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German Pages 280 Year 2020
Mahmud El-Wereny Radikalisierung im Cyberspace
global | local Islam
Mahmud El-Wereny (Dr. phil.), geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen. Der Islamwissenschaftler studierte an der Al-Azhar Universität in Kairo und promovierte an der Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islamisches Recht, Islamische Normenlehre des Zusammenlebens, Islam im Cyberspace, Politischer Islam (Islamismus und Salafismus) und Schiitischer Islam.
Mahmud El-Wereny
Radikalisierung im Cyberspace Die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Raum – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
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Inhalt
Vorwort .................................................................................. 9 Anmerkungen ............................................................................ 11 I. 1. 2. 3. 4.
Einleitung...........................................................................13 Themenaufriss ......................................................................13 Forschungsstand .................................................................... 16 Untersuchungsgegenstand.......................................................... 20 Vorgehensweise ..................................................................... 21
II.
Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen ................................................ Salafiyya ........................................................................... Salafismus ......................................................................... Islamismus ......................................................................... Fundamentalismus ................................................................. Extremismus ....................................................................... Zwischenfazit ......................................................................
1. 2. 3. 4. 5. 6. III. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
25 26 29 37 40 44 47
Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens ............................................................. 51 Die Quellentexte nach salafistischem Verständnis .................................... 51 Der Eingottglaube in salafistischer Deutung ......................................... 69 Scharia als unwandelbare Rechtsordnung ........................................... 72 Tradition vs. Innovation?............................................................ 76 Da‘wa – Strategie zur Verbreitung des »authentischen« Islam ....................... 84 Zwischenfazit ...................................................................... 95
IV. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
8. V. 1. 2.
Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte .............................................. 99 Islam Q&A .......................................................................... 99 Islamweb.net/de.................................................................... 101 Islamfatwa.de ..................................................................... 103 Basseera.de ....................................................................... 106 Im Auftrag des Islam .............................................................. 108 Realität Islam ...................................................................... 112 YouTube als Medium zur Verbreitung salafistischer Propaganda...................... 116 7.1 Hassan Dabbagh............................................................. 119 7.2 Pierre Vogel ................................................................. 121 7.3 Ahmad Abul Baraa .......................................................... 124 Zwischenfazit – Islam(ist)ische Normativität im Cyberspace ........................ 126 Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?...................................... 133 Radikalisierung: Bedeutung, Ebenen und Verlauf.................................... 133 Darstellung und Analyse ausgewählter Fallbeispiele ................................ 138 2.1 Staat und Politik aus salafistischer Sicht .................................... 139 2.1.1 Der Islam: Religion und Staat? ...................................... 139 2.1.2 Wahlrecht und Teilhabe am politischen Leben ....................... 146 2.1.3 Loyalität und Lossagung als politisches Konzept .................... 149 2.1.4 Exkommunizierung im politischen Kontext .......................... 152 2.1.5 Zwischenfazit ...................................................... 155 2.2 Der religiös Andere in der salafistischen Ideologie ........................... 156 2.2.1 Der Islam im Verhältnis zu anderen Religionen ...................... 156 2.2.2 Haltung zu Nichtmuslimen auf sozialer Ebene ....................... 163 2.2.3 Dialog mit dem religiös Anderen .................................... 168 2.2.4 Warum überhaupt unter »Ungläubigen« leben? ...................... 171 2.2.5 Schiiten als Häretiker ...............................................175 2.2.6 Zwischenfazit .......................................................179 2.3 Die Stellung der Frau im Salafismus .......................................... 181 2.3.1 Geschlechterverhältnis .............................................. 181 2.3.2 Kleidungsvorschriften .............................................. 183 2.3.3 Händeschütteln mit und Sprechen zu fremden Männern ............. 187 2.3.4 Erwerbstätigkeit und Koedukation .................................. 189 2.3.5 Frauen als Imaminnen .............................................. 192 2.3.6 Schwimmen für Frauen ............................................. 194 2.3.7 »Und schlagt sie!« – Häusliche Gewalt gegen Frauen ................ 196 2.3.8 Polygynie .......................................................... 198 2.3.9 Zwischenfazit ...................................................... 200
2.4
VI.
Position der Online-Salafisten zu politischer Gewalt.......................... 203 2.4.1 Krieg im Kontext ................................................... 203 2.4.2 Dschihad als spiritueller Kampf ..................................... 204 2.4.3 Islamgegenextremismus.de......................................... 205 2.4.4 Distanzierung von Terror und Gewalt ................................ 206 2.4.5 Dschihad ist »nicht immer die Waffe« .............................. 207 2.4.6 Das Verbot der Tötung »unschuldiger« Menschen ................... 208 2.4.7 Da ‘ wa statt Krieg .................................................. 209 2.4.8 Zwischenfazit .......................................................210
Fazit und Ausblick ................................................................ 213
Glossar ................................................................................. 223 Literaturverzeichnis.................................................................... 229 Anhang ................................................................................. 269
Vorwort
Auch wenn das Internet neue Welten eröffnet und vielfältige Möglichkeiten geschaffen hat, hat es doch auch seine Schattenseiten. Viele radikale Bewegungen nutzen den virtuellen Raum intensiv, um ihre Ideologien zu verbreiten und neue Anhänger zu gewinnen. Auch islamistische Gruppierungen machen davon Gebrauch. Für den Salafismus dient die Onlinewelt nicht nur als Medium zur Verbreitung seiner Botschaft, sondern auch als zentrales Kommunikationsmittel zur Mobilisierung und Rekrutierung neuer Mitglieder. Die Frage, was in der virtuellen Welt des Salafismus propagiert wird und ob seine Informationsangebote über den Islam Radikalisierungspotenzial aufweisen, ist der Gegenstand der vorliegenden Studie. Dafür werden zunächst Erscheinungsformen, Strategien und Ideologie des Salafismus vorgestellt sowie die unterschiedlichen Ebenen der Radikalisierung diskutiert. Anschließend werden die Inhalte deutschsprachiger salafistisch geprägter Webseiten exemplarisch anhand von vier Themenschwerpunkten auf ihren Radikalisierungsgehalt hin untersucht: Haltung zu Staat und Politik, zum religiös Anderen, zur Stellung der Frau und zur Anwendung politischer Gewalt. Um ein differenziertes Bild über den Islam zu vermitteln, werden dabei die Ansichten anderer liberaler Autoren herangezogen. Die Studie regt dazu an, adäquate Alternativangebote bzw. Gegennarrative zu schaffen, die der Attraktivität salafistischer Propaganda entgegenwirken, zugleich Jugendliche bei der Mediennutzung sensibilisieren und sie dazu befähigen, religiöse Inhalte kritisch zu reflektieren. Die hier vorgelegte Publikation ist das Resultat eines Postdoc-Projektes, das im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen und anschließend in der Präventionsabteilung des Polizeipräsidiums Frankfurt a.M. entstanden ist. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen ehemaligen Arbeitskolleginnen und -kollegen bedanken, die mich bei der Erstellung und Veröffentlichung dieser Arbeit unterstützt haben. Besonders danken möchte ich Frau Hedwig Bollmer, Herrn Ronny Günkel, Herrn Nassif Khalil und Herrn Lino Klevesath für ihre Unterstützung und vielen lieben Worte während der Erarbeitung dieses Projekts. Für die hervorragende Arbeitsatmosphäre, in der ich das Projekt abschließen konnte, möchte ich Herrn Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel sowie seinem gesamten Team, ins-
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besondere Herrn Mehmet Kalender und Frau Silvia Schnorrer, danken. Mein Dank gilt auch all meinen Studierenden der Universität Göttingen, mit denen ich in vielen Lehrveranstaltungen über einzelne Fragen dieses Buchs immer wieder diskutiert habe. Tief verbunden und dankbar bin ich meiner Ehefrau Amal Assaf, ohne deren unermüdliche Geduld und Unterstützung diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Göttingen, im November 2019 Mahmud El-Wereny
Anmerkungen
Die Transliteration arabischer Termini erfolgt um der Lesbarkeit willen in einer vereinfachten Form, weitgehend angelehnt an das Umschriftsystem des »International Journal of Middle East Studies« (IJMES). Arabische Begriffe, die in deutscher Sprache gebräuchlich sind, werden in der im Deutschen üblichen Schreibweise verwendet, wie etwa Scharia statt sharīʿa. Bei arabischen Eigennamen wie etwa Muhammad, Ibn Baz, al-Qaradawi, Abu Zaid und Shahrur wird der Leserlichkeit wegen auf eine genaue Umschrift verzichtet. Aus Platzgründen erscheinen Angaben verwendeter Literatur in den Fußnoten durch Nennung des Nachnamens des Autors und eines Schlagworts des Titels, bei Onlinequellen zusätzlich des Titels der Plattformen, nicht jedoch der gesamten URL. Diese Angaben werden im Literaturverzeichnis vollständig ausgeführt. Erscheint im Text eine Zeitangabe, so handelt es sich, falls nicht anders angegeben, um die gregorianische Jahreszählung. Des Leseflusses halber wird auf die Segensformel sallā allāhu ʿalayhi wa-sallam (»Heil und Frieden über ihm«) generell verzichtet, die oft bei der Nennung des Propheten Muhammad ausgesprochen sowie stets in Text- und Videobeiträgen muslimischer Autoren wiedergegeben wird. Es wird ebenfalls auf eine gendergerechte Schreibweise verzichtet. Das verwendete grammatikalische Maskulinum bezieht sich, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf alle Geschlechter. Fachtermini, die in dieser Arbeit ohne nähere Erklärung Anwendung finden, werden im Glossar näher erläutert. Etwaige Rechtschreib- bzw. Grammatikfehler, die in direkt zitierten Stellen auftreten, sind dem Originaltext entnommen und werden beibehalten. Koranstellen sind, falls nicht anders angegeben, Parets und Mahers Übersetzungen entnommen.
I. Einleitung
1.
Themenaufriss
Durch seine vielfältigen Aktivitäten hat der Salafismus in den letzten Jahren weltweit eine enorme Expansion erlebt und mithin deutlich an Relevanz gewonnen. In Deutschland ist er immer häufiger Gegenstand medialer Berichterstattung, politischer Diskussionen sowie wissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei wird er oft in Zusammenhang mit dem Phänomen der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher gebracht und als Bedrohung für Staat und Gesellschaft empfunden.1 In den Fokus des öffentlichen Diskurses ist er vor allem durch die inzwischen verbotene Koranverteilungskampagne »Lies!« sowie durch die Ausreise einiger salafistisch Gesinnter ins Kampfgebiet des sog. Islamischen Staates (IS) gerückt. Von deutschen Sicherheitsbehörden wird der Salafismus als die gegenwärtig dynamischste islamistische Bewegung hierzulande angesehen, die durch ihre ausgiebige Propagandatätigkeit die deutsche Gesellschaft entsprechend ihrem ultrakonservativen Islamverständnis missionieren und islamisieren wolle.2 Bei ›Salafismus‹ handelt es sich um einen Oberbegriff für eine sehr heterogene und mittlerweile globale Strömung innerhalb des sunnitischen Islam, die sich weitestgehend buchstabengetreu auf die islamischen Quellentexte (Koran und Sunna) sowie auf den Lebensstil der ersten drei Generationen islamischer Zeitrechnung beruft, um ihre religiöse und politische Weltanschauung zu begründen. Auch wenn Salafisten strategisch unterschiedlich agieren, streben sie allesamt die Errichtung bzw. Wiedererrichtung einer auf der Scharia basierenden Gesellschaftsund Staatsordnung an. Dabei wird die Scharia als holistisches Gebilde göttlichen Ursprungs aufgefasst, das alle Belange des Lebens abdecke. Auf Basis ihrer unterschiedlichen Strategien und Mittel zur Erreichung ihrer Ziele wird im wissenschaftlichen Diskurs häufig zwischen drei Typen von Salafisten unterschieden: Puristen bzw. Quietisten, politischen Salafisten und salafistischen Dschihadisten. Al-
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Vgl. z.B. Ceylan/Kiefer: Salafismus; Ceylan/Jokisch: Salafismus in Deutschland. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Salafistische Bestrebungen, S. 5; Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2017, S. 173.
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Radikalisierung im Cyberspace
lerdings ist diese Einteilung keineswegs konsensual unter den Autoren, die zum Thema publizieren.3 Die Puristen sind in erster Linie auf eine rein religiöse Lehre des Islam aus und setzen sich dafür ein, dass diese Lehre im Alltag eines jeden Muslims umgesetzt wird. Sie lehnen die Beschäftigung mit Politik grundsätzlich ab und beschäftigen sich vielmehr mit religiösen Fragen, um auf diesem Wege die Reinheit des Glaubens – nach ihrem Verständnis – wiederherzustellen und so ein gottgefälliges Leben zu führen. Daher steht für sie die daʿwa (»Ruf«, »Einladung« zum Islam) im Vordergrund. Durch persönliche Frömmigkeit und individuellen, gelebten Glauben wollen sie die Gesellschaft friedlich und peu à peu verändern, um ihr Hauptziel, die Schaffung eines islamischen Gemeinwesens, zu erreichen. Die politischen Salafisten streben ebenfalls den Aufbau eines schariakonformen Staats- und Gesellschaftssystems an und sind dazu politisch aktiv, sei es auf parlamentarischem oder auch außerparlamentarischem Wege, etwa durch Agitation in Form von öffentlichen Missionierungen und Predigten. Die dritte Gruppe, salafistische Dschihadisten, unterscheidet sich von den beiden bereits erwähnten Strömungen in der Frage der Gewaltanwendung. Denn darin sieht sie das einzige Mittel, um ihre Vision eines islamischen Staates Realität werden zu lassen. Missionarische Arbeit reicht in ihren Augen bei weitem nicht aus, um ein islamisches Gemeinwesen wieder zu errichten, und die politische Partizipation an vermeintlich unislamischen politischen Systemen lehnen sie vollständig ab.4 Salafisten jeder Couleur verbreiten ihre Botschaft in hohem Maße über das Internet. Ihre Online-Auftritte dominieren mittlerweile auch die deutschsprachigen Informationsangebote über die Religion des Islam.5 Durch die überaus rege Internetpräsenz mit zahllosen unterschiedlichen Plattformen, die mehrsprachig, vielfältig und graphisch aufwändig gestaltet sind, schaffen Salafisten es nicht nur, junge Menschen zu erreichen und mit ihrem salafistischen Gedankengut zu beeinflussen, vielmehr gewinnen sie auch allgemein an Einfluss auf die muslimische Öffentlichkeit sowie auf die Wahrnehmung des Islam in der Gesellschaft. Wiedl beschreibt diesen Zustand wie folgt: »Die Auswirkungen salafitischer daʿwa sind weitaus größer, als es die geringe Anzahl von Salafis vermuten lässt. Ebenso wie in vielen anderen Ländern Europas,
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4 5
Siehe z.B. Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 58ff.; Wiedl: Geschichte des Salafismus, S. 413ff. Viele Autoren wie etwa Martijn de Koning äußern sich zur Einteilung von Wiktorowicz kritisch mit der Begründung, dass diese Typologie die Ambiguität und Veränderungen innerhalb salafistischer Tendenzen nicht umfassend und angemessen beschreibe. Vgl. ausführlich dazu de Koning: The ›Other‹ Political Islam, S. 161; Lohlker: Salafismus zwischen Realität und Fantasie, S. 175. Siehe ausführlich dazu Kap. II, Abschn. 2. Vgl. z.B. Brückner: Der Mufti, S. 60-74.
I. Einleitung
Afrikas, des Nahen Ostens und Südostasiens hatte und hat auch in Deutschland die teils durch Einnahmen aus Erdölexporten geförderte Verbreitung salafitischer daʿwa einen großen Einfluss auf lokale muslimische Gemeinschaften und das Bild des Islam in der Öffentlichkeit. Das Internet sowie einige islamische Buchhandlungen (primär in speziellen Moscheen) wurden und werden mit Publikationen »überflutet«, die das salafitische Islamverständnis als den einzig authentischen Islam präsentieren.«6 Nach Darstellung des niedersächsischen Verfassungsschutzes spielt das Internet für den Salafismus »eine herausragende Rolle«, und zwar nicht nur in der Propaganda, sondern auch in der Kontaktpflege, der Rekrutierung von neuen Anhängern sowie in Radikalisierungsverläufen.7 Vonseiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Bf V) heißt es, dass die von Salafisten im Internet verbreitete Ideologie den Nährboden für eine islamistische Radikalisierung zum dschihadistischen Salafismus, bis hin zur Rekrutierung für den militanten Dschihad, bilde.8 Das Internet nimmt eine solch »wichtige Rolle« bei der Radikalisierung von Jugendlichen ein, weil hier der Kontakt zur islamistischen Szene »schnell, kostengünstig und zunächst anonym […] aufgebaut werden [kann].«9 »Gerade für junge Menschen – ungeachtet ihrer Herkunft – ist die Nutzung dieser Medien heute eine Selbstverständlichkeit und tritt gleichberechtigt neben die Kommunikation in der realen Welt.«10 Darüber hinaus vertritt der Salafismus ein einfaches SchwarzWeiß-Denken und bietet einen leicht verständlichen Lebensentwurf mit einfach zu befolgenden Handlungsanweisungen, die vermeintlich alle Bedürfnisse abdecken und an denen labile, verunsicherte und religiös ungebildete Jugendliche sich orientieren könnten.11 Zudem finden salafistische Angebote durch das interaktive Internet – Web 2.0 – eine schnelle und weitreichende Verbreitung, da Nutzer nicht nur Inhalte konsumieren, sondern diese auch selbst wieder anderen zur Verfügung stellen können. Schriften, Videos und Audios salafistischer Protagonisten werden auf diesem Wege über unterschiedliche soziale Netzwerke wie Facebook, WhatsApp, Twitter oder Instagram intensiv ausgetauscht. Dazu kommt, dass deutschsprachige Webseiten salafistischer Prägung in den vergangenen Jahren nicht nur qualitativ professioneller geworden, sondern auch quantitativ stark angewachsen sind.12 Bevor auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung eingegangen 6 7 8 9 10 11 12
Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 21f. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Frauen im Salafismus, S. 26. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Salafistische Bestrebungen, S. 10. Siehe auch Logvinov: Salafismus, S. 85ff. Bundesamt für Verfassungsschutz: Islamismus, S. 27; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Salafismus, S. 20ff.; Logvinov: Salafismus, S. 85ff. Ministerium des Innern NRW: Verfassungsschutzbericht 2016, S. 178. Bundesamt für Verfassungsschutz: Salafistische Bestrebungen, S. 14. Siehe auch Strunk: WWW-Salafismus, S. 73.
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Radikalisierung im Cyberspace
wird, wird im Folgenden zunächst ein Überblick über den Stand der Forschung gegeben, um die Zielsetzung der vorliegenden Studie von der anderer einschlägiger Arbeiten abzugrenzen.
2.
Forschungsstand
Die Beschäftigung mit dem Thema Salafismus bzw. mit islamistischen Gruppierungen im Allgemeinen ist seit 2001, vor allem infolge der in den USA am 11. September verübten Terroranschläge, auf internationaler Ebene intensiver geworden. Die ersten solcher Studien fragen nach dem Hintergrund terroristischer Anschläge, der Historie, der Doktrin der Ausführenden und den Zusammenhängen zwischen islamistischen Bewegungen. Sie untersuchen die Anfänge und die Gründe für den islambezogenen Terrorismus und thematisieren die damals aufkeimende Diskussion über eine Relation zwischen Islam und Gewalt. Vor allem in Bezug auf den Salafismus fehlte dabei oft eine konkrete Differenzierung zwischen seinen einzelnen Fraktionen und Strömungen, zumal er ein hohes Maß an Heterogenität und Fluktuation aufweist.13 Spätere Studien, seit etwa 2005, widmen sich daher der Typologisierung salafistischer Strömungen und identifizieren dabei ihre Erscheinungsformen, Strategien und Ziele.14 Einen Überblick über das Phänomen Salafismus, seine Lehre, seine Haltung gegenüber Andersgesinnten, sein Verhältnis zur Gewalt sowie seine regionale wie internationale Präsenz gibt der 2009 herausgegebene Sammelband Global Salafism.15 Im deutschsprachigen Raum ist in den letzten Jahren ebenfalls eine beträchtliche Zahl an Studien zum Thema Salafismus erschienen. Dort werden Einblicke in die gängigen Typologien sowie Vorschläge für weitere Differenzierungen salafistischer Trends gegeben. Auch Themen wie z.B. historische Wurzeln, religiös-politische Ideologie und Wege des Salafismus nach Europa, die auch in der englischsprachigen Literatur behandelt wurden, werden zum Teil erneut nachgezeichnet, wobei es vorrangig um den Salafismus in Deutschland geht. Zudem werden die unterschiedlichen Einstellungen des Salafismus zu religiöser Reinheit, Politik und Gewalt analysiert. Einschlägige Publikationen, die einen umfassenden Überblick über das Phänomen liefern, sind die 2014 erschienenen Sammelbände Salafismus: Auf der Suche nach dem wahren Islam und Salafismus in Deutschland.16 Andere Studien 13 14 15 16
Vgl. z.B. Heine: Terror in Allahs Namen; Wiktorowicz: The Management of Islamic Activism; ders.: The New Global Threat, S. 18-38. Vgl. Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi, S. 207-239; Hummel: Salafismus in Deutschland, S. 95-122. Meijer: Global Salafism. Vgl. Said/Fouad: Salafismus; Schneiders: Salafismus in Deutschland; siehe auch Käsehage: Salafismus in Deutschland, erschienen 2019.
I. Einleitung
widmen sich dem Zusammenhang zwischen Salafismus und Radikalisierung und gehen dabei auf deren Mechanismen sowie mögliche Präventionswege ein. Dort werden Überblicke über spezifische Präventionsmaßnahmen in unterschiedlichen Feldern gegeben sowie Voraussetzungen für eine erfolgreiche Prävention diskutiert. Die Forscher erörtern dabei die Möglichkeiten, Probleme und Herausforderungen der Prävention und weisen auf Defizite in bereits existierenden Projekten der Präventionsarbeit hin.17 Das Thema salafistische Internetpräsenz fand ebenfalls in nicht wenigen Studien Beachtung, meist jedoch im Kontext einer Diskussion des gewaltbereiten Salafismus bzw. Dschihadismus. In seiner Studie über Abu Jandal al-Azdi, einen der wichtigsten im Netz aktiven Ideologen der al-Qaida auf der arabischen Halbinsel, untersucht Wagemakers bspw. die Bedeutung und die Funktionen der OnlinePropaganda des Dschihadismus.18 In den vergangenen Jahren hat die vom sog. Islamischen Staat produzierte Propaganda, vor allem aufgrund seiner Bedeutung für politische Entscheidungsträger, bei weitem die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei werden u.a. die Inhalte sowie die in der Kriegsführung vom IS eingesetzten Medien- und Kommunikationsstrategien analysiert.19 Da der Schwerpunkt der vorliegenden Studie ein anderer ist, wird auf diese Literatur nicht weiter eingegangen. Im Großen und Ganzen unterteilt sie sich in vier verschiedene, sich allerdings überlappende, Themengebiete: Propaganda, Rekrutierung, Logistik und Planung sowie Finanzierung.20 Neben einzelnen Artikeln, die sich überblicksartig mit der Internetpräsenz des Salafismus im deutschsprachigen Raum beschäftigen,21 bieten insbesondere zwei Studien von Wiedl tiefere Einblicke in die virtuelle Welt des Salafismus in Deutschland. In der einen beschäftigt sie sich mit der Kontextualisierung und den vielfältigen Funktionen von Außenbezügen in Vorträgen prominenter deutscher Prediger der salafistischen Szene. Solche Bezüge dienten ihnen als Mittel zur Herstellung und Stärkung kollektiver Identitäten unter deutschen Muslimen. Am Beispiel von u.a. Pierre Vogels, Hassan Dabbaghs und Abu Dujanas Online-Auftritten thematisiert sie dabei die Abgrenzungstechniken und die von ihnen kreierten Feindbilder und zeigt, wie und zu welchem Zweck sie die Idee einer »globalen umma« (arabisch
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Vgl. z.B. Ceylan/Kiefer: Salafismus; dies.: Radikalisierungsprävention; Ceylan/Jokisch: Salafismus in Deutschland. Vgl. Wagemakers: Al-Qaʿida’s Editor, S. 355-369. Vgl. z.B. Neumann/Winter u.a.: Die Rolle des Internets, S. 11f.; Phillips: The Islamic State’s Strategy, S. 731-757; El Difraoui: Web 2.0, S. 67-75; Roy: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod«. Vgl. weiterführend dazu z.B. Neumann/Winter u.a.: Die Rolle des Internets, S. 10ff.; Steinberg: Jihadismus und Internet, S. 7-22; ders.: German Jihad. Vgl. z.B. Strunk: WWW-Salafismus, S. 67-102; Rudolph: Salafistische Propaganda, S. 486-501; El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 113-146.
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Radikalisierung im Cyberspace
für »muslimische Gemeinschaft«) propagieren und Muslime dazu aufrufen, sich mit dieser zu identifizieren.22 In der anderen Studie widmet sich Wiedl der salafistischen daʿwa in Deutschland in der Zeit zwischen 2002 und 2011. Sie geht dabei auf Ursprünge, Netzwerke, Strategien, Charakteristika und Praktiken der daʿwa deutscher Salafisten ausführlich ein und bespricht, wie diese ihre daʿwa-Methode an die jeweilige Zielgruppe anpassen. Die Anpassung der daʿwa an die Lebensumstände in Deutschland ziele darauf ab, »zunächst einen Wandel der Identitäten, Alltagsroutinen und Werte von Individuen zu erzielen. Eine direkte ›Eroberung‹ der Institutionen und des Staates zählt derzeit nicht zu ihren Prioritäten.«23 Untersuchungen, die das Verhältnis zwischen der virtuellen Welt des Salafismus und der Radikalisierung von Einzelpersonen im deutschen Kontext thematisieren, wurden bisher meist aus der Perspektive der Sicherheitsbehörden und der Politikwissenschaften durchgeführt. Der Fokus liegt dabei zum einen auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, SnapChat oder WhatsApp, zum anderen auf dem dschihadistischen Salafismus. Einschlägige Studien zeigen auf, der Cyberspace stelle für dschihadistische bzw. extremistische Gruppen virtuelle Rückzugsorte dar, um sich online zu treffen, spirituelle Auseinandersetzungen auszutragen und Neuigkeiten auszutauschen. Mit der Verwendung des Internets seien jene Gruppen bestrebt, nicht nur ihre Attraktivität international zu steigern, um neue Anhänger zu gewinnen, sondern auch sich mit ähnlich gesinnten Gruppen zu verbinden und somit ein virtuelles Gemeinschafts- und Identitätsgefühl der dschihadistischen Community gedeihen zu lassen.24 In Publikationen deutscher Sicherheitsbehörden werden zwar Versuche unternommen, Radikalisierungsgefahr und -prozesse des Online-Salafismus zu klären und entsprechende Präventionsmaßnahmen vorzuschlagen, es bleibt dabei aber oft die Frage unbeantwortet, welche empirischen Grundlagen diese behauptete Verknüpfung von Verhalten im Internet und den verschiedenen Stufen der Radikalisierung hat.25 Zu den ersten empirischen Studien, die sich der virtuellen Welt des Salafismus zuwandte, zählt der vom Team des Forschungsnetzwerkes Radikalisierung und Prävention herausgegebene Sammelband »Lasset uns in shaʼa Allah ein Plan machen«. Mit Fokus auf gewalttätigen Salafismus in Deutschland wird anhand ausgewerteter Chat-Protokolle einer militanten WhatsApp-Jugendgruppe ein Einblick in die gruppeninterne Dynamik junger Salafisten gegeben, wobei die Radikalisie-
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25
Vgl. Wiedl: Außenbezüge, S. 24. Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 488. Siehe z.B. Weimann: www.terror.net; ders.: Terror on the Internet; ders.: Virtual Disputes: S. 623-639; Gerstenfeld/Grant/Chiang: Hate Online, S. 29-44; El Difraoui: Web 2.0, S. 67-75; Rieger/Frischlich u.a.: Propaganda 2.0., passim. Siehe u.a. Strunk: Frauen in dschihadistischen Strukturen, S. 79-91; Rudolph: Salafistische Propaganda, S. 486-501; Koch/Stumpf/Knipping-Sorokin: Radikalisierung, S. 24.
I. Einleitung
rungsprozesse nachgezeichnet werden.26 Eine weitere thematische Nische im Cyberspace des Salafismus, die in der deutschen Forschungslandschaft Beachtung fand, ist die Rolle von Musik, insbesondere die der sog. Naschids (»Lieder mit religiösen Inhalten«, »islamischer A-capella-Gesang«), bei kognitiver Radikalisierung sowie dschihadistischer Rekrutierung und Mobilisierung.27 Wenngleich in den letzten Jahren eine nicht geringe Anzahl an Studien zum Thema Salafismus und Online-Radikalisierung erschienen ist,28 bewegen sich die meisten von ihnen in einem theoretischen Rahmen oder beschränken sich primär auf dschihadistische Propaganda. Diese Schwerpunktsetzung hängt vor allem mit Videos und Veröffentlichungen von Dschihad-Inhalten aus Konfliktzonen zusammen, die von Entscheidungsträgern der Politik als Sicherheitsbedrohung angesehen werden und deren Erforschung daher gefördert wird. Andere Wege bzw. Formen der Radikalisierung bzw. des Extremismus werden, wie unter anderen Neumann darstellt, »oft fälschlicherweise als eine geringere Sicherheitsbedrohung im Vergleich zu dschihadistischen Gruppen angesehen. Aus diesem Grunde ist das politische Interesse an der Erforschung von ›Online-Extremismen‹ jenseits dschihadistischer Aktivitäten weniger ausgeprägt und es werden entsprechend weniger finanzielle Mittel dafür bereitgestellt.«29 Im Ergebnis finden viele salafistische Internetplattformen, die radikalisierungsfördernd sein könnten, jedoch auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen sind, bislang kaum Beachtung. Vor diesem Hintergrund ist die Zielsetzung der vorliegenden Studie, einen Beitrag dazu zu leisten, diese Forschungslücke zu schließen. Das Radikalisierungspotenzial salafistisch geprägter Internetseiten zu untersuchen, ist darüber hinaus von großer Relevanz, weil Muslime, insbesondere Jugendliche, die sich bloß allgemein über das Thema Islam informieren wollen, leicht auf einschlägig salafistische Seiten gelangen und somit Gefahr laufen, ein Objekt islamistischer Radikalisierung zu werden.30
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Vgl. Kiefer/Ceylan u.a.: »Lasset uns in shaʼa Allah ein Plan machen«. Eine weitere empirische Studie zum Salafismus in Deutschland liefert Nina Käsehage: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland, erschienen 2018. Vgl. z.B. Dantschke: Ohne Musik geht es nicht, S. 93-110; Said: Hymnen des Jihads. Einen umfangreichen Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema Internet und Radikalisierung bietet die 2016 vom »Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet« erstellte Literaturstudie. Vgl. Koch/Stumpf/Knipping-Sorokin: Radikalisierung. Siehe auch Neumann/Winter: Die Rolle des Internets, S. 2. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Islamismus, S. 27; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Salafismus, S. 20ff.; Baehr: Salafistische Propaganda, S. 236-269.
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Radikalisierung im Cyberspace
3.
Untersuchungsgegenstand
In Anbetracht des Dargestellten steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie die Darstellung und Analyse von deutschsprachigen Webseiten salafistischer Prägung: Die 1997 in Saudi-Arabien gegründete Webseite Islam Question & Answer, bekannt als Islam Q&A. Sie zählt zu den ersten online gestellten Plattformen über den Islam und stellt ihre Inhalte heute in 15 Sprachen zur Verfügung.31 Die zweite, Islamweb.net, ging 1998 online und stellt somit ebenfalls eines der ersten Online-Portale dar, das umfangreiche Informationsangebote über den Islam bietet. Es wird vom katarischen Ministerium für religiöse Stiftungen betrieben und liegt in fünf Sprachen vor.32 Bei der dritten, Islamfatwa.de, handelt sich um eine von Deutschland aus betriebene Fatwa-Datenbank, die als die erste deutschsprachige Seite auftritt, die religiöse Auskünfte (fatāwā, Sg. fatwā) zu unterschiedlichen Fragen des Lebens bietet. Die dort vom Arabischen ins Deutsche übersetzten Fatwas sind fast ausschließlich den eben erwähnten Webportalen entnommen oder stammen von Gelehrten salafistischer Orientierung.33 Ein Großteil der Inhalte dieser Webseiten wiederholt sich auf vielen anderen Plattformen. Der Praktikabilität halber werden im Rahmen dieser Studie hauptsächlich drei weitere Internetportale untersucht: Basseera.de, Im Auftrag des Islam und Realität Islam. Sie weisen nicht nur zahlreiche inhaltliche Übereinstimmungen mit den Inhalten der eben erwähnten Internetseiten auf, sondern auch eine große Besucherzahl.34 Mit Fokus auf den ersten dreien werden die Inhalte dieser Webseiten auf ihren Radikalisierungsgehalt hin untersucht, d.h., es soll der Frage nachgegangen werden, ob die virtuelle Welt des Salafismus in der Tat eine Quelle für islamistische Radikalisierung darstellt, wie es in vielen Studien sowie von deutschen Sicherheitsbehörden behauptet wird. Dieses grundlegende Erkenntnisinteresse steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den folgenden Fragestellungen: Wie präsentieren sich Salafisten im Netz? Welche Schwerpunkte setzen sie dort? Wer fungiert dort als religiöse Autorität und welches Gedankengut wird dort propagiert? Wie stehen jene Autoritäten zu Fragen wie etwa Demokratie, Rechtsstellung der Frau, dem Pluralismus, dem religiös Anderen und der Anwendung von Gewalt? Welche Agenda und welche Ziele werden dabei verfolgt? Sind diese Internetseiten miteinander vernetzt, und wenden sie ähnliche oder gar die gleichen Methoden und Strategien an, um ihre Ziele zu erreichen?35
31 32 33 34 35
Vgl. Islamqa.info/ge (abg. am 23.05.2019). Siehe für Näheres dazu Kap. IV, Abschn. 1. Vgl. www.islamweb.net/grn/ (abg. am 08.06.2018). Weiterführend dazu IV, Abschn. 2. Vgl. https://islamfatwa.de/ (abg. am 08.06.2018). Ausführlich dazu IV, Abschn. 3. Siehe für mehr dazu Kap. IV. Die Forschungsfrage der vorliegenden Studie stützt sich teilweise auf einen bereits publizierten Aufsatz des Autors. Vgl. El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 113-146.
I. Einleitung
Freilich ist die Menge salafistischer Inhalte im Internet längst unüberschaubar, wenngleich der Großteil der Angebote nur in Arabisch oder oftmals auch in Englisch gehalten ist. Vor dem Hintergrund, dass die hier ausgewählten Internetportale in mehreren Sprachen, zumindest aber auch in deutscher Sprache, verfügbar sind und viele ihrer Inhalte von vielen anderen Internetseiten sowie salafistischen Predigern Deutschlands übernommen werden,36 kann angenommen werden, dass ihre Inhalte weitreichende Popularität finden. Sie zählen zwar zu den größten, meistbesuchten Internetportalen, die Informationen zum Thema Islam bieten, aber bislang fanden sie keine breitere öffentliche Aufmerksamkeit, weder seitens der Medien noch seitens der Sicherheitsbehörden oder zivilgesellschaftlicher Präventionsträger. Zur Frage, ob und inwieweit sie rezipiert werden, gibt Alexa Traffic Rank, ein Online-Dienst zur Auswertung der Besucherzahlen von Domains, bspw. folgende Zahlen: Die Website Islamweb.net 37 legt im globalen Ranking auf Position 2.835, während Islam Q&A auf Position 5.005 steht.38 Dass das Fatwa-Portal Islamfatwa.de auf Position 517.130 steht,39 kann darauf zurückgeführt werden, dass es zum einen erst später online ging und zum anderen ausschließlich in deutscher Sprache gehalten ist. Die Frage, inwieweit die Ideen dieser Portale bei Muslimen oder Nichtmuslimen und von genau welcher Altersgruppe anerkannt und befolgt werden, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden.40
4.
Vorgehensweise
Die vorliegende Studie besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil: Im ersteren wird zunächst der Begriff Salafismus definiert und von anderen religiösen bzw. politischen Phänomenen abgegrenzt, mit denen er oft synonym verwendet wird bzw. zu denen er eine ideologische Nähe aufweist, wie etwa Islamismus, Extremismus und Fundamentalismus. Darauf folgt ein Kapitel zu den Hauptmerkmalen und Leitlinien des salafistischen Denkens. Dabei wird dessen Verständnis u.a. der islamischen Quellentexte, der Scharia und der daʿwa dargestellt. Dies soll dazu dienen, die theoretische Grundlage zu verstehen, auf der Gelehrte bzw. Prediger des Salafismus ihre im Verlauf der Arbeit darzustellenden Positionen und Argumentationsweisen aufbauen. Anschließend werden die oben genannten Webportale vorgestellt, wobei sich dieses Kapitel auf eine formale Darstellung beschränkt. Es thematisiert also ihre Gestaltung, Schwerpunkte, Ziele sowie 36 37 38 39 40
Vgl. z.B. http://salaf.de/; www.basseera.de/; https://erbederpropheten.de/; https://al-madinah.de/ (abg. am 04.06.2018). Vgl. https://www.alexa.com/siteinfo/islamweb.net (abg. am 29.05.2018). Vgl. https://www.alexa.com/siteinfo/islamqa.info (abg. am 29.05.2018). Vgl. https://www.alexa.com/siteinfo/islamfatwa.de (abg. am 23.05.2018). Siehe auch El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 126f.
21
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Radikalisierung im Cyberspace
die religiösen Autoritäten, die dort als Referenzen auftreten. Da populäre Prediger des Salafismus in Deutschland, wie z.B. Hassan Dabbagh, Pierre Vogel und Abul Baraa, die auf diesen Plattformen propagierten Inhalte übernehmen und in vielen ihrer YouTube-Auftritte weiter verbreiten, wird anhand dieser beispielhaften Vertreter der YouTube-Kanal als Medium zur Verbreitung salafistischer Propaganda vorgestellt.41 Der praktische Teil beschäftigt sich mit dem Inhalt und dem Argumentationsstil der oben erwähnten Webseiten. Gemäß dem Fokus der vorliegenden Studie – der Frage, ob jene Inhalte radikalisierungsfördernd sind – werden vier Themenschwerpunkte untersucht: Haltung der Online-Salafisten zur Politik, zum Umgang mit Andersdenkenden, zur Stellung der Frau und zur Anwendung politischer Gewalt. Bevor ich diese Fragen thematisiere, werde ich die Bedeutung und die Ebenen von Radikalisierung erörtern, denn diese stellen die Kriterien dar, nach denen die Bewertung der zu untersuchenden Inhalte erfolgt. Auf Grundlage der vorzunehmenden Analyse soll zum einen die der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegende Fragestellung beantwortet und zum anderen die vor allem im Kreise deutscher Sicherheitsbehörden verbreitete These, die virtuelle Welt des Salafismus trage entscheidend zur islamistischen Radikalisierung bei, geprüft werden. Dabei erfolgt der Versuch einer ideologischen Einordnung dieser Internetportale in die salafistische bzw. islamistische Szene. Um einen umfassenden Überblick über das Thema islam(ist)ische Online-Angebote zu bekommen und die der vorliegenden Studie zugrundeliegenden Internetportale besser einordnen zu können, werden auch die Ansichten anderer muslimischer Gelehrter und Intellektueller herangezogen. Auf diesem Wege werden zum einen eventuell vorhandene Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen salafistischem, islamistischem und liberalem Denken eruiert. Zum anderen soll die innerislamische Vielfalt gezeigt und somit ein differenziertes, realistischeres Bild des Islam vermittelt werden. Für diesen Zweck werden vor allem die Theorien zweier Autoren berücksichtigt, die in der virtuellen Welt ebenfalls stark vertreten sind:42 Zum einen der dem Islamismus zuzurechnende Yūsuf al-Qaradawi (geb. 1926), der als Hauptvertreter der Position der Mitte (wasaṭiyya)43 gilt und aufgrund der Nutzung unterschiedlicher Massenmedien über große Popularität sowie ein nicht zu 41 42 43
Näheres dazu in Kap. IV. Vgl. https://www.al-qaradawi.net/; Shahrur: Arshīf al-asʾila, in: www.shahrour.org (abg. am 23.05.2018). Weiterführend dazu El-Wereny: Fatwas und Muftis, S. 60f. Das arabische Wort wasaṭ bedeutet u.a. »zentral« und »die Mitte haltend«. al-Qaradawi gilt als »der spirituelle Vater« und wird als derjenige angesehen, der den Begriff popularisiert und maßgeblich geprägt hat. Aus seiner Sicht ist wasaṭiyya eine Mittelposition zwischen zwei Richtungen, nämlich der zu extremen und der zu liberalen. Vgl. ausführlich dazu El-Wereny: Tajdīd ad-dīn, S. 20-35; Gräf: Medien-Fatwas, S. 134-157; dies.: The Concept of wasaṭiyya, S. 213239; Sagi: The Centrist Stream in Egypt, S. 39-64.
I. Einleitung
unterschätzendes Maß an Autorität unter Muslimen weltweit verfügt,44 und zum anderen der Reformdenker Muhammad Shahrur (geb. 1938), der sich einer zeitgemäßen Interpretation der islamischen Quellentexte verschrieben hat und mit seinen kontrovers diskutierten Thesen großes Aufsehen erregte, dabei aber auch heftige Kritik seitens vieler muslimischer Gelehrter hinnehmen musste.45 Die Theorien anderer namhafter Autoren wie etwa Hasan Hanafi (geb. 1935),46 Gründervater und Leitfigur der Islamischen Linken (al-yasār al-islāmī), und der aus Ägypten stammende Koran- und Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) sollen ebenfalls Beachtung finden.47
44 45 46
47
Siehe dazu statt vieler El-Wereny: Mit Tradition in die Moderne?, S. 40ff; Gräf: MedienFatwas, v.a. S. 177ff. Für einen Überblick über seine Person und sein Denken siehe statt vieler Mudhoon: Muhammad Schahrūr, S. 136-146. Vgl. weiterführend zu seinem Werdegang sowie seinem Werk v.a. Hendrich: Islam und Aufklärung, S. 267f.; Hildebrandt: Neo-Muʿtazilismus, S. 293f.; Riexinger: Nasserism revitalized, S. 63-118. Siehe zu seiner Person und Weltanschauung u.a. Abu Zaid: Ein Leben mit dem Islam; Hildebrandt: Nasr Hamid Abu Zaid, S. 127-135.
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II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Die Begriffe Salafiyya, Salafismus und Islamismus finden seit einigen Jahren sowohl im medialen und politischen als auch wissenschaftlichen Diskurs zunehmend Verbreitung. Dabei werden sie häufig synonym verwendet, mit anderen Phänomenen wie Fundamentalismus und Extremismus in Verbindung gebracht und im Bewusstsein von Teilen der westlichen Gesellschaft nicht selten mit einer gewalttätigen antiwestlichen Gesinnung gleichgesetzt. So werden Salafisten bspw. nicht nur als Islamisten, sondern auch als Fundamentalisten und Extremisten wahrgenommen. Bezeichnet man im deutschsprachigen Raum ein Religionsverständnis als fundamentalistisch, islamistisch oder extremistisch, so will man zum Ausdruck bringen, dass etwas damit nicht stimme. Auf diesem Wege kommt es zu einem spezifischen, nicht immer ganz zutreffenden Verständnis dieser islamischen Bewegungen, die dann als Bedrohung für eine pluralistische, multireligiöse Gesellschaft eingeschätzt werden. Dies wird oft aufgrund mangelnder Differenzierung mithin auf den Islam sowie die Muslime im Allgemeinen übertragen. Dabei bezeichnen die anfangs genannten Begriffe komplexe Phänomene, die ganz unterschiedliche Ideologien, Strukturen und Erscheinungsformen aufweisen; die Übergänge zwischen den einzelnen Konzepten sind fließend. Zwar teilen radikale und gemäßigte Vertreter dieser Gruppen viele ideologische Grundannahmen, unterscheiden sich zugleich jedoch im Hinblick auf ihre Einstellungen etwa zu Frauen, Demokratie und Menschenrechten sowie in der Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele darstelle. Bevor wir uns also der Ideologie und der Internetpräsenz des Salafismus zuwenden, sollen im Folgenden diese Grundbegriffe erst einmal dargelegt werden. Es soll dabei eruiert werden, inwieweit sich »Salafiyya« vom »Salafismus« und »Salafismus« vom »Islamismus« unterscheidet und ob eine Übertragung der im europäischen Kontext weitverbreiteten Begriffe Fundamentalismus bzw. Extremismus auf diese oder andere islamistische Bewegungen zutreffend und zweckdienlich ist.
26
Radikalisierung im Cyberspace
1.
Salafiyya
Die Bezeichnung Salafiyya ist ein arabischer Ausdruck, der auf den Wortstamm salaf zurückgeht. Salaf, soviel wie »Altvordere« oder »Vorfahren«, bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die sog. »rechtschaffenen Altvorderen« (as-salaf aṣ-ṣāliḥ) der ersten drei Generationen islamischer Zeitrechnung, die in etwa in der Zeit zwischen dem sechsten und dem neunten Jahrhundert n. Chr. anzusiedeln sind.1 Da jene Altvorderen entweder in unmittelbarem Kontakt zum Propheten Muhammad (gest. 632) standen, dessen »Gefährten« (ṣaḥāba), deren Nachfolger (tābiʿūn) oder Nachfolger der Nachfolger (tābiʿū t-tābiʿīn) waren, wird ihr Handeln und Islamverständnis von vielen Muslimen als Ideal islamischer Rechtschaffenheit und Frömmigkeit und somit als zentrale Referenz für Fragen des Lebens angesehen.2 Die Begegnung mit der Moderne im Zuge der westlichen Kolonialisierung weiter Teile der muslimischen Welt stellt den entscheidenden Wendepunkt in der Entstehung zahlreicher islamischer Reformbewegungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dar, und zwar in nahezu allen islamischen Gebieten. Trotz der unterschiedlichen Entstehungshintergründe und der mannigfaltigen und zum Teil gegensätzlichen Strategien dieser Bewegungen hatten sie ein gemeinsames Anliegen: dem politischen, kulturellen und moralischen Niedergang zu begegnen, den Islam gegen die Übermacht westlicher Zivilisation zu behaupten und mit dem technologischen und politischen Fortschritt sowie weiteren Errungenschaften des Westens in Einklang zu bringen. Reformdenker wie Jamāl ad-Dīn al-Afghānī (gest. 1897), Muhammad ʿAbduh (gest. 1905) und Muhammad Rashīd Riḍā (gest. 1935) nahmen an, dass sich die islamische Welt in einer Krise befinde: Auf der einen Seite moderne »christliche« Gesellschaften, geprägt von kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem und politischem Fortschritt, auf der anderen Seite islamische Gesellschaften, geprägt von soziopolitischer und wirtschaftlicher Erstarrung und Rückständigkeit. Dieser Zustand und die wegen der Niederlagen gegen die europäischen Kolonialmächte empfundene Demütigung wurden als Widerspruch zur koranischen Offenbarung interpretiert, der zufolge der Islam die abschließende, vollkommene und damit allen anderen Weltanschauungen überlegene Religion sei. Ihrem Verständnis zufolge hatten die Muslime in der Frühzeit des Islam eine blühende Zivilisation aufgebaut, da sie nicht an dem äußerlichen Wortlaut der Offenbarungstexte (Koran und Sunna) verharrten, sondern sie vielmehr flexibel,
1
2
Nach Nedza besteht kein Konsens darüber, welche Zeitspanne genau diese drei Generationen umfasst. Vgl. dazu Nedza: Salafismus, S. 80-106, hier S. 97f. Folgende Ausführungen zu Salafiyya, Salafismus und Islamismus stützen sich teilweise auf eine Veröffentlichung des Autors. Vgl. El-Wereny: Salafiyya, Salafismus, S. 32-40. Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 77f.; Kozalı: Zur Bedeutung von salaf, S. 37-47, hier v.a. S. 37ff.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
d.h. zeit- und ortsgemäß interpretierten und der Vernunft bei der Interpretation einen wichtigen Stellenwert zuschrieben, also – in arabisch-islamischer Terminologie – einen unabhängigen ijtihād praktizierten. Dementsprechend machten jene Reformdenker nicht den Islam selbst für die vermeintliche Rückständigkeit islamischer Gesellschaften verantwortlich. Vielmehr führten sie dies auf das vorherrschende tradierte Verständnis des Islam und das daraus resultierende verkrustete Normensystem zurück.3 Sie kritisierten eine akritische Orientierung am überholten Islamverständnis früherer Autoritäten, lehnten die blinde Übernahme herkömmlicher Interpretationen der Quellentexte (taqlīd)4 ab und wandten sich stattdessen der »selbständigen Normenfindung« (ijtihād) aus den normativen Texten zu. Durch rationale Neubetrachtung des Korans und der Sunna und unter Rückgriff auf die frühislamische Praxis der salaf im Umgang mit dem Text sowie mit Hilfe der so neu gewonnenen Prinzipien strebten sie eine freiere, der Zeit angepasste Auslegung der Quellentexte an, um den Islam mit der Moderne in Einklang zu bringen. Dabei waren sie insbesondere darum bemüht, die überkommene Grenze zwischen statischen und wandelbaren Elementen bzw. Normen der Scharia neu zu definieren, insbesondere was Fragen der Politik, Bildung und Geschlechterrollen sowie den Umgang mit Andersdenkenden angeht. Ihre angestrebte Versöhnung von Islam und Moderne sollte also mit einer Rückbesinnung auf den Koran und die Prophetentradition (unter Bezugnahme auf das Islamverständnis der Altvorderen) sowie mit der inneren Erneuerung der Gläubigen einhergehen. Ihre Anknüpfung an die ersten Generationen des Islam brachte ihnen die Bezeichnung Salafiyya ein.5 Der Begriff Salafiyya bezeichnet demnach eine reformistische Strömung innerhalb des Islam, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Boden gewann und sich vor allem zur Aufgabe machte, dem aus der Kolonialisierung resultierenden Bedeutungsverlust des Islam entgegenzutreten. Ihre Reformansätze waren und sind bis heute für viele muslimisch geprägte Gelehrte und Intellektuelle anregend und befruchtend. Neben den Vertretern der Salafiyya sind im 20. Jahrhundert viele weitere islamische Reformdenker in Erscheinung getreten. In Indien, Bangladesch, Pakistan und Afghanistan sowie im Nahen und Mittleren Osten stell(t)en sich heterogene Gruppen von Denkern, Predigern und Aktivisten den Herausforderungen der Moderne und streb(t)en dabei an, den Islam von Stagnation und bloßer Nachahmung des Tradierten zu befreien und mit der Moderne in Einklang zu bringen. Zugleich 3 4 5
Siehe ausführlich dazu Kedourie: Afghani and ʿAbduh; Hourani: Arabic Thought; Conermann: Reformislam, S. 271-273. Ausführlich zum taqlīd-Phänomen statt vieler Krawietz: Hierarchie, S. 395-398; Salama: Iğtihād versus taqlīd, S. 148-161. Vgl. Conermann: Reformislam, S. 271-273. Ijtihād ist ein Mittel zur Gewinnung von Normen aus den Rechtsquellen Koran und Sunna. Ausführlich dazu siehe statt vieler El-Wereny: Mit Tradition in die Moderne?, S. 86-97; ders.: Normenlehre, S. 26-29.
