzung ähnlich intensiv in die Berufsausübungsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen und das Prinzip materialer Gleichheit (Art. 3 III GG), der Integritätsschutz (Art. 2 I, 1 I GG) und die Interessen am Zugang zu einem Arbeitsplatz (Art. 12 I GG) in ähnlicher Weise für einen Kontrahierungszwang streiten, ist das Abwägungsergebnis des Gesetzgebers grundsätzlich auch für die Beurteilung 1132 BVerfG, Beschl. v. 19. 7. 2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 3432 (Rn. 86) m. w. N.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
von Fortsetzungsansprüchen verbindlich und diese gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen. Etwas anderes gilt aber dann, wenn befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen ein gesteigertes (Stabilitäts-)Interesse am Fortbestand ihrer Arbeitsverhältnisse entwickelt haben, das über das Interesse, überhaupt einen Arbeitsplatz zu erhalten, hinausgeht und daher nicht angemessen durch eine finanzielle Kompensation geschützt wird. Solche Bestandsinteressen entwickeln sich in befristeten Arbeitsverhältnissen trotz wirksamer Befristungsabrede typischerweise, wenn die Arbeitsverhältnisse länger als zwei Jahre bestehen oder Arbeitgeber:innen schutzwürdiges Vertrauen in eine Vertragsfortsetzung geweckt haben. Da das TzBfG die Bestandsinteressen von Arbeitnehmer:innen nur abschließend gegen die Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen abgewogen hat, ist das Interesse von Arbeitnehmer:innen, Arbeitsplätze nicht aus diskriminierenden Gründen durch Fristablauf zu verlieren, auch schutzwürdig. Da Bestandsinteressen nach der Rechtsprechung des BVerfG und der geltenden Rechtsordnung stärkere Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen rechtfertigen als Zugangsinteressen, lässt der Ausschluss von Einstellungs- und Beförderungsansprüchen gem. § 15 VI AGG keinen eindeutigen Schluss zu, ob der Gesetzgeber auch Fortsetzungsansprüche ausgeschlossen hätte, hätte er diese Fallgestaltung vor Augen gehabt. Insoweit wird die teleologische Auslegung durch eine verfassungsorientierte Auslegung ergänzt. Danach überwiegt das Interesse von Arbeitnehmer:innen, ihre Arbeitsplätze nicht aus diskriminierenden Gründen zu verlieren, wenn sie bereits länger als zwei Jahre auf dem Arbeitsplatz beschäftigt sind oder Arbeitgeber:innen die Erwartung einer Vertragsfortsetzung geweckt haben, die negative Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen. § 15 VI AGG ist für diese Fälle einschränkend verfassungsorientiert auszulegen: Die Vertragsfortsetzung ist dann nicht als „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ ausgeschlossen; diskriminierte Arbeitnehmer:innen können die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse beanspruchen.
III. Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen als Rechtsfolge von Maßregelungen analog § 15 VI AGG Sämtliche Maßregelungsverbote erschöpfen sich in der Verbotsanordnung, ohne eine § 15 AGG vergleichbare Regelung über die Rechtsfolgen eines Verstoßes zu enthalten. Bei einer Anwendung der allgemeinen zivilrechtlichen Sekundäransprüche – Schadensersatz in Naturalrestitution gem. §§ 280 I, 249 I BGB und Beseitigung analog § 1004 I 1 BGB – schulden Arbeitgeber:innen daher die Vertragsfortsetzung, wenn sie sie ohne Maßregelung angeboten hätten. Dieses Ergebnis hat das BAG in mehreren Urteilen auf den Prüfstand gestellt und damit den Streit um die Reichweite von § 15 VI AGG um eine weitere Dimension – die Anwendung auf Verbotstatbestände außerhalb des AGG – erweitert. Ihren Ausgangspunkt nahm diese Judikatur mit dem Fortsetzungsbegehren eines befristet beschäftigten Ar-
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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beitnehmers, der geltend gemacht hat, dass sein Arbeitsverhältnis aufgrund seiner gewerkschaftspolitischen Betätigung nicht fortgesetzt worden sei. Der Siebte Senat des BAG lehnte einen Fortsetzungsanspruch als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen § 612a BGB ab, da § 15 VI AGG analog anzuwenden sei: § 612a BGB bestehe seit 1980 in derselben Fassung und enthalte spätestens seit Inkrafttreten des AGG im Jahr 2006 eine unbewusste Regelungslücke, da der Gesetzgeber, anders als im AGG, nicht ausdrücklich geregelt hat, ob sich aus einem Verstoß gegen § 612a BGB ein Kontrahierungszwang ergeben kann. Die in § 15 VI AGG enthaltene gesetzgeberische Wertung verdeutliche, dass der Gesetzgeber die Frage versehentlich nicht geregelt habe: „Nach ihr soll der Arbeitgeber selbst bei massivsten Diskriminierungen – etwa wegen des Geschlechts, der Rasse oder der Religion – nicht verpflichtet werden, ein Arbeitsverhältnis einzugehen. Der Anspruch des benachteiligten Arbeitnehmers ist auf Geldersatz beschränkt. Es kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber bei den typischerweise deutlich weniger gewichtigen Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 612a BGB, etwa bei Geltendmachung von Urlaubsansprüchen oder Überarbeitsvergütung, einen Anspruch des bislang befristet beschäftigten Arbeitnehmers auf Abschluss eines Folgevertrags begründen wollte. Der Gesetzgeber hat die Regelungslücke erkennbar übersehen.“1133
Da die Interessenlage von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen bei einem Verstoß gegen § 612a BGB und § 7 AGG vergleichbar sei, sei die Regelungslücke durch analoge Anwendung von § 15 VI AGG zu schließen.1134 Derselbe Senat entschied im Jahr 2014, dass ein Arbeitnehmer, der ausschließlich aufgrund seines Betriebsratsmandats keinen Folgearbeitsvertrag erhalten hatte, einen Fortsetzungsanspruch als Rechtsfolge des § 78 S. 2 BetrVG habe: „Im Unterschied zum Maßregelungsverbot des § 612a BGB fehlt es beim Benachteiligungsverbot des § 78 S. 2 BetrVG an einer mit dem Benachteiligungsverbot des § 7 I iVm § 1 AGG vergleichbaren Interessenlage. Das AGG verfolgt ebenso wie § 612 a BGB im Wesentlichen einen personenbezogenen Schutzzweck. Dagegen schützt § 78 S. 2 BetrVG ebenso wie § 78 S. 1 BetrVG neben den Betriebsratsmitgliedern als Personen auch den Betriebsrat als Organ. […] Indem § 78 S. 1 und 2 BetrVG jedenfalls auch den Betriebsrat als Organ schützen, sichern sie ua auch die sachliche und personelle Kontinuität seiner Arbeit. […] Der somit nicht nur individuell personenbezogene, sondern zugleich kollektiv gremienbezogene Normzweck des § 78 S. 2 BetrVG unterscheidet dieses Benachteiligungsverbot maßgeblich von den personenbezogenen Benachteiligungsverboten des § 7 I iVm § 1 AGG und des § 612 a BGB. Die analoge Anwendung des eine Wiedereinstellung aus1133
BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44). BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 45). Im Jahr 2015 bezog sich auch der Neunte Senat der auf die „allgemeine gesetzgeberischen Wertung“ in § 15 VI AGG: Wenn der Arbeitgeber „selbst bei massivsten Diskriminierungen“ nicht dazu verpflichtet werde, ein Arbeitsverhältnis einzugehen, könne eine solche Beschränkung seiner Auswahlfreiheit erst recht nicht damit begründet werden, dass sich ein rechtskräftiges klageabweisendes Urteil im Kündigungsschutzverfahren nachträglich als konventionswidrig herausstelle (BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301 f. (19 f.)). 1134
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schließenden § 15 VI AGG verbietet sich damit schon wegen des Fehlens einer vergleichbaren Interessenlage. Eine entsprechende Anwendung des § 15 VI AGG wäre mit dem mit § 78 BetrVG auch verfolgten Zweck der Sicherung der Ämterkontinuität des Betriebsrats nicht vereinbar.“1135
Nach der Auffassung des BAG enthält § 15 VI AGG also eine gesetzgeberische Wertung, die auf andere Fortsetzungsansprüche infolge von Verbotsverstößen übertragen werden kann, die keinen gremienbezogenen Schutzzweck verfolgen. Diese Argumentation wird auf den Prüfstand gestellt, indem zuerst der Maßstab für eine analoge Anwendung von § 15 VI AGG dargestellt wird [1.], anhand dessen anschließend eine Regelungslücke der Maßregelungsverbote untersucht wird [2.]. 1. Maßstab: Voraussetzungen des Analogieschlusses Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber bestimmt als politischer Entscheidungsträger die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer gesetzlichen Regelung grundsätzlich selbst und abschließend durch den Normtext. Gerichte sind jedoch dann zur Rechtsfortbildung, insbesondere zur Anwendung einer Norm über ihre Wortlautgrenze hinaus, befugt, wenn sie damit eine Regelungslücke im Gesetz schließen. Als Regelungslücke wird nach der von Canaris entwickelten Definition „eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts […] gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“1136 verstanden. Neben die Tatsachenfeststellung, dass das positive Recht für den zu entscheidenden Fall keine Regelung enthält, tritt also das Werturteil, dass der Fall in einer ideal gedachten Konzeption geregelt sein sollte. Dieses Werturteil dürfen die Gerichte aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht eigenständig fällen, sondern sie müssen sich an dem im Gesetz manifestierten und in den Materialien zum Ausdruck kommenden Regelungsplan des Gesetzgebers orientieren.1137 Bedingung einer Rechtsfortbildung von § 15 VI AGG ist, dass der fehlende Ausschluss von Kontrahierungszwängen als Rechtsfolge der Maßregelungsverbote nach diesen Maßstäben planwidrig ist. Dass der Gesetzgeber eine solche Vorschrift übersehen und nicht bewusst von einer Regelung abgesehen hat, kann erstens dann angenommen werden, wenn die Maßregelungsverbote ohne Ergänzung ihre ratio legis verfehlen.1138 Sämtliche Maßregelungsverbote bezwecken, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung individueller Rechte oder ihnen übertragener Aufgaben im Interesse der Belegschaft oder im öffentlichen Interesse zu 1135
BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 f. (Rn. 32 ff.). C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 39. 1137 Zu diesen Maßstäben für Analogiebildungen ausführlich und mit Nachweisen oben 5. Kap. A. II. 2. b) bb) (1). 1138 Mit dieser Argumentation wurde oben (5. Kap. A. II. 2. b) bb) (2)) eine teleologische Extension von § 612a BGB für Benachteiligungen gegenüber ehemaligen Arbeitnehmer:innen begründet. 1136
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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schützen. Diese ratio legis wird am effektivsten dadurch verwirklicht, dass sämtliche maßregelnden Maßnahmen nichtig oder rückgängig zu machen sind. Aus diesem Grund wurden Fortsetzungsansprüche oben als dogmatisch schlüssige und sachlich konsequente Rechtsfolge von Verstößen gegen Maßregelungsverbote hergeleitet.1139 Würden befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen Gefahr laufen, aufgrund einer verbotenen Maßregelung keinen Folgearbeitsvertrag zu erhalten, sondern auf eine finanzielle Kompensation verwiesen zu werden, bliebe die Rechtsausübung im befristeten Arbeitsverhältnis ein Risiko für Arbeitnehmer:innen, die an einer Weiterbeschäftigung nach Fristablauf interessiert sind. Der Ausschluss von Kontrahierungszwängen als Rechtsfolge von Maßregelungen schwächt also den mit den Verboten bezweckten Schutz der Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen und lässt sich gerade nicht als teleologisch gebotene Normergänzung begründen. Eine Regelungslücke könnte aber anhand der der gesamten geltenden Rechtsordnung zugrundeliegenden Regelungskonzeption festgestellt werden: Wenn § 15 VI AGG – wie vom BAG behauptet – den verallgemeinerbaren gesetzgeberischen Rechtsgedanken enthält, dass ein Anspruch auf „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ als Rechtsfolge von Benachteiligungen stets ausgeschlossen sein soll, ist das Fehlen eines solchen Ausschlusses im Kontext der Maßregelungsverbote planwidrig. Die Annahme, dass der Rechtsgedanke in § 15 VI AGG derart generalisierbar ist, setzt wiederum eine Wertung voraus, die aus der Rechtsordnung selbst überzeugend begründet werden muss. Ansonsten mündet die Lückenfeststellung in eine freie kompetenzwidrige Eigenwertung der Gerichte.1140 Leitlinie für die Beurteilung ist die Prämisse, dass das Recht gerecht ist (vgl. Art. 3 I GG), der Gesetzgeber also kohärente und konsequente Regelungen treffen möchte.1141 Unter diesen Voraussetzungen kann ihm unterstellt werden, dass er vergleichbare Sachverhalte gleich behandeln möchte, eine § 15 VI AGG entsprechende Regelung also auch für vergleichbare Benachteiligungsverbote vorgesehen hätte, hätte er die Situation der maßregelnden Vertragsverweigerung vor Augen gehabt.1142 Bereits die Feststellung einer Regelungslücke – und nicht erst ihre Beseitigung durch einen Analogieschluss – ist also ein wertender Akt des Rechtsanwenders, der durch einen Vergleich der verschiedenen Benachteiligungsverbote erfolgt.1143 Ähneln sich die Diskriminierungs- und Maßregelungsverbote in allen für § 15 VI AGG wesentlichen Aspekten, ist der Rechtsgedanke in § 15 VI AGG derart generalisierbar, dass fehlende Ausschlüsse im Kontext der Maßregelungsverbote planwidrig sind; diese Lücke ist dann durch eine analoge Anwendung von § 15 VI AGG zu schließen.
1139
Siehe oben 6. Kap. B. IV. 2. a) bb). B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 549. 1141 Vgl. R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (2017), S. 85; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 53 f. 1142 Vgl. B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), S. 546. 1143 Vgl. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre (2021), S. 54. 1140
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
2. Lückenfeststellung als wertender Vorgang: vergleichbare Interessenlage der Benachteiligungsverbote Anders als die Diskriminierungsverbote im AGG verbieten Maßregelungsverbote ihrem Zweck entsprechend nur Benachteiligungen im bestehenden Arbeitsverhältnis. Eine analoge Anwendung von § 15 VI AGG kommt daher von Vornherein nur für die Fälle der Beförderung und den hier einzig interessanten Fall der Vertragsfortsetzung in Betracht. Es wurde oben herausgearbeitet, dass der mit § 15 VI AGG beabsichtigte Schutz von Mitbewerber:innen und die Zweifel am langfristigen Bestand erzwungener Vertragsverhältnisse den Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen nicht gebieten.1144 Das Regelungsziel, Arbeitgeber:innen vor unzulässigen Eingriffen in ihre Vertragsfreiheit zu schützen, gebietet nach der gesetzgeberischen Interessenabwägung aber, Fortsetzungsansprüche gem. § 15 VI AGG auszuschließen, es sei denn, es sind spezifische Bestandsinteressen der befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen betroffen. Die diskriminierende und die maßregelnde Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse sind daher unter dem Gesichtspunkt zu vergleichen, ob sie ähnlich intensiv in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen eingreifen [a)] und ähnliche Gründe für und gegen eine Rechtfertigung durch legitime Arbeitnehmerbelange sprechen [b)]. a) Vergleich: Fortsetzungsansprüche als Eingriff in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge verbotener Maßregelungen setzen voraus, dass Arbeitgeber:innen ihren Arbeitnehmer:innen ohne Maßregelung einen Arbeitsvertrag angeboten hätten. Dieser Kausalzusammenhang ist bei den Maßregelungsverboten bereits tatbestandliche Voraussetzung des Verbotsverstoßes.1145 Die belastende Wirkung von Fortsetzungsansprüchen besteht daher nicht darin, dass Arbeitgeber:innen Arbeitnehmer:innen beschäftigen müssen, mit denen sie mangels betrieblicher Einsatzmöglichkeit oder aufgrund ihrer Leistung oder Persönlichkeit nicht mehr zusammenarbeiten möchten, sondern nur darin, dass sie Arbeitnehmer:innen beschäftigen müssen, die durch eine zulässige Rechtsausübung administrativen oder finanziellen Mehraufwand verursacht haben und eventuell künftig verursachen würden, beispielsweise durch die Inanspruchnahme ihrer Urlaubstage, durch ein Betriebsratsmandat, die Überwachung bestimmter Arbeitgebertätigkeiten oder die Freistellung als ehrenamtliche Richterin. So wie der Gesetzgeber die mit den Diskriminierungsverboten einhergehenden Belastungen bereits durch Erlass einer sanktionsbewehrten Verbotsanordnung als angemessen beurteilt hat,1146 hat er auch die Rechtsausübungen, die durch die Maßregelungsverbote geschützt werden, als für 1144 1145 1146
Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. b), c). Siehe oben 5. Kap. B. I. 2. a), b). Siehe dazu oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (1) (b) (cc).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Arbeitgeber:innen zumutbar eingeschätzt: Der Zahl der gesetzlichen Urlaubstage, dem Umfang der betrieblichen Mitbestimmung, der Auswahl bestimmter gefährlicher Tätigkeitsfelder als überwachungspflichtig und der Heranziehung von Arbeitnehmer:innen als ehrenamtliche Richter:innen liegt die gesetzgeberische Einschätzung zugrunde, dass die unternehmerische Betätigungsfreiheit in diesem Maße zumutbar eingeschränkt wird. Dass Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge verbotener Maßregelungen Arbeitgeber:innen dazu zwingen, die zulässige Rechtsausübung für die Vergangenheit hinzunehmen und die Arbeitnehmer:innen trotz des Risikos, dass sie weiterhin dieselben oder andere Rechte ausüben werden, weiter zu beschäftigen, hat daher keinen separat zu kontrollierende Eingriffsgehalt; die gesetzgeberische Abwägung ist hier abschließend vollzogen. Die spezifische Eingriffswirkung von Fortsetzungsansprüchen erschöpft sich, genau wie bei Kontrahierungszwängen als Rechtsfolge von Diskriminierungen, in der Beseitigung der vertraglichen Selbstbestimmung der Arbeitgeber:innen an sich.1147 Dieser Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Arbeitgeber:innen gem. Art. 12 I GG kann durch legitime Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden; es gelten die im Kontext des AGG angestellten Ausführungen entsprechend.1148 b) Vergleich: Gewicht der Rechtfertigungsgründe Sofern keine gesteigerten Bestandsinteressen befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen betroffen sind, überwiegt nach der in § 15 VI AGG manifestierten gesetzgeberischen Konzeption die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen die für einen Kontrahierungszwang sprechenden Gemeinwohlbelange: die Herstellung materialer Gleichheit, den Schutz der Persönlichkeit und die Arbeitsplatzwahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen. Fraglich ist, ob diese gesetzgeberische Abwägung auf die Rechtsfolgen verbotener Maßregelungen übertragbar ist, dem Gesetzgeber also unterstellt werden kann, er würde auch im Kontext der Maßregelungsverbote Fortsetzungsansprüche als nicht durch Arbeitnehmerbelange gerechtfertigte Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen betrachten. aa) Erst-Recht-Schluss des BAG: geringeres Gewicht der Verstöße gegen Maßregelungsverbote? Im Anwendungsbereich von § 612a BGB hat das BAG einen Erst-Recht-Schluss gezogen: Da § 15 VI AGG einen Fortsetzungsanspruch „selbst bei massivsten Diskriminierungen“ ausschließe und die Verstöße gegen § 612a BGB „deutlich weniger gewichtig“ seien, könne nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber für diese Fälle einen Fortsetzungsanspruch begründen wollte.1149 Mit diesem argu1147 1148 1149
Siehe dazu oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (1) (b) (cc). Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (2) (a). BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 322 (Rn. 44).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
mentum a maiore ad minus hat das BAG ohne ausführliche Begründung ein Stufenverhältnis zwischen den Benachteiligungsverboten etabliert. Schon auf den ersten Blick verwundert es, dass das Gericht das geringe Gewicht der von § 612a BGB geschützten Betätigungen am Beispiel der Geltendmachung von Urlaubsansprüchen oder von Überarbeitsvergütung illustriert, obwohl dem Urteil das Fortsetzungsbegehren eines Arbeitnehmers zugrunde lag, der aufgrund einer von Art. 9 III, 5 I GG geschützten Meinungsäußerung in seiner Eigenschaft als Leiter des gewerkschaftlichen Vertrauenskörpers gemaßregelt wurde. Unklar ist, warum sich das BAG nicht mit dem Gewicht dieser von § 612a BGB geschützten Rechtsausübung beschäftigt hat, liegt ihr verfassungsrechtliches Gewicht doch auf der Hand. Das vom BAG angenommene Stufenverhältnis muss daher auf den Prüfstand gestellt werden; dabei werden sämtliche Maßregelungsverbote in den Blick genommen und das Gewicht ihrer Schutzanliegen beurteilt. Maßregelungsverbote verfolgen einen doppelten Schutzzweck: Erstens schützen sie die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Entscheidung, ob sie ein Recht ausüben, indem sie die Furcht vor Repressalien durch Arbeitgeber:innen beseitigen [zum Gewicht dieses Schutzanliegens (1)]. Zweitens sichern sie dadurch auch die Rechte der Arbeitnehmer:innen an sich, die nur dann im Arbeitsleben effektiv sind, wenn die Rechtsordnung auch ihre Geltendmachung gewährleistet [zu ihrem Gewicht (2)]. Für diejenigen Maßregelungsverbote, die die Ausübung von Mitwirkungsrechten schützen, können diese Regelungsziele präzisiert werden: „Willensfreiheit“ bei der Ausübung von Mitwirkungsrechten bedeutet innere und äußere Unabhängigkeit der Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung ihnen übertragener Aufgaben. Dadurch wird eine funktionsgerechte und wirkungsvolle Amtsausübung gewährleistet.1150 (1) Schutz der Willensfreiheit Die Maßregelungsverbote reagieren auf das für Arbeitsverhältnisse charakteristische Machtgefälle zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, das aus der Weisungsunterworfenheit und persönlichen Abhängigkeit der Arbeitnehmer:innen resultiert (vgl. § 611a I 1 BGB).1151 Dieses Machtgefälle birgt die Gefahr, dass Arbeitnehmer:innen ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zugunsten einer konfliktfreien Arbeitsbeziehung und reibungslosen Integration in die betrieblichen Strukturen hintenanstellen. Dass Arbeitnehmer:innen ihre Willensfreiheit gegenüber und ggf. auch wider die Interessen der Arbeitgeber:innen betätigen, ist eine wichtige Betätigung ihrer Subjektstellung im abhängigen Beschäftigungsverhältnis. Indem Maßregelungsverbote diesen „aufrechten Gang“1152 ermöglichen, haben die Vor-
1150
Siehe dazu oben 4. Kap. C. III. 2. BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 320 (Rn. 32). 1152 U. Isenhardt, in: FS Richardi (2007), Schein und Sein des Maßregelungsverbots nach § 612a BGB, S. 269. 1151
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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schriften auch eine persönlichkeitsrechts- und würdeschützende Komponente.1153 Das gilt insbesondere im befristeten Arbeitsverhältnis: Das Damoklesschwert der Nichtfortsetzung nach Fristablauf erzeugt einen hohen Druck auf Arbeitnehmer:innen, sich gegenüber ihren Arbeitgeber:innen zu beweisen. Würde die Rechtsordnung billigen, dass Arbeitgeber:innen jeden Konflikt und jede zulässige Rechtsausübungen von Arbeitnehmer:innen zum Anlass einer Vertragsbeendigung nehmen, würden befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen – sowohl aus der Perspektive der Arbeitgeber:innen als auch in ihrer Selbstwahrnehmung – auf ihren wirtschaftlichen Nutzen für das Unternehmen reduziert. Mit dem grundgesetzlichen Bekenntnis zur Menschenwürde, dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der Selbstbestimmung und der Berufsausübungsfreiheit sind solche Arbeitsbedingungen nicht vereinbar.1154 Dass Maßregelungsverbote die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen schützen, ist daher bereits für sich ein gewichtiger Schutzbelang. (2) Effektuierung von Arbeitnehmerrechten Zu dieser Schutzrichtung tritt die Flankenschutzdimension der Maßregelungsverbote: Dürften Arbeitgeber:innen z. B. die Inanspruchnahme des gesetzlichen Jahresurlaubs sanktionieren, wäre nicht nur die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis, sondern es wären auch die mit dem gesetzlichen Urlaubsanspruch verfolgten Regelungsziele gefährdet. Da die verschiedenen Maßregelungsverbote – entweder spezialgesetzlich oder durch § 612a BGB als Auffangtatbestand – sämtliche zulässigerweise ausgeübten Arbeitnehmerrechte flankieren, kann die Qualität der Flankenschutzdimension nicht pauschal bestimmt werden. Ein Blick auf ausgewählte Problemkreise zeigt jedoch, dass Verstöße gegen Maßregelungsverbote nicht typischerweise deutlich weniger gewichtig als Verstöße gegen Diskriminierungsverbote sind. (a) Ausübung individueller Rechte im Arbeitsverhältnis Das BAG nennt die Geltendmachung von Urlaubsansprüchen und von Mehrarbeitsvergütung als Anwendungsfälle des § 612a BGB. Werden Arbeitnehmer:innen durch die Gefahr einer Maßregelung davon abgehalten, ihnen geschuldete Vergütungsbestandteile einzufordern, sind in erster Linie ihre wirtschaftlichen Interessen betroffen. Je nach Höhe des einbehaltenen Entgelts und dessen Anteil an der insgesamt geschuldeten Vergütung kann ein Entgeltrückstand mehr oder weniger 1153
Vgl. M. Franzen, in: FS Otto (2008), Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers als Grundlage des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes, S. 71, 88 f.: Er nimmt an, der Staat müsse aufgrund der aus Art. 2 I GG folgenden Schutzpflicht dafür sorgen, dass Arbeitnehmer: innen ihre Rechte im Arbeitsverhältnis ohne Angst vor sanktionierenden Kündigungen ausüben können. 1154 Vgl. W. Zöllner, RdA 1973, 212, 213 f.: Die verfassungsrechtlichen Grundwerte „der Menschenwürde und der Personenhaftigkeit des Menschen“ verpflichten Arbeitgeber:innen dazu, „den Arbeitnehmer als Persönlichkeit, als sittlich-geistiges Wesen, als Träger der vom Grundgesetz geschützten Menschenwürde zu beachten.“
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
einschneidende Konsequenzen für die Lebensführung von Arbeitnehmer:innen zeigen. Auch die Inanspruchnahme von Urlaubstagen ist nicht so nebensächlich, wie das BAG suggeriert: Der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub gem. § 1 BUrlG ist nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ein „besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“, der gem. Art. 31 II GrCh im Rang eines Unionsgrundrechts steht.1155 Zweck des Anspruchs ist, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen sicherzustellen, indem ihnen ermöglicht wird sich zu erholen.1156 Werden Arbeitnehmer:innen durch drohende Repressalien von der Inanspruchnahme ihres Jahresurlaubs abgehalten, werden mittelbar ihre Sicherheit und Gesundheit gefährdet. Ähnliche Erwägungen gelten für die Rechtsausübung durch Nichtarbeit, beispielsweise im Krankheitsfall oder in den gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen und der Ruhezeit gem. §§ 4, 5 ArbZG1157 und für das Maßregelungsverbot gem. § 17 II 1, 2 ArbSchG, das Arbeitnehmer:innen ermöglichen soll, sich bei der zuständigen Behörde zu beschweren, wenn ihre Sicherheit oder ihr Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz nicht gewährleistet ist. Auch jenseits dieser Beispiele sprechen gute Gründe dafür, die unbefangene Ausübung individueller Rechte als gewichtiges Regelungsziel zu veranschlagen – schließlich liegt jeder Arbeitnehmerschutzvorschrift die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass der betreffende Vertragsinhalt zum Schutz der Arbeitnehmer:innen der privatautonomen Parteidisposition entzogen werden soll. Ein hoher Stellenwert ist schließlich auch der Betätigung der Koalitionsfreiheit beizumessen: Die Maßregelung von Arbeitnehmer:innen wegen ihrer gewerkschaftlichen Betätigung ist unmittelbar grundrechtsverletzend, da Art. 9 III 2 GG als einziges Grundrecht unmittelbar zwischen Privaten gilt. Die Tarifautonomie ist ein Pfeiler der deutschen Arbeitsrechtsordnung, der nur stabil steht, wenn sich Arbeitnehmer:innen zu Gewerkschaften zusammenschließen und ihre Interessen gegen die Arbeitgeberseite positionieren und ggf. durchsetzen können. Dieses System funktioniert nur dann, wenn Arbeitnehmer:innen durch ihre gewerkschaftliche Betätigung nicht aus dem Berufsleben gedrängt werden, Arbeitgeber:innen also die Ambivalenz zugemutet wird, Gewerkschaftsmitglieder und ggf. -vertreter zu beschäftigen. Dürften Arbeitgeber:innen Arbeitsverträge aufgrund der gewerkschaftlichen Betätigung von Arbeitnehmer:innen auslaufen lassen, wäre die Koalitionsfreiheit für befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen nicht mehr als ein leeres Versprechen und dadurch gleichzeitig die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie betroffen. (b) Ausübung besonderer Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis Eine Reihe von Maßregelungsverboten schützt besondere Mitwirkungsrechte im Arbeitsverhältnis und hat damit – ähnlich wie Art. 9 III GG – eine Schutzdimension, 1155 1156 1157
EuGH, Urt. v. 8. 11. 2012 – C-229/11 u. a., NZA 2012, 1273 (Rn. 22). EuGH, Urt. v. 20. 1. 2009 – C-350/06 u. a., NZA 2009, 135, 136 (Rn. 23 ff.). Vgl. Art. 3, 4 sowie Erwägungsgründe Nr. 1, 4 der RL 2003/88/EG.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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die das einzelne Arbeitsverhältnis übersteigt. Das gilt sowohl für den Schutz der Interessenvertreter:innen der Belegschaft [(aa)] als auch der gesetzlich vorgeschriebenen Beauftragten [(bb)]. (aa) Schutz der Interessenvertreter:innen Anders als die allgemeinen Maßregelungsverbote schützen § 78 S. 2 BetrVG, § 179 II SGB IX, § 2 III 2 SprAuG, § 26 MitbestG und § 9 S. 2 DrittelbG nicht die Ausübung von Rechten im Interesse einzelner Arbeitnehmer:innen, sondern im kollektiven Interesse der Belegschaft. Eine unbefangene Amtsausübung ohne Angst vor Repressalien ist die Voraussetzung dafür, dass betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung ihre Wirkung entfalten können. Für die Gewichtung der genannten Maßregelungsverbote ist daher auch der Schutzgehalt der Mitbestimmungsordnung zu berücksichtigen. Die betriebliche Mitbestimmung insbesondere durch Betriebsräte, Sprecherausschüsse und Schwerbehindertenvertretungen reagiert darauf, dass Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitsleistung in einem von Arbeitgeber:innen gestalteten Arbeitsbereich erbringen, in deren Organisation und personelle Strukturen sie sich einordnen müssen. Die damit einhergehende rechtliche und soziale Abhängigkeit der Arbeitnehmer:innen von einer größtenteils kollektiv gestalteten und fremdbestimmten Ordnung muss eine Rechtsordnung begrenzen, „deren Verfassung die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert sowie für das Privatrecht die Privatautonomie mit der ihr immanenten Selbstbestimmung des Einzelnen als maßgebendes Grundprinzip anerkennt.“1158 Der Schutz der Achtung von Arbeitnehmer:innen als Persönlichkeit, ihrer Würde und Selbstbestimmung im Arbeitsverhältnis ist nach der herrschenden Meinung der Schutzzweck des Betriebsverfassungsrechts.1159 Erreicht wird dieser Zweck durch eine Beteiligung der Arbeitnehmer:innen an den betrieblichen Entscheidungsprozessen, von denen sie selbst betroffen sind. Die betriebliche Interessenvertretung bewirkt so, dass „die Beschäftigten gleichberechtigt an der Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens teilhaben können“1160 und sich ihre Stellung „vom schutzbedürftigen Objekt zum mitgestaltenden Subjekt bei der Regelung mitbestimmter Angelegenheiten gewandelt hat.“1161 Unternehmerische Mitbestimmung geschieht durch die Bildung eines Aufsichtsrats, der aus Anteilseignern und Arbeitnehmer:innen besteht (§ 7 MitbestG, § 4 DrittelbG). Dass unternehmerische Mitbestimmung die ideellen Wurzeln der betrieblichen Mitbestimmung teilt, zeigt die Argumentation des BVerfG, mit dem das 1158
GK BetrVG/G. Wiese, Einleitung Rn. 73. GK BetrVG/G. Wiese, Einleitung Rn. 78 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung und Literatur. 1160 St. Rspr. z. B. BAG, Beschl. v. 10. 3. 2009 – 1 ABR 87/07, NZA 2010, 180, 182 (Rn. 16). 1161 GK BetrVG/G. Wiese, Einleitung Rn. 81; vgl. auch Bericht der Mitbestimmungskommission BT-Drs. VI/334, S. 65. 1159
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Gericht 1979 die Verfassungsmäßigkeit der unternehmerischen Mitbestimmung bestätigt hat: Die freie Verfügung über das Anteilseigentum sei durch eine Beteiligung der Arbeitnehmer:innen einschränkbar, denn es bedürfe „zur Nutzung des Anteilseigentums immer der Mitwirkung der Arbeitnehmer, die Ausübung der Verfügungsbefugnis durch den Eigentümer kann sich zugleich auf deren Daseinsgrundlage auswirken. Sie berührt damit die Grundrechtssphäre der Arbeitnehmer. […] Mitbestimmung im Unternehmen beeinflußt zu einem nicht unwesentlichen. Teil die Bedingungen, unter denen die Arbeitnehmer namentlich ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit wahrnehmen, das für alle sozialen Schichten von Bedeutung ist.“1162 Hinter dieser Argumentation steht die Erwägung, dass Arbeitnehmer:innen an Entscheidungen, die sie selbst unmittelbar betreffen, mitwirken sollen. Das MitbestG erfüllt nach der Auffassung des BVerfG also „die Aufgabe, die mit der Unterordnung der Arbeitnehmer unter fremde Leitungs- und Organisationsgewalt in größeren Unternehmen verbundene Fremdbestimmung durch die institutionelle Beteiligung an den unternehmerischen Entscheidungen zu mildern und die ökonomische Legitimation der Unternehmensleitung durch eine soziale zu ergänzen.“1163 Die Maßregelungsverbote gem. § 78 S. 2 BetrVG, § 179 II SGB IX, § 2 III 2 SprAuG, § 26 MitbestG und § 9 S. 2 DrittelbG schützen also nicht bloß die innere Entscheidungsfreiheit der Amtsträger:innen, sondern gewährleisten zugleich, dass Subjektstellung und Selbstbestimmung der Belegschaft durch eine wirksame Interessenvertretung auf betrieblicher und unternehmerischer Ebene geschützt werden. (bb) Schutz gesetzlich vorgeschriebener Beauftragter Vorschriften in verschiedenen Gesetze verpflichten Arbeitgeber:innen, bestimmte Beauftragte zu bestellen, die sie darin beraten, unterstützen und überwachen sollen, mit der unternehmerischen Tätigkeit einhergehende und von ihr ausgehende Gefahren für die Belegschaft und die Umwelt zu verhüten.1164 Das Verbot der Maßregelung von Sicherheitsbeauftragten gem. § 22 III SGB VII und von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit gem. § 8 I ASiG dient damit zugleich dem Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer:innen; Art. 38 III 2 DSGVO schützt mittelbar die informationelle Selbstbestimmung aller durch eine Datenverarbeitung der Arbeitgeber:innen betroffenen Arbeitnehmer:innen und Dritter und die Maßregelungsverbote gem. § 70 VI StrahlenSchG, § 19 II GenTSV, § 58 I § 58 I BImSchG i. V. m. § 58d BImSchG, § 60 III KrwG oder § 66 WHG dienen der Prävention von Gefahren für die Belegschaft, Umwelt und Allgemeinheit.
1162
BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., NJW 1979, 699, 704 f. BVerfG, Urt. v. 1. 3. 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., NJW 1979, 699, 704 f.; vgl. auch Habersack/Henssler/M. Habersack, Einleitung Rn. 2 f. 1164 Siehe ausführlich und systematisch oben 4. Kap. C. I. 2. b). 1163
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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(c) Ausübung von Rechten außerhalb des Arbeitsverhältnisses Schließlich verbieten verschiedene Vorschriften die Benachteiligung von Arbeitnehmer:innen, weil sie im öffentlichen Interesse außerhalb des Betriebs bestimmte Aufgaben ausüben. Indem § 2 V 3 ArbPlSchG, § 6 I EignungsübungsG, § 9 II KatSchErwG, § 2 II AbgG und §§ 45 Ia 1 DRiG, 26 ArbGG, 20 SGG Arbeitnehmer:innen in ihrer Entscheidungsfreiheit schützen, ein öffentliches Amt auszuüben, wird zugleich das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit von Streitkräften, Katastrophenschutz, Parlament und Justiz geschützt, da diese Institutionen auf eine hinreichende Anzahl zur Verfügung stehender Menschen angewiesen sind. (3) Gewichtung von Verstößen gegen Maßregelungsverbote Es ist schwierig, die Schutzzwecke der Maßregelungsverbote pauschal zu gewichten, da sie auf ganz unterschiedliche Maßregelungspotenziale reagieren und verschiedene individuelle, kollektive oder öffentliche Schutzbelange flankieren. Die Annahme eines Rangverhältnisses zwischen Diskriminierungs- und Maßregelungsverboten kann nach der voranstehenden Analyse aber jedenfalls eindeutig zurückgewiesen werden: Maßregelungsverbote schützen die Achtung der Arbeitnehmer:innen als Subjekt, ihre Würde und Selbstbestimmung und damit Teile des den Grundrechten (Art. 1 I, 2 I GG) zugrundeliegenden Menschenbilds. Daneben schützen sie mittelbar andere wichtige Schutzziele, insbesondere die Gesundheit und das Persönlichkeitsrecht von Arbeitnehmer:innen und Dritten. Diese Belange sind nicht per se weniger gewichtig als die vom AGG verfolgten Ziele. Daher lässt das Gewicht der mit dem AGG und den Maßregelungsverboten verfolgten Ziele nicht den Erst-Recht-Schluss zu, dass Fortsetzungsansprüche nach dem gesetzgeberischen Regelungswillen auch als Rechtsfolge der Maßregelungsverbote ausscheiden soll. bb) Gremienschutz-Argument des BAG: kollektive Zielsetzung von § 78 S. 2 BetrVG? Gegen eine Vergleichbarkeit mit §§ 1, 7 AGG und gleichzeitig für die Annahme eines Fortsetzungsanspruchs könnte sprechen, dass Maßregelungsverbote betreffend die Interessenvertretung von Arbeitnehmer:innen in Gremien auch einen kollektiven Regelungszweck verfolgen. Aus diesem Grund hat das BAG eine analoge Anwendung von § 15 VI AGG auf § 78 S. 2 BetrVG abgelehnt: § 78 S. 2 BetrVG sichere auch die sachliche und personelle Kontinuität der Betriebsratsarbeit; dieser kollektiv gremienbezogene Normzweck des § 78 S. 2 BetrVG unterscheide das Benachteiligungsverbot von § 7 I iVm § 1 AGG, sodass eine vergleichbare Interessenlage fehle.1165 Falls dieser Rechtsauffassung beizupflichten ist, könnte sie auf andere in Gremien ausgeübte Mitwirkungsrechte zu übertragen sein.