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Radikalisierung im Cyberspace
gingen viele von ihnen daran, den universellen Geltungsanspruch islamischer Ideen und Ideale in der modernen Gesellschaft auf unterschiedliche Art und Weise zu begründen.6 Sie lassen sich im Großen und Ganzen in zwei Denkschulen einteilen: eine liberal-reformistische, vertreten von zeitgenössischen Intellektuellen wie etwa Shahrur und Hanafi, und eine traditionalistische bzw. fundamentalistische, vertreten etwa von Figuren des im Folgenden darzustellenden Salafismus und Islamismus.7 Ob und inwieweit jene Massenbewegungen vom Denkmuster der Salafiyya des 19. Jahrhunderts inspiriert bzw. beeinflusst wurden, wäre für jede Gruppe gesondert zu beantworten.8 Trotz gegensätzlicher Positionen in vielerlei Hinsicht stellt Haykel folgende Aspekte als ideologische Gemeinsamkeiten zwischen den islamistischen Bewegungen dar: Im Mittelpunkt ihrer Beschäftigung steht die Frage, weshalb sich Muslime im Vergleich zum Westen in einer Krise befänden und rückständig geblieben seien. Das Abweichen vom »ursprünglichen, reinen« Islam sei für diese Misere verantwortlich, so die Antwort. Daher wird die Rückkehr zu der für authentisch gehaltenen Lehre der ersten drei Generationen von Muslimen als Bedingung für die Beseitigung dieses Missstandes angesehen. Dadurch würden die Muslime auf den rechten Weg zurückgebracht und die muslimische Gemeinschaft nähme wieder die ihr zugedachte führende Rolle in der Weltgeschichte ein. Dabei wird insbesondere dem Koran, der Sunna und den hinterlassenen Lehrmeinungen der Prophetengefährten als autoritativen rechtleitenden Quellen für alle Zeiten und an allen Orten eine zentrale Rolle zugesprochen. Zudem wird der Einheitsgedanke bzw. der sog. Panislamismus mit seinen verschiedenen religiösen und politischen Implikationen mit Nachdruck vertreten. Die Zersplitterung der islamischen Welt in verschiedene Königreiche, Republiken, Sultanate usw. wird als einer der entscheidenden Gründe für den angenommenen Niedergang muslimischer Gesellschaften aufgefasst und daher zur Wiedererrichtung einer »islamischen Einheit« (waḥda islamiyya) aufgerufen.9
6 7 8
9
Vgl. ausführlich dazu z.B. Krämer: Geschichte des Islam, S. 245ff., Soage: Introduction, S. 887896; Ayoob: The Many Faces, S. 23ff. und 64ff. Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 46ff. Weiterführend dazu Abschn. 3 in diesem Kap. sowie Kap. III. Die Muslimbruderschaft wird bspw. aufgrund ihrer konzeptionellen Nähe zu al-Afghānī, ʿAbduh und Riḍā zu den Gruppen der Salafiyya gezählt. Schulze bezeichnet sie in diesem Zusammenhang als neo-salafiyya. Siehe für mehr dazu Schulze: Geschichte der islamischen Welt, S. 126. Siehe weiterführend dazu Haykel: Salafī Groups, S. 26-28.; Heine: Islamismus, S. 5-20, hier S. 10ff.; Kogelmann: Islamismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: www.bpb.de (abg. am 10.06.2017).
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
2.
Salafismus
Der Terminus Salafismus geht auf das arabische Wort Salafiyya zurück. Er wird seit einigen Jahren immer häufiger in den Medien, öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Forschungsarbeiten verwendet, insbesondere im Kontext der islamistischen Radikalisierung. Eine saubere Trennung zwischen Salafismus und Salafiyya wird dabei nicht immer vorgenommen. Beim Salafismus handelt es sich um eine heterogene und mittlerweile globale Strömung innerhalb des sunnitischen Islam, die sich weitgehend für einen literalistischen und skripturalistischen Ansatz zum Verständnis der Schriftquellen des Islam einsetzt und in der Folge ein traditionalistisches und erzkonservatives Islamverständnis vertritt. Er stellt ein Phänomen dar, das aufgrund seiner im Laufe der Arbeit noch vorzustellenden, radikalen Positionen spezifische Herausforderungen für Demokratie und freie Gesellschaften mit sich bringt. Verglichen mit der Salafiyya, weist der Salafismus andere Kategorien und ideologische Merkmale auf, zugleich aber auch Gemeinsamkeiten. Für die Begriffsbildung erschwerend kommt hinzu, dass viele Strömungen sich selbst als Salafiyya bezeichnen, wenngleich sie eher dem salafistischen Spektrum zuzuordnen sind. Zur klaren Differenzierung zwischen der oben dargestellten modernen Salafiyya als Reaktion auf westlichen Kolonialismus und der zeitgenössischen erzkonservativen Salafiyya wird für letztere im Rahmen der vorliegenden Studie der Begriff »Salafismus« verwendet. Dieser hat sich in der Wissenschaft mittlerweile etabliert, wobei darüber, insbesondere in der deutschsprachigen Literatur, kein einhelliger Konsens besteht. Terminologien, wie etwa Neo-Salafismus oder auch Salafiten, waren indes nur von kurzer Dauer und konnten sich nicht durchsetzen.10 Nedza plädiert in ihren Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie für die Verwendung dieses Begriffs als Idealtypus, wie er im englischsprachigen Raum als »Salafism« verwendet wird, und begründet ihre Position wie folgt: »Der Vorteil eines Idealtypus ist, dass er eine Reinform von »Salafismus« schafft, eine Idealform, in der seine wesentlichen Merkmale festgelegt werden. An dieser Messlatte kann dann gemessen werden, wer – unabhängig von der Selbstbezeichnung – ein Vertreter des »Salafismus« ist und wer nicht.«11 Wenngleich es in der Geschichte des Islam immer wieder Persönlichkeiten und Bewegungen gab, die den gegenwärtigen Salafismus mit prägen bzw. geprägt haben und gewisse Gemeinsamkeiten in ihrem Islamverständnis aufweisen,12 ist er laut Steinberg maßgeblich von der Wahhabiyya-Bewegung beeinflusst worden. 10 11 12
Für Näheres dazu siehe Said/Hazim: Einleitung, S. 29f. Siehe ausführlich dazu Nedza: Salafismus, S. 85f.; Wiktorowicz: Anatomy, S. 207. Zu nennen sind hier neben Aḥmad Ibn Ḥanbal (gest. 855) insbesondere die Gelehrten Ibn Ḥazm (gest. 1064) und Ibn Taimiyya (gest. 1328). Das Gedankengut der Salafiyya wird in drei Epochen aufgeteilt: die Gründungsphase, zu der Aḥmad b. Ḥanbal gehört, die Phase der Systematisierung, mit ihrem exemplarischen Vertreter Ibn Taymiyya, und die Phase der
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Radikalisierung im Cyberspace
Die im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel entstandene Wahhabiyya, die auf das Wirken des saudischen Predigers Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792) zurückgeht, stellt eine puristisch-traditionalistische Richtung des sunnitischen Islam dar. Im Fokus ihrer Lehre stand vor allem die Einheit Gottes (tauḥīd/entschiedener Monotheismus) und die strenge Befolgung islamischer Rechtsvorschriften. Auch der Dualismus zwischen Gläubigen und Ungläubigen ist ein charakteristisches Merkmal des Wahhabismus. Ibn ʿAbd al-Wahhāb forderte die Reinigung des Islam von allen »unislamischen Neuerungen« (bidʿa) und erachtete den zu seinerzeit weit verbreiteten Gräberkult, die Heiligenverehrung sowie die Feier des Prophetengeburtstags als »Vielgötterei« bzw. »Beigesellung anderer (falscher) Götter zu dem einen wahren Gott« (shirk) – das Gegenteil von tauḥīd. Glaubensauffassungen innerhalb des Islam, die mit den Lehren der Wahhabiyya nicht übereinstimmen, werden von deren Anhängern als unislamisch deklariert. So lehnen die Wahhabiten bspw. den Sufismus sowie viele der schiitischen Glaubenslehrsätze ab. Die Wahhabiyya ist nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch in vielen anderen Ländern wie etwa Katar, Indien, Pakistan und Westafrika stark vertreten.13 Theologisch richten sich Anhänger der Wahhabiyya in erster Linie, ähnlich wie die Salafiyya, nach den Lehren des Korans, der Sunna und der Lebensweise der sog. frommen Altvorderen. Sie lehnen die blinde Übernahme tradierter Lehrmeinungen früherer Gelehrter ab und wenden sich direkt den Quellentexten zu, um auf dem Wege der selbstständigen Normenfindung ihre Überzeugungen allein auf der Grundlage der autoritativen Texte zu begründen. Generell vertreten sie die Position, dass Anweisungen für religiöse Handlungen direkt aus dem Koran oder der Sunna entnommen werden müssten und nicht aus tradierten Auslegungen früherer Rechtsgelehrter. Dabei wird dennoch, im Gegensatz zur Salafiyya, ein buchstabengetreues Abbild der idealisierten Frühzeit vertreten und unerbittlich versucht, die vermeintlich aus dem Wortlaut der Quellentexte folgenden Gebote in die Tat umzusetzen. Nichtsdestotrotz bezogen bzw. beziehen sich die WahhabiyyaAnhänger in vielen theologischen sowie auch rechtlichen Fragen auf den Namensgeber der ḥanbalitischen Rechtsschule Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855) und den ebenfalls ḥanbalitischen Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya (gest. 1328).14 Letzterer wird als Stammvater des Salafismus angesehen, da er zu den ersten wenigen bekannten
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sog. Neo-salafiyya im 19. Jh., die durch westliche Einflüsse entstand. Für Näheres dazu siehe Shahin: Salafiyah, S. 28-35; Kozalı: Zur Bedeutung von salaf, S. 41. Vgl. Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 5, ders.: Saudi-Arabien: Der Salafismus in seinem Mutterland, S. 265-297; ders: Religion und Staat in Saudi-Arabien; Hashmi: Muhammad Ibn ʿAbd al-Wahhab, S. 6. Vgl. Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 5f.; Polanz: Wahhabismus und Salafismus, S. 5-26, hier S. 6.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Gelehrten gezählt wird, die die frühislamische Zeit und die salaf glorifiziert haben.15 Ibn ʿAbd al-Wahhāb gelang es mit seiner Missionsarbeit, weite Teile SaudiArabiens für seine Bewegung zu gewinnen; zum einen entsprach der Puritanismus der wahhabitischen Lehre der bescheidenen Lebensführung der einfachen Menschen in der kargen Landschaft Zentralarabiens; zum anderen konnte er den Emir Muhammad b. Saʿūd (gest. 1765) sowie dessen Sohn ʿAbd al-ʿAzīz (gest. 1803) von den wahhabitischen Lehren überzeugen. Im Zuge der Anbindung an den mächtigen arabischen Stamm der Banū Saʿūd 1746 wurde die Wahhabiyya zur vorherrschenden religiösen Richtung auf der Arabischen Halbinsel. Diese Entwicklung wurde durch die Expansionspolitik der Banū Saʿūd begünstigt, die das Ziel verfolgten, die Stämme Arabiens auf der Grundlage des wahhabitischen Glaubens gewaltsam, d.h., auf dem Wege des Heiligen Krieges (jihād) unter ihre Herrschaft zu bringen. Alle Personen, die ihre Machtansprüche und Glaubensvorstellungen nicht akzeptierten, wurden im Namen der Religion bekämpft. Ihr Kampf gegen andersdenkende Muslime, insbesondere ortsansässige Schiiten (arab. shīʿa), wurde durch Ibn ʿAbd al-Wahhābs takfīr-Theologie gestützt. Er warf den Schiiten bspw. vor, shirk und verbotene bidʿa zu praktizieren und lokalen Traditionen aus der vorislamischen Zeit der jāhiliyya (»Zeit der Unwissenheit«) zu folgen.16 Nach der Eroberung aller umliegenden Fürstentümer etablierten die Banū Saʿūd im Jahre 1773 die erste wahhabitische Ordnung auf der Halbinsel. In den Jahren 1805 und 1806 fielen schließlich auch Mekka und Medina an sie. Unter ʿAbd al-Azīz b. Saʿūd erfolgte der endgültige Siegeszug der Wahhabiyya und der Saudis auf der Arabischen Halbinsel. Erst 1932 kam es nach weiteren Eroberungen umliegender Gebiete zur offiziellen Gründung des heutigen Königreiches Saudi-Arabien. Seither gilt neben dem Koran und der Sunna als »Verfassung« die Wahhabiyya-Lehre; sie ist nicht nur Staatsdoktrin, sondern ihre Verbreitung in alle Teile der Welt wird darüber hinaus durch den saudischen Staat massiv gefördert.17 Das wahhabitische Islamverständnis wurde von zeitgenössischen salafistischen Gelehrten und Autoritäten Saudi-Arabiens in unterschiedlicher Ausprägung übernommen. Zahlreiche Gelehrte wie z.B. der ehemalige saudi-arabische Großmufti Ibn Baz (gest. 1999) und der nicht minder prominente al-ʿUthaimīn (gest. 2001) orientierten sich an den Lehren der Wahhabiyya. Im Einklang damit wird die Wahhabiyya-Bewegung von einigen Autoren als »die wohl größte Antriebsfeder für den gegenwärtigen Salafismus« erachtet.18 Während die Anhänger des Ibn ʿAbd 15 16 17 18
Vgl. Berger: Islamische Theologie, S. 109; Krawietz: Ibn Taymiyya, S. 67-87. Siehe weiterführend dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 70ff.; Rentz: The Birth of the Islamic Reform Movement, passim; Abou El Fadl: The Great Theft, S. 51-53. Vgl. Lewi: Marriage of Saudi Power and Wahhabi Teaching, S. 103-116; Conermann: Wahhabiten, S. 339-340. Vgl. Said/Hazim: Einleitung, S. 30.
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Radikalisierung im Cyberspace
al-Wahhāb ihre Benennung als Wahhabiten als abwertende Fremdbezeichnung wahrnehmen und sich selbst ahl at-tauḥīd (»Leute, die sich zur Einheit Gottes bekennen«) bzw. al-muwaḥḥidūn (auch in etwa »Bekenner der Einheit Gottes«) oder einfach ahl as-sunna (»Sunniten«) nennen, werden heutige Salafisten als Salafiyya, ahl al-ḥadith (»Leute der Prophetenüberlieferung«), ahl al-athar (»Leute, die sich auf die überlieferten Berichte aus der Frühzeit des Islam berufen«) bezeichnet oder auch schlicht Muslime genannt. Dies variiert von Land zu Land.19 Ceylan merkt in diesem Zusammenhang an, dass es unterschiedliche Meinungen im Hinblick auf die Akzeptanz bzw. Ablehnung des Begriffs Salafi als Selbstbezeichnung gibt. Während einige daran festhalten, sich schlicht als Muslime titulieren zu lassen, akzeptieren es andere, Salafi genannt zu werden.20 Oft betrachten sich Salafisten selbst als die ahl as-sunna wa-l-jamāʿa, wobei sie unter al-jamāʿa die Gemeinschaft der Prophetengefährten sowie all derjenigen, die in ihre Fußstapfen treten, verstehen. Diese seien die errettete Gruppe, wie es in einer Überlieferung des Propheten tradiert worden sei.21 Trotz ihrer unterschiedlichen Bezeichnungen und Selbstbezeichnungen zielen salafistische Gruppierungen allesamt auf die Errichtung bzw. Wiedererrichtung eines auf der Scharia basierenden Gesellschafts- und Ordnungssystems ab, das sich in Lebens- und Religionspraxis streng an den Gebräuchen und Traditionen der ersten drei Generationen der Muslime orientiert. Da zeitliche Veränderungen und moderne Entwicklungen außer Acht gelassen werden, werden im Rahmen dieses angestrebten Gottesstaates zentrale Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung außer Kraft gesetzt, wie bspw. die Souveränität des Volkes oder die Achtung der Menschenrechte.22 Über die Frage, mit welchen Mitteln sie ihr Ziel durchsetzen wollen, sind sie indessen geteilter Meinung. Basierend auf der Analyse ihrer unterschiedlichen Methoden zur Erreichung dieses Zieles sowie der jeweiligen Ausformung ihrer Lehre wurden mehrere Versuche unternommen, den Salafismus und seine Spielarten zu klassifizieren.23 Die von Wiktorowicz entworfene dreiteilige Klassifizierung hat sich im akademischen Diskurs weitgehend etabliert. Er unterscheidet zwischen drei Typen von Salafisten, die je spezifische
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In Ägypten und im Sudan werden sie bspw. Anṣār as-sunna al-Muḥammadiyya genannt, auf dem Indischen Subkontinent ahl al-hadith. Diese Bezeichnungen sollten dazu dienen, sie von den Leuten der bidʿa abzugrenzen. Vgl. ebd., S. 29f.; Steinberg: Religion und Staat in SaudiArabien, S. 28. Vgl. für mehr dazu Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 79. Das Ständige Komitee: Bedeutung von »Salaf«, in: www.islamfatwa.de (abg. am 09.11.2018). Siehe mehr dazu in Kap. V. Siehe z.B. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S. 1ff.; Brachman: Global Jihadism, S. 22ff.; Armborst: A Profile of Religious Fundamentalism, S. 51-71; Sedgwick: Contextualizing Salafism, S. 75ff.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Herausforderungen für Politik und Gesellschaft mit sich bringen: puristische, politische und dschihadistische. Wenngleich diese Gruppen die gleiche theologische und ideologische Grundhaltung aufweisen, unterscheiden sie sich in der Vorgehensweise und Methodik, wie ein islamkonformes Leben bzw. eine solche Staatsund Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann. Dabei sind die Grenzen zwischen den einzelnen Handlungsstilen fließend und in keinem Fall als festgesetzt und statisch zu verstehen.24 Die Strategie der Puristen besteht darin, die Gesellschaft durch persönliche Frömmigkeit und individuelles frommes Handeln zu verändern, ohne sich politisch zu engagieren oder Gewalt anzuwenden. Gesellschaftliche Veränderung in ihrem Sinne stellen sie sich dabei eher als einen sukzessiven Prozess von unten nach oben vor. Wenn sich die Individuen, Familien und Gruppen ändern, werde sich automatisch ein islamisches Gemeinwesen etablieren. Daher sind Vertreter dieser Denkschule wie al-Albānī (gest. 1999), Ibn Baz und al-ʿUthaimīn bemüht, zunächst die Lehre des Islam von späteren (d.h. nach der Offenbarung an Muhammed erfolgten) und fremden Einflüssen zu befreien, jedes einzelne Individuum davon zu überzeugen, diese vermeintlich gereinigte Lehre anzuerkennen und somit zu einem gottgefälligen und islamkonformen Leben nach dem Vorbild der frommen Altvorderen zu bewegen. Um dieses langfristige Ziel zu erreichen, richten sie ihr Augenmerk insbesondere auf die Erziehung und die religiöse Bildung. Sie konzentrieren sich dementsprechend auf Themen persönlicher Pietät, auf die »Reinigung« des Glaubens und der Rituale von bidʿa und auf die daʿwa-Arbeit. Durch Missionstätigkeit wird versucht, Muslime von der salafistischen Interpretation des Islam zu überzeugen. Auch Nichtmuslime wollen sie mittels Missionierung für den Islam gewinnen, wenngleich sie im Allgemeinen eine distanzierte Haltung für den Umgang mit Andersdenkenden vertreten. Nur wenn es darum geht, sie für den Islam zu gewinnen, wird eine Kontaktaufnahme für statthaft erklärt.25 Saudi-Arabien wird in diesem Kontext als das Mutterland und seit 50 Jahren als der Hauptexporteur dieser salafistischen Strömung angesehen.26 24
25 26
Dazu schreibt er: »The different contextual readings have produced three major factions in the community: the purists, the politicos, and the Dschihadis. The purists emphasize a focus on nonviolent methods of propagation. purification. and education. They view politics as a diversion that encourages deviancy. Politicos, in contrast, emphasize the application of the Salafi creed to the political arena, which they view as particularly important because it dramatically impacts social justice and the right of God alone to legislate. Dschihadis take a more militant position and argue that the current context calls for violence and revolution. All three factions share a common creed but offer different explanations of the contemporary world and its concomitant problems and thus propose different solutions. The splits are about contextual analysis, not belief.« Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi, S. 208; ähnlich in Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82ff. Siehe ausführlich dazu Kap. V, Abschn. 2.2., v.a. 2.2.2. Vgl. Steinberg: Saudi-Arabien, S. 265-297; Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 58ff.
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Radikalisierung im Cyberspace
Bezugnehmend auf Repräsentanten des Salafismus in arabischen Ländern teilt Wagemakers die Puristen wiederum in drei Untergruppen ein: »Distanzierte«, die Distanz zur Politik wahren; »Loyalisten«, die eine aktive politische Teilnahme befürworten, dies aber nur, wenn es um die Unterstützung muslimischer Staatssysteme geht. Ihre Loyalität entstehe entweder aus dem ernsten Glauben, das Richtige zu tun, oder auch einfach aus Angst vor dem Regime. Die dritte Tendenz, die sog. »Propagandisten«, ginge noch einen Schritt weiter in die zuvor beschriebene Richtung. Sie propagiere nicht nur die Loyalität zu einem bestimmten Regime, sondern betrachte die Unterstützung des Herrschers beinahe als Bestandteil des Glaubens.27 Demzufolge sind die Übergänge, vor allem zum politischen Spektrum, fließend. Der puristische Salafismus wird zwar oft als apolitisch klassifiziert, dies trifft allerdings nicht immer zu. Denn die Agenda und die daʿwa von Puristen weisen meist eine politische Komponente auf, wie im Laufe der vorliegenden Studie noch näher gezeigt werden wird.28 Wie Tugal in ihrer Studie überzeugend darlegt, nehmen Puristen die Politik und den Staat ins Visier, wobei dies indirekt geschieht. Innerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften propagieren sie von ihnen als göttlich angesehene Normen, Werte und Moralvorstellungen. Ihrerseits wird versucht, die nach ihrem Verständnis gottgewollte Gesellschaft vorzuleben, wenngleich diese größtenteils inkompatibel mit den Werten, politischen Systemen und Verfassungen moderner Demokratien ist.29 Der politische Salafismus, vertreten durch Namen wie Safar al-Ḥawālī (geb. 1950) und Salmān al-ʿAwda (geb. 1956) von der saudischen Erweckungsbewegung (ṣaḥwa),30 die sich in den späten 1960er Jahren unter dem Einfluss immigrierter Muslimbrüder im saudischen Bildungssystem herausbildete, strebt ebenso wie der puristische die Wiedererrichtung eines islamkonformen Systems ohne Gewaltanwendung an, bringt sich aber im Unterschied zu den Puristen aktiv in die Politik ein. Diese Gruppe, die sich historisch in Opposition gegen muslimische Herrscher, etwa in Saudi-Arabien, formulierte, ist laut Farschid eine breite heterogene Sammelbewegung und der politischen Ideologie des Islamismus zuzuordnen, da sie ebenso wie die Islamisten eine politische Veränderung im Sinne eines schariakonformen Systems anstrebt. Anders als die Islamisten wollen die politisch agierenden
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Vgl. Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 58f.; ähnlich bei Lohlker: Die Salafisten, S. 114ff. Nach Mahmood stützt sich die Klassifizierung auf eine zu enge Definition von Politik. Siehe mehr dazu bei Mahmood: Politics of Piety, insb. S. 34-36. Siehe Tugal: Transforming everyday life, S. 423-458; ähnlich: Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 58f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 81. Zur saudi-arabischen Erweckungsbewegung (ṣaḥwa) siehe al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S. 59-101; Lacroix: Awakening Islam, v.a. S. 37ff.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Salafisten die von ihnen anvisierte Staatsordnung sehr stark an salafistischen Doktrinen und Auslegungen des Islam nach dem Vorbild der ersten drei Generationen ausrichten.31 Ihre Ziele verfolgen sie auf parlamentarischem oder auch außerparlamentarischem Wege. Durch Partizipation an Wahlen, Demonstrationen, Bildungsarbeit, medienwirksamen Auftritten und sozialen Initiativen bieten sie sich in islamisch geprägten Ländern als Interessensvertreter und »Verteidiger« der Muslime gegenüber säkularen Gesellschaften an und beeinflussen auf diese Weise das politische System. Die Errichtung eines islamischen Staatssystems soll demnach, im Gegensatz zum Verfahren der Puristen, von oben nach unten erfolgen. Das heißt, die Etablierung eines solchen Systems würde eine schariakonforme Lebensführung auf individueller sowie auch gesellschaftlicher Ebene garantieren. Ähnlich wie bei den Puristen sprechen Vertreter dieser Gruppe der daʿwa-Arbeit eine zentrale Bedeutung zu. Auf Basis der Missionierungsarbeit streben sie an, neue Anhänger zu gewinnen und Jugendliche den – ihrer Auffassung nach – verderblichen Einflüssen der westlichen Kultur zu entziehen.32 Hinsichtlich der Partizipation innerhalb eines politischen Systems sind Anhänger des politischen Salafismus gleichwohl uneinig und lassen sich dementsprechend in zwei Fraktionen aufteilen: Während die eine einer politischen Partizipation innerhalb eines säkularen demokratischen Systems (z.B. durch Volksentscheide oder Wahlen) ablehnend gegenübersteht und ausschließlich außerhalb dieser Ordnung politisch agiert, wird von der anderen Fraktion jedwede politische Partizipation als akzeptables Mittel zur Erreichung ihres Zieles angesehen, wie etwa im Falle der 2011 gegründeten salafistischen Partei »Al-Nour« in Ägypten. Sie nutzt auch säkulare Beteiligungsformen an politischen Prozessen, um ihre religiösen Ziele zu verwirklichen. In Deutschland sind beide Gruppen vertreten, wobei nach Ceylan anzunehmen ist, dass eher die erste Fraktion, die sog. Puristen, die meisten Anhänger hat.33 Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Typen befürwortet die dritte, zahlenmäßig kleinere Gruppe der sog. Dschihadisten, denen bspw. Abū Muhammad al-Maqdisī (geb. 1959) und Abū Qatāda al-Filisṭīnī (geb. 1960) zugerechnet werden, die Gewaltanwendung im Namen Gottes. Wenngleich der Begriff Dschihad unterschiedlich interpretiert werden kann (u.a. auch rein spirituell als Anstrengung im persönlichen Glauben),34 wird er von dschihadistischen Salafisten hauptsächlich als Aufforderung aller Gläubigen zum Heiligen Krieg und als militärischer Kampf für den Islam verstanden. Repräsentanten dieser Fraktion lehnen sowohl Missionsarbeit als auch politische Aktivitäten als Strategie zur Erreichung ihrer politischen 31 32 33 34
Vgl. weiterführend dazu Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 165. Zum Begriff Islamismus siehe den nächsten Abschnitt der vorliegenden Arbeit. Vgl. Said/Fouad: Einleitung, S. 41; Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 60ff.; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82-86; Amighar: Quietisten, Politiker und Revolutionäre, 392ff. Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86f. Für Näheres dazu Kap. V, Abschn. 2.4.
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Radikalisierung im Cyberspace
und religiösen Ziele ab und sehen in der Gewaltanwendung den einzigen Weg zu dem von ihnen angestrebten Staatswesen. Ihre Ideologie basiert in erster Linie auf der Vorstellung eines ewigen Kampfes zwischen dem Glauben an den einen Gott, tauḥīd, und sündhafter Götzendienerei, dem shirk. Solcherart militant orientierte Gelehrte betrachten den Kampf als sechste Säule des Islam35 und somit als Glaubenspflicht und Gottesdienst. Ein zentrales Instrument in der Konstruktion von Feinden und der Rechtfertigung des Kampfes gegen sie stellt das Konzept der »Exkommunizierung« (takfīr) derjenigen dar, die ihre Ideologie nicht teilen.36 In diesem Sinne erklären sie z.B. fast alle zeitgenössischen Regenten muslimischer Länder zu Abtrünnigen, weil sie u.a. nicht nach der Scharia regierten und richteten, wie es von Gott verfügt worden sei.37 In ihrer Ideologie unterscheiden jene Salafisten zwischen dem »fernen Feind«, worunter sie den Westen bzw. insbesondere die USA und Israel verstehen, und dem »nahen Feind«, der nach ihrer Auffassung in den Regimen der einzelnen Nationalstaaten der islamischen und arabischen Welt besteht.38 Da diese dreiteilige Klassifizierung auf einer Analyse der Lehren und Methoden salafistischer Bewegungen arabisch-islamischer Länder, vor allem Saudi-Arabiens und Jordaniens, beruht, kann sie, wie auch Wiedl anmerkt, nicht eins zu eins auf die Salafisten in Deutschland übertragen werden. Denn diese leben als religiöse Minderheit in einem demokratischen System und inmitten einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft. Sie würden ihre daʿwa-Methoden zur Verbreitung ihrer Lehre und die Mechanismen zur Umsetzung ihrer Ziele an die neuen Umstände anpassen.39 Aus diesem Grund teilt Wiedl die hierzulande lebenden Salafisten in vier Idealtypen ein, wobei angemerkt wird, dass diese Aufteilung je nach Zeit und Ort modifizierbar sei: die strikt quietistischen Salafisten wie Anhänger Rabīʿ al-Madkhalīs (gest. 1931) und Muqbil b. Hadī al-Wādiʿīs (gest. 20001), den Mainstream-Salafismus – dem Prediger wie Hassan Dabbagh, Pierre Vogel und viele andere zugerechnet werden –, radikale Salafisten, wie etwa das inzwischen (2016) verbotene Netzwerk »Die Wahre Religion« (DWR), und schließlich DschihadSalafisten, wie bspw. die Anhänger der verbotenen Vereinigung Millatu-Ibrahim, welche eine Minderheit innerhalb des deutschen Salafismus darstellt. Ihre militant-revolutionäre Ideologie ist vor allem von den Schriften des Theoretikers der ägyptischen Muslimbruderschaft Sayyid Quṭb (gest. 1966), insbesondere von seinem Konzept der absoluten Souveränität Gottes (ḥākimiyat allāh), und denen al35 36 37 38 39
Die Säulen des Islam sind nach der Mehrheitsmeinung muslimischer Gelehrter diese fünf: Glaubensbekenntnis, Gebet, Sozialpflichtabgabe, Fasten und Pilgerwallfahrt. Weiterführend zur takfīr-Problematik Kap. V, Abschn. 2.1.4. Vgl. Armborst/Attia: Die Politisierung des Salafismus, S. 226; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 85. Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 4. Vgl. Wiedl: Außenbezüge, S. 43; Wiktorowicz: Anatomy, S. 208.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Maqdisīs stark beeinflusst. Anhänger des puristischen Salafismus werfen den politischen Salafisten wiederum vor, von den Ideen und Strategien der Muslimbruderschaft beeinflusst zu sein, und distanzieren sich daher von ihnen.40 Sie stellen somit selbst einen Bezug zwischen Salafismus und Islamismus her, was sich auch im öffentlichen Diskurs widerspiegelt. Dort werden oft beide Begriffe gleichgesetzt. Doch was ist unter Islamismus zu verstehen? Was unterscheidet ihn vom Salafismus? Und welche Tendenzen des Salafismus können in dessen Spektrum eingeordnet werden? Diesen Fragen soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.
3.
Islamismus
Der Begriff Islamismus ist eine Sammelbezeichnung, welche den politischen Islam bzw. alle politischen religiös begründeten Auffassungen und Handlungen von Muslimen einbegreift, die direkten oder indirekten Einfluss auf das politische System einer Gesellschaft nehmen wollen, um im Namen des Islam ein politisches Ordnungsmodell nach den Regeln der Scharia weltweit zu etablieren.41 Der Islam wird hierbei sowohl als Religion als auch als Grundlage für ein politisches System verstanden und propagiert. In der Forschung werden die Begriffe Islamismus und politischer Islam weitgehend synonym verwendet. Diese politische Ideologie beruft sich auf die Quellen des Islam und erhebt einen allumfassenden Gestaltungsanspruch, der sowohl den gesamten privaten Lebensbereich des Menschen als auch sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse abdeckt. Die noch heute unter Islamisten verbreiteten Slogans al-islām dīn wa-daula (»der Islam ist Religion und Staat«) und al-islām huwa l-ḥall (»der Islam ist die Lösung«) bringen diese Vorstellung auf den Punkt. Im Vergleich zum Salafismus ist Islamismus eine im sunnitischen wie schiitischen Islam vertretene Ideologie politischer Natur, die, ähnlich wie beim Salafismus, auf die Wiedererrichtung eines islamischen Gemeinwesens abzielt, aber nicht unbedingt nach dem Vorbild der ersten drei Generationen. Vielmehr wollen Vertreter des Islamismus Islam und Moderne miteinander versöhnen und sind infolgedessen bemüht, die Quellentexte des Islam zeitgemäß auszulegen, wie am Beispiel der Theorien al-Qaradawis gezeigt werden soll, der der Muslimbruderschaft zugerechnet wird. Hingegen ist Salafismus eine ausschließlich innerhalb des sunnitischen Islam vertretene Ideologie, deren Anhänger eine Rückbesinnung auf die Frühzeit des Islam anstreben und sich in der Lebens- und 40
41
Vgl. Wiedl: Geschichte des Salafismus, S. 413ff.; dies.: Zeitgenössische Rufe, S. 107f.; Tibi: Der wahre Imam, S. 355ff.; Damir-Geilsdorf: Herrschaft und Gesellschaft, v.a. S. 61f., 249ff. und 300ff. Vgl. Pfahl-Traughber: Islamismus – Was ist das überhaupt?, in: www.bpb.de (abg. am 25.05.2017). Für einen Überblick über verschiedene islamistische Gruppierungen vgl. Steinberg/Hartung: Islamistische Gruppen, S. 681-695.
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Religionspraxis an den Traditionen der ersten drei Generationen nach dem Propheten orientieren. Anders als der Salafismus, unter dessen Vorzeichen sich auch nicht-politische Gruppierungen befinden, ist der Islamismus in toto politisch ausgerichtet und stellt eine besondere Lesart des Islam als politisches Programm dar.42 Während der ideologische Ursprung des Islamismus in erster Linie auf die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zurückgeführt wird, gilt die Muslimbruderschaft Ägyptens (gegr. 1928) als seine Mutterbewegung und organisatorische Wurzel. Die von der Ideologie der modernen Salafiyya inspirierte islamistische Bewegung der Muslimbruderschaft zeichnet sich durch eine straffe Organisationsstruktur aus; sie nimmt am politischen Leben teil und ist zudem auch stark auf Sozialarbeit ausgerichtet, um durch ihre Präsenz im Alltagsleben Anhänger zu gewinnen. Die Muslimbruderschaft gilt als die älteste und einflussreichste arabisch-islamistische Organisation, deren Ideologie in nahezu allen islamisch geprägten Ländern verbreitet ist. Vor allem in Staaten wie Syrien, Jordanien und Tunesien gibt es Ableger der Bewegung. Auch in Deutschland ist sie, samt ihrer Ideologie, existent. Ihr Gedankengut wird vor allem durch die 1960 gegründete Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) mit Sitz in Köln vertreten. Die IGD ist die wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft in Deutschland. Ein Bericht des Verfassungsschutzes stellte fest: »Ziel der IGD ist es unter anderem, sich in Deutschland als anerkannter Ansprechpartner zum Thema Islam zu etablieren. Sie verfolgt daher eine an der MB-Ideologie ausgerichtete Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Bereich.«43 Die Präsenz des Islamismus in Deutschland bzw. Europa verdankt sich hauptsächlich zwei Gruppen: zum einen den Muslimbrüdern, die sich der Verfolgung in Ägypten und Syrien entzogen und in Europa Asyl suchten. Aber auch andere Islamisten unter muslimischen Gastarbeitern und Studenten haben einen wichtigen Beitrag zur Errichtung islamistischer Organisationen in Europa geleistet. Diese Akteure spielten eine führende Rolle beim Aufbau islamistischer Strukturen und Netzwerke, wobei sie eng mit in den Herkunftsländern aktiven Bewegungen verbunden sind.44 Von den Muslimbrüdern wiederum führt über Sayyid Quṭb ein radikalisierter Strang zum sog. dschihadistischen Islamismus, der für den revolutionären Umsturz »unislamischer« Regime sowie für die Umsetzung weiterer Ziele den Einsatz von Gewalt befürwortet. Gruppen wie die palästinensische sunnitische Widerstandsbewegung Hamas und die libanesische schiitische Hisbollah partizipieren
42 43 44
Vgl. El-Wereny: Fatwas und Muftis, S. 75; weiterführend bei Roy: Der islamische Weg, S. 243249; Wenzel-Teuber: Islamische Ethik, passim; Tibi: Islamism and Islam, v.a. S. 31ff. und 231f. Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzbericht 2017, S. 211f.; Landesamt für Verfassungsschutz Hessen: Was ist Islamismus?, S. 9. Vgl. Riexinger: Islamismus und Fundamentalismus, in: www.bpb.de (abg. am 31.10.2018).
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
einerseits seit Jahren am politischen Prozess des jeweiligen Landes, andererseits unterhalten sie auch bewaffnete Milizen.45 Der Begriff Islamismus umfasst also sowohl friedlich-politisch auf institutioneller Ebene wirkende als auch zur Gewalt neigende oder gar terroristische Gruppen. Wesentliche ideologische Gemeinsamkeit islamistischer Gruppierungen ist vor allem der Wille zur Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung nach den Regeln der Scharia. Die Scharia wird dabei als holistisches System angesehen, das immer und überall anwendbar sei und alle Fragen des Lebens abdecke, sowohl was das soziale Miteinander als auch die Rechts- und Staatsordnung anbetrifft. Nach dieser Auffassung sollen Scharia-Regelungen institutionell verankert und Staat und Religion nicht getrennt sein. In einem solchen System besteht die oberste Legitimation in der Souveränität Gottes, nicht in der des Volkes.46 Nichtsdestoweniger kann nicht pauschal gesagt werden, dass die Ideologie aller Islamisten bzw. islamistischen Bewegungen mit dem demokratischen Verfassungsstaat unvereinbar sei, weil »der alleinige Geltungsanspruch des »göttlichen« Rechts dem Prinzip der Volkssouveränität« widerspricht.47 Denn es gibt viele Stimmen, wie etwa die namhaften Politiker Rashid al-Ghanūshī (geb. 1941)48 und Ḥasan at-Turābī (gest. 2016),49 die zum islamistischen Spektrum gezählt werden und die Auffassung vertreten, dass der Islam mit den Grundprinzipien der Moderne (Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung usw.) kompatibel sei. In diesem Sinne sind sie bemüht, die Scharia-Quellen adäquat und zeitgemäß auszulegen. Bspw. rekurrieren sie auf das frühislamische shūrā-System – eine Ratsversammlung, in der der Herrscher sich mit den Volksvertretern abstimmt.50 Dass Salafisten in den Berichten deutscher Sicherheitsbehörden und auch im medialen und wissenschaftlichen Diskurs oft undifferenziert dem Islamismus zugeordnet werden, soll in Anbetracht obiger Darstellung nicht unwidersprochen bleiben. Ohne nähere Prüfung kann man Salafisten nicht pauschal dem islamistischen Milieu zuordnen. Denn es gibt zum einen innerhalb der salafistischen Bewegung bedeutende Kräfte, die sog. Puristen, die die Partizipation am politischen Leben grundsätzlich ablehnen und fast ausschließlich an Missionsarbeit interessiert sind, wenngleich die Übergänge zum politischen Salafismus fließend sind.
45 46 47 48 49 50
Vgl. Pfahl-Traughber: Islamismus – Was ist das überhaupt?, in: www.bpb.de (abg. am 25.05.2017); Shepard: Sayyid Qutb’s Doctrine, S. 521-545. Vgl. ebd.; Tibi: Islam and Islamism, S. 31ff. Riexinger: Islamismus und Fundamentalismus, in: www.bpb.de (abg. am 27.05.2017). al-Ghannūshī ist ein tunesischer Politiker und Vorsitzender der islamistischen NahḍaBewegung. vgl. für mehr dazu Tamimi: Rachid Ghannouchi, S. 149-165. at-Turābī ist ein sudanesischer Politiker, der zur Muslimbruderschaft gezählt wird. Vgl. ausführlich dazu z.B. Burr/Collins: Revolutionary Sudan, v.a. 55ff.; 94ff. Für Näheres dazu Tamimi: Rachid Ghannouchi, S. 173-181; Tibi: Der wahre Imam, S. 315-332; Berger: Islamische Theologie, S. 120f.; Bosworth/Marín/Ayalon: Shūrā, S. 509.
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Zum anderen setzen Anhänger beider Strömungen unterschiedliche Prioritäten und Schwerpunkte, die sie voneinander noch einmal abgrenzen, wenngleich die Zielsetzung dieselbe ist. Eine Einordung salafistischer Anhänger ins islamistische Spektrum kann demnach nur im Falle der politischen und dschihadistischen Salafisten erfolgen, da sie dasselbe Ziel wie die Islamisten verfolgen sowie zu diesen eine politisch-ideologische Nähe aufweisen.
4.
Fundamentalismus
Eng mit den beiden oben vorgestellten Bewegungen verknüpft ist der Begriff Fundamentalismus. Er wird häufig in einen engen Zusammenhang mit ihnen gebracht oder gar synonym dazu verwendet. Dabei handelt es sich beim Fundamentalismus, im Gegensatz zu diesen beiden islamisch begründeten Ideologien, um ein weltweites Phänomen, das sich nicht nur auf den Islam, sondern auch auf das Christentum bezieht. Im weitesten Sinne wird Fundamentalismus als Bezeichnung für religiöse Tendenzen verstanden, die eine wortwörtliche Auslegung ihrer heiligen Schriften und zugleich einen Rückgriff auf die Wurzeln bestimmter Traditionen und Ideologien anstreben. Dabei beanspruchen die Fundamentalisten das Interpretationsmonopol auf eine authentische Auslegung der Quellen und sehen ihr Religionsverständnis als das einzig wahre an. Wenngleich diese Beschreibung oftmals im Zusammenhang mit islamistischen Gruppierungen verwendet wird, ist der Begriff Fundamentalismus ursprünglich christlich geprägt. Er wurde erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Titulierung einer rigorosen Denkschule innerhalb des amerikanischen Protestantismus verwendet. Diese lehnt eine moderne historisch-kritische Lesart der Bibel strikt ab und setzt sich für ein buchstabengetreues Verständnis der heiligen Schrift ein. Auf dieser Basis sind Fundamentalisten im Generellen bestrebt, das religiöse Leben anhand der Vorgaben ihrer religiösen Quellen modellhaft und am Buchstaben haftend vorzuleben. Abweichungen von den wortwörtlichen Anweisungen der Schriften bleiben strikt untersagt.51 Im Arabischen wird der Begriff Fundamentalismus mit uṣūliyya und ein Fundamentalist mit uṣūlī, Pl. uṣūliyyūn wiedergegeben. Das arabische Wort uṣūliyya ist abgeleitet von dem Substantiv aṣl, Pl. uṣūl, was soviel wie Stamm, Fundament oder Grundlage bedeutet. Die islamische Terminologie kennt diese Begriffe bereits seit der formativen Phase der islamischen Wissenschaften, sei es in Bezug auf die Wissenschaft der uṣūl ad-dīn (»Grundlagen der Religion«) oder die der uṣūl al-fiqh (»Grundlagen der islamischen Normenlehre«). So betitelt ash-Shaibānī (gest. 805), zusammen mit Abū Yūsuf, Begründer der hanafitischen Rechtsschule, sein 51
Vgl. ausführlich dazu Meyer: Fundamentalismus, passim; Khallouk: Islamischer Fundamentalismus, S. 20ff.; Grünschloß: Was heißt Fundamentalismus?, S. 163-195.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Werk zur hanafitischen Rechtslehre mit al-Mabsūṭ, kitāb al-aṣl (»das Umfassende, das Grundlegende«). Auch der Theologe al-Ashʿarī (gest. 935) machte vom Begriff der uṣūl Gebrauch, indem er sein Werk über die orthodoxe sunnitische Doktrin mit al-Ibāna ʿan uṣūl ad-diyāna (»die Erläuterung der Grundlagen der Religion«) betitelte. Verwendet man den wiederum abgeleiteten Begriff uṣūlī, werden darunter demnach jene Gelehrte bzw. Rechtstheoretiker verstanden, die sich mit den Grundlagen der Religion bzw. mit der Ableitung von Normen aus den islamischen Quellen beschäftigen.52 Das heißt, obwohl uṣūliyya bzw. uṣūlī die arabischen Übersetzungen von »Fundamentalismus« bzw. »Fundamentalist« sind, implizieren diese arabischen Begriffe nicht immer das Gleiche wie ihre europäischen Pendants; insbesondere die im europäischen Sprachkontext dominierende Konnotation von buchstabenverhafteter Glaubensstrenge und – polemisch gesprochen – engstirnigem Dogmatismus ist im Arabischen eben nicht unmittelbar gegeben. Vielmehr beziehen sich der Begriff uṣūl und seine Ableitungen im Grunde auf die Fundamente der Religion bzw. auf jene Personen und Bewegungen, die sich auf die Quellen der Religion berufen, ohne sie normativ zu bewerten. Was den Umgang mit der arabischen Rede von den uṣūl bzw. der uṣūliyya allerdings verkompliziert, ist der Umstand, dass damit dennoch des Öfteren Fraktionen bzw. Gruppierungen beschrieben werden, die sich am äußerlichen Wortlaut der islamischen Quellen orientieren, nach denen dann das gesamte Leben, das Private wie das Öffentliche, geregelt werden soll.53 In diesem Sinne definiert Ibrahim den islamischen Fundamentalismus wie folgt: »Islamic Fundamentalism […] means the belief in the precepts and Commandments of Islam as stated in its holy book, the Quran, and enunciated and practiced by the Prophet Muhammed – known as the Sunna.«54 Auf den Islam übertragen zielt eine fundamentalistische Bewegung darauf ab, das Leben in jeder Hinsicht den Fundamenten bzw. Quellen des Islam buchstabengetreu und unhinterfragt zu unterwerfen und deren Ideen somit vermeintlich in die Tat umzusetzen. Nach dieser Definition sind auch Anweisungen zum Dschihad und zur Gewaltanwendung inbegriffen, die sich auf Koranaussagen oder Prophetenaussprüche stützen, die zu einem bestimmten Anlass offenbart oder gesagt wurden. Da ein Großteil des Salafismus sowie auch des Islamismus Gewalt ablehnen und einschlägige Passagen historisch kontextualisieren, kann nur ein kleiner Teil dieser Bewegungen als fundamentalistisch kategorisiert werden. Die Salafismusdefinition vieler Autoren, wie etwa von Fouad und Said, ist demnach nicht ganz zutreffend. Sie definieren Salafismus als »Oberbegriff für eine sehr heterogene Strömung, die zunächst als fundamentalistisch beschrieben werden kann,
52 53 54
Vgl. für die unterschiedliche Verwendung des Begriffs uṣūl aus arabisch-etymologischer Sicht ʿImāra: al-Uṣūliyya, S. 8ff., 30ff.; Khallouk: Islamischer Fundamentalismus, S. 28. Vgl. z.B. Tibi: Die fundamentalistische Herausforderung, S. 19; Wichmann: Al-Qaida, S. 130ff. Ibrahim: Islamic Activism, S. 53-68, hier S. 53.
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weil sie sich auf die Ursprünge der Religion besinnt und diese von allem »reinigen« möchte, was als später und »fälschlich« hinzugekommen angesehen wird.«55 Ähnlich begreifen Biene, Daphi, Fielitz, Müller und Weipert-Fenner Salafismus »als moderne, transnationale und fundamentalistische Reformbewegung des sunnitischen Islams, deren Anhänger eine konsequente Rückbesinnung auf die Lehren der Frühzeit des Islams propagieren«.56 Die historischen Wurzeln des islamischen Fundamentalismus werden auf den ersten Bürgerkrieg im Islam zurückgeführt, die Zeit des sog. ʿām al-fitna (des ersten islamischen Bürgerkriegs zwischen 656 und 661 n. Chr.).57 Dieser ereignete sich infolge der Auseinandersetzung zwischen dem vierten Kalifen, ʿAlī ibn Abī Ṭālib (gest. 661), und dem Statthalter Syriens, Muʿāwiyya ibn Abī Sufyān (gest. 680). Dabei ging es um die Machtübergabe nach der Ermordung des dritten Kalifen ʿUthmān ibn ʿAffān 656. Als ʿAlī besagten Streit durch ein Schiedsgerichtsurteil beilegen wollte, spaltete sich von seinem Lager die Gruppe der sog. Charidschiten (»Auszügler«, »Hinausgehende«) ab und bezichtigte ihn, er wolle ein Urteil von Menschen über dasjenige Gottes stellen und handele damit ketzerisch. Aus ihrer Sicht gibt es keinen Richter außer Gott: Lā ḥukma illā li-llāh. Ihre Argumentation basierte auf einem fundamentalistischen, d.h. buchstabengetreuen Verständnis der Quellentexte, das sie auch in die Tat umzusetzen suchten, was in Folge zu Aufständen, Raubzügen und gewalttätigen Handlungen führte, nicht zuletzt zur Ermordung des Kalifen ʿAlī.58 Wenngleich der Fundamentalismusbegriff im Vergleich zu den Begriffen Islamismus und Salafismus die höchste Aussagekraft besitzt und eindeutig impliziert, dass seine Anhänger die religiösen Schriften buchstabengetreu anwenden und das Leben nach ihnen zu gestalten suchen, bleibt er meines Erachtens unpräzise und irreführend. Denn er gibt die unterschiedlichen ideologischen Merkmale jener Strömungen nicht wieder. Da nicht nur islamistische Bewegungen, sondern auch Muslime im Generellen auf die Quellentexte bzw. Fundamente des Islam als Grundlage der Religion zurückgreifen, sollte der Begriff Fundamentalismus bzw. dessen Adjektivform fundamentalistisch ausschließlich, wenn überhaupt, als Beschreibung jener salafistischen bzw. islamistischen Tendenz verwendet werden, welche sich an den heiligen Texten wortgereu festhält, also einem literalistischen Zugang zu den religiösen Quellen folgt.59 Dies trifft bspw. nicht auf moderate Vertreter des Islamismus zu, die sich für eine Versöhnung von Islam und Moderne einsetzen und
55 56 57 58 59
Said/Fouad: Einleitung, S. 25f. Biene/Daphi: Nicht nur eine Frage der Sicherheit, S. 2. Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 37f. Vgl. ebd., S. 37ff. Siehe auch dazu Al-Azm: Unbehagen in der Moderne, S. 77ff.; Tibi: Die fundamentalistische Herausforderung, S. 19; Wichmann: Al-Qaida, S. 130ff.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
dementsprechend bemüht sind, die Quellentexte auf der Basis rationaler Überlegung und mithilfe neu gewonnener Prinzipien zeitgemäß auszulegen. Ihnen geht es nicht um eine wörtliche Umsetzung der Traditionen, sondern um eine zeit- und ortsadäquate Interpretation dieser, um Herausforderungen der Moderne und den damit einhergehenden Fragen gerecht zu werden. Fundamentalisten beharren indessen auf einer buchstabengetreuen Lesart der heiligen Texte und streben eine wortgemäße Umsetzung dieser an.60 Repräsentanten des Salafismus und Islamismus, wie etwa Ibn Baz und al-Qaradawi, weisen die Bezeichnung Fundamentalismus sowie auch andere Titulierungen wie Radikalismus und Extremismus für sich kategorisch zurück. Jene Begriffe würden in westlichen Gesellschaften absichtlich verwendet und vor allem medial verbreitet, um ein Feindbild Islam zu schaffen. Versuche der Muslime, ihren religiösen Vorschriften nachzukommen und für ihre Rechte einzustehen, würden mit Fundamentalismus und Extremismus gleichgesetzt. Auch Anschläge würden oft absichtlich in Zusammenhang mit dem Islam und als islamistisch motivierte Attentate in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gebracht, ohne zwischen Terroristen und Muslimen zu unterscheiden. Muslime würden konsequenterweise undifferenziert als potentielle »Fundamentalisten« bzw. »Extremisten« zum Feind der Mehrheitsgesellschaft erklärt. Durch die Übertragung solcher ursprünglich christlich geprägten und in öffentlichen Diskussionen negativ konnotierten Begriffe auf den Islam und die Muslime solle der Mehrheitsgesellschaft vermittelt werden, Muslime würden aufgrund ihres rigiden Islamverständnisses anstreben, Europa zu islamisieren. In Wirklichkeit bezwecke diese Art medialer Berichterstattung im »Westen«, das religiöse Wiedererwachen unter Muslimen sowie ihre Rückkehr zum Islam zu delegitimieren und zu dämonisieren. Dies solle für Angst und Schreck unter der Mehrheitsgesellschaft sorgen, damit sie die vermeintlich bevorstehende Islamisierung Europas verhindern.61 Deutsche Salafisten lehnen solche Bezeichnungen ebenfalls ab und weisen auf die Mehrdeutigkeit des Terminus Fundamentalismus hin, wobei sie auf die Argumente saudischer Gelehrter zurückgreifen. So antwortet Pierre Vogel auf die Frage, ob er und seine Mitstreiter Fundamentalisten seien, wie folgt: »Wenn damit gemeint ist, dass wir an einem Fundament [Koran oder Sunna] festhalten, sind wir Fundamentalisten. Das ist kein Name für die Religion, sondern eine Bezeichnung, eine Beschreibung der Art und Weise, wie man an die Religion herangeht.«62 Auch 60 61
62
Vgl. ausführlich dazu Riesebrodt: Fundamentalismus, S. 11-40; Roy: The Failure of Political Islam, S. 76f.; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 15. Vgl. Ibn Baz: Ḍarb ad-daʿwa, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 10.05.2019); al-Munajjid: alUṣūliyya wa-l-uṣulūyūn, in: www.islamweb.net (abg. am 10.05.2019); al-Qaradawi/Manṣūr: Mafhūm al-uṣūliyya, in: www.aljazeera.net (abg.am 03.03.2019). Vogel: Interview mit Pierre Vogel, in: www.youtube.com (abg. am 03.03.2019); ähnlich ders.: Sind wir Salafisten?, in: www.youtube.com (abg. am 12.05.2019).
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der Begriff Salafismus werde dazu verwendet, um Salafisten von anderen Muslimen zu isolieren und sie zu verteufeln.63
5.
Extremismus
Der Begriff Extremismus löst seit seiner Verwendung, insbesondere im Verfassungsschutzbericht des Bundes im Jahre 1974, Kontroversen aus.64 Er bezieht sich primär auf ein »politisches Spektrum«, das aus zwei »Rändern« (»links« und »rechts«) besteht, wobei er wenig über den Inhalt der Mitte sagt. Oft wird mit »Mitte« eine ausgewogene und gemäßigte Position suggeriert, die sich zwischen diesen zwei »extremen« Flügeln befinde.65 Die zwei konträren Ränder umfassen Gruppen wie etwa Rechtsextremismus und Linksextremismus, deren politische Einstellungen im Widerspruch zu Grundwerten und Normen der freiheitlich-demokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung stehen.66 Ende der achtziger Jahre setzten sich Sozialwissenschaftler mit dem Begriff intensiver auseinander. Die von den Politologen Backes und Jesse vorgeschlagene Definition hat sich weit verbreitet: »Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen […]«.67 Folgt man Jesses Begriffsbestimmung, ist es natürlich möglich, auch von einem »islamischen Extremismus« zu sprechen. Denn natürlich gibt es Akteure bzw. Gruppierungen, die unter Berufung auf den Islam eine oder mehrere Dimensionen des konstitutionellen demokratischen Rechtsstaates ablehnen. Im arabischen Sprachgebrauch bezeichnet »Extremismus«, arab. taṭarruf (»sich am Rande befinden«), keine bestimmte islamische Gruppe, vielmehr wird er, wie der Begriff Fundamentalismus, als Beschreibung einer Fraktion innerhalb einer Denkschule bzw. einer islamischen Bewegung verwendet, wie etwa Dschihadisten innerhalb des Islamismus und Salafismus. Der Islamismus z.B. umfasst als Oberbegriff alle politisch orientierten islamischen Bewegungen, die direkten Einfluss auf das politische System einer Gesellschaft nehmen wollen, um im Namen des Islam eine auf der Scharia basierende Gesellschafts- und Staatsordnung zu errichten. Innerhalb des islamistischen Spektrums gibt es Stimmen, die zwischen zwei 63 64 65 66 67
Vgl. ebd. Jesse/Stöss: Debatte: Extremismustheorie, in: www.bpb.de (abg. am 28.05.2019). Uwe/Jesse: Politischer Extremismus, S. 40, zitiert nach Pfahl-Traughber: Extremismus und Terrorismus, S. 12f. Es bleibt dennoch umstritten, ob der Begriff Extremismus als Oberbegriff für diese beiden Phänomene geeignet ist. Siehe Warg: Extremismus und Terrorismus, S. 44. Uwe/Jesse: Politischer Extremismus, S. 40.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
»Extremen« (ungefähr analog zu Rechts- und Linksextremismus) unterscheiden und für sich eine Position der Mitte beanspruchen. Unter »islamischen Rechten« werden jene Tendenzen und Personen gefasst, die eine politische Ordnung nach den Vorgaben der Scharia aufbauen wollen, sich dabei an die Offenbarungstexte halten und diese buchstabengetreu in den Alltag umsetzen wollen, wobei sie das private und das öffentliche Leben nicht getrennt denken, sondern als eine einheitliche Sphäre verstanden wissen wollen. Unter diese Richtung werden einige Gelehrte Saudi-Arabiens wie etwa Ibn Baz und al-ʿUthaimīn subsumiert.68 Die »islamischen Linken« verfolgen indessen kein politisches Programm, sondern wollen, unter dem Anspruch auf Erneuerung bzw. Reform, die Quellentexte des Islam historisch-kritisch lesen, um Islam und Moderne miteinander zu versöhnen. Sie würden sich im Zuge dessen von vielen Inhalten des Koran und der Sunna sowie tradierten Lehrmeinungen lösen und erachteten die Verehrung islamischer Traditionen sowie die unhinterfragte Befolgung überlieferter Lehrmeinungen als Barrieren auf dem Wege der Reform. Ungeachtet der Differenzen zwischen islamischen und westlichen Gesellschaften auf unterschiedlichen Ebenen, so lautet eine Kritik dieses Standpunktes, übernähmen Verfechter dieses linken Ansatzes europäisches Gedankengut und versuchten die Probleme der arabisch-islamischen Gesellschaften nach westlichen Modellen zu lösen.69 Vertreter der Position der Mitte (wasaṭiyya), wie etwa al-Qaradāwī, die die eben erwähnten »Extreme« scharf kritisieren, streben wie die »Rechten« ein islamisches Staats- und Gesellschaftssystem an; es soll bei ihnen aber auf einem zeitgemäßen Islamverständnis basieren, das sich an die Lebensumstände der Menschen anpasst und gleichzeitig dem Absolutheitsanspruch der Scharia gerecht wird. Vor diesem Hintergrund sind Repräsentanten dieser Denkschule bemüht, die autoritativen Texte zwar neu zu interpretieren, setzen dabei jedoch, anders als die »Linken«, Grenzen zwischen solchen Normen und Werten der Scharia, die modifizierbar sind, und solchen, die zeit- und ortsunabhängig, mithin jenseits bzw. über aller menschlichen Historie stehend gültig seien.70 Fürsprecher der Islamischen Linken wiederum vertreten die Auffassung, dass einige Apologeten der Position der wasaṭiyya eher dem islamischen »PostFundamentalismus« zuzuordnen seien, da sie ihr Programm der Versöhnung zwischen Islam und Moderne in Anlehnung an die Quellentexte und das Erbe der Altvorderen (salaf ) durchführen wollten. Doch dabei böten sie keine adäquaten Lösungen für viele Fragen der Moderne. Puristische Salafisten werden aufgrund ihres wortgetreuen Verständnisses der islamischen Quellentexte und ihres Bestrebens, dieses ohne kritische Reflexion zum Maßstab des alltäglichen Handelns zu
68 69 70
Vgl. al-Qaradawi: ath-Thaqāfa al-ʿarabiyya, S. 69ff.; der.: Fiqh al-wasaṭiyya, passim. Vgl. al-Qaradawi: Dirāsa fī fiqh maqāṣid, S. 95f.; ders.: ath-Thaqāfa al-ʿarabiyya, S. 70f. Siehe für Näheres dazu Kap. III, Absch. 3, 4.; Gräf: The Concept of wasaṭiyya, S. 39-64.
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Radikalisierung im Cyberspace
machen, als extrem (mutaṭarrif ) sowie fundamentalistisch (uṣūlī) stigmatisiert.71 Der Begriff Islamische Linke (arab. al-yasār al-islāmī) wurde Anfang der 80er Jahre von Hasan Hanafi in die Diskussion über Islam und Reform eingebracht. Bis heute gilt er als bedeutendster Vertreter und wichtigster Theoretiker dieser Denkschule. Aus seiner Sicht steht diese Massenbewegung Islamische Linke für einen progressiven Islam, und zwar im Gegensatz zur Islamischen Rechten, worunter er salafistische wie islamistische Strömungen fasst, welche nach seiner Darstellung für einen traditionell-konservativen Islam einträten. Islamische Linke engagierten sich hingegen sehr stark für die Reform des Islam auf sozioökonomischer, politischer, kultureller und intellektueller Ebene. Das Endziel sei, das arabischislamische kulturelle Erbe, und zwar sowohl das religiöse als auch das weltliche, zu erneuern, um den Herausforderungen der Moderne begegnen zu können und auf diesem Wege die arabisch-islamische Welt aus ihrer Rückständigkeit zu befreien.72 Anhänger des Salafismus setzen den Begriff Extremismus mit Gewalt und terroristischen Handlungen gleich und ordnen infolgedessen die »dschihadistischen Salafisten« dem Extremismus zu. Dabei werfen sie den westlichen Medien vor, keine Differenzierung zwischen Muslimen und Extremisten vorzunehmen.73 Demnach verstehen Vertreter des salafistischen Spektrums Extremismus als Befürwortung von Gewalt oder das Handeln unter Einsatz von Gewalt. Ähnlich argumentierend sind in der letzten Zeit Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien auch gegen Terrorismus als extremistische Ideologie vorgegangen, indem sie bspw. die Muslimbruderschaft verboten haben. Dabei haben namhafte Gelehrte wie etwa Aḥmad aṭ-Ṭayyib (geb. 1946), Scheich der Azhar in Kairo, und ʿAbd al-ʿAzīz Āl ash-Shaykh (geb. 1943), der Obermufti Saudi-Arabiens, zur Besinnung auf den gemäßigten Islam, al-wasaṭiyya, aufgerufen. Ob sie denselben Islam meinen, bleibt dahingestellt; bekanntlich vertritt der erste einen traditionellen Islam und der zweite einen wahhabitischen.74 In Anbetracht des bisher Dargestellten scheint der Extremismusbegriff im arabischsprachigen Gebrauch noch stärker als im Deutschen ein relationaler Begriff zu sein, der zwar oft in abwertender oder pejorativer Absicht verwendet wird, jedoch immer abhängig vom Standpunkt desjenigen ist, der ihn benutzt. Er bleibt relativ, d.h., seine Bedeutung ändert sich von einem Blickwinkel zum anderen, da die Vorstellung von »Normalität« bzw. »Mitte« bei unterschiedlichen Sprechern entsprechend unterschiedlich ausfällt. Die Kategorisierung des Islamismus bzw. 71 72 73 74
Siehe ausführlich dazu u.a. Ḥanafī: al-Yamīn wa-l-yasār, passim; ders.: at-Turāth wa-t-tajdīd, passim. Für Näheres dazu Ḥanafī: al-Yasār al-islāmī; ders.: al-Yamīn wa-l-yasār,passim; Weiterführend dazu: Abu Zaid: Islam und Politik. S. 287. Siehe z.B. Ibn Baz: Wājib ad-duʿāt, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 04.03.2019). Vgl. dazu Ghadban: Anhörung zu dem Thema Islamismus, S. 4.
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
Salafismus als extremistisch ist demnach wenig aussagekräftig bzw. schafft keinen Erkenntnisgewinn. Diese Phänomene dürften daher eigentlich ohne Spezifizierung und nähere Prüfung nicht mit Extremismus gleichgesetzt werden, wie es im deutschsprachigen Raum jedoch geläufig ist.
6.
Zwischenfazit
Das in Medien und Wissenschaft erzeugte Bild von den im Rahmen dieses Kapitels vorgestellten Phänomenen ist einerseits äußerst vielfältig, andererseits oft verkürzt und teilweise sogar widersprüchlich. So werden bspw. die Begriffe Salafismus und Salafiyya häufig synonym gebraucht, wenngleich sie nicht gleichbedeutend sind. Während sich der »zeitgenössische« Salafismus (auch oft Salafiyya genannt) maßgeblich aus dem Wahhabismus entwickelte und als Teil desselben betrachtet werden kann, stellt die »moderne« Salafiyya eine in erster Linie antikolonialistische Reformbewegung dar, die an der Wende zum 20. Jahrhundert entstand. Beide bedienen sich zwar der Quellentexte und Traditionen der ersten drei Generationen islamischer Zeitrechnung; erstere will diese aber wortgetreu und eins zu eins auf Fragen der Gegenwart übertragen, ganz ohne die unentwegten Veränderungen und Entwicklungen des Lebens zu berücksichtigen, während letztere diese zeit- und ortsgemäß verstanden wissen will und die Referenztexte sowie Traditionen der salaf entsprechend interpretiert bzw. einsetzt. Die von Nedza postulierte Unterscheidung zwischen beiden Begriffen durch die Bezeichnung Salafismus für die zeitgenössische Salafiyya scheint zweckdienlich zu sein, auch wenn die Salafisten selbst damit nicht zufrieden sind. Dieser Begriff ist im deutschen Kontext zwar kein terminologischer Konsens, hat sich aber in den letzten Jahren in der Wissenschaft und in öffentlichen Debatten stark verbreitet. Dass Salafismus und Islamismus im gleichen Atemzug ausgesprochen und häufig als kongruent aufgefasst werden, soll eingedenk des Dargestellten nicht unangefochten bleiben. Der Islamismus ist eine im 19. Jahrhundert im sunnitischen wie schiitischen Islam vertretene Ideologie politischer Natur, die stark von der modernen Salafiyya geprägt ist. Viele ihrer Verfechter sind auf unterschiedliche Art und Weise bemüht, den Islam zu modernisieren und seine normativen Texte daraufhin zeitgemäß auszulegen. Salafismus hingegen ist eine Strömung innerhalb des sunnitischen Islam, deren Anhänger jegliche Form der Modernisierung bzw. der Anpassung an gesellschaftliche und politische Entwicklungen ablehnen und primär darauf fokussiert sind, die von ihnen angestrebte Herrschaftsordnung vollständig nach den Vorgaben des Islam zu etablieren, orientiert am Wortlaut der Offenbarungstexte sowie den Traditionen der salaf. Dies wollen sie unhinterfragt in Politik und Gesellschaft übernehmen, wobei zwischen den unterschiedlichen
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Strömungen innerhalb des Salafismus, vor allem hinsichtlich ihrer Position zur Gewalt, differenziert werden sollte. Ein grundlegender gemeinsamer Berührungspunkt zwischen Salafisten und Islamisten ist der Rückgriff auf die Offenbarungsquellen sowie das Nacheifern der Lebensweise der ersten drei Generationen. Sie verfolgen dabei zwar durchaus ähnliche Ziele, unterscheiden sich aber oft bezüglich ihrer Strategien und Methoden, ihres Islamverständnisses und ihrer daʿwa-Arbeit. Man kann demnach Salafismus mit Islamismus nicht gleichsetzen, wenngleich politischer und dschihadistischer Salafismus große Gemeinsamkeiten mit dem Islamismus aufweisen und ihm daher zugeordnet werden kann. Der puristische Salafismus ist hingegen in Abgrenzung zu den anderen Salafismen dezidiert nicht-militant und weitgehend apolitisch. Vielmehr erwarten puristische Salafisten, dass der individuelle Glaube der Muslime automatisch zu einer gesellschaftlichen Islamisierung führen werde. Eine saubere Trennung zwischen den einzelnen Tendenzen bleibt schwierig. Denn die Übergänge innerhalb des Salafismus sowie zum Islamismus sind weitgehend fließend, wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit weiter gezeigt werden wird. In der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen ist die Bezeichnung fundamentalistisch weder zutreffend noch hilfreich. Denn alle islamischen bzw. islamistischen Bewegungen können aufgrund ihres Rekurses auf die Fundamente, d.h. die Quellen des Islam als »fundamentalistisch« bezeichnet werden. Um eine Gruppe als fundamentalistisch im westlichen Sinne (mit den bekannten negativen Konnotationen) zu beschreiben, ist zunächst die Frage zu klären, inwieweit jene Gruppe am Wortlaut der Quellentexte festhält. So sind viele Islamisten sowie auch einige Salafisten bemüht, die Offenbarungstexte zeitgemäß, d.h. in Anpassung an die Erfordernisse des Lebens adäquat auszulegen. Andere, wie etwa die Puristen, vertreten hingegen zwar eine buchstabengetreue Interpretation dieser Quellentexte, kontextualisieren dennoch die Dschihad-Verse und bleiben somit nicht schriftgläubig im Sinne des Fundamentalismusbegriffs. Als fundamentalistisch können demnach nur jene dschihadistischen Fraktionen innerhalb des Islamismus und Salafismus bezeichnet werden, welche den Koran und die Sunna in all ihren Facetten, einschließlich der Dschihad-Aussagen, wortgemäß verstehen und deren Vorgaben zur Verwirklichung der von ihnen angestrebten Weltmacht Islam befolgen. Folgerichtig ist eine undifferenzierte Übertragung des Begriffs Fundamentalismus auf islamistische Gruppen eher irreführend als befriedigend. Ähnlich verhält es sich beim Extremismusbegriff, der sich als relativ erwiesen hat. Der Extremismus- oder Fundamentalismusbegriff geht vielen in der Diskussion leicht über die Lippen, weil er unterschiedliche Entwicklungen und Veränderungen zusammenfasst, die Werte und Normen offener Gesellschaften in Frage stellen. Dies wirft jedoch eine Reihe neuer Probleme und Herausforderungen auf, vor allem im Umgang mit Radikalisierungsdynamiken. In Bezug auf den Extremismusbegriff schreibt Teune bspw.:
II. Salafismus – Begriffs- und Verhältnisbestimmung zu anderen religiösen Phänomenen
»Die Bezeichnung »Extremismus« ist eine Feindbestimmung. Mit ihr ist bereits alles gesagt. Damit wird sie zum Teil des Problems: Sie distanziert und ächtet Zielgruppen, die für Radikalisierung in die Gewalt anfällig sind. Deradikalisierungsprojekten wird damit der Zugang zu denen verbaut, die angesprochen werden sollen. Wenn die Beteiligung an einem Programm mit der Zuschreibung »Extremistin« bzw. »Extremist« einhergeht, erhöht das nicht nur die Schwelle des Einstiegs, es dürfte auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung kaum motivieren. Die Rede von »Extremistinnen« bzw. »Extremisten« suggeriert darüber hinaus, dass alle, die so bezeichnet werden, gleichermaßen eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte sind.«75 Der Salafismus bezeichnet in unserem Kontext also eine moderne, zum Teil fundamentalistische Bewegung innerhalb des sunnitischen Islam, die entweder als reine apolitische Glaubenslehre (bei den sog. Puristen) oder auch als theologischpolitische Strömungen (bei den sog. Politikern und Dschihadisten) auftreten kann. Sie teilen dieselben ideologischen Grundüberzeugungen und verfolgen das gleiche Ziel, eine islamische Herrschafts- und Gesellschaftsordnung nach der Scharia zu errichten, unterscheiden sich aber in der Frage, auf welchem Weg der notwendige Umbau der Gesellschaft in eine islamische Ordnung erreicht werden kann. Während Dschihadisten zur Gewalt als Mittel zum Zweck greifen, setzen die Puristen und Politiker u.a. auf religiöse Erziehung, Bildung, Missionsarbeit bzw. politisches Engagement, wobei Gewalt grundsätzlich Bestandteil ihrer Gedankenwelt bleibt, zumindest in seiner defensiven Form, wie im Verlauf der vorliegenden Studie demonstriert wird.76
75 76
Teune: Warum wir nicht vom »Extremismus« reden sollten, S. 9f. Vgl. v.a. Kap. V, Abschn. 2.4.
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III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Bevor wir in eine Diskussion über die virtuelle Welt des Salafismus eintauchen, ist es notwendig, einen Überblick über seine Denkmuster und seine Ideologie zu geben. Dieses Kapitel widmet sich den wichtigsten Eigenschaften und Merkmalen des salafistischen Denkens. Es beschränkt sich dabei auf sein Verständnis der islamischen Quellentexte und der Glaubenslehre (ʿaqīda) sowie seine Haltung zur Anpassungsfähigkeit der Scharia-Normen an moderne Fragen, ihre Position zur Reform des Islam sowie ihre Strategie zur Verbreitung ihrer Lehre.1
1.
Die Quellentexte nach salafistischem Verständnis
Der Koran und die Sunna des Propheten Muhammad stellen die Hauptquellen des Islam dar. Muslime unterschiedlicher Prägung greifen auf diese Quellen als Referenztexte zurück. Was eine religiöse Weltanschauung salafistisch oder islamistisch macht, ist ihre Herangehensweise an diese Quellentexte und ihr daraus resultierendes Religions- und Offenbarungsverständnis, das grundsätzlich entweder buchstabengetreu, flexibel oder liberal ausfallen kann. Gemeinsamer Berührungspunkt aller salafistischen Strömungen, ob politisch agierend oder apolitisch, ist ihr vornehmlich am Buchstaben verhaftender Rückgriff auf den Koran und die Sunna des Propheten als Referenztexte. Mit diesem Verständnis versuchen Salafisten, ihre Ansichten sowie ihre Existenz als Gruppe bzw. Bewegung zu legitimieren. Im Folgenden soll ihr Koran- und Sunnaverständnis in seinen Grundzügen dargestellt werden.
1
Andere theologische oder methodische Fragen wurden bereits in anderen Studien behandelt und fließen zudem in die darzustellenden Inhalte der Online-Salafisten ein.
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Der Koran Der Koran stellt nach islamischem Glauben das Herzstück des Islam dar. Er ist nach salafistischer Deutung sowie nach dem Glauben vieler anderer Muslime das von Gott selbst formulierte Wort, das durch den Erzengel Gabriel dem Propheten Muhammad über einen Zeitraum von etwa 23 Jahren herabgesandt worden ist. Zum Glauben eines jeden Muslims gehöre, dass der Koran das Wort Gottes und auf keinen Fall ein menschliches Produkt ist.2 Der Prophet habe als Verkünder der Religion des Islam die Offenbarung erhalten und an seine Gemeinde weitergegeben. Die Offenbarung sei bis heute durch ununterbrochene Überlieferung in seiner authentischen Form bewahrt worden. Zweifel an diesem Dogma sind gleichbedeutend mit Zweifeln am Islam selbst, wie die Site Islam Q&A darlegt: »It is not possible for a Muslim to entertain doubts concerning the immutability of the Qur’aan, because Allaah has guaranteed to preserve the Qur’aan.«3 Muhammad sei auch stets darauf bedacht gewesen, seine Worte, die er in seinem eigenen Stil formulierte (die sog. Hadithe) von der koranischen Offenbarung zu unterscheiden. Er habe es daher seinen Gefährten anfangs untersagt, etwas anderes als den Koran niederzuschreiben, damit dieser seine besondere Stellung beibehalte, die darin bestehe, dass sein Wortlaut und seine Bedeutung von Gott stammten und nichts an Worten der Menschen enthielten.4 Nach salafistischem Verständnis bietet der Koran alle notwendigen Erklärungen zu allen Fragen des dies- und jenseitigen Lebens. Er lege dar, was erlaubt und was verboten ist, thematisiere die Grundlagen guten Verhaltens und guter Sitten; er bespreche auch apokalyptische Fragen wie etwa die Vorzeichen des Tages der Auferstehung und das Leben nach dem Tod – d.h. die Verhältnisse in Paradies und Hölle. Der Koran trenne die Wahrheit von der Lüge und zeige den Weg der Rechtleitung und wie man den Weg des Irrtums verlasse. Daher heiße er auch al-furqān (»die Unterscheidung«). Der Glaube an den Koran als solchen sowie als die letzte heilige Schrift gehöre zu den Grundlagen des Muslim-Seins. Thora, Bibel und die Psalmen seien zwar Offenbarungsschriften, die vor dem Koran herabgesandt worden seien, jedoch lägen sie in ihren gegenwärtigen Formen entstellt und verfälscht vor. Daher abrogiere der Koran alle diese Schriften.5
2 3 4 5
Vgl. z.B. al-Faqīh: Definition »Qurān«, in: www.islamweb.net/de (abg. am 05.11.18). al-Munajjid: Claims that the Qur’aan has been distorted, in: www.islamqa.info/en (abg. am 30.04.2019). Vgl. u.a. al-Faqīh: Die Offenbarung Allāhs, in: www.islamweb.net/de (abg. am. 18.07.2018). Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 275f. In diesem Zusammenhang wird u.a. die Koranstelle 2:285 angeführt: »Gottes Gesandter glaubt an das ihm von seinem Herrn Offenbarte, und also die Gläubigen: sie glauben alle an Gott, an Seine Engel, an Seine Bücher und an Seine Gesandten.« Zitiert nach Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 2, S. 81.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Bei der Interpretation des Koran halten Vertreter des Salafismus, wie etwa Ibn Baz, am Wortlaut der Offenbarungstexte fest und wollen nichts an tradierten Koraninterpretationen der ersten Generationen nach Muhammad ändern. Sie wollen den Koran so hinnehmen, als würde er hier und jetzt offenbart werden, ungeachtet jeglicher historischer oder sozialpolitischer Zusammenhänge. Dabei werden, nach Auffassung vieler nicht-salafistischer Muslime, die verschiedenen Bedeutungsebenen des Koran sowie die Zwecke und Ziele der jeweiligen Botschaft ignoriert. Die Koraninhalte sind nach salafistischer Sicht für jede Zeit bis in alle Ewigkeit und an jedem Ort gültig.6 Diese Lesart stützt sich seit Ibn ʿAbd al-Wahhāb auf die tradierten Koranexegesen derjenigen Autoren, deren Interpretationen sich soweit wie möglich auf den sog. tafsīr bi-l-maʾthūr (»Koranauslegung durch Überliefertes«) beschränkten. Bereits in der islamischen Frühzeit haben sich in Bezug auf die Koranauslegung zwei Denkschulen gebildet: Eine Schule widmete sich dem tafsīr bil-maʾthūr, wobei sie sich an der Traditionsliteratur der Offenbarungszeit orientierte. Jene Literatur stammte hauptsächlich vom Propheten selbst und von seinen Gefährten. Die zweite Richtung wandte sich primär dem tafsīr bi-r-raʾy zu, d.h. der Koranauslegung mit Hilfe des Verstandes, die in einer persönlichen Meinung (raʾy) resultierte. Vertreter dieser Schule folgten zwar ebenfalls den überlieferten Koraninterpretationen früherer Gelehrter, bedienten sich zugleich aber – im Gegensatz zur ersten Denkrichtung – der Vernunft und des eigenen Urteils.7 Als bedeutende religiöse Autoritäten und Vorbilder für Salafisten gelten in diesem Zusammenhang bekannte Korankommentatoren und Hadith-Gelehrte wie etwa Ibn Jarīr aṭ-Ṭabarī (gest. 923), al-Qurṭubī (gest. 1273) und Ibn Taimiyya sowie dessen Schüler Ibn Qayyim al-Jawziyya (gest. 1350) und Ibn Kathīr (gest. 1373).8 Fürsprecher des Salafismus sind der Auffassung, dass der Koran bereits von diesen Exegeten bzw. Gelehrten gründlich und erschöpfend interpretiert und gedeutet worden sei. Von dieser Überzeugung getragen, beschäftigen sie sich vorwiegend mit der Frage, wie dieses überlieferte Korpus an Kommentarwerken erschlossen und vor allem in eine zeitgemäße Sprache übertragen werden kann. Wichtig festzuhalten ist, dass Salafisten ihre Interpretationen des Koran als die einzig richtigen und als absolute Wahrheit ansehen, unbeeindruckt von aller nicht-literalistischen Kritik daran.9 Da sich Salafisten an tradierten Koraninterpretationen orientieren, die zu den damaligen zeitlichen und örtlichen Umständen ausgesprochen wurden, sind ihre 6 7 8 9
Vgl. al-Qaradawi: Dirāsa fī fiqh maqāṣid, S. 62f. Vgl. z.B. Gilliot: Exegesis of the Qurʾān, S. 101-110; Goldziher: Die Richtungen, S. 83ff.; Steinberg: Religion und Staat, S. 121f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 50. Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S. 142, 144ff.; Steinberg: Religion und Staat, S. 121f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 50. Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S. 142ff.; Mallouki: An-naṣ, S. 2f.; as-Sarīʿ: Juhūd ash-shaykh, S. 38ff.; El-Wereny: Normenlehre, S. 76f.
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Positionen zu vielen Fragen aus der Zeit gefallen und sorgen eher für Probleme als für Lösungen. Menschliche Versuche, den Koran bzw. überlieferte Koranexegesen zu kontextualisieren oder die Gültigkeit bestimmter Inhalte auf einen bestimmten zeitlichen oder örtlichen Bereich zu beschränken, betrachten sie als »eine zu missbilligende Neuerung« (bidʿa). In diesem Sinne lehnen sie jenes Koranverständnis ab, das nach den Zwecken und Zielen der Offenbarung, den sog. maqāṣid ash-sharīʿa fragt. Koranverse werden in letzter Konsequenz als eine Sammlung von Vorschriften und Urteilen ewigen Charakters aufgefasst.10 Der Verständlichkeit halber sei an dieser Stelle folgendes Beispiel angeführt: Die Dschizya,11 ein unter islamischer Herrschaft lebenden nichtmuslimischen Schutzbefohlenen (arab. dhimmī) auferlegter Tribut, wird entsprechend diesem Koranverständins als eine finanzielle Verpflichtung derjenigen aufgefasst, die keine zakāt (»Sozialpflichtgabe von Muslimen an Arme«) zu zahlen brauchen. Die einschlägigen Verse werden demnach nicht in ihren historischen Kontext eingeordnet. Vielmehr wird von einem absoluten Geltungsanspruch koranischer Aussagen ausgegangen und eine Wiedereinführung dieser Art Steuer angestrebt.12 Im Unterschied zu militanten bzw. dschihadistischen Salafisten sind einige andere salafistische Gelehrte und Prediger bemüht, die Koranverse zum Dschihad als kontextbedingt zu lesen. Dabei geht es ihnen nicht darum, die Dschihad-Verse im Wege des Abrogationsprinzips (naskh)13 aufzuheben oder für immer zu historisieren, sondern sie führen die Notwendigkeit dieser Kontextualisierung auf die heutige Situation der Muslime zurück. Muslime befänden sich heute in einer schwachen Position. Ihnen stehe daher nur die Möglichkeit zur Verfügung, Dschihad mit der Zunge (jihād bi-l-lisān) in Form der daʿwa zu praktizieren. Vom Dschihad mit der Hand, dem physischen Kampf (jihād bi-l-yad), sollten Muslime einstweilen Abstand nehmen, bis sie irgendwann in der Lage seien, diesen auch durchzuführen. Diese Strategie wird mit dem Verfahren der ersten Muslime gerechtfertigt. In der Anfangsphase des Islam habe der Prophet in Mekka nur daʿwa betrieben. Erst nachdem er und seine Gefährten nach Medina ausgewandert und zu einer Gemeinde geworden seien und somit an Stärke gewonnen hätten, seien Verse mit der Erlaubnis zum Dschihad herabgesandt worden.14 Zunächst habe Gott ihnen 10 11
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Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S. 142ff.; al-Qaradawi: Dirāsa fī fiqh maqāṣid, 62f.; El-Wereny: Normenlehre, S. 76f. Die Kopfsteuer (jizya) wurde sowohl bei ahl al-kitāb, Juden und Christen, als auch weiteren Personengruppen erhoben. Im Gegenzug wurde jenem Personenkreis als ahl al-dhimma Schutz und ein gewisses Maß an Religionsfreiheit zugesichert. Vgl. al-Faqīh: Eine falsche Darstellung, in: www.islamweb.net/grn; al-ʿUthaimīn: Wie lange wird der Dajjal, in: www.islamfatwa.de (abg. am 28.05.2018). Vgl. statt vieler Burton: »Naskh«, S. 1009-1012. Zur Frage der Abrogation dschihadbezogener Verse siehe u.a.: Bukay: Peace or Dschihad?, S. 3-11. In diesem Zusammenhang werden Koranstellen angeführt wie etwa 2:191: »Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn die Ver-
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
gestattet, Verteidigungskriege (jihād difāʿī) zu führen. Später, wie in Vers 2:216 und anderen festgehalten sei,15 habe er den expansiven Dschihad (jihād aṭ-ṭalab) zur kollektiven Pflicht (farḍ al-kifāya) erklärt. Und dies gelte bis heute, solange Muslime dazu in der Lage seien. Die Entscheidung darüber, ob Muslime die Stärke für einen solchen Dschihad besitzen bzw. ob diesem andere Gründe entgegenstehen, obliege dem Regenten eines islamischen Staates, der in Konsultation mit den Repräsentanten der umma darüber entscheiden solle.16 Apologeten dieser Lesart, wie etwa Ibn Baz, sind der Ansicht, dass sich die in der mekkanischen Periode offenbarten Koranstellen zum bloßen Ruf zum Islam (daʿwa) und die späteren aus der medinensischen Phase, die zum bewaffneten Dschihad aufriefen, nicht widersprächen. Vielmehr seien sie unter unterschiedlichen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten herabgesandt worden. Wie in der Frühzeit des Islam dürften Muslime zu Zeiten und an Orten, wo sie schwach seien, auf den offensiven Dschihad verzichten, insbesondere aufgrund der bereits seit Jahrhunderten zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Staaten abgeschlossenen Friedensverträge und der in der Folge dessen bestehenden diplomatischen Beziehungen. Diese Distanzierung vom gewaltverbundenen Dschihad wurde vor allem betont seit 9/11 – und der darauffolgenden Kritik »westlicher« Staaten an den zur Gewalt gegen »Ungläubige« aufhetzenden Fatwas seitens muslimischer Gelehrter, vor allem Saudi-Arabiens.17 Insbesondere in Bezug auf Muslime in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften wird die daʿwa mit Worten und mittels eines beispielhaften Lebensstils als effektivstes Mittel zur Verbreitung des Islam angesehen.18 Die Salafisten Deutschlands, vor allem die Puristen und der Mainstream, folgen nach Wiedls Darstellung größtenteils dieser Strategie:
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führung (zum Unglauben) ist schlimmer als Töten.«; 9:36: »Und bekämpft die Götzendiener allesamt, wie sie euch allesamt bekämpfen; und wisset, daß Allah mit denjenigen ist, die Ihn fürchten.« Der oben genannte Vers besagt: »Euch ist vorgeschrieben, (gegen die Ungläubigen) zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch ist. Allah weiß Bescheid, ihr aber nicht.« Vgl. Ibn Baz: Laisa l-jihād, in: www.ibnbaz.org.sa (abg. am 20.04.2019). Dazu schreibt Ibn Baz, dass »der Befehl zum (bewaffneten) Dschihad graduell offenbart wurde. Zunächst gestattete [Gott] Muslimen, den Dschihad zu führen. Dann […] befahl er ihnen, diejenigen zu bekämpfen, die gegen sie kämpfen, und […] danach schrieb er ihnen den initiierten und den Verteidigungskampf vor.« Ibn Baz: Majmūʿ fatāwā wa-maqālāt, S. 53. Weiterführend dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 233ff. Vgl. Ibn Baz: Laisa l-jihād, in: www.ibnbaz.org.sa (abg. am 20.04.2019). Ausführlich dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 235f. Siehe Peters: Dschihad, v.a. S. 80-81 u. 59-102. Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 233.
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»Eine bedingungslose Ablehnung der Gewalt gegen Andersgläubige oder eine moralische Verurteilung dieser sucht man in Vorträgen deutscher Salafiprediger vergebens. […] Deutsche Mainstream-Salafiprediger [lehnen] Gewalt gegen Nichtmuslime primär aus taktischen oder an die gegebenen Umstände gebundenen islamrechtlichen Gründen ab […]. Vogel begrenzt die Legitimität des bewaffneten Kampfes gegen diese [Nichtmuslime] auf Situationen, in denen sie Muslime unterdrücken, an der daʿwa hindern oder einen Angriff auf Muslime planen. Dabei verurteilt er die Praxis der selektiven und dekontextualisierten Zitation koranischer Verse, die insbesondere Jihādisten oft zur Legitimation ihres Kampfes dient.«19 Hingegen verstehen dschihadistische Salafisten die göttliche Offenbarung vollumfänglich buchstabengetreu, einschließlich der gewaltbefürwortenden Koranstellen. Entsprechend begreifen sie den Dschihad als islamisches Ritual und verpflichtende Säule der Anbetung Gottes neben den fünf bekannten Grundpfeilern des Islam; dies soll ihnen dazu dienen, Muslime für den bewaffneten Kampf zu mobilisieren. Yūsuf al-ʿUyayree (gest. 2003), Anführer der al-Qaida in Saudi-Arabien, schreibt bspw. in Bezug auf den o.g. Koranvers 2:216, dem zufolge der Dschihad eine Pflicht sei, Folgendes: »Diese Aya [Koranstelle] ist ein Befehl für Muslime. Viele sagen, vor dem jihād müsse tarbiya kommen […]. Andere sagen, wir sind in der mekkanischen Phase, deshalb solle es keinen Kampf geben. Ist das gerechtfertigt? Wenn jemand beginnt, den Islam zu praktizieren oder zum Islam zurückkehrt, würden wir ihnen sagen, dass sie tarbiya benötigen, bevor sie fasten? Oder dass wir jetzt in der mekkanischen Phase sind und daher das Fasten nicht nötig ist? Es gibt keinen Unterschied zwischen dieser Angelegenheit und dem jihād fī sabīli-llāh [Dschihad für die Sache Gottes].«20 Im Unterschied dazu sind Vertreter des institutionellen Islamismus bemüht, den Koran in Anpassung an die aktuellen Entwicklungen und Veränderungen neu zu 19
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Ebd., S. 239. Salafistische Mainstream-Prediger Deutschlands unterstützen ihre Absage an politische Gewalt oft mit einer kontextualisierten Interpretation von Koranversen, die zum Kampf gegen Ungläubige aufrufen. Vgl. u.a. Vogel: Einführung in die Methodik, in: www.youtube.com (abg.am 20.04.2019); Wiedl: Außenbezüge, S. 60; mehr dazu in Kap. V, Abschn. 2.4.7. Zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 88. Im Original heißt es: »This ayah is a command to the Muslims to fight. On a side note, many Muslims and Islamic Jamaʿat say that before we do Jihad, there must be tarbiyyah. The way they present this idea is that they say the following: Tarbiyyah is a prerequisite of Jihad; therefore without tarbiyyah you cannot do Jihad. In other words, they say tarbiyyah is mandatory before Jihad. Others say, ›We are in the Meccan stage, therefore there should not be any fighting.‹ Is this justified? Is there a justification for delaying Jihad fe Sabeelillah?« al-ʿUyayree: Constants on the Path of Dschihad, S. 13.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
lesen, um der von ihnen bejahten Vereinbarkeit von Islam und Moderne gerecht zu werden. Dabei wird zwischen historischen und überhistorischen Aussagen des Koran differenziert. Dies beschränkt sich bei ihnen nicht nur auf die Dschihad-Verse, wie bei den Salafisten, sondern erstreckt sich auf eine Vielzahl von Koranstellen. Demnach gibt es einige Koranstellen ahistorischen Charakters, wohingegen der Rest den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten unterliegt und somit je nach Kontext neu ausgelegt werden darf. Wenngleich Islamisten eine neue Lesart der Offenbarung unterstützen, unterstreichen viele von ihnen, allen voran al-Qaradawi, oftmals die Unantastbarkeit bestimmter Koranstellen und erachten infolgedessen die daraus entnommenen Normen als unveränderbar und ewig gültig. Dazu zählen sie Bereiche der Scharia wie etwa das Erb-, Straf- (aḥkām al-ḥudūd), Vergeltungs(aḥkām al-qiṣāṣ) und Familienrecht.21 Es bleibt fraglich, ob die Bemühungen vieler Islamisten, Islam und moderne Grundwerte miteinander in Einklang zu bringen, überzeugende bzw. erfolgreiche Konzepte darstellen. An vielen Stellen kollidiert ihr Islamverständnis eindeutig mit Menschenrechtsnormen wie etwa der individuellen Freiheit, der Toleranz und der Gleichberechtigung. Auf unterschiedliche Art und Weise treten wieder andere Repräsentanten des islamistischen Spektrums, wie etwa al-Ghannūshī und at-Turābī, dafür ein, die umstrittenen Koranstellen zur Stellung der Frau, zu Körperstrafen usw. im Einklang mit den Normen und Werten der Menschenrechte zu interpretieren.22 Der institutionelle Islamismus umfasst demnach unterschiedliche Tendenzen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.23 Neben den zwei oben angeführten Denkrichtungen des Salafismus und Islamismus gibt es weitere prominente muslimische Intellektuelle, die sich auf der Basis linguistischer oder historisch-kritischer Methoden für eine Neuinterpretation des gesamten Koran stark machen, wie etwa Abu Zaid und Shahrur. Sie sprechen von einer Historisierung der islamischen Offenbarungstexte. Der Koran sei in einer bestimmten historischen Situation und in der Sprache jener Zeit entstanden. Die Notwendigkeit, den Koran ständig und dann jeweils zeitgemäß zu interpretieren, ergebe sich folgerichtig aus den unentwegten Veränderungen und Entwicklungen des Lebens. Für Vertreter dieser Denkschule hätten die aus dem Koran entnommenen Rechtsnormen keine ewige Gültigkeit. Vielmehr sind einschlägige Koran-
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Vgl. al-Qaradawi: Min ajli ṣaḥwa, S. 44f.; ders.: Tajdīd ad-dīn, S. 26; El-Wereny: Reichweite, S. 78. Ihre entsprechenden Ansichten können hier nicht näher dargestellt werden. Vgl. weiterführend dazu u.a. al-Ghannūshi: Muqārabāt fī l-ʿalmāniyya, 9ff., 29ff.; Tamimi: Rachid Ghannouchi, passim; Preuschaft: Tunesien als islamische Demokratie?, passim; Burr/Collins: Revolutionary Sudan, S. 55ff.; Turabi: Women in Islam, in: www.soundvision.com (abg. am 19.03.2019). Vgl. mehr dazu z.B. Hasche: Quo vadis, S. 199ff, 235ff., 315ff.; Tibi: Islam and Islamism, S. 94ff., 225f.
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aussagen wie etwa zu ḥudūd-Strafen zeit- und ortsgemäß auszulegen.24 Abu Zaid insistiert, dass der Koran nur über religiöse Autorität und ethische Handlungsorientierung verfüge. Er solle nicht als Bezugsrahmen für neue Erkenntnisse wie etwa in der Politik, der Geschichte oder der Physik dienen. Die Überzeugung, dass der Koran bereits alle Wahrheiten enthalte, sei gefährlich, »[…] gefährlich für die Vernunft und das Bewußtsein der Muslime –, denn es führt zu zweierlei: zum einen wird die Bedeutung der menschlichen Vernunft herabgesetzt und damit die Rückständigkeit zementiert, und zum anderen verwandelt sich der Koran aus einem Offenbarungstext in einen politischen, wirtschaftlichen oder juristischen Traktat. Dadurch aber verliert der Koran etwas Wesentliches, nämlich seine spezifisch religiöse, spirituelle und in einem allgemeinen Sinne ethische Dimension.«25 Der Grund, warum Salafisten, neben vielen anderen Muslimen, eine historische Lesart des Koran ablehnen, wird darauf zurückgeführt, dass sie an den Koran als »exakten Wortlaut Gottes« glauben und es geradezu als Sünde erachten, an diesem Glaubensgrundsatz zu zweifeln. Anknüpfend an die muʿtazilitische Position zur Koranexegese sieht Abu Zaid den Koran indes eher als »[…] Ergebnis einer göttlichen Eingebung als den exakten göttlichen Wortlaut […]. An dem, was der Koran heute ist, war Mohammed wesentlich beteiligt. Als Adressat von Gottes Wort hat er in die Offenbarung in vielfältiger Weise Eingang gefunden.«26 Inhaltlich habe er zwar nichts umgeschrieben, bisweilen aber ein einzelnes Wort durch ein anderes ersetzt, um das Verständnis schwer verständlicher Begriffe zu erleichtern. Der Koran habe somit keinen transzendenten Charakter mehr und sei für rationale Analysen und Interpretationen zugänglich. Nicht nur auf Grundlage der Historisierung will Abu Zaid den Koran zeit- und ortsgemäß verstanden wissen, sondern verweist auch auf die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Koran, die unterschiedliche Interpretationen zulassen – in dieser Hinsicht unterscheidet man zwischen eindeutigen oder mehrdeutigen Versen des Koran. Darin sieht er eine weitere Argumentationsstütze für die von ihm geforderte zeitgemäße Lesart des Koran, je nach sozio-politischen und kulturellen Umständen der jeweiligen Interpreten.27 In Anlehnung an die Theorie seines Lehrers Maḥmūd Ṭāhā (gest. 1985) bewegt sich Abdullahi an-Naʿīm (geb. 1946) auf der gleichen Ebene. Er differenziert zwischen den Koranstellen, die in Mekka und jenen, die später in Medina offenbart 24 25 26 27
Für mehr dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 77ff. Abu Zaid: Ein Leben mit dem Islam, S. 49f.; ähnlich ders./Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 58-77. Weiterführend dazu statt vieler Amirpur: Den Islam neu denken, S. 57-90. Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 72-77. Vgl. weiterführend dazu Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 78ff. Zu Bedeutungsebenen des Koran siehe statt vieler Kinberg: Muḥkamāt and Mutashābihāt, S. 143172.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
worden sind. Erstere seien ahistorisch, da sie Fragen des Glaubens beantworteten. Letztere unterlägen indessen zeitlichen und örtlichen Umständen und dürften daher je nach Zeit und Ort reinterpretiert werden. Denn die medinensischen Verse beschäftigten sich mit der Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Gegebenheiten des siebten Jahrhunderts.28 Entsprechend wird die Behandlung heute umstrittener Fragen in den medinensischen Versen, wie die der Rolle der Frau als Zeugin vor Gericht sowie der Körperstrafen und Erbangelegenheiten, als Teil der islamischen Geschichte betrachtet, der heute keine autoritative Gültigkeit mehr haben sollte. Einschlägige koranische oder prophetische Aussagen seien an den damaligen Kontext, d.h. den des siebten Jahrhunderts, gebunden.29
Die Sunna Vom salafistischen sowie auch allgemein muslimischen Standpunkt aus betrachtet, stellt die Sunna, d.h. Aussagen, Handlungen und stillschweigende Einverständnisse des Propheten Muhammad, nach dem Koran die zweite Quelle der islamischen Glaubens- und Pflichtenlehre dar. Da der Koran eine beschränkte Quantität an gesetz- bzw. normgebenden Aussagen aufweist, nimmt die Sunna eine besondere Stellung in der Beantwortung von Fragen unterschiedlicher Art ein. Die Autorität (ḥujjiyya) der Sunna als Rechtsquelle wird mit zahlreichen Belegen aus dem Koran, der Sunna selbst sowie mit Verweis auf den Konsens früherer Gelehrter (ijmāʿ) gerechtfertigt. So heißt es z.B. »Gehorchet Gott und dem Gesandten […].«30 und »[w]enn einer dem Gesandten gehorcht, gehorcht er (damit) Gott.«31 Die salafistische Auslegung sieht in diesen und ähnlichen Versen die unmissverständliche Aufforderung an die Muslime, die Sunna des Propheten zu befolgen. Daran sei nichts zu rütteln, da auch Muhammad selbst verkündet habe: »Wer mir folgt, der folgt somit Gott und wer mir zuwiderhandelt, der handelt Gott zuwider.« Ferner: »Ich habe euch zwei wertvolle Dinge hinterlassen. Solange ihr euch an sie haltet, werdet ihr niemals auf Abwege geraten: das Buch Gottes und die Sunna Seines Propheten.«32 Salafistische Autoritäten orientieren sich an der bloßen Vielzahl solcher koranischen und prophetischen Beweise (d.h. Textbelege) für die Rechtfertigung der
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Für Näheres dazu an-Naʿim: Islam and the Secular State, S. 134f.; El-Wereny: Normenlehre, S. 141f. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, passim; El-Wereny: Reichweite, S. 80f. Koran 5:92. Dieser Abschnitt basiert zum Teil auf einem veröffentlichten Aufsatz des Autors. Vgl. El-Wereny: ›Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott‹, S. 120-147. Koran 4:80. Siehe für weitere Belege aus dem Koran und der Sunna Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 9ff., ders.: as-Sunna wa-makānatuhā, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 01.11.2017); al-Albānī: Manzilat assunna, passim; az-Zuḥailī: Uṣūl al-fiqh, S. 455f.; al-Qaradawi: al-Madkhal, S. 70f.
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Normativität der Sunna. Dabei entziehen sie sich der Aufgabe, die Deutung dieser Verse irgendwie zu begründen, um ein möglicherweise kontextwidriges Verständnis zu vermeiden. Um diese Bedeutung zu unterstreichen, argumentieren sie, dass die Sunna schon zu Lebzeiten des Propheten Muhammad normative Kraft besessen habe. So habe er bspw. seinen in den Jemen gesandten Richter Muʿādh b. Jabal (gest. 639) gefragt, wonach er sich richten würde, wenn er im Koran keine Antwort fände. Als Muʿādh erwiderte: »Nach der Sunna«, habe ihm Muhammad als stillschweigendes Einverständnis auf die Brust geklopft. Mit solchen Überlieferungen wird argumentiert, dass die Sunna bereits zu Lebzeiten des Propheten unter seinen Gefährten einen hohen normativen Stellenwert hatte.33 Weiterhin wird die Bezeichnung der Sunna im Koran als ḥikma (»Weisheit«) herangezogen, um ihre normative Autorität zu bekräftigen. Dabei beruft man sich auf ash-Shāfiʿī (gest. 820), Namensgeber der schafiitischen Rechtsschule. Dieser hat als erster den Stellenwert der Sunna systematisch thematisiert und ihr unter Berufung auf einschlägige Koranstellen einen normativen Charakter zugesprochen. Im Koran 4:113 heiße es u.a.: »Und Gott hat die Schrift und die Weisheit auf dich [Muhammad] herabgesandt und hat dich gelehrt, was du (bisher) nicht wusstest.«34 Nach salafistischem Verständnis sowie der Mehrheitsmeinung muslimischer Gelehrsamkeit legen diese koranischen und prophetischen Aussagen offen, dass die Sunna ein autonomes Rechtsargument für die Begründung von Normen darstelle, wenngleich dabei keine Differenzierung zwischen der Sunna Muhammads als Gesandter und als Prophet vorgenommen wird, wie im Folgenden näher dargelegt wird.35 Der Sunna wird von Seiten der Salafisten eine solche Bedeutung beigemessen, weil sie die darin überlieferten Aussagen und Handlungen des Propheten als göttlich inspiriert ansehen, womit diese dann zu einer Art »göttlichen Offenbarung« (waḥyun min allāh) werden. Als solche sei die Sunna dann wie der Koran vor Verfälschungen und Verdrehungen bewahrt. Untermauert wird diese Position mit dem Koranvers 53:3-4: »Und er [Muhammad] spricht nicht aus (persönlicher) Neigung. Es ist nichts anderes als eine inspirierte Offenbarung«36 , sowie mit folgender Aussage des Propheten:
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Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 11, 14; al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 68f. Aus westlicher Perspektive gesehen, hat sich das Konzept der Sunna des Propheten als anerkannter Rechtsquelle erst sehr viel später entwickelt. Für Näheres dazu siehe Schacht: The Origins, S. 58-80f.; Krawietz: Hierarchie, S. 123. Ähnlich Koran 3:164, 33:34 und 62:7. Vgl. weiterführend dazu ash-Shāfiʿī: ar-Risāla, S. 456ff. Wentzel: Die Sunna, S. 57. Ausführlich dazu El-Wereny: ›Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott‹, S. 123-126. Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S. 285; ders.: Wujūb al-ʿamal, S. 18f.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
»Wahrlich, mir wurde der Qurʾān gegeben und etwas Ähnliches mit ihm. Bald schon wird ein Mann sagen, während er sich zufrieden auf seiner Ruhestätte zurücklehnt: ,Folgt diesem Qurʾān. Was immer ihr darin erlaubt findet, betrachtet es als erlaubt, und was immer ihr darin verboten findet, betrachtet als verboten.‹ Wahrlich, was Allahs Gesandter verboten hat, ist wie das, was Allah verboten hat!«37 Auf diese Weise wird die Sunna nicht als Sammlung willkürlicher Aussprüche und Handlungen irgendeines Menschen aufgefasst, vielmehr wird sie zur göttlich inspirierten Quelle zur Vervollkommnung der göttlichen Botschaft erhoben. In diesem Sinne werden Überlieferungen, in denen Muhammad ausdrücklich darauf aufmerksam macht, dass er nur ein Mensch sei und sich deswegen in einigen seine persönliche Meinung betreffenden Angelegenheiten irren könne, von den Salafisten als Ausnahmen deklariert. Ansonsten seien in der Regel alle Äußerungen Muhammads von Gott offenbarte Sunna, welche zu befolgen sei. In dieser Sichtweise wird die Sunna als Ergebnisse göttlicher Inspiration definiert, wobei darunter nicht nur die Aussagen Muhammads, sondern auch seine Taten und seine Billigung bzw. Missbilligung von sich in seinem Beisein ereignenden Handlungen verstanden wird. Um die Sunna dann von der koranischen Offenbarung zu unterscheiden, nennt man sie »waḥyun ghair matlūw«, d.h. »nicht rezitierte Offenbarung, deren Bedeutung göttlich inspiriert ist, deren Wortlaut jedoch vom Propheten stammte.«38 Auch der ʿiṣma, das Konzept der Unfehlbarkeit des Propheten Muhammad, wird als weiteres Argument für die Bestätigung der Normativität und Authentizität der Sunna angeführt:39 Demensprechend sei es unmöglich, dass sich in der Sunna Fehler befinden könnten, denn bei ihr handele es sich um göttliche Eingebung, die durch den unfehlbaren Muhammad übermittelt worden sei. Das heißt, das Dogma der Unfehlbarkeit wird mit der Notwendigkeit einer unfehlbaren Übermittlung der Offenbarung und der religiösen Normen (aḥkām) verknüpft.40 Doch für das Gedankengebäude der Salafisten stellt sich nicht nur das Problem, die Unfehlbarkeit des Propheten argumentativ zu beweisen. Darüber hinaus müssen sie auch begründen, dass die Hadithe und ihre Erzählungen über Muhammad authentische und wahrheitsgetreue Textzeugnisse sind, und nicht etwa literarische Ausschmückungen oder gar Erfindungen. In diesem Zusammenhang argumentiert man damit,
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Wentzel: Die Sunna, S. 58; Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S, 285; ders.: Wujūb al-ʿamal, S. 18f. Folgende Überlieferung wird u.a. in diesem Zusammenhang angeführt: »Ich bin nur ein Mensch: Was ich euch von Gott her erzähle, entspricht ganz der Wahrheit und was ich euch dazu sage, was von mir selbst stammt, so bin ich doch nur ein Mensch, der sich mal irrt und mal richtig liegt.« Mehr dazu Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 18f.; ders.: Fatāwā l-lajna, Bd. S, 4, S. 285; Wentzel: Die Sunna, S. 59. Siehe mehr dazu Madelung: ʿIṣma, S. 102-107. Vgl. weiterführend dazu Brown: Rethinking Tradition, S. 60ff.