1165
BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 f. (Rn. 32 ff.).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
(1) Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung Der Schutz der Betriebsratskontinuität ist kein neuer Gedanke: Schon das RAG und das BAG haben bei Anwendung des BRG und des BetrVG 1952 verschiedentlich mit der „Stetigkeit der Betriebsratsarbeit“ argumentiert;1166 später hat der Gesetzgeber die Einführung eines Zustimmungserfordernisses für die Versetzung von Betriebsratsmitgliedern gem. § 103 III BetrVG und eine Erweiterung des Kündigungsschutzes gem. § 15 IIIa KSchG auf Mitglieder des Wahlvorstands und Wahlbewerber:innen ausdrücklich mit der Sicherung der „Kontinuität der Betriebsratsarbeit“ begründet.1167 Inzwischen haben die Rechtsprechung und Literatur eine Reihe von Vorschriften des BetrVG als Ausdruck des Kontinuitätsgedankens identifiziert und daraus ein übergreifendes Strukturprinzip der Betriebsverfassung abgeleitet.1168 Die Kontinuität der Betriebsratsarbeit ist erstens in einem funktionellen Sinn zu schützen, in dem der Betriebsrat über einen längeren Zeitraum und weitgehend unabhängig von anderen unternehmerischen Entwicklungen im Amt bleibt.1169 Dieser Grundsatz der Betriebsratsarbeit ist unter anderem in § 13 I, II BetrVG angelegt, nach dem der Betriebsrat vier anstelle der ehemals drei Jahre im Amt bleibt1170 und Neuwahlen infolge Belegschaftsveränderungen nur unter den hohen Voraussetzungen des § 13 II Nr. 1 BetrVG stattfinden. Die Vorschrift sichert damit „die Kontinuität eines einmal gültig und unanfechtbar gewählten Betriebsrates gegenüber nachträglich eintretenden Veränderungen der Belegschaft.“1171 Einen vergleichbaren Zweck verfolgen auch § 613a I BGB, der die Kontinuität des amtierenden Betriebsrats schützt,1172 sowie §§ 21a, b, 22 BetrVG, die eine Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Kontinuität der Betriebsräte auch im Falle der Spaltung und Zusammenlegung von Betrieben und der Niederlegung eines Betriebsratsmandats gewährleisten.1173
1166 Z. B. BAG, Beschl. v. 20. 10. 1954 – 1 ABR 11/54, NJW 1954, 1862; siehe Nachweise zur RAG-Rechtsprechung bei O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 630 (Fn. 11 ff.). 1167 Zu § 103 III BetrVG: BT-Drs. 14/5741, S. 28, zu § 15 IIIa KSchG: a. a. O. S. 55. 1168 Insbesondere B. Boemke, in: FS Windbichler (2020), (Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat, S. 191; B. Boemke/J. Deyda, ZfA 2020, 320; O. Ricken, SAE 2003, 55, 57; ders., in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629; T. Schiebe, Die betriebsverfassungsrechtliche Funktionsnachfolge (2010), S. 37 ff.; D. Vogelsang, DB 1990, 1329 f. 1169 Diesen Ausdruck verwendet O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 634. 1170 Erhöhung durch das Gesetz zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung von 1989; zum Erwägungsgrund BT-Drs. 11/3618, S. 10. 1171 BAG, Beschl. v. 7. 12. 1988 – 7 ABR 10/88, AP BetrVG 1972 § 19 Nr. 15. 1172 BAG, Urt. v. 17. 1. 1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1125. 1173 BAG, Urt. v. 23. 11. 1988 – 7 AZR 121/88, NZA 1989, 433, 435; vgl. BT-Drs. 14/5741, S. 39.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Dass die Amtsausübung des einmal gewählten Gremiums nicht nur von betrieblichen Veränderungen, sondern auch vom Ausscheiden einzelner Mitglieder unabhängig sein soll, demonstriert § 25 BetrVG:1174 Scheidet ein Mitglied des Betriebsrats aus, rückt ein Ersatzmitglied aus der Vorschlagsliste des zu ersetzenden Mitglieds nach. Ist eine Vorschlagsliste erschöpft, ist das Ersatzmitglied derjenigen Vorschlagsliste zu entnehmen, auf die nach den Grundsätzen der Verhältniswahl der nächste Sitz entfallen würde. Ist das ausgeschiedene Mitglied nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl gewählt, bestimmt sich die Reihenfolge der Ersatzmitglieder nach der Höhe der erreichten Stimmenzahlen. An diesem Prozess ist problematisch, dass das Nachrücken eines Ersatzmitglieds im Fall der Listenerschöpfung oder der Mehrheitswahl die Mehrheitsverhältnisse im Betriebsrat wider den ursprünglichen Wählerwillen verschieben und die demokratische Legitimation des Gremiums schwächen kann.1175 Unabhängig davon führt der Wechsel eines Betriebsratsmitglieds oft zu Effizienzverlusten: Ein neues Mitglied muss sich Kenntnisse und Erfahrungen erst erarbeiten und sich organisatorisch in das Gremium einfügen.1176 Aus diesen Gründen ergänzt das BetrVG den Schutz der funktionellen Kontinuität des Betriebsrats um den Schutz der personellen Kontinuität:1177 Spezifische Mandatsschutzvorschriften gewährleisten, dass der Betriebsrat während seiner Amtszeit gerade auch in der gewählten personellen Zusammensetzung tätig bleibt.1178 § 78a BetrVG gewährleistet nach Ansicht des BAG neben dem Schutz vor Benachteiligungen wegen der Amtsführung auch die Ämterkontinuität.1179 Ausschließlich der Ämterkontinuität dient § 64 III BetrVG.1180 Für das Prinzip der personellen Kontinuität der Betriebsratsarbeit sind schließlich § 103 BetrVG und § 15 KSchG paradigmatisch, die gemeinsam gewährleisten, dass ein Betriebsratsmandat nur mit wichtigem Grund durch eine Arbeitgeberkündigung oder Versetzung beendet werden kann. Indem das Gesetz nicht bloß maßregelnde 1174 B. Boemke, in: FS Windbichler (2020), (Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat, S. 191, 193; O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 634; A. Schleusener, DB 1998, 2368, 2370. 1175 BAG, Urt. v. 18. 10. 2000 – 2 AZR 494/99, NZA 2001, 321, 323; B. Boemke, in: FS Windbichler (2020), (Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat, S. 191, 195 f.; O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 635. 1176 H. Oetker, RdA 1990, 343, 355; a. A. A. Schleusener, DB 1998, 2368, 2370, der eine „derart generalisierende Annahme“ als „rein hypothetisch“ bezeichnet. 1177 Diesen Ausdruck verwendet z. B. B. Boemke, in: FS Windbichler (2020), (Organ-) Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat, S. 191, 193. 1178 BAG, Urt. v. 18. 10. 2000 – 2 AZR 494/99, NZA 2001, 321, 323; B. Boemke, in: FS Windbichler (2020), (Organ-)Kontinuität im Betriebsverfassungsrecht – oder: der ewige Betriebsrat, S. 191, 192 f.; O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 635. 1179 BAG, Beschl. v. 16. 7. 2008 – 7 ABR 13/07, NZA 2009, 202, 204 (Rn. 20). 1180 Statt aller z. B. Richardi/G. Annuß, § 64 BetrVG Rn. 26.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Kündigungen verbietet, sondern jede Kündigung oder Versetzung, die nicht durch wichtige Gründe (vgl. § 626 I BGB i. V. m. § 15 I KSchG, § 103 II BetrVG) bzw. dringende betriebliche Gründe (vgl. § 103 III 2 BetrVG) gerechtfertigt ist, wird über den Schutz der Unabhängigkeit der Amtsträger:innen hinaus auch die Stetigkeit der Arbeitnehmervertretung für die Dauer der Wahlperiode gesichert.1181 Die Sicherung der personellen Kontinuität ist daher ein der Betriebsverfassung immanentes Strukturprinzip, das gegen die Beendigung von Betriebsratsmandaten vor Ablauf der Amtszeit spricht. Fortsetzungsansprüche von Betriebsratsmitgliedern nach Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses würde die Verwirklichung dieses Prinzips fördern. (2) § 78 S. 2 BetrVG als Ausprägung des Kontinuitätsprinzips Mit diesem Befund steht aber noch nicht fest, dass auch § 78 S. 2 BetrVG diesem Strukturprinzip entsprechend auszulegen ist und dadurch eine Ähnlichkeit mit dem vom AGG verfolgten individuellen Schutzzweck ausscheidet. Eine solche Annahme setzt voraus, dass § 78 S. 2 BetrVG selbst die sachliche und personelle Kontinuität der Betriebsratsarbeit schützt, wie es das BAG in seiner Entscheidung vom 25. Juni 2014 behauptet: Die Vorschrift habe „insoweit eine vergleichbare Funktion wie andere betriebsverfassungsrechtliche Schutzbestimmungen, die – wie etwa § 15 I 1 KSchG, § 103 BetrVG und § 78a BetrVG – nicht nur die Unabhängigkeit der Mandatsträger, sondern auch die Kontinuität der Betriebsratsarbeit sichern.“1182 Mit dieser These hat das BAG argumentatives Neuland betreten: Herkömmlicherweise wurde § 78 S. 2 BetrVG eine allein individualschützende Dimension beigemessen; nur das Behinderungsverbot in § 78 S. 1 BetrVG sollte auch den Betriebsrat als Gremium schützen. Dementsprechend haben Rechtsprechung und Literatur § 78 S. 2 BetrVG auch stets nur den Zweck beigemessen, die Unabhängigkeit der Betriebsratsmitglieder zu schützen. Diese Unterscheidung verwischt das BAG, indem es zur Herleitung der gremienschützenden Dimension von § 78 S. 2 BetrVG ausschließlich auf Literatur und Rechtsprechung zu S. 1 und der Vorgängervorschrift § 53 BetrVG 1952 verweist,1183 obwohl bereits dort unterschieden wurde zwischen dem Verbot, den Betriebsrat und seine Mitglieder zu stören oder zu behindern und dem Verbot, die Mitglieder des Betriebsrats zu benachteiligen oder zu benachteiligen.1184 Dass § 78 S. 2 BetrVG auch den Kontinuitätsschutz bezweckt, zeigt sich nach Ansicht Rickens daran, „dass die hierin enthaltenen Verbote, etwa durch den be1181 St. Rspr. BAG, Urt. v. 27. 6. 2019 – 2 AZR 28/19, NZA 2019, 1427, 1430 (Rn. 33); BAG, Urt. v. 26. 11. 2009 – 2 AZR 185/08, NZA 2010, 443, 444 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 23. 1. 2002 – 7 AZR 611/00, NZA 2002, 986, 987 f.; BAG, Urt. v. 20. 12. 1984 – 2 AZR 3/84, NZA 1986, 325, 328; vgl. auch BT-Drs. 14/5741, S. 28, 55. 1182 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 33). 1183 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 f. (Rn. 32). 1184 Vgl. Dietz/R. Dietz, Betrebsverfassungsgesetz, § 53 BetrVG 1952.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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sonderen Kündigungsschutz im Rahmen der Betriebsverfassung gem. § 103 BetrVG und § 15 KSchG konkretisiert werden und § 78 BetrVG als subsidiär zu diesen Sonderregelungen gilt. Wenn aber der Kündigungsschutz der Mandatsträger gerade der Kontinuität der Betriebsratsarbeit dient, spricht viel dafür, dass dies auch für § 78 BetrVG gilt.“1185 Dieser Schluss vom Speziellen aufs Allgemeine ist allerdings mehr Hypothese als Beweis; die umgekehrte Schlussfolgerung ist nämlich ebenso denkbar: dass § 78 S. 2 BetrVG den Schutz der Ämterkontinuität gerade nicht gewährleistet und der Gesetzgeber dieses Anliegen durch spezielle Vorschriften verfolgt, die, indem sie den Beibehalt des Mandats sichern insoweit auch vor Maßregelungen i. S. v. § 78 S. 2 BetrVG schützen. Für die letztgenannte Sichtweise sprechen sogar die besseren Gründe: § 15 KSchG und §§ 103, 78a BetrVG setzen allesamt keinen Kausalitätszusammenhang zwischen dem Betriebsratsmandat und dem Grund für die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oder einer Versetzung voraus: Der Bestand des Arbeitsverhältnisses (im Betrieb) wird unabhängig davon geschützt, ob Arbeitgeber:innen die Arbeitnehmer:innen auch ohne Anknüpfung an das Betriebsratsmandat gekündigt oder versetzt hätten. Der Ausschluss einer ordentlichen Kündigung oder Versetzung überkompensiert also die mit dem Betriebsratsamt einhergehende Gefahr einer Maßregelung zugunsten der Betriebsratskontinuität. Ihr Schutzmaß geht damit deutlich über § 78 S. 2 BetrVG hinaus,1186 der durch das Zusammenspiel von Begünstigungs- und Benachteiligungsverbot nämlich „nur“ gewährleistet, dass ein Betriebsratsmitglied genauso behandelt wird, wie es ohne Mandat behandelt werden würde. Diese abstrakte Bilanz wird durch eine konkrete Betrachtung der Vertragsfortsetzung als Anwendungsfall von § 78 S. 2 BetrVG bestärkt: Nach Auffassung des BAG und der herrschenden Ansicht in der Literatur beinhaltet das BetrVG nicht die Pflicht, befristete Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern generell zu entfristen.1187 Sieht man von den Fällen der Arbeitgeberkündigung ab, erkennt das BetrVG in § 24 I Nr. 3 BetrVG die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses als Grund für die Beendigung des Betriebsratsmandats an.1188 Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit Fristablauf ist insbesondere auch mit der zu § 15 V KSchG entwickelten Rechtsauffassung des BAG vereinbar: Im Jahr 2010 hat das Gericht entschieden, dass der Schutz der Ämterkontinuität gem. § 15 KSchG nur beinhalte, das „Arbeitsverhältnis mit den bestehenden vertraglichen Verpflichtungen“ zu erhalten. Arbeitgeber:innen seien aber nicht dazu verpflichtet, Arbeitnehmer:innen durch Beförderung eine Rechtsposition anzubieten, die ihnen ohne Betriebsrats1185 O. Ricken, in: FS 100 Jahre BetrVR (2020), Kontinuität des Betriebsrats als Strukturprinzip der Betriebsverfassung, S. 629, 636. Ein Spezialitätsverhältnis von § 78 S. 2 BetrVG und §§ 15 KSchG, 103 BetrVG, 78a BetrVG nehmen z. B. auch APS/R. Künzl, § 78 BetrVG Rn. 3; Richardi/G. Thüsing, § 78 BetrVG Rn. 3 an. 1186 Vgl. auch GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 5: Der Schutz der Funktionsträger wird „verstärkt und konkretisiert“. 1187 Siehe oben 4. Kap. C. IV. 1188 Vgl. BAG, Urt. v. 20. 12. 1984 – 2 AZR 3/84, NZA 1986, 325, 328.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
mandat nicht zugestanden hätte. Ansonsten würde der vom Gesetzgeber „angestrebte Ausgleich zwischen dem Interesse der Belegschaft an der Amtskontinuität des Betriebsrats einerseits und den berechtigten wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers sowie seiner durch Art. 12 I GG gewährleisteten Berufsausübungsfreiheit andererseits“ verfehlt und das Betriebsratsmitglied wider § 78 S. 2 Hs. 1 BetrVG begünstigt. „Für eine so weitreichende Besserstellung des Mandatsträgers bietet das Ziel der Sicherung der Amtskontinuität keine hinreichende Grundlage.“1189 Die pauschale Entfristung der Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern würde über die Erhaltung des Status quo hinausgehen; die nur zeitlich begrenzt vereinbarten vertraglichen Verpflichtungen würden über das Fristende hinaus ausgedehnt und Arbeitnehmer:innen eine Rechtsposition erhalten, die sie ohne ihr Mandat nicht erhalten hätten. Die Entfristung ihrer Arbeitsverhältnisse stellt außerdem eine rechtswidrige Begünstigung dar, da sie jedenfalls nach Ablauf der Amtszeit nicht mehr dem Kontinuitätsprinzip Rechnung trägt, insofern also überschießend ist.1190 Wenn aber befristete Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern grundsätzlich mit Fristablauf enden und das Betriebsratsmandat gem. § 24 Nr. 3 BetrVG erlischt, ist das Prinzip der Ämterkontinuität ohnehin durchbrochen. Da die Ämterkontinuität nicht die Fortsetzung jedes befristeten Arbeitsverhältnisses gebietet, kann nichts anderes im Anwendungsbereich von § 78 S. 2 BetrVG gelten. Ansonsten ergäbe sich die paradoxe Konsequenz, dass die personelle Kontinuität von befristet beschäftigten Betriebsratsmitgliedern nur dann geschützt wird, wenn Arbeitgeber:innen sie gerade wegen ihrer Betriebsratsmitgliedschaft nicht weiterbeschäftigen wollen. Hinzu kommt, dass eine Anwendung von § 78 S. 2 BetrVG die Ämterkontinuität auch gar nicht zufriedenstellend gewährleisten kann: Unterlassen Arbeitgeber:innen den Abschluss eines befristeten Folgearbeitsvertrags aus maßregelnden Gründen, sind Ansprüche der Arbeitnehmer:innen gem. §§ 280 I, 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB nur auf Abschluss dieses unterlassenen Vertrags gerichtet. Bleibt die Länge seiner Befristung hinter der Amtszeit des Gremiums zurück, wird die Beeinträchtigung der personellen Kontinuität durch Fortsetzungsansprüche nicht verhindert, sondern nur verzögert.1191 Es sprechen damit überzeugende Gründe gegen einen kontinuitätsschützenden Regelungszweck von § 78 S. 2 BetrVG. Die Vorschrift schützt die innere Unabhängigkeit von Betriebsratsmitgliedern, die ihr Amt ohne Angst vor Repressalien ausüben sollen. Der Schutz der personellen Kontinuität kann als Strukturprinzip des BetrVG argumentativ für die Annahme von Fortsetzungsansprüchen in die Waagschale fallen; eine vergleichbare Interessenlage von § 78 S. 2 BetrVG und §§ 7 I, 1 AGG kann aber nicht unter Verweis auf einen vermeintlichen gremienbezogenen 1189
BAG, Urt. v. 23. 2. 2010 – 2 AZR 656/08, NZA 2010, 1288, 1291 f. (Rn. 43 f.). LAG Hessen, Urt. v. 8. 5. 2000 – 16 Sa 998/99, BeckRS 2000, 30878836; O. Ricken, SAE 2003, 55, 58; B. Schiefer, RdA 2003, 46; offen gelassen von BAG, Urt. v. 23. 1. 2002 – 7 AZR 611/00, NZA 2002, 986, 988. 1191 U. Pallasch, RdA 2015, 108, 113. 1190
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Schutzzweck von § 78 S. 2 BetrVG verneint werden.1192 Für andere Maßregelungsverbote, die die Ausübung von Ämtern in einem Gremium schützen, gilt dies entsprechend. cc) Entscheidender Vergleich: Diskriminierungsschutz und Schutz der Willensfreiheit Ob die in § 15 VI AGG getroffene gesetzgeberische Abwägung, dass die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen die Arbeitnehmerinteressen überwiegt, wenn nicht ausnahmsweise Bestandsinteressen betroffen sind, auch für die Rechtsfolgen verbotener Maßregelungen gilt, kann also nur durch einen Vergleich der zutreffend ermittelten Regelungszwecke beurteilt werden. Eine Vergleichbarkeit kann nicht bereits aufgrund eines Erst-Recht-Schlusses bejaht und nicht aufgrund eines gremienbezogenen Schutzzwecks verneint werden. Stattdessen ist zu prüfen, ob das Regelungsziel der Maßregelungsverbote, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen zu schützen und damit zugleich die hinter den ausgeübten Rechten stehenden Interessen zu effektuieren, mit dem Zweck der Diskriminierungsverbote gem. §§ 7 I, 1 I AGG in allen Aspekten vergleichbar ist, die für und wider Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge eines Verstoßes sprechen. Dann ist davon auszugehen, dass der – idealiter kohärent und konsequent handelnde – Gesetzgeber eine § 15 VI AGG entsprechende Regelung auch für die Maßregelungsverbote vorgesehen hätte, hätte er die Situation der maßregelnden Vertragsverweigerung vor Augen gehabt. Mit § 15 VI AGG hat der Gesetzgeber vor allem Interessen an einem persönlichkeitsrechtskonformen und gleichberechtigten Zugang zu einem neuen Arbeitsverhältnis gegen die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen abgewogen. Die Teilhabe strukturell ausgegrenzter Gruppen am Arbeitsmarkt wird danach nur durch Verbote und eine finanzielle Ersatzpflicht verwirklicht. Dadurch bleibt das Schutzniveau des AGG hinter seinem Optimum zurück: Die materiale Gleichheit, Arbeitsplatzwahlfreiheit und Integrität der Arbeitnehmer:innen würden durch eine vollständige Beseitigung oder Rückgängigmachung der diskriminierenden Vertragsverweigerung nämlich am effektivsten geschützt. Da ein mittelbarer Kontrahierungszwang gem. §§ 15 I, II, VI AGG die Teilhabe strukturell ausgegrenzter Personen aber jedenfalls fördert, liegt dem Gesetz insgesamt ein kohärentes und effektives Schutzkonzept zugrunde. Im Gegensatz dazu schützen Maßregelungsverbote nicht die zukünftige Teilhabe am Arbeitsleben, sondern die Subjektstellung von Arbeitnehmer:innen im bisherigen Arbeitsverhältnis. Fortsetzungsansprüche würden nicht primär das Interesse von Arbeitnehmer:innen an einem (fortgesetzten) Zugang zum Arbeitsplatz, sondern retrospektiv ihre Willensfreiheit im befristeten Arbeitsverhältnis schützen. Damit sind verschiedene Schutzzwecke betroffen. Arbeitnehmer:innen können nur dann frei über die Ausübung individueller Rechte entscheiden und ihnen übertragene 1192
So aber BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 34).
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Ämter unabhängig ausüben, wenn sie keine Nachteile zu befürchten haben. Die Willensfreiheit wird durch halbherzige Benachteiligungsverbote nicht teilweise geschützt, sondern entweder ganz oder gar nicht. Anders gewendet: Würden befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen Gefahr laufen, aufgrund einer verbotenen Maßregelung keinen Folgearbeitsvertrag, sondern eine finanzielle Kompensation zu erhalten, ist eine Rechtsausübung im befristeten Arbeitsverhältnis ein Risiko für Arbeitnehmer:innen, die an einer Weiterbeschäftigung nach Fristablauf interessiert sind. Ein finanzieller Schadensersatzanspruch schützt ihre Willensfreiheit dann nicht ein bisschen, sondern gar nicht: Er führt nämlich dazu, dass sie zwischen ihren materiellen und immateriellen Interessen an einer Rechtsausübung und dem Interesse an einer Vertragsfortsetzung gegenüber Schadensersatz in Geld abwägen müssen. Damit ist ihre Entscheidung nicht mehr frei. Damit Maßregelungsverbote im befristeten Arbeitsverhältnis überhaupt wirken, muss die maßregelnde Verweigerung eines Anschlussvertrags durch die Anerkennung von Fortsetzungsansprüchen beseitigt werden. Das gilt nicht nur dann, wenn Arbeitnehmer:innen nach oben skizzierten Kriterien1193 Stabilitätsinteressen entwickelt haben: Für den Schutz der Willensfreiheit kommt es nämlich – anders als bei den Schutzzwecken des AGG – nicht auf einen qualitativen Unterschied zwischen Zugangs- und Bestandsinteressen an. Schon dann, wenn Arbeitnehmer:innen nur hoffen, nach Fristablauf weiterbeschäftigt zu werden, kann die Angst vor einer Maßregelung erheblichen Druck ausüben, da Arbeitsverhältnisse die bereits mehrfach beschriebenen wirtschaftlichen und immateriellen Bedürfnisse von Arbeitnehmer:innen erfüllen. Dieser Druck mag zwar ansteigen, wenn mit zunehmender Dauer des Arbeitsverhältnisses oder der Erwartung einer Vertragsfortsetzung auch das Interesse am Fortbestand des innegehabten Arbeitsplatzes gegenüber einer finanziellen Kompensation wächst; auch unterhalb dieser Schwelle kann die Aussicht, aufgrund einer Rechtsausübung keinen Anschlussvertrag zu erhalten, die Willensfreiheit befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen, auf die es bei der Auslegung der Maßregelungsverbote ankommt, aber stark beeinträchtigen. Eine Regelungslücke der Maßregelungsverbote kann also nur unter der Prämisse angenommen werden, dass der Gesetzgeber die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen auch um den Preis schützen möchte, dass Arbeitnehmer:innen im befristeten Arbeitsverhältnis nicht frei und unabhängig darin sind, ihre Rechte auszuüben. Da Diskriminierungs- und Maßregelungsverbote in wesentlichen Aspekten unterschiedlich sind, kann dem Gesetzgeber die Inkaufnahme eines derartigen Schutzdefizits jedenfalls nicht durch eine Verallgemeinerung von § 15 VI AGG unterstellt werden; er müsste sie stattdessen ausdrücklich selbst anordnen. Der fehlende Ausschluss eines Kontrahierungszwangs stellt sich im Kontext der Maßregelungsverbote daher nicht als planwidrig dar. Eine analoge Anwendung § 15 VI AGG lässt sich nicht überzeugend aus dem Gesetz selbst begründen und wäre daher eine kompetenzwidrige Eigenwertung der Rechtsanwender. 1193
6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (aa).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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3. Ergebnis: Kein Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen analog § 15 VI AGG § 15 VI AGG ist mangels Regelungslücke nicht auf die Rechtsfolgen verbotener Maßregelungen anwendbar. Das gilt für sämtliche Maßregelungsverbote, da sie mit dem Schutz der Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen und dem Flankenschutz der ausgeübten Arbeitnehmerrechte dieselben Schutzzwecke verfolgen. Diese Schutzzwecke sind nicht weniger gewichtig als die Regelungsziele des AGG und gleichzeitig insoweit kompromissloser, als sie durch den Ausschluss von Fortsetzungsansprüchen im befristeten Arbeitsverhältnis ihre Wirkung verlieren. Dass die Maßregelungsverbote planwidrig keinen § 15 VI AGG entsprechenden Ausschluss enthalten, ist aus dem Zweck der Vorschriften daher nicht begründbar. Unterlassen Arbeitgeber:innen ausschließlich aus maßregelnden Gründen die Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses, haben die gemaßregelten Arbeitnehmer:innen Fortsetzungsansprüche gem. §§ 280 I, 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB.
D. Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung Abschließend ist zu prüfen, ob die Annahme von Fortsetzungsansprüchen als Schadensersatz gem. § 249 I BGB i. V. m. § 15 I AGG oder § 280 I BGB oder als Beseitigungsanspruch analog § 1004 I BGB die Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Legislative wahrt. Das BAG hat in den letzten Jahren mehrfach geurteilt, dass die Entscheidung des Gesetzgebers, dass „gegen den Willen einer oder auch beider Parteien kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis begründet werden soll […], im Gesetz einen hinreichenden Ausdruck finden“ müsse, damit die Gerichte das Gesetz entsprechend auslegen und anwenden dürften.1194 Damit wendet das Gericht das aus dem Demokratieprinzip und dem Gewaltenteilungsgrundsatz fließende Gebot an, dass der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen in grundlegenden normativen Bereichen auch selbst treffen muss und nicht anderen Gewalten überlassen darf.1195 Dieses Wesentlichkeitsgebot reichert den Regelungsvorbehalt in Art. 12 I 2 GG, nach dem Eingriffe in die Berufsfreiheit auf eine gesetzliche Grundlage zurückzuführen sein müssen, qualitativ an:1196 Die Regelung muss
1194 BAG, Urt. v. 10. 12. 2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196, 199 (Rn. 31); BAG, Urt. v. 2. 6. 2010 – 7 AZR 946/08, NZA 2011, 351, 354 (Rn. 33); BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 100/ 99, NZA 2000, 1160, 1161: ähnlich BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301 (Rn. 16): „Die Grundsätze der Gewaltenteilung sowie der Gesetzesbindung gebieten es, ohne ausreichende gesetzliche Grundlage die richterrechtliche Schöpfung eines derartigen Anspruchs zu unterlassen.“ 1195 Grundlegend BVerfG, Urt. v. 8. 4. 1997 – 1 BvR 48/94, NJW 1997, 1975, 1977; BVerfG, Beschl. v. 8. 8. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359, 360. 1196 BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809, 810.
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
„Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen“ lassen.1197 Es kommt insofern auch zu Überschneidungen mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz,1198 nach dem die Vorgaben des Gesetzgebers so konkret formuliert sein müssen, dass die Gerichte eine wirksame Rechtskontrolle durchführen und die betroffenen Normadressaten sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen können.1199 Der Maßstab dafür, dass der Gesetzgeber in einer Regelung alle wesentlichen Entscheidungen mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck gebracht hat, ist fließend: Die Anforderungen an Regelungsdichte und -bestimmtheit steigen proportional mit der Eingriffsintensität.1200 Als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Fortsetzungsansprüche dient die bereits angesprochene BAG-Judikatur: Das BAG hatte den Übergang eines Arbeitsvertrags zwischen einem entliehenen Arbeitnehmer und seinem Entleiher analog § 10 I 1 AÜG für den Fall, dass der Leiharbeitnehmer nicht nur vorübergehend überlassen wurde, abgelehnt.1201 Als untaugliche Grundlage für den Übergang eines Leiharbeitsverhältnisses beurteilte das Gericht auch § 1 II AÜG, der (damals wie heute) nur die Vermutungsregelung enthält, dass ein Unternehmer unter bestimmten Voraussetzungen Arbeitsvermittlung betreibt.1202 Außerdem hat das Gericht den Anspruch eines Lehrers auf Vertragsübernahme gegen die Stadtgemeinde Bremen abgelehnt: Ein solcher Anspruch könne nicht darauf gestützt werden, dass seine Beschäftigung in öffentlichen Bremer Schulen gegen schulrechtliche Vorschriften verstößt. Ein solcher Verbotsverstoß habe allenfalls ein Beschäftigungsverbot zur Folge, aber nicht die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses.1203 Schließlich entbehre die richterliche Anerkennung eines Wiedereinstellungsanspruchs bei Konventionsverletzung durch ein rechtskräftiges klageabweisendes Urteil im Kündigungsschutzverfahren einer gesetzlichen Grundlage.1204 In sämtlichen beschriebenen Fällen hat das BAG also die Begründung eines Arbeitsverhältnisses im Wege der freien Rechtsfortbildung abgelehnt. Dieser Befund stimmt mit den Anforderungen des BVerfG an „Berufsregelungen durch Gesetz“ i. S. v. Art. 12 I 2 GG überein: Bedenklich sei beispielsweise, wenn ein Gericht „einen neuen allgemeinen 1197 BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 1992 – 1 BvR 298/86, NJW 1992, 2621, 2622; BVerfG, Beschl. v. 12. 6. 1990 – 1 BvR 355/86, NJW 1990, 2306, 2307. 1198 Vgl. zu dieser Verschränkung BVerfG, Beschl. v. 7. 3. 2017 – 1 BvR 1694/13 u. a., NVwZ 2017, 1111, 1123 (Rn. 182). 1199 BVerfG, Beschl. v. 7. 3. 2017 – 1 BvR 1694/13 u. a., NVwZ 2017, 1111, 1116 f. (Rn. 125). 1200 St. Rspr. zum Bestimmtheitsgebot z. B. BVerfG, Urt. v. 24. 7. 2018 – 1 BvR 309/15 u. a., NJW 2018, 2619, 2622 (Rn. 77); zum Wesentlichkeitsgebot BVerfG, Beschl. v. 7. 3. 2017 – 1 BvR 1694/13 u. a., NVwZ 2017, 1111, 1116 f. (Rn. 125); BVerfG, Beschl. v. 25. 3. 1992 – 1 BvR 298/86, NJW 1992, 2621, 2622. 1201 BAG, Urt. v. 10. 12. 2013 – 9 AZR 51/13, NZA 2014, 196, 199 (Rn. 30 f.). 1202 BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 100/99, NZA 2000, 1160, 1161. 1203 BAG, Urt. v. 2. 6. 2010 – 7 AZR 946/08, NZA 2011, 351, 354 (Rn. 33). 1204 BAG, Urt. v. 20. 10. 2015 – 9 AZR 743/14, NZA 2016, 299, 301 (Rn. 16).
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
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Rechtssatz aufstellen“ wolle, um Grundrechtsbeschränkungen vorzunehmen,1205 oder wenn es Rechtsnormen „lediglich unter Berufung auf Sinn, Zweck und Grundgedanken einzelner Gesetzesbestimmungen gewinnt“.1206 Der hier diskutierte Fortsetzungsanspruch ist keine derart schöpferische Rechtsfindung der Gerichte, sondern das Ergebnis einer Auslegung von Verbotstatbeständen in Verbindung mit herkömmlichen Sekundäransprüchen: Dass der Verstoß gegen privatrechtliche Verbotsvorschriften Schadens- und Beseitigungsansprüche auslösen kann, ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts. Die Schlussfolgerung, dass Arbeitgeber:innen die diskriminierende oder maßregelnde Verweigerung von Folgearbeitsverträgen durch Abschluss dieser Verträge zu kompensieren haben, ist damit eine dem bürgerlichen Recht immanente Rechtsfolge. Mit dem Ergebnis, dass Fortsetzungsansprüche keine richterliche Rechtsschöpfung sind, die als Regelung i. S. v. Art. 12 I 2 GG grundsätzlich ausscheidet, ist aber noch nicht gesagt, ob der Gesetzgeber solche Ansprüche ausdrücklich hätte normieren müssen oder spiegelbildlich: ob die Gerichte mit der Herleitung von Fortsetzungsansprüchen gem. §§ 280 I BGB, 15 I AGG oder analog § 1004 BGB in wesentliche Entscheidungskompetenzen des Gesetzgebers eingreifen würden. Dagegen spricht erstens, dass der Gesetzgeber die „wesentlichen Entscheidungen in grundlegenden normativen Bereichen“ mit dem Erlass der Diskriminierungs- und Maßregelungsverbote selbst getroffen hat. Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, führen Fortsetzungsansprüche nur dazu, dass der mit den Verboten einhergehende Verhaltensimperativ tatsächlich durchgesetzt wird.1207 Mit dem Erlass der Verbote hat der Gesetzgeber daher die entscheidende Weichenstellung getroffen, die Vertragsfreiheit von Arbeitgeber:innen zu beschränken. Außerdem handelt es sich bei Fortsetzungsansprüchen nur um Berufsausübungsregelungen, sodass die Anforderungen an Regelungsdichte und -bestimmtheit als nicht sehr hoch einzustufen sind. Schließlich entspricht es der ständigen Verfassungsrechtsprechung, dass sich Grundrechtseingriffe „nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes ergeben“ müssen, sondern es genügt, „dass sie sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen.“1208 Insbesondere kann sich auch aus einer „Gesamtregelung unter Berücksichtigung ihrer Auslegung in Rechtsprechung und Schrifttum eine hinreichend erkennbare und bestimmte, den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügende Regelung der Berufsausübung ergeben.“1209 Diesen 1205
BVerfG, Beschl. v. 11. 6. 1963 – 1 BvR 156/63, NJW 1963, 1171 f. BVerfG, Beschl. v. 14. 2. 1973 – 2 BvR 667/72, NJW 1973, 696, 697. 1207 6. Kap. C. II. 5. a) bb) (1) (b) (cc). 1208 BVerfG, Beschl. v. 7. 3. 2017 – 1 BvR 1694/13 u. a., NVwZ 2017, 1111, 1123 (Rn. 182); BVerfG, Beschl. v. 12. 6. 1990 – 1 BvR 355/86, NJW 1990, 2306, 2307; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 6. 12. 2011 – 1 BvR 2280/11, NJW 2012, 993 (Rn. 19); zustimmend z. B. von Münch/ Kunig/J. A. Kämmerer, Art. 12 GG Rn. 83; Maunz/Dürig/R. Scholz, Art. 12 GG Rn. 333. 1209 BVerfG, Urt. v. 1. 7. 1980 – 1 BvR 23/75, NJW 1980, 1900, 1901. 1206
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
Anforderungen entspricht die hier vertretene dogmatische Herleitung von Fortsetzungsansprüchen: Dass sowohl Schadensersatzansprüche im Wege der Naturalrestitution als auch quasinegatorische Beseitigungsansprüche auf den Abschluss eines Vertrags gerichtet sein können, ist im allgemeinen Zivilrecht seit langer Zeit anerkannt.1210 Damit besteht auch nicht die Gefahr, dass Fortsetzungsansprüche für die Gerichte schwer handhabbar und für die Praxis unvorhersehbar sein könnten. Die in diesem Kapitel herausgearbeiteten Fortsetzungsansprüche gem. § 249 I BGB i. V. m. § 15 I AGG oder § 280 I BGB sowie analog § 1004 I 1 BGB wahren das verfassungsrechtliche Bestimmtheits- und das Wesentlichkeitsgebot. Mit einer entsprechenden Rechtsanwendung würden die Gerichte ihre Kompetenzen nicht überschreiten, sondern von ihrer Befugnis Gebrauch machen, das Recht gemäß der anerkannten Auslegungsmethoden anzuwenden.
E. Ergebnisse des sechsten Kapitels Eine dogmatische Untersuchung des zivilrechtlichen Anspruchssystems hat ergeben, dass eine verbotene Diskriminierung oder Maßregelung grundsätzlich analog § 1004 I 1 BGB zu beseitigen ist oder, falls bereits Schäden eingetreten sind, als Naturalrestitution gem. § 249 I BGB rückgängig zu machen ist. Diese Ansprüche sind auf die Abgabe eines Vertragsangebots gerichtet, wenn Arbeitgeber:innen eine Vertragsfortsetzung ausschließlich aus diskriminierenden oder maßregelnden Gründen unterlassen haben. Fortsetzungsansprüche sind also die konsequente Rechtsfolge arbeitsrechtlicher Verbotsvorschriften und nicht etwa eine kompetenzwidrige Rechtsschöpfung der Rechtsanwender. Ein Fortsetzungsanspruch als Rechtsfolge verbotener Benachteiligungen ist nur ausgeschlossen, soweit § 15 VI AGG einen Kontrahierungszwang ausschließt. Die – bislang, soweit ersichtlich, erste – sorgfältige Analyse der Historie und des Telos von § 15 VI AGG zeigt, dass die Handhabung der Vorschrift so schwierig ist und zu so kontroversen Ergebnissen führt, weil die Gesetzesbegründung unpräzise formuliert ist: Dass ein Einstellungsanspruch „einen unzulässigen Eingriff in den Grundsatz der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers darstellen würde“ wird ohne nähere Erläuterung behauptet, sodass über die hinter dieser Beurteilung stehenden Erwägungen gemutmaßt werden kann und muss. Die Unschärfe der ratio legis ermöglicht der Rechtsprechung und der Literatur, ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie weit die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen zu schützen ist und wie sie sich zu den distributiven Schutzanliegen des AGG und dem Arbeitnehmerschutz der Maßrege-
1210 Siehe z. B. die Nachweise in Fn. 734. Daher wird auch der Diskurs über Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge diskriminierender Vertragsverweigerungen im zivilrechtlichen Teil des AGG ohne Hinweis auf kompetenzielle Zweifel geführt, siehe die Nachweise in 6. Kap. Fn. 175.