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dass die Sunna bereits zu Lebzeiten des Propheten niedergeschrieben worden sei. Dazu berufen sie sich auf viele Berichte, denen zufolge Muhammad seinen Gefährten erlaubt haben soll, seine Aussagen zu fixieren. ʿAbdallāh b. ʿAmr (gest. 683) soll bspw. alles, was er vom Gesandten Gottes hörte, verschriftlicht haben. Als er davon abgehalten worden sei, mit der Begründung, dass der Prophet nur ein Mensch sei und möglicherweise Dinge im Zorn und vor Freude sage, erwähnte er diesen Einwand gegenüber dem Propheten. Darauf soll Muhammad erwidert haben: »Schreibe, denn bei Dem, in Dessen Hand meine Seele liegt, nichts kommt dort heraus (und dabei zeigte er auf seinen Mund) außer der Wahrheit.«41 Unter Heranziehung dieser und anderer Berichte ist für Salafisten unzweifelhaft klar, dass der Verfassungsprozess der Sunna begann, während der Prophet noch lebte. Anschließend sei er nach seinem Tod intensiver weitergeführt worden, womit die Authentizität der Sunna einherginge.42 Salafisten sowie auch die Mehrheit muslimischer Gelehrter schreiben der Sunna in ihrem Verhältnis zum Koran drei Funktionen zu: Sie bestätige zum einen im Koran gesetzte Pflichten wie z.B. die Aufforderung zum Gebet und Fasten.43 Sie erkläre zum zweiten viele im Koran allgemein formulierte Aussagen und Vorschriften näher, woraus sich ein komplementäres Verhältnis von Sunna und Koran ergebe: Die Sunna sei demnach unerlässlich für ein ergänzendes und vollständiges Verständnis des Koran. Denn er weise viele Gebote bzw. Verbote auf, welche in der Form ihrer Umsetzung nicht eindeutig definiert seien. Auf welche Weise sie einzuhalten seien, erkläre die Sunna des Propheten, so z.B. das rituelle Gebet: der Koran stelle es als Pflicht vor, behandele aber nicht, wie es durchzuführen sei. Diese erklärende Rolle übernehme die Sunna des Propheten: »Ohne die Sunna hätten die Muslime nicht gewusst, wie viele Teile das Gebet umfasst. Sie hätten zudem nicht um die einzelnen Normen zum Fasten, zur Almosenabgabe und Pilgerfahrt gewusst.«44 Demnach fungiert die Sunna für salafistisch bzw. traditionalistisch gesinnte Autoren als Bestätigung und Erklärung der bereits im Koran erwähnten Normen
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Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 17. Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 17; weiterführend dazu Azami: Studies in Early Hadith Literature, S. 34-60. Viele Orientalisten vertreten die Ansicht, dass Hadithe in den ersten zwei Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung nur mündlich überliefert worden seien. Eine schriftliche Fixierung soll erst später vorgenommen worden sein. Zahlreiche muslimische wie nichtmuslimische Autoren widerlegen diese These. Vgl. z.B. Imtiaz: The Significance of Sunna, S. 129ff.; Zarabozo: The Authority and Importance of the Sunnah, passim; as-Sibāʿī: as-Sunna wa-makāntuhā, S. 211ff. Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 10f.; al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 99; ders.: alMadkhal, S. 69. Vgl. al-Albānī: Manzilat as-sunna, S. 6f.; Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 10f., 23f.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
und Regeln. Darüber hinaus vermag sie nach salafistischer Sichtweise, neue Normen und Gesetze zu begründen, für die im Koran keinerlei Grundlagen oder Belege vorliegen. Gerechtfertigt wird diese Position damit, dass es eine Vielzahl an Bestimmungen gebe, die ausschließlich anhand der Sunna nachweisbar seien, wie etwa die Steinigung des Ehebrechers, die Strafe für den Abfall vom Islam, das Erbverbot zwischen einem Muslim und einem Nichtmuslim, der Erbschaftsanteil von einem Sechstel für die Großmutter und das an Männer gerichtete Verbot, Gold und Seide zu tragen. Diese Bestimmungen und dergleichen mehr, für die sich keine Beweise im Koran finden lasse, bestätigen nach salafistischem Verständnis die Eigenständigkeit der Sunna für die Gesetzgebung.45 Trotz ihrem Konsens über die komplementäre Rolle der Sunna herrscht unter den Vertretern des Salafismus Uneinigkeit darüber, bis zu welchem Punkt die Eigenständigkeit der Sunna als gesetzgebende Quelle reicht. Sie bestätigt im Koran vorkommende Normen und Gesetze und hilft bei der Durchführung der Normen, die im Koran allgemein formuliert sind, aber hat sie auch die Autorität, vom Koran unabhängige Normen zu begründen? Oder ist der Koran die ausschließliche Quelle von Normen? Laut Ibn Baz genieße die Sunna Autonomie, neue Rechtsbestimmungen einzuführen, sei allerdings dem Koran untergeordnet, denn diese Autonomie entstehe aus der koranischen Anordnung, dem Gesandten zu gehorchen.46 Al-Albānīs Auslegung geht so weit, dass er dem Koran und der Sunna dieselbe Bedeutung einräumt. Beide seien für die Festlegung von Gesetzen und Normen heranzuziehen: »Es darf zwischen dem Koran und der Sunna in der Normensetzung keineswegs unterschieden werden. […] Beide sollten als eine Quelle (maṣdar wāḥid) ohne Unterschied hingenommen werden.« Im Zuge dessen erklärt er den oben genannten Hadith über Muʿādh b. Jabal, der in vielen Rechtswerken zitiert wird, um der Sunna den Rang einer dem Koran nachgeordneten Rechtsquelle zuzuweisen, für schwach. Während jene Überlieferung die Sunna zur zweiten Quelle nach dem Koran mache, soll Muhammad in einem anderen, nach Al-Albānīs Ansicht, authentischen Hadith gesagt haben: »Mir wurde der Koran gegeben und etwas Ähnliches mit ihm.« Eben dieses »Ähnliche« sei die Sunna des Propheten.47 Bei der Frage, welche Art der Sunna normgebende Autonomie besitzt, wird allgemein zwischen drei Kategorien unterschieden: (1) prophetischen Überlieferungen mit ununterbrochener Überlieferungskette (mutawātir) und einer Vielzahl von Übermittlern, (2) solchen aus Einzelüberlieferungen (āḥād), in welchen vom Anfang bis zum Ende der Überlieferungskette nur ein bis zwei Personen stehen, und (3) schwachen Hadithen (ḍaʿīf ), die möglicherweise erfunden (mauḍūʿa) sind
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Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 18f.; al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 100f. Vgl. al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 99f.; Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 13f. Beide Zitate sind al-Albānī: Manzilat as-sunna, S. 21f. entnommen. Ausführlich zu al-Albānī Amin: Nāṣiruddīn al-Albānī, S. 149-176; Meier: Nāṣir ad-Dīn al-Albānī, S. 69-71.
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oder eine unterbrochene Überlieferungskette aufweisen, da ein Übermittler fehlt oder unbekannt ist.48 Al-Albānī ist sich in diesem Zusammenhang der Notwendigkeit bewusst, die Glaubhaftigkeit der überlieferten Hadithe zu überprüfen, und warnt vor der Verwendung schwacher oder erfundener Hadithe zur Begründung von Normen.49 In diesem Sinne hat er sich dem Hadithmateriel zugewandt und ca. viertausend Überlieferungen herausgearbeitet und als schwach (ḍaʿīf ) bzw. erlogen (mauḍūʿa) bewertet.50 Ibn Baz zieht wohingegen neben der sunna mutawātira und der āḥādiyya auch die sunna ḍaʿīfa heran, um Fragen unterschiedlicher Art zu behandeln, vorausgesetzt, dass für den fraglichen Belang andere zusätzliche Belege vorlägen.51 Vor diesem Hintergrund werden viele prophetische Überlieferungen von Salafisten als authentisch hingenommen und die Umsetzung des darin Geforderten angestrebt. Nur Überlieferungen, die das Thema Dschihad ansprechen, werden vom puristischen und politischen Salafisten, wie oben schon im Blick auf den Koran gezeigt, als situationsbedingt verstanden.52 Autoren, die dem islamistischen Spektrum zugerechnet werden, wie etwa alQaradawi, erachten zwar auch die Sunna als zweitwichtigste Quelle islamischer Normen, machen sich aber im Gegensatz zu salafistischen Gelehrten für die genaue Untersuchung und Nachprüfung des gesamten Sunna-Korpus stark.53 Dafür schlägt al-Qaradawi einige Kriterien vor, die sowohl auf die Authentizität als auch den Inhalt der tradierten Überlieferungen anzuwenden seien. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Sunna müsse im Lichte des Korans gelesen und verstanden werden. Dabei sei es unerlässlich, die fundamentalen Ziele der Scharia (maqāṣid ash-sharīʿa), die hinter den göttlichen normativen Texten stehen, zu berücksichtigen.54 Zudem sei dem Kontext, d.h. dem sozialen und politischen Umfeld, in dem die Aussagen oder Handlungen Muhammads erfolgten, Rechnung zu tragen. Dabei müsse zwischen einerseits temporär (muʾaqqat) und andererseits überzeitlich (khālid) gültigen Hadithen unterschieden werden. Erstere seien entsprechend neuer, dem Wandel der Zeiten geschuldeter Gegebenheiten in ihrer Gültigkeit und Interpretation veränderlich, letztere verfügten hingegen über einen über der Geschichte stehenden Charakter und seien zeit- und ortsunabhängig bindend.55 Das heißt, bei der Behandlung von islamrechtlichen Fragen sollte den geschichtlichen Ereignissen Rechnung getragen werden. Es solle geprüft 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. z.B. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, S. 288f.; al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, 112f. Siehe weiterführend dazu z.B. Krawietz: Hierarchie, S. 135ff. Vgl. al-Albānī: Manzilat as-sunna, S. 19. Siehe dazu sein Werk Silsilat al-aḥādīth aḍ-ḍaʿīfa, 14 Bde. Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, S. 288-293. Vgl. z.B. Ibn Baz: Faḍl al-jihād, in: www.binbaz.org; weiterführend dazu Kap. V, Abschn. 2.4. Vgl. al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 90 und 113. Vgl. ebd., S. 207, 229f. Vgl. al-Qaradawi: Kaifa nataʿāmalu maʿa s-sunna, S. 145f., 159f. Weiterführend dazu El-Wereny: ›Islamic Law between Originality and Renewal‹, S. 8f.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
werden, ob die eine oder andere Überlieferung wegen eines damals verbreiteten, aber heute möglicherweise nicht länger gepflegten Brauches ausgesprochen worden sei. Ferner müsse zwischen rechtsrelevanten und -irrelevanten Überlieferungen differenziert werden, d.h., es müsse überprüft werden, ob der Prophet die eine oder die andere Aussage als Mensch, als Anführer der Gemeinschaft oder als Mufti und Richter getätigt habe.56 Folgendes Beispiel illustriert al-Qaradawis methodische Vorgehensweise: An einer Stelle verlautbart der Prophet, dass es Frauen verboten ist, ohne maḥram57 zu reisen. Dieser Hadith wird von Ibn Baz wörtlich verstanden, ohne auf seinen Kontext zu achten, woraus er folgert und fordert, dass auch heutige Frauen nur in Begleitung eines maḥram reisen dürfen.58 Al-Qaradawi jedoch vertritt die Meinung, dass der Hadith nur aus seinem textuellen und situativen Kontext heraus zu verstehen und zu deuten sei: So sei dieses Verbot in einer Zeit erlassen worden, in der es keine Massentransportmittel gab, sodass eine allein reisende Frau (khalwa) auf fremde Männer hätte treffen können (ikhtilāṭ). Dieser Umstand sei heute im öffentlichen Personennahverkehr kaum noch gegeben, wodurch die Grundlage des Verbots wegfalle.59 Obwohl sich viele Intellektuelle des Islamismus wie etwa al-Qaradawi für die Neubewertung der Sunna stark machen, sind ihre Ansätze meist alles andere als vielversprechend. So vollziehen sie zwar eine neue Deutung von vielen Prophetenaussprüchen, aber sie beschränken sich auf alltägliche Themen wie die Begrüßung zwischen Mann und Frau, das besagte Reisen der Frau ohne maḥram, die Arbeit der Frauen usw. Konfliktträchtige Fragen, z.B. zu Körperstrafen (ḥudūd) oder zur Gleichheit von Mann und Frau, werden als fest verankert in der Scharia gesehen und seien von Zeit und Ort unabhängig gültig, auch wenn sie nur auf der Sunna gründen.60 Zeitgenössische Intellektuelle wie Shahrur und Abu Zaid weisen im Gegensatz zu Vertretern des Salafismus und des Islamismus die Funktion der Sunna als normgebende Quelle zurück.61 Shahrurs Ansatz für den Umgang mit der Sunna liegt in der Differenzierung zwischen der Sunna des Propheten (as-sunna an-nabawiyya) und der des Gottgesandten (as-sunna ar-rasūliyya). Erstere umfasst Muhmmads Aussagen und Handlungen als Mensch, Heerführer, Richter und Prophet. Diese 56 57
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Vgl. al-Qaradawi: Kaifa nataʿāmalu maʿa s-sunna, S. 113, 145; ders.: al-Madkhal, S. 117. Maḥram, Pl. maḥārim, bezieht sich hier auf einen Mann, der mit der Frau in einem Verwandtschaftsverhältnis steht, das eine Ehe zwischen den beiden für immer ausschließt. Der Prophet habe vorbeugend bereits gesagt: »Eine Frau darf nur reisen, wenn ein maḥram dabei ist.« Ibn Baz: Mā ḥukm safar al-marʾa, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 22.09.2017). Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, S. 288-293. Vgl. z.B. al-Qaradawi: Ḥajj al-marʾa, in: www.qaradawi.net (abg. am 15.09.2017). Vgl. z.B. al-Qaradawi: Jarīmat ar-ridda, passim; ausführlich dazu u.a. Krämer: Drawing Boundaries, S. 181-214; El-Wereny: Mit Tradition in die Moderne?, S. 60ff., 319f. Vgl. Shahrur: as-Sunna ar-rasūliyya; Abu Zaid: al-Imām ash-Shāfiʿī. Ausführlich dazu El-Wereny: ›Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott‹, S. 131-140.
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wiederum werden in zwei Kategorien unterteilt: (1) Muhammadanische Geschichten (qaṣaṣ muḥammadī), welche über Muhammads Leben selbst sowie über andere Propheten und Völker berichten, und (2) ijtihādāt an-nabī, d.h. die Erklärungen und Lösungsansätze Muhammads zu neu aufgetretenen Fragen unterschiedlicher Natur. Bei den Geschichten handele es sich in keiner Weise um Normen oder normgebende Quelle, sondern lediglich um Ermahnungen und Ratschläge. Der ijtihād des Propheten sei ebenfalls nicht als normative Quelle anzusehen, auch wenn einschlägige Überlieferungen authentischer Natur seien. Denn bei solchen prophetischen ijtihād-basierenden Normen handele es sich um eine zivile Ordnung (qānūn madanī), die entsprechend den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten des siebten Jahrhunderts, also auf die damalige arabische Gesellschaft bezogen, erlassen worden und daher mit Veränderung von Zeit und/oder Ort modifizierbar sei. Solche Beschlüsse seien selbst im Fall einer vollkommen authentischen Überlieferung nicht unvergänglich gültig.62 Damit sie rechtskräftig werden, müssten Belege aus dem Koran angeführt werden, oder sie sollten wenigstens mit seinen Prinzipien übereinstimmen. Auf diese Weise könne man z.B. argumentieren, dass das Verbot vom Verzehr von Hauseselfleisch, wie sie in einer Überlieferung vorkommt, zu übernehmen sei, weil sie mit den Grundlagen des Koran nicht kollidiere. Gleiches sei auch bei der Überlieferung zum Streichen über die Fußkleidung bei der Gebetswaschung, statt die Füße zu waschen, anzuwenden, denn diese stimmt mit dem Prinzip der Erleichterung (taisīr) aus dem Koran überein. Traditionen zur Bestrafung von Ehebrechern oder Konvertiten hingegen seien nicht mit der Anschauung des Koran vereinbar, weswegen sie als prophetische ijtihādāt in ihrem Kontext eingebettet zu lesen seien. Shahrur zeigt damit, dass er die Autorität der Sunna des Propheten nur für die Zeitgenossen Muhammads für geltend hält.63 Was die sunna rasūliyya anbelangt, so setzt Shahrur sie mit dem Koran gleich, d.h., Muhammad wird in diesem Kontext als Gesandter Gottes angesehen, der die göttliche Offenbarung überbrachte und die göttlichen Bestimmungen verkündete.64 Die von ihm in dieser Funktion verlautbarten Normen und Regelungen teilt Shahrur in drei Gattungen ein: Shaʿāʾir (»Rituelles«), qiyam (»Werte«) und ḥudūd (»Grenzen«).65 Die rituelle Praxis wie etwa das fünfmalige Gebet am Tag, das Fasten, die Almosenabgabe (zakāt) und die Pilgerfahrt habe Muhammad nicht als gewöhnlicher Mensch vollzogen, sondern als Gesandter Gottes und Überbringer der Offenbarung. Deshalb müsse man diese ʿibādāt auf dieselbe Weise ausführen. Jeder Muslim habe bspw. genauso zu beten, wie es der Gesandte getan habe. Hierbei gelte er als unfehlbar (maʿṣūm). Ihm dabei Folge zu leisten, sei eine Pflicht, wie es 62 63 64 65
Vgl. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 150f. Vgl. Shahrur: as-Sunna ar-rasūliyya, S. 99-105; ders.: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 545ff.; ders.: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 197f. Vgl. Shahrur: as-Sunna ar-rasūliyya, S. 99-105. Vgl. ebd., S. 118ff., 138ff., 140ff.; ders.: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 150.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
im Koran mehrfach bestätigt sei: »Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott und dem Gesandten« (4:59), »Verrichtet das Gebet und gebt die zakāt und gehorcht dem Gesandten«66 und »Im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes Beispiel«.67 Diese und andere Koranverse erlegen, nach Shahrurs Darstellung, den Muslimen auf, sich den Gesandten Gottes als Vorbild zu nehmen und diesem absoluten Gehorsam zu leisten, sei es auf ritueller oder moralischer Ebene. Die Befolgung anderer Anweisungen zur Ritualpraxis, die darüber hinausgehen, erachtet Shahrur als fakultativ. In diesem Sinne ist Shahrur bezüglich der ḥudūd nicht der traditionellen Auffassung, dass es sich bei ihnen um physische Körperstrafen handeln müsse, wie es heute von vielen Muslimen, allen voran den Salafisten, verstanden wird. Vielmehr interpretiert er die ḥudūd terminologisch im Sinne von »Grenzen«, die durch göttlich verlautbarte Erlaubnisse und Verbote gezogen seien. Hielte man sich an diese Begrenzungen, werde man am Tag des Jüngsten Gerichts belohnt. Übertrete man sie, werde man bestraft.68 Folglich rechnet er der Sunna nur ihre Funktionen als Bestätigung und Erklärung des Korans an, indessen nicht als eigenständige Quelle für Rechtsschlüsse, ganz besonders nicht, wenn diese den Prinzipien des Koran widersprechen würden.69 Unter Verweis auf den Koranvers 4:14: »Wer Gott und Seinem Gesandten den Gehorsam versagt und Seine Grenzen übertritt, den führt Gott in das Höllenfeuer […].« argumentiert Shahrur zudem, dass niemand von Gott das Recht bekommen habe, unvergängliche Ge- oder Verbote anzuordnen. Wären die Aussprüche und Handlungen Muhammads verpflichtend zu befolgen, so hätte der Vers gelautet: »[…] und ihre Grenzen […].« Shahrur möchte mit dieser Auslegung keineswegs alle Sunna-Überlieferungen für nichtig erklären, sondern darauf hinweisen, dass das tradierte Hadith-Material sowohl inhaltlich (matn) als auch formal (sanad) auf der Höhe der Zeit zu lesen und dementsprechend neu zu bewerten sei: »Gibt es darunter Berichte, die uns auch in der Gegenwart noch nützlich erscheinen, dürften wir diese übernehmen. Was uns aber nicht mehr nützlich erscheint, sollten wir beiseitelassen.«70 Im gleichen Sinne meint Abu Zaid, dass die Sunna des Propheten nur bindend sei, wenn sie bereits im Koran erwähnt bzw. bestätigt worden sei oder mit dessen Normen und grundlegenden Prinzipien nicht kollidiere.71
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Koran 24:56. Zitiert nach Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 551; ders.: as-Sunna ar-rasūliyya, S. 120ff. Koran 33: 21. Zitiert nach Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 550. Vgl. ausführlich dazu Shahrur:as-Sunna ar-rasūliyya, S. 140ff.; ders.: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 453ff. Ähnlich in al-Bannā: Naḥwa fiqh jadīd, S. 202; ähnlich Abu Zaid: al-Imām ash-Shāfiʿī, S. 90f. Für Näheres dazu El-Wereny: ›Ihr Gläubigen! Gehorcht Gott‹, S. 120-147. Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 552. Vgl. ausführlich dazu Abu Zaid: Naqd al-khiṭāb, S. 129f.
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Salafisten wie Ibn Baz kritisieren aufs Schärfste jene Autoren, die die Sunna kritisch betrachten oder ihre Beweiskraft als unabhängige Normenquelle in Abrede stellen, und gehen damit auf Konfrontationskurs zu Ansätzen reformorientierter Autoren wie Shahrur und Abu Zaid.72 Sie argumentieren, dass eine solche Haltung gegenüber der Sunna konsequenterweise dazu führe, viele Scharia-Normen zurückzuweisen. Ibn Baz geht so weit, jeden, der die Autorität der Sunna als Rechtsquelle abstreitet, für »ungläubig« (kāfir) zu erklären.73 Auch al-Qaradawi verurteilt jene, die die Normativität der Sunna bestreiten. Er lehnt sich mit der Behauptung, dass Leute, die die Sunna nicht als Normenquelle sehen, ungenügende Kenntnisse über den Islam aufweisen, weit aus dem Fenster. Für ihn gibt es zahlreiche Beweise für die rechtliche Autorität der Sunna. Wer das Gegenteil behaupte, liefere nur Scheinargumente, die einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhielten und allesamt zurückzuweisen seien.74 Deutsche Salafisten bewegen sich in ihrer Kritik an Reformdenkern und solchen, die in der Sunna keine autonome Rechtquelle sehen, auf der gleichen Linie: Vogel sieht in einem solchen Umgang mit der Sunna einen Angriff auf den Islam und lehrt Muslime zahlreiche Argumente zur »Verteidigung der Sunna«, d.h. zur Widerlegung der Argumente islamischer Reformdenker und zur Vermittlung des salafistischen Sunna-Verständnisses stattdessen. Auch setzt er sich dafür ein, dass die Sunna als eine unentbehrliche und verbindliche Quelle im Islam betrachtet wird; sie sei notwendig, um nicht nur den Koran zu erklären und so zu verstehen, wie ihn der Prophet und seine Gefährten verstanden hätten, sondern auch, um Antworten auf durch den Koran nicht behandelte Fragen zu geben.75 Auf der Basis einer solcher überwiegend unreflektierten Übernahme und wortgetreuen Befolgung der Hadithe des Propheten durch Anhänger des Salafismus werden, wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, überkommene, vermeintlich auf der Sunna basierende und Menschenrechte verletzende Rechtsbestimmungen befürwortet.76 In diesem Sinne erfährt die Rechtsstellung der Frau
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Shahrurs und Abu Zaidas Konzepte zum Umgang mit den Quellentexten – in ihren Schriften widmen sie sich auch der Frage der Re-Interpretation des Koran anhand von modernen hermeneutischen Methoden – erregten zwar Aufmerksamkeit und sorgten auch für positive Reaktionen, stießen aber mehr noch auf Ablehnung und scharfe Kritik. Vgl. dazu bspw. al-Jābī: al-Qirāʾa al-muʿāṣira; ʿImrān: al-Qirāʾa al-muʿāṣira; ʿAbdallāh: al-Ḥadātha, passim, z.B. S. 238f. Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-ʿamal, S. 30. Vgl. al-Qaradawi: al-Marjiʿiyya al-ʿuliyya, S. 82f.; weiterführend in El-Wereny: Mit Tradition in die Moderne?, S. 125ff. Vogel: Dawa Kurs 4 – Verteidigung der Sunna, in: www.youtube.com (abg. am 21.03.2019). Weiterführend dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 335ff. Vgl. z.B. Ibn Baz: ad-Dalīl ʿalā qatl al-murtadd, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 02.11.2017); ders.: Majmūʿ fatāwā, Bd. 2, S. 258f.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
bei Salafisten eine massive Benachteiligung. Auch wird eine ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Nichtmuslimen vertreten.77 Was das Aussehen betrifft, so hätten Männer Bärte zu tragen, die nach Möglichkeit nicht kürzer als eine Faustlänge sein sollten, sowie Hosen oder Übergewänder, welche nicht über die Fußknöchel herabreichen dürften. Für die Mund- und Zahnpflege empfehlen salafistische Gelehrte die Benutzung eines Zahnputzholzes (miswāk bzw. siwāk). Alles, was davon abweicht, wird als » unzulässige Neuerung« (bidʿa) abgewertet.78 Dadurch wollen sie möglichst das Leben des Propheten und seiner unmittelbaren Nachfolger imitieren. Diese Forderung nach einer Rückbesinnung hat auch politische, rechtliche, kulturelle und soziale Konsequenzen; sie beabsichtigt einen umfassenden Wandel der Gesellschaft nach islamischen Regeln. Ein solches Verständnis der islamischen Quellentexte steht nicht nur in vielen Fällen in Widerspruch zu den Menschenrechten, sondern läuft auch den Wertvorstellungen einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft zuwider.
2.
Der Eingottglaube in salafistischer Deutung
Ein weiteres gemeinsames Merkmal aller salafistischen Strömungen ist ihre nahezu gleichartige Glaubenslehre (ʿaqīda). Von einigen Autoren wie Wiktorowicz wird behauptet, dass alle Salafisten die gleiche Glaubenslehre verträten, was jedoch von anderen, wie Gharaibeh, infrage gestellt wird mit der Begründung, dass sich salafistische Autoritäten zu diesem Thema unterschiedlich äußerten und dementsprechend verschiedene Konzepte hinterließen.79 Klar indes ist, dass alle Salafisten das Anliegen eint, den Eingottglauben (tauḥīd) in den Mittelpunkt ihrer Glaubenslehre zu stellen und dabei der Tradition der salaf zu folgen. Der Eingottglaube nimmt im salafistischen Glaubenskonzept einen solch zentralen Platz ein, weil er als Stütze für salafistische Gelehrte und Prediger dient, den Menschen dazu anzuhalten, »sämtliche Bereiche und Handlungen des Lebens auf Gott hin auszurichten […]. Salafisten nutzen diesen starken aktionistischen Charakter dazu, ihre Anhänger zu politischen oder rituellen Handlungen zu drängen. Dabei wird nicht selten jede noch so geringe Handlungsform in Ritus und Alltag, wie etwa die korrekte Begrüßung von nicht-Muslimen, auf die ʿaqīda zurückgeführt, die bei ›nicht korrekter‹ Durchführung – oder gar bei ausbleibender Befolgung – auf einen mangelhaften Glauben verweist, folglich über die Gültigkeit des Muslim-Seins entscheidet und 77 78 79
Siehe z.B. Ibn Baz: Ḥum an-niqāb; ders.: Ḥukm al-muṣāfaḥa; ders.: Ḥukm qīyādat al-marʾa, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 11.09.2017). Siehe ausführlich dazu Kap. V, Abschn. 2.2.2 und 2.3. Vgl. Diaw: Salafismus, S. 121. Für Kleidungsvorschriften der Frau nach salafistischem Verständnis siehe Kap. V, Abschn. 2.3.2. Vgl. Gharaibeh: Zur Glaubenslehre des Salafismus, S. 106-131.
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Radikalisierung im Cyberspace
Salafisten damit ein wirkmächtiges Werkzeug zur sozialen Kontrolle an die Hand legt.«80 Das tauḥīd-Konzept, von dem Salafisten behaupten, dass die frommen Altvorderen es in dieser Form vertreten hätten, umfasst drei Bereiche: tauḥīd ar-rubūbiyya (»Gott ist alleiniger Schöpfer und Erhalter der Schöpfung«), tauḥīd al-ulūhiyya, auch tauḥīd al-ʿibāda genannt (»die alleinige Anbetungswürdigkeit Gottes«) und tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt (»Einheit der Namen und Eigenschaften Gottes«). Tauḥīd ar-rubūbiyya bedeutet das Bekenntnis dazu, dass Gott einzig und allein Schöpfer und Bewahrer des Universums und aller Geschöpfe ist. Mit diesem Konzept geht einher, dass das Beigesellen von Göttern, Wesenheiten oder Personen, denen vergleichbare Kräfte zugeschrieben werden, eine Form des Polytheismus bzw. Götzendienstes (shirk) darstellt. Zur äußerlichen Erfüllung dieser Glaubenspflicht gehört das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses. Wenngleich alle drei Aspekte des tauḥīd zusammengehören, hängen der erste und zweite voneinander besonders stark ab, da aus dem ersten der zweite Aspekt folgt. Demnach impliziert der zweite Aspekt, tauḥīd alulūhiyya, dass die Gläubigen in ihrem Gottesdienst Seine Einheit aufrechterhalten sollen, indem sie Ihm all ihre Handlungen, wie das Gebet, das Fasten usw., widmen. Gläubige seien also angehalten, nicht nur an Gottes Einheit zu glauben, sondern diesen Glauben auch in die Praxis umzusetzen, was sie unmittelbar durch die Widmung ihrer gottesdienstlichen Handlungen und jeder Anbetung Gottes beweisen können.81 Während ersterer tauḥīd-Bereich den Salafisten primär dazu dient, Muslime von Angehörigen anderer Religionen und von »ungläubigen« Polytheisten abzugrenzen, wird das zweite tauḥīd-Konzept oft als solches verstanden, das salafistische Muslime von andersdenkenden Muslimen trennt. Insbesondere Anhänger des Sufismus (ṣūfiyya) bzw. der Mystik und der Schia bekommen aufgrund ihrer Heiligenverehrung und des Gräberkultes die Konsequenzen des zweiten Aspekts zu spüren, da – so der salafistische Vorwurf – sie sich Vermittler zwischen sich und Gott nähmen, die für sie Fürsprache einlegten, was wiederum als »unislamische Neuerung« (bidʿa) erachtet wird. In diesem Sinne betrachten Salafisten die in einigen muslimischen Kulturen bis heute verbreitete Frommenverehrung, Wallfahrten zu Gräbern Heiliger und die Fürbitte, also das Anrufen von Personen als Mittler zwischen dem Gläubigen und Gott, als Verstoß gegen tauḥīd al-ulūhiyya und
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Gharaibeh: Zur Glaubenslehre des Salafismus, S. 106f. Vgl. ausführlich dazu Philips: Tauhid, in: www.islamicbulletin.org/(abg. am 19.03.2019); Lohlker: Die Salafisten, S. 116f.; Gharaibeh: Zur Glaubenslehre des Salafismus, S. 106-132; Wiktorowicz: The Management of Islamic Activism, S. 113-115. Salafisten Deutschlands vertreten in dieser Hinsicht die gleiche Auffassung. Siehe. z.B. Vogel: Pierre Vogel – Statement, in: www.youtube.com (abg. am 19.03.2019).
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
als eine Form der Beigesellung (shirk).82 Wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu sehen sein wird, werden die ersten beiden Konzepte von salafistischen Akteuren auch immer wieder aufgegriffen, um ihre Haltung zu unterschiedlichen Fragen politischer wie gesellschaftlicher Art zu begründen. So verstehen sie bspw. die Akzeptanz solcher nicht auf der Scharia basierenden Staatssysteme und das damit einhergehende Handeln nach von Menschen gemachten Gesetzen als Verstoß gegen das Prinzip des tauḥīd al-ulūhiyya.83 Eng mit diesen beiden Aspekten verknüpft ist der Grundsatz des al-walāʾ wal-barāʾ. Dieser wird im salafistischen Sinne koranisch begründet und als universell anwendbar angesehen. Al-walāʾ wird von Salafisten als Aufruf zur Loyalität gegenüber Gott, Seinem Gesandten Muhammad und zur freundschaftlichen Verbundenheit mit den Gläubigen und dem Islam verstanden; al-barāʾ hingegen als Ermahnung der Muslime, sich von Nichtmuslimen sowie allen nichtislamischen Systemen, Regenten, Ideologien und Gesetzen loszusagen. Mit der Loyalität gegenüber Gott geht z.B. einher, dass die oben beschriebene Einheit Gottes sowie Seine durch den Propheten Muhammad verlautbarten Ge- und Verbote eingehalten werden müssten, es drohe ansonsten eine Verunreinigung des Glaubens. Dies erfolge bspw., wenn ein Muslim sich mit Nichtmuslimen befreunde oder nichtislamische politische Systeme befürworte. Darauf gestützt vertreten Salafisten die Ansicht, dass alle Handlungen eines jeden wahren Muslims entlang den Vorgaben des walāʾ und barāʾ-Prinzips ausgerichtet werden sollten. Diese Doktrin dient also wie der tauḥīd als entscheidende Argumentationsbasis in vielen Fragen des Salafismus. Ihrer Logik folgend wird im Großen und Ganzen eine klare Abgrenzung zwischen Gläubigen und Ungläubigen vorgenommen und zum anderen die von salafistischen Akteuren konstruierte kollektive islamische Identität gefördert.84 Von einigen salafistischen Autoren wird dieses Konzept als das fundamentale Prinzip der salafistischen Glaubenslehre genannt. Dazu schreibt al-Fauzān: »Es gehört zu den Fundamenten des islamischen Glaubens, daß es die Pflicht eines jeden Muslims ist, der diesen Glauben als seine Religion ansieht, den Anhängern diesen Glaubens Loyalität und Freundschaft und seinen Feinden Feindschaft entgegenzubringen.«85 Beim dritten Aspekt, tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt, geht es im Gegensatz zu den oben angeführten Punkten ausschließlich um Gott. Es geht dabei um die Frage, wie man Gottes Namen und Eigenschaften, die in Koran und Sunna erwähnt werden, zu verstehen hat, wenn doch zugleich von Gottes Andersartigkeit die Rede ist. Lassen sich Koranstellen, dass Gott Hände (z.B. 67:1) und Gesicht (55:26-27) wie der Mensch habe, wortwörtlich verstehen? Grundsätzlich vertreten Salafisten die 82 83 84 85
Vgl. Gharaibeh: Zur Glaubenslehre des Salafismus, S. 110f. Siehe bspw.: Philips: Tauhid, S. 22-23. Mehr dazu auch in Kap. V, Abschn. 2.1. Vgl. Lohlker: Die Salafisten, S. 118f. Siehe für Beispiele Kap. V, v.a. Absch. 2.1.3 und 2.2. al-Fauzān: Loyalität und Lossagung, S. 3. Siehe auch Lohlker: Salafismus religiös, in: www.sicherheitspolitik-blog.de (abg. am 19.03.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
Auffassung, dass Gott nichts gleichkomme. Er unterscheide sich völlig von seinen Geschöpfen. Im Koran heiße es: »Nichts ist Ihm gleich« (42:11) und »Ihm ebenbürtig ist keiner« (112:4). Aussagen, die über seine Hand oder sein Gesicht etc. berichten, habe man hinzunehmen, ohne über die Merkmale dieser Eigenschaften oder ihre genaue Art und Weise zu diskutieren. Gott habe zwar wie der Mensch Gesicht, Augen und Hände, daraus resultiere jedoch nicht, dass Gottes Gesicht etc. mit den Körperteilen des Menschen identisch seien. Es gebe zwar Ähnlichkeiten zwischen ihnen, aber keine vollkommene Übereinstimmung. Ibn ʿUthaimīn geht davon aus, dass Gottes Eigenschaften und Namen Entsprechungen menschlicher Körperteile wie Gesicht, Fuß und Finger aufweisen. Diese dürften aber nicht als solche benannt werden, da die Offenbarungstexte keine genauen Angaben dazu machten. Einschlägige Texte zu Eigenschaften Gottes sollten demnach ohne tashbīh (»Gleichstellung mit Menschen«), tamthīl (»Vergleichen Seiner Attribute mit denen Seiner Schöpfung«), taḥrīf (»Entstellung ihrer Bedeutungen«), oder taʿṭīl (»Entleerung seiner Namen und Attribute«) verstanden werden. Zugleich sollten sie weder metaphorisch gedeutet, noch sollte ihre augenscheinliche Bedeutung negiert werden.86 Salafisten wollen also die Attribute und Namen Gottes entsprechend ihrem weitgehend buchstabengetreuen Textverständnis nach ihrem äußeren Wortlaut verstehen, ohne Gott anthropomorphe Eigenschaften zuzuschreiben. Während der Mainstream muslimischer Gelehrsamkeit in diesem Zusammenhang eine nahezu ähnliche Auffassung vertritt, heben sich Salafisten davon besonders dadurch ab, das tauḥīd-Konzept auf politische wie gesellschaftliche Fragen zu erstrecken, wie im praktischen Teil der vorliegenden Studie gezeigt werden soll.87
3.
Scharia als unwandelbare Rechtsordnung
Die Scharia stellt nach salafistischer wie auch allgemein islamischer Auffassung die vollkommene Ordnung Gottes dar, die Gerechtigkeit, Wohlergehen und Frieden für alle Menschen schafft. Als holistisches Gebilde regelt sie alle Belange des Lebens, d.h. die Glaubensfragen, die rituelle Praxis sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen. Dennoch existiert die Scharia nicht in Form eines Gesetzbuches, das Muslimen genaue Anweisungen für alle Fragen des Lebens gäbe. Religiöse bzw. rechtliche Normen werden vielmehr aus den islamischen Grundtexten, dem Koran und der Sunna, deduziert. Dies führte durch die gesamte islamische Rechtsgeschichte hindurch, insbesondere im Zeitraum zwischen dem 8. und dem
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Siehe für Näheres dazu: Das Ständige Komitee: Bedeutung von Tauhid-ul-Rububiyyah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 19.02.2019); Gharaibeh: Zur Glaubenslehre des Salafismus, S. 112ff. Vgl. dazu Kap. V.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
9. Jahrhundert, zur Entstehung unterschiedlicher Rechtsschulen mit jeweils unterschiedlichen Methoden zur Interpretation der Quellentexte.88 Das Verfahren, den Koran und die Sunna auszulegen, um daraus Normen bzw. Gesetze herzuleiten, der sog. ijtihād (»Normenfindung«, wörtl. »Bemühung«), wird in der Regel nur von Gelehrten mit bestimmten Qualifikationen durchgeführt und kann je nach Zeit und Ort unterschiedlich ausfallen. Aber auch die unterschiedlichen Methoden und Instrumente, die für die Normendeduktion eingesetzt werden, sorgen dafür, dass verschiedene Fatwas ausgesprochen werden. Das heißt, religiöse Auskünfte bzw. islamrechtliche Beurteilungen können und sollen je nach Zeit und Lebensumständen der Menschen variieren, um eben Veränderungen der Zeit nachkommen zu können. Die große Masse der Scharia-Vorschriften ist von Rechtsgelehrten über Jahrhunderte hinweg entwickelt worden. Einige Traditionen bzw. Teile der Scharia haben ihre Bedeutung verloren, während andere, besonders familienrechtliche Bestimmungen, in vielen islamischen Ländern nach wie vor Anwendung finden. Heute stehen Gelehrte vor der Aufgabe, Normen aus den alten Texten zu deduzieren für Phänomene bzw. Probleme, die es zur Zeit der Offenbarung noch gar nicht gab, wie etwa Fragen der Gen- und Biotechnik.89 Von der Überzeugung getragen, dass die Scharia alle Belange des Lebens abdecke, legen viele Muslime Wert darauf, ihr Leben nach ihren Vorschriften auszurichten. Zeitgenössische Islamgelehrte, die sich mit der Frage der Ableitung von Scharia-Normen beschäftigen, setzen sich daher in unterschiedlichem Maße dafür ein, die islamischen Quellentexte zeitgemäß zu reinterpretieren und sie den Herausforderungen der Moderne anzupassen, um den Muslimen ein schariakonformes Leben zu ermöglichen. Auch betonen sie die Notwendigkeit, tradierte Rechtsmeinungen zu modifizieren bzw. überkommene Fatwas an die jeweiligen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Diese Forderung wird damit begründet, dass die Scharia vollumfänglich auf die Herbeiführung von Nutzen und die Abwehr von Schaden abziele. Eine Übernahme althergebrachter Scharia-Normen bringe Schwierigkeiten mit sich, wohingegen die Erstellung von zeit- und ortsgerechten Normen das Leben erleichtere. Beachte man diese Forderung nicht, führe dies zum Erlass von schwierig umsetzbaren Gutachten, was Gottes Zielen und Weisheiten widerspreche.90 Gelehrte des salafistischen Spektrums, wie z.B. Ibn Baz und al-ʿUthaimīn, stehen dem Grundsatz, überkommene Scharia-Normen und religiöse Lehrmeinungen zeit- und ortsgemäß zu reformieren, ablehnend gegenüber. Denn ihre Weltanschauung basiert im Grunde auf den über Jahrhunderte hinterlassenen Normen
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Vgl. El-Wereny: Wahlen und Demokratie, S. 48; ders.: Normenlehre, S. 23-35. Weiterführend dazu z.B. Rohe: Das islamische Recht, S. 9-35. Vgl. z.B. El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 101-121. Vgl. ebd.; Ibn Qaiyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn, Bd. 4, S 337.
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und Vorschriften der ersten drei Generationen der islamischen Frühzeit. Sie halten in weiten Teilen wortgetreu an den Aussagen des Korans, der Sunna sowie der Lebensweise der sog. frommen Altvorderen fest. Für sie besitzen deren Traditionen und Bräuche ewige Gültigkeit. Tradierte Ansichten und Rechtsentscheidungen dürften nach salafistischem Verständnis nur dann Veränderung erfahren, wenn dafür textuelle Belege vorlägen. Andernfalls seien sie so umzusetzen, wie sie überliefert worden seien.91 Davon ausgehend dringen Salafisten auf die unbedingte Gültigkeit von allen Scharia-Vorschriften. Dies beschränkt sich nicht nur auf das islamische Ritual-, Ehe- und Familienrecht, sondern erstreckt sich auch auf die Körperstrafen, die sog. ḥudūd; diese seien auch ein Bestand der Scharia.92 Nach diesem Verständnis muss genau die im Koran bzw. in der prophetischen Überlieferung für das jeweilige Delikt vorgesehene Strafe vollstreckt werden, d.h., irdische Justiz bzw. zuständige Institutionen verfügen über keinen Spielraum, diese »göttlich« bestimmten Strafen zu verändern oder andere nach Ermessen festzulegen. Vertreter dieser Denkschule erkennen zwar den Grundsatz der Veränderbarkeit von Fatwas je nach Zeit und Ort an, beschränken dies aber auf dringende Notfälle. Als Beispiel dafür wird die schariagemäß eingeräumte Möglichkeit angeführt, im Notfall, d.h. um dem Hungertod zu entgehen, Schweinefleisch zu verzehren, wenngleich dies an sich islamisch strikt verboten sei.93 Die von Salafisten an dieser Stelle angeführte Begründung stützt sich jedoch keineswegs auf das Grundprinzip der Fatwa-Wandelbarkeit; vielmehr handelt es sich in diesem Zusammenhang um eine Rechtsmaxime (qāʿida fiqhiyya), der zufolge Verbotenes in Ausnahmefällen nicht eingehalten werden muss (aḍ-ḍarūrāt tubīḥ al-maḥdhūrāt).94 Die Vertreter des Salafismus stehen also dem Konzept der Modifikation tradierter Scharia-Normen im Sinne eines Pragmatismus ablehnend gegenüber. Dies wird anhand des oben erwähnten Beispiels zum Verreisen einer Frau ohne maḥram besonders deutlich; 91 92
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Vgl. ausführlich dazu Al Atawneh: Wahhābī Islam, passim; El-Wereny: Normenlehre, z.B. S. 139f., 160f., 179f. Nach klassischem islamischem Strafrecht werden für zahlreiche Delikte Körperstrafen verhängt. Darunter zählen Verleumdung, d.h. falsche Beschuldigung des illegitimen Geschlechtsverkehrs, schwerer Diebstahl, schwerer Straßenraub und Raubmord sowie Alkoholgenuss. Die Art der verhängten Strafen reicht vom Auspeitschen über die Amputation von Hand und/oder Fuß, Steinigung und Enthauptung bis hin zu Verbannung, Freiheitsstrafen und Strafzahlungen. Für bestimmte Delikte ist im Koran und/oder der Sunna ein genaues Strafmaß festgelegt. So ist z.B. für Unzucht die Steinigung, für Diebstahl das Abschneiden der Hand, und für die fälschliche Bezichtigung des Ehebruchs die Auspeitschung vorgesehen. Siehe für mehr dazu statt vieler El Baradie: Gottes-Recht, S. 93ff.; Peters: Crime and Punishment in Islamic Law, z.B. S. 19f. und 53ff. Vgl. The General Presidency of Islamic Research and Ifta: Taghayyur al-fatwā, S. 272-274. Vgl. El-Wereny: Mit Tradition in die Moderne?, S. 210; Heinrichs: Ḳ awāid Fikhiyya, S. 517-518; ders.: Qawāʿid as a genre, S. 365-384; Musa: Legal Maxims, S. 325-365; Kamali: Shariʿah, S. 141162.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
für diesen Fall verbieten sie den Frauen, unter Berufung auf eine Aussage des Propheten, alleine zu reisen.95 Wie im praktischen Teil der vorliegenden Studie näher dargelegt wird, lassen Salafisten den Kontext, in dem die Scharia-Normen bzw. die Fatwas erstellt wurden, sowie neue Entwicklungen des Lebens außen vor. Diese salafistische Position ist eine alte Tradition, die vor allem auf den zahiritischen Gelehrten Ibn Ḥazm, Vertreter der zahiritischen Rechtsschule (gest. 1064), zurückzuführen ist. Zentraler Bestandteil der Lehre dieser Schule war es, die Quellentexte wörtlich zu verstehen und in dieser Weise Rechtsbestimmungen bzw. Fatwas zu erstellen. Ihre Vertreter meinten, dass die Offenbarungstexte nur durch wörtliche Auslegung verstanden werden könnten. Ibn Ḥazm betont in diesem Sinne, dass Normen der Scharia, die auf Textbeweisen gründen, ewigen Charakter hätten. Nur durch einen anderen Text göttlichen Ursprungs dürften sie modifiziert werden. Tradierte Fatwas auf Grundlage neu auftretender Veränderungen von Zeit, Ort oder Zustand des Fragenden zu aktualisieren, kommt für ihn nicht infrage. Er orientiert sich also am reinen Wortlaut koranischer bzw. prophetischer Aussagen.96 Anders als die Salafisten sprechen sich viele Islamisten für die Modifikation von tradierten Scharia-Normen aus. Autoren wie al-Qaradawi unterstreichen die Notwendigkeit, Fatwas in Anpassung an die zeitlichen und örtlichen Umstände zu erteilen bzw. überkommene Lehrmeinungen zu modifizieren. Allerdings beschränken sie die Modifizierbarkeit von tradierten Normen auf eine bestimmte Kategorie der Scharia. Gestützt auf das weiter oben vorgestellte Textverständnis wird in diesem Sinne zwischen »statischen« (thābit) und »wandelbaren« (mutaghayyir) Normen der Scharia unterschieden. Der statische Teil betrifft demnach Normen, deren Beweislage authentisch und eindeutig ist. Zu diesem Bereich zählen Sprecher der Islamisten theologische, ethische und gottesdienstliche Normen sowie rechtliche Normen zu Heirats- und Erbregelungen zwischen Mann und Frau und zu den Körperstrafen. Diese beanspruchten losgelöst von zeitlichen und örtlichen Veränderungen universelle Gültigkeit. Dabei bilden die textuellen Grundlagen aus dem Koran und der Sunna die Argumentationsbasis.97 Der wandelbare Teil unterliegt indessen den Veränderungen von Zeit, Ort, Gewohnheiten usw. Die Normen bzw. Fatwas dieser Art gründen nach al-Qaradawi auf mehrdeutigen bzw. nicht hundertprozentig authentischen Textbeweisen, weswegen eine veränderte Interpretation möglich sei. Die Ableitung von Normen erfolge in diesem Kontext mittels ijtihād unter besonderer Berücksichtigung von Interessen und Gewohnheiten der Menschen. Daher könne sie aufgrund der Verän-
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Vgl. Ibn Baz: Mā ḥukm safar al-marʾa, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 22.02.2017). Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām, Bd. 5, S. 5; El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 110. Weiterführend zu Ibn Ḥazm siehe Osman: The Ẓāhirī Madhhab, passim, z.B. S. 77ff., 171ff. Vgl. El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 116f.; ders.: Reichweite, S. 78.
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derbarkeit des Nutzens bzw. der Bräuche der Menschen von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit unterschiedlich ausfallen.98 Diese Position teilen viele andere Gelehrte und stützen sich dabei, genauso wie al-Qaradawi, weitgehend auf das tradierte Verständnis der Zweiteilung göttlicher Bestimmungen in unveränderliche und veränderliche, wie sie von vormodernen Gelehrten wie etwa Ibn Qaiyim und ashShāṭibī (gest. 1388) vorgeschlagen wurde. Auch wenn in diesem Kontext immer wieder betont wird, dass der wandelbare Teil der Normen der Scharia umfangreicher sei als der statische, stehen auch die von dieser Denkschule vertretenen Ansichten, ähnlich wie die der Salafisten, im Widerspruch zu den internationalen Menschenrechten sowie weiteren Errungenschaften der Moderne, wie bspw. zu Religionsfreiheit und Frauenrechten.99 Gegen diese zwei konservativen Positionen haben sich einige Stimmen zu Wort gemeldet.100 Shahrur, Abu Zaid und Hanafi vertreten bspw. die Position, Scharia-Normen unterlägen zeitlichen und örtlichen Veränderungen und sollten kontextbedingt modifiziert werden. Ausgenommen seien die dogmatischen Glaubensgrundlagen, die rituellen Pflichten sowie weitere Regelungen ethischen Charakters, wie oben gezeigt.101 Diese gälten als unveränderbare Prinzipien des Islam. Alle anderen Normen, vor allem die die zwischenmenschlichen Beziehungen betreffenden, gelten ihm als zeit- und ortsabhängig und daher als veränderbar. Die Scharia wird somit auf bestimmte Fragen theologischer, ritueller und ethischer Art beschränkt. Das Hauptanliegen ist dabei, traditionelle Fatwas und Normen, die heikle Fragen, wie etwa Geschlechterrollen, Erbregelungen, Kleidungsvorschriften und Körperstrafen (ḥudūd), betreffen, zeitgemäß neu zu interpretieren, um den Islam mit der Moderne bzw. modernen Grundwerten wie den Allgemeinen Menschenrechten, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Demokratie etc. in Einklang zu bringen.102
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Tradition vs. Innovation?
Repräsentanten des Salafismus, wie etwa Ibn Baz und al-ʿUthaimīn, gehen davon aus, dass die Religion des Islam vollkommen sei. Gott habe die Religion des
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Vgl. El-Wereny: Reichweite, S. 78; ders.: Scharia-Normen im Wandel, S. 116f. Siehe weiterführend dazu Tibi: Islamism and Islam, S. 159-176; El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 106ff. 100 Diese modernen Ansätze stützen sich direkt oder indirekt auf die Überlegungen vormoderner Gelehrter. Siehe mehr dazu bei El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 106-110. 101 Siehe dazu Kap. III, Abschn. 1. 102 Vgl. z.B. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, passim; Ausführlich dazu Amberg: Auf dem Weg, passim; Christmann: 73 Proofs of Dilettantism, S. 21-73; Abu Zaid/Sezgin: Mohammad und die Zeichen Gottes, passim.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Islam bereits in die bestmögliche Form gebracht. Im Koran heiße es: »Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und Meine Gnade an euch vollendet und euch den Islam zum Glauben erwählt.«103 Demnach bleibe weder Raum für Erneuerung noch bestünde Notwendigkeit, Veränderungen in die Religion einzuführen. Jedwede Form der Erneuerung sei daher kategorisch abzulehnen. Denn damit gehe einher, dass man die Religion als nicht vollständig ansehe, was Zweifel am wahrhaften Glauben impliziere. Die Misere und Rückständigkeit arabischislamischer Gesellschaften führen sie nicht auf das verkrustete inflexible Islamverständnis zurück, sondern vielmehr auf das Abweichen von den »ursprünglichen, reinen« Werten des Islam und der Lebensweise der muslimischen Frühgemeinde. Dabei sei der »Westen« für diesen Zustand mitverantwortlich, denn er setze sich stark dafür ein, Muslime von der Lehre des Islam abzubringen und schmiede dafür langfristige Pläne.104 Muslime hätten im Unterschied zu heute in den 13 Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung, in denen die Lehre des Islam in ihrer authentischen Form Anwendung gefunden habe, die ganze Welt geführt und Fortschritte in allen Bereichen erzielt. Das heißt, das Befolgen tradierter Lehrmeinungen und die Orientierung an der Lebensweise der ersten Muslime bzw. der Frühzeit des Islam seien keineswegs für den Niedergang islamischer Gesellschaften verantwortlich. Vielmehr hänge der Erfolg und Aufstieg der muslimischen Gemeinschaft damit zusammen, ob und inwieweit Muslime den Lehren des Islam und dessen Anweisungen folgten.105 Die Rückkehr zu der von Salafisten für authentisch gehaltenen Form des Islam wird als die Lösung für die vermeintlichen Missstände in den islamisch geprägten Ländern angestrebt. Nur auf diesem Wege werde die muslimische Gemeinschaft die ihr zugedachte führende Rolle in der Weltgeschichte wieder einnehmen.106 Dass Gott diese frühen Generationen im Koran lobend erwähnt habe, deute darauf hin, dass man ihnen und ihrem Weg Folge leisten müsse: »Die Allerersten, die ersten der Auswanderer (muhājirūn) und der Helfer (anṣār) und jene, die ihnen auf die beste Art gefolgt sind – mit ihnen ist Allah wohl zufrieden und sie sind wohl zufrieden mit Ihm; und Er hat ihnen Gärten vorbereitet, durch welche Bäche fließen. Darin sollen sie verweilen auf ewig und immerdar. Das ist der gewaltige Gewinn.«107 In diesem Sinne verstehen Salafisten die Erneuerung als die »[…] Reinigung der Muslime von allen Formen des Schirk [Beigesellung], der im 103 Koran 5:3. Für Näheres dazu al-ʿUthaimīn: Bidʿa, in: www.salaf.de; Salaf.de: Neuerungen in der Religion, in: www.salaf.de. (abg. am 20.03.2019). Folgende Ausführungen stützen sich auf einen Aufsatz des Verfassers. Siehe dazu El-Wereny: Islam und Reform, S. 47-81. 104 Vgl. Ibn Baz: al-Wasāʾil, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 22.05.2019). 105 Vgl. z.B. Ibn Baz: at-Tamassuk bi-l-islām, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 14.07.19). 106 Vgl. Ceylan/Kiefer, Salafismus, S. 77f.; Ceylan/Jokisch: Salafismus in Deutschland, S. 37ff. 107 Koran 9:100. Zitiert nach Salaf.de: Neuerungen in der Religion, in: www.salaf.de. (abg. am 20.03.2019).
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Laufe ihres Lebens sich an ihnen angehaftet hat.«108 Just dies machen sie zu ihrem Ziel: »Wir wollen die Sunnah reinigen von den schwachen und erlogenen Überlieferungen, die die Reinheit des Islams beschmutzt haben und die den Fortschritt der Muslime verhinderten. […]. Wir wollen die islamisch wissenschaftliche Lehre wieder ins Leben erwecken, die authentisch ist und die sich im Lichte des Qurʾān und der Sunnah nach der Methodik der Salaf dieser Gemeinschaft (Ummah) bewegt. Wir wollen damit den Stillstand wieder aufheben, der durch das blinde Folgen der Rechtsschulen und den Fanatismus für Parteien und Gruppierungen verursacht wurde.«109 Der Kern der salafistischen Ideologie, sich am Wortlaut der Offenbarungstexte festzuhalten und die Tradition bzw. das intellektuelle Erbe (turāth) unangetastet wissen zu wollen, spiegelt sich in diesem Zitat erneut wider. Salafisten wollen nach dem äußeren Wortlaut des Koran und der Sunna sowie nach dem Islamverständnis der sog. rechtschaffenen Altvorderen handeln. Der Lebensstil der salaf wird als Idealzustand der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit des Islam sowie als zentrale Referenz für die Fragen des Lebens angesehen. Dies wird damit begründet, dass jene Altvorderen herausragende, fromme Gläubige des frühen Islam darstellten, die dem Propheten zeitlich und oftmals auch räumlich nahegestanden und das Ideal der islamischen Gemeinschaft (umma) praktiziert hätten.110 Salafisten wollen also an den – in ihrem Sinne – wahren Islam der Altvorderen anknüpfen, wobei den Entwicklungen und Veränderungen der menschlichen Gesellschaft im Laufe der Zeit keine Rechnung getragen wird. Die Frage nach den sozialen oder politischen Faktoren, in denen die Aussagen und Ansichten jener Vorfahren entstanden und die für ein adäquates Verständnis dieser Traditionen von Bedeutung sind, bleibt völlig unbeachtet. Auf Grundlage dieses literalistischen Schriftverständnisses und des unreflektierten Glaubens an die Vergangenheit als schöne und siegreiche Zeit zielen die Salafisten auf die Errichtung bzw. Wiedererrichtung eines nach diesem Vorbild auf der Scharia basierenden Ordnungssystems ab. Dies führt konsequenterweise dazu, dass sie allein die im Frühislam geltenden Herrschafts-, Rechtsund Gesellschaftsordnung anerkennen und über rechtsstaatliche Normen wie etwa Menschenrechte und Demokratie stellen.111 Doch auch Fürsprecher des Salafismus nehmen die in der Debatte über Reformen im Islam oft angeführte Prophetenaussage zur Erneuerung der Religion zur Kenntnis: Muhammad soll gesagt haben: »Gott, der Erhabene, schickt dieser 108 Abu Yunus: Dies ist unsere Da’wah, in: www.basseera.de (abg. am 14.11.18). 109 Ebd. 110 Vgl. z.B. Haykel: Salafī Groups, S. 27f.; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 77f.; Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 5f. 111 Vgl. u.a. Ibn Baz: Wujūb taḥkīm sharʿ allāh, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 05.09.2017).
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Gemeinschaft (umma) zu Beginn eines jeden Jahrhunderts jemanden, der ihr ihre Religion erneuert (yujaddidu).«112 Diesen Prophetenausspruch interpretieren sie jedoch dahingehend, dass im besagten Hadith mit Erneuerung die Rückkehr zur reinen Form des Islam gemeint sei. Viele religiöse Gebote seien mit Neuerungen und irreligiösen Veränderungen vermischt worden. Muslime begingen daher viele Sünden und kämen immer wieder vom geraden Weg ab. Dies sei der Grund für den Niedergang und die Unterlegenheit der Muslime gegenüber dem Westen. Erneuerer, die um die Wende eines jeden Jahrhunderts aufträten, wie im Hadith berichtet, stünden daher in der Verantwortung, die Menschen zur authentischen, reinen Form des Islam zurückzubringen. Die vermeintliche Erneuerung beziehe sich dementsprechend nicht auf die Lehre der Religion und das intellektuelle Erbe, sondern auf die Individuen bzw. die Gemeinschaft und die Art und Weise, wie sie die Religion praktizieren. Veränderungen am Leben der Gemeinschaft betreffe ergo nur die Menschen.113 Die Beschreibung der Rückkehr zur Vergangenheit als Lösung für alle Probleme wird u.a. mit Aussagen früherer Gelehrter gerechtfertigt. So soll z.B. Imam Mālik, Namensgeber der mālikitischen Rechtsschule (gest.795), gesagt haben: »Die späteren Angelegenheiten dieser umma werden sich nur durch das in Ordnung bringen lassen, wodurch ihre früheren Angelegenheiten in Ordnung gekommen sind.«114 In Bezug auf die Frage, ob Muslime westliche Errungenschaften übernehmen dürften, vertreten die Anhänger des Salafismus eine recht zurückhaltende Position. Zunächst gelte es, gegen alles, was vom Westen kommt, zu kämpfen. Nur wenn sich keine Alternative biete und eine Notwendigkeit bestehe, dürften westliche Errungenschaften, aber nur materieller bzw. industrieller Natur, übernommen werden.115 Abu Zaid fasst die Haltung des Salafismus zur Übernahme von Westlichem wie folgt zusammen: »Der Islam erlaubt es, dass der Muslim vom Nichtmuslim oder auch von einem nicht frommen Muslim lernt. Das betrifft die reine Chemie oder die Physik, die Astronomie, Medizin, Industrie, Landwirtschaft oder die allgemeinen Verwaltungsund Sekretariatswissenschaften und dergleichen. Er erlaubt es aber nicht, wenn es um die Grundlagen seines Glaubens, die Prämissen seiner Vorstellungen, die Interpretation seines Korans, seines Hadith oder der Biographie seines Propheten geht. Auch nicht in bezug auf den Gang seiner Geschichte und seiner Hand-
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Vgl. as-Sijistānī, Sunan Abī Dāwūd, S. 349. Ausführlich zu dieser Überlieferung siehe LandauTasseron: The ›Cyclical Reform‹, S. 79-117; Corrado: Mit Tradition in die Zukunft, S. 8ff. Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 4, S. 334f. Siehe z.B. Abū al-ʿInain: Ṣalāḥ al-umma, in: www.saaid.net/arabic; al-Faqīh: Lan yaṣluḥ, in: www.islamweb.net/ar/ (abg. am 05.09.2017). Vgl. für mehr dazu z.B. Ibn Baz: Kaifa nuḥārib al-ghazw, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 15.09.2017).
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lungsweisen oder der Ausrichtung seiner Gesellschaft, der Herrschaftsform oder der politischen Ordnung. […] All das darf nicht aus nichtislamischen Quellen geschöpft werden.«116 Repräsentanten der Islamischen Linken, wie etwa Hanafi, kritisieren die Position des Salafismus aufs Schärfste und unterstreichen die Notwendigkeit, alles, was an intellektuellem Erbe der islamischen Frühzeit vorliege, müsse man im zeitlichen und örtlichen Kontext lesen. Im Zuge dessen setzt Hanafi sich mit der Thematik turāth (»Erbe«) und tajdīd (»Erneuerung«) ausführlich auseinander.117 Unter dem Begriff turāth versteht er alles, was von der Vergangenheit in die Gegenwart übermittelt wurde. Dies stellt aus seiner Sicht ein historisches Produkt dar, das alle Vorstellungen und Lehrmeinungen der Altvorderen widerspiegele und die Umstände ihrer Zeit sowie ihr kulturelles Niveau ausdrücke. Dies reduziere sich nicht auf hinterlassene Bücher, Handschriften etc., vielmehr sei es auch psychischer Art; d.h., Traditionen wirkten bzw. würden auf Gefühle, Ideen, Vorstellungen und Verhaltensweisen der Menschen bis heute wirken; als Beispiel nennt er die Art und Weise, an das Schicksal und die Vorherbestimmung (al-qaḍāʾ wa-l-qadar) zu glauben.118 Ohne in diesem Zusammenhang eine konkrete Differenzierung zwischen solchen traditionellen Normen und Grundprinzipien des Islam, die veränderbar sind, und solchen, die unveränderbar sind (s.o.) vorzunehmen, erklärt Hanafi, dass das intellektuelle Erbe erneuert und neu aufgebaut werden solle. Dabei versteht er unter Erneuerung »die Re-Interpretation des Erbes in Anpassung an die Erfordernisse der Gegenwart.«119 Demnach soll das intellektuelle Erbe nicht unabhängig von der Lebenswirklichkeit gelesen und verstanden werden. Vielmehr sei es in seinen historischen Kontext einzuordnen und entsprechend den gegenwärtigen Umständen neu zu lesen und gegebenenfalls umzudeuten. Hinterlassene Ideen und Konzepte der Altvorderen seien nämlich zeit- und ortsbedingt entwickelt und produziert worden. Diese zeitgemäß zu rezipieren und ergo ggf. zu modernisieren, sei unumgänglich, um Anforderungen des gegenwärtigen Zeitalters gerecht zu werden.120 Im Gegensatz zur salafistischen Position meint Hanafi, dass die unhinterfragte Übernahme des Erbes bzw. der Tradition (turāth) einen der Gründe für die Rückständigkeit der Muslime darstelle. Sie befolgten tradierte Lebensformen und Lehrmeinungen, die den Erfordernissen der Zeit nicht gerecht würden. Die aus seiner Sicht bestehenden Herausforderungen durch den Westen auf unterschiedli116 117
Zitiert nach Abu Zaid: Islam und Politik, S. 55. Zum Thema at-turāth und at-tajdīd hat Hanafi zahlreiche Werke verfasst. Von besonderer Relevanz für den vorliegenden Beitrag ist seine erstmals 1980 erschienene Schrift at-Turāth wat-tajdīd. Mauqifunā min at-turāth (Das intellektuelle Erbe und die Erneuerung. Unsere Haltung zum Erbe), erschienen 1980. 118 Vgl. Ḥanafī, at-Turāth, S. 13ff. 119 Ebd., S. 13. 120 Vgl. ebd., S. 16 und 19.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
chen Ebenen hätten zwar schon vor der Konfrontation mit der Moderne im Zuge des Kolonialismus bestanden, seien aber insbesondere durch diese Begegnung mit dem Westen offenkundig geworden.121 Hanafi macht also nicht in erster Linie den Westen für die Misere arabisch-islamischer Gesellschaften verantwortlich, wie die Salafisten es tun, vielmehr erachtet er das rückwärtsgewandte Verständnis der Lehre des Islam und das Beharren auf dessen veraltetem Normensystem als ursächlich für diesen Missstand. In seiner Abhandlung über das Verhältnis zwischen at-turāth und at-tajdīd unterstreicht Hanafi immer wieder, dass das islamische Erbe »Kultur« (at-turāth ḥaḍāra) sei und erachtet deren Erneuerung als eine »nationale Aufgabe« (qaḍiyya waṭaniyya). Wenngleich er die Religion und das Erbe an Lehrmeinungen und Traditionen als zwei voneinander getrennte Bereiche verstanden wissen will und eine klare Grenze zwischen den beiden postuliert, konstatiert er gleichwohl, dass das Erbe einen religiösen Charakter angenommen habe: Muslime gingen mit dem Erbe so um, als wäre es etwas Heiliges, das auf der Religion beruhe, und hätten ihm daher losgelöst von zeitlichen und örtlichen Kontexten universelle Gültigkeit zugesprochen. Sie fühlten sich verpflichtet, tradierte Ansichten zu praktizieren, was wiederum dazu führe, dass sie vom gegenwärtigen realen Leben isoliert blieben, da tradierte Lehrmeinungen eben unter anderen zeitlichen und örtlichen Bedingungen entstanden worden seien. In seiner Darstellung des Islam als Bestandteil des Erbes, also als eine historische Gegebenheit, merkt er an, dass er damit nicht die Offenbarung infrage stellen wolle. Vielmehr verfolge er das Ziel, die Erneuerbarkeit der auf den göttlichen Texten basierenden Wissenschaften, wie etwa der Koran-, Hadith- und Rechtswissenschaften, zu begründen.122 Hanafi bezweckt mit seinem Ansatz nicht, das intellektuelle Erbe über Bord zu werfen, vielmehr fasst er es als dynamisches Gut auf, das es ständig zu modernisieren und den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten anzupassen gilt. Es spielt in seinem Erneuerungsprojekt eine eminente Rolle: Einerseits dient es als Basis für die Erneuerung bzw. für die Thematisierung von aktuellen Fragen, was im Rahmen eines selektiven kritischen Auswahlverfahrens aus dem Erbe erfolgen sollte – somit wird die Vergangenheit zur Grundlage der Gegenwart. Andererseits wird das Erbe zum Objekt der Wirkungskraft des Zeitgeistes, das nicht beachtet werden könne, wenn es keine zeitgemäßen Antworten auf aktuelle Fragen liefere.123 Vertreter der islamistischen Denkschule wie z.B. al-Qaradawi sind im Gegensatz zu den beiden oben angeführten Parteien (Salafisten und Linke) bemüht, eine Position dazwischen einzunehmen: Ihm zufolge würden Anhänger des Salafismus alles über die salaf Tradierte beibehalten, ungeachtet des örtlichen und
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Vgl. ebd., S. 16f. und 19. Vgl. ebd., S. 23ff. Für Näheres dazu El-Wereny: Islam und Reform, S. 50-59.
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zeitlichen Kontextes. Die Fürsprecher dieser Richtung der sog. »Literalisten« (alḥarfīyūn) bzw. der »Neo-Zahiriten« verschlössen die Augen vor den sich dynamisch entwickelnden Lebensperspektiven und würden bloß dem Wortlaut der Offenbarungstexte gehorchen, die Ziele der Scharia hingegen außen vor lassen. Die zweite Schule, die sog. Islamischen Linken, trete hingegen für eine absolut freie Erneuerung ein und baue ihr Erneuerungsprogramm auf einer weltlichen Ideologie auf. Ihr Projekt für die Moderne ziele in erster Linie auf die Abschaffung des Korans und der Sunna ab.124 Al-Qaradawi beansprucht in diesem Zusammenhang, einen Kompromiss zwischen beiden Positionen zu vertreten. Sein intermediärer Ansatz bedeutet die Rückkehr zum ersten, ursprünglichen Islam, einem Islam, wie er war, bevor er durch Innovationen, Fälschungen und Fehlinterpretationen verändert worden sei.125 Er appelliert zwar, ähnlich wie Vertreter des Salafismus, zur Rückbesinnung auf die ursprünglichen Quellen und Grundlagen des Islam der Frühzeit, merkt aber zugleich an, dass auch sich verändernde Lebensbedingungen berücksichtigt werden sollten. Zu diesem Zweck sollten sich die Erneuerer von blinder Autoritätsgläubigkeit befreien und einer gegenwartsorientierten Interpretation göttlicher Texte widmen.126 Mit der Rückbesinnung sei keineswegs gemeint, tradierte Ansichten und Lehrmeinungen blindgläubig zu übernehmen oder den Lebensstil der salaf nachzuahmen. Angestrebt sei vielmehr, ihre Methode des Umgangs mit dem Text zu übernehmen: Wie sie die Quellentexte entsprechend ihren damaligen Gegebenheiten ausgelegt und ihre neu aufgetretenen Fragen in Anpassung an ihre Lebensumstände behandelt haben, sollten Muslime heute auch so verfahren. »Wir sollen unsere Zeit, unsere Umgebung, unsere Gewohnheiten, unsere Umstände berücksichtigen, wenn wir Fatwas abgeben, Urteile aussprechen, forschen oder mit uns selbst oder mit den anderen handeln, so, wie sie dies alles berücksichtigten […].«127 Was die Frage betrifft, wie die Übernahme des intellektuellen Erbes erfolgen soll, spricht al-Qaradawi, ähnlich wie Hanafi, von einem selektiven Prozess, den er als ijtihād tarjīḥī bezeichnet, und von der Entwicklung neuer Ansätze auf der Basis des ijtihād ibdāʿī (»kreative Normenfindung«).128 Auch die Übernahme westlicher Errungenschaften befürwortet er, ähnlich wie Hanafi, macht aber dafür zur Bedingung, dass diese mit der islamischen Lehre vereinbar sein müssten. Eine Erneuerung, die aus anderen Kulturen stamme und eine Gefahr darstelle, die Musli-
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Vgl. al-Qaradawi: Min ajli ṣaḥwa rāshida, S. 51. Vgl. al-Qaradawi: aṣ-Ṣaḥwa al-islāmiyya, S. 48; ders.: Tajdīd ad-dīn, S. 25. Vgl. al-Qaradawi: aṣ-Ṣaḥwa al-islāmiyya, S. 4. al-Qaradawi: ath-Thaqāfa al-ʿarabiyya, S. 58f. Ähnlich ders.: aṣ-Ṣaḥwa al-islāmiyya, S. 43f.; ElWereny: Mit Tradition in die Moderne, S. 65. Vgl. al-Qaradawi: al-Ijtihād fī sh-sharīʿa, S. 116ff. Weiterführend dazu El-Wereny: Reichweite, S. 65-100.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
me ihrer Identität und ihrer Persönlichkeit zu berauben, sei inakzeptabel. Muslime dürften nicht von anderen Kulturen dominiert werden.129 Salafisten kritisieren jene Versuche, die Religion zu erneuern, aufs Schärfste. Vertreter jeglicher Art von Innovation bzw. Reform werden als »innere Feinde des Islam« bezeichnet. Dabei folgen die Salafisten Deutschlands den Argumenten saudischer Gelehrter. So diskreditiert Vogel in vielen seiner Video-Auftritte die Reformdenker und wirft ihnen vor, den Islam und seine Quellen, vor allem die Sunna, nach Gutdünken zu interpretieren bzw. zu historisieren, damit er dem Westen gefällt. Jene liberalen Muslime, die ein tolerantes pluralistisches und moderates Islamverständnis vertreten und sich für eine friedliche, kooperative Koexistenz mit dem religiös Anderen einsetzen, bezeichnen Salafisten polemisch als »Lügner« und »Heuchler«. Sie hätten die Wahrheit des Islam im Namen der Moderne und der Reform verdreht und seien mit ihren Versuchen nur auf die Zerstörung des Islam und seiner Grundlagen aus.130 Reformansätze und Erneuerungsversuche stellen für Salafisten eine solche Bedrohung dar, dass sie oft als »Krankheit im eigenen Körper« oder »Virus, der den Islam von innen her aushöhlt«, dämonisiert werden.131 Nach Wiedls Darstellung ist der Kampf gegen islamische Reformdenker sowie die Widerlegung ihrer Argumente ein Kernthema der salafistischen Aktivitäten, was sich in ihrer daʿwa-Arbeit widerspiegele: »Diese Fokussierung auf den »inneren Feind« ist ein typisches Merkmal des zeitgenössischen religiösen Fundamentalismus. Ein hoher Grad an Dogmatismus ist oft untrennbar verbunden mit der Unfähigkeit, einen innerislamischen (bzw. inner-christlichen oder inner-jüdischen) Pluralismus zu tolerieren.«132 In Anbetracht des hier Dargestellten liegt der Reformmechanismus beim Salafismus in dem Erbe selbst, also in der Rückkehr zur Vergangenheit. Der Rückbezug auf die Autorität der Altvorderen und die Traditionen wird, in ihrer Sichtweise, zum Bezugsrahmen für die Lösung der Probleme der Gegenwart und für den Sieg und Fortschritt der muslimischen Gemeinschaft. Salafisten streben, im Gegensatz zu Hanafi und al-Qaradawi, eine indifferente Absolutsetzung der tradierten Islamlehre bzw. Scharia-Normen an, ungeachtet der Veränderungen der Lebensbedingungen. Sie schaffen somit einen lückenhaften Islam, der außerhalb der Geschichte, jenseits der Entwicklungen des Lebens und ohne Beziehung zur Realität existiert. Die Interaktion mit dem Westen könne nur in Notfällen und ausschließlich auf materieller Ebene erfolgen. Zu Recht kritisiert Abu Zaid diese Herangehensweise wie folgt: »Der zeitgenössische Muslim muss demnach mit seinem Körper
129 Vgl. al-Qaradawi: al-Fiqh al-islāmī, S. 28. 130 Vogel: Dawa Kurs 4, in: https://www.youtube.com (abg. am 15.04.2019); ausführlich dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 324f. 131 Vgl. Ceylan: Die Prediger des Islam, S. 152; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 335. 132 Siehe ebd., S. 152. Zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 335.
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in der Gegenwart leben, gestützt auf Europa bei der Verwirklichung seiner materiellen Bedürfnisse. Mit seiner Seele, seiner Vernunft und seinem Gefühl muss er in der Vergangenheit leben und sich nur auf sein religiöses Erbe verlassen.«133 Ähnlich wie bei Hanafi läuft al-Qaradawis Erneuerungsprojekt im Großen und Ganzen darauf hinaus, das arabisch-islamische Erbe auf der Grundlage einer ganzheitlichen Schau, die sich auch auf die modernen Erkenntnisse und das westliche Erbe stützen darf, neu aufzubauen und zu modernisieren, um das Wohlergehen des Menschen zu ermöglichen, sei es auf intellektueller, sozioökonomischer oder politischer Ebene. Im Unterschied zu Hanafi beschränkt al-Qaradawi jedoch die Übernahme westlicher Errungenschaften und Erkenntnisse, indem er zur Bedingung macht, dass sie nicht im Widerspruch mit den Lehren des Islam stehen. Somit fasst er die Grundtexte des Islam letztlich als solche auf, die allumfassend und absolut sind und alle Bereiche des Wissens, einschließlich künftiger Erkenntnisse, abdeckten.134 Wenngleich viele Islamisten, allen voran al-Qaradawi, die Erneuerung der islamischen Religion unterstützen und fordern, Muslime sollten ihren Verstand einsetzen, den Sinn hinter den Buchstaben extrahieren und die Quellentexte und das Erbe im Lichte aktueller Situationen und Probleme auslegen, bleibt ihr Ansatz aufgrund der weiter oben gezeigten Grenzziehung zwischen statischen und wandelbaren Elementen der Religion weitgehend konservativ und in vielen Fällen mit der Moderne inkompatibel.
5.
Da‘wa – Strategie zur Verbreitung des »authentischen« Islam
Der arabische Begriff daʿwa bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch »Segenswunsch«, »Werbung«, »Ruf« oder »Einladung« zum Islam. Als religiöser Fachbegriff beschreibt er die missionarischen Aktivitäten von Muslimen gegenüber Nichtmuslimen, um diesen die Botschaft des Islam zu vermitteln, oder auch gegenüber Muslimen, die nicht stark im Glauben seien, um sie auf den Weg Gottes zurückzubringen. Durch die daʿwa-Arbeit wird vor allem das Ziel verfolgt, den Islam weltweit zu verbreiten. Dies kann mit einem politischen Anspruch verbunden sein, der in seiner Ausgestaltung und Umsetzung je nach der jeweiligen daʿwa-Bewegung unterschiedlich ausfällt. Ibn Baz definiert die Ziele der daʿwa wie folgt: »The aim of da’wah is to bring the people out of the darkness and into the light, and to guide them to the truth until they hold on to it and are saved from the Fire and the Anger of Allaah. To take the disbeliever out of the darkness of disbelief into the light and guidance, to take the ignorant out of the darkness of ignorance
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Abu Zaid: Islam und Politik, S. 55. Siehe auch El-Wereny: Islam und Reform, S. 65-79.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
into the light of knowledge and to take the disobedient out from the darkness of disobedience into the light of obedience.«135 Eine Person, die daʿwa betreibt, wird dāʿin oder dāʿiya (das Femininum lautet ebenfalls dāʿiya) genannt. Begründet wird die daʿwa mit zahlreichen Textstellen in Koran und Sunna. Ein sowohl von salafistischen Akteuren als auch von andersdenkenden Muslimen in diesem Zusammenhang häufig zitierter Koranvers ist 16:125: »Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung auf, und streite mit ihnen auf die beste Art. Wahrlich, dein Herr weiß am besten, wer von Seinem Wege abgeirrt ist; und Er kennt jene am besten, die rechtgeleitet sind.« An einer anderen auch immer wieder von salafistischen sowie anderen muslimischen Gelehrten und Predigern angeführten Koranstelle heißt es: »Ihr seid die beste Gemeinde (umma), die für die Menschen entstand. Ihr gebietet das, was rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht, und ihr glaubt an Gott.«136 In einem oft in Vorträgen und Publikationen salafistischer Prediger zitierten Hadith wird darüber hinaus berichtet, dass der Prophet einer Person, die eine andere zum Guten führt, die gleiche Belohnung versprochen habe, wie demjenigen, der die gute Tat selbst ausführt.137 Unter Berufung auf diese und andere textliche Beweise betonen Salafisten die Bedeutung und Notwendigkeit der daʿwa. Dabei sehen sie die muslimische Gemeinschaft in der Verantwortung, die gesamte Menschheit auf den Weg Gottes zu bringen und zur wahren Religion einzuladen.138 In diesem Sinne wird die daʿwa zur Pflicht erklärt. Die Frage, ob es sich dabei um eine kollektive Pflicht (farḍ kifāya) der umma oder eine individuelle Pflicht (farḍ ʿayn) handelt, wird unterschiedlich beantwortet.139 Die Mehrheit muslimischer Gelehrsamkeit tendiert zu der Meinung, dass die daʿwa eine kollektive Pflicht sei. Das bedeutet, dass, wenn sie von einer ausreichenden Anzahl von Muslimen durchgeführt werde, sie dann dem Rest der Muslime als nicht mehr verpflichtende sunna (eine nicht notwendige, sondern lediglich »wünschenswerte Handlung«) gelte. Andere Muslime wären also davon befreit. Werde die daʿwa aber nicht von einer ausreichenden Anzahl von Personen praktiziert, werde sie wiederum zur Pflicht eines jeden Individuums. Diese Position wird u.a. mit folgendem Koranvers untermauert: »Und aus euch soll eine Gemeinde werden, die zum Guten einlädt und
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Ibn Baz: Words of Advice, S. 22f. Weiterführend zur salafistischen daʿwa siehe Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 249ff. Koran 3:110. Vgl. Ibn Baz: ad-Daʿwa ilā allāh, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 21.03.2019). Vgl. Ibn Baz: Wujūb al-amr bi-l-maʿrūf, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 21.03.2019). Im islamischen Recht unterscheidet man zwischen kollektiver Pflicht (farḍ kifāya), die allen Muslimen der Gemeinschaft gilt und derer Erfüllung durch einige die anderen befreit, und individueller Pflicht (farḍ ʿayn), die jede/r einzelne rechenschaftspflichtige Muslima/Muslim erfüllen muss, wie das Gebet fünfmal am Tag.
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das gebietet, was rechtens ist, und das Unrecht verbietet; und diese sind die Erfolgreichen.«140 Eine Minderheit der muslimischen Gelehrten vertritt indessen die Ansicht, dass die daʿwa heute die Verantwortung eines jeden Individuums sei. Sie stelle eine gemeinsame Aufgabe aller Muslime dar, die in diesem Zusammenhang in erster Linie als al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar unter Muslimen verstanden wird, d.h., die Pflicht der Muslime, untereinander das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verbieten.141 Pierre Vogel vertritt eine ähnliche Position und beruft sich dabei auf Ibn Baz: »Ibn Baz sagt, in einer Zeit, wo die Leute, die Wissen haben, wenig sind und wo sich die Schlechtigkeit verbreitet hat, ist es [daʿwa] eine Pflicht für jeden Muslim.«142 Die Erfüllung dieser Pflicht, jenseits ihres Status als individueller oder kollektiver Verpflichtung, solle auf eine gute Art und Weise erfolgen, indem die Vorzüge des Islam, seine Weisheit und seine Vorteile erklärt und bestenfalls auch vorgelebt werden. Dies erfordere, dass man sich mindestens mit den Grundlagen des Islam auskenne. Doch auch Laien, die über wenig Kenntnis über den Islam verfügen und mit Methoden der daʿwa nicht vertraut sind, könnten sich beteiligen und dieser Verpflichtung nachkommen, nämlich durch ihre vorbildlichen Handlungen oder auch durch finanzielle Unterstützung von daʿwa-Projekten. Jeder Muslim solle ein Botschafter des Islam sein und die Vorzüge seiner Religion durch beispielhaftes Verhalten zum Ausdruck bringen.143 Dieser Art daʿwa durch gute Taten komme für die Muslime im Westen größere Bedeutung zu, da dafür keine besonderen Qualifikationen benötigt würden und sie zudem weniger aufdringlich sei. In diesem Sinne schreibt Ibn Baz: »[Muslimische Minderheiten sollten] für sie [Nichtmuslime] ein lebendes und wahres Beispiel des islamischen Verhaltens und der rechtschaffenen Tat sein. So werden Christen und andere durch die Beobachtung von Muslimen die Bedeutung und Erhabenheit des Islam verstehen und erkennen, dass es die Religion der Wahrheit ist und dass man sie annehmen sollte […].«144 Viele Prediger und Gelehrte aus dem Kreise der Islamisten schließen sich dieser Meinung an.145 140 Koran 3:104. Für Näheres dazu al-Faqīh: ad-Daʿwa ilā allāh, in: www.islamweb.net; Ibn Baz: Ḥukm ad-daʿwa, in: www.binbaz.org.sa; al-Wādiʿi: Hal tablīgh ad-daʿwa farḍ, www.youtube.com (abg. am 01.02.2019). 141 Vgl. z.B. al-Faqīh: ad-Daʿwa ilā allāh, in: www.islamweb.net (abg. am 01.02.2019). In einer Fatwa meint Ibn Baz wiederum, dass die daʿwa eine individuelle Pflicht sei. Vgl. Ibn Baz: adDaʿwa wājiba; ders.: ad-Daʿwa ilā allāh, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 21.04.2019); Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 252f. 142 Siehe Vogel: 1/5 Dawa Kurs 5, in: www.youtube.com; ders.: Dawa mit Atheisten, in: www.youtube.com (abg. am 21.02.2019). 143 Vgl. Ibn Baz: ad-Daʿwa ilā allāh, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 21.04.2019); Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 252f. 144 Ibn Baaz: The Importance, S. 16. Zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 314f. 145 Siehe Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 314f. Weiterführend dazu Murad: Daʿwah among nonMuslims, passim.
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Die daʿwa mit Worten wird indes als Aufgabe der Spezialisten angesehen. Nach Vogels Darstellung kann sie drei Formen annehmen: Persönliche daʿwa-Gespräche, Massen-daʿwa in Form von Vorträgen vor Gruppen und daʿwa im Cyberspace.146 Zusammenfassend erklärt er: »Das [die daʿwa-Pflicht] ist ein Befehl, der jetzt gilt […], für jeden gilt das. Es gibt welche, die sagen, nur für eine Gruppe, aber das ist ein anderes, ein falsches Verständnis […]. [Es ist] nicht für jeden Pflicht, hier zu sitzen, etwas zu sagen oder mit Leuten zu reden […], aber [es ist eine] Pflicht für jeden, die daʿwa zu unterstützen. Wenn es ist mit Geld, wenn es ist, dass man selbst Flyer verteilt, das kann jeder!«147 Muslimen, die nicht in der Lage sind, daʿwa per Wort zu betreiben, empfiehlt Vogel, mittels der Verteilung von DVDs prominenter Prediger an der daʿwa mitzuwirken. Andere Wege der Teilhabe an der daʿwa sind nach seiner Darstellung die Übersetzung islamischer Literatur, die Verteilung von Flyern und Broschüren über den Islam, die Einladung von Freunden in die Moschee etc.148 Letztlich hat sich jeder Muslim, nach dieser Position, an der daʿwa-Arbeit zu beteiligen. Auch die Frage, ob ein dāʿiya über bestimmte Qualifikationen verfügen solle und ein bestimmtes Wissensniveau erlangt haben müsse, um daʿwa betreiben zu dürfen, wird unterschiedlich beantwortet. Mehrheitlich sind salafistische Gelehrte, allen voran Ibn Baz, der Meinung, dass ein dāʿiya weder eine formale Ausbildung noch das Wissen eines Gelehrten benötige, um daʿwa zu betreiben. Das heiße umgekehrt, ein Mangel an Wissen befreie ihn auch nicht von dieser Pflicht. Der Prophet erkläre in einer Überlieferung: »Verkündet von mir, auch wenn es nur ein einziger Vers ist.«149 Vogel vertritt eine ähnliche Position: »Manche sagen, bevor du daʿwa machst, musst du erst mal fünf Jahre studiert haben. Das ist Quatsch. Jeder kann daʿwa machen mit irgendwas, was er weiß.«150 Zur Untermauerung seiner Meinung beruft er sich auf den renommierten saudischen Gelehrten Shaykh Ṣāliḥ Āl al-Shaykh. Dieser habe gesagt: »Es ist keine Bedingung für jemanden, der daʿwa macht, dass er vollständiges Wissen hat.«151 Eine Minderheit der führenden Salafisten definiert indessen die daʿwa als Aufgabe für einen bestimmten Kreis von Experten, der mit fachspezifischem Wissen über den Islam ausgestattet sein solle. Jeder dāʿiya müsse über eine vertiefte Kenntnis der unterschiedlichen Bereiche des Islam verfügen.152 Al-ʿUthaimīn empfiehlt
146 Siehe Vogel: Tipps zur Verbesserung der dawa; ders.: Die Netz-Dawa, in: www.youtube.com (abg. am 21.03.2019). Mehr dazu bei Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 315ff. 147 Zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 254. 148 Siehe Vogel: Dawa mit Atheisten; ders.: Unser Vorschlag, in: www.youtube.com (abg. am 21.03.2019). 149 Vgl. Ibn Baz: Ḥukm kashf, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 21.03.2019). 150 Vogel: Einführung in die Dawa, in: www.youtube.com (abg. am 01.04.2019). 151 Vogel: Dawa mit Atheisten; ders.: Dawa Kurs 1, in: www.youtube.com (abg. am 01.04.2019). 152 Siehe ausführlich dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S 303.
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ähnlich, dass ein dāʿiya einen bestimmen Grad an Wissen erreicht haben müsse, bevor er sich in der daʿwa engagiere, wenngleich er nicht voraussetzt, dass man Experte sein müsse. Hierfür zitiert er die Koranstelle 12:108: »Sag: Das ist mein Weg: Ich rufe zu Gott aufgrund eines sichtbaren Hinweises, ich und diejenigen, die mir folgen.«153 Um das für die daʿwa notwendige Wissen zu erwerben, wird in diesem Zusammenhang empfohlen, den Koran und die Sunna zu studieren sowie die Werke salafistischer Gelehrter wie etwa Ibn Taymiyya, Ibn Qayyim und Ibn ʿAbd al-Wahhāb zu lesen und als Inspirationsquelle für die eigene daʿwa-Arbeit heranzuziehen.154 Die Meinung, dass für die daʿwa nur ein Basiswissen über den Islam nötig sei, teilen auch Vertreter nichtsalafistischer islamischer Bewegungen – wie etwa die Missionsbewegung Tabligh Jamaat, die ebenso wie die Salafisten sehr aktiv in der daʿwa sind und versuchen, eine möglichst große Anzahl an Muslimen als Laien-duʿāt (dies ist der Plural des arabischen Wortes dāʿiya) anzuwerben und entsprechend zu qualifizieren.155 Neben dem Wissen, das man sich für die daʿwa aneignen solle, müsse man, nach salafistischer Auffassung, weitere Tugenden wie Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Selbstbewusstsein aufweisen. Dies wird mit textlichen Belegen aus dem Koran und der Sunna begründet.156 Es wird darüber hinaus betont, dass duʿāt geduldig und standhaft sein müssten, um erfolgreich zu sein. Nur so würden sie es schaffen, die Herzen der Menschen zu erreichen. Diese Charaktereigenschaften und Verhaltensregeln werden in ihrer Wichtigkeit noch einmal betont, indem darauf verwiesen wird, dass schon der Prophet und die frommen Altvorderen sie an den Tag gelegt hätten.157 Die daʿwa der Salafisten richtet sich nicht nur an »ungläubige« Nichtmuslime, sondern auch an muslimische »Unwissende« und »Ungehorsame«.158 Die daʿwa an Nichtmuslime sei heute, nach salafistischer Auffassung, viel wichtiger und notwendiger als zuvor. Denn der Islam werde in den westlichen Medien immer wieder negativ dargestellt, insbesondere seit dem 11. September 2001. Auf dem Wege der daʿwa sollten Muslime versuchen, diesem Feindbild Islam entgegenzuwirken. Deutsche Salafisten wie Vogel kommentieren in diesem Zusammenhang, dass deutsche Medien absichtlich ein verzerrtes Bild über den Islam verbreiteten, um
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Vgl. al-Munajjid: Narrating hadeeth, in: www.islamqa.info/en (abg. am 01.04.2019). Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 283. Tablighi Jamaat stellt eine sunnitische Missionsbewegung dar, die sich für die daʿwa-Arbeit stark einsetzt. Sie wurde 1926 durch Maulānā Muhammad Ilyās (gest. 1944) in Indien gegründet und operiert heute weltweit. Siehe statt vieler Masud: Travellers in Faith, v.a. S. 3ff., 79ff.; Alexiev: Tablighi Jamaat, S. 3-11. Unter anderem werden in diesem Zusammenhang folgende Koranstellen angeführt: 16:125127, 18:28 und 3:159. Vgl. Wiedl: Außenbezüge, S. 61f. Siehe z.B. Vogel: Die Netz-Dawa, in: www.youtube.com (abg. 01.04.2019).
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
höhere Einschaltquoten zu erzielen. Journalisten wird vorgeworfen, einzelne Aussagen des Islam bewusst aus dem Kontext zu reißen, um Salafisten bzw. Muslime als gefährliche und radikale Extremisten framen zu können.159 Nach Wiedl ist der Kampf von Salafisten gegen sog. Islamophobie, Islamhetze und Islamhass »gekennzeichnet durch Verschwörungstheorien und oft auch einen selbstzentrieren Fokus. Salafisten framten sich als Opfer einer Hetzkampagne des Staates, der Medien und antiislamischer Gruppen.«160 Die daʿwa an Nichtmuslime verfolgt vor diesem Hintergrund das Ziel, sie zum einen für den Islam zu gewinnen und zum anderen das oft negativ konnotierte Bild des Islam in nichtislamischen Gesellschaften zu verbessern. Der Stellenwert der daʿwa im salafistischen Denken zeigt sich darüber hinaus darin, dass es sich ihren Inhalten, Formen und Methoden en détail widmet. Gelehrte und Prediger des Salafismus sind unterschiedlicher Meinung hinsichtlich der Frage, wo in der daʿwa die Schwerpunkte zu setzen seien; dabei läuft ihre Meinungsverschiedenheit im Wesentlichen auf die Priorisierung des Themas tauḥīd hinaus. Der tauḥīd stelle die Essenz der Botschaft aller Propheten dar. So empfehlen salafistische Gelehrte und Prediger, dass der Schwerpunkt der daʿwa an Nichtmuslime zunächst auf den theologischen Glaubensfragen liegen solle. Praktische religiöse Pflichten wie etwa das Gebet, das Fasten, die Sozialpflichtabgabe etc., also die Säulen des Islam (arkān al-islām), sollten erst dann angesprochen werden, wenn die ʿaqīda-bezogenen Glaubensinhalte, wie etwa der Glaube an die Einzigkeit und Einheit Gottes und der Gehorsam Ihm gegenüber, bereits behandelt worden seien. Hierbei geht es darum, die Liebe zu Gott sowie eine enge Beziehung zwischen Gott und dem zum Islam Eingeladenen zu schaffen, dies wiederum mit dem Ziel, dass er dann in der Lage sei, sein Herz auf Gott zu richten und sich in letzter Konsequenz Seinen Befehlen zu unterwerfen.161 Vogel meint zwar auch, dass der dāʿiya mit dem Thema tauḥīd beginnen solle, schränkt aber zugleich ein, dass dies keine feste Vorgabe sei. Man könne selbstverständlich auch andere Fragen ansprechen, je nach Gesprächsbedarf, Situation und Zielgruppe.162 Bilal Philips spricht ebenfalls von der Notwendigkeit, die Einladung zum Islam an die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten anzupassen. Es gebe keine starren Richtlinien, den man folgen müsse: »Einer, der zum Islam ruft, muss den geeignetsten Weg für diejenigen finden, die er oder sie ruft. Außerdem muss derjenige diese Methoden je nach den speziellen Umständen, in denen er
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Vgl. Vogel: 1/5 Dawa Kurs 5, in: www.youtube.com (abg. am 21.03.2019). Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 283. Vgl. Ibn Baaz: The Importance, S. 7. Ausführlich dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 329ff. Vgl. Vogel: Dawa Kurs 1 – Einführung; ders.: Dawa mit Atheisten, in: www.youtube.com (abg. am 22.03.2019).
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sich befindet, variieren, wie der Prophet Noah und die Propheten vor ihm es getan haben.«163 In diesem Kontext wird empfohlen, die religiösen Pflichten nicht direkt am Anfang anzusprechen, da dies potenzielle Konvertiten abschrecken könnte. Erst wenn der Gesprächspartner bereits an Gott, seine Gesandten, den Tag der Auferstehung etc. zu glauben begonnen habe, könne man die islamischen Pflichten nach und nach thematisieren. Dies sei letztlich auch eine göttliche Verfahrensweise: Gott habe die Vorschriften nicht von heute auf Morgen offenbart, sondern allmählich und in mehreren Schritten. So sei bspw. das Gebot etwa zum Fasten und das Verbot, Alkohol zu sich zu nehmen, nicht per einmaligem Dekret, sondern etappenweise offenbart worden, um es den Menschen auf eine für sie akzeptable Art und Weise zu ermöglichen, Seine Gebote zu befolgen bzw. Seine Verbote einzuhalten.164 Hinsichtlich der daʿwa an Muslime handelt es sich in erster Linie um Ermahnungen bzw. die Zurückgewinnung von Muslimen, die nach salafistischem Verständnis vom geraden Weg abgekommen sind oder Gottes Ge- bzw. Verbote nicht (mehr) einhalten. Dazu gehören Gruppen wie die »irregegangenen Schiiten und Ahbash«.165 Vor dem Hintergrund, dass Salafisten den Anspruch darauf erheben, das Monopol auf den »wahren« Islam zu haben und die Wahrheit zu repräsentieren, streben sie an, dass die Muslime der unterschiedlichen Glaubensrichtungen alle ihrer Ideologie folgen sollten, nach dem Vorbild der frommen salaf. Ihre daʿwa an Muslime manifestiert sich demnach vorwiegend darin, das Schlechte zu verbieten und das Gute zu gebieten.166 Der Fokus salafistischer daʿwa-Inhalte an Muslime richtet sich auf die Vermittlung der Glaubenslehre, dann auf die Belehrung über die gottesdienstlichen Pflichten (ʿibādāt), die »Reinigung« islamischer Rituale von unzulässigen Neuerungen (bidʿa, Pl. bidaʿ) und über den rechten Charakter eines Muslims. Dabei wird das salafistische Verständnis in den Vordergrund gestellt und verteidigt sowie dessen Umsetzung als die »korrekte« Herangehensweise angesehen. Vogel empfiehlt in diesem Zusammenhang, dass die daʿwa an Muslime taktisch erfolgen sollte. Anstatt den Gegenüber mit offener Kritik zu verletzen, solle der dāʿiya ihn ermutigen, seine rituellen Praktiken selbst zu überprüfen und zu korrigieren.167 Weitere aus salafistischer Sicht relevante Bereiche der daʿwa an Muslime stellen Themen wie die Erziehung und das islamische Recht
163 Philips: Mehr als achtzig Wege, in: www.way-to-allah.com (abg. am 22.03.2019). 164 Vgl. al-ʿUthaymeen: Inviting to Allaah, S. 48. 165 Siehe z.B. Vogel: Die Netz-Dawa, in: www.youtube.com (abg. am 01.04.2019). al-Ahbasch (die Habaschis) sind nach salafistischer Darstellung eine irregeleitete Gruppe, die sich gegen die ahl as-sunna richte. Ausführlich dazu das Ständige Komitee: Al-Ahbasch, in: www.islamfatwa.de (abg. am 07.02.2019). 166 Vgl. statt vieler Vogel: Wo bleibt die Liebe zur Religion; ders.: Unser Vorschlag, in: www.youtube.com (abg. am 07.04.2019); Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 290f. 167 Vgl. Vogel: Tipps zur Verbesserung der Dawa, in: www.youtube.com (abg. am 07.04.2019).
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
dar. Ein dāʿiya solle Muslime über Angelegenheiten wie das islamische Heirats-, Erb-, Kauf- und Verkaufsrecht aufklären. In diesem Kontext wird immer wieder betont, die vermeintlichen Scheinargumente andersdenkender Muslime, der sog. Modernisten, zu berücksichtigen und zu widerlegen.168 Nicht nur Gelehrte salafistischer Prägung sprechen der religiösen Bildung und der Erziehung eine besondere Stellung zu, sondern auch Vertreter anderer islamistischer Bewegungen, wie etwa al-Bannā, Abū l-Aʿlā Mawdūdī (gest. 1979) und al-Qaraḍāwī, erachten sie als elementaren Bestandteil der Wiedereinführung der Scharia-Normen ins alltägliche Leben der Muslime und somit als Mittel der »Re-Islamisierung« muslimischer Gesellschaften.169 Besonders für Muslime in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften sei die religiöse Erziehung von großer Relevanz, weil sie anderen Umständen ausgesetzt seien. Ibn Baz appelliert in diesem Zusammenhang an islamische Regierungen, Prediger in fremde Länder zu entsenden, um muslimische Minderheiten religiös zu bilden, mit dem Ziel, ihre islamische Identität vor fremden Einflüssen zu schützen.170 In diesem Kontext hebt Ibn Baz nicht nur die Rolle der saudischen Regierung bei der Unterstützung der Muslime im Westen hervor, vielmehr erachtet er es als Pflicht aller muslimischen Regenten, daʿwa im Namen der muslimischen umma als Ganzes auf der ganzen Welt voranzutreiben, wobei an dieser Stelle konkret von der salafistischen daʿwa und von Ibn ʿAbd al-Wahhābs Ideologie gesprochen wird. Der saudische Staat setze sich zwar schon seit Langem für die Verbreitung des Islam salafistischer Ausrichtung ein und stelle die dafür benötigten Ressourcen zu Verfügung, dies müsse aber noch gestärkt und von anderen Institutionen unterschiedlicher Couleur unterstützt werden.171 Mit solchen Überlegungen im Einklang, unterstreicht Vogel die Bedeutung religiöser Erziehung als ein Heilmittel gegen die Vernachlässigung religiöser Pflichten, die er als größtes Problem der Muslime Deutschlands und als Hauptursache aller Probleme betrachtet.172 Nicht nur die Salafisten messen der daʿwa eine zentrale Bedeutung bei. Viele andere islamische und islamistische Bewegungen setzen sich stark für die Mis-
168 Weiterführend dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 333ff. In arabischsprachiger Literatur werden Autoren wie Hanafi, Shahrur und Abu Zaid aufgrund ihrer progressiven, kritischen Ansätze zu den Quellentexten des Islam meist als »Modernisten« (ḥadāthīyūn) bezeichnet. Diese Bezeichnung wird hier beibehalten. Vgl. z.B. ʿAbdallāh: al-Ḥadātha, passim, z.B. S. 36ff., 233. 169 Vgl. mehr dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 290f.; Meier: Der politische Auftrag des Islam, passim. 170 Vgl. Ibn Baaz: The Importance of Muslim minorities adhering to Islaam, S. 19 und 33. 171 Vgl. z.B. Ibn Baz: Bayān ḥuqūq, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 24.05.2019). 172 Vgl. Vogel: Unser Vorschlag, in: www.youtube.com (abg. am 24.03.2019).