6. Kap.: Rechtsfolgen der benachteiligenden Nichtfortsetzung
469
lungsverbote verhält, als verfassungsrechtlich vorgegebene oder gesetzgeberische verallgemeinerbare Wertentscheidung zu kleiden. Eine verfassungsrechtliche Analyse des hinter § 15 VI AGG stehenden Interessenkonflikts hat aber eindeutig ergeben, dass Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge von Diskriminierungen gem. § 15 I AGG i. V. m. § 249 I BGB oder analog § 1004 BGB unter den dortigen Voraussetzungen verfassungskonforme, da durch legitime Ziele gerechtfertigte Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen wären. Dass die Pflicht, Arbeitnehmer:innen wider die eigenen Stigmen und Wirtschaftlichkeitserwägungen zu beschäftigen, angemessen ist, hat der Gesetzgeber bereits durch den Erlass der sanktionsbewehrten Diskriminierungsverbote abschließend beurteilt. Die Eingriffswirkungen des Kontrahierungszwangs als Mittel der Verbotsdurchsetzung wären durch überwiegende Gemeinwohlinteressen – die Herstellung materialer Gleichheit, den Schutz der Persönlichkeit und den Schutz der Arbeitsplatzwahlfreiheit – gerechtfertigt. Mit § 15 VI AGG hat der Gesetzgeber also keine zwingenden Verfassungsvorgaben umgesetzt, sondern eine Interessenabwägung innerhalb seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums getroffen. Erst auf Grundlage dieses Befunds kann die Reichweite der Vorschrift erfasst werden. Eine Untersuchung der rechtstatsächlichen Interessenlage bei Ablauf befristeter Arbeitsverhältnisse und des abgestuften Schutzniveaus von Zugangs- und Bestandsinteressen in der Arbeitsrechtsordnung hat ergeben, dass die in § 15 VI AGG getroffene Interessenabwägung grundsätzlich auch für Fortsetzungsansprüche gilt und diese daher ausgeschlossen sind. Das Störgefühl, dass einige Autoren bei diesem Ergebnis empfinden, ist richtigerweise nicht daran festzumachen, dass Arbeitgeber:innen weniger schutzwürdig als bei einem Einstellungsanspruch sind, sondern daran, dass befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen, die nach Fristablauf nicht weiter beschäftigt werden, unter Umständen mehr verlieren als Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen, die keinen neuen oder besseren Arbeitsplatz erhalten. Begrifflich und dogmatisch kann dieses gesteigerte Schutzbedürfnis mit dem Topos des Bestandsschutzes eingefangen werden. In diesem Kapitel wurde die These entwickelt, dass auch in wirksam befristeten Arbeitsverhältnissen materielle und immaterielle Stabilitätsinteressen von Arbeitnehmer:innen entstehen können, die durch eine Nichtfortsetzung der Arbeitsverhältnisse beeinträchtigt und durch Geldersatz nicht ausreichend kompensiert werden. Außerdem wurde gezeigt, dass diese Bestandsinteressen schutzwürdig sind, da das TzBfG sie nur gegen Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen abschließend abgewogen hat, nicht aber gegen das Interesse, Arbeitsverhältnisse aus diskriminierenden Gründen zu beenden. Schützenswerte Bestandsinteressen sind anzunehmen, wenn Arbeitnehmer:innen aufgrund einer mehr als zweijährigen Beschäftigungsdauer oder der Erwartung einer langfristigen Beschäftigung ein Interesse am Fortbestand des innegehabten Arbeitsplatzes haben, das über die durch eine Einstellung oder Beförderung betroffenen Zugangsinteressen hinausgeht. Da Befristungen bewiesenermaßen immer mehr zur Deckung eines langfristigen Beschäftigungsbedarfs eingesetzt werden und sich damit von dem hinter dem TzBfG stehenden Leitbild, die zeitlich begrenzte Be-
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3. Teil: Benachteiligungsverbote als Grenze der Vertragsfortsetzungsfreiheit
schäftigung von Arbeitnehmer:innen zu ermöglichen, entfernt haben, ist die Praxisrelevanz der beschriebenen Szenarien nicht zu unterschätzen. Ob Fortsetzungsansprüche auch in diesen Fällen unzulässige Eingriff in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen im Sinne der Gesetzesbegründung wären, kann nicht aus der in § 15 VI AGG manifestierten Abwägung deduziert werden. Die stattdessen notwendige verfassungsorientierte Auslegung ergibt, dass die Interessen am Fortbestand der Arbeitsverhältnisse die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen überwiegen, wenn Arbeitsverhältnisse ausschließlich aus diskriminierenden Gründen nicht fortgesetzt werden. § 15 VI AGG ist daher gepalten auszulegen: Fortsetzungsansprüche gem. §§ 15 I AGG, 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB sind im typischen befristeten Arbeitsverhältnis als „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ ausgeschlossen, aber im Wege der verfassungsorientierten Auslegung zu bejahen, wenn Arbeitnehmer:innen länger als zwei Jahre auf dem Arbeitsplatz beschäftigt waren oder Arbeitgeber:innen die schutzwürdige Erwartung einer Vertragsfortsetzung erzeugt haben. Auch die Generalisierung, dass § 15 VI AGG eine verallgemeinerbare gesetzgeberische Wertung enthalte, die auf andere Benachteiligungsverbote analog anzuwenden sei, ist eine verbotene Eigenwertung der Rechtsanwender:innen. Nimmt man die Schutzzwecke der Maßregelungsverbote und den Kontext befristeter Beschäftigungsverhältnisse ernst, liegt die fehlende Vergleichbarkeit von Diskriminierungs- und Maßregelungsverboten auf der Hand. Die Zwecke der Maßregelungsverbote, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung von individuellen Rechten oder von Mitwirkungsrechten zu schützen und dadurch zugleich die hinter den einzelnen Rechten stehenden Schutzzwecke zu effektuieren, liefen im befristeten Arbeitsverhältnis leer, wenn die Vertragsfortsetzung aufgrund einer zulässigen Rechtsausübung ausbleiben dürfte und Arbeitnehmer:innen auf Schadensersatz in Geld verwiesen würden. Mit einem solchen partiellen Schutz können die Maßregelungsverbote ihre Regelungsziele nicht verfolgen; dem Gesetzgeber kann daher nicht ohne weitere Anhaltspunkte unterstellt werden, er hätte Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge verbotener Maßregelungen ausgeschlossen, hätte er die Konstellation vor Augen gehabt. Arbeitnehmer:innen, die aus maßregelnden Gründen keinen Folgearbeitsvertrag erhalten haben, haben daher Fortsetzungsansprüche gem. §§ 280 I, 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB.
4. Teil
Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis 7. Kapitel
Pflicht- und Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem? A. Innere Entscheidungsgründe von Arbeitgeber:innen als Beweisproblem der Arbeitnehmer:innen Nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen muss im Prozess jede Partei die sie begünstigenden Tatsachen darlegen und beweisen. Arbeitnehmer:innen, die Ansprüche wegen der Nichtfortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse geltend machen – gerichtet auf Vertragsfortsetzung oder Schadensersatz in Geld –, müssen also die tatsächlichen Voraussetzungen der in den letzten Kapiteln untersuchten Begrenzungen der Vertragsfortsetzungsfreiheit gem. § 138 I ZPO vortragen. Machen sie Ansprüche aus einer vertraglichen Abrede geltend, müssen Arbeitnehmer:innen darlegen, dass sie mit ihren Arbeitgeber:innen einen Vorvertrag geschlossen haben oder sie das Verhalten der Arbeitgeber:innen nach ihrem Empfängerhorizont als rechtsgeschäftliche Erklärung verstehen durften, sich vorbehaltlos oder bei Eintritt einer spezifischen Bedingung zum Abschluss eines Folgearbeitsvertrags zu verpflichten.1 Um den Ersatz von Vertrauensschäden wegen der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen einzuklagen, müssen Arbeitnehmer:innen darlegen, dass ihre Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung ausdrücklich oder konkludent als sicher, und nicht nur wahrscheinlich hingestellt haben und dabei entweder über ihre Abschlussbereitschaft getäuscht oder den Vertragsschluss ohne triftigen Grund abgebrochen haben.2 Ansprüche auf Gleichbehandlung gemäß dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz setzen voraus, dass Arbeitgeber:innen nach einem kollektiven System über die Vertragsfortsetzung entschieden haben, indem sie abstrakt-generelle Merkmale festlegt und dabei übergeordnete Zwecke verfolgt haben, zu deren Erreichung eine Unterscheidung zwischen den weiter beschäftigten und den nicht weiter beschäftigten Arbeitnehmer:innen nicht erforderlich und angemessen 1 2
Siehe oben 2. Kap. B. I. Siehe oben 2. Kap. C. III. 2.
472
4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
ist.3 Auch diese Voraussetzungen müssen Arbeitnehmer:innen gem. § 138 I ZPO darlegen. Für Fortsetzungs- und Geldersatzansprüche infolge verbotener Benachteiligungen müssen Arbeitnehmer:innen schließlich darlegen, dass ihnen die Vertragsfortsetzung angeboten worden wäre, wenn ihre Arbeitgeber:innen nicht an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG angeknüpft4 oder eine individuelle oder kollektive Rechtsausübung gemaßregelt hätten.5 Für die Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen im Anwendungsbereich des AGG müssen Arbeitnehmer:innen schließlich ihre gesteigerten Bestandsinteressen darlegen, die die oben geschilderte verfassungsorientierte Auslegung von § 15 VI AGG gebieten.6 Arbeitgeber:innen müssen die dargelegten Tatsachen gem. § 138 II ZPO bestreiten, damit sie nicht gem. § 138 III ZPO als zugestanden gelten. Die Anforderungen an die Qualität des Bestreitens hängen von der Qualität der Darlegung ab: Auf eine pauschale Behauptung von Arbeitnehmer:innen dürfen Arbeitgeber:innen mit einfachem Bestreiten reagieren; je substantiierter der Tatsachenvortrag der Anspruchsteller:innen ist, desto substantiierter muss auch das Bestrittene vorgetragen werden.7 Soweit Arbeitgeber:innen den Tatsachenvortrag der Arbeitnehmer:innen hinreichend bestritten haben, müssen die Arbeitnehmer:innen den Vollbeweis über die anspruchsbegründenden Tatsachen erbringen, also die volle richterliche Überzeugung i. S. v. § 286 ZPO erreichen.8 Diese Beweislastverteilung erschwert die prozessuale Geltendmachung von Ansprüchen, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen aus der inneren Sphäre der Arbeitgeber:innen stammen: Während die rechtsgeschäftliche Selbstbindung von Arbeitgeber:innen auf Willenserklärungen und damit äußerlich manifestierten Tatbeständen beruht, knüpft eine Haftung aus culpa in contrahendo an das treuwidrige Hervorrufen von Vertrauen oder den grundlosen Abbruch der Verhandlungen an und setzt damit eine rechtlich missbilligte Motivlage der Anspruchsgegner:innen voraus, die sich der Kenntnis der Anspruchsteller:innen regelmäßig entzieht. Vergleichbare Beweisprobleme haften einer Klage auf Gleichbehandlung gemäß dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz an: Während die Ungleichbehandlung verschiedener Arbeitnehmer:innen(gruppen) nach außen manifest ist, ist es das zugrundeliegende System, die Gruppenbildung anhand bestimmter Differenzierungskriterien zur Verfolgung bestimmter Leistungszwecke, oft nicht. Bei Schadensersatz- oder Fortsetzungsansprüchen infolge von Diskriminierungen oder Maßregelungen ist schließlich die Kausalität zwischen der Nichtfortsetzung und einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG oder einer Rechtsausübung das neuralgische Kriterium, das sich oft nur im Kopf der Arbeitgeber:innen oder der Personalverantwortlichen abspielt. Ein un3 4 5 6 7 8
Siehe oben 3. Kap. A. III. Siehe oben 5. Kap. B. I. 1. Siehe oben 5. Kap. B. I. 2. Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) cc) (2) (c) (aa). St. Rspr. BGH, Urt. v. 19. 12. 2017 – II ZR 88/16, NJW 2018, 1089, 1090 (Rn. 19). St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 17. 2. 1970 – III ZR 139/67 („Anastasia“), NJW 1970, 946, 948.
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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mittelbarer Vollbeweis über die Entscheidungsmaximen von Arbeitgeber:innen wird Arbeitnehmer:innen regelmäßig nur gelingen, wenn Arbeitgeber:innen sie schriftlich oder mündlich mitgeteilt haben; dann kann der Beweis durch Vorlage des Schriftstücks oder Befragung von Zeugen und Zeuginnen oder den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin selbst9 geführt werden. Dass die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse vertragspflicht- oder rechtswidrig ist, ist gerade deshalb so schwierig zu beweisen, da Arbeitgeber:innen die Entscheidung nach der Konzeption des TzBfG grundsätzlich nicht begründen müssen. Etwas anderes gilt nur, wenn Arbeitgeber:innen die Weiterbeschäftigung schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen ablehnen: Sie müssen die Arbeitnehmer:innen dann über die getroffene Entscheidung unter Darlegung der Gründe unverzüglich unterrichten gem. § 164 I 9 SGB IX. Dass die culpa in contrahendo, der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz und die Diskriminierungs- und Maßregelungsverbote keine zahnlosen Tiger sind, muss daher durch eine sachgerechte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im arbeitsgerichtlichen Verfahren gewährleistet werden. Es ist zu zeigen, dass die für die verschiedenen Fallgruppen – das wahrheitswidrige Vorspiegeln der Abschlussbereitschaft oder den Abbruch der Verhandlungen ohne wichtigen Grund [B.], den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz [C.], die Diskriminierungsverbote im AGG [D.] und die Maßregelungsverbote [E.] – vorgeschlagenen prozessualen Handhabungen auf ähnlichen zivilprozessualen Grundsätzen fußen, die die Durchsetzung der darauf beruhenden Ansprüche für befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen insgesamt zumutbar machen.
B. Beweisführung über die Haftung für Verhandlungsabbruch (culpa in contrahendo) Wurde die Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses über den Fristablauf hinaus bei Abschluss des Vertrags oder im Laufe des Arbeitsverhältnisses als sicher bezeichnet, später aber ohne Angabe von Gründen verweigert, drängt sich für Arbeitnehmer:innen der Verdacht auf, dass ihre Arbeitgeber:innen entweder von Anfang an die Abschlussbereitschaft vorgetäuscht oder den Abschluss des Folgevertrags willkürlich unterlassen haben. Auf diesen Verdacht könnten Arbeitgeber:innen bei einer normalen Anwendung des § 138 ZPO durch einfaches Bestreiten reagieren und Arbeitnehmer:innen so zum Beweis der Täuschungsabsicht oder des Fehlens eines triftigen Grunds zwingen. Wertenbruch hat überzeugend herausgestellt, dass dieses Beweisproblem durch die vom BGH entwickelte Beweiserleichterung der sekundären Darlegungslast gelöst werden kann.10 9 10
Dazu unten 7. Kap. D. II. 2. J. Wertenbruch, ZIP 2004, 1525, 1530.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Die sekundäre Darlegungslast modifiziert das Wechselspiel des § 138 ZPO für Fälle, in denen „die primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs steht und den Sachverhalt von sich aus nicht ermitteln kann, während dem Prozessgegner die erforderliche tatsächliche Aufklärung ohne Weiteres möglich und auch zuzumuten ist“.11 Unter diesen Voraussetzungen genügen Prozessgegner:innen ihrer Erklärungspflicht aus § 138 II ZPO nicht mehr durch einfaches Bestreiten oder Erklärung mit Nichtwissen, sondern müssen das Gegenteil des Bestrittenen substantiiert vortragen, damit der Vortrag der Kläger:innen nicht als zugestanden gilt gem. § 138 III ZPO.12 In diesem Rahmen obliegt es den Bestreitenden auch, zumutbare Nachforschungen zu unternehmen, um das in ihrer Sphäre stattgefundene Geschehen zu rekonstruieren.13 Durch die sekundäre Darlegungslast wird der darlegungsbelasteten Partei die Darlegung und Beweisführung über Umstände erleichtert, die ihrem Wahrnehmungsbereich entzogen sind. Zumutbar im Sinne der Rechtsprechung ist diese Verteilung der Darlegungslast nur beim Vorliegen besonderer Anknüpfungspunkte, die beispielsweise in der Art des vorangegangenen Tuns der beweisbegünstigten Partei oder besonderen persönlichen Verhältnissen und Beziehungen der Parteien zueinander liegen können. Nur so ist zu rechtfertigen, dass eine Partei ihrem Gegner das Material für ihren Prozesssieg verschaffen muss.14 Auch das BAG wendet diese Grundsätze an, wenn darlegungs- und beweisbelastete Arbeitnehmer:innen Umstände aus der Sphäre der Arbeitgeber:innen darlegen und beweisen müssen. Beispiele sind die Darlegung von Beschäftigungsmöglichkeiten bei Arbeitgeber:innen,15 das Überschreiten des Schwellenwerts des § 23 I 2, 3 KSchG,16 oder die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Befristungsabrede.17 Da die Anwendung zu einem Auseinanderfallen von Darlegungs- und Beweislast führt, spricht das BAG auch von einer „abgestuften Darlegungs- und Beweislast“. Die Voraussetzungen der sekundären Darlegungslast liegen bei der Haftung für den Abbruch von Vertragsverhandlungen vor: Eine substantiierte Darlegung ist Arbeitgeber:innen zuzumuten, wenn Arbeitnehmer:innen als Anknüpfungspunkte ein vertrauenserzeugendes Verhalten und die Enttäuschung dieses Vertrauens durch eine Vertragsverweigerung darlegen. Da Arbeitgeber:innen als Einzige die Umstände ihres Sinneswandels kennen, können und müssen sie darlegen, dass sie zum Zeitpunkt der Vertrauenserzeugung tatsächlich abschlussbereit waren und triftige Gründe für den Abbruch der Verhandlungen vorlagen.18 Auf Grundlage dieser An-
11 12 13 14 15 16 17 18
BGH, Urt. v. 28. 6. 2016 – VI ZR 559/14, NJW 2016, 3244, 3245 (Rn. 18). St. Rspr. BGH, Urt. v. 14. 6. 2005 – VI ZR 179/04, NJW 2005, 2614, 2615 m. w. N. BGH, Urt. v. 28. 6. 2016 – VI ZR 559/14, NJW 2016, 3244, 3245 (Rn. 18). BGH, Urt. v. 17. 10. 1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128, 129. BAG, Urt. v. 10. 5. 2005 – 9 AZR 230/04, NZA 2006, 155, 159. BAG, Urt. v. 2. 3. 2017 – 2 AZR 427/16, NZA 2017, 859, 860 (Rn. 12). BAG, Urt. v. 4. 12. 2013 – 7 AZR 290/12, NZA 2014, 426, 429 (Rn. 26). Vgl. J. Wertenbruch, ZIP 2004, 1525, 1530.
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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gaben können Arbeitnehmer:innen dann leichter den Beweis über die fehlende Abschlussbereitschaft oder die Abwesenheit triftiger Gründe führen.
C. Beweisführung über Ansprüche aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz Dass auch die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz dadurch erschwert wird, dass Arbeitnehmer:innen die Entscheidungsmaximen der Arbeitgeber:innen meist nicht kennen, erkennen die Gerichte seit Jahrzehnten an. Aus diesem Grund haben sich in der Praxis zwei Beweiserleichterungen für anspruchsstellende Arbeitnehmer:innen etabliert: die Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast [I.] und ein vorprozessualer materiell-rechtlicher Auskunftsanspruch [II.].
I. Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungsund Beweislast Im Gleichbehandlungsprozess gilt nach der ständigen senatsübergreifenden Rechtsprechung des BAG eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast nach den oben dargestellten Grundsätzen.19 Arbeitnehmer:innen müssen danach gem. § 138 I ZPO darlegen, dass eine Gruppe von Arbeitnehmer:innen besser behandelt wurde und sie sich von dieser Gruppe nicht grundlegend unterscheiden.20 Wenn die kollektive Ordnung hinter der Gruppenbildung für Arbeitnehmer:innen nicht erkennbar ist, können sie die Zwecke und Differenzierungskriterien meist nicht darlegen. Umgekehrt können Arbeitgeber:innen die Gründe für eine Gruppenbildung leicht darlegen, da sie sie selbst aufgestellt haben.21 Daher müssen Arbeitgeber:innen substantiiert darlegen, „wie groß der begünstigte Personenkreis ist, wie er sich zusammensetzt, wie er abgegrenzt ist und warum der klagende Arbeitnehmer nicht dazugehört.“22 Insbesondere müssen sie die Gründe für die Differenzierung so substantiiert darle19 So ausdrücklich BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 5 AZR 664/03, NZA 2005, 289, 292; vgl. auch BeckOGK/M. Maties, § 611a BGB Rn. 1553. 20 BAG, Urt. v. 7. 8. 2002 – 10 AZR 709/01, NZA 2002, 1284, 1286; vgl. auch BAG, Urt. v. 27. 7. 2010 – 1 AZR 874/08, NZA 2010, 1369, 1370 (Rn. 18): Arbeitnehmer:in muss Gruppenbildung darlegen; sowie BAG, Urt. v. 19. 8. 1992 – 5 AZR 513/91, NZA 1993, 171, 172: Arbeitnehmer:in muss darlegen, dass Arbeitgeber:in Arbeitnehmer:innen mit ähnlicher Tätigkeit nach unterschiedlichen Vergütungssystemen entlohnt; K. Bepler, NZA-Beilage zu Heft 18/2004, 3, 7. 21 BAG, Urt. v. 1. 11. 1991 – 3 AZR 489/90, NZA 1992, 837, 838. 22 BAG, Urt. v. 19. 8. 1992 – 5 AZR 513/91, NZA 1993, 171, 172; BAG, Urt. v. 1. 11. 1991 – 3 AZR 489/90, NZA 1992, 837, 838; BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 5 AZR 664/03, NZA 2005, 289, 292.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
gen, dass das Gericht auf Vortrag der Arbeitnehmer hin beurteilen kann, ob die Gruppenbildung sachlichen Kriterien entspricht.“23 Arbeitnehmer:innen haben dann darzulegen, dass sie alle sachlichen, von den Arbeitgeber:innen vorgegebenen Voraussetzungen der Leistung erfüllen.24 Ein Gleichbehandlungsanspruch scheidet aus, wenn Arbeitgeber:innen darlegen, dass sie nicht ausschließlich nach generalisierbaren Kriterien, sondern auch mit Blick auf die individuellen Eigenschaften der Arbeitnehmer:innen entschieden haben.25 Legen Arbeitgeber:innen die Gründe für eine unterschiedliche Behandlung nicht dar, gilt der Ausschluss der Arbeitnehmer:innen gem. § 138 III ZPO als ungerechtfertigt; sie können verlangen, nach Maßgabe der begünstigten Arbeitnehmergruppe einen Folgearbeitsvertrag zu erhalten.26
II. Vorprozessualer Auskunftsanspruch Auch im Vorfeld einer Klageerhebung haben Arbeitnehmer:innen ein Interesse daran, die Gründe für eine Ungleichbehandlung ähnlicher Arbeitnehmergruppen zu erfahren, um Ansprüche auf Gleichbehandlung außergerichtlich bei ihren Arbeitgeber:innen geltend zu machen oder die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen zu können. Aus diesem Grund haben Arbeitnehmer:innen, die von kollektiven Leistungen ausgenommen worden sind, nach der ständigen Rechtsprechung des BAG auch einen Auskunftsanspruch gem. § 242 BGB gegen ihre Arbeitgeber:innen, der auf Begründung der Ungleichbehandlung und Offenlegung der verwendeten Regeln gerichtet ist.27 Dieser Anspruch steht in der Tradition gewohnheitsrechtlich anerkannter Auskunftsansprüche: „Gewohnheitsrechtlich ist anerkannt, dass Auskunftsansprüche nach Treu und Glauben bestehen können, wenn die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien es mit sich bringen, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann. Ein Ungleichgewicht kann etwa aus einer wirtschaftlichen Übermacht oder aus einem erheblichen Informationsgefälle resultieren. Eine solche Situation kann es erfordern, Auskunftsansprüche zu statuieren, die eine Vertragspartei zur Wahrnehmung ihrer materiellen Rechte aus dem Vertrag benötigt. Im Regelfall setzt das einen dem Grunde nach feststehenden Leistungsanspruch voraus. Innerhalb vertraglicher Beziehungen, insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen, kann der Auskunftsanspruch darüber hinaus die Funktion haben, dem Berechtigten Informationen auch schon über das 23
BAG, Urt. v. 27. 7. 2010 – 1 AZR 874/08, NZA 2010, 1369, 1370 (Rn. 18). BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 5 AZR 664/03, NZA 2005, 289, 292. 25 K. Bepler, NZA-Beilage zu Heft 18/2004, 3, 7. 26 Vgl. BAG, Urt. v. 12. 10. 2005 – 10 AZR 640/04, NZA 2005, 1418, 1419 (Rn. 11). 27 BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 5 AZR 664/03, NZA 2005, 289, 291; BAG, Urt. v. 19. 3. 2003 – 10 AZR 365/02, NZA 2003, 724, 726; BAG, Urt. v. 20. 7. 1993 – 3 AZR 52/93, NZA 1994, 125, 127; BAG, Urt. v. 17. 2. 1998 – 3 AZR 783/96, NZA 1998, 762, 763. 24
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach zu verschaffen. Im Arbeitsverhältnis wird der Inhalt dieser Nebenpflicht durch eine besondere persönliche Bindung der Vertragspartner geprägt. Aus dem Arbeitsverhältnis ergeben sich spezifische Pflichten zur Rücksichtnahme. Besteht ein billigenswertes Interesse an einer Auskunft, z. B. weil sie zur Geltendmachung eines Leistungsanspruchs erforderlich ist, kann sie verlangt werden, soweit die Verpflichtung keine übermäßige Belastung des Vertragspartners darstellt und die gesetzliche Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Prozess berücksichtigt bleibt: Die Darlegungsund Beweissituation darf nicht durch die Gewährung materiellrechtlicher Auskunftsansprüche unzulässig verändert werden.“28
Zumutbar sind Auskunftsansprüche, mit denen die Existenz eines Leistungsanspruchs ermittelt werden soll, wenn „der Berechtigte die Wahrscheinlichkeit seines Anspruchs dargelegt hat.“29 Damit stimmen die Voraussetzungen eines Auskunftsanspruchs mit denen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast überein: In beiden Fallgruppen müssen Arbeitnehmer:innen einen Anfangsverdacht für eine gleichbehandlungswidrige Nichtfortsetzung dartun, aufgrund dessen es Arbeitgeber:innen, die über die Differenzierungszwecke und -kriterien leicht informieren können, zugemutet wird, darüber Auskunft zu erteilen.30 Es sind also regelmäßig die Voraussetzungen beider Beweiserleichterungen gleichzeitig erfüllt: Arbeitnehmer:innen können entweder einen materiell-rechtlichen Auskunftsanspruch gem. § 242 BGB gerichtlich durchsetzen und ggf. im Wege der Stufenklage mit einem Anspruch auf Gleichbehandlung verbinden31 oder direkt eine Gleichbehandlung einklagen und die für die Beweisführung notwendigen Auskünfte im Wege der sekundären Darlegungslast der Arbeitgeber:innen erhalten.32
D. Beweisführung im Diskriminierungsprozess Das AGG hält in § 22 eine eigene, durch die Gleichbehandlungs-Richtlinien vorgegebene Beweislastverteilung bereit:
28 BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 5 AZR 664/03, NZA 2005, 289, 291; ebenso BAG, Urt. v. 4. 11. 2015 – 7 AZR 972/13, NZA 2016, 1339, 1341 (Rn. 19); BAG, Urt. v. 7. 9. 1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637, 638. 29 BAG, Urt. v. 21. 11. 2000 – 9 AZR 665/99, NZA 2001, 1093, 1095. 30 So ausdrücklich E. Kocher, AP BGB § 242 Auskunftspflicht Nr. 38: Voraussetzung von Auskunftsanspruch und abgestufter Darlegungs- und Beweislast „ist die schuldlose Ungewissheit über Bestand oder Höhe eines bereits als wahrscheinlich dargelegten Anspruchs bei gleichzeitig leichtem Zugang der anderen Seite zur erforderlichen Information.“ 31 BAG, Urt. v. 27. 7. 2010 – 1 AZR 874/08, NZA 2010, 1369, 1371 (Rn. 26). 32 Die früher vom Fünften Senat vertretene Rechtsauffassung, dass alle Differenzierungsgründe, die Arbeitgeber:innen Arbeitnehmer:innen auf ihr Auskunftsverlangen hin nicht rechtzeitig mitgeteilt haben, materiell präkludiert seien (BAG, Urt. v. 5. 3. 1980 – 5 AZR 881/78, NJW 1980, 2374, 2375), hat der Senat inzwischen aufgegeben (BAG, Urt. v. 23. 2. 2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693, 694 f. (Rn. 16)).
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
„Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.“
Es werden der Inhalt und die Reichweite dieser Regelung und die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Diskriminierungsprozess jenseits der von § 22 AGG erfassten Fälle untersucht [I.]. Anschließend werden übliche Indizien für Diskriminierungen und deren Kausalität für die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse [II.] und abschließend mögliche Gegenbeweise der Arbeitgeberseite dargestellt [III].
I. Verteilung der Darlegungs- und Beweislast 1. Darlegung und Beweis einer Diskriminierung § 22 AGG enthält eine zweistufige Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast zugunsten der Arbeitnehmer:innen, die sich durch eine Verletzung der Diskriminierungsverbote für beschwert halten.33 Auf der ersten Stufe lässt § 22 AGG die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast unberührt, indem weiterhin Arbeitnehmer:innen die anspruchsbegründenden Tatsachen darlegen und beweisen müssen. Es werden aber der Bezugspunkt der Darlegungslast sowie das Beweismaß abgesenkt: Arbeitnehmer:innen müssen nicht alle anspruchsbegründenden Tatsachen darlegen und darüber den Vollbeweis erbringen, sondern bloß Indizien darlegen und glaubhaft machen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Wenn ihnen das gelingt, wird auf einer zweiten Stufe die Beweislast auf die Arbeitgeber:innen verlagert, die nun den Vollbeweis darüber führen müssen, dass sie nicht gegen § 7 AGG verstoßen haben. Es ist unklar, auf welche Tatbestandsmerkmale des Benachteiligungsverbots sich § 22 AGG bezieht: Mit „Indizien, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen“ können entweder Indizien gemeint sein, die den Kausalzusammenhang zwischen einem in § 1 AGG genannten Grund und der Benachteiligung vermuten lassen,34 oder Indizien, die den gesamten Tatbestand der 33 Für eine ausführliche Einordnung des § 22 AGG in das System zivilprozessualer Beweislasterleichterungen (Indizienbeweis, Anscheinsbeweis und gesetzliche Vermutung nach § 292 ZPO) siehe C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 60 ff. 34 So K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 22 AGG Rn. 20; Schaub/M. Ahrendt, § 36 Rn. 81; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 22 AGG Rn. 6; BeckOGK/M. Benecke, § 22 AGG Rn. 15; M. Grobys, NZA 2006, 898, 900; Schiek/E. Kocher, § 22 AGG Rn. 10; ErfK/M. Schlachter, § 22 AGG Rn. 2; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 22 AGG Rn. 12; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 6; ebenso wohl auch das BAG, z. B. in BAG, Urt. v. 29. 6. 2017 – 8 AZR 402/15, NZA 2018, 33, 38 (Rn. 47); BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737, 739 (Rn. 29); BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1415 (Rn. 55); BAG, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 8 AZR 287/08 (A), NZA 2010, 1006,
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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Benachteiligung vermuten lassen.35 Die Gesetzesmaterialien weisen auf die erste Lesart hin: In der Begründung des Regierungsentwurfs und der Beschlussempfehlung heißt es ausdrücklich, dass Arbeitnehmer:innen über eine ungünstige Behandlung zuerst den Vollbeweis führen müssen.36 Diese Lesart entspricht auch dem Zweck des § 22 AGG, die Beweisführung über innere Tatsachen und Motive zu erleichtern.37 Obwohl diese Beweisschwierigkeiten nicht nur die haftungsbegründende Kausalität zwischen Diskriminierungsmerkmal und Benachteiligung betreffen, sondern auch die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Diskriminierung und Nachteilszufügung, betrifft § 22 AGG nach einhelliger Ansicht nur die haftungsausfüllende Kausalität. a) Erste Stufe: Beweismaßsenkung – Indizienbeweis der Arbeitnehmer:innen Arbeitnehmer:innen genügen ihrer Beweislast in Bezug auf den Kausalzusammenhang zwischen Benachteiligung und Merkmal i. S. v. § 1 AGG bereits dann, wenn sie gem. § 22 AGG Indizien beweisen, die eine Benachteiligung vermuten lassen. aa) Vermutung einer Benachteiligung Indizien sind tatbestandsfremde Umstände, die den Schluss auf das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals selbst rechtfertigen.38 Damit ein Schluss auf das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale gerechtfertigt ist, muss aus objektiver Sicht und aus den Umständen des Einzelfalls oder nach allgemeiner Lebenserfahrung eine überwiegende, also mehr als 50 %-ige Wahrscheinlichkeit dafür bestehen.39 Ein Indiz i. S. v. § 22 AGG ist also eine Tatsache, aufgrund derer es wahrscheinlicher ist (> 50 %), dass eine Schlechterstellung zumindest auch wegen eines in § 1 AGG genannten Grunds erfolgt ist, als dass kein in § 1 AGG genannter Grund die Schlechterstellung beeinflusst hat. Die Gerichte würdigen die Tatsachen und ihre
1007 (Rn. 15), die aber allesamt „Standardfälle“ betrafen, in denen ein Vollbeweis der Benachteiligung an sich unproblematisch war. 35 So Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 17; DHSW/V. Braun, § 22 AGG Rn. 6; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 22 AGG Rn. 115; P. Windel, RdA 2011, 193, 196; ders., RdA 2007, 1, 2; A. Röthel, NJW 1999, 611, 612 f. zu § 611a BGB a.F.; LAG BadenWürttemberg, Urt. v. 1. 2. 2011 – 22 Sa 67/10, NZA-RR 2011, 237, 239 jedenfalls für Fälle der hypothetischen Vergleichsperson. 36 BT-Drs. 16/2022, S. 6; BT-Drs. 16/2022, S. 13. 37 BT-Drs. 16/1780, S. 47; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 6. 38 BT-Drs. 16/2022, S. 13. 39 BAG, Urt. v. 26. 1. 2017 – 8 AZR 736/15, NZA 2017, 854, 857 (Rn. 27); BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/14, NZA 2016, 1394, 1401 (Rn. 54); BAG, Urt. v. 26. 6. 2014 – 8 AZR 547/ 13, APAGG § 22 Nr. 10 (Rn. 39); BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737, 739 (Rn. 29).
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Vermutungswirkung nach ihrer freien richterlichen Überzeugung gem. § 286 ZPO.40 Welche Anforderungen an die einzelnen Vermutungstatsachen zu stellen sind, sollen die Gerichte „unter Berücksichtigung der Grundsätze des § 138 ZPO beurteilen.“41 Als grobe Koordinaten gibt die Regierungsbegründung vor, Behauptungen „ins Blaue hinein“ sollten nicht genügen; es sei aber andererseits zu berücksichtigen, welche Informationen den klagenden Arbeitnehmer:innen überhaupt zugänglich seien.42 Tragen Arbeitnehmer:innen mehrere Indizien vor, haben die Gerichte eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen und zu beurteilen, ob sie jedenfalls im Zusammenwirken eine Benachteiligung aus einem in § 1 AGG genannten Grund überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen.43 bb) Beweis von Indizien Arbeitnehmer:innen müssen Indizien substantiiert darlegen und nur dann, wenn sie von Arbeitgeber:innen substantiiert bestritten werden, beweisen (vgl. § 138 I, III ZPO). Nach einer weit verbreiteten Ansicht müssen Arbeitnehmer:innen über die Indizien einen Vollbeweis führen, Gerichte also von ihrer Wahrheit überzeugen.44 Nach einer anderen, zutreffenden, Ansicht ist § 22 AGG richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass eine Glaubhaftmachung genügt: Arbeitnehmer:innen müssen Gerichte nur von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Indizien überzeugen.45 Dafür sprechen folgende Erwägungen: Art. 19 RL 2006/54/EG, Art. 8 I RL 2000/43/EG und Art. 10 I RL 2000/78/EG verpflichten die Mitgliedstaaten dazu, zu gewährleisten, dass „immer dann, wenn Personen, die sich durch die 40 BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 580/09, NZA 2011, 737, 739 (Rn. 30); C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 100 f. 41 BT-Drs. 16/1780, S. 47. 42 BT-Drs. 16/1780, S. 47. 43 BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 101 (Rn. 83); BAG, Urt. v. 24. 4. 2008 – 8 AZR 257/07, NZA 2008, 1351, 1354 (Rn. 41); C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 100. 44 Dafür Schaub/M. Ahrendt, § 36 Rn. 82; J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, § 22 AGG Rn. 6; BeckOGK/M. Benecke, § 22 AGG Rn. 3, 24; M. Grobys, NZA 2006, 898, 900; O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 466 ff.; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 22 AGG Rn. 5; Wendeling-Schröder/Stein/A. Stein, § 22 AGG Rn. 19; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 22 AGG Rn. 139; C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 55; beiläufig auch BAG BAG, Urt. v. 26. 9. 2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258, 261 (Rn. 28): „von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen (Hilfs-)Tatsachen“ und ähnlich in BAG, Urt. v. 23. 7. 2015 – 6 AZR 457/14, NZA 2015, 1380, 1381 (Rn. 25): „Indizien vorträgt und gegebenenfalls beweist“; BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 98 (Rn. 65). 45 Dafür ArbG Berlin, Urt. v. 12. 11. 2007 – 86 Ca 4035/07, NZA 2008, 492, 495; F. Bayreuther, NJW 2009, 806, 806; Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 4; Schiek/E. Kocher, § 22 AGG Rn. 16; MüHa ArbR/H. Oetker, § 17 Rn. 117; ErfK/ M. Schlachter, § 22 AGG Rn. 3; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 2, 35; KR/J. Treber, § 22 AGG Rn. 12; D.-R. Weigert, NZA 2018, 1166, 1167; P. Windel, RdA 2011, 193, 196; ders., RdA 2007, 1, 3 f.