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sionsarbeit ein.173 Die ganze islamische Geschichte hindurch war die daʿwa ein zentrales Element der Verbreitung des Islam, und sie ist es immer noch. In der jüngeren Vergangenheit kommt der Muslimbruderschaft eine Pionierrolle bei der Weiterentwicklung der daʿwa zu. Ḥasan al-Bannā, Gründer dieser Bewegung, entwarf in seiner 1935 veröffentlichten Schrift »Unsere daʿwa« die grundlegenden Eckpfeiler der Missionsarbeit und ihr Verhältnis zu den Zielen der Muslimbrüder. Dort ruft er dazu auf, die daʿwa als umfassendes Konzept zu verstehen, das sich wie der Islam selbst auf alle Lebensbereiche erstrecken solle.174 Im Rahmen der 1962 in Saudi-Arabien gegründeten Islamischen Weltliga (Rābiṭat al-ʿĀlam al-Islāmī), welche aus Gelehrten und religiösen Akteuren verschiedenster Länder und Strömungen des Islam zusammengesetzt ist, wurde eine erste internationale daʿwa-Organisation geschaffen, die die daʿwa-Vereine in den verschiedenen Ländern unterstützt und koordiniert. Es wird zwar behauptet, generell im Interesse eines gemäßigten Islam zu agieren, jedoch fungiert die Liga de facto als religiös-politische Missionsorganisation des saudischen Staates und dient, entsprechend, als Mittel zur Verbreitung der wahhabitischen Version des Islam.175 Der saudische Staat übe auf die Politik der Liga »einen erheblichen, wenn auch nicht ausschließlichen Einfluss […]« aus, weil er einen substantiellen Anteil ihrer Finanzierung sichert.176 Weitere Institution Saudi-Arabiens, die bei der Finanzierung und Unterstützung globaler salafistischer daʿwa eine wichtige Rolle spielt, ist das saudi-arabische »Ministerium für islamische Angelegenheiten, Mission und Rechtleitung« (wizarat ash-shuʾūn al-islāmiyya wa-daʿwa wa-l-irshād).177 Auch al-Qaradawi hat die Relevanz der daʿwa schon vor Langem erkannt. Bereits seit seiner Jugendzeit predigte er in Moscheen und hielt zahlreiche Seminare zur daʿwa-Arbeit. In seiner im Rahmen der in Medina abgehaltenen internationalen daʿwa-Konferenz 1977 veröffentlichten Schrift Thaqāfat ad-dāʿiya (»Die Bildung des dāʿiya«) befasst er sich mit den verschiedenen Qualifikationen, die jeder dāʿiya zu erfüllen habe, um erfolgreich Missionsarbeit leisten zu können. Er betont, dass der dāʿiya neben den verschiedenen islamischen Wissenschaften auch über ausreichende Kenntnisse der Menschen und ihrer Lebensumstände (thaqāfa wāqiʿiyya)
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Vgl. statt vieler Canard: Daʿwa, S. 168ff.; Masud: Travellers in Faith; Wiedl: Daʿwa, v.a. S. 61ff., 81ff. Vgl. al-Bannā: Majmūʿat rasāʾil, passim; siehe auch ders.: Our Message, unter: www.2muslims. com (abg. am 12.03.2019); Wrogemann: Missionarischer Islam, S. 98-108. Der Präsident der konstituierenden Versammlung ist immer der oberste Mufti SaudiArabiens, und auch der Generalsekretär muss laut Satzung stets zu den »Söhnen des Landes« gehören, d.h. aus Saudi-Arabien stammen. Vgl. Schulze: Islamischer Internationalismus, S. 204, 213ff. Wrogemann: Missionarischer Islam, S. 169. Vgl. Schulze: Islamischer Internationalismus, insb. S. 266-317; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 31ff.; www.moia.gov.sa (abg. am 02.09.2019).
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
verfügen müsse. Dazu gehöre die Kenntnis anderer Religionen, der Politik und der Lebensrealität in der islamischen Welt. Ähnlich wie al-Bannā betonen al-Qaradawi und Ibn Baz, dass die daʿwa auch mit modernen Mitteln wie Zeitungen, Theaterstücken, Filmen, Radio, Fernsehen und Internet sowie weiteren möglichen Massenmedien erfolgen sollte. Aufgrund des weltweiten Bedarfs an daʿwa-Arbeit stellten die Massenmedien und damit auch das Internet ein zeitgemäßes und notwendiges Werkzeug dar.178 Während die Infostände und das Vortragswesen einiger Prediger meist nur lokale Bezüge hätten, ermögliche die Nutzung moderner Medien, allen voran des Internets, die salafistische daʿwa voranzutreiben und somit ihre Lehre weltweit zu verbreiten. Ibn Baz erstellte in diesem Sinne eine Fatwa, in der er die Nutzung moderner Medien für die Mission befürwortet und die Muslime explizit dazu auffordert.179 In der Fatwa heißt es: »The use of media has become one of the most successful and beneficial means of communication in this age.«180 Was die daʿwa der Salafisten attraktiv macht, ist ihr vermeintlich klares Weltbild, charakterisiert durch Schwarz-Weiß-Denken, richtig oder falsch bzw. erlaubt oder verboten. Auch ihre Einteilung der Menschen in der Gesellschaft in »gläubig« und »ungläubig« ist ein Bestandteil dieser Ideologie. Diese vereinfachte Weltanschauung ermöglicht es ihnen, klare und einfache Antworten auf alle möglichen Fragen zu geben. Dies nimmt vielen Menschen, vor allem Jugendlichen, den Entscheidungsdruck ab, da sie nicht mehr selbst abwägen müssen und somit die Verantwortung für ihr Handeln nicht mehr bei ihnen liegt. Für sie ist der Salafismus die Lösung für sämtliche Probleme der Gegenwart. Zudem propagieren die Salafisten ein einziges klares Ziel für das menschliche Leben, nämlich den Eingang ins Paradies.181 Diese Weltsicht kann vor allem auf Personen attraktiv wirken, die nach Orientierung suchen bzw. sich aufgrund ihrer Herkunft oder Religion von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert fühlen, also die, die von Erfahrungen der Perspektivlosigkeit und Desintegration geprägt sind:182 »Religiöse Identifikation kann für Muslime in Situationen der empfundenen oder tatsächlichen Ausgrenzung und Diskriminierung zu einer Ressource gegen soziale Entfremdung werden. Die empfundene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime bietet Anerkennung und Chancengleichheit, die woanders nicht zu finden ist. Der Islam bietet zudem eine bereichernde Alternative zur »Welt da draußen,« die der Abgrenzung vom »anderen« und persönlichen Gefühlen der Entfremdung von Siehe z.B. al-Qaradawi: al-Islām wa-stiʿmālāt al-internet, in: www.aljazeera.net; Ibn Baz: adDaʿwa ilāallāh, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 25.03.2019). 179 Vgl. Harms: Cyberdaʿwa, S. 87-88; al-Faqīh: Die Verwendung des Internets, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 27.03.2019). 180 Ibn Baaz: Words of Advice, S. 79. 181 Vgl. Ragunathan: Der Salafismus, S. 40f. 182 Roy: Der islamische Weg, S. 265f.; Brettfeld/Wetzels: Junge Muslime in Deutschland, S. 268, 286; Ragunathan: Der Salafismus, S. 32– 47, 76.
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und/oder Zurückweisung durch die Mehrheitsgesellschaft einen religiösen Sinn verleiht.183 Dass einige Nichtmuslime zum Islam übertreten, wie es in unterschiedlichen im Internet kursierenden feierlichen Videos gezeigt wird, wird von deutschen Predigern des Salafismus als Beweis für den Erfolg ihrer daʿwa-Arbeit und die Überlegenheit ihres Islamverständnisses aufgefasst.184 Indem sie die Lebensgeschichten von Konvertiten und ihre Konversion zum Islam entweder verschriftlichen oder in Kurzfilmen aufzeichnen und als Werbung verwenden, wollen sie Nichtmuslime dazu bewegen, dem Weg dieser Konvertiten zu folgen und auch zum Islam überzutreten. Wiedl zufolge stellen diese Konversionsnarrative ein weit verbreitetes Element moderner daʿwa dar. In diesen kurzen autobiographischen Erzählungen erklären die Konvertiten ihren Übertritt zum Islam, was dazu dienen soll, die Wahrheit und Schönheit der Botschaft des Islam sowie seine positive Wirkung auf Nichtmuslime zu zeigen. Diese Art Propaganda für Konversionen auf daʿwa-Webseiten soll darüber hinaus dazu dienen, dass Muslime die Überzeugungskraft ihrer Religion sehen und sie somit in ihrem Glauben zu festigen.185 Salafistische Prediger vermitteln ihrem Publikum, dass sie die gerettete Gruppe seien (al-firqa al-nājiyya), die einer Überlieferung des Propheten zufolge die einzige von 73 muslimischen Gruppen sei, die dem Weg des Propheten und seiner Gemeinschaft folge und demnach ins Paradies eingehen werde.186 In diesem Kontext spielen Schlagworte wie »Tag der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts«, »Paradies«, »Hölle«, »Jenseits« und »Tod« eine zentrale Rolle bei der Vermittlung salafistischer Ideologie. Als Belohnung erwarte salafistische Muslime ein ewiges Glück im Paradies, wohingegen »Ungläubige« (Nichtmuslime sowie angeblich vom Islam abgefallene Muslime) mit ewigem Höllenfeuer rechnen sollten. Muslime, die Sünden begehen, werden nach salafistischem Verständnis für eine begrenzte Zeit in der Hölle bestraft werden.187 Auf diese Weise will man im Salafismus Nichtmuslime dazu bewegen, den Islam anzunehmen, und Muslime ermutigen, den Islam gewissenhaft zu prakti183 Wiedl: Außenbezüge S. 69. Weiterführend dazu Tietze: Formen der Religiosität, S. 239-263. 184 Vgl. z.B. Vogel: Neue MuslimInnen, in: www.youtube.com (abg. am 20.02.2019). 185 Vgl. Dabbagh: Wie stelle ich den Islam vor, in: www.youtube.com (abg. am 07.02.2019); Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 276. 186 Das Konzept der »geretteten Gruppe« basiert u.a. auf folgendem Prophetenspruch, »›Wahrlich, die Leute des Buches vor euch teilten sich in 72 Sekten. Und diese Nation (Ummah) wird sich in 73 Sekten spalten, 72 davon sind im Feuer und eine im Paradies.‹ Und in einer anderen Überlieferung: ›Alle sind im Feuer, außer einer.‹ Es wurde gefragt: ›Wer ist diese eine?‹ Er – Allahs Heil und Segen auf ihm – antwortete: ›Das, worauf ich und meine Gefährten beruhen‹.« Für das Konzept der al-firqa al-nājiya vgl. van Ess: Der Eine und das Andere, S. 7-64. 187 Vgl. z.B. Ibn Baz: aṭ-Ṭuruq, in: www.binbaz.org (abg. am 19.07.2019); Wiedl: Außenbezüge, S. 65; dies.: Zeitgenössische Rufe, S. 261.
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zieren und ihre Prioritäten vom Diesseits auf das Jenseits zu verschieben. Diese sog. »schwarze Pädagogik«188 findet sich nicht nur in der Argumentation des Mainstream-Salafismus, sondern lässt sich ebenfalls in der Rhetorik militanter Salafisten feststellen. Auch wenn die Zielsetzungen dieser beiden Parteien unterschiedlich sind, gibt es gewisse Parallelen zwischen beiden Strömungen, die sich darin manifestieren, dass beide ein Heilsversprechen für das Jenseits abgeben bzw. Höllenstrafen für nicht wahrhaft Gläubige beschwören.189 »Beide versuchen, Muslime durch Heilsversprechen im Jenseits davon zu überzeugen, dass die Erfüllung einer von ihnen als religiöse Pflicht definierten Tätigkeit dem Individuum langfristig gesehen mehr Nutzen als Schaden bringe und demnach auch dann rational sei, wenn ein Muslim vorwiegend am eigenen Wohlergehen interessiert ist und nicht bereit ist, sich aus altruistischen Gründen für das Wohl der gesamten umma aufzuopfern.«190
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Das salafistische Denken stützt sich auf den Koran und die Sunna (Überlieferungen vom und über den Propheten Muhammad) in Anlehnung an die Interpretationen und Aussagen von Autoritäten aus der Frühzeit des Islam, vor allem der ersten drei Generationen der muslimischen Gemeinschaft. Allerdings berufen sich auch konservative wie liberale Reformbewegungen auf diese Quellen und das Kulturerbe des Islam. Hier liegt ein Anliegen vor, das Muslime aller Richtungen eint. Was aber die salafistische Weltanschauung auszeichnet und ihre Lehre somit erzkonservativ macht, ist, dass Fürsprecher des Salafismus die zwei Grundlagen Koran und Sunna, einschließlich des intellektuellen Erbes der ersten Muslime, als universalistisch, statisch und unveränderlich erachten und sie heute soziale Realität werden lassen wollen. Eine adäquate Anpassung dieser Grundtexte an Erfordernisse der Zeit bleibt aus. Vielmehr basiert ihre Lehre weitestgehend auf einem wortgetreuen Verständnis der Primärquellen des Islam. Dies ist an ihrer Auffassung der Glaubenslehre, der Normenfindung und des Fatwa-Wesens eindeutig erkennbar. Ohne die politischen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten, in denen die koranischen bzw. prophetischen Aussagen verlautbart wurden, zu beachten, fordern Salafisten die Rückkehr zu diesen als heilig angesehenen Schriften als einziger Quelle der Gesellschafts- und Staatsordnung. Dabei behaupten sie, dass diese religiösen Texte
188 Lohlker: Salafismus, in: www.sicherheitspolitik-blog.de (abg. am 19.03.2019). 189 Vgl. Wiedl: Außenbezüge, S. 65; Lohlker: Salafismus, in: www.sicherheitspolitik-blog.de (abg. am 19.03.2019). 190 Wiedl: Außenbezüge, S. 65.
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Antworten auf alle Fragen des Lebens lieferten. In der Befolgung der daraus deduzierten Normen und Werte liegt aus salafistischer Perspektive der einzige Ausweg muslimischer Gesellschaften aus ihrer intellektuellen, wirtschaftlichen und politischen Krise. Das für Salafisten goldene Zeitalter, nämlich das Zeitalter der salaf, gilt dabei stets als Vorbild und Orientierung. Die Anhänger des Salafismus sehen in ihrer vermeintlich gottgefälligen und an Koran und Sunna ausgerichteten Lebensweise die Verwirklichung ihrer Idealvorstellungen. Diese spiegelt sich nicht nur in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild (zumeist Pluderhosen, Bart und Gebetsmütze bei Männern, Kopftuch bzw. Niqab und weite Kleidung, die den ganzen Körper (ggf. bis auf Hände und Füße) verhüllt, bei Frauen) wider, sondern auch in ihrer Haltung zu vielen anderen Fragen, wie etwa zur Toleranz und zur Rechtsstellung der Frau sowie zur Gleichberechtigung etc., wie im Verlaufe der vorliegenden Studie gezeigt werden soll. Salafisten wollen die über die Jahrhunderte hinweg erfolgten Entwicklungen und Veränderungen des Lebens völlig ausblenden und starr nach überkommenen Traditionen leben. Sie bedenken dabei nicht, dass sich viele Fragen aufgrund der unentwegten Lebensveränderungen weder durch den Koran noch durch die Überlieferungen des Propheten beantworten lassen. Dies ist ja der Tatsache geschuldet, dass aus den unterschiedlichsten Veränderungen des Lebens immer wieder neue Fragen entstehen, während die Texte der Offenbarung die Gesellschaft des siebten Jahrhunderts ansprechen. Ebenfalls problematisch ist die von Salafisten angestrebte islamische Staats- und Gesellschaftsordnung, für die sich in den Grundtexten keine konkreten Vorgaben finden lassen. Was nun den Umgang von MainstreamSalafisten und dschihadistischen Salafisten mit den Quellentexten unterscheidet, ist, dass erstere die militärischen Dschihad-Verse kontextualisieren und somit Gewaltanwendung ablehnen, wenngleich dies nur taktisch erfolgt, während letztere sie buchstabengetreu verstehen und den Dschihad zur sechsten Säule des Islam erklären. Das salafistische Denken ist trotz der auf diversen Kanälen erfolgenden daʿwaBemühungen der Salafisten nicht prägend für alle Muslime. Es gibt viele andere Stimmen, die sich gegen dieses ultrakonservative Islamverständnis erheben und zeitgemäßere Ansätze liefern. Wenngleich sie methodisch unterschiedlich vorgehen, eint sie alle das Ziel, Islam und Moderne, durchaus unter Rückbesinnung auf den Koran und die Prophetentradition, zu versöhnen. Diese Bemühungen lassen sich in zwei Positionen zusammenfassen: Die erste, vertreten von zeitgenössischen Intellektuellen wie Abu Zaid, Shahrur und Hanafi, setzen sich für ein toleranteres, pluralistisches und moderates Islamverständnis ein. Auch machen sie sich für eine Neufassung der Scharia stark, die mit den Ansprüchen der Menschenrechte vollständig kompatibel ist. Teile des Koran werden in diesem Sinne in ihrem historischen Kontext verortet, während Aussagen des Propheten Muhammad als Rechtsquelle nur dann anerkannt werden, wenn sie durch die göttliche Offenbarung im
III. Grundzüge und Leitkonzepte salafistischen Denkens
Koran bestätigt sind oder mit seinen Grundprinzipien nicht kollidieren. Ihr Anliegen ist dabei keinesfalls, das gesamte Sunna-Korpus auf Gedeih und Verderb über Bord zu werfen, sondern vielmehr, auf Grundlage eines historisch-kritischen Auswahlverfahrens zu einem zeitgemäßen Verständnis der Sunna zu gelangen, das sich an die Erfordernisse der Zeit anpasst und den Fragen des modernen Lebens gerecht wird. In diesem Sinne sind sie bemüht, die normative Stellung der Sunna zu kontextualisieren oder zu relativieren, insbesondere in Bezug auf jene Fragen, die im Widerspruch zu Menschenrechten, Glaubensfreiheit und zur Gleichberechtigung von Mann und Frau stehen. Diese reformerische und flexible Haltung gegenüber den Quellentexten zeigt sich ebenfalls in ihrem Umgang mit dem turāth, d.h. den tradierten Rechtspositionen und Lehrmeinungen. Ziel ist in letzter Konsequenz, zwischen islamischen Lehren und Grundwerten moderner säkularer, freiheitlicher und pluralistischer Gesellschaftsordnungen zu vermitteln. Repräsentanten dieser Denkrichtung werden von Salafisten als Häretiker und Heuchler bezeichnet und nicht selten des Unglaubens bezichtigt. Die zweite Richtung, vertreten von dem der islamistischen Szene zuzurechnenden al-Qaradawi, setzt sich ebenfalls, wie die sog. Modernisten und Reformdenker, für die Anpassung der Interpretation der Quellentexte sowie Traditionen an die Erfordernisse der Gegenwart ein, bleibt letztlich aber, ähnlich wie die Salafisten, in der Tradition stehen. Denn auch Vertreter des Islamismus fassen die religiös-islamischen Grundtexte als solche auf, die allumfassend und absolut seien und die alle Bereiche des Wissens sowie sogar künftige Erkenntnisse abdeckten. Durch eine historisch-kritische Re-Interpretation einiger Inhalte der Quellentexte und eine selektiv revidierte Lektüre des turāth erhoffen sie sich jedoch, und just hier heben sie sich von den Salafisten ab, die nötige Flexibilität für die Versöhnung von Islam und Moderne. Wie am Beispiel al-Qaradawis gezeigt, beansprucht diese Schule der sog. wasaṭiyya (»Weg der Mitte«) einen Ausgleich zwischen zwei aus ihrer Sicht extremen Polen einzunehmen: zwischen den Reformvertretern, die nach ihrer Darstellung alles Fremde vom Westen übernehmen wollten, und denjenigen, die starr am Wortlaut der Referenztexte festhielten und sich an der Lebensordnung des frühen Islams orientierten, ohne den Veränderungen des Lebens Rechnung zu tragen. Die islamistische Vorstellung von Reform ist im Großen und Ganzen ein Mittelweg »zwischen den rückwärtsgewandten, fanatischen Verehrern des Alten (der Tradition) und des starren Festhaltens am Vergangenen auf der einen und den blinden Anbetern des Neuen (Westlichen) und der unbedingten Veränderung auf der anderen Seite.«191 Ein vollständiger Bruch mit der Tradition des frühen Islam kommt für die Islamisten nicht in Frage, vielmehr versuchen sie, eine Kontinuität zwischen der Tradition und der Moderne herzustellen. Indem sie aber den Islam als Staat und Religion auffassen und viele von ihnen einige problematische Teile der Scharia, 191
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wie etwa die Körperstrafen und die mangelnde Gleichstellung der Geschlechter, für unwandelbar betrachten und diese soziale Realität werden lassen wollen, bewegen sie sich in ihren Forderungen größtenteils im Kreis des politischen Salafismus.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
1.
Islam Q&A
Die saudische Website Islam Q&A ging im Jahre 1997 online und gilt somit als eine der ersten Plattformen, die facettenreiche Informationen über den Islam bietet.1 Sie stellt sich als »eine wissenschaftliche, pädagogische Daʿwa-Website« dar.2 Dennoch widmet sie sich, wie ihr Name schon verrät, in erster Linie der Erstellung von Fatwas zu unterschiedlichen Themenbereichen und kann somit eher als Online-Fatwa-Dienst angesehen werden. Sie begreift Fatwas nicht nur als Mittel zur Beantwortung von Fragen, sondern auch für die daʿwa, d.h. die Propaganda zugunsten der Verbreitung des Islam. Die Site verfolgt nach ihrer Selbstpräsentation folgende Agenda: »1. Die Verbreitung des Islams und die Einladung zu ihm. 2. Die Verbreitung von islamischem Wissen und die Aufhebung der Unwissenheit unter den Muslimen. 3. Die Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen, indem wir islamrechtlich nachgewiesene Ratschläge und Antworten bereitstellen. 4. Die Widerlegung der Scheinargumente derjenigen, die Zweifel in den Islam säen. 5. Die Weisung der Menschen in Problemen des Lebens, indem wir wissenschaftliche, pädagogische, gesellschaftliche usw. Ratschläge erteilen.«3 Schon der Aufbau der Startseite von Islam Q&A bietet den Nutzern einen Überblick über aktuell diskutierte Fragen und die Fatwas dazu. Dort gibt es zwar auch andere Rubriken wie etwa Lerne den Islam kennen oder Bücher und Artikel, diese beinhalten aber vorwiegend ebenfalls Fatwas und Ratschläge zu Fragen unterschiedlicher Natur. Formell werden alle Fatwas durch eine Anfrage eingeleitet, wobei aufgrund 1
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Bunt schreibt dazu: »[The Site Islam Q&A is] one of the long-standing fatwa/question sites in a web format«. Mehr dazu in Bunt, Islam in the Digital Age, S. 138f.; ders.: Hashtag Islam, S. 87. Siehe auch El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 121f. https://islamqa.info/ge/about-us (abg. am 19.07.2019). Siehe https://islamqa.info/ge/about-us (abg. am 19.07.2019); Bunt: Islam in the Digital Age, S. 139.
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von Vertraulichkeit keine Angaben zum Ratsuchenden gemacht werden. Die Site bietet ihren Usern die Möglichkeit an, via E-Mail Anfragen an den Gelehrten zu stellen, dafür muss man aber registriert sein.4 Die Website stellt ihre Inhalte in 15 Sprachen zur Verfügung, darunter Arabisch, Englisch, Deutsch, Chinesisch, Französisch, Spanisch, Japanisch, Indonesisch, Russisch, Türkisch und Persisch.5 Als Betreiber sowie als religiöse Autorität fungiert dort Muhammad Ṣāliḥ alMunajjid. Er wurde 1961 in Syrien geboren und emigrierte in jungem Alter mit seinen Eltern nach Saudi-Arabien. Dort beendete er seine schulische Ausbildung in Riad, studierte anschließend in Dhahran an der King Fahd University of Petroleum and Minerals (KFUPM) und graduierte mit einem Bachelor in Industrial Management. Eine religiöse Ausbildung genoss er privat bei namhaften Gelehrten salafistischer Prägung wie etwa Ibn Baz, Muhammad Naṣr ad-Dīn al-Albānī, Muhammad b. Ṣāliḥ al-ʿUthaimīn (gest. 2001) und Ṣāliḥ b. Fauzān al-Fauzān (geb. 1933). Diese haben sein Denken maßgeblich geprägt, was man an vielen seiner Stellungnahmen und Fatwas zu verschiedenen Fragen erkennen kann. Seine Popularität über die Grenzen der arabischsprachigen Welt hinaus hängt mit seiner intensiven Mediennutzung zusammen. Durch seine zahlreichen Fernsehauftritte, wie etwa auf Iqraʾ TV und Al-Majd TV, sowie eine mehrsprachige Internetpräsenz wie auf Islam Q&A schaffte er es, weltweite Popularität zu erlangen und eine nicht zu unterschätzende Autorität bei vielen Muslimen weltweit zu genießen.6 Darüber hinaus agiert die Seite auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram.7 Die auf der Website zur Verfügung gestellten Fatwas beschränken sich nicht auf einen Themenbereich, sondern erstrecken sich auf alle Belange des Lebens; es gibt kaum Tabuthemen. Sie sind systematisch nach Themen in ein Fatwa-Archiv eingeordnet, teils nur in der Originalsprache, teils auch in der jeweiligen Übersetzung.8 In elf Kategorien sind die dort behandelten Fragen eingeteilt: von Fragen dogmatischer, exegetischer, philosophischer und gottesdienstlicher Natur über familiäre und gesellschaftliche Angelegenheiten und Erziehung bis hin zu Missionierungsmethoden und Politik.9 Die Frage, wie die Erstellung von Fatwas methodisch er-
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Vgl. https://islamqa.info/en/sendq (abg. am 29.04.2018). Siehe Anh. 1. Vgl. al-Munajjid: at-Taʿrīf, in: www.islamqa.info.ar (abg. am 25.04.2018); Bunt: Hashtag Islam, S. 87f. https://www.facebook.com/IslamQAcom; https://twitter.com/IslamQAcom (abg. am 25.04.2019). Vgl. https://islamqa.info/ge (abg. am 29.04.2018); Anh. 2. Im Verhältnis zu den in arabischer und englischer Sprache konzipierten Websites verfügt die deutschsprachige Site über wenig Inhalt. Während die Kategorie Scharia und Politik bspw. ausschließlich vier Fragen beinhaltet, bieten die entsprechende arabisch- sowie englischsprachige Seite eine breite Auswahl an einschlägigen Themen. Vgl. https://islamqa.info/ge/tree; https://islamqa.info/ar/cat/309; https://islamqa.info/ar/cat/ 429 (abg. am 29.04.2018). Die arabisch- sowie englischsprachigen Inhalte werden im
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
folgt, wird vom Sprecher der Islam Q&A nicht thematisiert. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass der Koran, die Sunna und Rechtsansichten früherer Gelehrter, einschließlich der vier bekannten sunnitischen Rechtsschulen (Ḥanafiyya, Mālikiyya, Shāfiʿiyya und Ḥanbaliyya) die Grundlagen ihrer Begutachtung von Rechtsfragen seien. Die Entscheidungen und Beschlüsse moderner islamischer Rechtsorganisationen und -akademien fänden ebenfalls Beachtung.10
2.
Islamweb.net/de
Die Webseite Islamweb.net ist ebenfalls eine der ersten islamischen Internetseiten, die umfassende Informationsangebote über den Islam bieten. Sie ging 1998 online und stellt ihre Inhalte heute in fünf Sprachen zur Verfügung (Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch), wobei die arabisch- und die anderssprachigen Versionen vom Inhalt her nicht deckungsgleich sind. Viele Angebote lassen sich nur zum Teil in der jeweiligen Sprachfassung finden.11 Die Site ist dem Religionsministerium Katars unterstellt und wird von ihm finanziert.12 Sie verkündet ähnlich wie Islam Q&A das Ziel, daʿwa zu betreiben, d.h., den Islam weltweit zu verbreiten: »Unsere Seite hat sich zum Ziel gesetzt, dass sich sowohl die Muslime als auch die Nichtmuslime der Botschaft des Islām bewusster werden, um die Menschen vor der Strafe Gottes zu warnen und die frohe Botschaft des Islām zu verkünden.«13 Auch diese Site macht von anderen Kanälen wie YouTube oder sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter Gebrauch.14 Auf diesem Wege strebt das Portal an, seine Inhalte, die zumeist von salafistischen Predigern stammen, schnell unter Internetnutzern zu verbreiten und ein breites Publikum zu erreichen. Wenngleich sich das Portal hautsächlich als Missionierungsinstitution darstellt, nimmt seine Funktion als Beratungsstelle für Muslime wie Nichtmuslime einen noch größeren Platz ein. Die arabischsprachige Fatwa-Rubrik enthält über eine Million Fatwas.15 Diese sind aber teils nur in einer bzw. wenigen Sprachversionen abrufbar. In deutscher Sprache waren zum Tag der Datenerhebung 1.833
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praktischen Teil der vorliegenden Studie v.a. bei der Thematisierung politikbezogener Fragen berücksichtigt. Vgl. ebd. Vgl. z.B. www.islamweb.net/ver3/de/fatawa/; www.islamweb.net/ver3/ar/fatwa/ (abg. am 02.05.2018). Dieser Abschnitt stützt sich zum Teil auf folgende Publikation des Autors: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 123-125. Vgl. al-Faqīh: Man naḥnu (die Selbstdarstellung der Webseite), in: www.islamweb.net/ar (abg. am 29.04.2018); Gräf: Medien-Fatwas, S. 256. Vgl. al-Faqīh: Über uns, in: www.islamweb.net/de (abg. am 27.05.2018). Vgl. https://www.youtube.com/user/islamweb1; https://www.facebook.com/islamwebgerman/; https://twitter.com/islamweb_D (abg. am 05.08.2019). Vgl. https://www.islamweb.net/ar/fatwa/ (abg. am 05.08.2019).
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Fatwas verfügbar. Die Themenbereiche decken, wie bei Islam Q&A, alle Aspekte des Islam ab, wie etwa islamische Glaubenslehre, koran- und sunnabezogene Themen, Fragen zur Politik und Gesellschaft, Medizin, die Biographie des Propheten Muhammad, Fragen über den Aufruf zum Islam, über islamische Erziehung und gutes Benehmen.16 Neben dem Fatwa-Bereich werden noch andere Serviceleistungen in Form von Büchern, Artikeln und Tondokumenten (Multimedia) angeboten, die einschlägige Themenschwerpunkte behandeln.17 Islamweb.net gewährt im Unterschied zu Islam Q&A Einsicht in die Methodik hinter der Entstehung der publizierten Fatwas: Ein islamrechtlicher Expertenausschuss sei für das Schreiben, die Kontrolle und die Bewilligung zuständig. Folgende Maßnahmen werden in unterschiedlichen Schritten von verschiedenen Personen ergriffen, um eine Fatwa zu erstellen: Schreiben der Antwort, Prüfung, Zulassung, Endkontrolle des Textes und zum Schluss Onlinestellung. Der Ausschuss setzt sich nach Angaben der Internetseite aus Hochschulabsolventen islamischer Universitäten in Saudi-Arabien, der Imam Muhammad Ibn Saud-Universität in Riad und islamischer Universitäten im Jemen und in Mauretanien. Der in Mauretanien geborene und zurzeit in Katar lebende Gelehrte ʿAbdullāh al-Faqīh (geb. 1964), der im Islamischen Recht an der islamischen Universität zu Sudan promovierte, wird als Oberhaupt der Expertengruppe geführt.18 Was die Quellen und Methoden der Fatwa-Erstellung angeht, greift der Fatwa-Ausschuss auf die sunnitischen Rechtsquellen zurück: Koran, Sunna, den tradierten Gelehrtenkonsens und die Analogiebildung. Hierbei würden zeitliche und örtliche Entwicklungen und Veränderungen berücksichtigt, weswegen zum einen überholungsbedürftige Fatwas modifiziert und zum anderen zeit- und ortsabhängige Fatwas erteilt werden. Trotz ihrer Behauptung, »ausgewogene und moderate Meinungen zu vertreten«, zieht die Website des Öfteren Äußerungen und Fatwas salafistischer Gelehrter wie etwa Ibn Baz und al-ʿUthaimīn zu Rate.19 Der Frage, ob sie ihren Ansprüchen auf die Berücksichtigung der Lebensumstände bei der Erstellung von Fatwas gerecht wird, wird im praktischen Teil der vorliegenden Studie nachgegangen.20
16 17 18 19 20
Vgl. https://www.islamweb.net/de/fatawa/?pageno=123 (abg. am 05.08.2019). Vgl. https://www.islamweb.net/de/index.php?page=qareename (abg. am 05.08.2019). Vgl. ebd.; Abū al-Ḥasūs: Tarjamat ash-shaykh, in: www.ahlalhdeeth.com (abg. am03.05.2018). Vgl. z.B. www.islamweb.net/de/index.php?page=result&q=ibn+baz (abeg. am 27.03.2019). Vgl. dazu Kap. V. der vorliegenden Studie.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
3.
Islamfatwa.de
Das Internetportal Islamfatwa.de startete im Jahre 201221 und ist anders als die oben dargestellten Portale ausschließlich in deutscher Sprache gehalten. Dabei handelt es sich um eine Fatwa-Datenbank, die sich zum Ziel gesetzt hat, Fatwas aus dem Arabischen ins Deutsche zu übersetzen und online zu stellen.22 Das Impressum weist Nasser Malik als Betreiber und Hamburg als Standort aus. Andere salafistisch geprägte Websites nennen ebenfalls Malik als Betreiber,23 wobei mit Hinweis auf Sicherheitsbedenken keine weiteren Angaben über seine Person oder weitere Mitwirkende gemacht werden.24 Das Portal ist in einfachem Design gehalten, Nutzer haben sogleich Zugriff auf aktuell angebotene Fatwas sowie auf Links zu ähnlichen Internetportalen salafistischer Orientierung wie bspw. Basseera.de oder Erbederpropheten.de.25 Laut Angaben der Website gehen alle dort übersetzten Fatwas auf Gelehrte salafistischer Prägung zurück. Es handelt sich dabei entweder um Vordenker des Salafismus wie etwa Ibn Taimiyya und Ibn Qaiyyim al-Jauziyya oder um seine zeitgenössischen Leitfiguren wie z.B. Ibn Baz, al-ʿUthaimīn und al-Fauzān, die hauptsächlich aus Saudi-Arabien stammen. Dies stützt die Vermutung, dass diese Website von saudischer Seite finanziert wird, wenngleich das Portal selbst darüber keine Angaben macht. Vielmehr weisen seine Vertreter die Behauptung zurück, »Wahhabiyyah-Agenten« zu sein. Sie seien vielmehr »die Rufer zu Allah«26 In einer großen Auswahl sind viele systematisch geordnete Fragen aufgelistet, die sich in folgende Kategorien einordnen lassen: Theologie, Koranexegese, Hadithwissenschaften, Gottesdienst, islamisches Finanzwesen, Geschlechterrollen, Politik, zwischenmenschliche Handlungen und zudem Fragen zum Alltag des Menschen hinsichtlich Ernährung, Kleidung, Körperpflege und Unterhaltung.27 Bei jeder Frage gibt es Querverweise zu ähnlichen Fragen. Formell werden alle Fatwas durch eine Anfrage eingeleitet, wobei keine Angaben zum Ratsuchenden gemacht 21
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Vgl. https://web.archive.org/details/; https://islamfatwa.de/(abg. am 18.05.2018). Dieser Abschnitt basiert zum Teil auf einem bereits veröffentlichten Artikel des Autors: Fatwas und Muftis, S. 57-77. Vgl. Malik: Was ist islamfatwa.de?, in: www.islamfatwa.de (abg. am 4.05.2018). Vgl. z.B. https://erbederpropheten.de/impressum und https://islamgegenextremismus.de/ impressum/ (abg. am 10.05.2018). Siehe https://islamfatwa.de/impressum (abg. am 25.05.2019). Bis Mai 2018 gab das Impressum Khidr Malik als Betreiber der Site und als Standort Manchester an. Siehe dazu El-Wereny: Fatwas und Muftis, S. 63. Siehe Anh. 5; Zu den weiteren dort verlinkten Webseiten zählen http://miraath.de/ und https://al-madinah.de/ (abg am 14.04.2018). Vgl. al-Wādiʿī: Einblicke in unsere ʿAqiidah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 14.05.2018); https://islamfatwa.de/gelehrte (abg. am 22.05.2018). Siehe Anh. 6.
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Radikalisierung im Cyberspace
werden. Am Ende einer jeden Antwort wird der Name des Muftis bzw. der iftāʾInstitution angegeben, die fast allesamt eine salafistische Prägung aufweisen. So ist das Ständige Komitee für islamische Forschung und Rechtsfragen28 , 1971 durch König Faisal (gest. 1975) ins Leben gerufen, mit 414 Fatwas vertreten.29 Dieses Komitee berät zum einen die Regierung Saudi-Arabiens in Sachen Politik und Gesetzgebung und ist zum anderen der Bevölkerung bei der Beantwortung von Fragen unterschiedlicher Art dienlich. Geleitet wurde es bis 1999 vom Großmufti Saudi-Arabiens Ibn Baz, der auf der Website Islamfatwa.de mit 247 Fatwas präsent ist.30 Die Übersetzung der Fatwas wird, wie die Site selbst angibt, ehrenamtlich von Mitarbeitern vorgenommen, die sich bezeichnen als »[…] Muslime, die bestrebt sind dem Qur’aan und der Sunnah des Propheten […] zu folgen, nach dem Verständnis der rechtschaffenen Vorfahren (Salaf-us-saalih)«.31 Indem sie jeglicher Form »metaphorischer Interpretation« der Quellentexte (taʾwīl) ablehnend gegenüberstehen und die normativen Quellen lediglich in ihrer vermeintlich offensichtlichen Bedeutung, d.h. wortgetreu, verstanden wissen wollen, weisen sie nach, wie sehr sie sich an der sprachlichen Oberfläche der islamischen Quellentexte ausrichten. Dergleichen verfahren sie mit Auslegungen und Lehrmeinungen einstiger Gelehrter aus den Gebieten der Jurisprudenz (fiqh), der Koranauslegung (tafsīr) oder der islamischen Geschichte (tārīkh). Ihnen wird nur in dem Fall eine Bedeutung zugemessen, dass sie mit dem Koran und der Sunna im salafistischen Sinne übereinstimmen.32 All diese Merkmale, die man auf Islamfatwa.de findet, deuten auf eine klare Abgrenzung gegenüber Anstrengungen zur Kontextualisierung der Quellentexte hin. Dies indessen wird von vielen anderen zeitgenössischen Intellektuellen angestrebt.33 Bei der Beantwortung einer Frage präsentiert al-Fauzān einige Gelehrte, denen gefolgt werden sollte. Dabei legt er zwei zentrale Ansprüche an jene Gelehrten dar: Man müsse religiöses Wissen besitzen und dieses auch in die Praxis umsetzen, wobei mit ersterem die Kenntnis des Koran und der Sunna des Propheten Muhammad und mit letzterem rechtschaffenes Handeln gemeint ist. »Niemand sollte befolgt
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Arabisch: al-Lajna ad-Dāʾima li-l-Buḥūth al-ʿIlmiyya wa-l-Iftāʾ. Für Näheres zu diesem Komitee siehe Al Atawneh: Wahhābī Islam, S. 17ff.; www.alifta.net/; Das Ständige Komitee: Das Ständige Komitee für Rechtsfragen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 15.04.2018). Vgl. www.binbaz.org.sa/list/book (abg. am 22.05.2018). Die Internetseite alifta.net ist die offizielle Website des saudiarabischen »Ständigen Komitees für Rechtsfragen«. Sie ist in mehreren Sprachen aufrufbar – Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Indonesisch, Türkisch, Persisch, Urdu und Chinesisch. Dies zeigt die Intention, die fatāwā international zu verbreiten. Die Selbstdarstellung, in: www.islamfatwa.de (abg. am22. April 2018). Vgl. al-Wādiʿī: Einblicke in unsere ʿAqiidah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 22.04.2018). Vgl. z.B. Abu Zaid: Gottes Menschenwort, S. 38ff.; Felix: Alter Text – neuer Kontext, S. 16ff.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
werden, außer einer Person, die nützliches Wissen und rechtschaffene Werke kombiniert.«34 Zu den wichtigsten Personen, die Popularität in der saudischen Gesellschaft und nicht zu unterschätzende Autorität unter Muslimen weltweit genießen, zählt al-Fauzān Ibn Baz, al-ʿUthaimīn und Rabīʿ b. Hādī ʿUmair al-Madkhalī. Sie seien bedeutende Gelehrte der ahl al-ʿilm (»Leute des Wissens«), die um die Vorantreibung der daʿwa bemüht seien und deren Fatwas und Lehren Gehör finden sollten: »Diese Männer haben Erfahrung und Verständnis. Sie haben verschiedene Meinungen untersucht und haben Verständnis für das Richtige und Falsche. Es ist unerlässlich ihre Aufnahmen und Unterrichte zu verbreiten und Nutzen von ihnen zu ziehen. Bei ihnen gibt es großen Nutzen für die Muslime.«35 Die Erteilung der Fatwas erfolgt, wie Sprecher des Portals selbst betonen, nicht nach der Lehre einer bestimmten Rechtsschule, »[…] [v]ielmehr wird dem Urteil gefolgt, welches Haqq (wahr/rechtens) ist, so wie es für jeden Muslim verpflichtend ist. In einigen Angelegenheiten werden auch die unterschiedlichen Meinungen der Gelehrten aufgeführt.«36 Daraus geht hervor, dass die Betreiber der Website beanspruchen, selber die Wahrheit festzustellen und zu lehren. Und dennoch geben sie vor, offen gegenüber anderen Meinungen zu sein und die Diversität des Islam zu erkennen, indem sie angeben, Rechtsmeinungen verschiedener Rechtsschulen zu berücksichtigen.37 Die auf Islamfatwa.de zur Verfügung gestellten Fatwas sind in sieben Kategorien unterteilt: Die Kategorie ʿaqīda (»Glaubenslehre«) thematisiert Fragestellungen, die bspw. den Glauben an Gott, Seine Attribute, Engel und Propheten oder das Schicksal und den Tag der Auferstehung betreffen.38 Die zweite Kategorie manhaj (»Methodik«) behandelt u.a. das Erfordernis, der salaf Folge zu leisten, zum Islam aufzurufen (daʿwa) und möglichen unzulässigen Neuerungen in der Religion (bidʿa) Einhalt zu gebieten.39 Die nächste Kategorie ʿibādāt (»Gottesdienste«) widmet sich der rituellen Praxis bspw. mit Fatwas zum Gebet, zum Fasten und zur Pilgerreise.40 In der darauffolgenden Kategorie werden exegetische Fragen abgehandelt, zum einen die Schriftauslegung von Koran und Sunna und zum anderen die Handhabung der Schriftwerke anderer Offenbarungsreligionen (Judentum und Christentum) betreffend.41 In den restlichen drei Rubriken geht es um Fatwas zu gesellschaftlichen Fragen wie zur Kleidung, Bildung, Arbeit, Musik, Krankheit,
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al-Fawzān: Einige Gelehrte, denen gefolgt werden sollte, in: www.islamfatwa.de (abg. am 14.05.2018). Ebd. Malik: Welche Rechtsschule, in: www.islamfatwa.de (abg. am 25.04.2018). Im Kap. V. wird dieser Punkt näher demonstriert. Vgl. https://islamfatwa.de/aqidah-tauhid (abg. am 09.05.2018). Vgl. https://islamfatwa.de/manhaj (abg. am 09.05.2018). Vgl. https://islamfatwa.de/gottesdienste-ibadah (abg. am10.05.2018). Vgl. https://islamfatwa.de/qur-an,-sunnah-offenbarungsschriften (abg. am10.05.2018).
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Radikalisierung im Cyberspace
Ehe, Schwangerschaft, Scheidung, und zum Umgang mit Mitmenschen, Speisevorschriften und Tieren.42 Somit sieht diese Website, ähnlich wie die oben vorgestellten, die FatwaErteilung nicht nur als Ratgeber für gängige Rechtsfragen religiöser, sozioökonomischer oder politischer Art, sondern vielmehr als absolutes Mittel sowohl für alltägliche Rechtsprobleme als auch für ideologische, theologische und exegetische Fragen zu Koran und Sunna. Auf diese Weise zielen sie auf eine ausdehnende Expansion ihres salafistischen Denkens ab, das sich auf alle Lebensbereiche erstreckt.
4.
Basseera.de
Die Website Basseera.de ist seit 2009 online und wird bis heute von Köln aus betrieben. Das Impressum gibt ʿAasim Abu Yunus als Betreiber der Site an. Es werden mit Hinweis auf Sicherheitsbedenken keine weiteren Angaben gemacht.43 Die Internetsite wirkt auf den ersten Blick professionell gestaltet. Auf der Startseite unterhalb der Menüleiste findet sich ein großes Feld mit wechselnden Bildfeldern, darin Aussagen wie »Nein zum Terror«, »Eine Warnung gegen die Terrorgruppen ISIS & al-Quaida«, die die Distanzierung der Website zu islamistischen Gewalttaten deutlich machen sollen. Unter einem Band mit dem Logo der Website (ein Globus mit der Flagge Saudi-Arabiens)44 stehen den Besuchern mehrere Reiter mit etlichen Themen zum Islam zur Verfügung: von Koran, Sunna, Glaubenslehre, Ratgebung (fatwā), Methodik, Gelehrtenbiografien bis hin zur Widerlegung der Gewalt im Namen des Islam.45 In einer weiteren Kategorie namens Bücherei lassen sich zahlreiche elektronische Bücher in deutscher Sprache finden, die kostenlos in PDFFormat zum Download bereitstehen. Themenbereiche wie »Das Gebet des Propheten mit Bildern«, »Wer nicht mit Allahs Gesetz richtet«, »Unterschiede zwischen der Sunna und Schia« und »Vertrauen gegenüber den Gelehrten« werden dort umfassend behandelt.46 Diese Bücher verzeichnen laut Angaben der Seitenbetreiber einige Tausend Aufrufe; wie etwa das zuerst genannte Buch, das angeblich 19.017 mal aufgerufen wurde.47 Wenngleich die Site seit 2009 besteht, sind einige der eben
42 43 44 45 46 47
Vgl. https://islamfatwa.de/krankheit-heilung; https://islamfatwa.de/soziale-angelegenheiten; https://islamfatwa.de/kleidung-schmuck (abg. am 12.05.2018). Vgl. www.basseera.de/impressum (abg. am 12.06.2018). Siehe Anh. 7. Vgl. www.basseera.de/ (abg. am 13.06.2018). Vgl. www.basseera.de/books (abg. am 12.06.2018). Vgl. www.basseera.de/books/ibadah-fiqh/1-das-gebet-des-propheten-mit-bilder (abg. am 13.06.2018).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
erwähnten Menüpunkte nicht oder mit nur wenigen Texten versehen.48 Neben einer Abteilung mit Videos zu unterschiedlichen Fragen wie Sünde, Verhaltensregeln und Terrorismus werden viele dieser Themen ebenfalls im PDF-Format veröffentlicht.49 Eine Statistik weist Besucherzahlen auf, die für den Monat November 2018 bei 7.281 und um 400 bis 500 Aufrufe pro Tag liegen. Die Gesamtbesucherzahl wird mit über 2,8 Millionen angegeben.50 Vertreter der Website stellen sich als Personen vor, welche authentisches Wissen über den Islam publizieren wollten. Im Fokus steht dabei die Förderung der daʿwa-Arbeit an Muslime. Sie wollen vor allem, dass Muslime in all ihren Angelegenheiten wieder zu Werten und Normen des Korans und der Sunna, und zwar nach dem Verständnis der rechtschaffenen Altvorderen, zurückfinden. Dies wird wie folgt artikuliert: »Wir rufen zur Rückkehr zum Qurʾān und zur prophetischen und authentischen Sunnah nach dem Verständnis der rechtschaffenen Vorfahren (Salaf) auf. Mit unserem Ruf wollen wir wieder ein islamisches Leben nach der Methodik des Prophetentums etablieren, um eine Gesellschaft von Dienern des Herrn zu schaffen. All das soll jedoch auf Grundlage von Klärung und Erziehung geschehen.«51 Dabei ist ihnen bewusst, dass die von ihnen online gestellten Inhalte womöglich im Widerspruch zur hiesigen Staats- und Gesellschaftsordnung stehen. Sie merken im Impressum daher an, dass ihre Angebote »keinesfalls als Aufruf zur Umsetzung, sondern nur als Aufklärung über die islamische Sichtweise zu verstehen« seien.52 Sie streben somit nach grundlegender islamischer Erziehung des Individuums durch die Popularisierung des religiösen Wissens und zugleich die Ideologisierung des verbreiteten Inhaltes auf Grundlage dieser Aufklärungsarbeit: »Wir rufen zur Erziehung der Muslime hin zu ihrem wahren Glauben, zur Umsetzung seiner Gesetze in ihrem Leben und zur Verinnerlichung seiner Tugenden und Sitten. Denn nur diese Dinge bringen ihnen das Wohlgefallen Allahs und verwirklichen ihnen die Glückseligkeit und Ehre.«53 Auch ihr Desinteresse an Politik wird wiederholt hervorgehoben. Sie erklären unermüdlich, dass sie Muslimen religiöse Ratschläge zur Verfügung stellen wollten, wie sie sich in Familie und Gesellschaft verhalten sollen, ohne dabei gegen die politischen Führer zu hetzen oder ihnen ihre Posten streitig machen zu wollen, auch wenn diese frevelten und ungerecht seien.54 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. z.B. www.basseera.de/faa; www.basseera.de/quran/ulum-quran (abg. am 13.06.2018). www.basseera.de/videos/freitagspredigt/; www.basseera.de/videos/ (abg. am 13.06.2018). Vgl. www.basseera.de/ (abg. am13.11.2018). Abu Yunus: Dies ist unsere Daʿwah, in: www.basseera.de (abg. am 13.11.2018). Vgl. www.basseera.de/impressum (abg. am 14.11.2018). Abu Yunus: Dies ist unsere Daʿwah, in: www.basseera.de (abg. am 14.11.2018). Vgl. Abu Yunus: Wer sind wir, in: www.basseera.de (abg. am 16.11.2018).
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Radikalisierung im Cyberspace
An religiösen Autoritäten, die auf Basseera.de als Referenzpersonen erscheinen und denen also gefolgt werden soll, treten dort Namen wie etwa Ibn Baz, al-ʿUthaimīn, al-Fauzān, al-Albānī und al-Wādiʿī auf. Solche Gelehrte werden als Verantwortungsträger für die Führung der umma zur Errichtung der angestrebten islamischen Gemeinschaft angesehen. Man müsse zwar nicht auf den Aussagen eines dieser Gelehrten beharren, dürfe den von ihnen gesetzten Rahmen aber nicht überschreiten.55 Genauso wie Muslime an einen Gott glaubten, solle ihre Führung auch eins sein. Schlichen sich in Reihen der Muslime Wirrnis, Misstrauen oder Hass gegenüber den Gelehrten ein, werde dies zur Spaltung der umma führen.56 Es stelle eine »gefährliche Angelegenheit« dar, wenn Muslime kein Vertrauen mehr zu den Gelehrten hätten. Zitiert nach al-Fauzān heißt es: »Wer sollte dann weiter die islamische Gemeinschaft führen? Zu wem sollen wir dann bei Rechts- und Gesetzesfragen zurückkehren? […]. Das ehrbarste, was die islamische Gemeinschaft hat, ist ihre Gelehrte. Deshalb dürfen wir ihnen weder Geringschätzung entgegenbringen noch sie der Unwissenheit, Dummheit und Lobhudelei bezichtigen. Auch dürfen wir sie nicht als »Gelehrte der Paläste« beschimpfen oder ähnliches.«57 Um auf die originalen Texte der auf der Site zitierten Gelehrten aufmerksam zu machen, werden ihre persönlichen Homepages aufgeführt und verlinkt.58 Darüber hinaus verweist Basseera.de auf viele weitere Websites und Fatwa-Foren salafistischer Prägung in verschiedenen Sprachen wie Arabisch, Deutsch, Englisch, Türkisch und Französisch. Aus dem deutschsprachigen Raum werden Internetportale wie etwa Erbedespropheten.de, Islamfatwa.de und Islamaudio.de angeführt, wobei einige dieser Sites nicht mehr abrufbar sind.59
5.
Im Auftrag des Islam
Schon der Name des Portals, Im Auftrag des Islam, suggeriert, dass ihre Betreiber Anspruch darauf erheben, den »wahren« Islam zu repräsentieren und in seinem Namen zu agieren. Laut eigener Darstellung trägt die Site diesen Namen, um die Aufmerksamkeit der Internetnutzer auf sich zu ziehen. Die Bezeichnung soll zudem deutlich machen, dass die Site es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Islam in seiner authentischen Form zu verkünden und einen Beitrag zur Aufklärungsarbeit
55 56 57 58 59
Vgl. ebd. Vgl. al-Fauzān: Wenn du dein Vertrauen, in: www.basseera.de (abg. am 22.11.2018). Ebd., S. 4. Vgl. www.basseera.de/arabisch (abg. am 13.11.2018). Vgl. www.basseera.de/deutsch; www.selefiyyah.de/ (abg. am 13.11.2018).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
über islamische Angelegenheiten zu leisten.60 Wer die Plattform betreibt, die nach eigenen Angaben täglich über 900 Aufrufe verzeichnet, lässt sich nicht ohne Weiteres feststellen, da es kein Impressum oder Ähnliches gibt. Am Fuß der Startseite wird dennoch angegeben, dass die Internetpräsenz von einer türkischen Firma erstellt worden sei. Da sich dort auch weitere türkischsprachige Elemente finden lassen und die Ortszeit von Istanbul angegeben wird, lässt sich also schlussfolgern, dass die Website von Deutschtürken oder von der Türkei aus betrieben wird. Als Hauptfigur tritt dort Furkan bin Abdullah aus Nordhessen auf, der möglichweise und eventuell mit anderen als Betreiber der Website agiert.61 Das Themenspektrum der Plattform erstreckt sich von der islamischen Offenbarung, Theologie, Geschichte und Kultur über Wissenschaft und Politik bis hin zu Stellungnahmen zu aktuellen und alltäglichen Geschehnissen. Einige der dort zur Verfügung gestellten Beiträge sind auch in englischer Sprache abrufbar. Arabisch wird zwar ebenfalls als Sprache der Website angeführt, es lassen sich darunter jedoch kaum Inhalte finden.62 Videos nehmen auf dem Portal einen großen Platz ein. Unter dieser Kategorie werden Kurse zu unterschiedlichen Themenbereichen wie Glaubenslehre, Koran, Kalifat, Ratgebung und islamischer Geschichte angeboten. Fast alle schriftlich verfassten Texte sind zusätzlich auch im Video-Format vorhanden. Diese sind eher professionell als amateurhaft erstellt.63 Wie die anderen Webseiten, betonen auch die Vertreter dieser Plattform, dass ihre Online-Angebote ausschließlich zur Aufklärung und Verkündung in islamischen Angelegenheiten dienen sollten, d.h., den Islam mit Hilfe von guten Predigten in schöner Sprache zu verbreiten, jenseits jeder Form von Gewalt oder rebellischen Aktionen.64 Sprecher dieses Portals orientieren sich vor allem an Ideen des früheren »Kalifatstaats« um Metin Kaplan (geb. 1952),65 den sog. »Kalifen von Köln«. Kaplan war nach seinem Vater Cemaleddin Kaplan (gest. 1995) Führer der radikalen islamischen Vereinigung »Kalifatsstaat«, die in Deutschland eine erhebliche Anhängeranzahl hatte und 2001 verboten wurde.66 Auch die Propaganda des Portals zur Errichtung eines Kalifats bestätigt einmal mehr die Annahme, dass diese Platt-
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66
Vgl. Ibn Abdullah: Die Plattform im Auftrag des Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019). Siehe Anh. 9. Vgl. www.imauftragdesislam.com/texts_hk63.html (abg. am 13.11.2018); Anh. 8. Vgl. www.imauftragdesislam.com/tauhid-kurs_hk49.html (abg. am 25.02.2019). Vgl. Ibn Abdullah: Die Plattform im Auftrag des Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019). Kaplan, der sog. als »Kalif von Köln«, lebte in Köln bis 2004. Er führte die Vereinigung Kalifatstaat und wurde dann in die Türkei abgeschoben. Dort wurde er zu 12 Jahren Haft verurteilt. Weiterführend siehe Klußmann: Extremisten, in: www.spiegel.de, S. 44f. (abg. am 26.05.2019). Siehe mehr dazu bei Leicht: Metin Kaplan, in: www.wsws.org/de (abg. am 26.02.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
form ein Ableger dieses sog. Kalifatsstaats ist.67 Aufgrund ihrer ideologischen Nähe zum Salafismus kann sie aber auch, trotz feiner Unterschiede, der salafistischen Szene, vor allem dem entsprechenden politischen Spektrum, zugeordnet werden, wie deutsche Sicherheitsbehörden einschätzen. Bezugnehmend auf Göttingen heißt es, »[…] [I]n den letzten Jahren [ist] eine junge salafistische Szene im mittleren zweistelligen Bereich entstanden, die sich insbesondere aus der Anhängerschaft der seit 2001 verbotenen islamistischen Organisation »Kalifatstaat« rekrutiert.«68 Diese vermutete Nähe zum Salafismus wird explizit in der Selbstdarstellung der Webseite ersichtlich. Dort wird die Absicht ihrer Betreiber eindeutig bekundet. Sie solle den Eingottglauben (tauḥīd) fördern, die daʿwa-Arbeit vorantreiben sowie als Orientierung und Wegweiser zur Gründung des islamischen Kalifats dienen. In eigenen Worten heißt es: »Im Auftrag des Islam heißt, sich bei der Formel »Es gibt keine Gottheit außer Allah und Mohammed ist der Gesandte Allahs« zu treffen, sich unter dieser Formel zu vereinigen, zu arbeiten, zu leben und einzuladen. […] Ein Mensch, der dies akzeptiert und ausführt, wird als ›Kalif‹ bezeichnet. Eine Gemeinde oder ein Staat aber, der dies ausführt wird als ein ›Kalifat‹ bezeichnet. […] Dabei ist unsere Methode und Vorgehensweise die Verkündung und Aufklärung, welches auch die Methode des Propheten Mohammed und aller anderen Propheten vor ihm gewesen war. Somit möchten wir dabei den Koran, den wir in unseren Wohnungen und Gebetshäusern eingesperrt haben, wieder zu einem Buch machen, dass ein Wegweiser im Diesseits und Jenseits ist und somit in jedem Bereich unseres Lebens mitwirkt und aufklärt. […] Die Vorstellung ist dabei in der ganzen islamischen Welt eine Herrschaft des Islams wieder zurück zu bekommen, welches über das alltägliche Leben herrscht, indem der Koran das Grundgesetz, die Scharia das Rechtssystem und der Islam zum Staat wird.«69 Auch die Grundannahme, dass der Islam die einzig wahre Religion sei, wie sie von Salafisten vertreten wird, wird von Repräsentanten des Portals mehrmals unterstrichen und mit zahlreichen Belegen gestützt. Andere monotheistische Religionen, also das Judentum und Christentum, befänden sich im Irrtum. Kein Prophet habe ein »Judentum« oder »Christentum« verkündet. Alle Propheten seien Muslime, also Gottergebene, gewesen, und hätten zur Hingabe an Gott (islām) aufgerufen und somit im Auftrag des Islam agiert. Der Islam sei seit dem ersten Menschen
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Vgl. für mehr dazu www.imauftragdesislam.com/kalifat-kurs_hk64.html (abg. am 25.02.2019). Vgl. Heinzel: Göttingen bleibt Salafisten-Hochburg, in: www.goettinger-tageblatt.de (abg. am 26.02.2019). Vgl. Ibn Abdullah: Die Plattform im Auftrag des Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
Adam die einzige Religion der Menschheitsgeschichte, womit die Pflicht einhergehe, dass jeder Mensch Muslim sein und im Dienste des Islam arbeiten und leben müsse.70 Ein Text, der Aufschluss über das auf der Plattform vertretene politische, dem Salafismus ähnliche Denken sowie über ihre Ziele liefert, ist die Schrift Die Grundprinzipien vom Islam.71 Als Verfasser ist Cemaleddin Kaplan angegeben. Die neunzehn aufgeführten Punkte lassen sich zu zwei Zentralaspekten zusammenfassen: Der Islam sei ein allumfassendes Staats- und Gesellschaftssystem; und der Sinn des menschlichen Lebens sei es, Gott zu dienen und all seinen Vorschriften zu folgen. Das angestrebte Staatssystem soll nach dem Vorbild des Propheten Muhammed und den vier rechtmäßigen Kalifen aufgebaut werden.72 Dies lasse sich einfach durchführen, da der Islam mit all seinen Gesetzen im Grunde einfach sei. Diese postulierte Einfachheit des Islam wird in einer Schrift mit dem Titel Islam ist einfach ausgeführt. Dort wird der Anspruch auf einen Weg der Mitte, wie er auch von alQaradawi beansprucht wird, erhoben: Der Islam sei eine »Religion, die nicht in die Extreme geht, seien es Schwierigkeiten oder Nachlässigkeiten, sondern die einem mittleren Weg folgt.«73 Dieses zumindest nach außen vertretene Islamverständnis wird mit zahlreichen Koranversen und Aussprüchen des Propheten Muhammad begründet. Auf die Frage, warum viele Muslime trotz dieser Leichtigkeit den Islam nicht praktizieren würden, wird zum einen auf den Mangel an Frömmigkeit der Menschen und zum anderen auf die Umgebung, in der Muslime des Westens heute leben, verwiesen. So sei das Gebet an sich einfach durchführbar, aber wenn die zeitlichen bzw. örtlichen Gegebenheiten schwierig seien, wie etwa wenn »man alleine unter Nichtmuslimen betet und diese einen anstarren, dann wird es plötzlich schwierig.«74 Die Schlussfolgerung heißt in diesem Zusammenhang: »Diese Schwierigkeiten haben nichts mit der Natur unserer Religion zu tun, aber wir versuchen, in einer dekadenten und unmoralischen Umgebung gut zu sein.«75 Die westliche Welt wird demnach der Korruption und Dekadenz bezichtigt. Für den Autor scheint dies eine Selbstverständlichkeit zu sein, da er diese These nicht zu belegen versucht.
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Vgl. ebd. Vgl. Ibn Abdullah: Die Grundprinzipien vom Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 26.02.2019). Vgl. ebd.; Ibn Abdullah: Die Plattform im Auftrag des Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019). Vgl. Ibn Abdullah: Islam ist einfach, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019). Ebd. Ebd.
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Radikalisierung im Cyberspace
6.
Realität Islam
Vor allem im Zuge ihrer im Mai 2018 gestarteten Petition an den Bundestag gegen ein potentielles Kopftuchverbot für Mädchen zog die Gruppe Realität Islam die Aufmerksamkeit auf sich. Zu Beginn war die Kampagne unter dem Slogan Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot online aufgetreten, später aber mit Info-Ständen in Hessen unterwegs. Die Petition richtete sich an Muslime wie Nichtmuslime und argumentierte dabei nicht wie üblich mit Beweisen aus dem Koran und der Sunna, sondern auf Basis des deutschen Grundgesetzes: Die freie Religionsausübung der Muslime werde durch ein Verbot eingeschränkt. Sie hat nach eigenen Angaben knapp 173.675 Unterschriften gegen die Einführung des Kopftuchverbots bundesweit gesammelt.76 Ihr Internetportal Realität Islam mit dem Slogan Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende islamische Gemeinschaft scheint auf den ersten Blick professionell gestaltet zu sein. Es verfügt über ein übersichtliches Layout mit selbst produzierten Texten, Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen, oft im Video-Format, und Links zu Social-Media-Seiten bei Facebook, Twitter und YouTube mit Abertausenden von Abonnenten.77 So wurde ihre Facebook-Site, über die die Gruppe ihre Videos und Aufrufe verbreitet, bspw. von über 35.000 Personen abonniert, ihr YouTube-Kanal von 11.300.78 Für den Online-Auftritt zeichnet der deutsche Konvertit Suhaib Raimund Hoffmann verantwortlich, wobei über seine Person keine weiteren Angaben gemacht werden. Auch diese Site wird von Deutschland aus (nämlich aus dem südosthessischen Mörfelden-Waldorf) betrieben, wie dem Impressum zu entnehmen ist. In ihrer Selbstdarstellung definiert sich das Portal wie folgt: »›Realität Islam‹ entstand als ein Zusammenschluss von gleichgesinnten Muslimen zur Ergreifung von Maßnahmen zum Aufbau einer starken und bewusst agierenden islamischen Gemeinschaft, die das Ziel verfolgt, die islamische Identität der Muslime in Deutschland zu wahren und zu festigen.«79 Sprecher des Portals verstehen sich weder als Verein noch als irgendeine andere Art von Organisation. Vielmehr wollen sie laut eigenen Angaben als Wegweiser für Muslime fungieren, um sie an ihre einzigartigen islamischen Werte zu erinnern und sie zum Erhalt ihrer »kostbaren« Identität zu bewegen. Vertreter der Site sind der Meinung, dass die islamische Community eines Wegweisers bedürfe, der ihnen die islamische Wahrheit und die islamischen Werte verdeutliche. Realität Islam beansprucht, ähnlich wie die oben angeführten Portale,
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Vgl. Hoffmann: Urkunde deiner Stimme, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 02.12.2018). www.realitaet-islam.de/. Die Facebook-Seite hat z.B. gut 32.100 Abonnenten. Vgl. https:// www.facebook.com/realitaetislam/ (abg. am 20.11.18). Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=bf4Or2pZ7ug; https://www.facebook.com/realitaetislam/ (abg. am 26.08.2019). Anh. 11 und 12. Vgl. Hoffmann: Über uns, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 26.02.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
dieser Wegweiser zu sein, der die Wahrheit erkenne, den Muslimen in der Öffentlichkeit identitätswahrend zur Seite stehe und ihnen islamische Lösungen für ihre Probleme und Angelegenheiten zur Verfügung stelle. Für diesen Wegweiser wird der Anspruch erhoben, dass er den wahren Islam – frei von jeglicher Beeinflussung westlicher Natur – verkörpere und nur die von Gott stammende Wahrheit ausspreche. Er lasse sich weder durch den Druck der Mehrheitsgesellschaft noch durch persönliche Interessen von seiner Zielsetzung abbringen.80 Das von Realität Islam angestrebte Ziel, eine selbstbewusste muslimische Gemeinschaft in Deutschland aufzubauen, die an ihrer islamischen Identität festhält und die sich dafür auch stark macht, wollen ihre Vertreter durch Veranstaltungen in Form von Fachvorträgen und Workshops sowie Stellungnahmen zu aktuellen politischen Ereignissen, welche die islamische Community betreffen, erreichen.81 Es lassen sich dort entsprechend wenige Texte finden, die sich mit Fatwas oder religiösen Themen beschäftigen. Der Kern vieler Beiträge behandelt vielmehr Themenschwerpunkte wie Identität, Kopftuchdebatte, Solidarität unter Muslimen, Integrationsfragen, Reform im Islam etc.82 Um die Einheit und Abgegrenztheit der konzipierten bzw. angestrebten muslimischen Gemeinschaft zu verdeutlichen und zu fördern, wird der Islam, ähnlich wie bei den anderen Internetportalen, als die einzige Wahrheit vorgestellt und als zentrales Glaubensfundament eines jeden Muslims aufgefasst. Dabei werden Werte wie Brüderlichkeit und Solidarität als gemeinsame Anhaltspunkte für diese muslimische Gemeinschaft unterstrichen und mit prophetischen Aussagen untermauert: »Der Muslim ist des Muslims Bruder. Ihm darf er kein Unrecht zufügen noch darf er ihn im Stich lassen. Wer sich für die Sache seines Bruders einsetzt, für dessen Sache setzt Allah Sich ein. Und wer einen Muslim von einer Sorge befreit, den befreit Allah von einer der Sorgen am Tage der Auferstehung. Und wer einen Muslim nicht bloßstellt, den stellt Allah am Tage der Auferstehung nicht bloß.«83 Im gleichen Atemzug werden Muslime vor Spaltung, Abgrenzung bzw. Distanzierung von anderen Muslimen gewarnt. Dies sei keine Option für Muslime, vielmehr stünden sie in der Verantwortung, Zusammenhalt zu finden, um als Gemeinschaft zu agieren und somit Missständen wie der alltäglichen und strukturellen Diskriminierung von Muslimen Einhalt zu gebieten. Die gewünschte Einheit unter Muslimen bedeute aber nicht zwangsläufig, als Muslime in allen islamischen Fragen einer Meinung sein zu müssen. Meinungsunterschiede seien in der islamischen
80 81 82 83
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. z.B. Hoffmann: Stellungnahmen, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 25.02.2019). Realität Islam: Das richtige Argument, S. 19.
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Radikalisierung im Cyberspace
Geschichte nicht nur Realität gewesen, sondern auch theologisch und islamrechtlich begründbar. Es sei von der Religion des Islam gewollt, dass Muslime über viele Aspekte des Islam diskutieren und zu unterschiedlichen Antworten kommen. Die Existenz der Theologie- und Rechtsschulen belege einmal mehr, dass auch widersprüchliche Ansichten unter den Gelehrten zu ein und demselben Thema auftreten könnten. Nichtsdestoweniger sollten die Beweise aus dem Koran oder der Sunna das entscheidende Kriterium für die Richtigkeit bzw. Falschheit von Lehrmeinungen sein. Dies spiegelt ihr salafistisch geprägtes bzw. ähnliches Denken wider.84 In ihren Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen fokussieren sich Sprecher der Realität Islam auf islambezogene Debatten in Deutschland. Sie identifizieren dabei oft die deutschen Massenmedien als Verantwortliche für das verbreitete negative Islambild und üben daher scharfe Kritik an ihnen. So werden die Medienberichterstattungen zur Frage Islamismus und Salafismus bspw. kritisiert, weil sie Begriffe wie »Islamist« und »Salafist« ohne weitere Differenzierung verwendeten. Auch werde zwischen Islam, Islamismus und weiteren islamistischen Gruppierungen nicht ausreichend differenziert. Durch die »willkürliche« Verwendung von Begriffen wie Salafisten, Extremisten, Islamisten etc. würden viele Muslime in der Gesellschaft ausgegrenzt und mit dem Bösen und dem Feindlichen assoziiert. Demnach würden Musliminnen, die Kopftuch tragen, oder Muslime, die Bart tragen bzw. jene, die an der »islamischen Gesetzgebung« festhalten, als Islamisten oder Salafisten diffamiert und zum Feind der Mehrheitsgesellschaft erklärt.85 Auch über Ereignisse wie in Paris (das Attentat auf Charlie Hebdo) werde nicht differenziert berichtet, vielmehr werde der Islam als wesentliche Ursache dafür suggeriert. Als Folge dessen ergebe sich der Generalverdacht, dass jeder Muslim ein potentieller Feind sei und terroristisches Potenzial besitze. Die Politik in Deutschland mache es auch nicht anders: »Es vergeht kein Tag, an dem der Islam nicht auf irgendeine Weise in den Medien verunglimpft wird. Politische und gerichtliche Entscheidungen zu Lasten des Islam sind heute trauriger Alltag geworden und eine islamophobe Grundhaltung hat sich in der Allgemeinheit der Gesellschaft breit gemacht.«86 All dies sorge für eine »fortschreitende Kriminalisierung islamischer Werte« in Deutschland. Infolgedessen würden Muslime von der Mehrheit der Mitbürger als […] Fremdkörper wahrgenommen, der schnellstmöglich entfernt werden musste.«87 Dass Muslime ständig unter Verdacht gestellt werden und sie sich in der Folge gegen Unterstellungen und Verdächtigungen verteidigen müssen, wie hier oben behauptet wird, wird heute von vielen Muslimen auch so empfunden. Daher finden sich nicht nur islamistisch oder salafistisch gesinnte Akteure permanent in
84 85 86 87
Vgl. ebd., S. 17ff. Vgl. ebd., S. 23f. Realität Islam: Gemeinsam, S. 10; dies.: Das richtige Argument, S. 23ff. Realität Islam: Gemeinsam, S. 20.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
einer apologetischen Position wieder, sondern auch viele liberale Stimmen setzen sich dafür ein, Vorwürfen auszuweichen und ungerechtfertigte Behauptungen zu entkräften, statt die Diskussion auf einer inhaltlich-sachlichen Ebene im Sinne der Förderung des Zusammenlebens zu führen.88 Vertreter der Realität Islam stehen der Idee eines Euro-Islams ablehnend gegenüber, weil dieses Konzept zum einen auf einem selektiven Umgang mit den islamischen Quellen basiere und den Islam undifferenziert als »Produkt historischer Entwicklungen« betrachte, das abhängig von zeitlichen und örtlichen Kontexten verändert werden müsse, nicht zuletzt um Veränderungen im Zuge der Moderne nachkommen zu können. Für Realität Islam soll der Islam vollumfänglich umgesetzt werden; er biete eine umfassende Lebensordnung an und stelle Lösungen bzw. Gesetze für alle Fragen des Lebens bereit. Diese verfügten über immerwährende Gültigkeit, welche als Ganzes betrachtet werden müssten und nicht selektiv auf bestimmte Aspekte reduziert werden dürften. Die Botschaft des Islam sei gültig bis zum Tage der Auferstehung und somit keine bloße Idee der Spätantike, die den Herausforderungen der Moderne nicht gewachsen ist.89 Zum anderen nehme der Euro-Islam den Westen und dessen Werte als Vorbild und Orientierungsmaßstab für die anvisierte Reform des Islam. Dies impliziere, dass sich die Muslime an die Werte und Normen der hiesigen Mehrheitsgesellschaft anpassen sollten, womit der Verlust ihrer eigenen Werte und Identität einherginge. Ausdrücklich warnt die Site vor einer solchen Reform wie folgt: »Sollte die muslimische Gemeinschaft dem Reformationsdruck nachgeben, so bliebe nur noch ein sinnentleerter, rein formaler Islam in Deutschland übrig, der wie ein Körper ohne Seele dahinvegetiert.«90 Nicht nur die Islamische Theologie, sondern auch die Moscheegemeinden würden Instrumente zur Umsetzung dieser »gefährlichen« Ideen: Durch die Einbindung der Moscheen in unterschiedliche Projekte und Präventionsprogramme werde beabsichtigt, dass »die junge Generation der Muslime an ein reduziertes Islamverständnis herangeführt werden, dass sich nur noch auf die Themen beschränkt, die als kompatibel mit der hiesigen Gesellschaft eingeschätzt werden und die in keinem Widerspruch zu ihr stehen.« Die »Reformation des Islam« sei nichts anderes als der Versuch, »durch äußere Indoktrinierung die Muslime in ihrem Selbstverständnis zu beeinflussen und somit zu assimilieren.«91 In diesem Sinne wird die mittlerweile an deutschen Universitäten etablierte Islamische Theologie für die Ausbildung von Imamen und islamischen Religionslehrern nicht als Anerkennung des Islam gewertet, sondern als Institution angesehen, die einen »Euro-Islam«, d.h. einen mit den westlichen Werten vermischten Is-
88 89 90 91
Vgl. z.B. Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 16. Vgl. Realität Islam: Das richtige Argument, S. 38f. Ebd., S. 52. Realität Islam: Das richtige Argument, S. 39f.
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Radikalisierung im Cyberspace
lam, kreiere, der von höchster staatlicher Stelle überwacht und kontrolliert werde. Während der islamische Religionsunterricht von vielen politischen Akteuren und religiösen Institutionen als wichtiger Beitrag zur Integration hoch geschätzt wird, sieht Realität Islam in diesem Projekt ein Mittel, die islamische Identität bereits im Kindesalter zu verwischen. Denn es würden dort bereits jungen Muslimen mit westlichen, nicht vom Islam herrührenden Werten wie uneingeschränkter Freiheit und Säkularismus indoktriniert. Dies stoße oft auf Akzeptanz und Anerkennung, gerade weil es mithilfe muslimischer Theologen erfolge.92 Ideologisch weist die auf Realität Islam verbreitete Lehre zwar große Ähnlichkeit mit der des Salafismus auf, die Gruppe kann dennoch nicht in erster Linie dem salafistischen Spektrum zugeordnet werden, sondern eher dem politischen Islam. In einigen Fragen der Glaubenslehre wird sie sogar von salafistischen Predigern wie etwa Pierre Vogel kritisiert.93 Sicherheitsbehörden sowie Beobachter der islamistischen Szene erachten sie (wie auch Generation Islam)94 als Ableger der seit 2003 in Deutschland verbotenen Organisation Hizb ut-Tahrir.95 Für eine solche Einordnung spricht, dass der Verantwortliche der Site, Hoffmann, 2013 ein Buch herausgegeben hat, das als PDF-Datei auf einer Website der Hizb ut-Tahrir veröffentlicht wurde.96 Darüber hinaus lassen sich viele weitere inhaltliche Überschneidungen in den von beiden Internetportalen publizierten Beiträgen finden.97
7.
YouTube als Medium zur Verbreitung salafistischer Propaganda
Die auf den oben angeführten Internetseiten präsentierten Inhalte, die im folgenden Kapitel näher untersucht werden, werden von salafistischen Predigern und Gelehrten über weitere Kanäle und Social-Media-Plattformen wie etwa Facebook, YouTube, Telegram oder Twitter verbreitet. Die YouTube-Plattform nimmt hierbei
92 93 94
95
96 97
Vgl. ebd., S. 22f. Vgl. z.B. Vogel: Hizb at-Tahrir, in: www.youtube.com (abg. am 16.15.2019). Das Online-Portal Generation Islam wurde 2013 gegründet und wird von Hamburg aus betrieben. Seine Angebote weisen viele Gemeinsamkeiten mit denen von Realität Islam auf. Vgl. für mehr dazu http://generation-islam.de/ (abg. am 26.02.2019). Hizb-ut-Tahrir ist eine islamistische Organisation, die 1953 in Ostjerusalem gegründet wurde. Sie wurde vom Verfassungsschutz aufgrund ihrer Befürwortung von Gewaltanwendung als militant eingestuft und 2003 verboten. Ihre Anhänger sind jedoch nach wie vor aktiv und verbreiten ihre Ideologie über deutschsprachige Internetpräsenzen wie etwa Kalifat.com. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: Verbotene islamistische Organisationen, in: www.verfassungsschutz.de/de (abg. am 26.02.2019). Vgl. Hoffmann: Das Leben der Nichtmuslime, in: www.kalifat.com (abg. am 26.02.2019). Vgl. z.B. Hizb-ut-Tahrir in Europa: Die Auswanderung, in: www.kalifat.com (abg. am 26.02.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
einen zentralen Platz ein. Dort wird salafistische Lehre in Form von Fatwas, Vorträgen, Predigten oder Seminaren propagiert. Die Suche im Netz nach Antworten auf Fragen wie etwa »Dürfen Muslime Silvester feiern?« führt häufig zu salafistischen Inhalten, und zwar nicht nur auf salafistischen Webseiten, sondern auch auf YouTube. Vertreter solcher Kanäle geben vor, den »authentischen« Islam zu repräsentieren und dem Zuhörer die Wahrheit näher bringen zu wollen. Einige salafistische YouTube-Kanäle tragen keinen als salafistisch zu erkennenden Namen und sind somit nicht ohne Weiteres als solche zu identifizieren.98 Die besondere Bedeutung YouTubes kann darauf zurückgeführt werden, dass es den Nutzern die Möglichkeit bietet, kostenlos Videoclips anzusehen, hoch- bzw. herunterzuladen, zu bewerten und zu kommentieren. Es verfügt daher über eine enorme Reichweite, womit eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Nutzer einhergeht. Was YouTube darüber hinaus sowohl für den Nutzer als auch für salafistische Prediger attraktiv macht, ist, dass der Besuch von »offiziellen« salafistisch geprägten Webseiten erfordert, dass man seine »geistige Hemmschwelle« überwindet. Solche Berührungsängste gibt es nicht bei der Nutzung einer eindeutig legalen Plattform wie YouTube. Weitere Gründe, die dafür sprechen, dass YouTube ein zentrales Medium für die Verbreitung salafistischer Inhalte und konsequenterweise ein Rekrutierungswerkzeug für potenzielle Anhänger darstellt, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Offizielle, staatlich kontrollierte Kanäle wie etwa das deutsche Fernsehen bleiben Gelehrten und Predigern salafistischer Ausrichtung aufgrund ihrer meist von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Weltanschauung verwehrt. Während das deutsche Fernsehen bspw. Pierre Vogel nicht ermöglichen würde, dort aufzutreten, räumt ihnen das YouTube-Portal diese Möglichkeit ein. Dort können sie ihre salafistische Propaganda gegebenenfalls sogar ›viral‹ verbreiten und ein großes Publikum finden. Deutsche Sicherheitsbehörden nehmen diese Verlagerung salafistischer Propaganda ebenfalls zur Kenntnis: »Gerade für junge Menschen – ungeachtet ihrer Herkunft – ist die Nutzung dieser Medien heute eine Selbstverständlichkeit und tritt gleichberechtigt neben die Kommunikation in der realen Welt. Die Ausbreitung extremistischer Propaganda – insbesondere die gewaltverherrlichenden bildreichen »Werbebotschaften« des IS – wird dadurch »viral«; das heißt, sie verbreitet sich unkontrollierbar im Netz und findet potenziell ein großes Publikum, das von den »Nachrichten« und Bildern angesprochen wird.«99 Darüber hinaus ist die Nutzung von YouTube-Kanälen schon seit Langem zu einer etablierten (Jugend-)Kultur geworden, und zwar aufgrund seiner unterschied98 99
Vgl. z.B. Botschaft des Islam: https://www.youtube.com/user/Islambotschaft; Generation Islam: https://www.youtube.com/user/genislam (abg. am 26.05.2019). Ministerium d. Innern NRW: Verfassungsschutzbericht 2016, S. 178.
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Radikalisierung im Cyberspace
lichsten und kostenlosen Angebote, die oftmals mehrsprachig, grafisch aufwändig gestaltet und zumeist auf dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung sind. Dazu kommt, dass der Nutzer beim Schauen der Videos eine scheinbare Privatsphäre genießt. Auch die Möglichkeit, Open Air-Veranstaltungen mit oftmals zahlreichen Teilnehmern aufzunehmen und bei YouTube hochzuladen, ist für Salafisten ein weiterer Grund, das Medium YouTube zu nutzen. In diesem Format aufzutreten, bietet das Potenzial einer starken Bildsprache, die besser verfängt, als bspw. der traditionelle Koranunterricht durch einen Imam, der sich meist »auf Frontalunterricht und Auswendiglernen« beschränkt.100 Salafisten rechnen des Weiteren damit, dass Websites mit offenkundig salafistischen Inhalten eine geringe oder zumindest zeitlich begrenzte Lebensdauer haben könnten, bis sie bspw. aus finanziellen Gründen nicht mehr bestehen können oder von Behörden verboten werden. Indem sie ihre Lehre über eine Plattform wie YouTube veröffentlichen, entgehen sie dieser Gefahr.101 In ihren Schriften sowie virtuellen Auftritten bedienen sich salafistische Prediger Deutschlands der Lehrmeinungen der weiter oben angeführten Gelehrten, vor allem solcher aus Saudi-Arabien. Das heißt, die Inhalte der oben dargestellten Websites finden auf YouTube oder anderen Kommunikationskanälen nochmal Erwähnung bzw. Verbreitung, wobei das Format, oft Kurzvideos, für viele Nutzer attraktiver sein mag als die Lektüre von Texten. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass im Anschluss ähnliche weitere Inhalte konsumiert werden, ist durch die Implementierung von Algorithmen groß. Auf diesem Wege stoßen Nutzer, die sich Material mit mehr oder weniger salafistischem Bezug anschauen, auf immer weitere Videos derselben Thematik. Dass einige YouTube-Kanäle Namen tragen, die nicht offenkundig als salafistisch erkennbar sind, wie etwa Botschaft des Islam,102 sowie der Mangel an Alternativen, die den Bedarf der Muslime an religiösem Content abdecken, begünstigen die Verbreitung salafistischer Propaganda. Um zu zeigen, dass sich die von salafistischen Predigern Deutschlands vertretene Weltanschauung mit den Inhalten der oben angeführten Webseiten überschneiden und sie das gleiche
100 Vgl. Kaddor: Zum Töten bereit, S. 180. 101 Deutsche Sicherheitsbehörden nehmen von dieser Entwicklung Notiz. Ihnen ist bewusst, dass die Basis salafistischen Wirkens »[…] in der Regel keine statischen Webseiten sind. Vielmehr werden soziale Netzwerke und Kommunikationsdienste genutzt, die kostenfrei zur Verfügung stehen und selber keine extremistische Agenda verfolgen.« Ministerium des Innern NRW: Verfassungsschutzbericht 2016, S. 178. 102 Der YouTube-Kanal Botschaft des Islam ist seit 2013 online und hat derzeit 118.151 Abonnenten (Stand: Feb. 2019). Seine Reichweite ist größer als die vieler anderer salafistischer YouTubeKanäle bekannter Prediger wie etwa PierreVogelDe, wie im Folgenden dargestellt wird. Diese Reichweite kann damit erklärt werden, dass nicht ohne Weiteres zu erkennen ist, dass es sich um eine salafistische Seite handelt. Vgl. für mehr dazu Ragunathan: Der Salafismus, S. 51f.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
Gedankengut propagieren, werden die Ansichten einiger namhafter in Deutschland aktiver Prediger wie Hasan Dabbagh, Pierre Vogel und Ahmad Abul Baraa zu ausgewählten Fragen kurz dargestellt.103 Es geht dabei nicht um eine Wiedergabe ihrer Biografie oder eine umfassende Analyse ihrer Lehrmeinungen, sondern um einen Überblick über ihre per YouTube verbreitete Haltung zu bestimmten Fragen.
7.1
Hassan Dabbagh
Der seit 1992 in Leipzig wirkende deutsch-syrische Imam Hassan Dabbagh alias Shaykh Abul Hussein gilt als einer der prominentesten und wichtigsten Repräsentanten des deutschen Mainstream-Salafismus.104 Zusammen mit dem aus Marokko stammenden Prediger Mohammed Benhsain alias Abu Jamal aus Bonn sowie dem ebenfalls marokkanischstämmigen Berliner Prediger Abdul Adhim Kamouss alias Abu ʿAbdir-Rahman (geb. 1977), der sich spätestens seit 2016 von der deutschen Salafismus-Szene distanziert, zählt Dabbagh zu den Gründungsvätern der salafistischen Bewegung in Deutschland. Durch ihre Aktivitäten für die daʿwa-Arbeit, die ihren Anfang in den späten 1990er Jahre genommen hatten, haben sie die Entstehung der salafistischen daʿwa-Bewegung in Deutschland stark beeinflusst.105 Bis heute wirkt Dabbagh als Imam und Vorsitzender der Al-Rahman-Moschee in Leipzig, die er mit anderen Studenten 1993 gründete.106 Er selbst präsentiert sich als »Vater« einer jüngeren Generation salafistischer Prediger Deutschlands und bezeichnet diese auch als »meine Jungs«.107 Innerhalb der salafistischen Bewegung in Deutschland wirkte er vor allem als Islamlehrer und Berater bzw. Mufti für islamische Rechtsfragen. Auf informeller Ebene arbeitet(e) er mit namhaften Predigern Deutschlands zusammen, etwa mit Pierre Vogel, dem türkisch-deutschen Muhamed Ciftci (geb. 1973) und Ahmad Abul Baraa. Ideologisch ist er stark von salafistischen Gelehrten wie al-Albānī und dem syrischen ʿAdnān al-ʿArūr (gest. 1948) geprägt worden.108
103 Siehe ausführlich dazu Kap. V. 104 Weiterführend zu seiner Person in Wiedl/Becker: Populäre Prediger im deutschen Salafismus, S. 188-192. 105 Die frühen Anfänge salafistischer daʿwa in Deutschland reichen dementsprechend bis in die 1990er Jahre zurück. In der Anfangsphase konzentrierte sich diese daʿwa auf die Zielgruppe der Muslime. Seit etwa 2005 erweiterten Salafisten ihre daʿwa und wandten sich der Zielgruppe der Nichtmuslime intensiver zu. Vgl. weiterführend Wiedl: Geschichte, S. 411-442; dies: Außenbezüge, S. 47f.; Lohlker: Die Salafisten, S. 85-94. 106 Siehe https://www.leipziger-moschee.de/ueber-uns/; Dabbagh: 1/14 – Die Stellung der Frau im Islām, in: www.youtube.com (abg. 22.02.2019). 107 Für Näheres dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 168f. 108 Siehe weiterführend dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 168-172; dies.: Außenbezüge, S. 130ff.
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Oft betont er in seinen Vorträgen, dass der »wahre« und von ihm vertretene Islam gewaltfrei sei und für die deutsche Gesellschaft keine Gefahr darstelle. Seine Version eines friedlichen Islam stützt er mit Zitaten aus dem Koran und der Sunna. Dementsprechend wird er als Verfechter einer gewaltlosen daʿwa-Strategie angesehen.109 Themenschwerpunkte wie Befolgung der Sunna, Vollzug gottesdienstlicher Handlungen, politikbezogene Fragen, Gewalt im Islam, Toleranz und Gerechtigkeit nehmen ebenfalls einen wichtigen Platz in seiner daʿwa-Strategie ein. Dabei weicht er in seiner Argumentationsweise nicht von den Gelehrten der oben dargestellten Websites ab, wenngleich er sich mit politischen Themen ausführlicher beschäftigt.110 Ein Großteil seiner YouTube-Auftritte befasst sich zwar mit religiösen Fragen, in anderen aber beschäftigt er sich intensiv mit politischen Ereignissen im In- und Ausland; er kritisiert dabei sowohl die Politik mehrheitlich muslimischer als auch westlicher Regime.111 Bei seinem Auftritt in der Sendung »Menschen bei Maischberger« zum Thema Salafismus warf er z.B. den deutschen Sicherheitsbehörden sowie den Medien vor, durch ihre verzerrte Darstellung des Salafismus ein »Feindbild Islam« innerhalb der Gesellschaft schaffen zu wollen: »Salafismus ist eine Sache, die rein religiös ist […], aber leider wird es von Geheimdiensten oder von Staatsschützern oder sog. Medienvertretern missbraucht, damit man ein Feindbild Islam in diesem Land schafft. Und damit man die Muslime über einen Kamm schert.«112 In einer Stellungnahme zum Begriff Salafismus weist er es zurück, als Salafist bezeichnet zu werden und präferiert die Beschreibung »Muslim«. Die Befolgung des salaf -Weges heißt für ihn, dass man den Islam so zu praktizieren habe, wie es über die ersten drei Generationen des Islam überliefert worden sei. Dies stelle die authentische Form des Islam dar.113 Den Zustand vieler islamisch geprägter Länder beschreibt er als »Elend und Krieg«. Dafür macht er die Regenten muslimischer Länder und westlicher Staaten, die muslimische Länder angreifen, weil sie »keinen Islam wollen«, mitverantwortlich. Neben diesem »äußeren Feind« seien Muslime selbst aufgrund ihrer Unwissenheit und ihrer Abkehr von ihrer Religion der Hauptgrund für diese Misere. Sein Lösungsvorschlag beinhaltet keinen Appell zur Gewalt gegen jene »ungerechten« Länder, vielmehr sieht er den Ausweg aus diesen Problemen in der Rückkehr der Muslime zu Gott und in der Befolgung Seiner Ge- und Verbote. Muslime haben
109 Vgl. Wiedl: Außenbezüge, S. 99. 110 Vgl. z.B. Dabbagh: Ist es wichtig; ders.: Die Entislamisierung, in: www.youtube.com (abg. am 22.02.2019); Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 169f. 111 Vgl. statt vieler Dabbagh: Eine Stellungnahme, in: www.youtube.com (abg. am 22.02.2019); Anh. 13. Mehr dazu bei Wiedl: Außenbezüge, S. 136ff. 112 Vgl. Dabbagh: Maischberger, in: www.youtube.com (abg. am 22.02.2019). 113 Vgl. ebd.; ders.: Eine Stellungnahme, in: www.youtube.com (abg. am 22.02.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
nach seinem Verständnis ihr Leid geduldig zu ertragen, sich dem Islam zuzuwenden und auf die Hilfe Gottes zu hoffen.114 Die salafistische Webseite www.salaf .de115 diente Dabbagh als Sprachrohr zur Verbreitung salafistischen Gedankenguts, heute hingegen wird sie nicht mehr kontinuierlich gepflegt. Nun wird sie von dem Braunschweiger Muhamed Ciftci betrieben, dessen Telefonnummer für »Fragen zum Islam« und für »persönlichen Rat« dort angegeben wird, eine Aufgabe, die Dabbagh zuvor übernommen hatte.116 Dieser hatte die Rolle eines Muftis eingenommen und Fatwas zu unterschiedlichen Fragen ausgesprochen.117 Nach Wiedls Angaben hatte er eine Fatwa-Webseite gegründet, die sog. Islam-fetwa.de, die zurzeit nicht mehr verfügbar ist. Dort präsentierte er, so Wiedl, zwischen 2008 und 2011 zahlreiche religiöse Gutachten, die inhaltlich größtenteils identisch mit den Fatwas und Positionen saudischer Gelehrter waren. Auf einem anderen Fatwa-Portal, das ebenfalls nicht mehr abrufbar ist, fanden sich viele Fatwas von ihm, wobei er vorwiegend auf Rechtsgutachten alMunajjids, des Betreibers des Fatwa-Portals Islam Q&A, und die dort zur Verfügung stehenden Übersetzungen zurückgriff.118 All seine Aktivitäten versucht er, übers Internet und vor allem YouTube sichtbar zu machen und im gesamten deutschsprachigen Raum zu verbreiten. Auf vielen anderen Websites des deutschen Salafismus, welche inzwischen verboten wurden oder nicht mehr online sind, wie etwa einladungzumparadies.de und diewahrheitimherzen.de, war er auch stark präsent. Seine Vorträge werden vom salafistischen Berliner Verlagshaus as-Sunna publiziert.119
7.2
Pierre Vogel
Der als »Pop-Star des politisch-missionarischen Salafismus«120 bezeichnete Pierre Vogel alias Abu Hamza (geb. 1978) gilt als einer der populärsten salafistischen Pre-
114
Vgl. Dabbagh: Die Lage der Umma, in: www.youtube.com (abg. am 22.02.2019); weiterführend dazu Wiedl: Außenbezüge, S. 142ff. 115 Siehe für mehr dazu http://salaf.de/service/service_ueber_uns.html (abg. am 22.02.2019). 116 Vgl. www.salaf.de/; Innenministerkonferenz: Lagebild, in: www.innenministerkonferenz.de (abg. am 26.04.2019), S. 42. 117 Siehe z.B.: Dabbagh: Das Fleisch in Deutschland, in: www.youtube.com; mehr dazu bei Harms: Cyberdaʿwa, S. 185. 118 Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 179ff. 119 Der as-Sunna-Verlag publiziert moderne und klassische islamische Literatur von Gelehrten des salafisitschen Spektrums wie Ibn Qaiyim al-Jawziyya und al-ʿUthaimīn, sowie Literatur und Vorträge deutscher Mainstream-Prediger wie Hassan Dabbagh. Vgl. www.as-sunnaverlag.de/as-sunna-verlag/index.php (abg. am 21.02.2018). 120 Dantschke: Radikalisierung, S. 202.
121
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Radikalisierung im Cyberspace
diger Deutschlands.121 Der als Protestant geborene und 2001 zum Islam konvertierte Vogel zählt zu den ersten und wenigen Predigern Deutschlands, die vor allem jungen Muslimen den Islam auf Deutsch erklären und komplizierte Glaubensvorschriften vereinfacht und oft amüsant näherzubringen vermögen. Ihm gelingt es oft, schwer verständlichen Ereignissen, die im Koran nachzulesen sind, Leben einzuhauchen und diese für sein Publikum nachvollziehbar und glaubhaft zu machen. Dies liegt vor allem an seinem oft einfachen und umgangssprachlichen Stil, der nicht selten mit arabischen religiösen Formeln, seien es Koranverse, Hadithe oder islamische Fachtermini, verbunden wird, was ihm wiederum eine gewisse Authentizität verleiht. Durch seine Auftritte im Fernsehen arabischer Länder wie etwa Ägypten sowie auf privat organisierten Veranstaltungen gewann er auch unter arabischen Muslimen größere Popularität sowie neue Anhänger. Dass die Jugend den Großteil seines Publikums ausmacht, liegt vor allem daran, dass er sie in ihrer Sprache anspricht und auf ihre Alltagsprobleme eingeht.122 Vogels persönlicher YouTube-Channel, PierreVogelDE, der heute noch kontinuierlich gepflegt wird, hat über 44.289 Abonnenten. Seine Facebook-Seite wurde von 319.053 Personen abonniert.123 Dort teilt er in seinen Posts Ansichten und Lehrmeinungen salafistischer Gelehrter vormoderner wie moderner Zeit mit.124 In seinen Online-Auftritten spricht er häufig die Themen »Medienhetze« und »Islamfeindlichkeit« an, nimmt zu diversen aktuellen islambezogenen Ereignissen Stellung, wie etwa zur Deutschen Islamkonferenz und zur Razzia in der Berliner as-Sahaba-Moschee.125 Seinen Fokus richtet er jedoch in erster Linie auf die daʿwa-Arbeit sowie die Beantwortung von an ihn herangetragenen Fragen in Form einer Fatwa-Erteilung, womit er gelegentlich die Funktion eines Muftis wahrnimmt.126 Nicht selten wirft er in seinen Auftritten Journalisten vor, die Zuschauer bzw. Leser unterschwellig zu manipulieren und absichtlich Assoziationen zwischen dem Islam und dem Terrorismus zu kreieren, z.B. mittels der Illustration eines Berichtes über einen Bombenanschlag mit dem Foto einer verhüllten Frau.127 121
Vgl. ausführlich zu seiner Biografie z.B. Kraetzer: Salafismus als Jugendkultur, S. 133-162; Wiedl/Becker: Populäre Prediger im deutschen Salafismus, S. 192-197. 122 Vgl. statt vieler Schmidt: Jung, deutsch, S. 84. 123 Siehe Anh. 14 und 15. 124 Vgl. https://www.facebook.com/PierreVogelOffiziell (abg. am 22.02.2019). 125 Der Verfassungsschutz hat diese Moschee 2015 als »Treffort von Salafisten« eingestuft. Auch der Rapper Deso Dogg predigte in dieser Moschee, bevor er sich der Terrorgruppe »Islamischer Staat« in Syrien anschloss. 126 Vgl. z.B. Vogel: Muss ich fasten; ders.: Sind alle Religionen richtig?, in: www.youtube.com/user/PierreVogelDe (abg. am 23.03.2019). 127 Vgl. Vogel: Wie steht der Islam zum Terrorismus?; Dabbagh: Wie stelle ich den Islām vor?, in: www.youtube.com (abg. am 07.02.2019). Der Vorwurf wird in vielen Studien bestätigt. Vgl. z.B. Halm: Pauschale Islamfeindlichkeit, 12-48; Hafez/Richter: Das Islambild von ARD und ZDF, S. 40-46.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
Eines seiner populärsten YouTube-Videos ist »ISLAM erklärt in 30 Sekunden«.128 Es wurde am 13.09.2007 veröffentlicht und hatte bis zum Tag der Datenerhebung 247.224 Aufrufe.129 Dort definiert er den Islam wie folgt: »Islam ist: Wir glauben an einen Gott. Dieser Gott ist der allmächtige Schöpfer, Lenker, Herrscher des gesamten Universums. Dieser Gott hat die Menschen erschaffen, damit sie ihm dienen. Deswegen hat er Gesandte geschickt; deswegen hat er Bücher geschickt. Wer an die Gesandten glaubt und den Büchern folgt, wird ins Paradies gehen. Wer das nicht macht, der wird in die Hölle gehen. Der letzte Gesandte ist der Prophet Mohammed ṣallā allāhu ʿalaihī wa-sallam, er kam mit dem Buch – dem Koran. An den hast du zu glauben, da ist die letzte Botschaft des allmächtigen Gottes. So kommst du ins Paradies. Wenn du dich verweigerst, gehst du in die Hölle. Punkt, das war Islam.« Wenngleich dieses Verständnis den Islam auf bestimmte theologische Fragen reduziert und andere religiöse Werte und Pflichten außen vor lässt, zeigt es, wie identisch die auf YouTube zur Verfügung gestellten Inhalte salafistischer Prediger mit denen der auf den oben dargestellten Websites sind. Dies ist vor allem an zwei Stellen erkennbar: Zum einen wird Gott als Schöpfer und Herrscher der Welt verstanden und zum anderen eine dichotome Weltsicht von Gläubigen und Nichtgläubigen sowie Hölle und Paradies propagiert. Diese einfache Form des Islam zielt sicherlich darauf ab, die Botschaft des Islam gerade für junge Menschen attraktiv zu machen, was auf Akzeptanz bei vielen Jugendlichen stoßen könnte, da sie »nie eine religiöse Sozialisation erfahren [haben], die sie befähigt, sich mit theologischen Fragen selbstständig und kritisch reflektierend auseinandersetzen zu können.«130 In einem anderen Video, das knapp 13.212 Views verzeichnet hat,131 beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Islam und Demokratie. Zunächst stellt er die Frage, ob es überhaupt die eine Demokratie gebe. Der Westen habe sich auf Lincolns Definition geeinigt: »The government of the people, by the people, for the people«, das sei »erst mal nichts Gutes und nichts Schlechtes«. Dennoch könnten Menschen nicht nur gute, sondern auch schlechte Vorschriften und Gesetze wie etwa die »Gleichstellung der Homoehe« ersinnen. Da Menschen fehlgehen könnten, Gott hingegen nicht, wüsste nur Er, was für Seine Geschöpfe gut ist und was nicht. Vogels Ablehnung der Demokratie wird demnach vor allem damit gerechtfertigt, dass man unter dem Deckmantel der Demokratie viele Verbote einführen könne.
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Vogel: Islam erklärt in 30 sekunden, in: www.youtube.com (abg. am 20.02.2019). Letzter Zugriff am 20.02.2019. Dantschke: Da habe ich etwas gesehen, S. 480. Vgl. Vogel: Wie steht der Islam zur Demokratie?, in: www.youtube.com (abg. am 24.02.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
Zudem führt er zahlreiche Belege an, die nach seiner Darstellung unmissverständlich erklären, dass nur Gott als Herrscher und Gesetzgeber anzuerkennen sei. Der Islam stehe demnach »völlig im Kontrast« zur Demokratie. Zum Schluss appelliert Vogel an Muslime, für den Islam und seine Gesetze einzustehen. Dies heiße aber nicht, Gewalttaten zu unterstützen, sondern für die Wahrheit zu kämpfen und sich für die daʿwa-Arbeit stark zu machen.132 In einem anderen YouTube-Video erklärt er, dass der Islam »die Welt regieren« werde: »Ich sage zu den Kollegen: Das passiert sowieso [gemeint ist die Islamisierung Deutschlands]. Eh Islamisierung, Islamisierung Deutschlands, oder was? Die schleichende Islamisierung. Was für eine schleichende Islamisierung? Rasante Islamisierung! Ich meine, es passiert sowieso. Das ist schon geschrieben, hallo! Islam wird die Welt regieren. Mit mir, mit mir und ohne mich. Das ist halt so. […]. Das ist nun mal so. Ist geschrieben von Allah […]. Da brauche ich gar nichts für zu tun. Ich will die Menschen vor der Hölle retten. Am Ende, der Sieg kommt sowieso von Allah […]. Das heißt für alle Leute, die sollen keine Angst vor der Islamisierung haben. Die sollen lieber Angst haben, dass sie morgen krepieren und den Islam nicht angenommen haben, denn dann sind sie für Ewigkeiten in der Hölle. Frau Merkel, diesen Tipp gebe ich Ihnen übrigens auch.«133
7.3
Ahmad Abul Baraa
Ahmad Armih alias Ahmad Abul Baraa (geb. 1973) gilt ebenfalls als einer der bekanntesten Prediger und Hardliner der salafistischen Szene Deutschlands. Er tritt regelmäßig in der as-Sahaba-Moschee in Berlin-Wedding auf, welche der Verfassungsschutz 2015 als »Treffort von Salafisten« eingestuft hat. Der aus Palästina stammende und bis heute in Berlin wirkende Abul Baraa hält darüber hinaus Gastauftritte in vielen anderen Moscheen wie etwa in der Hannover Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises und der Braunschweiger DMG, wo er auch Predigten sowie Vorträge hält. Eine Reihe von Videos zu unterschiedlichen Themen, die Grundthesen seiner Weltanschauung wiedergeben, sind auf YouTube verfügbar. Die gleichen Videos sind zusätzlich auf seiner eigenen Seite as-Sirat hochgeladen, wobei diese dort oft nach Themenkategorien aufgeteilt sind.134 Sein YouTube-Kanal hat rund 10.000 Abonnenten. Der Schwerpunkt Fatwa-Erteilung, bei der er über beinahe jedes Thema spricht, nimmt den größten Raum seiner Internetpräsenz ein. In einer Vielzahl von Videos erstellt er Fatwas zu unterschiedlichen Themenbereichen, in denen er auf an ihn gerichtete Fragen antwortet. Aus vielen seiner Aussagen geht 132 133 134
Für Näheres dazu siehe ebd. und ders.: Islam und Demokratie, in: www.youtube.com (abg. am 24.02.2019). Vogel: Die Situation in Deutschland, in: www.youtube.com (abg. am 24.02.2019). Siehe https://as-sirat.de/ (abg. am 26.05.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
im Großen und Ganzen hervor, dass er eine Gesellschaftsordnung auf Basis der Scharia, gestützt auf ein wortwörtliches Verständnis der Quellentexte, unterstützt, demokratischen Staatssystemen jedoch weitgehend ablehnend gegenübersteht.135 In seinen Video-Auftritten bewegen sich seine Argumente im salafistischen Rahmen: Dort propagiert er nicht nur ein menschenrechtsverachtendes Verständnis der Stellung der Frau im Islam,136 sondern auch ein Verständnis, das den Wertvorstellungen einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft zuwiderläuft (etwa durch die Abwertung der Christen und Juden). In einem Video widmet er sich bspw. dem Thema der Sunna des Propheten. Hierbei vertritt er, ähnlich wie bereits oben dargestellt, ein rigides buchstabengetreues Verständnis der Sunna und strebt eine Lebensweise nach dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten an. Er appelliert an Muslime in Deutschland, ihre Religion in all ihren Facetten auszuleben und die Sunna des Propheten wiederzubeleben. Damit geht für ihn unter anderem einher, dass Frauen sich vollverschleiern sollten, weder fremde Männer per Handschlag begrüßen noch alleine reisen dürften. Diesen Appell rechtfertigt er damit, dass Gottes Ge- und Verbote absolut seien und über universelle Gültigkeit verfügten, losgelöst von politischen und geografischen Grenzen.137 Seine Zuhörer erachten ihn als ausgewiesenen Mufti, der durch seine Qualifikationen befugt sei, religiöse Auskünfte bzw. Fatwas auf an ihn herangetragene Fragen zu geben. Wie vielen YouTube-Videos zu entnehmen ist, nimmt er auf Anfrage hin Stellung zu zahlreichen Fragen, was oftmals nach einem Vortrag stattfindet. Seine Fatwas folgen zumeist dem salafistischen Argumentationsmuster, indem er auf den Koran, die Sunna oder Aussagen früherer Gelehrter verweist, die wiederum nach ihrem äußerlichen Wortlaut interpretiert werden, oder aber zeitgenössische Autoritäten des salafistischen Spektrums direkt zitiert. Interreligiöse Angelegenheiten wie Umgang mit Nichtmuslimen, Gratulation zu Weihnachtsfeier, Silvester etc. werden dort angesprochen, wobei er seinen Zuhörern eine zurückhaltende bis feindliche Haltung gegenüber Nichtmuslimen vermittelt. Eine
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Vgl. z.B. Abul Baraa: Die Besonderheit des Bittgebets; ders.: Integration gibt es nicht, in: www.youtube.com (abg. am 24.02.2019); Anh. 16. Frauen macht er dafür verantwortlich, von Männern belästigt zu werden: »Wie sieht der Hijab (Schleier) der Frauen heute aus? Der schreit förmlich: Komm und belästige mich«, sagt Abul Baraa in einem neuen YouTube-Video. »Wenn du belästigt werden möchtest, dann zieh dich an wie alle anderen Frauen, die ebenfalls belästigt werden möchten.« Deshalb sollen Frauen ihm zufolge keine bunten Farben und kein Parfüm tragen. Ansonsten seien sie nur ein »Lustobjekt« wie die Frauen der »Ungläubigen«. Vgl. z.B. Abul Baraa: Dürfen die Frauen einen bunten Hijab; ders.: Wenn eine Frau sich nicht islamisch bedeckt, in: www.youtube.com (abg. am 25.02.2019). Siehe statt vieler Abul Baraa: Eine bewegende Rede, in: www.youtube.com (abg. am 26.05.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
zentrale Basis in seiner Argumentation bildet dabei die dichotome Weltsicht aus »gut«, »wahr« und »gläubig« gegenüber »böse«, »falsch« und »ungläubig«. Darauf gestützt wird Muslimen z.B. verboten, Kontakt mit – aus seiner Sicht – »Ungläubigen« (kuffār) zu suchen oder ihnen zu ihren Festen und Ritualen zu gratulieren.138
8.