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Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und […] Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, daß keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.“ Die dem AGG zugrundeliegenden Richtlinien lassen also ausdrücklich die Glaubhaftmachung von Tatsachen genügen, um die Beweislastumkehr auszulösen. Für eine solch weite Lesart der Richtlinien sprechen auch ihre Erwägungsgründe: Erwägungsgrund Nr. 21 der RL 2000/43/EG und Nr. 31 der RL 2000/78/EG betonen, dass eine Beweislastumkehr geboten ist, wenn ein „glaubhafter Anschein einer Diskriminierung besteht.“ Der glaubhafte Anschein einer Diskriminierung besteht bereits bei glaubhaft gemachten Indizien. Da das AGG nicht hinter diesem Schutzniveau zurückbleiben darf, spricht eine richtlinienkonforme Auslegung von § 22 AGG für eine Übertragung dieses Beweismaßes ins nationale Recht.46 § 22 AGG kann auch diesen Vorgaben entsprechend ausgelegt werden: Erstens erfasst der Begriff des Beweises in der ZPO nicht nur den Vollbeweis, sondern auch die Glaubhaftmachung.47 Man kann § 22 AGG daher auch so verstehen, dass mit dem „Beweis von Tatsachen“ nur festgelegt wird, dass die Beweislast den Arbeitnehmer:innen obliegt, über das Beweismaß jedoch keine eindeutige Aussage getroffen wird.48 Zweitens entspricht es dem in den Materialien des AGG eindeutig manifestierten Willen des Gesetzgebers, dass auch die Glaubhaftmachung von Indizien genügen soll. Durch die Formulierung in § 22 AGG sollte nur verhindert werden, dass der – in § 611a BGB a. F. verwendete – Begriff der Glaubhaftmachung dahingehend missverstanden wird, dass gem. § 294 ZPO auch eine eidesstattliche Versicherung als Beweismittel zulässig ist.49 46 So auch ArbG Berlin, Urt. v. 12. 11. 2007 – 86 Ca 4035/07, NZA 2008, 492, 495; Schiek/ E. Kocher, § 22 AGG Rn. 16; KR/J. Treber, § 22 AGG Rn. 12; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 2; P. Windel, RdA 2011, 193, 196 f.; ders., RdA 2007, 1, 3 f. 47 Vgl. statt aller MüKo ZPO/H. Prütting, § 284 ZPO Rn. 23. 48 ArbG Berlin, Urt. v. 12. 11. 2007 – 86 Ca 4035/07, NZA 2008, 492, 495; MüHa ArbR/ H. Oetker, § 17 Rn. 117: „interpretationsbedürftige Offenheit“ bezüglich des Beweismaßes. 49 Gem. § 611a I 3 BGB a. F. und dem beinahe inhaltsgleichen Gesetzesentwurf des AGG der Bundesregierung sollte die Beweislastumkehr eintreten, wenn ein Arbeitnehmer „Tatsachen glaubhaft macht, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen“ (BT-Drs. 16/1780, S. 11). Dieser Wortlaut wurde aufgrund einer Stellungnahme des Bundesrats (BR-Drs. 329/06, S. 3 (lit. c)) und entsprechender Beschlussempfehlung des Rechtausschusses (BT-Drs. 16/2022, S. 6) in die nun geltende Fassung geändert. Als Grund für die Umformulierung von § 22 AGG nannte der Rechtausschuss in seiner Beschlussempfehlung, „dass der – bereits in § 611a BGB – verwendete Begriff der ,Glaubhaftmachung‘ oftmals dahingehend missverstanden wird, er beziehe sich auf § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) und lasse die eidesstattliche Versicherung als Beweismittel zu. Es ist insoweit eine sprachliche Neufassung zur Bestimmung des Beweismaßes erfolgt. Dies ist eine erforderliche Klarstellung für die Praxis; eine Rechtsänderung ist damit nicht verbunden. Die Vorgaben der einschlägigen Richtlinien werden nach wie vor erfüllt.“ (BR-Drs. 16/2022, S. 13). Zurecht bezeichnet Stein dieses gesetzgeberische Vorgehen als „Verschlimmbesserung“ (A. Stein, NZA 2016, 849, 851). Optimistischer formuliert die damalige Bundesministerin der Justiz Zypries in der 43. Sitzung der 16. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags: „Wir werden durch Erläuterungen klar
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cc) Auskunftsanspruch zur Erleichterung des Indizienbeweises? Ebenfalls umstritten ist, was geschieht, wenn Anspruchsteller:innen nicht einmal Indizien kennen, die sie vor Gericht glaubhaft machen können. Dieses Beweisproblem wird hauptsächlich im Kontext der Einstellungsdiskriminierung diskutiert, da gerade außenstehende Bewerber:innen oft nicht in die Entscheidungsprozesse der Arbeitgeber:innen und betriebliche Personalstrukturen einblicken können.50 Indizien können sich zwar aus diskriminierend formulierten Stellenausschreibungen oder merkmalsbezogenen Kommentaren oder Fragen im Bewerbungsprozess ergeben; da Arbeitgeber:innen aber inzwischen – 15 Jahre nach Inkrafttreten des AGG – eine erhöhte Sensibilität gegenüber den mit Diskriminierungen einhergehenden Haftungsrisiken haben, helfen diese Indizien oft nicht weiter. Dann ist ein Blick auf Merkmalsausprägung und Qualifikation erfolgreicher Mitbewerber:innen das einzige Indiz für eine Benachteiligung.51 Da Arbeitgeber:innen insoweit aber das „Informationsmonopol“52 haben und Bewerber:innen selten freiwillig darüber informieren, welche Konkurrent:innen mit welcher Qualifikation eingestellt worden sind, wird in der Literatur vereinzelt ein entsprechender Auskunftsanspruch der Bewerber:innen befürwortet.53 Die Beweisproblematik stellt sich bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen in entschärfter Form, da in einer bereits bestehenden Vertragsbeziehung mehr Anknüpfungspunkte als Indizien einer Diskriminierung in Betracht kommen können und (ehemalige) Arbeitnehmer:innen vom Betriebsrat oder Kolleg:innen Informationen über die Neubesetzung ihrer Arbeitsplätze einholen können. Es wird daher nur ein Überblick über den Stand der Diskussion gegeben. Als Grundlage eines Auskunftsanspruchs abgelehnter Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen kommt erstens die oben bereits skizzierte Rücksichtnahmepflicht der Arbeitgeber:innen gem. § 242 BGB in Betracht. Nach der Ansicht Bertzbachs machen, dass es im Grunde um dasselbe geht. Ich bin mir sicher, dass die Rechtsprechung in der Lage sein wird, diese Auslegung auch hinzubekommen.“ (16. Wahlperiode – 43. Sitzung vom 29. 06. 2006; Plenarprotokoll 16/43 (4029C)). 50 Vgl. P. Hanau, in: FS Gnade (1992), Die Beweislast bei Klagen wegen Benachteiligung bei Einstellung und Beförderungen von Arbeitnehmern wegen des Geschlechts, S. 351, 361, der die Beweisnot insbesondere der außenstehenden Bewerber:innen betont; H. Hanau, EuZA 2013, 105, 105 f.: „Schon für einen Arbeitnehmer ist es nicht einfach, Einblick in die Beweggründe seines Arbeitgebers zu erlangen, um eine Diskriminierung nachzuweisen. Umso schwerer fällt es dem erfolglosen Bewerber um einen Arbeitsplatz, der als Außenstehender typischerweise keinerlei Zugang zu betrieblichen Interna hat“; auch M. Schlachter, RdA 1998, 321, 325 betont, dass „insbesondere externe Stellenbewerber“ vor hohe Anforderungen gestellt werden und H. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht (2001), S. 93 bemerkt: „Der Kläger oder die Klägerin, die nicht schon Mitarbeiter sind, laufen Gefahr, eine Klage ,ins Blaue‘ erheben zu müssen“. 51 Siehe Nachweise in Fn. 50. Zu den Anforderungen an den Beweiswert des Vergleichs siehe unten 7. Kap. D. II. 1. c). 52 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 470. 53 Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 42.
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und Becks bestehen solche Ansprüche sowohl im vorvertraglichen Schuldverhältnis als auch im bestehenden Arbeitsverhältnis.54 Befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen könnten nach dieser Auffassung sowohl dann Auskünfte über ihre Nachfolger beanspruchen, wenn sie zu dem Zeitpunkt noch angestellt ist, als auch nach Fristablauf, wenn sie sich um ihre alten Arbeitsplätze erneut beworben haben. An dieser Rechtsauffassung ist problematisch, dass sie die in ständiger Rechtsprechung des BAG etablierten Voraussetzungen vertraglicher Auskunftsansprüche unterläuft: Wie oben bereits belegt wurde,55 setzen Auskunftsansprüche regelmäßig einen dem Grund nach feststehenden Leistungsanspruch voraus. Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen, die ohne Anhaltspunkte einer Diskriminierung an Arbeitgeber:innen herantreten, um Auskunft über die Stellenbesetzung zu erlangen, wissen aber gerade noch nicht sicher um die Existenz eines Anspruchs gem. § 15 I, II AGG oder analog § 1004 I BGB. Innerhalb von Arbeitsverhältnissen kann eine Auskunft zwar auch verlangt werden, um die Existenz eines Anspruchs dem Grunde nach zu ermitteln. Das gilt aber erstens nicht für vorvertragliche Vertragsverhältnisse, wie sie durch Bewerbungsverfahren entstehen,56 und setzt zweitens selbst innerhalb von Arbeitsverhältnissen voraus, dass Arbeitnehmer:innen den Anspruch bereits als wahrscheinlich darlegen können.57 Vermutungen ins Blaue hinein genügen nicht. Hinter diesen Voraussetzungen stehen die Prinzipien der Waffengleichheit der Prozessparteien und des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes, nach denen grundsätzlich keine Partei ohne besonderen Grund dazu verpflichtet werden darf, der Gegenpartei zum Prozesssieg zu verhelfen.58 Damit wäre ein verdachtsunabhängiger Auskunftsanspruch gem. § 242 BGB nicht vereinbar.59 Eine derartige Inanspruchnahme der Arbeitgeber:innen ist nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung auch nicht unionsrechtlich geboten. Im Gegenteil: Sie widerspreche der austarierten Beweislastverteilung durch die Richtlinien, die durch § 22 AGG abschließend umgesetzt wurde.60 Danach solle Arbeitgeber:innen eine Auskunftserteilung erst dann obliegen, wenn Kläger:innen einen Anfangsverdacht bereits durch die Glaubhaft54
Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 42. Siehe oben 7. Kap. C. II. und Fn. 28. 56 BAG, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 8 AZR 287/08 (A), NZA 2010, 1006, 1008 f.; C. Picker, EuZA 2012, 257, 264 f. 57 Aus demselben Grund ist auch die Ansicht Grünbergers abzulehnen, nach dem die Verweigerung von Informationen nach den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast zu würdigen ist (M. Grünberger, Personale Gleichheit (2013), S. 723 f.). So wie ein Auskunftsanspruch gem. § 242 BGB müssen nämlich auch für die Auslösung der sekundären Darlegungslast besondere Umstände hinzukommen, die eine diskriminierende Entscheidung wahrscheinlich machen, so auch O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 490; I. Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht? (2004), S. 162. 58 H. Hanau, EuZA 2013, 105, 109; C. Picker, EuZA 2012, 257, 267. 59 H. Prütting, in: FS 50 Jahre BAG (2004), Beweisrecht und Beweislast im arbeitsgerichtlichen Diskriminierungsprozess, S. 1311, 1325. 60 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 22 AGG Rn. 90 f.; M. Grobys, NZA 2006, 898, 903; I. Scholten, Diskriminierungsschutz im Privatrecht? (2004), S. 166. 55
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
machung von Indizien erhärtet haben. „Solange der Kläger die erste Schwelle nicht genommen hat, darf der Arbeitgeber den Richtlinien zufolge schweigen.“61 Die zuletzt genannten Argumente überzeugen; offensichtlich ist diese Argumentation aber nicht: Obwohl die Gleichbehandlungsrichtlinien keinen Auskunftsanspruch abgelehnter Bewerber:innen enthalten (seine Einführung wurde vor Erlass der RL 97/80/EG – der Vorgängerin der RL 2006/54/EG – diskutiert,62 aber nicht in die Richtlinie aufgenommen), hatte der EuGH nämlich gleich zwei Mal zu dem Thema Stellung zu beziehen. Sowohl die Vorlagefrage eines irischen Gerichts in der Rechtssache Kelly als auch das BAG in der Rechtssache Meister63 wollten wissen, ob die Gleichbehandlungsrichtlinien64 einen Auskunftsanspruch gerichtet auf Angabe der Qualifikation des erfolgreichen Konkurrenten enthalten, damit Bewerber:innen Indizien glaubhaft machen können, die eine Diskriminierung vermuten lassen. In der Rechtssache Kelly urteilte der EuGH, dass die RL 98/80/EG keinen Auskunftsanspruch vorsehe, es aber nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Informationsverweigerung von Arbeitgeber:innen „die Verwirklichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels beeinträchtigen und auf diese Weise dieser Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit nehmen kann.“65 Die Konsequenzen dieser Feststellung blieben unklar, bis der EuGH seine Rechtsprechung einige Monate später im Fall Meister präzisierte: Nach Ansicht des Gerichtshofs haben die Gerichte „bei der Klärung der Frage, ob es genügend Indizien gibt, um die Tatsachen, die das Vorliegen einer solchen Diskriminierung vermuten lassen, als nachgewiesen ansehen zu können, alle Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu berücksichtigen.“66 Zu diesen Umständen gehöre insbesondere der Umstand, dass der Arbeitgeber jeden Zugang zu Informationen verweigert hat, dass die Qualifikation der Klägerin den Anforderungen der Stellenanschreibung entsprach und der Arbeitgeber sie trotzdem nicht zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen hat.67 Ob „die Verweigerung jedes Zugangs zu Informationen durch einen Bekl. ein Gesichtspunkt [ist], der im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, heranzuziehen ist“, muss das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände prüfen.68 Der EuGH hat Rechtsanwender:innen damit weiterhin im Unklaren darüber gelassen, ob die Informationsverweigerung für sich ein Indiz für eine Diskriminierung darstellt oder 61
H. Hanau, EuZA 2013, 105, 109. Vgl. Art. 5 lit. b) des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates zur Beweislast bei geschlechtsbedingter Diskriminierung, KOM/96/340 endg. 63 Vorlage durch BAG, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 8 AZR 287/08 (A), NZA 2010, 1006. 64 Im irischen Fall Kelly: RL 97/80/EG; im Fall Meister: RL 2000/43/EG, 2000/78/EG, 2006/54/EG. 65 EuGH, Urt. v. 21. 7. 2011 – C-104/10 (Kelly), BeckRS 2011, 81408 (Rn. 34). 66 EuGH, Urt. v. 19. 4. 2012 – C-415/10 (Meister), NZA 2012, 493, 494 (Rn. 43). 67 EuGH, Urt. v. 19. 4. 2012 – C-415/10 (Meister), NZA 2012, 493, 494 (Rn. 44 f.). 68 EuGH, Urt. v. 19. 4. 2012 – C-415/10 (Meister), NZA 2012, 493, 494 f. (Rn. 47). 62
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
485
weitere Voraussetzungen hinzutreten müssen.69 Das BAG hat sich für die letztere Lesart entschieden: Eine Verweigerung von Informationen drohe nur dann die mit den Richtlinien verfolgten Ziele zu beeinträchtigen, „wenn der abgelehnte Bewerber, dem grundsätzlich die Darlegungslast für die behauptete Benachteiligung wegen eines ,verpönten Merkmals‘ obliegt […], zumindest schlüssig darlegt, dass und warum es ihm durch die vom Arbeitgeber verweigerte Information unmöglich gemacht oder zumindest unzumutbar erschwert wird, Tatsachen gem. § 22 AGG darzulegen, die eine unzulässige Benachteiligung vermuten lassen, oder warum die Verweigerung der Auskunft ein Indiz i. S. des § 22 AGG für eine unzulässige Benachteiligung darstellt. Dazu genügt es nicht, wenn der Bewerber lediglich Tatsachen benennt, die für sich betrachtet und/oder in ihrer Gesamtschau ,neutral‘ sind, d. h. keine Indizien für die Vermutung einer unzulässigen Benachteiligung begründen. Vielmehr hat er entweder Anhaltspunkte schlüssig darzulegen, aus denen er folgert, erst die geforderte, aber verweigerte Auskunft werde es ihm ermöglichen, eine gegen § 7 AGG verstoßende Benachteiligung entsprechend der Beweislastregel des § 22 AGG nachzuweisen oder wenn er schlüssig dartut, aus welchen Gründen gerade die Verweigerung der Auskunft für sich allein betrachtet oder in der Gesamtschau aller Umstände die Vermutung einer Benachteiligung (§ 22 AGG) begründet. In diesem Zusammenhang darf sich der abgelehnte Bewerber nicht auf Behauptungen ,ins Blaue hinein‘ beschränken.“70
Der Beweisnot von Bewerber:innen, die keine Anhaltspunkte für eine Diskriminierung darlegen können, ist damit also nicht geholfen: Notwendig ist nach der Rechtsprechung des BAG und gemäß der in § 22 AGG enthaltenen Beweislastverteilung, dass Anspruchsteller:innen jedenfalls einen ersten Anhaltspunkt für eine Diskriminierung darlegen. Eine Auskunftsverweigerung kann diese Indizwirkung allenfalls verstärken, aber nicht ersetzen.71 Der Auskunftsverweigerung von Arbeitgeber:innen ist daher nach den unionsrechtlichen Anforderungen in der Lesart des BAG nur unter den Umständen eine Indizwirkung beizumessen, in denen Arbeitnehmer:innen aufgrund anderer Anhaltspunkte auch Auskunftsansprüche gem. § 242 BGB gegen ihre Arbeitgeber:innen haben. b) Zweite Stufe: Beweislastumkehr – Gegenbeweis der Arbeitgeber:innen Haben Arbeitnehmer:innen Indizien glaubhaft gemacht, die eine Nichtfortsetzung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, tragen ihre Arbeitgeber:innen die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen §§ 3, 7 I AGG vorgelegen hat. Dafür können sie erstens den Vollbeweis darüber erbringen, dass die glaubhaft gemachten Indiztatsachen unrichtig sind.72 Zweitens können sie die Kausalitäts69
So auch G. Thüsing/T. Stiebert, EuZW 2012, 464, 465. BAG, Urt. v. 25. 4. 2013 – 8 AZR 287/08, NJOZ 2013, 1699, 1705 (Rn. 59). 71 Zustimmend C. Picker, EuZA 2012, 257, 261; ähnlich H. Hanau, EuZA 2013, 105, 113. 72 ErfK/M. Schlachter, § 22 AGG Rn. 11; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 25; a. A. und nur ein substantiiertes Bestreiten verlangend: Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 104. 70
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
vermutung widerlegen, indem sie den Vollbeweis darüber antreten, dass kein in § 1 AGG genannter Grund ihre Fortsetzungsentscheidung beeinflusst hat. Und drittens können sie den Beweis eines Rechtfertigungsgrunds (gem. § 3 II AGG oder §§ 8 ff. AGG) führen. Für den Vollbeweis muss eine „überzeugende Wahrscheinlichkeit“ für die Richtigkeit der die Vermutung widerlegenden Tatsachen bestehen; Gerichte müssen einen „für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit“ gewonnen haben, „der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.“73 Angelpunkt der Argumentation von Arbeitgeber:innen ist in der Regel die Widerlegung der Kausalitätsvermutung. Dafür müssen Arbeitgeber:innen ihre Entscheidungskriterien offenlegen und beweisen, dass aus den Indizien zwingend ein anderer Schluss zu ziehen ist.74 Sie müssen den Vollbeweis darüber führen, dass kein Grund gem. § 1 AGG in ihre Entscheidung eingeflossen ist, also die Merkmalseigenschaft der Arbeitnehmer:innen weder als negatives noch ihr Fehlen als positives Kriterium in dem Motivbündel der Fortsetzungsentscheidung enthalten war. Dieser Beweis gelingt Arbeitgeber:innen typischerweise dann, wenn sie beweisen können, die Merkmalseigenschaft der Arbeitnehmer:innen nicht gekannt zu haben75 oder wenn sie beweisen können, dass ausschließlich andere Faktoren für die Nichtfortsetzung maßgeblich waren.76 2. Darlegung und Beweis der Rechtsfolgen einer Diskriminierung Steht nach dem Voranstehenden zur richterlichen Überzeugung fest, dass ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG die Entscheidung gegen eine Vertragsfortsetzung beeinflusst hat, ist damit nur der Beweis über die Diskriminierung selbst und damit auch die Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs gem. § 15 II 1 AGG erbracht. Die Höhe dieses Anspruchs ist davon abhängig, dass Arbeitnehmer:innen ohne die Diskriminierung einen Folgearbeitsvertrag erhalten hätten: Können Arbeitgeber:innen beweisen, dass Arbeitnehmer:innen auch bei benachteiligungsfreier Auswahl keinen neuen Arbeitsvertrag erhalten hätten, darf die Entschädigung drei Monatsgehälter nicht übersteigen gem. § 15 II 2 AGG. Für die Voraussetzungen von Schadensersatz- und Fortsetzungsansprüchen gem. § 15 I AGG und § 1004 BGB gilt aber weder die Beweislastumkehr des § 15 II 2 73
BGH, Urt. v. 17. 2. 1970 – III ZR 139/67 („Anastasia“), NJW 1970, 946, 948. C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 123. 75 Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 109; Wendeling-Schröder/ Stein/A. Stein, § 22 AGG Rn. 24. 76 St. Rspr. EuGH, Urt. v. 16. 7. 2015 – C-83/14, BeckRS 2015, 80950 (Rn. 85); BAG, Urt. v. 11. 8. 2016 – 8 AZR 375/15, NZA 2017, 43, 46 (Rn. 22); BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/ 14, NZA 2016, 1394, 1401 (Rn. 54); BAG, Urt. v. 29. 6. 2017 – 8 AZR 402/15, NZA 2018, 33, 38 (Rn. 48); BAG, Urt. v. 17. 8. 2010 – 9 AZR 839/08, NZA 2011, 153, 157 (Rn. 45). 74
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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AGG noch die Erleichterung des § 22 AGG.77 Anspruchsteller:innen tragen die Darlegungs- und Beweislast nach den normalen zivilprozessualen Grundsätzen78 und müssen daher insbesondere beweisen, dass ihre Arbeitsverhältnisse ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG fortgesetzt worden wäre. Für diese Hypothese müssen die diskriminierungsfreien Entscheidungsmaximen der Arbeitgeber:innen nachvollzogen werden, was Arbeitnehmer:innen vor große Beweisprobleme stellt. Adomeit und Mohr stellen daher lapidar fest, dass der Beweis der haftungsausfüllenden Kausalität kaum je gelingen wird;79 Horcher konstatiert, dass am Erfordernis der haftungsausfüllenden Kausalität viele Schadensersatzklagen scheitern dürften80 und Mörsdorf attestiert den Anspruchstellern eine „strukturelle Beweisnot“.81 Wer bei dieser Feststellung beharrt, reduziert das AGG in der Praxis auf Entschädigungsansprüche gem. § 15 II AGG. Dadurch würden wesentliche Zielsetzungen des AGG – die Herstellung materialer Gleichheit in der sozialen Realität und die Förderung der Teilhabe strukturell ausgegrenzter Personengruppen im Berufsleben – verfehlt und außerdem die von den Richtlinien geforderte abschreckende Wirkung der Sanktionen gemindert.82 Bedenken an der Unionsrechtskonformität dieser Beweislastverteilung weckt auch eine Analyse der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Draempaehl: Der Gerichtshof entschied anlässlich einer Vorlagefrage des Arbeitsgerichts Hamburg über die Auslegung des § 611a BGB a. F. Das Gericht wollte wissen, „ob die Richtlinie einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegensteht, die für den Schadensersatz, den Bewerber verlangen können, die aufgrund ihres Geschlechts bei der Einstellung diskriminiert worden sind, eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorgibt. Das Gericht möchte ferner wissen, ob diese Frage in gleicher Weise zu beantworten ist, sowohl wenn es um Bewerber geht, die im Einstellungsverfahren diskriminiert worden sind, aber die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikation des eingestellten Bewerbers auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätten, als auch um Bewerber, die bei der Einstellung diskriminiert worden sind und bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätten.“83
Der EuGH urteilte, dass die Sanktionen zur Gewährleistung eines tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutzes geeignet seinen, eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber Arbeitgeber:innen zu entfalten und in einem angemessenen Ver-
77 Allg. Auffassung BAG, v. 20. 6. 2013 – 8 AZR 482/12, NZA 2014, 21, 25 (Rn. 53); BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 79). 78 BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 76). 79 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 15 AGG Rn. 24. 80 BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 25. 81 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 480. 82 Vgl. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 480. 83 EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 23).
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hältnis zum erlittenen Schaden stehen müssen.84 Die Höhe des Schadensersatzes könne danach aber „der Tatsache Rechnung tragen, daß bestimmte Bewerber auch bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikationen des eingestellten Bewerbers nicht erhalten hätten. Es steht außer Frage, daß solche Bewerber, da sie nur einen Schaden erlitten haben, der sich aus ihrem Ausschluß von dem Einstellungsverfahren ergibt, nicht geltend machen können, ihr Schaden sei ebenso hoch wie der von Bewerbern, die bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätten.“85
Im ersten Fall resultiere der Schaden nur aus der Nichtberücksichtigung einer Bewerbung und im zweiten Fall daraus, dass die Einstellung infolge der Diskriminierung unterblieben ist.86 Damit weist der EuGH auf die unterschiedliche Höhe materieller Schäden hin. Wieso (auch) der immaterielle Schaden einer Persönlichkeitsverletzung höher sein soll, wenn Arbeitnehmer:innen bei diskriminierungsfreier Auswahl eingestellt worden wären, steht nämlich nicht „außer Frage“, sondern ist im Gegenteil jedenfalls begründungsbedürftig, wenn nicht fernliegend.87 Indem der EuGH anschließend feststellt, dass ein „Arbeitgeber, der über sämtliche eingereichten Bewerbungsunterlagen verfügt“ zu beweisen hat, „daß der Bewerber die zu besetzende Position auch dann nicht erhalten hätte, wenn keine Diskriminierung stattgefunden hätte“,88 bezieht er sich daher nach richtiger Lesart nicht bloß auf die Geltendmachung immaterieller Schäden, sondern gerade auch auf die Geltendmachung materieller Schäden. Die vom EuGH vorgenommene Beweislastverteilung betrifft also auch die haftungsausfüllende Kausalität bei der Geltendmachung von Ansprüchen gem. § 15 I AGG.89 Der deutsche Gesetzgeber hat eine Beweislastumkehr gleichwohl nur für § 15 II AGG angeordnet. Eine analoge Anwendung von § 15 II 2 AGG auf § 15 I AGG würde der eindeutig in den Materialien zum AGG zum Ausdruck gekommenen Regelungsintention des Gesetzgebers widersprechen und kommt daher nicht in Betracht.90 Nach der Rechtsprechung des BAG „können dem/der Anspruchsteller/in allerdings Beweiserleichterungen nach den allgemeinen zivilprozessualen Grund-
84
EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 25). EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 33). 86 EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 34). 87 Kritisch auch ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 12; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 10. 88 EuGH, Urt. v. 22. 4. 1997 – C-180/95 (Draehmpaehl), NJW 1997, 1839, 1840 (Rn. 36). 89 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 491; T. von Roetteken, NZA-RR 2013, 337, 343. 90 Vgl. BAG, Urt. v. 19. 8. 2010 – 8 AZR 530/09, NZA 2010, 1412, 1417 (Rn. 78): „Eine dem § 15 II 2 AGG vergleichbare Bestimmung enthält § 15 I AGG nicht. Dies führt dazu, dass im Rahmen der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nach § 15 I GG den Bewerbern die Darlegungs- und Beweislast dafür trifft, dass er als der am besten geeignete Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl die Stelle erhalten hätte.“ 85
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sätzen und Vorschriften zugutekommen.“91 Es ist daher zu untersuchen, ob die Darlegungs- und Beweislastverteilung gem. § 287 ZPO ein hinreichendes Schutzniveau gewährleistet [a)] oder ob klagenden Arbeitnehmer:innen ggf. weitergehende Beweiserleichterungen durch den Anscheinsbeweis [b)] oder die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast [c)] zugutekommen. a) Unzureichende Beweiserleichterung durch § 287 ZPO § 287 ZPO modifiziert die Grundsätze der freien Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO für die Darlegung und den Beweis eines Schadens. Sowohl über die Frage, ob ein Schaden entstanden ist als auch über seine Höhe entscheidet das Gericht gem. § 287 I 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Zur Frage, ob ein Schaden entstanden ist, gehört insbesondere auch die haftungsausfüllende Kausalität.92 Die Vorschrift verändert nicht die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, die weiterhin den Anspruchsteller:innen obliegt,93 aber ihren Inhalt: Für die richterliche Überzeugungsbildung genügt „eine überwiegende, freilich auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit. Das wirkt sich auch auf die Darlegungslast der Geschädigten aus. Es genügt, dass sie Tatsachen vortragen und unter Beweis stellen, die für eine Beurteilung nach § 287 ZPO ausreichende greifbare Anhaltspunkte bieten.“94 § 287 I ZPO ist auch für die haftungsausfüllende Kausalität bei Ansprüchen infolge von Diskriminierungen anwendbar.95 Die Gerichte dürfen danach bereits dann feststellen, dass Arbeitsverhältnisse ohne die – vorher nach oben dargestellten Grundsätzen bewiesene – Diskriminierung fortgesetzt worden wären, wenn Arbeitnehmer:innen dafür greifbare Anhaltspunkte darlegen und beweisen können. Damit wird der Beweis der haftungsausfüllenden Kausalität jedenfalls erleichtert. Arbeitnehmer:innen wird aber immer noch abverlangt, Indizien zu beweisen, die Rückschlüsse auf die diskriminierungsfreie Fortsetzungsentscheidung erlauben. Wenn Arbeitgeber:innen die Vertragsfortsetzung nicht bereits in Aussicht gestellt haben oder anhand erkennbarer Kriterien entscheiden, können Arbeitnehmer:innen oft keine hinreichend greifbaren Anhaltspunkte für die hypothetische diskriminierungsfreie Entscheidung der Arbeitgeber:innen beweisen. Das Schutzniveau bleibt deutlich hinter der vom EuGH geforderten Beweislastumkehr zurück.
91
BAG, Urt. v. 11. 8. 2016 – 8 AZR 406/14, AP AGG § 15 Nr. 22 (Rn. 105). St. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 23. 11. 2006 – IX ZR 21/03, NJW-RR 2007, 569, 571 (Rn. 23); aus der Literatur z. B. MüKo ZPO/H. Prütting, § 287 ZPO Rn. 13. 93 So ausdrücklich BGH, Urt. v. 1. 3. 2007 – IX ZR 261/03, NJW 2007, 2485, 2489 (Rn. 36). 94 BGH, Urt. v. 23. 11. 2006 – IX ZR 21/03, NJW-RR 2007, 569, 571 (Rn. 23); ähnlich (im kartellrechtlichen Kontext) BGH, Urt. v. 12. 7. 2016 – KZR 25/14, NJW 2016, 3527, 3531 f. (Rn. 41 f.). 95 Schiek/E. Kocher, § 15 AGG Rn. 24; zu Anwendung von § 287 bei § 15 II AGG BAG, Urt. v. 28. 5. 2020 – 8 AZR 170/19, NZA 2020, 1392, 1395 (Rn. 27). 92
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b) Keine Beweiserleichterung durch die Grundsätze des Anscheinsbeweises In einem Urteil aus den Jahr 2017 hat das BAG die Entscheidung darüber, ob ein Kläger Ansprüche gem. § 15 I AGG i. V. m. § 252 BGB wegen der vermeintlich diskriminierenden Verweigerung einer Arbeitszeitaufstockung geltend machen kann, an die Vorinstanz zurückverwiesen. Dabei hat es dem LAG den Hinweis erteilt, dass dem Anspruchsteller im Rahmen von § 15 I AGG eine Beweiserleichterung zugutekomme, „wenn nach der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder Wahrscheinlichkeit für eine vertragliche Aufstockung seiner Wochenarbeitszeit bei diskriminierungsfreiem Vorgehen der Beklagten bestünde.“96 Das BAG zitiert als Nachweis dieser Rechtsauffassung ein Urteil des BGH aus dem Jahr 2012, demzufolge einem Anspruchsteller im Rahmen des § 15 I AGG eine Beweiserleichterung zugutekommt, „wenn nach der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder Wahrscheinlichkeit für eine Einstellung bei regelgerechtem Vorgehen der Anstellungskörperschaft besteht. Insoweit gelten die Grundsätze entsprechend, die der BGH in Fällen der Nichtberücksichtigung eines Stellenbewerbers in Folge einer Amtspflichtverletzung einer Behörde aufgestellt hat. Danach kann – sofern dafür nach der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder Wahrscheinlichkeit besteht – der Körperschaft der Nachweis überlassen werden, dass der Schaden nicht auf die Amtspflichtverletzung zurückzuführen ist.“97 Die Formulierung der Gerichte suggeriert, dass im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität unter Umständen die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins anwendbar sein könnten. Diese Figur ist eine gewohnheitsrechtlich anerkannte und ständiger Rechtsprechung des BGH entsprechende Beweiswürdigungsregel.98 Sie befreit die beweispflichtige Partei vom konkreten Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs, wenn es sich um einen so typischen Geschehensablauf handelt, dass das Gericht seine richterliche Überzeugung von diesem Zusammenhang bereits aufgrund von Erfahrungssätzen, also aus der Lebenserfahrung abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten, bilden kann. Der bewiesene Erfolg muss danach mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Ablauf zurückzuführen sein. Prozessgegner können den Anschein durch einen Gegenbeweis erschüttern, indem sie den Vollbeweis darüber erbringen, dass die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs besteht.99 Abzugrenzen ist der Anscheinsbeweis vom normalen Indizienbeweis: Beim Indizienbeweis verschafft sich ein Gericht seine Überzeugung durch die einzelfallbezogene Würdigung mehrerer von einer Prozesspartei vorgetragenen Hilfstatsachen, die in ihrer Gesamtschau und durch Abgleich mit dem spezifischen Lebenssachverhalt den Schluss 96
BAG, Urt. v. 26. 1. 2017 – 8 AZR 736/15, NZA 2017, 854, 859 (Rn. 48). BGH, Urt. v. 23. 4. 2012 – II ZR 163/10, NZA 2012, 797, 802 (Rn. 64). 98 So für die h. M. Zöller/R. Greger, vor § 284 ZPO Rn. 29; MüKo ZPO/H. Prütting, § 286 ZPO Rn. 57; Stein/Jonas/C. Thole, § 286 ZPO Rn. 222. 99 St. Rspr. z. B. BGH, Urt. v. 5. 10. 2004 – XI ZR 210/03, NJW 2004, 3623, 3623; BGH, Urt. v. 5. 11. 1996 – VI ZR 343/95, NJW 1997, 528, 529. 97
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auf bestimmte Haupttatsachen zulassen.100 Der Anscheinsbeweis fußt hingegen auf einem einzelnen Erfahrungssatz, dessen Typizität eine Beweiswürdigung entbehrlich macht. Ist ein bestimmter Hergang zwar aufgrund der Lebenserfahrung plausibel, beruht dies aber nicht auf einer besonderen Verallgemeinerungsfähigkeit, kommt nur die einzelfallbezogene Beweiswürdigung auf Grundlage von Indizien in Betracht.101 Ein Anscheinsbeweis setzt danach voraus, dass es einen Erfahrungssatz gibt, demzufolge befristete Arbeitsverhältnisse immer dann fortgesetzt werden, wenn Arbeitgeber:innen bei der Entscheidung nicht an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG anknüpfen. Es ist bereits zweifelhaft, ob für menschliche Willensentschlüsse überhaupt je eine Typizität festgestellt werden kann, also eine bestimmte menschliche Reaktion so häufig vorkommt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass auch im Streitfall ein solcher regelhafter Geschehensablauf vorliegt, sehr groß ist. Menschliches Verhalten ist nämlich in der Regel willkürlich und folgt keinen logischen Denksätzen oder anderweitigen typischen Abläufen.102 Jedenfalls ist aber die Entscheidung, befristete Arbeitsverhältnisse fortzusetzen oder auslaufen zu lassen, kein typischer Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung Rückschlüsse auf die diskriminierungsfreie Behandlung von Arbeitnehmer:innen erlaubt. Da Arbeitgeber:innen grundsätzlich frei in der Entscheidung sind, kann ihr Motivbündel eine Vielzahl erlaubter subjektiver und objektiver, rationaler und willkürlicher Entscheidungskriterien beinhalten. Auch ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG kommen viele Gründe in Betracht, aufgrund derer Arbeitgeber:innen die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse unterlassen dürfen. Es bedarf daher zusätzlicher Anhaltspunkte, die eine Beurteilung der hypothetischen diskriminierungsfreien Entscheidung ermöglichen. Dieser Auffassung entspricht es auch, dass die oben zitierten Urteile des BAG und des BGH auf ein Urteil des BGH Bezug nehmen, in dem es gar nicht um den Anscheinsbeweis geht: Der Gerichtshof hatte festgestellt, dass ein klagender Bewerber „nicht die Möglichkeit hat, konkret darzulegen, daß bei pflichtgemäßer Durchführung des Auswahlverfahrens seine Bewerbung hätte Erfolg haben müssen. Deshalb ist es in einem solchen Fall geboten, daß der auf Schadensersatz verklagte Dienstherr seinerseits substantiiert darlegt, wie sich die Dinge bei pflichtgemäßem Verhalten entwickelt hätten, um dem Kl. die Chance zu geben, hierauf durch den Vortrag von Einzelheiten zu erwidern.“103 Dafür müsse der Beklagte insbesondere darlegen, welche Eignungsbeurteilungen und Auswahlerwägungen seiner Entscheidung zugrunde lagen.104 Damit wendet der BGH die Grundsätze der abgestuften Darlegungsund Beweislast an und nicht diejenigen des Anscheinsbeweises. Die Urteile des BAG 100 101 102 103 104
Zöller/R. Greger, § 286 ZPO Rn. 9a; Stein/Jonas/C. Thole, § 286 ZPO Rn. 225. Musielak/Voit/U. Foerste, § 286 ZPO Rn. 25. Siehe für den Meinungsstand unten Fn. 182. BGH, Urt. v. 6. 4. 1995 – III ZR 183/94, NJW 1995, 2344, 2345 f. BGH, Urt. v. 6. 4. 1995 – III ZR 183/94, NJW 1995, 2344, 2345 f.
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und des BGH aus den Jahren 2017 und 2012 sind daher entgegen ihrer missverständlichen Terminologie richtigerweise nicht als Rekurs auf den Beweis des ersten Anscheins, sondern die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zu verstehen. c) Beweiserleichterung durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungsund Beweislast Auch das LAG Berlin-Brandenburg hat das Beweisproblem in § 15 I AGG – ohne Bezugnahme auf die BAG- und BGH-Rechtsprechung – durch die Anwendung der abgestuften Darlegungs- und Beweislast gelöst. Diskriminierte Bewerber:innen genügten danach ihrer Darlegungslast, wenn sie behaupten, die bestqualifizierten Bewerber:innen gewesen zu sein. Daraufhin müssten Arbeitgeber:innen, die das Bewerbungsverfahren als Einzige überblicken, darlegen, wieso die diskriminierten Bewerber:innen auch ohne Diskriminierung nicht ausgewählt worden wären.105 Übertragen auf die Situation der Vertragsfortsetzung bedeutet eine Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast, dass Arbeitnehmer:innen, die bereits gem. § 22 AGG den Beweis ihrer Diskriminierung erbracht haben, im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität nur behaupten müssen, sie seien ohne Diskriminierung weiter beschäftigt worden, im Falle der Auswahl zwischen mehreren Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen seien sie die bestplatzierten Kandidat:innen gewesen. Arbeitgeber:innen genügen ihrer Darlegungslast gem. § 138 II ZPO dann nicht mehr durch einfaches Bestreiten, sondern müssen substantiiert darlegen, anhand welcher Kriterien sie über die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse entschieden haben und welche Rolle erlaubte Kriterien dabei gespielt haben. Eine Anwendung der abgestuften Darlegungs- und Beweislast für die haftungsausfüllende Kausalität ist sachgerecht: Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH und des BAG sind die Grundsätze dann anwendbar, wenn „die primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs steht und den Sachverhalt von sich aus nicht ermitteln kann, während dem Prozessgegner die erforderliche tatsächliche Aufklärung ohne weiteres möglich und auch zuzumuten ist“.106 Arbeitnehmer:innen kennen die Personalentscheidungen ihrer Arbeitgeber:innen selten und können nicht ermitteln, welche Entscheidungskriterien einer Vertragsverweigerung mit welchem Gewicht zugrunde lagen. Umgekehrt können Arbeitgeber:innen darüber ohne Weiteres aufklären, da es sich um Entscheidungsprozesse in ihrem eigenen Kopf oder jedenfalls der eigenen unternehmerischen Sphäre handelt. Eine substantiierte Stellungnahme ist Arbeitgeber:innen auch zumutbar, da der Kausalzusammenhang zwischen Diskriminierungen und ihren Schäden nur darzulegen ist, wenn die Diskriminierungen an sich anhand von § 22 AGG bereits bewiesen sind. Es besteht also keine anlasslose Begründungspflicht 105 106
LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26. 11. 2008 – 15 Sa 517/08, NJOZ 2008, 5205, 5221. Siehe oben Fn. 11.
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einer Personalentscheidung, wie sie für Auskunftsansprüche vor Eingreifen des § 22 AGG diskutiert wird. Steht aber fest, dass Arbeitgeber:innen bei Fortsetzungsentscheidungen an ein Merkmal gem. § 1 AGG angeknüpft haben, ist es ihnen zuzumuten, die Entscheidungsrelevanz der Diskriminierungen substantiiert darzulegen. Anhand dieser Darlegungen wird klagenden Arbeitnehmer:innen ermöglicht, zu beweisen, ob sie bei einer diskriminierungsfreien Entscheidung einen Folgevertrag erhalten hätten. Dieser Beweis kann wiederum durch Indizien geführt werden. Auch eine Anwendung der Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast stellt nicht die im Draempaehl-Urteil geforderte Beweislastumkehr her. Solange der Gesetzgeber die Beweislastumkehr aus § 15 II 2 AGG nicht auf § 15 I AGG erstreckt, was nicht absehbar ist, wird den Beweisschwierigkeiten von Arbeitnehmer:innen aber am besten dadurch Rechnung getragen, dass Arbeitgeber:innen ihre Entscheidungskriterien substantiiert darlegen müssen und gem. § 287 I ZPO bereits Indizien ausreichen können, um Gerichten die überzeugende Wahrscheinlichkeit von einer Vertragsfortsetzung ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG zu verschaffen.
II. Beweisführung durch Indizien Haben Arbeitgeber:innen substantiiert bestritten, befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen diskriminiert zu haben und/oder, dass sie befristete Arbeitsverhältnisse ohne Diskriminierung fortgesetzt hätten, obliegt Arbeitnehmer:innen der Beweis darüber. Um den Beweis einer Diskriminierung zu führen, müssen Indizien gem. § 22 AGG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf hinweisen, dass ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG im Motivbündel von Arbeitgeber:innen enthalten war. Bei dem Beweis einer mittelbaren Diskriminierung müssen Arbeitnehmer:innen die Anknüpfung an ein Merkmal beweisen, das mittelbar an ein gem. § 1 AGG genanntes Merkmal anknüpft. Um Schadensersatz gem. § 15 I AGG oder einen Fortsetzungsanspruch gem. § 15 I AGG oder analog § 1004 I BGB geltend zu machen, müssen Indizien gem. § 287 ZPO mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass das Arbeitsverhältnis ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wäre. 1. Indizien im Kontext der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverträge Der Umstand, dass Arbeitnehmer:innen eine „diskriminierungsanfällige persönliche Merkmalsstruktur“107 aufweisen, ist allein kein Indiz für eine Benachtei107
O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 488. Nach Ansicht Mörsdorfs ist eine Merkmalsstruktur dann „diskriminierungsanfällig“, wenn die Merkmalsstruktur von der im jeweiligen Umfeld herrschenden Norm abweicht. Das AGG schütze zwar vor Diskriminierungen aufgrund jeder Merkmalsausprägung; es sei aber so, dass „jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt, Frauen, Personen mit Migrationshintergrund, Muslime oder Homosexuelle in hö-
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ligung gerade aufgrund dieses Merkmals.108 Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn Arbeitnehmer:innen vortragen können, ihre Arbeit stets sehr gut geleistet zu haben und für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses daher geeignet zu sein.109 Arbeitgeber:innen sind nämlich frei in der Entscheidung, ob und mit wem sie einen befristet besetzten Arbeitsplatz nach Fristablauf neu besetzen: § 14 I TzBfG kodifiziert eine Vielzahl legitimer Flexibilisierungsinteressen. Außerdem verpflichtet das AGG Arbeitgeber:innen nicht zur Förderung strukturell benachteiligter Arbeitnehmer:innen; das Unterlassen solcher Maßnahmen entfaltet für sich daher keine Indizwirkung. § 5 AGG erlaubt positive Maßnahmen, aber gebietet sie nicht.110 Es müssen stattdessen also weitere Indizien hinzutreten. Dafür kommt grundsätzlich jede tatsächliche Verhaltensweise von Arbeitgeber:innen in Betracht. Begründen Arbeitgeber:innen die Verweigerung der Vertragsfortsetzung, kann insbesondere an den Inhalt der Begründung angeknüpft werden.111 Des Weiteren können aus anderen Verhaltensweisen im direkten oder indirekten Zusammenhang mit einer unterlassenen Vertragsfortsetzung Schlüsse auf die ihr zugrundeliegenden Überlegungen gezogen werden. Es werden in der Regel mehrere Indizien kumulativ vorgetragen werden müssen: Indizien für eine Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG [a)] und Indizien für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ohne diese Anknüpfung [b)]. Ein Sonderfall ist insoweit der Beweiswert eines Vergleichs mit anderen Arbeitnehmer:innen, deren Arbeitsverhältnisse fortgesetzt wurden, oder Bewerber:innen, die auf dem frei gewordenen Arbeitsplatz eingestellt wurden. Sofern dieser Vergleich eine Indizwirkung erzeugt, erstreckt diese sich sowohl auf die Diskriminierung als auch die Vertragsfortsetzung ohne Diskriminierung [c)].112 a) Indizien für die Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG Es sind im Wesentlichen drei Fallgruppen an Indizien identifizierbar, die im Kontext der Vertragsfortsetzung relevant sind: merkmalsbezogene Kommunikation im Vorfeld des Fristablaufs [aa)], eine diskriminierende Gestaltung des Arbeitsplatzes oder Vertragsfortsetzungsverfahrens [bb)] sowie Statistiken über die Zusammensetzung der Arbeitnehmer:innen im Betrieb oder Unternehmen [cc)]. herem Maße der Gefahr einer merkmalsbezogenen Ungleichbehandlung ausgesetzt sind als Männer, Personen mitteleuropäischer Herkunft, Christen bzw. Agnostiker oder heterosexuelle Personen.“ 108 BAG, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 8 AZR 287/08 (A), NZA 2010, 1006, 1007 (Rn. 18); BAG, Urt. v. 22. 10. 2009 – 8 AZR 642/08, NZA 2010, 280, 283 (Rn. 29). 109 Vgl. zur Eignung als Indiz bei Einstellungsentscheidungen BAG, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 8 AZR 287/08 (A), NZA 2010, 1006, 1008 (Rn. 20); MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 16. 110 Vgl. H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 337. 111 Zum Beweis von 4-Augen-Gesprächen unten 7. Kap. D. II. 2. 112 Vgl. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 480.
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aa) Merkmalsbezogene Kommunikation Eine starke Indizwirkung geht von diskriminierenden Äußerungen, beispielsweise sexistischen, rassistischen oder homophoben Kommentaren im zeitlichen Zusammenhang mit dem Fristablauf aus.113 Dasselbe gilt für die vermeintlich tröstenden Worte nach Ablehnung einer Vertragsverlängerung, eine Arbeitnehmerin „solle sich auf ihr Kind freuen“, da auch diese nachträglichen Äußerungen Hinweise auf diskriminierende Vorverständnisse der Arbeitgeber:innen schließen lassen.114 Indizwirkung entfalten außerdem Fragen nach Diskriminierungsmerkmalen – z. B. nach einer Behinderung oder Schwangerschaft – in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Fortsetzungsentscheidung,115 da diese mit überwiegender Wahrscheinlichkeit den Schluss rechtfertigen, dass Arbeitgeber:innen die Frage im Hinblick auf die anstehende Fortsetzungsentscheidung gestellt haben und die Antwort daher in ihr Motivbündel eingeflossen ist. Anders verhält es sich bei einem freiwilligen Offenbaren verpönter Merkmale durch Arbeitnehmer:innen: Erlangen Arbeitgeber:innen unaufgefordert von einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG Kenntnis, lässt dies nicht die pauschale Vermutung zu, dass Arbeitgeber:innen diese Information in ihrer Fortsetzungsentscheidung zulasten der Arbeitnehmer:innen berücksichtigt haben; ansonsten würde man sie Diskriminierungen generalverdächtigen.116 Das LAG Berlin erkennt zutreffenderweise, dass zwar insbesondere Schwangeren bei Stellenbesetzungsverfahren oft Nachteile aus ihrer Schwangerschaft erwachsen; dass diese Beobachtungen aber nicht „die Qualität eines Erfahrungs- oder gar Rechtssatzes“ haben, der auf die diskriminierende Motivation jedes Arbeitgebers schließen ließe.117 Es müssen stattdessen noch weitere Indizien hinzutreten. Umstritten ist, ob eine zeitliche Koinzidenz von unaufgeforderter Merkmalsoffenbarung und Benachteiligung ein solches Indiz darstellt. Eine Diskussion findet in der Rechtsprechung und Literatur, soweit ersichtlich, nur im Kontext der Schwangerschaftsanzeige statt; sie ist aber auf die Offenbarung der anderen Merkmale i. S. v. § 1 AGG übertragbar. Einige Stimmen der Literatur sprechen dem engen zeitlichen Zusammenhang von Schwangerschaftsanzeige und Benachteiligung – auch durch Nichtverlängerung eines Arbeitsvertrags – eine
113
BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1348 (Rn. 33); Däubler/ Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 87; Schiek/E. Kocher, § 22 AGG Rn. 21; dies., in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 323; C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 178. 114 BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 483/09, NZA 2011, 689, 692 (Rn. 36). 115 Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 78; C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 177; vgl. zur Indizwirkung einer Frage nach einer Behinderung im Vorstellungsgespräch BAG, Urt. v. 17. 12. 2009 – 8 AZR 670/ 08, NZA 2010, 383, 385 f. (Rn. 24 ff.). 116 Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 79. 117 LAG Berlin, Urt. v. 19. 10. 2006 – 2 Sa 1776/06, BeckRS 2006, 44764.
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Vermutungswirkung zu.118 Sie bleiben aber eine Begründung schuldig und verweisen wenig überzeugend auf ein Urteil des LAG Hamm aus dem Jahr 1991,119 das sich primär auf Aspekte des Vertrauensschutzes und weniger auf den zeitlichen Zusammenhang von Schwangerschaftsanzeige und Nichtverlängerung stützt. Vom oben dargestellten Begriff des Indizes120 ausgehend ist entscheidend, ob eine Merkmalsoffenbarung kurz vor Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lässt, dass das Merkmal in die Fortsetzungsentscheidung eingeflossen ist. Eine solche Schlussfolgerung kann nicht pauschal gezogen werden: Das Ende befristeter Arbeitsverhältnisse und damit der Zeitpunkt der Fortsetzungsentscheidung sind bereits von vorherein durch die Befristungsabreden determiniert. Damit unterscheidet sich die Fortsetzungsentscheidung beispielsweise wesentlich von Kündigungen, deren Zeitpunkt nicht im Vorhinein festgelegt wurde und deren Ausspruch kurz nach einer Schwangerschaftsanzeige, der Mitteilung einer Schwerbehinderung oder eines Outings in der Tat suspekt ist. Da der Zeitpunkt der Fortsetzungsentscheidung aber unabhängig von einer merkmalsrelevanten Kommunikation mit Arbeitnehmer:innen zeitlich fixiert ist, ist nie die Fortsetzungsentscheidung an sich (sondern allenfalls ihr Ergebnis) eine Reaktion auf eine Merkmalsoffenlegung. Die zeitliche Nähe allein hat daher keine Indizwirkung.121 Eine andere Bewertung kann aber gerechtfertigt sein, wenn Arbeitnehmer:innen bei ihrer Einstellung in Aussicht gestellt wurde, sie würden bei Eignung und Bewährung nach Fristablauf – befristet oder unbefristet – weiterbeschäftigt und wenn sich Arbeitgeber:innen erst nach Merkmalsoffenbarung anders entscheiden und an der Befristung festhalten.122 Die Enttäuschung von Vertrauen in die Vertragsfortsetzung kann zwar unterhalb einer Auslegung als vertraglicher Zusage keinen Fortsetzungsanspruch begründen.123 Allerdings setzen sich Arbeitgeber:innen mit der Entscheidung, Arbeitsverhältnisse trotz Eignung und Bewährung nicht fortzusetzen, in Widerspruch zu früherem Verhalten. Dieser Widerspruch ist zumindest 118
Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 92; MüKo BGB/G. Thüsing, § 22 AGG Rn. 14; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 22 AGG Rn. 371. 119 LAG Hamm, Urt. v. 6. 6. 1991 – 16 Sa 1558/90, BB 1991, 1865. 120 7. Kap. D. I. 1. a) aa). 121 So auch BAG, Urt. v. 24. 4. 2008 – 8 AZR 257/07, NZA 2008, 1351, 1354 (Rn. 38): Die Stellenneubesetzung war auf Grund der Beförderung des bisherigen Stelleninhabers erforderlich geworden und der Zeitpunkt der Neubesetzung damit aufgrund einer betrieblichen Organisationsentscheidung und unabhängig von der Kenntnis von der Schwangerschaft festgelegt worden. 122 LAG Hamm, Urt. v. 6. 6. 1991 – 16 Sa 1558/90, BB 1991, 1865, 1866; zu einem parallel gelagerten Sachverhalt im Kontext der unterlassenen Beförderung BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 483/09, NZA 2011, 689, 692 f. (Rn. 37); eine Indizwirkung nimmt auch E. Kocher, in: Schlachter/Heinig (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (2021), § 5 Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 324 an, wenn Bewerber:innen eine Stelle in Aussicht gestellt wurde und diese Erwartung grundlos enttäuscht wurde. 123 Siehe dazu ausführlich oben unter 2. Kap. C. III. 2. a) bb), b) cc) (1) (a).
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dann suspekt, wenn er in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Merkmalsoffenbarung auftritt und lässt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass Arbeitgeber:innen an das offenbarte Merkmal angeknüpft haben. Verhalten sich Arbeitgeber:innen dadurch widersprüchlich, dass sie Arbeitsverhältnisse nach Mitteilung eines Merkmals i. S. v. § 1 AGG entgegen zuvor geweckter Erwartungen nicht fortsetzen, können diese Tatsachen im Rahmen der nach § 22 AGG vorzunehmenden Gesamtbetrachtungen hinreichende Indizien darstellen. Unter dem Begriff der merkmalsbezogenen Kommunikation fallen schließlich auch Äußerungen von Arbeitgeber:innen und ihren Vertreter:innen gegenüber anderen Arbeitnehmer:innen, Kund:innen, Geschäftspartner:innen oder sogar in der Öffentlichkeit.124 Sexistische, rassistische, islamophobe oder homophobe Bemerkungen lassen auf eine sexistische, rassistische, islamophobe bzw. homophobe Grundgesinnung der Arbeitgeber:innen schließen. Ein Indiz für die diskriminierende Motivlage bei der konkreten Fortsetzungsentscheidung sind sie aber nur, wenn das Verhalten nach „Art und Tragweite einen Zusammenhang zu dem konkreten Streitfall und dem Diskriminierungsmerkmal erkennen“ lässt.125 Es ist also im Einzelfall zu prüfen, ob Äußerungen der Arbeitgeber:innen einen derartigen Bezug zu der Nichtfortsetzungsentscheidung haben, dass ihre diskriminierende Gesinnung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch die konkrete Einzelfallentscheidung beeinflusst hat. Aspekte, die im Rahmen dieser Einschätzung ins Gewicht fallen können, sind die zeitliche Nähe von Äußerung und Fortsetzungsentscheidung, eine Personenidentität von der sich äußernden und der über die Fortsetzung entscheidenden Person sowie der individuelle Bezug der Äußerung zu einzelnen Arbeitnehmer:innen und einzelnen Merkmalsausprägungen. bb) Diskriminierende Arbeitsplatz- oder Verfahrensgestaltung Schließlich können mehrere von der Rechtsprechung und Literatur genannte Indizien unter dem Begriff der diskriminierenden Arbeitsplatz- und Verfahrensgestaltung zusammengefasst werden. Arbeitgeber:innen sind zur Beachtung verschiedener gesetzlicher Schutz- und Förderpflichten zugunsten bestimmter Merkmalsträger:innen verpflichtet: Gegenüber Schwangeren haben sie die gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 3 ff. MuSchG – die Einhaltung bestimmter arbeitszeitrechtlicher und betrieblicher Gesundheitsschutzmaßnahmen – zu beachten. Gegenüber Arbeitnehmer:innen mit Behinderung sind sie gem. § 164 IV SGB IX oder § 241 II BGB (in einer Art. 5 RL 2000/78/EG entsprechenden Auslegung)126 zur Gewährung bestimmter Leistungen und Erleichterungen verpflichtet. Missachten Arbeitgeber:innen diese Pflichten in Kenntnis der Schwangerschaft oder Schwer124
Zu öffentlichen Äußerungen EuGH, Urt. v. 10. 7. 2008 – C-54/07 (Feryn), NJW 2008, 2767, 2769 (Rn. 34). 125 M. Grobys, NZA 2006, 898, 902; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 275. 126 Siehe oben 5. Kap. C. III. 2. a).
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behinderung der Arbeitnehmer:innen, kann daraus geschlossen werden, dass sie die besonderen Bedürfnisse dieser Arbeitnehmergruppen missbilligen.127 Dieses Verhalten rechtfertigt den Schluss, dass die Schwerbehinderung oder Schwangerschaft auch die Fortsetzungsentscheidung negativ beeinflusst hat und ist damit ein Indiz i. S. v. § 22 AGG.128 Auch die Gestaltung des Wiederbesetzungsverfahrens über den Arbeitsplatz kann Indizien für eine Diskriminierung enthalten: In der Literatur und Rechtsprechung vielbesprochenes und äußerst praxisrelevantes Beispiel ist die gegen § 11 AGG verstoßende Stellenausschreibung.129 Schreiben Arbeitgeber:innen die Stelle so aus, dass ehemalige Arbeitnehmer:innen aufgrund eines Merkmals gem. § 1 AGG ausgeschlossen werden – beispielsweise da sie sich nur an Berufseinsteiger:innen und damit nicht die gealterten bereits befristet angestellten Arbeitnehmer:innen richtet – indiziert dies, dass Arbeitnehmer:innen gerade aufgrund ihres Alters nicht weiterbeschäftigt werden sollen. Ein ähnlicher Schluss drängt sich auf, wenn Arbeitgeber:innen den Arbeitsplatz nicht offiziell ausschreiben, sondern direkt an bestimmte Personengruppen innerhalb oder außerhalb der Betriebsbelegschaft mit gegenteiliger Merkmalsausprägung anbieten.130 Voraussetzung der Indizwirkung ist auch hier, dass das Angebot gegenüber einer aussagekräftigen Anzahl an Personen ausgesprochen wurde und diese allesamt eine gegenteilige Merkmalsausprägung aufweisen. Und schließlich haben Arbeitgeber:innen nicht nur im laufenden Arbeitsverhältnis, sondern auch im Stellenbesetzungsverfahren Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen aus dem SGB IX zu beachten, deren Verletzung eine diskriminierende Motivation indizieren kann.131
127 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1348 (Rn. 33). Dieser Schluss kann hingegen nicht aus einem Verstoß gegen die Pflicht zum betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 164 II SGB IX gezogen werden, da die Norm keine besondere Schutzvorschrift zugunsten von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung ist. Ein Verstoß indiziert also allenfalls, dass Arbeitgeber:innen ihre Verpflichtungen gegenüber kranken Arbeitnehmer: innen vernachlässigt, aber nicht, dass sie Arbeitnehmer:innen mit Behinderung unmittelbar benachteiligt haben, BAG, Urt. v. 28. 4. 2011 – 8 AZR 515/10, NJW 2011, 2458, 2461 (Rn. 41 ff.). 128 Vgl. zur Schwerbehinderung BAG, Urt. v. 26. 9. 2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258, 261 (Rn. 29 f.) sowie ausführlich BeckOGK/M. Benecke, § 22 AGG Rn. 48 ff.; Däubler/ Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 83; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008); vgl. zu einer gegen § 9 I 1 MuSchG a. F. verstoßenden Kündigung LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16. 9. 2015 – 23 Sa 1045/15, BeckRS 2015, 71755 (Rn. 34). 129 Einhellige Ansicht; statt aller BAG, Urt. v. 19. 5. 2016 – 8 AZR 470/14, NZA 2016, 1394, 1401 (Rn. 55). 130 C. Wörl, Die Beweislast nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2009), S. 152. 131 BAG, Urt. v. 26. 9. 2013 – 8 AZR 650/12, NZA 2014, 258, 261 (Rn. 29 f.); ausführlich BeckOGK/M. Benecke, § 22 AGG Rn. 48 ff.; Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 83.
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cc) Statistiken über die Belegschaftsstruktur Statistiken können im Diskriminierungsprozess in zweifacher Hinsicht eine Rolle spielen: Erstens kann mit ihnen die mittelbar diskriminierende Wirkung eines Anknüpfungsmerkmals i. S. v. § 3 II AGG festgestellt werden: Diese Tatbestandsvoraussetzung von § 3 II AGG müssen Arbeitnehmer:innen dem Gericht zur vollen Überzeugung nachweisen, sofern sich die Auswirkungen nicht schon bei einer wertenden Betrachtung ergeben.132 Zweitens kann mit Statistiken der Indizienbeweis geführt werden, dass Arbeitgeber:innen bei einer Entscheidung an ein unmittelbar oder mittelbar diskriminierendes Merkmal angeknüpft haben.133 Regelhafte Verhaltensweisen gegenüber gewissen Merkmalsträger:innen in der Vergangenheit können ein Indiz für eine bestimmte Motivlage auch im Streitfalle sein,134 wenn die Statistik aussagekräftig ist, also eine ausreichende Anzahl von Personen betrifft135 sowie hinreichenden Bezug zum konkreten Arbeitsplatz und der konkreten Fortsetzungsentscheidung hat.136 Nach diesen Maßstäben kann eine diskriminierende Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse durch Statistiken indiziert sein, wenn nur oder überproportional viele Arbeitsverhältnisse von vergleichbaren Arbeitnehmer:innen mit anderer Merkmalsausprägung fortgesetzt werden oder wurden.137 So sprechen nach der zutreffenden Ansicht des LAG Köln Indizien für eine Benachteiligung aufgrund der Schwangerschaft, wenn die Nichtverlängerung nach Mitteilung der Schwangerschaft beschlossen wurde und alle anderen gleichzeitig auslaufenden befristeten Arbeitsverträge mit nicht schwangeren Arbeitnehmer:innen verlängert worden 132 A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 281. 133 BT-Drs. 16/1780. S. 47; Erwägungsgrund Nr. 15 der RL 2000/43/EG sowie Erwägungsgrund Nr. 15 der RL 2000/78/EG; BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 99 (Rn. 68). Bei dem Beweis einer mittelbaren Diskriminierung ist also ggf. ein doppelter statistischer Beweis zu führen: Indizien sowohl für die mittelbar diskriminierende Wirkung eines Merkmals als auch für die Anknüpfung an das mittelbar diskriminierende Merkmal sind beispielsweise erbracht, wenn eine Arbeitnehmerin aussagekräftige statistische Nachweise darüber vorträgt, dass nur Arbeitnehmer:innen unterhalb einer bestimmten Anzahl krankheitsbedingter Fehltage entfristet wurden sowie darüber, dass eine überproportionale Anzahl von Arbeitnehmer:innen mit Behinderung „zu viele“ Fehltage angesammelt haben. Die erste Statistik lässt den Schluss auf krankheitsbedingte Fehltage als neutralem Differenzierungskriterium zu; die zweite Statistik rechtfertigt die Annahme einer ungleichen Betroffenheit bestimmter Merkmalsträger. 134 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1348 (Rn 36); BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 99 (Rn. 68). 135 K. Adomeit/J. Mohr, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2011), § 22 AGG Rn. 39. 136 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1348 (Rn. 36); BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 99 (Rn. 68); BeckOGK/M. Benecke, § 22 AGG Rn. 28.3. 137 Vgl. BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 364/11, NZA 2012, 1345, 1349 (Rn. 41); BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 101 (Rn. 83); Däubler/Bertzbach/ M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 88.
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sind.138 Nach der Ansicht des BAG spricht die Nichtverlängerung der Arbeitsverträge gerade der drei ältesten Tanzgruppenmitglieder für eine Altersdiskriminierung.139 b) Indizien für eine Vertragsfortsetzung ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG Zusätzlich müssen Arbeitnehmer:innen Indizien dafür beweisen, dass ihre Arbeitsverhältnisse ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wären. Da Arbeitgeber:innen bei ihrer Entscheidung, welche Arbeitsverhältnisse sie fortsetzen, nicht an sachliche Gründe gebunden sind, sind die Anforderungen an diese Indizien sehr hoch. Nicht ausreichend ist, dass Arbeitnehmer:innen beweisen können, einwandfreie Arbeit geleistet zu haben und dass der Bedarf an der Arbeitsleistung weiterbesteht. Denn durch den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags nutzen Arbeitgeber:innen gerade die durch und in den Grenzen des TzBfG eingeräumten Möglichkeiten, Arbeitsverträge bei Fristende nicht fortzusetzen, ohne dafür sachliche betriebs- oder personenbezogene Gründe vorweisen zu müssen. Die Bewährung der Arbeitnehmer:innen und die betriebliche Möglichkeit ihrer Weiterbeschäftigung haben damit keine ausreichende Indizwirkung. Hinzutreten müssen stattdessen weitere Indizien, die nahe legen, dass das befristete Arbeitsverhältnis ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wäre. Eine besonders hohe Indizwirkung geht insofern von Willens- und Absichtserklärungen sowie anderen erwartungserzeugenden Verhaltensweisen von Arbeitgeber:innen aus, die eine Vertragsfortsetzung über den Fristablauf hinaus erwarten lassen.140 Auch Erklärungen und Verhaltensweisen, die nicht die Qualität einer rechtsgeschäftlichen und einklagbaren Zusage auf Vertragsfortsetzung aufweisen, können mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten, dass Arbeitsverhältnisse ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wären. Außerdem kann die betriebliche Praxis, Arbeitsverhältnisse generell oder unter bestimmten Voraussetzungen fortzusetzen, darauf hindeuten, dass auch die Arbeitsverhältnisse diskriminierter Arbeitnehmer:innen ohne die Diskriminierung fortgesetzt worden wären.141 Da es hier um widerlegbare Indizien für eine hypothetische Behandlung diskriminierter Arbeitnehmer:innen geht, gelten nicht die hohen Anforderungen des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes; für die Indizwirkung genügt stattdessen ein gewisses Maß an Regelhaftigkeit und Üblichkeit der Fortsetzung vergleichbarer Arbeitsverhältnisse. 138
LAG Köln, Beschl. v. 6. 4. 2009 – 5 Ta 89/09, NZA-RR 2009, 526. BAG, Urt. v. 20. 3. 2019 – 7 AZR 237/17, NZA 2019, 1492, 1496 (Rn. 33). 140 Zu möglichen Fallgruppen und ihrer rechtsgeschäftlichen Einordnung siehe oben 2. Kap. 141 So auch W. Kohte, in: FS Wank (2014), Der Fortsetzungsanspruch, S. 245, 255: Die Anzeige einer Schwangerschaft vor Fristablauf entfaltet dann eine Indizwirkung, wenn die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse im Unternehmen der Regelfall ist; vgl auch BAG, v. 20. 6. 2013 – 8 AZR 482/12, NZA 2014, 21, 25 (Rn. 54): „Die Klägerin hat auch nicht dargelegt, dass bei der Beklagten grundsätzlich die Bereitschaft bestand, befristete Honorarrahmenverträge nochmals zu verlängern.“ 139
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c) Einstellung oder Weiterbeschäftigung einer Vergleichsperson als Indiz: Aussagekraft eines Vergleichs? In § 3 I AGG wird die Indizwirkung einer Vergleichspersonenbetrachtung hervorgehoben.142 Jedenfalls dann, wenn in Übereinstimmung mit der BAG-Rechtsprechung alle konkurrierenden Bewerber:innen und Arbeitnehmer:innen unabhängig von ihrer Eignung verglichen werden, erlaubt aber allein die bessere Behandlung eines Konkurrenten mit gegenteiliger Merkmalsausprägung keine Rückschlüsse auf eine diskriminierende Motivlage der Arbeitgeber:innen.143 Dass andere befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen einen Folgearbeitsvertrag erhalten haben oder externe Bewerber:innen sich in einem Bewerbungsverfahren durchgesetzt haben, weist auch dann nicht auf eine Diskriminierung hin, wenn die erfolgreichen Vergleichspersonen eine andere Merkmalsausprägung als die entlassenen Arbeitnehmer:innen aufweisen. Private Arbeitgeber:innen dürfen einen Mann einer Frau, einen cis- einem transsexuellen Arbeitnehmer und eine christliche einer muslimischen Arbeitnehmerin vorziehen, vorausgesetzt die Entscheidung wurde nicht durch die Merkmalsausprägung beeinflusst. Auch Menschen mit Behinderung müssen von privaten Arbeitgeber:innen nicht bevorzugt eingestellt werden, mit §§ 154 ff. SGB IX und der Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe gem. § 160 SGB IX hat sich der Gesetzgeber für eine indirekte Verhaltenssteuerung entschieden. Die Beurteilung könnte anders ausfallen, wenn weiterbeschäftigte Arbeitnehmer:innen oder eingestellte Bewerber:innen schlechter qualifiziert sind als die ausgeschiedenen Arbeitnehmer:innen. In diesen Fällen spricht nach Teilen der Literatur die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Merkmalsausprägung für die Benachteiligung kausal wurde.144 Gegen den Beweiswert eines solchen Qualifikationsvergleichs wendet Schramm ein, eine Bestenauswahl sei weder Pflicht noch Normalfall. „Weil der Bereich unsachlicher Gründe viele nach der Privatautonomie zulässige Entscheidungsgesichtspunkte umfasst, die nach der Lebenserfahrung das Auswahlverfahren wesentlich bedingen und zur ,objektiven Qualifikation‘ konträr verlaufen können – Sympathien für Temperamente, Stile usw., Vertrauen, Intuitionen etc.“ – gebe es keinen Erfahrungssatz dafür, dass außerhalb der Qualifikationsauswahl nach den Merkmalen des § 1 AGG diskriminiert werde.145 Dagegen argumentiert Mörsdorf überzeugend, dass das subjektive Anforderungsprofil von Arbeitgeber:innen der objektiven Qualifikation regelmäßig im Groben entsprechen werde.146 Würde man einem Diskriminierungskläger verwehren, einen 142
a). 143
Siehe zur Funktion des Vergleichspersonenkonzepts in § 3 I AGG oben 5. Kap. B. II. 1.
Siehe auch dazu oben 5. Kap. B. II. 1. b). J.-H. Bauer/S. Krieger/J. Günther, AGG (2018), § 22 AGG Rn. 11; G. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz (2013), Rn. 653; A. von Medem, Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2008), S. 280. 145 H. Schramm, Ungewisse und diffuse Diskriminierung (2013), S. 341. 146 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 476. 144
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Personenvergleich nach objektiven Kriterien durchzuführen, „schneidet man ihm zugleich die Beweisführung auf Basis des Vergleichspersonenkonzepts im Ganzen ab.“147 Der Vertragsabschlussfreiheit der Arbeitgeber:innen, die auch Entscheidungen anhand subjektiver Kriterien sowie Willkür gewährleistet, kann und muss bei der Würdigung ihrer Gegenbeweise Rechnung getragen werden, indem Arbeitgeber:innen zur Überzeugung des Gerichts dartun, dass sie die objektiv schlechter qualifizierte Person vor der besser qualifizierten Person bevorzugt haben, ohne dabei an ein Merkmal gem. § 1 AGG angeknüpft zu haben. Dafür müssen Arbeitgeber:innen ihr „subjektives Anforderungsprofil vor dem Gericht zwar nicht rechtfertigen, wohl aber als plausibel erscheinen lassen.“148 Die Plausibilitätskontrolle hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass mit dem AGG gerade keine umfassende Versachlichung und Objektivierung von Arbeitgeberentscheidungen eingeführt, sondern nur die Anknüpfung an die Merkmale i. S. v. § 1 AGG verboten werden sollte.149 Gerade wegen dieser nur punktuellen Begrenzung der Vertragsabschlussfreiheit wurde oben die verfassungsrechtliche Angemessenheit der Diskriminierungsverbote und der Rechtsfolgen eines Verstoßes – einschließlich Kontrahierungszwängen – bejaht.150 Es sind daher alle erlaubten Entscheidungskriterien unabhängig von ihrer objektiven Nachvollziehbarkeit, zu akzeptieren, sofern Arbeitgeber:innen nur überzeugend vortragen, wirklich daran angeknüpft zu haben.151 Gibt ein Arbeitgeber beispielsweise an, anhand des Sternzeichens der Bewerber:innen entschieden zu haben, ist dieser Vortrag nicht per se als Schutzbehauptung zu verwerfen, sondern seine Ernsthaftigkeit zu überprüfen. Es muss dem Arbeitgeber ermöglicht werden, das Gericht durch eine Befragung von Zeug:innen oder einen Einblick in die „Sternzeichen-Struktur“ der Belegschaft von der Wahrheit seiner Behauptung zu überzeugen. Sofern gewährleistet ist, dass Arbeitgeber:innen im Rahmen ihres Gegenbeweises tatsächlich die Chance erhalten, ihre subjektiven Entscheidungskriterien zur richterlichen Überzeugung darzulegen, ist es sachgerecht, dass sie eine Diskrepanz zwischen objektivem und subjektivem Anforderungsprofil erklären müssen. Wurden die Arbeitsplätze befristet beschäftigter Arbeitnehmer:innen mit objektiv weniger qualifizierten Personen anderer Merkmalsausprägung besetzt, ist dies ein Indiz dafür, dass ihre Arbeitsverhältnisse ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG fortgesetzt worden wären.
147
O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 476. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 469 f. 149 Vgl. O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 481: „Diese auf prozessualen Gründen beruhende Objektivierung der subjektiven Entscheidungsprozesse beim Verbotsadressaten steht indes in einem gewissen Widerspruch zum materiell-rechtlichen Wesenskern von Diskriminierungsverboten“. 150 Siehe oben 6. Kap. C. II. 5. a) bb), dort insbes. (1) (b) und (2) (a). 151 O. Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm (2018), S. 482. 148
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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2. Beweismittel, insbesondere Beweisführung über Vier-Augen-Gespräche Für die Glaubhaftmachung der Indizien gelten nicht die erweiterten Beweismittel des § 294 ZPO,152 sondern §§ 284, 371 ff. ZPO i. V. m. § 46 II ArbGG. Danach erhebt das Gericht die Beweise grundsätzlich nach dem Strengbeweisverfahren; gem. § 284 S. 2 ZPO können Beweise nur mit Einverständnis beider Parteien im Freibeweisverfahren erhoben werden. Strengbeweismittel, die für die Feststellung der diskriminierenden Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse in Betracht kommen, sind insbesondere der Urkundenbeweis gem. §§ 415 ff. ZPO (beispielsweise über Absageschreiben der Arbeitgeber:innen, betriebliche Kleider- oder Verhaltensordnungen oder diskriminierende Stellenausschreibungen), die Befragung von Zeug:innen gem. §§ 373 ff. ZPO (beispielsweise über diskriminierende Äußerungen der Arbeitgeber:innen in der Anwesenheit von Geschäftspartner:innen, Kund:innen oder anderen Arbeitnehmer:innen) – sowie die Parteivernehmung gem. §§ 445 ff. ZPO. Wie oben bereits dargestellt wurde, können sich Indizien über die Motivation von Arbeitgeber:innen, Arbeitsverhältnisse nicht fortzusetzen, aufgrund der bereits bestehenden Vertragsbeziehung oft aus Gesprächen zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen oder, bei großen Unternehmen, personalverantwortlichen Mitarbeiter:innen, ergeben. Dann stehen Arbeitnehmer:innen oft keine anderen Beweismittel als die eigene Aussage zur Verfügung. In der Begründung zum AGG wird betont, dass das Gericht in solchen Fällen „alle zulässigen Möglichkeiten der Anhörung (§ 141 ZPO) und Vernehmung (§ 448 ZPO) des Klägers auszunutzen“153 hat. Dieser Hinweis ist zu erläutern, da die Anhörung nach § 141 ZPO kein Beweismittel i. e. S. ist, sondern eine im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts angeordnete Prozesserklärung zwecks Aufhellung des Sachvortrags.154 Es geht dabei also eigentlich um die Klärung des Sachvortrags durch das Wechselspiel von Darlegungen und Bestreiten i. S. v. § 138 ZPO. Bleibt der Inhalt des Gesprächs nach der Parteianhörung streitig, ist die Partei nach §§ 445 ff. ZPO zu vernehmen.155 Arbeitnehmer:innen können jedoch nur vernommen werden, wenn entweder die Arbeitgeber:innen einverstanden sind gem. § 447 ZPO oder wenn das Gericht die Vernehmung von Amts wegen anordnet gem. § 448 ZPO, was eine gewisse Anfangswahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der von den Arbeitnehmer:innen vorgebrachten Behauptung voraussetzt.156 Damit ergibt sich eine Schutzlücke für Kläger:innen, die als Anknüpfungstatsachen ausschließlich auf Vier-Augen-Gespräche verweisen können. Sie haben nach 152 153 154 155 156
Siehe oben 7. Kap. D. I. 1. a) bb). BT-Drs. 16/1780, S. 47. Vgl. BGH, Urt. v. 19. 4. 2002 – V ZR 90/01 (KG), NJW 2002, 2247, 2249. E. Kocher, NZA 2003, 1314, 1316. St. Rspr. BGH, Urt. v. 11. 6. 2015 – I ZR 7/14, NJW 2016, 950, 952 (Rn. 35).
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
strenger Anwendung der §§ 141, 484 ZPO keine Möglichkeit, den Prozess erfolgreich zu führen. Diese Situation kann dem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK widersprechen: Kann über Vier-Augen-Gespräche nur eine Seite einen Zeugenbeweis aufbieten, da sie selbst das Gespräch nicht geführt hat, aber der ihr nahestehende oder sie vertretende Zeuge, und war die andere Prozesspartei selbst am Gespräch beteiligt, gebietet nach Ansicht des EGMR das Prinzip der Waffengleichheit im Zivilprozessrecht, dass auch die andere Prozesspartei Gelegenheit erhält, ihre eigene Sichtweise des Gesprächs vorzutragen.157 Der BGH und das BAG setzen dieses Gebot im nationalen Recht um, indem sie den Gerichten die Möglichkeit einräumen, die Partei nach § 141 ZPO anzuhören und die Anhörung im Rahmen der freien Beweiswürdigung gem. § 286 I 1 ZPO zu verwerten oder unter Absenkung der Anforderungen nach § 448 ZPO eine formale Parteivernehmung anzuordnen.158 In der Prozessrechtswissenschaft hält man eine großzügige Handhabung von § 448 ZPO für vorzugswürdig, indem Beweisschwierigkeiten bei VierAugen-Gesprächen berücksichtigt werden und auf die Subsidiarität der Parteivernehmung und das Erfordernis der Anfangswahrscheinlichkeit verzichtet wird.159 Das BVerfG scheint beide Lösungswege zu akzeptieren.160 Unabhängig von der dogmatischen Verankerung ist damit anerkannt, dass Gerichte der Parteierklärung von Arbeitnehmer:innen ggf. den Bekundungen der Arbeitgeber:innen oder von Zeug:innen vorziehen dürfen.161 Übertragen auf die Forschungsfrage bedeutet das: Hat die merkmalsrelevante Kommunikation (beispielsweise die Schwangerschaftsanzeige einer Arbeitnehmerin oder rassistische Äußerungen eines Personalverantwortlichen) in einem Gespräch zwischen den Arbeitnehmer:innen und Repräsentanten der Arbeitgeber:innen mit Vorgesetztenfunktion oder sonstiger Personalhoheit stattgefunden, können Arbeitgeber:innen ihre Mitarbeiter:innen als Zeugenbeweis aufrufen, während Arbeitnehmer:innen keine externen Beweismittel zur Verfügung stehen. Daher sind die Arbeitnehmer:innen über den Gesprächsinhalt nach § 141 ZPO oder § 448 ZPO anzuhören. Nach Ansicht des BGH und des BAG sind die Grundsätze der „Vier-AugenRechtsprechung“ auch dann anwendbar, wenn an dem Gespräch die beiden Prozessparteien beteiligt waren und deshalb gar kein Zeuge existiert.162 Zwar besteht in 157
EGMR, Urt. v. 27. 10. 1993 – 37/1992/382/460, NJW 1995, 1413, 1414. BGH, Urt. v. 14. 5. 2013 – VI ZR 325/11, NJW 2013, 2601, 2602; BGH, Urt. v. 16. 7. 1998 – I ZR 32/96, NJW 1999, 363, 364; BAG, Urt. v. 6. 12. 2001 – 2 AZR 396/00, NZA 2002, 731, 734. 159 E. Kocher, NZA 2003, 1314, 1316; R. Lange, NJW 2002, 476, 482. 160 BVerfG, Beschl. v. 21. 2. 2001 – 2 BvR 140/00, NJW 2001, 2531. 161 BGH, Beschl. v. 24. 6. 2003 – VI ZR 327/02, NJW 2003, 2527, 2528. 162 BAG, Urt. v. 22. 5. 2007 – 3 AZN 1155/06, NZA 2007, 885, 886 (Rn. 17); BGH, Urt. v. 9. 6. 2011 – IX ZR 75/10, NJW 2011, 2889, 2890 (Rn. 19); ebenso MüKo ZPO/K. Schreiber, § 448 ZPO Rn. 4; Musielak/Voit/A. Stadler, § 141 ZPO Rn. 2; a. A. Stein/Jonas/C. Althammer, § 141 ZPO Rn. 7. 158
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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diesem Fall nicht das der EGMR-Entscheidung zugrundeliegende Verhandlungsungleichgewicht der Parteien; aber auch hier stünde die beweisbelastete Partei „vor einer nicht behebbaren Beweisnot, würde ihr nicht Gelegenheit gegeben, den notwendigen Beweis überhaupt zu führen.“163 Auch dann, wenn die in Frage stehende merkmalsrelevante Kommunikation also zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber:in selbst stattgefunden hat, ist Arbeitnehmer:innen durch Anhörung Gelegenheit zu geben, durch die Wiedergabe von Gesprächen den Beweis zu erbringen, dass ihre Arbeitsverhältnisse aufgrund einer Diskriminierung nicht fortgesetzt wurden.
III. Gegenbeweise im Kontext der Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen Haben Arbeitnehmer:innen Indizien bewiesen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer Diskriminierung und/oder die Vertragsfortsetzung ohne Diskriminierung schließen lassen, können Arbeitgeber:innen den Gegenbeweis erbringen, schon gar nicht an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG angeknüpft zu haben oder, dass sie das Arbeitsverhältnis auch ohne Diskriminierung nicht fortgesetzt hätten. Als Gegenbeweise kommen alle denkbaren tätigkeits- oder nicht tätigkeitsbezogenen Entscheidungsgründe in Betracht, wie beispielsweise schlechte Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer:innen, Konflikte im Betrieb, ein neuer Zuschnitt der Stelle oder auch Antipathien ohne Bezug zu einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG. Voraussetzung des Gegenbeweises ist, dass Arbeitgeber:innen das Gericht von ihren Entscheidungsgründen überzeugen können, insbesondere durch die Dokumentation von Abmahnungen, Feedbackgesprächen und Bewerbungsverfahren164 oder die Vernehmung von Zeug:innen. Gegen eine Diskriminierung spricht es außerdem, wenn der vorgetragene Grund für die Entlassung mit dem Grund der Befristungsabrede i. S. v. § 14 I TzBfG übereinstimmt: Entfällt der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung tatsächlich nach Fristablauf (vgl. § 14 I 2 Nr. 1 TzBfG), kehrt der vertretene Arbeitnehmer an den Arbeitsplatz zurück (Nr. 3), realisiert sich das von Nr. 4 gewährleistete Abwechslungs- und Innovationsbedürfnis, bewährt sich eine Arbeitnehmerin nicht (Nr. 5), oder entfallen die Haushaltsmittel für die befristete Stelle (Nr. 8), können Arbeitgeber:innen regelmäßig beweisen, entweder schon gar keinen Entscheidungsspielraum gehabt zu haben, bei dessen Ausfüllung an ein Merkmal gem. § 1 AGG hätte angeknüpft werden können, oder aber jedenfalls, dass andere Gründe für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen sind. 163
BAG, Urt. v. 22. 5. 2007 – 3 AZN 1155/06, NZA 2007, 885, 886 (Rn. 17). Eine Dokumentation der Entscheidungsgründe halten die meisten Autoren für ratsam (statt aller: Däubler/Bertzbach/M. Bertzbach/T. Beck, § 22 AGG Rn. 121 ff.), damit sich Arbeitgeber:innen nicht dem Vorwurf aussetzen, Entscheidungsgründe vor Gericht nur vorzuschieben (vgl. BT-Drs. 16/1780, S. 47; BVerfG, Beschl. v. 16. 11. 1993 – 1 BvR 258/86, NZA 1994, 745, 746). 164
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Eine durch Indizien vermutete Diskriminierung oder diskriminierungsfreie Vertragsfortsetzung kann schließlich widerlegt werden, indem Arbeitgeber:innen beweisen, dass sie aus betrieblichen Gründen keine Entfristungen vornehmen wollen, eine (weitere) Vertragsverlängerung aber die gesetzliche Höchstbefristungsdauer des § 14 II 1 TzBfG oder die von der Rechtsprechung im Rahmen von § 14 I TzBfG etablierten Grenzen des Rechtsmissbrauchs überschreiten würde. Dieses Anliegen mag aus Arbeitnehmersicht zwar verwerflich sein, ist aber nach der Konzeption des § 14 TzBfG erlaubt, da die zeitlichen Grenzen von Kettenbefristungen arbeitnehmerund nicht arbeitsplatzbezogen beurteilt werden.
E. Beweisführung über verbotene Maßregelungen Dass Vertragsfortsetzungen aus maßregelnden Gründen unterlassen wurden, ist für Arbeitnehmer:innen ebenso schwierig zu beweisen wie eine diskriminierende Motivlage. Rechtsprechung und Literatur diskutieren daher verschiedene Erleichterungen der prozessualen Geltendmachung von Ansprüchen infolge verbotener Maßregelungen gem. § 612a BGB und § 78 S.2 BetrVG: Teilweise werden Modifikationen der Darlegungs- und Beweislast durch eine analoge Anwendung von § 22 AGG [I.] oder Erleichterungen der Beweisführung durch den Beweis des ersten Anscheins [II.] befürwortet. Einig ist man sich darin, dass jedenfalls die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast anwendbar [III.] und die Beweisführung durch einen Indizienbeweis [IV.] statthaft sind.
I. Keine Beweiserleichterung durch analoge Anwendung von § 22 AGG Da § 612a BGB keine Beweislasterleichterung vorsieht, der Beweis maßregelnder Motive für Arbeitnehmer:innen aber ähnlich schwierig ist wie der einer Diskriminierung, könnte eine analoge Anwendung von § 22 AGG erwogen werden. Voraussetzung dafür ist (neben der Vergleichbarkeit der Interessenlage) eine Regelungslücke, also eine planwidrige Unvollständigkeit im Recht. Die Entstehungsgeschichte von § 612a BGB spricht gegen die Annahme, dass die Beweislast versehentlich nicht geregelt wurde: § 612a BGB wurde durch das Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz und über die Erhaltung von Ansprüchen bei Betriebsübergang165 in das BGB eingeführt, das europäische Richtlinienvorgaben erfüllen sollte.166 Die Richtlinienanforderungen bezogen sich nur auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz und wurden durch das geschlechtsspezifische Benachteiligungsverbot in § 611a BGB a. F. um165 166
BGBl. I S. 1308. BT-Drs. 8/3317, S. 6.
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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gesetzt, das mit § 611a I 3 BGB a. F. eine Vorgängerregelung zu § 22 AGG bezüglich der Beweislast enthielt. § 612 BGB, der damals wie heute die Vergütung von Arbeitsleistungen regelt, wurde § 612 III BGB a. F. angefügt, nach dem nicht wegen des Geschlechts eine geringere Vergütung vereinbart werden durfte. Gem. § 612 III 3 BGB a. F. war die Beweislastregelung in § 611a I 3 BGB a. F. entsprechend anzuwenden. § 612a BGB ging inhaltlich über die Richtlinienanforderungen hinaus167 und enthielt, anders als § 611a I 3 BGB a. F., gerade keine eigene Beweislastregelung und anders als § 612 III 3 BGB a. F. auch keine Bezugnahme auf die Beweislastregelung in § 611a I 3 BGB a. F. Im Regierungsentwurf wird die Beweislastverteilung bei § 612a BGB nicht angesprochen. Durch das „selbstverständliche“ Maßregelungsverbot sollte die bisherige Rechtslage, wie sie sich aus dem Kündigungsschutzgesetz und dem besonderen Maßregelungsverbot in § 84 III BetrVG vielmehr „verdeutlicht und zugleich allgemein geregelt werden.“168 Diese Entstehungsgeschichte legt die Vermutung nahe, dass das Fehlen einer Beweislastregelung in § 612a BGB kein Versehen des Gesetzgebers war, sondern eine bewusste Beschränkung der Beweislasterleichterung auf die durch die Richtlinien determinierten Regelungen in §§ 611a, 612 III BGB a. F. Dieser Schluss wird dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber § 612a BGB auch nicht anlässlich der Schuldrechtsreform oder der Einführung des AGG überarbeitet hat. Eine analoge Anwendung von § 22 AGG ist daher mangels planwidriger Regelungslücke abzulehnen.169 Benecke erwägt eine analoge Anwendung von § 22 AGG im Rahmen von § 78 S. 2 BetrVG: Dafür spreche, dass das allgemeine Zivil- und Zivilprozessrecht dem Ausgleich zwischen vergleichbar schutzwürdigen Personen diene, § 78 BetrVG und die ihm zugrundeliegende RL 2002/14/EG aber einen besonderen Schutzzweck zugunsten typischerweise unterlegener Arbeitnehmer:innen verfolge. Eine Beweislasterleichterung sei daher nicht im Zivilprozessrecht (z. B. bei der Anwendung von § 138 ZPO), sondern durch eine materielle Regelung herzustellen. Für eine analoge Anwendung des § 22 AGG spreche schließlich die „ähnliche Formulierung in Art. 8 RL 2002/14/EG und den Antidiskriminierungsrichtlinien“.170 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Art. 8 RL 2002/14/EG lautet: „Für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch den Arbeitgeber oder durch die Arbeitnehmervertreter sehen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen vor. Sie sorgen insbesondere dafür, dass es geeignete Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gibt, mit deren Hilfe die Erfüllung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchgesetzt werden kann.“
167
Dazu ausführlich schon oben 4. Kap. C. II. 1. BT-Drs. 8/3317, S. 10. 169 I. E. ebenso LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 28. 6. 2005 – 5 Sa 64/05, BeckRS 2005, 42608; BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 67; NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 17; MüKo BGB/R. Müller-Glöge, § 612a BGB Rn. 24; ErfK/U. Preis, § 612a BGB Rn. 22; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 172 m. w. N. 170 M. Benecke, EuZA 2016, 34, 42. 168
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Art. 8 S. 1 RL 2002/14/EG betrifft nur die Sanktion festgestellter Richtlinienverstöße und nicht ihre Beweisbarkeit vor Gericht. Art. 8 S. 2 RL 2002/14/EG fordert, dass die betroffenen Arbeitnehmer:innen ihre sich aus der Richtlinie ergebenen Rechte in „geeigneten Gerichtsverfahren“ durchsetzen können. Die Vorschrift ähnelt damit den ähnlich abstrakt gehaltenen Regelungen zum Rechtsschutz in den Gleichbehandlungsrichtlinien (z. B. Art. 17 I RL 2006/54/EG171). Beide Vorschriften enthalten aber gerade keine Aussagen zur Verteilung der Beweislast, sondern stellen nur klar, dass der Rechtsweg für Ansprüche aufgrund von Verstößen gegen die Richtlinien eröffnet sein muss. Im Gegensatz dazu geht § 22 AGG auf eine gesonderte Norm speziell zur Beweislastverteilung in den Gleichbehandlungs-Richtlinien zurück,172 die in RL 2002/14/EG gerade keine Entsprechung hat. Sofern nicht aus diesem Grunde schon an der für einen Analogieschluss notwendigen Planwidrigkeit einer Regelungslücke gezweifelt werden kann, ist jedenfalls die Interessenlage nicht vergleichbar: Es wurde bereits ausführlich dargestellt, dass für §§ 7, 3 AGG und § 78 S. 2 BetrVG unterschiedliche Kausalitätsanforderungen gelten:173 Eine verbotene Benachteiligung nach § 3 AGG ist bereits dann anzunehmen, wenn ein Merkmal gem. § 1 AGG Teil eines Motivbündels war; Schadensersatz gem. § 15 I AGG kann aber nur verlangt werden, wenn die Benachteiligung ohne Anknüpfung an ein Merkmal entfallen wäre. Für den Nachweis dieser haftungsausfüllenden Kausalität gilt § 22 AGG nach einhelliger Ansicht aber gerade nicht. § 78 S. 2 BetrVG ist hingegen nicht zweiteilig strukturiert: Schon der Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot selbst setzt eine Kausalität von der Amtsstellung für die Benachteiligung im Sinne einer conditio sine qua non voraus. Würde § 22 AGG analog auf § 78 S. 2 BetrVG angewandt, bezöge sich die Beweislasterleichterung also auf die Feststellung, dass die Benachteiligung ohne Anknüpfung an die Amtstätigkeit entfallen wäre und ginge damit weiter als im Rahmen des AGG. Damit würde eine analoge Anwendung von § 22 AGG die Beweislast bei Verstößen gegen § 78 S. 2 BetrVG weiter zugunsten der Arbeitnehmer:innen und zulasten der Arbeitgeber:innen verschieben, als es ihrer intendierten Funktionsweise im Anwendungsbereich des AGG entspricht. Eine analoge Anwendung kommt daher auch aus diesem Grund nicht in Betracht. Sie ist auch aus unionsrechtlichen Gründen nicht geboten: Die Vorgaben von Art. 8 RL 2002/14/EG sind so abstrakt, dass sie durch das deutsche Prozessrecht 171 Dieser lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie […] auf dem Gerichtsweg geltend machen können“. 172 Z. B. Art. 19 RL 2006/54/EG: „Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit dem System ihrer nationalen Gerichtsbarkeit die erforderlichen Maßnahmen, nach denen dann, wenn Personen, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert halten und bei einem Gericht bzw. einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.“ 173 Siehe oben 5. Kap. B. I.
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erfüllt werden. Die Schwierigkeit, die Kausalität i. R. v. § 78 S. 2 BetrVG zu beweisen, hängt auch nicht mit der strukturellen Unterlegenheit der von der RL 2002/ 14/EG geschützten Arbeitnehmervertreter:innen zusammen, sondern mit dem immer problematischen Beweis über innere Willensentschlüsse. Diese Problematik hängt entgegen der Ansicht Beneckes nicht mit der Unterlegenheit speziell von Arbeitnehmer:innen im Arbeitsgerichtsverfahren zusammen, sondern betrifft jede zivilprozessuale Beweisführung über Umstände aus der Sphäre der Prozessgegner. Dieser Problematik wird durch die Grundsätze der sekundären Behauptungslast und dem Indizienbeweis ausreichend Rechnung getragen. Weder der besondere Schutzzweck der RL 2002/14/EG noch der vermeintlich ähnliche Wortlaut von Art. 8 RL 2002/14/EG mit den dem AGG zugrundeliegenden Richtlinien rechtfertigt daher eine analoge Anwendung von § 22 AGG.174
II. Keine Beweiserleichterung durch den Beweis des ersten Anscheins Es könnten allerdings die Grundsätze des Anscheinsbeweises angewandt werden, um Arbeitnehmer:innen die Beweisführung darüber zu erleichtern, dass Arbeitgeber:innen das Arbeitsverhältnis aus maßregelnden Gründen nicht fortgesetzt haben. Voraussetzung für den Anscheinsbeweis eines Ursachenzusammenhangs ist, dass es sich dabei um einen so typischen Geschehensablauf handelt, dass Gerichte ihre Überzeugung von diesem Zusammenhang bereits aufgrund von Erfahrungssätzen, also aus der Lebenserfahrung abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten, bilden können. Der bewiesene Erfolg muss danach mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Ablauf zurückzuführen sein. Prozessgegner können den Anschein dann durch einen Gegenbeweis erschüttern, indem sie den Vollbeweis darüber erbringen, dass die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs besteht. Nach überwiegenden Teilen der Literatur und der Instanzrechtsprechung spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen Kausalzusammenhang zwischen Rechtsausübung i. S. v. § 612a BGB und Benachteiligung, wenn sie in einem engen zeitlichen Zusammenhang zueinander erfolgen.175 Das BAG hat den Anscheinsbe174 I. E. ebenso mit einem Hinweis auf die fehlende Analogiefähigkeit des § 22 AGG als Ausnahmeregelung BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 37); GK BetrVG/P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 100; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008) 180 – 172. 175 LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 22. 4. 2015 – 4 Sa 577/14, BeckRS 2015, 71244; LAG Hamburg, Urt. v. 31. 1. 2008 – 1 Sa 5/07, BeckRS 2008, 141837 (Rn. 37); LAG Köln, Urt. v. 19. 9. 2006 – 9 (4) Sa 173/06, BeckRS 2006, 134877; BeckOK ArbR/J. Joussen, § 612a BGB Rn. 24; DHSW/B. Kraushaar, § 612a BGB Rn. 24; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 29; ErfK/ U. Preis, § 612a BGB Rn. 22; HWK/G. Thüsing, § 612a BGB Rn. 35; F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 176.
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weis – soweit ersichtlich – nur einmal im Jahr 1992 im Kontext des § 612a BGB herangezogen: Der Anscheinsbeweis für einen Kausalzusammenhang komme Arbeitnehmer:innen zugute, wenn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer benachteiligenden Maßnahme und der Ausübung eines Rechts bestehe. Eine Kausalität zwischen Streikteilnahme und Benachteiligung sei daher anzunehmen, wenn eine Arbeitgeberin unmittelbar nach Beendigung eines Streiks den Arbeitnehmer:innen, die nicht am Streik teilgenommen haben, eine Prämie versprochen hat.176 Entgegen dem BAG und der wohl überwiegenden Ansicht in der Literatur177 vertreten Teile der Literatur und das LAG Niedersachsen darüber hinaus im Kontext von § 78 S. 2 BetrVG, dass der Beweis des ersten Anscheins für einen Kausalzusammenhang zwischen Amtsinhaberschaft und Benachteiligung spreche, wenn Amtsträger:innen schlechter behandelt werden als vergleichbare Arbeitnehmer:innen.178 Diese Erwägungen könnten auch auf § 612a BGB als lex generalis zu § 78 S. 2 BetrVG übertragen werden: Der Beweis des ersten Anscheins könnte für einen Maßregelungswillen der Arbeitgeber:innen sprechen, wenn allen anderen Arbeitnehmer:innen, die das betreffende Recht nicht ausgeübt haben, Folgearbeitsverträge angeboten wurde.179 Es ist im Folgenden zu untersuchen, ob der Maßregelungswille der Arbeitgeber:innen bei der Entscheidung über eine Vertragsfortsetzung einer von der Lebenserfahrung abgeleiteten Typizität unterliegt. Dafür ist zuerst allgemein zu erörtern, ob für den Maßregelungswillen als psychischem Vorgang überhaupt je eine Typizität festgestellt werden kann [1.] und dann in einem zweiten Schritt konkret zu prüfen, ob das Nichtangebot eines Folgearbeitsvertrags auf besondere Erfahrungssätze zurückgeführt werden kann [2.]. 1. Anscheinsbeweis bei der Beweisführung über psychische Vorgänge Da menschliche Willensentschlüsse durch die Eigenschaften und Vorlieben der jeweils entscheidenden Person geprägt sind, ist umstritten, ob für sie überhaupt je eine Typizität festgestellt werden kann, also eine bestimmte menschliche Reaktion oder Willensbildung so häufig vorkommt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass auch im
176
BAG, Urt. v. 11. 8. 1992 – 1 AZR 103/92, NZA 1993, 39, 41. BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 37); GK BetrVG/ P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 100; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 173 f.; H. Oetker, RdA 1990, 343, 352; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 84 ff. 178 H. Oetker, RdA 1990, 343, 352; DKW/R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 37 (der den Anscheinsbeweis jedoch mit dem Indizienbeweis vermischt); LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/11, BeckRS 2012, 73706. 179 So i. E. auch F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 178. 177
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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Streitfall ein solches Verhalten vorliegt, sehr groß ist.180 Der BGH beantwortet diese Frage uneinheitlich: Seitdem er in einem Urteil aus dem Jahr 1959 kategorisch festgestellt hat, mit dem Beweis des ersten Anscheins könne man keinen „individuellen Willensentschluß eines Menschen“ feststellen,181 hat das Gericht diesen Rechtssatz in den folgenden Jahrzehnten eher „als eine Regel verstanden, die Ausnahmen zuläßt, und daher in einzelnen Entscheidungen persönliche Willensmomente aufgrund eines Anscheinsbeweises bejaht.“182 Einem Mandanten könne z. B. nach der Lebenserfahrung unterstellt werden, nach einer fehlerfrei erteilten Beratung den für ihn eindeutig vorteilhaftesten Weg zu wählen.183 Auch bei der Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen könnte man ein vorteilhaftes Regelverhalten in Erwägung ziehen: Jede Ausübung von Mitwirkungs- und anderen Rechten belastet Arbeitgeber:innen finanziell und administrativ: Die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen verursacht Kosten, die berechtigte Nichterbringung der Arbeitsleistung – z. B. infolge der Geltendmachung von Urlaubsansprüchen oder im Krankheitsfalle – zwingt zusätzlich zur Anpassung betrieblicher Abläufe. Die Ausübung der Beschwerderechte nach §§ 17 II 1 ArbSchG, 84 III BetrVG verursacht in der Regel Handlungszwänge der Arbeitgeber:innen, die zeitliche und finanzielle Ressourcen beanspruchen, und durch die Mitwirkung in Arbeitnehmervertretungen wird die unternehmerische Handlungsfreiheit der Arbeitgeber:innen empfindlich beschnitten. Auch wenn diese Belastungen innerhalb der gesetzlich zulässigen Grenzen stattfinden und teilweise zwingend vorgeschrieben sind, ist es vorstellbar, dass Arbeitgeber:innen es als wirtschaftlich sinnvollen Weg erachten, Arbeitnehmer:innen keine Folgearbeitsverträge anzubieten, die ihre Rechte geltend machen. Eine solche Sichtweise blendet jedenfalls die Realitäten von am Marktwettbewerb teilnehmenden, profitorientiert agierenden Arbeitgeber:innen ein. Es ist daher nicht von vornherein auszuschließen, dass der Entschluss, Arbeitsverhältnisse gerade aufgrund einer vorangegangenen Rechtsausübung nicht fortzusetzen, so häufig vorkommt, dass in bestimmten Konstellationen ein regelhafter Geschehensablauf angenommen werden kann. Es ist jedoch im Einzelnen zu prüfen, ob tatsächlich Erfahrungssätze über die Verknüpfung von Rechtsausübung und Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses existieren, die die für den Anscheinsbeweis notwendige Typizität aufweisen.
180 Pauschal gegen eine Anwendung des Anscheinsbeweises zur Feststellung von Willensentschlüssen Zöller/R. Greger, vor § 284 ZPO Rn. 31; für eine Anwendung in bestimmten Fällen Musielak/Voit/U. Foerste, § 286 ZPO Rn. 30; MüKo ZPO/H. Prütting, § 286 ZPO Rn. 82; Stein/Jonas/C. Thole, § 286 ZPO Rn. 266. 181 BGH, Urt. v. 16. 12. 1959 – IV ZR 206/59, NJW 1960, 818, 819. 182 BGH, Urt. v. 20. 9. 1993 – IX ZR 73/93, NJW 1993, 3259, 3260 m. w. N. 183 BGH, Urt. v. 20. 9. 1993 – IX ZR 73/93, NJW 1993, 3259, 3260.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
2. Anscheinsbeweis bei Nichtangebot eines Folgearbeitsvertrags Allein die Tatsache, dass Arbeitnehmer:innen ihnen zustehende Rechte ausgeübt haben, erlaubt nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit den Schluss, dass Arbeitgeber:innen das Arbeitsverhältnis nur wegen der Rechtsausübung nicht fortgesetzt haben. Zwar bedeutet jede Rechtsausübung Belastungen für Arbeitgeber:innen; es kann ihnen jedoch nicht allein aufgrund einer Rechtsausübung ein Maßregelungswille unterstellt werden. Personelle Einzelmaßahmen wie die (Nicht-)Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen hängen von vielen Umständen des Einzelfalls ab – unter anderem der Bewährung der Arbeitnehmer:innen, dem Bedarf an der Arbeitsleistung und gegenseitiger Sympathie –, sodass der Entscheidungsprozess nicht auf ein typisches Muster reduziert werden kann. Würde die Rechtsausübung an sich für die Annahme eines Anscheinsbeweises genügen, ergäbe sich außerdem das abwegige Ergebnis, dass Arbeitgeber:innen bei beinahe jeder Nichtfortsetzungsentscheidung qua Anscheinsbeweis ein Maßregelungswille unterstellt wird, da Arbeitnehmer:innen im Laufe ihrer Arbeitsverhältnisse typischerweise viele Rechte ausüben (wie beispielsweise den Urlaubsanspruch oder das krankheitsbedingte Fernbleiben von der Arbeit). Es müssen daher weitere Umstände hinzutreten, die den Erfahrungssatz zulassen, dass Arbeitgeber:innen Arbeitsverhältnisse gerade wegen einer Rechtsausübung nicht fortgesetzt haben. Als solche kommen der zeitliche Zusammenhang zwischen Rechtsausübung und Maßregelung [a)] sowie die Begünstigung anderer Arbeitnehmer:innen [b)] in Betracht. a) Zeitlicher Zusammenhang als Erfahrungssatz von hinreichender Tragfähigkeit Im Kontext von § 612a BGB vertritt die ganz herrschende Meinung, dass Arbeitnehmer:innen der Anscheinsbeweis zugutekommt, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Rechtsausübung und der Maßnahme besteht.184 Dieser Sichtweise liegt wohl die Annahme zugrunde, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang nach allgemeiner Lebenserfahrung dafürspricht, dass Arbeitgeber:innen mit einer Benachteiligung typischerweise unmittelbar auf die Rechtsausübung reagieren. Der maßregelnde Wille ist bei einem zeitlichen Zusammenhang nach der Ansicht der herrschenden Meinung also ein verallgemeinerungsfähiger psychischer Regelvorgang. Dieser Erfahrungssatz ist jedoch nur dann tragfähig, wenn Arbeitgeber:innen durch eine Benachteiligung in bestehende Rechtspositionen eingreifen, da sie nur dann typischerweise auf eine vorangegangene Rechtsausübung reagieren.185 Bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse verhält es sich hingegen anders: Das 184
Siehe oben Fn. 178. Ähnlich Wilken, die aber mit Besonderheiten bei streikbedingten Sonderzahlungen argumentiert, F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 177 f. 185
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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Ende der Arbeitsverhältnisse ist bereits bei ihrer Begründung und damit vor den im Laufe des Arbeitsverhältnisses stattfindenden Rechtsausübungen zeitlich fixiert. Damit ist auch festgelegt, dass Arbeitgeber:innen eine Entscheidung über die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse treffen müssen; die Tatsache, dass Arbeitgeber:innen bei Fristablauf über die Fortsetzung entscheiden, ist also niemals eine Reaktion auf die Rechtsausübung. Damit kann der Zeitpunkt der Vertragsverweigerung keine Indizwirkung haben. Der herrschenden Meinung kann daher nicht pauschal bei jeder Benachteiligung in zeitlichem Zusammenhang mit einer Rechtsausübung zugestimmt werden, sondern allenfalls für einzelne Formen der Maßregelung. Für den Maßregelungswillen bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse kann aus einem zeitlichen Zusammenhang kein belastbarer Erfahrungssatz hergeleitet werden. b) Besserstellung vergleichbarer Arbeitnehmer:innen als Erfahrungssatz von hinreichender Tragfähigkeit Fraglich ist schließlich, ob der Beweis des ersten Anscheins für einen Kausalzusammenhang zwischen einer Amtsinhaberschaft und Benachteiligung spricht, wenn Amtsträger:innen schlechter behandelt wurden als vergleichbare Arbeitnehmer:innen. Wilken vertritt diese Ansicht auch i. R. v. § 612a BGB: Wurde allen Arbeitnehmer:innen, die ein Recht nicht ausgeübt haben, ein Vorteil gewährt und Arbeitnehmer:innen, die ein Recht ausgeübt haben, nicht, deute die allgemeine Lebenserfahrung auf einen Maßregelungswillen der Arbeitgeber:innen hin, da ein anderes Motiv nicht naheliegend sei.186 Auch dieser Erfahrungssatz ist jedenfalls bei der Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse nicht belastbar. Der Argumentation Wilkens liegt nämlich die Annahme zugrunde, dass § 612a BGB bei der Vorenthaltung von Vorteilen immer kollektiven Bezug hat. Bei kollektiven, gleichförmigen Maßnahmen an eine große Zahl von Arbeitnehmer:innen drängt sich in der Tat der typisierbare Schluss auf, dass Arbeitgeber:innen Arbeitnehmer:innen nur aufgrund ihrer Rechtsausübung von der Gewährung eines Vorteils ausgenommen haben. § 612a BGB sowie § 78 S. 2 BetrVG erfassen aber auch Statusmaßnahmen in Anschauung der einzelnen Person, wie die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse. Bei solchen Maßnahmen gibt es, wie oben bereits angesprochen, eine Vielzahl an Faktoren, die die Entscheidung der Arbeitgeber:innen beeinflusst haben können. Dass die ihre Rechte ausübenden Arbeitnehmer:innen schlechter behandelt werden als andere Arbeitnehmer:innen kann allenfalls als Indiz im Rahmen eines Indizienbeweises unter Würdigung aller Umstände verwertet werden, aber ist kein gesicherter, verallgemeinerungsfähiger Erfahrungssatz dafür, dass Arbeitgeber:innen Arbeitsverhältnisse aus maßregelnden Gründen nicht fortgesetzt haben.
186
F. Wilken, Regelungsgehalt des Maßregelungsverbots gem. § 612a BGB (2001), S. 178.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
c) Ergebnis: Keine Anwendung des Beweises des ersten Anscheins Es gibt keinen Erfahrungssatz, nach dem die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmer:innen, die ihre Rechte ausgeübt haben, typischerweise gerade auf ihrer Rechtsausübung beruht. Damit spricht kein erster Anschein für eine Benachteiligung wegen der Rechtsausübung.
III. Beweiserleichterung durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast Nach allgemeiner Ansicht ist Arbeitnehmer:innen der Beweis über eine Maßregelung durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zu erleichtern.187 Die Frage, ob der Abschluss eines Folgearbeitsvertrags unterlassen wurde, ist nämlich eine innere Tatsache der Arbeitgeber:innen und der Wahrnehmung durch Arbeitnehmer:innen regelmäßig entzogen.188 Gleichzeitig können Arbeitgeber:innen darüber unschwer Auskunft geben. Eine substantiierte Darlegungspflicht ist ihnen jedoch nur dann zuzumuten, wenn bereits eine Anfangswahrscheinlichkeit für eine Maßregelung spricht.189 Arbeitnehmer:innen müssen daher gem. § 138 I ZPO einen Sachverhalt vortragen, der einen Zusammenhang zwischen der Nichtfortsetzung und einer Rechtsausübung indiziert.190 Daraufhin müssen Arbeitgeber:innen substantiiert darlegen, aus welchen Gründen sie den Arbeitnehmer:innen keinen neuen Arbeitsvertrag angeboten haben.191 Nach dem 187 Zu § 612a BGB: BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 37); NK ArbR/W. Boecken, § 612a BGB Rn. 17; BeckOGK/M. Benecke, § 612a BGB Rn. 68; APS/R. Linck, § 612a BGB Rn. 28; HWK/G. Thüsing, § 612a BGB Rn. 35. Zu § 78 S. 2 BetrVG: BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 35 ff.); LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 6. 7. 2016 – 7 Sa 566/15, BeckRS 2016, 73445 (Rn. 55); ; LAG BerlinBrandenburg, Urt. v. 13. 1. 2016 – 23 Sa 1446/15, BeckRS 2016, 111854 (Rn. 43); LAG München, Urt. v. 2. 8. 2013 – 5 Sa 1005/12, BeckRS 2014, 65373; LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/11, BeckRS 2012, 73706; ArbG München, Urt. v. 12. 6. 2013 – 24 Ca 1619/11, (juris), Rn. 27; ArbG Berlin, Urt. v. 1. 9. 2011 – 33 Ca 5877/11, BeckRS 2011, 77524; DKW/R. Buschmann, § 78 BetrVG Rn. 28; Fitting, § 78 BetrVG Rn. 21; GK BetrVG/ P. Kreutz, § 78 BetrVG Rn. 101; H. Lipp, Honorierung und Tätigkeitsschutz von Betriebsratsmitgliedern (2008), S. 182 f.; L. Purschwitz, Benachteiligungsverbot (2015), S. 87 f., 206 in bestimmten Einzelfällen, jedenfalls aber bei Nichtfortsetzung eines Arbeitsverhältnisses. 188 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1212 (Rn. 37). 189 Siehe zu dieser Voraussetzung oben 7. Kap. B. und dort Fn. 14. 190 BAG, Urt. v. 23. 4. 2009 – 6 AZR 189/08, NZA 2009, 974, 975 (Rn. 13): „Den klagenden Arbeitnehmer trifft die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er wegen seiner Rechtsausübung von dem verklagten Arbeitgeber durch den Ausspruch der Kündigung benachteiligt worden ist. Hierzu hat der Arbeitnehmer unter Beweisantritt einen Sachverhalt vorzutragen, der einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Kündigung durch den Arbeitgeber und einer vorangehenden zulässigen Ausübung von Rechten indiziert.“ 191 Vgl. konkret zur Nichtfortsetzung von Arbeitsverhältnissen entgegen § 78 S. 2 BetrVG: BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211; LAG München, Urt. v. 2. 8.
7. Kap.: Pflicht-/Rechtswidrigkeit der Nichtfortsetzung als Beweisproblem?
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Zweck der abgestuften Darlegungs- und Beweislast, Arbeitnehmer:innen Einblick in die Sphäre der Arbeitgeber:innen zu gewähren, um ihnen die Prozessführung zu erleichtern, erfüllen Arbeitgeber:innen ihre Substantiierungslast nicht, indem sie sich pauschal auf ihre Personalplanung berufen oder die vermeintlichen sachlichen Gründe für die Nichtfortsetzung plötzlich verändern.192 Stattdessen müssen Arbeitgeber:innen den Inhalt ihrer Personalplanung benennen und offenlegen, nach welchen Kriterien sie befristete Arbeitsverhältnisse fortsetzen.
IV. Erbringung des Vollbeweises durch Indizien Genügen Arbeitgeber:innen ihrer sekundären Darlegungslast gem. § 138 II ZPO, tritt also nicht die Geständnisfiktion des § 138 III ZPO ein, obliegt Arbeitnehmer:innen der Beweis einer Maßregelung. Arbeitnehmer:innen müssen daher nach allgemeinen Grundsätzen den Vollbeweis darüber erbringen, dass sie wegen ihrer Amtstätigkeit keinen Folgearbeitsvertrag erhalten haben. Da die Beweismaßerleichterung des § 287 ZPO nur für die Rechtsfolgen einer festgestellten Pflichtverletzung gilt und nicht für den Beweis der Pflichtverletzung selbst, muss gem. § 286 ZPO eine „überzeugende Wahrscheinlichkeit“ für die Richtigkeit der Tatsachen sprechen; Gerichte müssen einen „für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit“ gewonnen haben, „der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.“193 Nur in Ausnahmefällen wird Arbeitnehmer:innen eine unmittelbare Beweisführung gelingen, also der Maßregelungswille der Arbeitgeber:innen unmittelbar dem Beweis zugänglich sein. Denkbar ist eine direkte Beweisführung allenfalls dann, wenn Arbeitgeber:innen ihre Motivation schriftlich oder mündlich erklärt haben. Ansonsten sind Arbeitnehmer:innen auf eine Beweisführung durch den Vortrag von Indizien verwiesen, die in ihrer Gesamtschau und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls mit solcher Sicherheit einen Schluss auf den Maßregelungswillen der Arbeitgeber:innen zulassen, dass eine andere Schlussfolgerung ernstlich nicht in Betracht kommt.194 Einen erbrachten Indizienbeweis können Arbeitgeber:innen sodann entkräften, indem sie die Hilfstatsachen selbst oder ihre Indizwirkung widerlegen. Bezüglich der Indizien, die den Schluss zulassen, dass Arbeitgeber:innen bei ihrer Fortsetzungsentscheidung an die Rechtsausübung angeknüpft haben und das Arbeitsverhältnis ansonsten fortgesetzt hätten, kommen die schon bei § 22 AGG diskutierten Fallgruppen in Betracht.195 Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG zu 2013 – 5 Sa 1005/12, BeckRS 2014, 65373; LAG Niedersachsen, Urt. v. 8. 8. 2012 – 2 Sa 1733/ 11, BeckRS 2012, 73706. 192 Vgl. zu § 78 S. 2 BetrVG LAG München, Urt. v. 2. 8. 2013 – 5 Sa 1005/12, BeckRS 2014, 65373. 193 BGH, Urt. v. 17. 2. 1970 – III ZR 139/67 („Anastasia“), NJW 1970, 946, 948. 194 Vgl. MüKo ZPO/H. Prütting, § 284 ZPO Rn. 25. 195 Siehe oben 7. Kap. D. II. 1.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
§ 612a BGB sind die Androhung von Maßnahmen, wenn der Arbeitnehmer trotz Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit erscheint,196 oder Beschimpfungen von kritischen Anmerkungen eines Arbeitnehmers in der Betriebsversammlung als „Frechheit“ sowie die Tatsache, dass gleichzeitig die Arbeitsverhältnisse mehrerer vergleichbarer Arbeitnehmer:innen fortgesetzt wurden.197 Das LAG Berlin-Brandenburg nennt als Beispiele für die Benachteiligung von Betriebsratsmitgliedern, dass ein Arbeitgeber hinsichtlich der Ausübung der Betriebsratstätigkeit oder Übernahme des Betriebsratsmandats Kritik geäußert hat198 und das LAG München hat die Aussage einer Arbeitgeberin als Indiz gewürdigt, das klagende Betriebsratsmitglied „sei als Lagerarbeiter eingestellt gewesen und es habe nicht zu seinen Aufgaben gehört, bestehende Betriebsstrukturen und Arbeitsabläufe infrage zu stellen und während der Leistungserbringung darüber zu diskutieren.“199 Auch für mögliche Gegenbeweise der Arbeitgeber:innen wird auf die Ausführungen im Kontext des AGG verwiesen.200
F. Ergebnisse des siebten Kapitels Arbeitnehmer:innen, die zur prozessualen Geltendmachung ihrer Ansprüche bestimmte Entscheidungskriterien von Arbeitgeber:innen darlegen und beweisen müssen, befinden sich in einer strukturellen Beweisnot. Dieser Beweisnot wird hauptsächlich durch eine erhöhte Darlegungslast der Arbeitgeber:innen und die Möglichkeit eines Indizienbeweises der Arbeitnehmer:innen abgeholfen. Es genügt grundsätzlich eine Anfangswahrscheinlichkeit für ein pflicht- oder rechtswidriges Verhalten, um eine substantiierte Darlegungspflicht der Arbeitgeber:innen über ihre Entscheidungsgründe auszulösen. Unter Rückgriff auf diese Darlegungen können Arbeitnehmer:innen Indizien beweisen, die das Gericht davon überzeugen, dass das Arbeitsverhältnis bei pflicht- und rechtmäßigem Verhalten fortgesetzt worden wäre. Die Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts variieren je nach Tatbestand: Ansprüche wegen eines Verstoßes gegen §§ 1, 7 AGG sind zweistufig durchzusetzen: Dass es sich um eine verbotene Diskriminierung handelt, da ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG im Motivbündel der Arbeitgeber:innen enthalten ist, unterliegt der besonderen Darlegungs- und Beweislastverteilung in § 22 AGG. Es genügt die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Indizienschlusses, um die Beweislast auf die Arbeitgeber:innen zu verlagern. Ist die Diskriminierung zur Überzeugung der Ge196
BAG, Urt. v. 23. 4. 2009 – 6 AZR 189/08, NZA 2009, 974, 975 (Rn. 14). BAG, Urt. v. 21. 9. 2011 – 7 AZR 150/10, NZA 2012, 317, 321 (Rn. 39). 198 LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13. 1. 2016 – 23 Sa 1446/15, BeckRS 2016, 111854 (Rn. 44). 199 LAG München, Urt. v. 2. 8. 2013 – 5 Sa 1005/12, BeckRS 2014, 65373. 200 7. Kap. D. III. 197
8. Kap.: Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen
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richte bewiesen, ist für die Geltendmachung von Schadensersatz- und Fortsetzungsansprüchen der Beweis darüber zu führen, dass das Arbeitsverhältnis ohne Diskriminierung fortgesetzt worden wäre. Da der Beweis der haftungsausfüllenden Kausalität der Beweiswürdigungsregel des § 287 ZPO unterfällt, genügt auch insofern, dass Indizien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine diskriminierungsfreie Fortsetzungsentscheidung hindeuten. Die Maßregelungsverbote setzen bereits tatbestandlich voraus, dass Arbeitnehmer:innen ohne Maßregelung einen neuen Arbeitsvertrag erhalten hätten. § 22 AGG und § 287 BGB erleichtern den Beweis über einen Maßregelungswillen nicht. Daher ist – wiederum auf Grundlage substantiierter Darlegungen von Arbeitgeber:innen und durch den Beweis von Indizien – der Vollbeweis über die Maßregelung zu erbringen. 8. Kapitel
Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen: drei Folgefragen A. Drei Folgefragen Dass die Rechtsordnung Arbeitnehmer:innen Fortsetzungsansprüche aufgrund vertraglicher Zusagen, gemäß dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und als Rechtsfolge von Diskriminierungen und Maßregelungen einräumt, wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, wirft drei Folgefragen auf: wie eine entsprechende Klage erhoben werden muss und ein stattgebender Anspruch vollstreckt werden kann [B.], ob die Geltendmachung der Ansprüche Fristen unterliegt [C.] und ob Betriebsräte ein Mitbestimmungsrecht bei einer erzwungenen Vertragsfortsetzung haben [D.].
B. Besonderheiten der Klageerhebung Wenn Arbeitnehmer:innen Fortsetzungsansprüche vor Gericht durchsetzen möchten, ist ihre Klage darauf gerichtet, Arbeitgeber:innen zur Annahme eines Antrags auf Abschluss eines Folgevertrags anzunehmen.201 Die betreffende Willenserklärung gilt mit einem stattgebenden rechtskräftigen Urteil als abgegeben gem. § 894 ZPO. Aus diesem Grund muss der Klageantrag auch notwendige Einzelheiten zum Inhalt des abzuschließenden Arbeitsvertrags (insbesondere Art der Tätigkeit, 201 Vgl. zum Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung BAG, Urt. v. 6. 8. 1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254, 255; BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757, 760; D. Boewer, RdA 2001, 380, 402; ders., NZA 1999, 1177, 1182; H. Oberhofer, RdA 2006, 92, 97; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 650.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Beginn, Arbeitsbedingungen und Dauer) enthalten gem. § 253 II Nr. 1 ZPO.202 Die Art der Tätigkeit und der Umfang sowie die Vergütung der Arbeitsleistung können grundsätzlich anhand tarifvertraglicher Eingruppierungen oder sonstiger üblicher Umstände erschlossen werden.203 Machen Arbeitnehmer:innen eine Vertragsfortsetzung geltend, stimmen die wesentlichen Vertragsbedingungen aber meist ohnehin mit dem vorherigen Vertrag überein, sodass eine Bezugnahme auf die bisherigen Arbeitsbedingungen hinreichend bestimmt ist.204 Nähere Angaben müssen dann ausschließlich in Bezug auf die Dauer des Vertrags gemacht werden. Ob der unterlassene und nun nachzuholende Vertrag unbefristet oder weiter befristet abgeschlossen worden wäre, und falls letzteres, für welchen Zeitraum, ist insbesondere durch einen Blick auf vergleichbare fortgesetzte Arbeitsverhältnisse, Abreden von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen und die rechtliche Zulässigkeit weiterer Befristungsabreden gem. § 14 TzBfG zu bestimmen. Hätte die unterlassene Vertragsfortsetzung im unmittelbaren Anschluss an den Fristablauf stattgefunden, kann auch die Klage auf Fortsetzung im unmittelbaren Anschluss an das bisherige Arbeitsverhältnis gerichtet sein. Wären Arbeitnehmer:innen erst später wiedereingestellt worden, wie insbesondere in Saisonarbeitsverhältnissen, ist die Klage auf eine Wiedereinstellung zu diesem späteren Zeitpunkt gerichtet. Unschädlich ist es, wenn der relevante Zeitpunkt bei der letzten mündlichen Verhandlung in der Vergangenheit liegt; der Klageantrag kann auch darauf lauten, den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zu einem in der Vergangenheit liegenden Datum einzustellen. Das Arbeitsverhältnis wird dann mit Rechtskraft des Urteils für die Vergangenheit begründet.205 Je nach Zeitpunkt von mündlicher Verhandlung und Vertragsbeginn kommen allerdings verschiedene Anspruchsgrundlagen in Betracht.206 Die Klage auf Abgabe der auf Vertragsfortsetzung gerichteten Willenserklärung kann auch mit einer Klage auf Erfüllung der sich daraus ergebenden Pflicht zur
202 Vgl. BAG, Urt. v. 16. 7. 2008 – 7 AZR 322/07, AP HRG § 57b Nr. 31 (Rn. 25); D. Boewer, RdA 2001, 380, 402; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 652; vgl. BAG, Urt. v. 25. 10. 2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357, 358. 203 BAG, Urt. v. 13. 6. 2012 – 7 AZR 169/11, AP BGB § 307 Nr. 65 (Rn. 20); BAG, Urt. v. 15. 5. 2012 – 7 AZR 754/10, NZA-RR 2013, 159, 160 (Rn. 20). 204 BAG, Urt. v. 25. 6. 2014 – 7 AZR 847/12, NZA 2014, 1209, 1211 (Rn. 23). 205 Zum Fortsetzungsanspruch nach Fristablauf APS/L. Backhaus, § 17 TzBfG Rn. 76 f.; zum Wiedereinstellungsanspruch nach Kündigung BAG, Urt. v. 25. 10. 2007 – 8 AZR 989/06, NZA 2008, 357, 359 (Rn. 25); M. Aszmons/A. Beck, NZA 2015, 1098, 1105; H. Oberhofer, RdA 2006, 92, 97; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 653; T. Raab, RdA 2000, 147, 158; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 839; a. A. zur Rechtslage vor der Schuldrechtsmodernisierung BAG, Urt. v. 28. 6. 2000 – 7 AZR 904/98, NZA 2000, 1097, 1099; D. Boewer, RdA 2001, 380, 403; ders., NZA 1999, 1177, 1182. 206 Siehe ausführlich oben 6. Kap. B. IV. 3.
8. Kap.: Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen
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tatsächlichen Weiterbeschäftigung verbunden werden.207 Die Vollstreckung aus einem stattgebenden Urteil richtet sich nach § 888 ZPO.208
C. Fristen zur Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen? Im Falle der erfolgreichen – außergerichtlichen oder gerichtlichen – Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen werden Arbeitnehmer:innen – ggf. rückwirkend – auf den Arbeitsplätzen eingestellt, auf denen sie bei ursprünglicher Erfüllung einer Fortsetzungszusage, Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes oder von Benachteiligungsverboten eingesetzt worden wären. Für Arbeitgeber:innen kann die Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen finanzielle und administrative Mehrbelastungen verursachen, wenn sie die Arbeitsplätze inzwischen neu besetzt haben oder die Arbeitnehmer:innen infolge Zeitverlaufs neu eingearbeitet werden müssen. Eine Einstellungspflicht ex tunc zum ursprünglichen Vertragsbeginn verursacht regelmäßig noch mehr Probleme, insbesondere im Hinblick auf rückwirkende Vergütungspflichten und Sozialversicherungsabgaben. Je mehr Zeit zwischen der Entlassung von Arbeitnehmer:innen mit Fristablauf und der (gerichtlichen Verurteilung zur) Vertragsfortsetzung vergeht, desto akuter stellen sich die praktischen Folgefragen. Arbeitgeber:innen sind daher nachvollziehbarerweise daran interessiert, möglichst schnell Klarheit darüber zu erlangen, ob ehemalige Arbeitnehmer:innen eine Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse beanspruchen. Aus diesem Grund unterwirft das Arbeitsrecht Bestandsstreitigkeiten andernorts strengen Ausschlussfristen: Wird die Rechtsunwirksamkeit einer Kündigung oder Befristungsabrede nicht innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung (§ 4 S. 1 KSchG) bzw. Fristende (§ 17 I 1 TzBfG) geltend gemacht, so gilt die Kündigung oder Befristungsabrede als von Anfang an rechtswirksam (§ 7 KSchG, § 17 I 2 TzBfG). Diese Fristen sind auch einzuhalten, wenn die Bestandsstreitigkeiten mit einem Verstoß gegen das AGG oder gegen Maßregelungsverbote begründet werden.209 Es ist daher erwägenswert, ob auch Fortsetzungsansprüche zum Zwecke der Rechtssicherheit strikten Ausschlussfristen unterliegen: Im Anwendungsbereich des 207 BAG, Urt. v. 27. 2. 1997 – 2 AZR 160/96, NZA 1997, 757, 760; D. Boewer, RdA 2001, 380, 403. 208 Vgl. D. Boewer, NZA 1999, 1177, 1182. 209 Für Kündigungen ergibt sich diese Rechtsfolge implizit aus § 13 III KSchG. Eine Anwendbarkeit der Klagefrist auf diskriminierende und maßregelnde Kündigungen entspricht der ganz h. M.: NK ArbR/A. Berger, § 4 KSchG Rn. 40; MüKo BGB/C. W. Hergenröder, § 13 KSchG Rn. 63; ErfK/H. Kiel, § 13 KSchG Rn. 8 ff.; ErfK/M. Schlachter, § 2 AGG Rn. 19; a. A. für diskriminierende Kündigungen nur K. Bertelsmann, NZA 2016, 855 ff.: Zwei-Monats-Frist des § 15 IVAGG. Für die h. M. im Kontext des Befristungsrechts: BAG, Urt. v. 25. 10. 2017 – 7 AZR 632/15, NZA 2018, 507, 509 (Rn. 19); APS/L. Backhaus, § 17 TzBfG Rn. 15h; Boecken/ Joussen/J. Joussen, § 17 TzBfG Rn. 7; Laux/Schlachter/M. Schlachter, § 17 TzBfG Rn. 5; a. A. nur W. Däubler, ZIP 2000, 1961: Unanwendbarkeit des § 17 S. 1 TzBfG bei schweren Rechtsverstößen wie Sittenwidrigkeit oder Kündigung.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
AGG existieren mit § 15 IVAGG und § 61b I ArbGG zwei Fristen, deren Reichweite zu beleuchten ist [I.]. Außerdem kommt eine analoge Anwendung von § 17 TzBfG in Betracht [II.]. Soweit eine Anwendung gesetzlicher Ausschlussfristen nicht in Betracht kommt, sind schließlich die normalen zeitlichen Grenzen einer Geltendmachung von Ansprüchen zu berücksichtigen: Verjährung, Verwirkung und (tarif-) vertragliche Ausschlussfristen [III.].
I. Begrenzte Reichweite der zweistufigen Ausschlussfrist gem. § 15 IV AGG i. V. m. § 61b I ArbGG Ansprüche nach § 15 I, II AGG müssen gem. § 15 IV AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden, es sei denn, die Tarifvertragsparteien haben etwas anderes vereinbart. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit dem Zugang der Ablehnung und in den sonstigen Fällen einer Benachteiligung zu dem Zeitpunkt, in dem die Arbeitnehmer:innen von der Benachteiligung Kenntnis erlangen. An diese materielle Ausschlussfrist schließt sich eine prozessuale Frist in § 61b I ArbGG an, wonach eine Klage auf Entschädigung nach § 15 AGG innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden muss. Dass § 61b I ArbGG seinem Wortlaut nach nur Ansprüche auf Entschädigung erfasst, ist nach überwiegender Ansicht ein Redaktionsversehen; die Vorschrift betrifft, parallel zu § 15 IV AGG, sowohl Ansprüche gem. § 15 I als auch Abs. 2 AGG.210 Schadensersatzansprüche in Geld oder Fortsetzungsansprüche gem. § 15 I AGG müssen also innerhalb von zwei Monaten nach der vermeintlichen Benachteiligung bei Arbeitgeber:innen geltend gemacht und wiederum längstens drei Monate später Klage erhoben werden. In unionsrechtskonformer Auslegung von § 15 IV AGG beginnt die erste Frist erst dann, wenn die Arbeitnehmer:innen oder Bewerber:innen Kenntnis von der Ablehnung und von Indizien i. S. v. § 22 AGG haben, die eine
210 Der Wortlaut ist uneindeutig, da er zwar nur Entschädigungsansprüche nennt, aber auf § 15 AGG insgesamt verweist, und nicht etwa nur Abs. 2. Da der Begriff des Entschädigungsanspruchs aus der Zeit des § 611a BGB a. F. stammt und der Gesetzgeber bei Erlass des AGG in § 61b I ArbGG nur den Verweis auf § 611a BGB durch einen Verweis auf § 15 AGG ersetzt hat (BT-Drs. 16/1780, S. 27), spricht viel für ein Redaktionsversehen. Dafür spricht außerdem, dass für beide Ansprüche aus § 15 I, II AGG auch die Ausschlussfrist des § 15 IV AGG gilt und beide Ansprüche nach dem Sinn des § 61b ArbGG, Rechtssicherheit zu schaffen, von der Ausschlussfrist erfasst sein müssen. Für die h. M. GWBG/M. Benecke, § 61b ArbGG Rn. 3; M. Jacobs, RdA 2009, 193, 202; Natter/Gross/M. Rieker, § 61b ArbGG Rn. 1; GMP/ A. Schleusener, § 61b ArbGG Rn. 4; DHSW/F. Schmitt, § 61b ArbGG Rn. 3; a. A.: Schiek/ E. Kocher, § 15 AGG Rn. 62; offen gelassen in BAG, Urt. v. 22. 7. 2010 – 8 AZR 1012/08, NZA 2011, 93, 97 (Rn. 46).
8. Kap.: Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen
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Benachteiligung nahelegen.211 Je nachdem, ob die Indizien bereits im befristeten Arbeitsverhältnis begründet sind oder erst später durch diskriminierende Äußerungen oder das Verfahren der Stellenneubesetzung entstehen,212 beginnt die Frist bereits mit Ablehnung der Vertragsfortsetzung oder erst später.213 Fraglich ist, ob §§ 15 IV AGG, 61b I ArbGG analog auf Ansprüche jenseits von § 15 I, II AGG anwendbar ist. Eine analoge Anwendung ist erstens für Fortsetzungsansprüche zu diskutieren, die analog § 1004 I BGB auf die Beseitigung einer Diskriminierung gem. § 7 I AGG gerichtet sind. Außerdem könnte erwogen werden, die Norm analog auf Ansprüche infolge verbotener Maßregelungen anzuwenden. Nach der Auffassung des BAG erfasst § 15 IV AGG keine (deliktischen) Ansprüche, für die die Beweislastregelung in § 22 AGG nicht gilt.214 Als „Sonderregelung“ für die Fälle, „in denen § 22 AGG unmittelbar zur Anwendung kommt“,215 sei § 15 IVAGG „eng auszulegen und grundsätzlich nicht analogiefähig“.216 Auch für Ansprüche auf Anpassung nach oben im Rahmen kollektiver Vergütungssysteme soll § 15 IV AGG nicht gelten, da es sich dabei um Erfüllungs- und keine Schadensersatzansprüche handelt.217 In der Literatur wird schließlich eine analoge Anwendung auf Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche abgelehnt und dabei überwiegend auf die systematische Stellung von § 15 IV, V AGG („im Übrigen …“) hingewiesen.218 Neben der systematischen Stellung von § 15 IV und VAGG spricht insbesondere die in den Gesetzesmaterialien genannte ratio legis hinter § 15 IV AGG und § 61b I ArbGG gegen eine Anwendung der Vorschriften jenseits der Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche: Der Zweck von § 15 IV AGG besteht darin, Arbeitgeber:innen „angesichts der in § 22 AGG geregelten Beweislastverteilung“ vor dem bürokratischen Aufwand zu schützen, Dokumentationen über Einstellungsverfahren
211 Der EuGH hat § 15 IVAGG gerade deshalb als „Vorschrift nicht geeignet, die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren“ beurteilt, da § 15 IV AGG so ausgelegt werden kann, dass die Frist erst „mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Arbeitnehmer von der behaupteten Diskriminierung Kenntnis erlangt“ (EuGH, Urt. v. 8. 7. 2010 – C-246/09, NZA 2010, 869, 871 (Rn. 41)). Diese unionsrechtskonforme Auslegung von § 15 IVAGG entspricht der ständigen Rechtsprechung des BAG (z. B. BAG, Urt. v. 15. 3. 2012 – 8 AZR 37/11, NZA 2012, 910, 917 f. (Rn. 66)). 212 Siehe dazu ausführlich oben 7. Kap. D. II. 1. 213 Vgl. ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 17. 214 BAG, Urt. v. 21. 6. 2012 – 8 AZR 188/11, NZA 2012, 1211, 1215 f. (Rn. 50 f.). 215 BAG, Urt. v. 18. 5. 2017 – 8 AZR 74/16, NZA 2017, 1530, 1540 (Rn. 91 f.). 216 BAG, Urt. v. 11. 12. 2014 – 8 AZR 838/13, NJW 2015, 2061, 2062 (Rn. 22). 217 BAG, Urt. v. 22. 10. 2015 – 8 AZR 168/14, NZA 2016, 1081, 1089 (Rn. 64); BAG, Urt. v. 30. 11. 2010 – 3 AZR 754/08, NZA-RR 2011, 593, 595 (Rn. 23); a. A. MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 47. 218 BeckOK BGB/M. Horcher, § 15 AGG Rn. 43; BeckOK ArbR/S. Roloff, § 15 AGG Rn. 12; ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 20.
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
etc. bis zum Ablauf der allgemeinen Verjährungsfrist aufbewahren zu müssen.219 Diese Erwägungen treffen auf Ansprüche zu, für die erstens die Beweislastverteilung in § 22 AGG gilt und die zweitens in einem Auswahlverfahren getroffen werden, das eine besondere Dokumentation von Entscheidungen, ggf. gegenüber einer Vielzahl von Bewerber:innen, verlangt. Diese Aspekte betreffen insbesondere Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche, die eine potenzielle Vielzahl an Bewerber:innen um einen Arbeitsplatz geltend macht. Diese quantitativen Überlegungen liegen auch § 61b II, III ArbGG zugrunde, die Arbeitgeber:innen ermöglichen, die Klagen mehrerer um einen Arbeitsplatz konkurrierender Bewerber:innen gleichzeitig zu verhandeln. Diese Situation betrifft auf die Vertragsfortsetzung gerichtete Beseitigungsansprüche analog § 1004 I BGB nur in geringem Maße, da diese Ansprüche wegen § 15 VI AGG nach den oben herausgearbeiteten Grundsätzen ohnehin nur in langfristig angelegten befristeten Arbeitsverhältnissen überhaupt in Betracht kommen und damit gerade nicht von einer Vielzahl an konkurrierenden Bewerber:innen geltend gemacht werden. Außerdem sind §§ 15 IVAGG, 61b I ArbGG auch nicht auf Fortsetzungsansprüche infolge vertraglicher Zusagen, dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz oder als Rechtsfolge von Maßregelungsverboten analog anzuwenden, da diese Ansprüche nicht von der Beweislastverteilung in § 22 AGG betroffen sind,220 die die Ausschlussfristen kompensieren sollen. § 15 IV AGG und § 61b I ArbGG erfassen daher nur Fortsetzungsansprüche als im Wege der Naturalrestitution gem. §§ 7 I, 15 I AGG i. V. m. § 249 I BGB geschuldeter Schadensersatz.
II. Keine Ausschlussfrist analog § 17 TzBfG Fortsetzungsansprüche könnten einer Ausschlussfrist analog § 17 TzBfG unterliegen, der gemäß Arbeitnehmer:innen, die die Unwirksamkeit einer Befristung geltend machen wollen, innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende der befristeten Arbeitsverträge Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben müssen, dass ihre Arbeitsverhältnisse auf Grund der Befristung nicht beendet sind. Die Frist betrifft ihrem Wortlaut nach nur Fälle, in denen Arbeitnehmer:innen die Unwirksamkeit ihrer Befristungsabrede und gerade nicht die Fortsetzung wirksam befristeter Arbeitsverhältnisse geltend machen. Unmittelbar ist § 17 TzBfG daher jedenfalls nicht anwendbar.221 Da auch bei der Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen nach Fristablauf ein Bedürfnis nach Rechtssicherheit besteht, auf das § 17 S. 1 TzBfG reagiert, könnte die Vorschrift aber analog anzuwenden sein. 219 So ausdrücklich der Regierungsentwurf zum AGG in BT-Drs. 16/1780, S. 38 und die Beschlussempfehlung (BT-Drs. 17/2022, S. 12), in der die ursprünglich vorgesehene Frist von drei Monaten um einen Monat reduziert wurde. 220 Gegen eine analoge Anwendung von § 22 AGG auf § 612a BGB und § 78 S. 2 BetrVG oben 7. Kap. E. I. 221 APS/L. Backhaus, § 17 TzBfG Rn. 76; U. Pallasch, RdA 2015, 108, 114.
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Eine parallel gelagerte Diskussion wird zum Wiedereinstellungsanspruch nach wirksamer Kündigung geführt: Teilweise wird dort vorgeschlagen, die Frist des § 4 KSchG analog anzuwenden: Wiedereinstellungsansprüche sollen entfallen, wenn Arbeitnehmer:innen sie nicht drei Wochen ab Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die den Wegfall des Beendigungsgrundes ausmachen, geltend machen.222 Dagegen wird allerdings überwiegend eingewandt, der Wegfall des Kündigungsgrundes sei zeitlich schwieriger festzulegen als der Zugang einer Kündigungserklärung. Die mit einer starren Frist bezweckte Rechtssicherheit sei damit in der vorliegenden Konstellation ohnehin nicht zu erreichen.223 Stattdessen wird auf die allgemeinen Grundsätze der Verwirkung hingewiesen: Wiedereinstellungsansprüche unterlägen keiner starren zeitlichen Grenze, aber seien wegen illoyal verspäteter Geltendmachung nach § 242 BGB ausgeschlossen, wenn Arbeitnehmer:innen in Kenntnis der die Wiedereinstellung begründenden Umstände längere Zeit zuwarten, ohne Wiedereinstellung zu verlangen.224 Auch der Fristbeginn für die Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen analog § 17 S. 1 TzBfG ist schwierig festzulegen. Eine Frist könnte – ähnlich wie bei § 15 IV AGG – erst mit Kenntnis der Umstände beginnen, die die Existenz von Fortsetzungsansprüchen vermuten lassen. Insbesondere Indizien für eine verbotene Maßregelung werden Arbeitnehmer:innen aber unter Umständen erst nach Fristablauf bekannt. Für Arbeitgeber:innen ist der Zeitpunkt, in denen eine Frist beginnen könnte, daher schwerer feststellbar als der Fristablauf i. S. v. § 17 S. 1 TzBfG. Sie können daher nicht sicher sein, drei Wochen nach Fristablauf frei über den Arbeitsplatz disponieren zu können, ohne später zur – ggf. rückwirkenden – Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen mit ehemaligen Arbeitnehmer:innen verpflichtet zu sein. Die von § 17 S. 1 TzBfG bezweckte Rechtssicherheit kann daher im Falle einer analogen Anwendung nicht vollständig realisiert werden. Insoweit ist den Gegnern einer analogen Anwendung des § 4 S. 1 KSchG auf Wiedereinstellungsansprüche beizupflichten. Damit kann der Vorschlag, die Präklusionsfristen auf Fortsetzungsansprüche anzuwenden, aber nicht vollständig von der Hand gewiesen werden: Auch eine Frist, die zu einem objektiv schwierig feststellbaren Zeitpunkt beginnt, bringt jedenfalls dadurch Rechtssicherheit, dass Arbeitnehmer:innen nicht ggf. Jahre später eine rückwirkende Einstellung geltend machen können. Da Indizien für eine Diskriminierung, Maßregelung oder gleichheitswidrige Nichtfortsetzung sich typi222 U. Hambitzer, NJW 1985, 2239, 2242; H. Oberhofer, RdA 2006, 92, 96. Für den Sonderfall des Wiedereinstellungsanspruchs nach Betriebsübergang wendet das BAG hingegen die Widerrufsfrist des § 613a BGB analog an: Arbeitnehmer:innen müssen ihr Fortsetzungsbegehren danach binnen einer Frist von einem Monat nach Kenntnis des Betriebsübergangs geltend machen (st. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 21. 8. 2008 – 8 AZR 201/07, NZA 2009, 29, 34 (Rn. 64)). 223 R. Bram/W. Rühl, NZA 1990, 753, 757; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 651; NK ArbR/ S. Greiner, § 1 KSchG Rn. 390; B. Zwanziger, BB 1997, 42, 45. 224 R. Bram/W. Rühl, NZA 1990, 753, 757; A. Lepke, NZA-RR 2002, 617, 623; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 651; T. Raab, RdA 2000, 147, 154; KR/S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 836; B. Zwanziger, BB 1997, 42, 45.
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scherweise zeitnah zum Ablauf des Arbeitsverhältnisses manifestieren, würde durch eine analoge Anwendung von § 17 S. 1 TzBfG jedenfalls eine zeitnahe Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen gewährleistet und damit die Rechtssicherheit gefördert. Eine analoge Anwendung der Ausschlussfrist scheidet gleichwohl aus anderen Gründen aus: Rechtsfolge der Fristversäumnis ist gem. § 17 S. 2 TzBfG i. V. m. § 7 KSchG, dass Arbeitnehmer:innen mit ihrem Vortrag, dass eine Befristungsabrede rechtswidrig und damit unwirksam ist, vor Gericht nicht gehört werden können; die Befristungsabrede gilt als wirksam, eine Klage auf Feststellung des Gegenteils ist zwingend unbegründet. § 17 S. 1 TzBfG führt also zur materiellen Präklusion eines bestimmten Parteivortrags, ähnlich wie bestimmte Verfahrensvorschriften zur prozessualen Präklusion führen können: Es sind beispielsweise verspätet vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel und Rügen gem. § 296 ZPO zurückzuweisen und Angriffs- und Verteidigungsmittel, die in der Berufungsbegründung nicht fristgerecht vorgetragen worden sind, gem. § 530 ZPO ausgeschlossen. Im Arbeitsverfahren gelten gem. §§ 56 II, 61a V und § 67 ArbGG parallele Präklusionsvorschriften. Materiell-rechtliche und prozessuale Präklusionsvorschriften schränken das gem. Art. 103 I GG gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör ein.225 Dieses Prozessgrundrecht garantiert einen „substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle“, der nicht nur den Zugang zum Gericht, sondern auch das Recht, im Verfahren gehört zu werden, gewährleistet.226 Mit präkludierten Vorträgen wird eine Partei im Verfahren gerade nicht mehr gehört; ihr Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung schlägt fehl.227 Dennoch sind Präklusionsvorschriften nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht per se verfassungswidrig: Der Gesetzgeber darf das rechtliche Gehör im Interesse der Verfahrensbeschleunigung durch Präklusionsvorschriften begrenzen, wenn den Parteien hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, sich zur Sache zu äußern. Die Vorschriften müssen aber wegen ihrer „einschneidenden Folgen, die sie für die säumige Prozeßpartei nach sich ziehen, strengen Ausnahmecharakter haben.“228 Aufgrund dieses Ausnahmecharakters sind Auslegung und Anwendung von Präklusionsvorschriften durch die Fachgerichte „einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen,
225
BVerfG, Beschl. v. 9. 2. 1982 – 1 BvR 1379/80, NJW 1982, 1453. BVerfG, Beschl. v. 29. 11. 1989 – 1 BvR 1011/88, NJW 1990, 1104, 1105. 227 BVerfG, Beschl. v. 5. 5. 1987 – 1 BvR 903/85, NJW 1987, 2733, 2734. 228 St. Rspr. BVerfG, Beschl. v. 1. 10. 2019 – 1 BvR 552/18, NJW 2020, 142, 143 (Rn. 12); BVerfG, Beschl. v. 26. 1. 1995 – 1 BvR 1068/93, NJW 1995, 2980; BVerfG, Beschl. v. 5. 5. 1987 – 1 BvR 903/85, NJW 1987, 2733, 2734; BVerfG, Beschl. v. 30. 1. 1985 – 1 BvR 876/84, NJW 1985, 1150; BVerfG, Beschl. v. 15. 11. 1982 – 1 BvR 585/80, NJW 1983, 1307, 1308; BVerfG, Beschl. v. 9. 2. 1982 – 1 BvR 799/78, NJW 1982, 1635; BVerfG, Beschl. v. 9. 2. 1982 – 1 BvR 1379/80, NJW 1982, 1453. 226
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als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht“.229 Insbesondere bedarf ihre Auslegung „in besonderem Maße der Rechtsklarheit“.230 Eine analoge Anwendung der Präklusionsvorschriften kommt daher nach der Auffassung des BVerfG,231 die auch der BGH232 seiner Rechtsprechung zugrunde legt, nicht in Betracht. Diese vom BVerfG für prozessuale Präklusionsvorschriften angestellten Erwägungen gelten gleichermaßen für die materiellrechtlichen Ausschlussfristen gem. §§ 4, 7 KSchG und § 17 TzBfG.233 § 17 S. 1 TzBfG ist als Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör seinem Ausnahmecharakter entsprechend eng auszulegen. Eine Anwendung muss dem hier besonders wichtigen Gebot der Rechtsklarheit Rechnung tragen. Eine Anwendung über den Wortlaut hinaus kommt daher nicht in Betracht. Fortsetzungsansprüche sind nicht analog § 17 S. 1 TzBfG innerhalb von drei Wochen nach Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände geltend zu machen.
III. Allgemeine zeitliche Grenzen für die Geltendmachung von Ansprüchen Jenseits von §§ 15 IV AGG, 61b I ArbGG gelten für Fortsetzungsansprüche die normalen Grenzen für die Geltendmachung von Ansprüchen: Fortsetzungsansprüche sind spätestens drei Jahre nach Ende des Jahres, in dem sie entstanden sind und Arbeitnehmer:innen von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt haben oder hätten erlangen müssen, geltend zu machen (§§ 195, 199 I BGB), sofern sie nicht vorher einer individual- oder tarifvertraglichen Ausschlussfrist unterfallen [1.] oder verwirken [2.]. 1. Begrenzung durch individual- und tarifvertragliche Ausschlussfristen Im Arbeitsleben herrscht die weit verbreitete Praxis, die regelmäßige Verjährungsfrist durch die Vereinbarung von ein- oder zweistufigen Ausschlussfristen in Individual- und Tarifverträgen zu verkürzen, damit streitige Ansprüche möglichst zeitnah geklärt werden.234 Individual- und tarifvertragliche Klauseln, die insgesamt 229 BVerfG, Beschl. v. 5. 5. 1987 – 1 BvR 903/85, NJW 1987, 2733, 2734 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. 230 BVerfG, Beschl. v. 9. 2. 1982 – 1 BvR 1379/80, NJW 1982, 1453. 231 BVerfG, Beschl. v. 19. 3. 2003 – 2 BvR 1540/01, NJW 2003, 3545; BVerfG, Beschl. v. 9. 2. 1982 – 1 BvR 799/78, NJW 1982, 1635. 232 BGH, Urt. v. 18. 11. 2004 – IX ZR 229/03, NJW 2005, 291, 292 f. m. w. N. aus der Rechtsprechung des BGH. 233 Vgl. BAG, Urt. v. 28. 1. 2010 – 2 AZR 985/08, NZA 2010, 1373, 1374 f., in dem das Gericht §§ 4, 7 KSchG am Maßstab des Anspruchs auf rechtliches Gehör misst. 234 BAG, Urt. v. 21. 4. 2016 – 8 AZR 753/14, NZA 2016, 1271, 1274 (Rn. 34).
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„Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ erfassen, erfassen nach der Rechtsprechung des BAG „alle gesetzlichen, tariflichen und vertraglichen Ansprüche, die die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsstellung gegeneinander haben.“235 Auch die in dieser Arbeit beschriebenen Fortsetzungsansprüche wurzeln in der Arbeitsbeziehung: Die Verletzung der Diskriminierungs- und Maßregelungsverbote sowie des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes sind Verletzungen vertraglicher Pflichten. Auch Fortsetzungsansprüche infolge kollektiver vertraglicher Zusagen haben ihren Grund in der arbeitsvertraglichen Beziehung der Parteien. Damit können Fortsetzungsansprüche grundsätzlich als „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ von Ausschlussklauseln erfasst sein.236 Es ist allerdings zu beachten, dass individualvertragliche Ausschlussfristen keine Ansprüche infolge vorsätzlicher Vertragsverletzung erfassen: Gem. § 202 I BGB kann eine Haftung aus vorsätzlich begangener Vertragspflichtverletzung oder unerlaubter Handlung nämlich nicht durch vertragliche Ausschlussfristen ausgeschlossen werden.“237 Insbesondere Verstöße gegen Maßregelungsverbote sowie unmittelbare Diskriminierungen werden in der Regel vorsätzlich begangen, sodass daraus resultierende Fortsetzungsansprüche nicht von Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen erfasst werden. Da § 202 I BGB nur rechtsgeschäftliche Vereinbarungen betrifft, können tarifvertragliche Ausschlussfristen, die nach § 4 I 1 oder § 5 IV TVG normativ wirken, hingegen auch Schadensersatzansprüche aus vorsätzlichem Handeln erfassen.238 Ausschlussfristen beginnen meist mit der Fälligkeit eines Anspruchs. Der Begriff der Fälligkeit wird nach der ständigen Rechtsprechung des BAG aber unter Einbe235 St. Rspr. jüngst BAG, Urt. v. 27. 10. 2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504, 505 (Rn. 12) m. w. N.; BAG, Urt. v. 21. 1. 2010 – 6 AZR 556/07, AP BGB § 611 Arbeitgeberdarlehen Nr. 3 (Rn. 19). 236 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BAG, nach der Ansprüche, die auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beruhen, grundsätzlich nicht von Ausschlussfristen erfasst sein sollen (BAG, Urt. v. 1. 12. 2004 – 7 AZR 37/04, AP TVG § 1 Tarifverträge: Maler Nr. 12 m. w. N.). Denn erstens begründet das BAG seine Rechtsprechung damit, dass es für die genannten Ansprüche (z. B. der Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte, der Anspruch auf vertrauliche Behandlung ärztlicher Berichte sowie der Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung) keinen sinnvollen Fälligkeitszeitpunkt gibt, an dem eine Ausschlussfrist anknüpfen könnte. Dass dies bei den streitgegenständlichen Einstellungsansprüchen anders ist, stellt das BAG schon im nächsten Absatz fest. Zweitens hat der Achte Senat des BAG später geurteilt, dass auch Ansprüche wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Ausschlussfristen erfasst werden (BAG, Urt. v. 16. 5. 2007 – 8 AZR 709/06, NZA 2007, 1154, 1158 (Rn. 49)). Drittens ergibt sich aus § 15 IV 1 Hs. 2 AGG, dass auch persönlichkeitsrelevante Pflichtverletzungen von Ausschlussfristen erfasst werden können; die tarifvertragliche Frist muss sich auch nicht ausdrücklich auf die Ansprüche gem. § 15 I, II AGG beziehen; jede allgemein formulierte tarifvertragliche Ausschlussfrist kann auch Ansprüche aus dem AGG erfassen (M. Jacobs, RdA 2009, 193, 201; T. v. Roetteken, AGG (2021), § 15 AGG Rn. 478). 237 BAG, Urt. v. 24. 9. 2019 – 9 AZR 273/18, NZA 2020, 310, 312 (Rn. 25). 238 BAG, Urt. v. 18. 8. 2011 – 8 AZR 187/10, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 198 (Rn. 32 ff.).
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ziehung des Kenntnisstands der Arbeitnehmer:innen und subjektiver Zurechnungsgesichtspunkte ausgelegt: Die Frist beginnt erst, wenn es Gläubigern tatsächlich möglich ist, Ansprüche geltend zu machen, also sobald ihnen die anspruchsbegründenden Tatsachen bekannt sind.239 Die Mindestdauer für arbeitsvertragliche Ausschlussfristen hat das BAG bei drei Monaten veranschlagt.240 Für tarifvertragliche Ausschlussfristen gelten keine entsprechenden Mindestfristen; nach überwiegender Ansicht darf die Frist des § 15 IV AGG innerhalb ihres Anwendungsbereichs durch tarifliche Ausschlussfristen auch unterschritten werden.241 2. Begrenzung durch die Grundsätze der Verwirkung nur im Ausnahmefall Die Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen nach längerer Zeit kann als illoyal verspätete Rechtsausübung gem. § 242 BGB ausgeschlossen sein.242 Die Voraussetzungen für eine Verwirkung von Ansprüchen hat das BAG in ständiger Rechtsprechung herausgearbeitet: „Die Verwirkung […] beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und trägt dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung. Die Verwirkung verfolgt allerdings nicht den Zweck, den Schuldner bereits dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger seine Rechte längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes aufseiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zuzumuten ist. Zeitmoment und Umstandsmoment beeinflussen sich wechselseitig; beide Elemente sind – bildhaft ausgedrückt – im Sinne ,kommunizierender Röhren‘ miteinander verbunden. Je stärker das gesetzte Vertrauen oder die Umstände sind, die eine Geltendmachung für den Gegner unzumutbar machen, desto schneller kann ein Anspruch oder Recht verwirken. Umgekehrt gilt, je länger der Arbeitnehmer untätig geblieben ist, desto geringer sind die Anforderungen an das Umstandsmoment. Es müssen letztlich besondere Verhaltensweisen sowohl des Berechtigten als auch des Verpflichteten vorliegen, die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen.“243 239
St. Rspr. BAG, Urt. v. 27. 10. 2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504, 507 (Rn. 26); BAG, Urt. v. 28. 6. 2018 – 8 AZR 141/16, NZA 2019, 34, 38 (Rn. 43) m. w. N. aus der Rspr. 240 BAG, Urt. v. 27. 10. 2020 – 9 AZR 531/19, NZA 2021, 504, 506 (Rn. 16); BAG, Urt. v. 16. 10. 2019 – 4 AZR 66/18, NZA 2020, 260, 266 (Rn. 54). 241 BeckOGK/M. Benecke, § 15 AGG Rn. 94; Däubler/Bertzbach/O. Deinert, § 15 AGG Rn. 119; M. Jacobs, RdA 2009, 193, 201; MüKo BGB/G. Thüsing, § 15 AGG Rn. 45; a. A. ErfK/M. Schlachter, § 15 AGG Rn. 16. 242 Vgl. zu der Verwirkung von Wiedereinstellungsansprüchen BAG, Urt. v. 27. 1. 2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162, 1166 sowie die Literatur in Fn. 224. 243 St. Rspr. z. B. BAG, Urt. v. 25. 1. 2018 – 8 AZR 309/16, NZA 2018, 933, 942 (Rn. 71 f.).
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
Fortsetzungsansprüche verwirken unter diesen Umständen nur, wenn Verhalten von Arbeitnehmer:innen bei Arbeitgeber:innen den Eindruck erweckt, sie werden die Vertragsfortsetzung nicht verlangen. Dieser Eindruck kann sich insbesondere aus der ausdrücklichen Äußerung geben, Arbeitnehmer:innen wollen nun nicht weiter für die Arbeitgeber:innen arbeiten, oder daraus, dass Arbeitnehmer:innen Schadensersatz in Geld anstelle der Wiedereinstellung verlangen. Ohne solche Umstände wird eine Verwirkung aber regelmäßig ausscheiden; bloße Untätigkeit der Arbeitnehmer:innen genügt gerade nicht.
D. Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gem. § 99 I BetrVG? Zu guter Letzt ist die Rolle des Betriebsrats bei der Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen zu beurteilen. Zu den unstreitigen Prämissen: Treffen Arbeitgeber:innen anhand abstrakt-genereller Systeme eine Auswahl, welche Arbeitnehmer:innen einen Folgearbeitsvertrag erhalten sollen, kann dieses System als Richtlinie i. S. v. § 95 I BetrVG mitbestimmungspflichtig sein.244 Eine individuelle Entscheidung in Anbetracht der einzelnen Arbeitnehmer:innen ist jedenfalls dann nicht mitbestimmungspflichtig, wenn sich Arbeitgeber:innen gegen eine Vertragsfortsetzung nach Fristablauf entscheiden: Es fehlt insoweit an einer § 102 BetrVG vergleichbaren Regelung. Umstritten ist hingegen, ob die umgekehrte Entscheidung – die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse – als Einstellung i. S. v. § 99 I BetrVG mitbestimmungspflichtig ist. Ein Teil der Literatur lehnt eine Mitbestimmungspflicht bei der Vertragsfortsetzung nach Fristablauf ab: Gegenstand der mitbestimmungspflichtigen „Einstellung“ sei die Integration von Arbeitnehmer:innen in den Betrieb und nicht die Kontrolle ihrer Arbeitsbedingungen. Befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen seien aber bereits im Betrieb integriert; durch eine Vertragsfortsetzung werde nur die Laufzeit des bereits geschlossenen Vertrags geändert.245 Außerdem seien keine berechtigten Gründe vorstellbar, um die Zustimmung zu einer Vertragsfortsetzung zu verweigern: Es sei nämlich die Aufgabe des Betriebsrats, die Beschäftigungssicherung der Belegschaft zu fördern (§ 80 I Nr. 8 BetrVG). Dieser Zielsetzung würde es widersprechen, wenn der Betriebsrat der Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses nicht zustimme.246 Das BAG und die wohl überwiegende Ansicht in der 244 Vgl. BAG, Beschl. v. 31. 5. 2005 – 1 ABR 22/04, NZA 2005, 56, 59; ErfK/T. Kania, § 95 BetrVG Rn. 3; GK BetrVG/T. Raab, § 95 BetrVG Rn. 15. 245 HWGNRH/K. Huke, § 99 BetrVG Rn. 52; ErfK/T. Kania, § 99 BetrVG Rn. 6; S. Traeger, Die Einstellung nach § 99 BetrVG (2018), S. 136. 246 Richardi/G. Thüsing, § 99 BetrVG Rn. 40; ähnlich S. Traeger, Die Einstellung nach § 99 BetrVG (2018), S. 137: Die Nutzung der vom BetrVG eingerichteten Flexibilisierungsmög-
8. Kap.: Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen
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Literatur beurteilen hingegen auch die Vertragsfortsetzung als mitbestimmungspflichtige Einstellung i. S. v. § 99 I BetrVG: Das Mitbestimmungsrecht diene primär den kollektiven Interessen der Belegschaft, für die gerade auch bedeutsam sei, ob Arbeitnehmer:innen dauerhaft oder vorübergehend eingestellt werden. Auch eine Verlängerung von Arbeitsverhältnissen könne daher die Interessen der Belegschaft beeinträchtigen und Zustimmungsverweigerungsgründe nach § 99 II BetrVG auslösen, die bei der erstmaligen befristeten Einstellung noch nicht absehbar waren. Der Betriebsrat sei folglich auch bei der Fortsetzungsentscheidung zu beteiligen.247 Nicht mitbestimmungspflichtig sei die Entscheidung konsequenterweise dann, wenn der Betriebsrat schon bei der ersten Einstellung darüber informiert wurde, dass das Arbeitsverhältnis über das Fristende hinaus fortgesetzt werden soll, beispielsweise im Falle einer Bewährung nach Ablauf einer sachgrundlosen Befristung. In diesem Fall könne der Betriebsrat bereits bei seiner ersten Beteiligung prüfen, ob eine Vertragsfortsetzung kollektive Interessen der Belegschaft beeinträchtigt; eine erneute Beteiligung sei nach dem Zweck des § 99 BetrVG nicht geboten.248 Das Meinungsbild ist einheitlicher, wenn die erzwungene Vertragsfortsetzung infolge einer gesetzlichen Pflicht in den Blick genommen wird: Auch nach Ansicht des BAG setzt die Annahme einer mitbestimmungspflichtigen Einstellung i. S. v. § 99 I BetrVG nämlich voraus, dass Arbeitgeber:innen einen Entscheidungsspielraum haben: „Wo für den Arbeitgeber nichts zu entscheiden ist, gibt es für den Betriebsrat nichts mitzubestimmen.“249 Beruht eine Einstellungsentscheidung auf einer gesetzlichen Bestimmung oder einem Verwaltungsakt, sind Betriebsräte daher nur zu beteiligen, wenn Arbeitgeber:innen noch Entscheidungsfreiräume haben, z. B. die eigentliche Auswahlentscheidung zwischen mehreren Personen treffen.250 Nicht mitzubestimmen sind dagegen Einstellungen, die sich im Gesetzesvollzug erschöpfen.251 Dieser Ansicht pflichtet die ganz überwiegende Literatur zu: Wenn Arbeitgeber:innen zur Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen verpflichtet sind, zwischen denen sie keine Auswahlentscheidung treffen müssen, gebe es keine
lichkeiten durch Entlassung von Arbeitnehmer:innen mit Fristablauf sei gerade kein Interesse des Betriebsrats oder der Belegschaft. 247 St. Rspr. BAG, Beschl. v. 27. 10. 2010 – 7 ABR 86/09, NZA 2011, 418, 419 (Rn. 22); BAG, Beschl. v. 23. 6. 2009 – 1 ABR 30/08, NZA 2009, 1162, 1164 (Rn. 32); BAG, Beschl. v. 7. 8. 1990 – 1 ABR 68/89, NZA 1991, 150, 151; BAG, Beschl. v. 28. 10. 1986 – 1 ABR 16/85, NZA 1987, 530, 532; ebenso DKW/M. Bachner, § 99 BetrVG Rn. 47; Fitting, § 99 BetrVG Rn. 38; MüHa ArbR/S. Lunk, § 340 Rn. 23; Düwell/T. Kreuder/U. Matthiessen-Kreuder, § 99 BetrVG Rn. 16; NK ArbR/M. Preuss, § 99 BetrVG Rn. 49; GK BetrVG/T. Raab, § 99 BetrVG Rn. 36. 248 BAG, Beschl. v. 7. 8. 1990 – 1 ABR 68/89, NZA 1991, 150, 151; MüHa ArbR/S. Lunk, § 340 Rn. 23; NK ArbR/M. Preuss, § 99 BetrVG Rn. 49; GK BetrVG/T. Raab, § 99 BetrVG Rn. 36. 249 BAG, Beschl. v. 23. 6. 2009 – 1 ABR 30/08, NZA 2009, 1162, 1163 f. (Rn. 23). 250 Vgl. BAG, Beschl. v. 2. 10. 2017 – 1 ABR 60/06, NZA 2008, 244, 246 (Rn. 21 f.). 251 Vgl. BAG, Beschl. v. 23. 6. 2009 – 1 ABR 30/08, NZA 2009, 1162, 1163 f. (Rn. 24).
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4. Teil: Fortsetzungsfreiheit und ihre Grenzen in der Praxis
mitbestimmungspflichtige Entscheidung der Arbeitgeber:innen.252 Dieses Ergebnis werde durch einen Vergleich mit § 78a BetrVG bestätigt, dessen Befolgung ebenfalls nicht mitbestimmungspflichtig sei.253 Ob die Vertragsfortsetzung nach Geltendmachung von Fortsetzungsansprüchen mitbestimmungspflichtig ist, hängt also davon ab, ob Arbeitgeber:innen nach Geltendmachung dieser Ansprüche noch ein Entscheidungsspielraum verbleibt. Das ist zu verneinen. Sofern Arbeitnehmer:innen die Anspruchsvoraussetzungen eines in dieser Arbeit herausgestellten Fortsetzungsanspruchs erfüllen, schließt sich daran keine Auswahlentscheidung der Arbeitgeber:innen mehr an. Es ist das Arbeitsverhältnis jeder Person fortzusetzen, der die Fortsetzung des befristeten Arbeitsverhältnisses zugesagt wurde, die die Voraussetzungen einer abstrakt-generellen Regelung erfüllt und daher eine Gleichbehandlung gemäß dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz beanspruchen kann oder die ohne Anknüpfung an ein Merkmal i. S. v. § 1 AGG oder eine verbotene Maßregelung einen Folgearbeitsvertrag erhalten hätte. Die Möglichkeit der Zustimmungsverweigerung gem. § 99 II BetrVG ist mit diesem Einstellungsanspruch unvereinbar. Betriebsräte haben daher kein Mitbestimmungsrecht gem. § 99 I BetrVG, wenn Arbeitgeber:innen zur Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen verpflichtet sind.
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D. Boewer, NZA 1999, 1177, 1181 f.; Fitting, § 99 BetrVG Rn. 46 f.; MüKo BGB/ C. W. Hergenröder, § 1 KSchG Rn. 85; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 652; NK ArbR/M. Preuss, § 99 BetrVG Rn. 50; GK BetrVG/T. Raab, § 99 BetrVG Rn. 57; Richardi/G. Thüsing, § 99 BetrVG Rn. 51; S. Traeger, Die Einstellung nach § 99 BetrVG (2018), S. 126; restriktiver KR/ S. Rachor, § 1 KSchG Rn. 842, die einen Entscheidungsspielraum nur dann ablehnt, wenn Arbeitgeber:innen rechtskräftig oder vorläufig vollstreckbar zur Wiedereinstellung verurteilt wurden; a. A.: R. Bram/W. Rühl, NZA 1990, 753, 758; S. Nägele, BB 1998, 1686, 1689; W. Ziemann, MDR 1999, 716, 720. 253 D. Boewer, NZA 1999, 1177, 1182; H. Oetker, ZIP 2000, 643, 652.
Wesentliche Ergebnisse I. Mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen betätigen Arbeitgeber:innen ihre von Art. 12 I 2 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit, in die Gesetzgeber und Gerichte nicht unverhältnismäßig eingreifen dürfen. Gleichzeitig folgt aus der sozialstaatlich geprägten Berufswahlfreiheit der Arbeitnehmer:innen gem. Art. 12 I 1 GG (i. V. m. Art. 20 I GG) die staatliche Schutzpflicht, ein Mindestmaß an Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen zu gewährleisten, da Arbeitnehmer:innen dieses Interesse aufgrund ihrer strukturellen Verhandlungsschwäche regelmäßig nicht privatautonom durchsetzen können. Den Gestaltungskorridor zwischen Übermaß- und Untermaßverbot hat der Gesetzgeber durch das Kündigungs- und Befristungsrecht ausgestaltet. II. Der zentrale Unterschied der Bestandsschutzkonzeptionen im KSchG und TzBfG ist, dass der Bestand von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich des KSchG nur beseitigt werden kann, wenn bei Ablauf der Kündigungsfrist überwiegende Interessen der Arbeitgeber:innen die Beendigung der Arbeitsverhältnisse rechtfertigen. Durch das TzBfG wird hingegen den Interessen der Arbeitgeber:innen an einem flexiblen Personaleinsatz Rechnung getragen: Wenn bereits bei Vereinbarung einer Befristung die Interessen der Arbeitgeber:innen an einer nur vorübergehenden Beschäftigung die Interessen der Arbeitnehmer:innen an einem unbefristeten bestandsgeschützten Arbeitsverhältnis überwiegen, enden Arbeitsverhältnisse mit Fristablauf, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt eines sachlichen Grunds bedarf. Die Konsequenz aus dieser vorverlagerten Abwägung ist einerseits, dass diejenigen Abwägungsfaktoren, die bereits bei Kontrolle der Befristungsabrede abschließend berücksichtigt wurden, keine Fortsetzungsansprüche nach Fristablauf begründen können. Arbeitnehmer:innen können die Fortsetzung ihrer Arbeitsverhältnisse insbesondere nicht deshalb verlangen, weil Beschäftigungsbedarf entgegen einer Prognose zu Beginn des Arbeitsverhältnisses über das Fristende hinaus fortbesteht. Andererseits enthält das TzBfG keine Aussage darüber, ob die Vertragsfortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen aus nicht abschließend im TzBfG geregelten Gründen begrenzt wird: indem Arbeitgeber:innen sich hinsichtlich einer Vertragsfortsetzung selbst binden oder durch Benachteiligungsverbote. III. Die Selbstbindung von Arbeitgeber:innen an eine Vertragsfortsetzung kommt in Betracht, weil dem Abschluss befristeter Arbeitsverhältnisse oft die Erwartung einer Fortsetzung zugrunde liegt und Arbeitnehmer:innen während ihrer befristeten Arbeitsverhältnisse Teil eines Belegschaftskollektivs geworden sind. Als Tatbestände möglicher Selbstbindungen wurden daher sowohl Erklärungen
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oder andere Verhaltensweisen gegenüber einzelnen befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen untersucht als auch die regelhafte Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse in der Vergangenheit (betriebliche Übung) und von vergleichbaren Arbeitnehmer:innen in der Gegenwart (allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz). 1. Erfüllungsansprüche werden nach der Systematik des BGB durch mit Rechtsbindungswillen abgegebene Willenserklärungen begründet sowie ausnahmsweise dann, wenn Vertrauen in einen bereits erfolgten Vertragsschluss erzeugt wurde. Vertrauen in zukünftige Vertragsschlüsse löst nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo hingegen nur eine Ersatzpflicht für Vertrauensschäden aus. Arbeitgeber:innen binden sich an eine Vertragsfortsetzung also nur dann, wenn Arbeitnehmer:innen ihre Erklärungen gem. §§ 133, 157 BGB als verbindliche Fortsetzungszusage auslegen dürfen. Die Voraussetzungen dafür sind hoch, da für Arbeitnehmer:innen regelmäßig erkennbar ist, dass Arbeitgeber:innen Befristungsabreden bewusst gewählt haben, um bei Fristablauf frei über eine Fortsetzung entscheiden zu können und sie sich nicht grundlos vorher binden möchten. Ansprüche auf Vertragsfortsetzung sind daher nur bei Abschluss eines Vorvertrags oder dann anzunehmen, wenn Arbeitnehmer:innen das Verhalten der Arbeitgeber:innen als rechtsgeschäftliche Erklärung verstehen durften, sich vorbehaltlos oder bei Eintritt einer spezifischen Bedingung zum Abschluss eines Folgearbeitsvertrags zu verpflichten. 2. Allein die wiederholte Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen in der Vergangenheit enthält keinen derartigen Erklärungswert. Die Grundsätze der betrieblichen Übung sind nicht anwendbar, da – anders als bei der Leistung geldwerter Vorteile – ein über die Wiedereinstellung hinausgehender Leistungszweck fehlt, aufgrund dessen Arbeitnehmer:innen Arbeitgeber:innen überhaupt ein Interesse an einer dauerhaften Bindung unterstellen dürfen. 3. Arbeitgeber:innen haften gemäß der culpa in contrahendo gem. §§ 311 I, 280 I, 241 II BGB für Vertrauensschäden ihrer Arbeitnehmer:innen, wenn sie eine Vertragsfortsetzung ausdrücklich oder konkludent als sicher und nicht nur wahrscheinlich hingestellt und dabei entweder über ihre Abschlussbereitschaft getäuscht oder den Vertragsschluss ohne triftigen Grund abgebrochen haben. Die mit dieser Haftung einhergehende mittelbare Beschränkung der freien Vertragsfortsetzung ist mit der Wertung in §§ 14 f. TzBfG vereinbar, da sie das Primat des Vertragsrechts sinnvoll ergänzt, wenn Arbeitgeber:innen im eigenen Interesse das Maß an üblichem Verhandlungsverhalten überschritten haben. 4. Arbeitgeber:innen schränken ihre Vertragsfortsetzungsfreiheit nach den Grundsätzen des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ein, indem sie für Vertragsfortsetzungen abstrakt-generelle Merkmale festlegen und dabei übergeordnete Zwecke verfolgen. Ist zur Erreichung
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dieser Ziele eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen nicht erforderlich und angemessen, können ausgeschlossene Arbeitnehmer:innen beanspruchen, gemäß der allgemeinen Regel behandelt zu werden und einen Folgearbeitsvertrag zu erhalten, wenn sie alle gleichheitskonformen Voraussetzungen der Regel erfüllen. Die Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes muss der Tatsache Rechnung tragen, dass Arbeitgeber:innen mit der Fortsetzung einzelner Arbeitsverhältnisse regelmäßig keinen übergeordneten Zweck verfolgen; anders als bei monetären Sonderleistungen können die Differenzierungsgründe daher oft nicht anhand eines übergeordneten Regelungszwecks kontrolliert werden. Nur wenn Arbeitgeber:innen ihre Vertragsfortsetzungsfreiheit betätigen, indem sie zur Verfolgung einer erkennbaren Zwecksetzung anhand abstrakter Kriterien entscheiden, sind sie durch den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz zur konsequenten und sachgerechten Anwendung ihrer Regelung verpflichtet. Die unter diesen Voraussetzungen hergestellte Selbstbindung der Arbeitgeber:innen ist mit der durch §§ 14 f. TzBfG gewährleisteten Vertragsfortsetzungsfreiheit vereinbar. IV. Die Fortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen wird durch verschiedene Benachteiligungsverbote begrenzt, die verbieten, dass Arbeitgeber:innen ihren Entscheidungen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensweisen von Arbeitnehmer:innen zugrunde legen. 1. §§ 7 I, 3, 1 AGG verbieten die Diskriminierung von Arbeitnehmer:innen aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Dadurch soll Bevölkerungsgruppen, die aufgrund historisch gewachsener Statushierarchien in der Arbeitswelt strukturell benachteiligt werden, eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Außerdem bezweckt das AGG, vor den regelmäßig mit Benachteiligungen einhergehenden Würde- und Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu schützen. 2. Eine Vielzahl an Maßregelungsverboten verbietet Benachteiligungen aufgrund einer zulässigen Rechtsausübung von Arbeitnehmer:innen und reagiert damit darauf, dass die Ausübung von Arbeitnehmerrechten sanktioniert zu werden droht, da sie finanzielle oder administrative Belastungen für Arbeitgeber:innen verursacht. Maßregelungsverbote schützen die Willensfreiheit der Arbeitnehmer:innen an sich und effektuieren die Schutzzwecke der einzelnen auszuübenden Rechte. Ihrer Struktur und spezifischen Schutzrichtung entsprechend können die Maßregelungsverbote kategorisiert werden: Sie schützen entweder die Ausübung individueller Rechte von Arbeitnehmer:innen im Arbeitsverhältnis, die Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen im Unternehmen, die Ausübung besonderer Kontroll-
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funktionen gegenüber Arbeitgeber:innen im öffentlichen Interesse oder die außerbetriebliche Amtsausübung im öffentlichen Interesse. 3. Sowohl die Diskriminierungs- als auch die Maßregelungsverbote verbieten Arbeitgeber:innen, die Fortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse aus diskriminierenden oder maßregelnden Gründen zu unterlassen. Dieses Unterlassen ist tatbestandsmäßig, da damit die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben und die Integrität der Arbeitnehmer:innen verletzt und Verhaltensweisen im Laufe des befristeten Arbeitsverhältnisses gemaßregelt werden können. Entscheiden Arbeitgeber:innen nach Fristablauf über die Wiedereinstellung von Arbeitnehmer:innen, wird dieses Verhalten nur von den Diskriminierungsverboten erfasst, wenn sich die ehemaligen Arbeitnehmer:innen um ihren Arbeitsplatz erneut beworben haben (§ 6 I 2 Var. 1 AGG). Die Anforderungen an die Qualität der Bewerbung sind aber aufgrund der bereits bestehenden Vertragshistorie abgesenkt. Maßregelungsverbote erfassen sämtliche Verhaltensweisen nach Ablauf von Arbeitsverhältnissen, mit denen eine Rechtsausübung im Arbeitsverhältnis sanktioniert wird; § 612a BGB ist entsprechend extensiv auszulegen. 4. Benachteiligungsverbote verbieten Arbeitgeber:innen, befristete Arbeitsverhältnisse wegen einer persönlichen Eigenschaft oder Rechtsausübung nicht fortzusetzen, unabhängig davon, ob ein äußerlicher Ungleichheitserfolg durch einen Vergleich mit besser behandelten Bewerber:innen oder Arbeitnehmer:innen festgestellt werden kann. Die Motivlage der Arbeitgeber:innen macht also aus einer zulässigen Betätigung der Vertragsfortsetzungsfreiheit eine verbotene Benachteiligung. Dem unterschiedlichen Schutzzweck des AGG und der Maßregelungsverbote entsprechend verstößt die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse schon dann gegen § 3 I AGG, wenn ein in § 1 AGG genannter Grund in dem Motivbündel der Arbeitgeber:innen enthalten ist. Die Nichtfortsetzung verstößt erst gegen § 612a BGB und § 78 S. 2 BetrVG, wenn die Rechtsausübung der Arbeitnehmer:innen, ggf. in Form der Ausübung von Mitwirkungsrechten, das dominante, und nicht bloß ein untergeordnetes Motiv für die Entscheidung der Arbeitgeber:innen ist. Die bessere Behandlung anderer Personen kann ein Indiz für den Kausalzusammenhang zwischen einem Merkmal i. S. v. § 1 AGG oder einer zulässigen Rechtsausübung und der Nichtfortsetzung sein. Aufgrund der Besonderheit, dass es sich bei der Vertragsfortsetzung um eine Einstellung aus dem Arbeitsverhältnis heraus handelt, kann ein Vergleich sowohl mit anderen befristet beschäftigten Arbeitnehmer:innen als auch mit externen Mitbewerber:innen um die Stelle angestellt werden. 5. Benachteiligungen können gem. §§ 8 ff. AGG gerechtfertigt sein. Eine Benachteiligung aufgrund einer Schwangerschaft ist aber stets unzulässig; eine Benachteiligung aufgrund des Alters oder einer Behinderung grundsätzlich nur, wenn Arbeitnehmer:innen das Rentenalter erreicht haben oder we-
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sentliche berufliche Anforderungen nicht mehr erfüllen können. Insgesamt wird Arbeitgeber:innen damit bis zu der hohen Schwelle in §§ 8 ff. AGG verboten, Arbeitnehmer:innen aus bestimmten Gründen zu benachteiligen, selbst wenn eine Zusammenarbeit aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen belastend ist. V. Verstöße gegen Maßregelungsverbote lösen Sekundäransprüche von Arbeitnehmer:innen, gerichtet auf Schadensersatz gem. §§ 249 ff. BGB i. V. m. § 15 I AGG oder § 280 I BGB sowie Beseitigung analog § 1004 I BGB aus, soweit § 15 VI AGG dem nicht entgegensteht. 1. Benachteiligungen sind analog § 1004 I 1 BGB zu beseitigen oder, falls bereits Schäden eingetreten sind, als Naturalrestitution gem. § 249 I BGB rückgängig zu machen. Diese Ansprüche sind auf die Abgabe eines Vertragsangebots gerichtet, wenn Arbeitgeber:innen eine Vertragsfortsetzung ausschließlich aus diskriminierenden oder maßregelnden Gründen unterlassen haben. Fortsetzungsansprüche sind dann die konsequente Rechtsfolge arbeitsrechtlicher Verbotsvorschriften und keine kompetenzwidrige Rechtsschöpfung der Rechtsanwender. 2. Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge verbotener Benachteiligungen sind ausgeschlossen, soweit § 15 VI AGG Kontrahierungszwänge ausschließt. Eine Analyse der Historie und des Telos von § 15 VI AGG und ihrer Handhabung durch Rechtsprechung und Literatur hat gezeigt, dass die Unschärfe der ratio legis Rechtsanwender:innen ermöglicht, ihre eigenen Vorstellungen darüber, wie weit die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen zu schützen ist und wie sie sich zu den distributiven Schutzanliegen des AGG und dem Arbeitnehmerschutz der Maßregelungsverbote verhält, als verfassungsrechtlich vorgegebene oder gesetzgeberische verallgemeinerbare Wertentscheidung auszugeben. 3. Eine verfassungsrechtliche Analyse des hinter § 15 VI AGG stehenden Interessenkonflikts hat gezeigt, dass Kontrahierungszwänge als Rechtsfolge von Diskriminierungen gem. § 15 I AGG i. V. m. § 249 I BGB oder analog § 1004 BGB unter den dortigen Voraussetzungen verfassungskonforme Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen wären. Dass die Pflicht, Arbeitnehmer:innen wider eigene Stigmen und Wirtschaftlichkeitserwägungen zu beschäftigen, angemessen ist, hat der Gesetzgeber bereits durch den Erlass der sanktionsbewehrten Diskriminierungsverbote abschließend beurteilt. Die Eingriffswirkung eines Kontrahierungszwangs als Mittel der Verbotsdurchsetzung wäre durch überwiegende Gemeinwohlinteressen – die Herstellung materialer Gleichheit, den Schutz der Persönlichkeit und den Schutz der Arbeitsplatzwahlfreiheit – gerechtfertigt. Mit § 15 VI AGG hat der Gesetzgeber also keine zwingenden Verfassungsvorgaben umgesetzt, sondern eine Interessenabwägung innerhalb seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums getroffen.
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4. Auf Grundlage dieses Befunds hat eine teleologische Auslegung ergeben, dass die in § 15 VI AGG getroffene Interessenabwägung grundsätzlich auch für Fortsetzungsansprüche gilt und diese daher ausgeschlossen sind. Wenn befristet beschäftigte Arbeitnehmer:innen aber seit mehr als zwei Jahren auf ihrem Arbeitsplatz beschäftigt sind oder Arbeitgeber:innen eine Vertragsfortsetzung ausdrücklich oder konkludent als sicher und nicht nur wahrscheinlich hingestellt haben, entwickeln sich auch im befristeten Arbeitsverhältnis Bestandsinteressen. Diese Bestandsinteressen sind schutzwürdig, da das TzBfG sie gem. § 14 f. TzBfG nur gegen Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeber:innen abschließend abgewogen hat, nicht aber gegen das Interesse, Arbeitsverhältnisse aus diskriminierenden Gründen zu beenden. Da Bestandsinteressen nach der Arbeitsrechtsordnung und Rechtsprechung des BVerfG qualitativ höher zu gewichten sind als die bei Einstellungen und Beförderungen betroffenen Zugangsinteressen, erfasst die in § 15 VI AGG vorgenommene gesetzgeberische Abwägung Fortsetzungsansprüche unter den beschriebenen Voraussetzungen nicht zwingend. Dass solche Ansprüche keine unzulässigen Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber:innen im Sinne der Gesetzesbegründung sind, hat eine verfassungsorientierte Auslegung gezeigt. § 15 VI AGG ist daher gepalten auszulegen: Fortsetzungsansprüche gem. § 15 I AGG i. V. m. 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB sind im archetypischen befristeten Arbeitsverhältnis als „Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses“ ausgeschlossen, aber im Wege der verfassungsorientierten Auslegung zu bejahen, wenn Arbeitnehmer:innen länger als zwei Jahre auf dem Arbeitsplatz beschäftigt waren oder Arbeitgeber:innen die Erwartung einer sicheren Vertragsfortsetzung erzeugt haben. 5. § 15 VI AGG ist auf Maßregelungsverbote nicht analog anzuwenden. Die Zwecke der Maßregelungsverbote, die Willensfreiheit von Arbeitnehmer:innen bei der Ausübung individueller Rechte oder von Mitwirkungsrechten zu schützen und dadurch zugleich die hinter den einzelnen Rechten stehenden Schutzzwecke zu effektuieren, liefen im befristeten Arbeitsverhältnis leer, wenn die Vertragsfortsetzung aufgrund einer zulässigen Rechtsausübung unterlassen und Arbeitnehmer:innen auf Schadensersatz in Geld verwiesen werden dürften. Mit einem solchen partiellen Schutz würden die Maßregelungsverbote ihre Regelungsziele nicht erreichen; dem Gesetzgeber kann daher nicht ohne weitere Anhaltspunkte unterstellt werden, er hätte Fortsetzungsansprüche als Rechtsfolge verbotener Maßregelungen ausgeschlossen, hätte er die Konstellation vor Augen gehabt. Arbeitnehmer:innen, die aus maßregelnden Gründen keinen Folgearbeitsvertrag erhalten haben, haben daher Fortsetzungsansprüche gem. §§ 280 I, 249 I BGB oder analog § 1004 I BGB. 6. Sofern Fortsetzungsansprüche gem. § 15 VI AGG ausgeschlossen sind, ist Arbeitnehmer:innen gem. § 252 BGB der aus dem unterlassenen Arbeitsverhältnis entgangene Gewinn zu ersetzen. Dasselbe gilt analog § 249 II BGB,
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wenn Arbeitnehmer:innen anstelle einer ihnen zustehenden Vertragsfortsetzung lieber Ersatz in Geld erhalten möchten. Ersatzfähig sind die Gewinne bis zum voraussichtlichen Ende des unterlassenen Arbeitsvertrags mit Fristablauf oder – im Falle der Entfristung – für ihre nach § 252 S. 2 BGB zu prognostizierende durchschnittliche Dauer. Auf diese Gewinne sind solche Entgeltleistungen anzurechnen, die Arbeitnehmer:innen aus stattdessen eingegangenen Arbeitsverhältnissen beziehen oder unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei einer rechtzeitigen und ordentlichen Bewerbung auf dem Arbeitsmarkt hätten erzielen können (§ 254 I, II 1 BGB). VI. Die Vertragsfortsetzungsfreiheit von Arbeitgeber:innen wird also durch verschiedene Tatbestände der Selbstbindung von Arbeitgeber:innen sowie durch Benachteiligungsverbote begrenzt. Mit diesen Grenzen korrespondieren Ansprüche der Arbeitnehmer:innen, die, je nach Tatbestand, auf Ersatz ihres Vertrauensschadens, auf Ersatz des aus dem unterlassenen Arbeitsvertrags entgangenen Gewinns oder auf Vertragsfortsetzung gerichtet sind. VII. Problematisch an der Durchsetzung dieser Ansprüche in der Praxis ist, dass Arbeitgeber:innen keine Gründe für die Nichtfortsetzung befristeter Arbeitsverhältnisse angeben müssen und Arbeitnehmer:innen daher Darlegung und Beweis darüber obliegt, dass Arbeitgeber:innen sich vertragspflicht- oder rechtswidrig verhalten haben. Da die meisten Pflicht- und Rechtsverstöße an innere Entscheidungsgründe der Arbeitgeber:innen anknüpfen, befinden sich Arbeitnehmer:innen in einer strukturellen Beweisnot. Dieser Beweisnot ist dadurch abzuhelfen, dass Arbeitnehmer:innen im Anwendungsbereich des AGG gem. § 22 und ansonsten nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast nur Tatsachen darlegen müssen, die einen Anfangsverdacht begründen, dass Arbeitgeber:innen Verhandlungen grundlos abgebrochen, Arbeitnehmer:innen bei Anwendung einer kollektiven Regel gleichheitswidrig keinen Folgearbeitsvertrag angeboten oder aus diskriminierenden oder maßregelnden Gründen entschieden haben. Arbeitgeber:innen müssen dann substantiiert bestreiten und über ihre Entscheidungsgründe Auskunft erteilen. Anhand dieser Auskunft obliegt es Arbeitnehmer:innen, den Beweis über die gerade beschriebenen Tatsachen zu führen, der auch durch Indizien geführt werden kann.
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Stichwortverzeichnis Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz 123 ff., 175 f., 311, 475 ff. Allgemeines Persönlichkeitsrecht 181 ff., 387 ff., 428 f., 452 f., 455 Befristungsabrede – Befristung mit Sachgrund 33, 66 ff., 74 ff. – Sachgrundlose Befristung 32 f., 71 f., 421 ff., 433 Berufsfreiheit 44 ff., 49 ff., 60 f., 370 ff., 376 ff., 384 ff., 406 ff., 441 ff. Beseitigungsanspruch 335 ff., 344 ff. Bestandsschutz – im befristeten Arbeitsverhältnis 63 ff., 419 ff. – im unbefristeten Arbeitsverhältnis 53 ff. – Legitimation 409 ff. – Verfassung 48 ff., 406 ff. Betriebliche Übung 112 ff. Betriebsrat 206 f., 213 ff., 216 ff., 246, 255 ff., 272 f., 457 ff., 507 ff. Beweisführung – Anscheinsbeweis 490 ff., 509 ff. – Abgestufte Darlegungs- und Beweislast 217, 474, 475 ff., 492 f., 514 f. – Auskunftsanspruch 476 f., 482 ff. – Indizienbeweis 497 ff., 493 ff., 515 f. Diskriminierungsverbote – Alter 197 ff., 290 ff., 500 – Behinderung 193 ff., 292 ff., 401, 495, 497 f. – Ethnie 185, 192 – Geschlecht 156 ff., 186 ff., 198 f., 252 f. – Mittelbare Diskriminierung 295 – Rassistische Diskriminierung 182, 185 f., 192 f., 198 f., 250 – Religion 188 ff., 198 f., 383
– Schwangerschaft 62, 154 f., 162, 187, 198, 252 f., 268, 274 ff., 495 ff., 499 – Sexuelle Identität 186 f., 197 f., 251, 383, 428 f. – Weltanschauung 191 ff. Europäische Richtlinien 216 ff., 325, 345 ff.
163 ff., 210 ff.,
Fortsetzungsanspruch – Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz 147 – Fristen 519 ff. – Inhalt 517 ff. – Mitbestimmungsrecht 528 ff. – Verstoß gegen Diskriminierungsverbote 343 ff. – Verstoß gegen Maßregelungsverbote 446 ff. – Vorvertrag 85 f. – Zusage 85 f. Gewaltenteilung 465 ff. Gewerkschaftliche Betätigung 201 f., 451 ff. Gleichheitskonzeptionen 175 ff., 381 ff. Kontrahierungszwang 395 ff.
341 ff., 371 ff.,
Maßregelungsverbote 200 ff., 238 ff., 270 ff., 446 ff., 506 ff. Rücksichtnahmepflicht 310 f.
92 ff., 235 ff.,
Saisonarbeitsverhältnis 112 ff. Schadensersatzanspruch – Culpa in contrahendo 92 ff., 473 ff. – Entgangener Gewinn 96 ff., 319 ff. – Naturalrestitution 318 f.
Stichwortverzeichnis
591
– Verschulden 94, 103, 312 ff., 314 ff. – Vertrauensschaden 95 ff. – Wahlrecht 320 ff.
Vergleichsperson 257 ff., 270 f., 272 f., 501 f. Vertrauensschutz 87 ff., 422 ff.
Teilhabesicherung 400 ff.
Wiedereinstellungsanspruch
178 ff., 286 ff., 384 ff.,
Unterlassungsanspruch 335 ff., 344 ff. Unzulässige Rechtsausübung 90 ff., 309 f.
54 ff., 121