Zwischenfazit – Islam(ist)ische Normativität im Cyberspace
Das Internet spielt bei der Verbreitung salafistischer Propaganda bereits seit einigen Jahren eine enorm wichtige Rolle. Die Bedeutung der virtuellen Welt hat für die salafistische Szene insbesondere durch die Einführung des Web 2.0 und die damit einhergehenden Möglichkeiten der Interaktion in Internetforen, Videobörsen und sozialen Netzwerken zugenommen. Dadurch werden die Online-Inhalte nicht nur konsumiert oder durch die Nutzer einzeln weiter verwendet, sondern oft auch von anderen Webseiten übernommen. Diese interaktive und kooperative Vorgehensweise trägt zur schnellen Verbreitung salafistischer Angebote bei. Für Salafisten dient das Internet nicht nur als Verbreitungsplattform für ihre Ideologie, sondern auch als wichtiges Kommunikationsmittel zur Rekrutierung neuer Anhänger.139 Die oben dargestellten Internetportale eint das Anliegen, die daʿwa-Arbeit voranzutreiben und die salafistische Version des Islam unter die Leute zu bringen. Auch bieten die meisten von ihnen die Möglichkeit an, via E-Mail mit Sprechern bzw. Betreibern der Webseite Kontakt aufzunehmen und Fragen zu stellen. Als religiöse Autoritäten treten dort vorwiegend salafistische Gelehrte saudischer Herkunft auf, wie etwa Ibn Baz und al-ʿUthaimīn. Vor dem Hintergrund, dass sie eine Fülle an Fatwas zu den unterschiedlichsten Themenfeldern hinterlassen haben und diese von vielen Internetseiten wie etwa Salaf .de, Islamreligion.com, Way-to-allah.com und Islamhouse.com140 aufgegriffen und in mehreren Sprachen zur Verfügung gestellt werden, verwundert es nicht, im Internet oft auf ihre Fatwas zu stoßen, bzw. auf die anderer Gelehrter mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung. Salafistische Fatwas zu finden, bedarf folglich keiner aufwändigen Recherche. In Bezug auf Ibn Baz schreibt Frauenrath Folgendes: »Die Fülle an Webseiten, die Rechtsgutachten des Ibn Baz auch in deutscher oder englischer Sprache öffentlich zur Verfügung stellen, spricht dafür, dass er über 15 Jahre nach seinem Tod noch immer ein hohes Ansehen genießt und seine Ansich-
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Vgl. z.B. Abul Barraa: Darf man die Absicht für das Gebet laut sprechen; ders.: Warum darf ein Muslim kein Weihnachten feiern, in: www.youtube.com (abg. am 26.02.2019). 139 Siehe auch Strunk: WWW-Salafismus, S. 73. 140 Vgl. z.B. https://islamhouse.com/de/; https://www.islamreligion.com/de/ (abg. am 29.03.2019).
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
ten nicht nur bei den Betreibern der Seiten Anklang finden, sondern auch bei den Nutzern, die im Internet nach Antworten auf islamrechtliche Fragen suchen.«141 Die Angebote der angeführten Webseiten richten sich an Muslime und Nichtmuslime. Sie sind dementsprechend in ihrer Gestaltung angepasst an diese beiden Zielgruppen und daher häufig multimedial und mehrsprachig. Auch bieten diese Seiten eine Vielzahl an Info- bzw. Lernmaterialien an, welche die salafistische Lehre in einer einfachen Sprache verständlich präsentieren. Diese Internetangebote stehen jedem frei zugänglich und kostenlos zur Verfügung. Neben ihren eigenen Internetdomains agieren die vorgestellten Webangebote auch auf Plattformen wie YouTube oder auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram. Durch intensive Interaktion können viele salafistische Inhalte schnell unter Internetnutzern ausgetauscht werden. Vor dem Hintergrund, dass die meisten der oben angeführten Internetportale in mehreren Sprachen verfügbar sind und ihre Angebote zugleich durch weitere Kanäle große Verbreitung finden,142 kann man annehmen, dass ihre Inhalte unter Muslimen wie Nichtmuslimen weltweit Gehör finden. So ist es wahrscheinlich möglich, weltweit von zuhause aus an salafistische, möglicherweise radikalisierungsfördernde Propaganda zu gelangen, ohne direkt in salafistische Gruppen eingebunden zu sein. Es mag an dieser Stelle die Frage aufkommen, wieso Salafisten auf moderne Technik zurückgreifen, während sie sich andererseits auf die frühislamische Lebensweise des Propheten und seiner Gefährten rückbesinnen und diese rigide nachzuahmen suchen, was sich ja nicht nur in ihrem Denken, sondern auch in ihrem Aussehen manifestiert. Ein Grund dafür liegt in der herausragenden Bedeutung, die Salafisten der daʿwa zusprechen. Wenn es darum geht, ihre Lehre möglichst weit zu verbreiten und dadurch mehr Sympathisanten zu gewinnen, setzen sie auf die neuesten elektronischen Medien. Wie bereits oben dargestellt, werden hierfür von salafistischen Gelehrten entsprechende Fatwas erteilt, die die Verwendung des Internets für die daʿwa-Arbeit befürworten.143 Ekkehard beschreibt die Rolle des Internets für die Verbreitung salafistischer Propaganda als »[…] eine neue Kommunikationsstrategie, die das missionarische Ziel der Verbreitung salafistischer Ideologie insbesondere unter Jugendlichen mit den Bedürfnissen der modernen Mediengesellschaft verbindet. So werden seit ca. 2002 in sprunghaft ansteigender Zahl Fatwas, Predigten und religiöse Abhandlungen auf Deutsch bzw. in deutscher Übersetzung bereitgestellt. Diese
141 Frauenrath: Der Einfluss des Sheikh, S. 84. 142 Vgl. z.B. www.salaf.de; www.basseera.de; www.erbederpropheten.de; www.al-madinah.de (abg. am 04.06.2018). 143 Vgl. Kap. III, Abschn. 5.
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Radikalisierung im Cyberspace
Entwicklung korrespondiert mit der weltweiten Zunahme salafistischer Webseiten mit Online-Predigten und sogenannter »e-Fatwas« insbesondere saudischwahhabitischer Herkunft ca. seit dem Jahr 2000.«144 Das Thema Fatwa-Erteilung nimmt auch auf den meisten im Rahmen dieser Studie dargestellten Webseiten einen zentralen Platz ein. Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Muslime großen Wert darauf legen, ihr Leben nach den Werten und Normen des Islam auszurichten. Dies geschieht in der Regel auf der Basis einer Fatwa. Fatwas gelten für viele Muslime heute, wie es auch durch die islamische Geschichte hindurch der Fall war, als Richtschnur und Orientierung für ein schariakonformes Leben. Sie dienen als Antworten auf alle Fragen des Lebens sowie als Rechtfertigung von religiösen und politischen Ansichten. Eine Fatwa ist eine religiöse Auskunft, die dem Ratsuchenden (mustaftī) von einem Mufti mit bestimmten Qualifikationen auf Anfrage hin erstellt wird. Auf der Basis einer Fatwa erlangt der Ratsuchende nicht nur eine sachkundige Auskunft darüber, was schariagemäß erlaubt, erwünscht, verpflichtend, verpönt und verboten ist, sondern zugleich auch einen verantwortungsbewussten, auf seine eigene Situation bezogenen Rat, wie er sich in Familie und Gesellschaft verhalten soll. Die Befolgung erlassener Fatwas bleibt zwar fakultativ, jedoch genießen sie bei vielen Muslimen große Autorität. Das Fatwa-Wesen hatte nicht nur einen enormen Einfluss auf die Entstehungsgeschichte des islamischen Rechts- und Normensystems, vielmehr ist es auch für dessen fortlaufende Weiterentwicklung von erheblicher Bedeutung.145 Nicht nur für einzelne Personen ist die Erteilung von Fatwas wichtig, sondern auch für die Politik, die Gesellschaft und die Wirtschaft. Denn durch Fatwas wurden und werden auch noch heute Fragen allgemeiner Natur behandelt, wie zum Beispiel die Zulässigkeit von Kredit- und Verzugszinsen. Auch politische Entscheidungen, wie etwa Kriegseintritt oder Friedensschluss, wurden und werden auf der Basis von Fatwas gerechtfertigt. Der Hintergrund dazu ist, dass das islamische Rechts- und Normensystem nach islamischer Auffassung über alle Belange des Lebens bestimmt und dieses islamische Recht eben in der Regel durch Fatwas gesprochen wird.146 Das Fatwa-Wesen hat seinen Ursprung bereits in der Frühzeit des Islam. Bereits die ersten Muslime richteten sich mit ihren Fragen an den Propheten und die rechtlich Versierten unter seinen Gefährten.147 Sowohl im Koran als auch in
144 Rudolph: Salafistische Propaganda, S. 489. 145 Vgl. Hallaq: From Fatwas to Furūʿ, S. 65; Krawietz: Die Ḥurma, S. 29; Motzki: Religiöse Ratgebung, S. 14f. 146 Vgl. statt vieler El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 101-123; Gräf: Medien-Fatwas, passim. 147 Vgl. Ibn Qaiyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn, Bd. 1, S. 17f.; ad-Dakhīl: al-Fatwā, S. 79f.; al-Mansī: Taghayyur aẓ-ẓurūf, S. 109ff. Für Näheres dazu vgl. u.a. Motzki: Religiöse Ratgebung, S. 3-23; Masud: Mufti, S. 4-33; Hallaq: An Introduction, S. 162ff.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
den islamischen Traditionen wird dies mehrfach bestätigt, so heißt es im Koran z.B.: »Man fragt dich [Muḥammad] nach dem Wein und dem Glücksspiel. Sag: In ihnen liegt eine schwere Sünde. Und dabei sind sie für die Menschen (auch manchmal) von Nutzen. Die Sünde, die in ihnen liegt, ist aber größer als ihr Nutzen.«148 Nach dem Tode Muhammads übernahmen die ersten Kalifen sowie die Rechtskenner unter den Prophetengefährten die Aufgabe der Fatwa-Erteilung und der Beantwortung von neu aufgetretenen Fragen. Infolge der Expansionen des islamischen Reichs wurde schließlich das Fatwa-Wesen, spätestens unter den Umayyaden (reg. 661-750), zu einer staatlichen Institution etabliert, wobei auf privater Ebene auch die gesamte islamische Geschichte hindurch weiterhin Fatwas erteilt wurden. Aus dieser Zweigleisigkeit entwickelte sich das, was heutzutage mit dem Begriff »Fatwa-Chaos« (fauḍā l-iftāʾ) bezeichnet wird.149 In der virtuellen Welt gibt es etliche Fatwa-Foren von unterschiedlicher Prägung, wobei die Mehrheit davon der salafistischen Richtung zuzuordnen ist.150 Generell lassen sich die Fatwa-Portale in zwei Kategorien unterteilen: Online-FatwaDienste wie die Website Islam Q&A, welche die Möglichkeit anbieten, Fragen per E-Mail oder über ein Formular zu stellen, woraufhin die Antwort auf direktem Wege an den Fragesteller geschickt oder auf der Website veröffentlicht wird; und Fatwa-Archive wie das Portal Islamfatwa.de, die sich auf die Publikation bereits erteilter Fatwas beschränken, deren Entstehungsprozess also schon vor ihrer Aufnahme ins Internet abgeschlossen ist.151 Das Potenzial des Internets als Kommunikationsmedium und Verbreitungsmöglichkeit ihrer Meinung haben nicht nur salafistische Gruppierungen entdeckt, sondern auch islamistische Denkschulen und Einzelpersonen machen bereits davon Gebrauch. So sind Parteien wie die ägyptische Muslimbruderschaft und die Ennahda in Tunesien längst in der virtuellen Welt präsent.152 Al-Qaradawi unterhält ebenfalls eine arabischsprachige Website, auf der neben Fatwas auch eine Bandbreite an Texten und Büchern angeboten wird. Schon 1997 hat er laut Gräf als erster muslimischer Gelehrter Fatwas auf einer persönlichen Website veröffentlicht. In der Rubrik fatāwā wa-aḥkām (»Fatwas und Rechtsurteile«) behandelt er rund tausend Fragen zu unterschiedlichen Themen, welche sich nicht auf ein Gebiet beschränken, sondern alle Bereiche des Islam abdecken. So geht er auf prak-
148 Sure 2 Vers 219; vgl. für mehr dazu Motzki: Religiöse Ratgebung, S. 8f. Für Näheres zu Muhammad als Rechtsgelehrtem siehe Kurnaz: Der Prophet, S. 123-148. 149 Vgl. bspw. El-Wereny: Scharia-Normen im Wandel, S. 105; Ourghi: Chaos der Fatwas, S. 5-24. 150 Vgl. weiterführend dazu Brückner: Der Mufti, S. 37-39. 151 Vgl. Brückner: Fatwas zum Alkohol, S. 38f. 152 Vgl. z.B. www.ikhwanweb.com/; www.ennahdha.tn/ (abg. am 27.03.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
tische, rituelle, wirtschaftliche, politische, medizinische, bioethische, theologische und exegetische Fragestellungen ein.153 Auch liberale Muslime und Apologeten der Reform begnügen sich nicht mit gedruckten Publikationen, sondern greifen ebenfalls auf das Internet zurück, um ihren Thesen mehr Gehör zu verschaffen. Shahrur unterhält bspw. eine, auch nur in arabischer Sprache verfügbare Internetseite, auf der er nicht nur theoretische Themen seines anvisierten Reformprojekts behandelt, sondern auch die Möglichkeit gibt, ihn über ein Eingabeformular zu kontaktieren. Auf diese Weise beantwortet er politische, gesellschaftliche, medizinische und auch theologische Fragen und übernimmt somit die Funktion eines Ratgebers.154 Wenngleich die drei Denkschulen (Salafisten, Islamisten und sog. Modernisten) unterschiedliche Weltanschauungen vertreten und daher zu vielen Fragen unterschiedliche Positionen einnehmen, wie im Folgenden näher dargelegt wird, eint sie alle das Anliegen, ihre Theorien bzw. Ideologien über das Internet zu verbreiten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass sie alle einen Schwerpunkt auf die Erteilung von Fatwas bzw. die Beantwortung von an sie herangetragenen Fragen setzen. Im Unterschied zur salafistischen Webpräsenz aber stecken die der beiden anderen Denkschulen noch in den Kinderschuhen. Während Salafisten im Cyberspace sehr stark vertreten sind und ihre Inhalte in mehreren Sprachen und in unterschiedlichen modernen technischen Formaten zur Verfügung stellen, sind die Portale der anderen zumeist nur in arabischer Sprache verfügbar und erreichen somit nur ein begrenztes Publikum. Durch die modernen Medien hat sich der Charakter von Fatwas verändert. In der Form erfahren die Fatwas meistens durch die Onlinestellung gewisse Änderungen, die sich auf den inhaltlichen Kern aber nicht auswirken. Sie beschränken sich in erster Linie ausschließlich auf die Zusammenfassung bzw. Verkürzung von angeführten Argumenten. Dies geschieht meist, weil die publizierenden Muftis – die ursprünglichen Autoren – die Websites nicht direkt betreiben, sie werden von Administratoren verwaltet, wie es bspw. bei Ibn Baz und al-Qaradawi zu beobachten ist.155 Weiterhin hat sich die Zielgruppe verschoben, war es bei den printmedialen Fatwas noch eine bestimmte, so sind die Online-Fatwas an Muslime weltweit gerichtet, was dazu führt, dass sie häufig in einer von der Allgemeinheit verständli-
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Vgl. al-Qaradawi: Fatāwā wa-aḥkām, in: www.al-qaradawi.net (abg. am 04.04.2019). Für Näheres dazu Gräf: Medien-Fatwas, S. 244ff. Vgl. Shahrur: Arshīf al-asʾila, in: www.shahrour.org. Zum Tag der Datenerhebung wurden auf der Website 2.062 Fragen behandelt. (abg. am 26.03.2019). Ibn Baz erblindete im Alter von 16 Jahren und verfügte daher, ähnlich wie al-Qaradawi, über keine Computerkenntnisse. Ausführlich zu al-Qaradawi als Medien-Mufti siehe Gräf: Medien-Fatwas, S. 242f., 382.
IV. Die Internetpräsenz des Salafismus – Akteure, Formate und Schwerpunkte
cheren Sprache formuliert sind, im Gegensatz zur komplexen rechtstheoretischen Argumentation.156 Da nicht jeder Muslim in der Lage ist, selbstständig aus den normativen Quellen des Islam Antworten auf neu aufgetretene Fragen zu finden, wendet man sich entweder an eine Fatwa-Institution oder oft auch an den Imam der örtlichen Gemeinde, der durch seine Qualifikationen befugt ist, religiöse Auskünfte auf an ihn herangetragene Fragen zu geben. Dieses Verfahren hat durch die mit dem Internet einhergehenden islamischen Online-Angebote große Veränderungen erfahren, denn jetzt kann man sich dazu recht leicht des Internets bedienen. Online-FatwaDienste haben nämlich neue Zugänge und Kanäle geschaffen, um Fatwas zu erhalten und somit die Religion zu verstehen. Die virtuelle Welt bietet im Gegensatz zu anderen Medien wie Radio oder Fernsehen überschaubare Inhalte, eigene Räume sowie einfacheren Zugang. Besonders vorteilhaft und verlockend ist darüber hinaus die Anonymität, die bewahrt bleibt, wenn man etwa Frageformulare ausfüllt oder Taubthemen konsultiert. Des Weiteren vernetzt das Internet die Welt und man kann als einfacher Ratsuchender nicht nur einen, sondern mehrere Muftis weltweit kontaktieren und sich so ein differenziertes Bild zu einzelnen Themenbereichen machen.157 Da Fatwas eine solch bedeutende Rolle im Alltag vieler Muslime spielen und die dieser Studie zugrundeliegenden Webportale zu den wichtigsten deutschsprachigen Fatwa-Anbietern in der virtuellen Welt zählen, ist anzunehmen, dass ihre Inhalte im deutschsprachigen Raum Verbreitung und womöglich Anerkennung finden, insbesondere da es keine anderen, moderaten Fatwa-Dienste gibt, die sie ersetzen könnten. Fatwas im Cyberspace können deshalb so viele Menschen erreichen, weil sie einfach zugänglich sind und unabhängig von Zeit und Ort die Möglichkeit bieten, an den Problemen anderer teilzuhaben. »Die emotionale Teilhabe, die Möglichkeit zur Interaktion und zur Teilnahme an dem Wissen und den Alltagsproblemen anderer Muslime und damit die Identifikation mit denen, die ähnliche Bedürfnisse haben, mündet im besten Fall in eine gelungene Inklusion der Fatwa-Rezipienten in einen breit angelegten islamistischen Diskurs, bzw. in das Projekt der daʿwa.«158 Die Frage, ob die Inhalte der im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchten Plattformen radikalisierungsfördernd sind, steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Dafür soll zunächst der Begriff Radikalisierung vorgestellt werden.
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Vgl. z.B. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 331ff.; Shahrur: al-Ḥijāb, in: www.shahrour.org (abg. am 26.03.2019); Gräf: Medien-Fatwas, S. 292f. Vgl. Brückner: Fatwas zum Alkohol, S. 15-20; Gräf, Bettina: Medien-Fatwas, S. 231. Vgl. Gräf: Medien-Fatwas, S. 383.
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V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
1.
Radikalisierung: Bedeutung, Ebenen und Verlauf
Der Terminus Radikalisierung ist heute ein oft gehörtes und meist umstrittenes Schlagwort: Er steht mittlerweile im Mittelpunkt zahlreicher öffentlicher Diskussionen und wissenschaftlicher Diskurse. Der häufige Bezug auf den Begriff täuscht oft darüber hinweg, wie unscharf und umstritten er ist. Dies betrifft sowohl seine Bedeutung und die Phänomene, die er abdecken soll, als auch seinen normativen Gehalt. Vor allem im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem in der Folge ausgemachten Phänomen des islamistischen homegrown terrorism ist Radikalisierung ein geradezu populärer Terminus geworden.1 So wird er heute nicht selten als Hinwendung zur politischen Gewaltausübung im Kontext von Terrorismus und Extremismus verstanden. Doch viele Wissenschaftler, darunter Gaspar und Daase, sprechen sich gegen ein rein gewaltgebundenes Verständnis von Radikalisierung aus und plädieren für ein weiteres Begriffsverständnis, das »die zunehmende grundlegende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft umfasst, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen.«2 Die meisten Definitionsversuche, die in unserem Kontext von Relevanz sind, laufen auf eine ähnliche Bedeutung hinaus: Bei Radikalisierung handelt es sich um einen mehrstufigen Veränderungsprozess, an dessen Ende ein Individuum bzw. eine Gruppe antidemokratische respektive radikale und von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Positionen einnimmt, sei es auf politischer, sozialer oder religiöser Ebene. Dies kann in letzter Konsequenz auch in die Befürwortung von oder sogar die Beteiligung an gewalttätigen
1 2
Vgl. Kaddor: Zum Töten bereit, S. 58f.; Mandel: Radicalization, S. 101-114; Beutel: Radicalization and Homegrown Terrorism, S. 3f. Vgl. Gaspar/Daase: Warum wir einen weiten Begriff von Radikalisierung brauchen, S. 11f. und 18.
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Radikalisierung im Cyberspace
Aktionen münden.3 Inhaltlich unterscheidet man demnach zwischen kognitiver Radikalisierung, welche durch die Akzeptanz bzw. Übernahme einer von der Gesellschaft als extrem bewerteten Ideologie erfolgt, und gewaltbereiter Radikalisierung, die darüber hinaus zur Befürwortung von Gewalt und womöglich gar zur Gewalttätigkeit führt, um die im Rahmen kognitiver Radikalisierung verinnerlichte Weltsicht umzusetzen. Somit kann kognitive Radikalisierung als Voraussetzung für Gewalthandlungen verstanden werden. Beide Ebenen bedingen sich gegenseitig und können nicht als getrennte Sphären verstanden werden.4 In Abgrenzung zum Begriff Radikalismus beschreibt der Ausdruck Radikalisierung keinen Zustand, sondern eine Entwicklung bzw. einen Prozess, der die stufenweise Hinwendung zum ideologischen Radikalismus bzw. Extremismus darlegt – beide Begriffe werden von Sicherheitsbehörden oft synonym verwendet.5 Übertragen auf die islamistische bzw. salafistische Radikalisierung unterscheidet man entsprechend zwischen zwei Gruppen: einer, die radikale Einstellungen gesellschaftlicher oder politischer Natur übernimmt, und einer dschihadistischen, die in der Anwendung von Gewalt ein legitimes Mittel sieht, um die eigenen politischen und religiösen Überzeugungen umzusetzen. Auch wenn ihre Strategien unterschiedlich sind, bleibt ihr Hauptziel dasselbe: die Errichtung einer auf der Scharia, wie sie sie verstehen, basierenden Staats- und Gesellschaftsordnung.6 Es sei an dieser Stellt zu bedenken gegeben, dass der Begriff »radikal« nur in Relation zum »Mainstream« bzw. zur in einer Gesellschaft vorherrschenden Normativität zu verstehen ist, d.h., er soll einen historischen und gesellschaftlichen Bezugspunkt haben und an den in einer Gesellschaft dominierenden Werten und Normen gemessen werden, um über die Radikalität bzw. das radikal-Sein einer Person oder einer Gruppe eine Aussage treffen zu können. Ohne den jeweiligen Kontext, in dem die Rede von Radikalisierung ist, kann man das Radikale nicht definieren oder seine Erscheinungsformen festhalten.7 Radikale Veränderungen in den Einstellungen einer Person sind oft keine abrupten Ereignisse, vielmehr handelt es sich häufig um einen allmählichen Prozess, 3
4
5 6 7
Vgl. z.B. Sedgwick: The Concept of Radicalization, S. 479-494; Bundeskriminalamt: Radikalisierung, in: www.bka.de (abg. am 20.04.2018); McCauley/Moskalenko: Mechanisms of Political Radicalization, S. 416; El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 117. Vgl. z.B. Pisoiu: Theoretische Ansätze, S. 43. Khosrokhavar definiert Radikalisierung in diesem Sinne wie folgt: »Radikalisierung ist ein Prozess, der dazu führt, dass ein Individuum oder eine Gruppe zu einer Form der Gewaltausübung greift, die unmittelbar an eine sozial, politisch oder religiös motivierte Ideologie geknüpft ist, von der die herrschende politische, soziale oder kulturelle Ordnung abgelehnt wird.« Khosrokhavar: Radikalisierung, S. 29. Bundesamt für Verfassungsschutz: Extremismus/Radikalismus, in: www.verfassungsschutz.de (abg. am 28.02.2019). Vgl. statt vieler Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 33ff.; El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 118. Sieh auch Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 25.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
der schrittweise und kumulativ vonstattengeht. Sie müssen auch nicht zwangsläufig in die gewaltbereite Kategorie der Radikalisierung münden, sondern können, wie es oft der Fall ist, bei der kognitiven Form enden, wobei jedoch die Übergänge fließend sind. Im Kontext der salafistischen Szene betrachten Ceylan und Kiefer den Radikalisierungsprozess, unter Berufung auf Silbers und Bhatts Modelle, als vierstufigen Prozess: Prä-Radikalisierung, Selbstidentifikation, Indoktrination und Dschihadisierung. Wenngleich die Radikalisierungsverläufe von Umfeld zu Umfeld und von Einzelfall zu Einzelfall variieren, und es demnach kein einheitliches Radikalisierungsmuster gibt, das Salafisten auf Jugendliche anwenden, um ihre potenziellen Anhänger zu verführen, bietet dieses vierstufige Erklärungsmodell ein plastisches und plausibles Bild von den Etappen eines Radikalisierungsprozesses: (1) Prä-Radikalisierung beschreibt die Phase vor Beschreiten des Wegs in die Radikalisierung, d.h. das soziale Umfeld des Individuums, sprich die Herkunft, Religion und den Bildungsgrad.8 Es lassen sich eine Reihe von Faktoren für die Prä-Radikalisierung eines Individuums ausmachen wie etwa emotionale Verletzlichkeit, Perspektiv- oder Chancenlosigkeit, Marginalisierung bzw. Entfremdung von der Gesellschaft oder Diskriminierungserfahrung. Diese emotionale Lücke wird von einigen Individuen mittels Religion zu füllen versucht, wobei einige zu einer radikalen Interpretation gelangen. Die Prä-Radikalisierung kann also aufgrund persönlicher, ökonomischer, sozialer oder politischer Erfahrungen bzw. Erlebnisse stattfinden. Diese Phase nennt Saltman »push-factors«, welche die persönlichen Erfahrungen eines Menschen und die Merkmale beschreiben, die ihn für eine Radikalisierung besonders anfällig machen. Da diese negativen Erfahrungen alleine nicht genügen, um einen Menschen zu radikalisieren, sind Saltman zufolge die »pull-factors« ebenso wichtig. Die »pull-factors«, die von salafistischen bzw. islamistischen Gruppen ausgehen, könnten Elemente wie ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, der Sinn für etwas Neues oder das Gefühl, zum ersten Mal Teil von etwas Größerem zu sein, ausmachen. Der Verständlichkeit halber sei folgendes Beispiel erwähnt: Ein Jugendlicher befindet sich in schwierigen sozialen Verhältnissen, hat Schwierigkeiten in der Schule oder wird vielleicht diskriminiert (push-factors). Salafisten erkennen diese Merkmale, machen ihm Angebote, die seine Bedürfnisse und Interessen ansprechen und bieten ihm an, Teil einer Gemeinschaft zu sein, wo alle ungeachtet der Hautfarbe, der Nationalität oder
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Vgl. Silber/Bhatt: Radicalization in the West, S. 22; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 162f.; dies.: Radikalisierungsprävention, S. 30ff; Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 33f.; Logvinov: Salafismus, S. 33ff.
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der Sprache gleich sind (pull-factors).9 Der Kontakt zur salafistischen Szene erfolgt meist in der zweiten Phase des Radikalisierungsverlaufs. (2) In der zweiten Phase, der sog. Selbstidentifikation, widmet sich der Betroffene der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der salafistischen respektive islamistischen Ideologie. Er sucht nach Antworten, Unterstützung und Halt. Hierbei spielt das Internet als Ressource für religiöse Literatur eine eminente Rolle. Es eröffnet neue Welten und bietet unterschiedliche, einfach zugängliche Kanäle an. In dieser Hinsicht sind Salafisten sehr aktiv: Durch ihre vielfältigen, mehrsprachigen und graphisch aufwändig gestalteten Online-Angebote in Form von Schriften oder Video- und Audiodateien schaffen sie es, vor allem junge Menschen zu erreichen. Die virtuelle Welt wird zudem dazu genutzt, in Verbindung mit Kontaktpersonen und Gleichgesinnten zu treten, woraus realweltliche Beziehungen resultieren können. Diese realweltlichen Netzwerke über z.B. Schulkameraden, Freunde oder Verwandte, die bereits in einer radikalen Organisation involviert sind, sind in Radikalisierungsprozessen genauso wichtig wie das Internet. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Interaktion zwischen virtueller und realer Welt bzw. Online- und Offline-Faktoren der Radikalisierungsabläufe. Beide Bereiche bedingen sich gegenseitig und können daher nicht mehr als getrennte Sphären gedacht werden; wobei das Internet für den ersten Schritt und den realweltlichen Erstkontakt oft von hoher Relevanz sein kann. In diesem Sinne schreiben Sold und Gaspar: »Radikalisierung ist ein vielschichtiger Prozess und alle Personen – somit auch Radikalisierte – besitzen ein soziales Umfeld in der Realwelt und agieren in beiden Sphären. Online-Aktivitäten spielen insbesondere beim Erstkontakt, der Mobilisierung und der Kommunikation eine wichtige Rolle. Soziale Kontakte in der Realwelt hingegen sind vor allem für die Verfestigung der Ideologie von Relevanz.«10 In dieser Phase spielt auch die daʿwa-Arbeit eine wichtige Rolle. Dadurch gelangen Salafisten an neue Mitglieder, vor allem an junge Menschen. Diese werden nach ihrer Einführung in die Szene für die Rekrutierung mobilisiert, indem von ihnen verlangt wird, ihre Freunde oder Bekannten mitzubringen: »Wenn ein Jugendlicher gut in die Szene eingeführt ist, dann öffnet sich für die Salafisten eine weitere Tür, um an junge Menschen zu gelangen. ›Bringe doch mal deine Freunde mit‹ […]. Mundpropaganda und persönliche Empfehlungen wir-
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Siehe Kaddor: Zum Toten bereit, S. 58f.; Saltman: How young people join violent, in: www.bit.ly/2wFdXcI (abg. am 27.02.2019). Vgl. weiterführend dazu Sold: Online- oder Offline-Radikalisierung, in: https://blog.prif. org/ (abg. am 28.02.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
ken immer noch am besten.«11 Sobald erste Kontakte bestehen, ist der Rest relativ einfach. Einladungen in den Gemeindenraum oder in die Moschee sind der nächste Schritt. Wer von den Salafisten aufgenommen wird, fällt zunächst in ein ausgesprochen warmes Nest. Neumitglieder werden überaus freundlich aufgenommen. Neue »Brüder« oder »Schwestern« werden förmlich gefeiert und ihnen wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Bei gemeinsamen Aktivitäten (Beten, Fasten etc.) wird der Zusammenhalt unter der Flagge des Islam gestärkt. Ihnen wird vermittelt, nun ein Teil der umma zu sein. Es wird suggeriert, dass man sich in einer ähnlichen Situation befinde wie die Urgemeinde um den Propheten Muhammad. Dabei nehmen religiöse Führungsfiguren einen zentralen Platz ein. Sie stellen für den Betroffenen Autoritäten dar, die ihm Hoffnung, Orientierung und Perspektive geben. Dann erfolgt in diesem Entwicklungsabschnitt auch die Suche nach Gleichgesinnten, was zumeist zur Anbindung an eine Gruppe führt. Zugehörigkeitsgefühl zu und Identifikation mit einer Gruppe steigern sich stufenweise in dieser Phase.12 (3) Die vertiefte Überzeugung von der Glaubwürdigkeit der Ideologie erfolgt in der dritten Phase, der Indoktrination, in der die intensivierte Übernahme und Verinnerlichung der islamistischen Inhalte stattfindet. Das Individuum übernimmt das religiös begründete politische und soziale Weltbild des Salafismus und wird in diesem Stadium von der Richtigkeit der Ideologie überzeugt. Es setzt sich dann stark dafür ein, das Hauptziel seiner Organisation, eine allumfassende islamische Gemeinschaft zu gründen, zu verwirklichen.13 Bei kognitiver Radikalisierung salafistischer Natur endet der Prozess hier: Das Individuum übernimmt entweder ein puristisches oder politisches Weltbild, das ohne Gewaltbefürwortung auf die Beseitigung menschengemachter freiheitlich-demokratischer Werteordnungen und die Errichtung einer gottgefälligen schariakonformen Staats- und Gesellschaftsordnung im salafistischen Sinne abzielt. (4) Auf der letzten Stufe der Radikalisierung werden »Taten statt Worte« gefordert, um die Herrschaft der angestrebten islamischen Gemeinschaft zu sichern bzw. wiederherzustellen.14 Diese sog. Dschihadisierung stellt den Höhepunkt und die letzte Radikalisierungsstufe dar. In diese können die dschihadistischen Salafisten eingeordnet werden, die Gewalt im Namen des Islam ausüben und mit religiösen Texten rechtfertigen. Anhand von islamischtextuellen Argumenten wird ihnen eine Art Garantie dafür vermittelt, der 11 12 13 14
Kaddor: Zum Töten bereit, S. 63. Vgl. Silber/Bhatt: Radicalization in the West, S. 30ff.; Kaddor: Zum Töten bereit, S. 58ff.; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82, 93, 162f; Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 34. Vgl. Eckert: Radikalisierung, S. 13; Silber/Bhatt: Radicalization in the West, S. 30ff.; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82, 93, 162f.; Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 34. Vgl. Eckert: Radikalisierung, S. 13.
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Gruppe der Geretteten anzugehören. Nun spielen das Zugehörigkeitsgefühl und die Solidarität innerhalb der Gruppe eine noch stärkere Rolle. Der Eintritt in diese Phase erfolgt zumeist unter dem Einfluss von Bezugspersonen, die über eine religiöse Autorität verfügen.15 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses vierstufige Modell nicht als allgemeingültig angenommen werden darf. Es gibt keine einheitlichen Radikalisierungsverläufe, da sie sich sehr individuell gestalten. Dies liegt an den unterschiedlichen Gründen der Radikalisierung, für die ebenfalls kein allgemeingültiger Erklärungsansatz vorliegt. In Anbetracht des Dargestellten handelt es sich bei salafistischer oder islamistischer Radikalisierung um radikale Positionen, die von den in einer Gesellschaft herrschenden Werten und Normen mit dem Ziel abweichen, eine eigene politische und/oder religiöse Weltanschauung ohne (wie im Falle der Puristen und politischen Salafisten) oder mit Gewaltanwendung (wie in jenem der dschihadistischen Salafisten) gesellschaftliche Realität werden zu lassen, womit die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Ordnung und die Durchsetzung islamistischer Ideologie einhergeht. Im vom Bundesministerium des Inneren herausgegebenen Abschlussbericht über Lebenswelten junger Muslime in Deutschland wird der Begriff »radikal« nicht zwangsläufig in Verbindung mit gewaltbezogenen Handlungen gebracht oder als gewaltbefürwortende Haltung verstanden. Vielmehr wird er auf die kognitive Ebene beschränkt: »Als radikal können (muslimische) Personen oder Organisationen gelten, die sich tiefgehende gesellschaftliche und politische Veränderungen in Deutschland wünschen, die jedoch das gegenwärtige politische und rechtliche System der Bundesrepublik zumindest respektieren und die keine illegalen oder gewalttätigen Maßnahmen ergreifen oder gutheißen.«16 Ob die Inhalte der oben angeführten Webseiten eine Quelle für islamistische Radikalisierung darstellen, und wenn ja, auf welcher Ebene dies sich bewegt, ist der Gegenstand der nächsten Abschnitte.
2.
Darstellung und Analyse ausgewählter Fallbeispiele
Entsprechend der zentralen Fragestellung der vorliegenden Studie, ob die oben vorgestellten Internetplattformen die hiesige Rechts- und Gesellschaftsordnung infrage stellen und somit radikalisierungsfördernd sein könnten, werden im Folgenden in Anlehnung an die oben angeführte Radikalisierungsdefinition vier The15 16
Vgl. weiterführend dazu Silber/Bhatt: Radicalization in the West, S. 43ff; Aslan/Akkıllıç: Islamistische Radikalisierung, S. 34; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 40f. Frindte/Boehnke: Lebenswelten junger Muslime, S. 596.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
menschwerpunkte politischer und gesellschaftlicher Natur näher betrachtet, und zwar: die Haltung der Online-Salafisten zum Staatssystem, zum religiös Anderen, zu Frauen und zur Gewaltanwendung. Das sind Fragen, die das möglicherweise bestehende Konfliktpotenzial zwischen dem auf den Webseiten vertretenen Islamverständnis und den in Deutschland bzw. im Westen herrschenden Gesetzen und Werten zutage fördern. Glaubens- und Ritusfragen sind in diesem Zusammenhang weniger relevant, da sie nach dem Grundgesetz den Schutz der Religionsfreiheit genießen.
2.1 2.1.1
Staat und Politik aus salafistischer Sicht Der Islam: Religion und Staat?
Das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Religion im Islam ist nicht neuen Datums, vielmehr geht es bis auf die Frühzeit des Islam zurück. Der zentrale Aspekt dieser Diskussion dreht sich vor allem um die Anwendbarkeit der SchariaNormen bzw. der Quellentexte auf alle Fragen des Lebens, einschließlich der Politik. Zeitgenössische säkulare Denker wie etwa Shahrur stehen der islamistischen Forderung nach einer universalen Anwendung der Scharia ablehnend gegenüber und setzen sich für eine scharfe Trennung zwischen Religion und Staat ein. Sie sehen im Säkularismus den Weg zu Fortschritt und Wohlstand muslimischer Gesellschaften. Charakteristisch für ihre Argumentation ist die strikte Unterscheidung zwischen dem Islam an sich, seinen Werten und moralischen Prinzipien, deren Gültigkeit nicht infrage gestellt wird, und dem Islam als Geschichte, d.h. dem Gebrauch bzw., wie Krämer es formuliert, dem Missbrauch dieser Werte und Prinzipien durch die Muslime und ihre Herrscher. Zudem argumentieren Vertreter des Säkularismus, die Scharia weise eine beschränkte Quantität an Normen und Regelungen auf und lasse vor allem viele in der Moderne auftretende Fragen offen. Die geringe Anzahl norm- bzw. gesetzgebender Quellentexte bestätige einmal mehr, dass Gott den Menschen keine Verfassung bzw. kein umfassendes Gesetzbuch habe offenbaren wollen. Die Koranverse, in denen das Wort ḥukm (»Entscheidung« oder »Urteil«) vorkommt, wovon das salafistische bzw. islamistische Konzept ḥākimīya (Regierung) abgeleitet wird, werden in ihren historischen Kontext eingeordnet und ihre Gültigkeit somit zeitlich beschränkt.17 Der als geistiger Vater des islamischen Säkularismus angesehene ʿAbd arRāziq (gest. 1966) stellte die These auf, der Islam sei von Anfang an Religion (nicht Staat), Muhammad Prophet (nicht Staatsmann) und die umma religiöse Gemeinschaft (nicht politisches Gemeinwesen) gewesen. Das heißt, er will Politik und Religion von Beginn der islamischen Geschichte an als getrennt verstanden 17
Vgl. z.B. Shahrur: ad-Daula, S. 15ff., 183ff.; al-ʿAshmāwī: al-Islām, S. 123, 187f.; Krämer: Gottes Staat, S. 53; Hefny: Herrschaft und Islam, S. 111ff.
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wissen. In seinem 1925 veröffentlichten Buch »Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft« schreibt er, dass weder der Koran noch die Sunna konkrete Vorgaben zu einem Herrschaftssystem machten. Es sei daher den Muslimen überlassen, das politische System je nach zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten frei zu gestalten. Seinen mutigen Versuch, die Abschaffung des Kalifats durch die türkische Nationalversammlung im März 1924, islamisch zu begründen, unternimmt er anhand von zahlreichen koranischen und prophetischen Belegen sowie historischen Überlieferungen.18 Während er in seinem Ansatz eine klare, durchgehende Grenze im Islam zwischen Staat und Religion ziehen will, sind Autoren wie der ägyptische Jurist al-ʿAshmāwī (gest. 2013) bemüht, doch einen, wenngleich nur ethischen, Bezug zwischen Islam und Politik herzustellen.19 Hinsichtlich der Problematik der allumfassenden Einführung der Scharia betonen säkulare Denker die Notwendigkeit, zu unterscheiden zwischen der Scharia als Gottes Willen, der implizit in den heiligen Texten enthalten ist, und dem fiqh, also der Auslegung der heiligen Texte nach rein menschlichem Verständnis sowie allem, was aus ihnen abgeleitet bzw. ihnen hinzugefügt wird bzw. wurde. Fiqh wird also dezidiert als Menschenwerk angesehen. Während die Scharia überzeitlich gültig ist, ist fiqh grundsätzlich historisch und örtlich wandelbar. Denn letzterer sei in Abhängigkeit von zeitlichen und örtlichen Umständen von Menschen entwickelt worden, die ihrerseits in Unzulänglichkeiten, Parteilichkeiten und Interessen verstrickt gewesen seien. Das in den Augen der Säkularisten falsche Verständnis von Scharia als der Gesamtheit göttlicher Vorschriften, die alle Fragen des Dies- und Jenseits abdeckten, wird auf Fehlentwicklungen in der islamischen Geschichte zurückgeführt, insbesondere seit den innerislamischen Konflikten, die mit ʿUthmāns Kalifatszeit (644-656) begonnen hätten.20 Doch streiten säkulare Denker die Gültigkeit der Scharia nicht völlig ab. Sie wird bei ihnen aber auf moralische Grundnormen und die gottesdienstlichen Handlungen beschränkt. Die von Säkularisten vertretene Ethisierung der Scharia und die damit einhergehende Relativierung bzw. Reduzierung ihrer juristischen und politischen Bedeutung eröffnet nach Krämer »die Möglichkeit einer weitgehenden Autonomisierung einzelner Lebens- und Gesellschaftsbereiche und damit tendenziell auch ihrer Säkularisierung«.21 Die der vorliegenden Studie zugrunde liegenden Internetportale propagieren indessen allesamt die Ansicht, dass der Islam Staat und Religion sei.22 Er biete 18 19 20 21 22
Siehe weiterführend dazu statt vieler ʿAbd ar-Rāziq: Der Islam, passim; Hefny: Herrschaft und Islam, S. 111f. Vgl. ausführlich dazu al-ʿAshmāwī: ash-Sharīʿa, S. 7f.; ders.: al-Islām as-siyāsī, S. 12f. Vgl. al-ʿAshmāwī: al-islām as-siyāsī, S. 12f.; ʿAbd ar-Rāziq: Der Islam, passim; weiterführend dazu Hefny: Herrschaft und Islam, S. 115ff. Krämer: Gottes Staat, S. 53. Folgende Ausführungen basieren zum Teil auf einem bereits veröffentlichten Artikel des Autors: Siehe El-Wereny: Die virtuelle Welt des Salafismus, S. 127-133.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
ein allumfassendes Programm für alle Fragen des Lebens, von der individuellen Reinheit, Anleitungen fürs Handeln im Alltag bis hin zur wirtschaftlichen und politischen Struktur der Gesellschaft.23 Der Islam dürfe keineswegs vom gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Leben getrennt werden. Sein Rechts- und Normensystem, die Scharia, liefere neben den entsprechenden Anweisungen auch moralische Rechtleitung für alles, dessen eine Person bzw. Gesellschaft bedürfe.24 Eine Differenzierung zwischen religiösen, ethischen und rechtlichen Normen der Scharia wird von den Verantwortlichen dieser Portale, wie auch von vielen Islamisten, nicht akzeptiert. Vielmehr verstehen Vertreter des Salafismus die Scharia bzw. den Islam – beide Begriffe werden bei ihnen häufig synonym verwendet – als holistisches, vollkommenes Gebilde, das alle Belange des Lebens regele. Aus ihrer Sicht hält der Islam »für alle Aspekte des Lebens eine Anleitung bereit – individuell und gesellschaftlich, materiell und moralisch, ökonomisch und politisch, gesetzlich und kulturell, national und international. Der Qurʾan fordert den Menschen auf, den Islam ohne Vorbehalte anzunehmen und Gottes Leitung in allen Lebensbereichen zu befolgen.«25 Dies in die Tat umzusetzen, wird als elementarer Bestandteil des Glaubens eines jeden Muslims angesehen: »Die erste Tat des Glaubens ist, sich zu bemühen, den Willen Gottes sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben zu verwirklichen. Muslime sehen, dass sie selbst ebenso wie die Welt um sie herum Gott und Seinem Willen gänzlich ergeben sein müssen. Außerdem wissen sie, dass dieses Konzept Seiner Herrschaft auf der ganzen Erde eingerichtet werden muss, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.«26 Indem Muslime diese Version des Islam als holistisches Gebilde und ergo auch verbindliches Konzept für die Staats- und Gesellschaftsordnung Realität werden lassen, würden sie zum Vorbild für Anhänger anderer Religionen und der göttlichen Erwartung, die beste Gemeinschaft zu sein, gerecht. Die Vorstellung, die beste Gemeinschaft zu sein, wird mit folgender Koranstelle begründet: »Ihr seid
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24 25 26
Vgl. al-Faqīh: Teilnahme an politischen Veranstaltungen, in: www.islamweb.net/grn; The Religion of Islam: Die Grundlagen des politischen Systems im Islam, in: www.islamreligion.com/de (abg. am 30.05.2018); ähnlich al-Munajjid: Die Verwirklichung des Islams, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 30.05.2018). Vgl. The Religion of Islam: Die Grundlagen des politischen Systems im Islam, in: www.islamreligion.com/de (abg. am 30.05.2018) Ahmed: Wie unterscheidet sich der Islam, in: www.salaf.de (abg: am 03.04.2019), S. 6. The Religion of Islam: Die Grundlagen des politischen Systems im Islam, in: www.islamreligion.com/de (abg. am 30.05.2018).
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die beste Gemeinde, die für die Menschen entstand. Ihr gebietet das, was rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht.«27 In ihrer Darstellung des Islam als Staat und Religion präsentiert die Seite Islamweb.net folgende Prinzipien für die angestrebte politische Ordnung (und betrachtet sie gleichzeitig als zentrale Glaubensgrundlage eines jeden Muslims): Das erste Prinzip umfasst den entschiedenen Eingottglauben (tauḥīd), d.h., dass Gott allein Schöpfer, Erhalter und Herr des Universums sowie Gesetzgeber sei. Ihm alleine gebühre Gehorsam, und zwar in jeder Hinsicht. Nur er habe das Recht, zu gebieten und zu verbieten. Seine Herrschaftsgewalt beschränke sich nicht auf einen begrenzten Bereich, sondern erstrecke sich auf alle Angelegenheiten der Menschen, sei es auf der Ebene des Individuums oder der der Gemeinschaft.28 Das Medium, wodurch Gottes Gesetze und Normen übermittelt würden, seien der Koran und die Sunna. Während der Koran »die klaren Grundsätze« für die Lebensgestaltung bereitstelle, diene die Sunna neben ihrer Funktion als Rechtsquelle der Verdeutlichung und Erklärung möglicherweise unklarer oder mehrdeutiger Aussagen des Koran. Zudem habe Muhammad in seiner Funktion als Gesandter Gottes, in Übereinstimmung mit der Absicht der göttlichen Botschaft, ein Vorbild für die islamische Lebensweise gegeben. Die sich aus diesen Komponenten ergebende göttliche Gesetzgebung sei die vollständigste und letzte überhaupt.29 Der Glaube daran und die Befolgung der damit einhergehenden Ge- und Verbote stellt nach Islamweb.net die zweite Glaubensgrundlage dar.30 Dem folgt das Kalifat (khilāfa): Der Mensch wird in diesem Zusammenhang als Statthalter Gottes auf der Erde angesehen und dazu verpflichtet, nur Gottes Gesetzen zu folgen. In der Konsequenz werde die in Übereinstimmung mit dieser politischen Theorie zu errichtende Gesellschafts- und Staatsordnung ein menschliches Kalifat unter der Herrschaft Gottes. Der Mensch erfülle hier die Absichten und Zwecke Gottes, indem er sein Leben nach den göttlichen Gesetzen und Werten ausrichte.31 Auch das Webportal Im Auftrag des Islam betont die Notwendigkeit, ein Kalifat nach den Regeln des Islam zu errichten. Muslime werden dort vehement aufgefordert, dies zu unterstützen: »Brüder und Schwestern, unterstützt die internationale islamische Bewegung und setzt euch konkret für die Errichtung des islamischen Kalifats ein! […] Und wir Muslime müssen uns natürlich anstrengen, damit ein
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Koran 3:110. Zitiert nach: The Religion of Islam: Die Grundlagen des politischen Systems im Islam, in: www.islamreligion.com/de (abg. am 30.05.2018). Vgl. al-Faqīh: Islamische Lebensweise, in: www.islamweb.net/de (abg. am 30.05.2019). Ebd.; al-Munajjid: Die Verwirklichung des Islams, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 30.05.2018). Vgl. al-Faqīh u.a., Islamische Lebensweise – Teil 9: Die Grundzüge der politischen Ordnung im Islam, in: www.islamweb.net/grn; al-Faqīh: Islamische Lebensweise, in: www.islamweb. net/de (abg. am 30.05.2019). Vgl. al-Faqīh: Islamische Lebensweise, in: www.islamweb.net/de (abg. am 30.05.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
solch islamischer Staat gegründet wird. Also ein Staat, der für jeden Muslim und jede Muslima auf der Welt zur Heimat werden kann.«32 In dem von Bernhard Falk verfassten und auf der Website am 20.11.2017 veröffentlichten Text wird das angestrebte Kalifat als Rückzugsort für Muslime, die sich überall in der Welt in Bedrängnis befänden, dargestellt und seine Errichtung nach Vorgaben der Scharia als unabdingbar erachtet. In diesem Zusammenhang zitiert Falk Sayyid Quṭb, auf den die Ideologie des dschihadistischen Islamismus zurückgeführt wird.33 Dieser soll gesagt haben: „Wir Muslime akzeptieren keine Regierung, die auf der Herrschaft des Menschen und der Dienerschaft des Menschen gegenüber dem Menschen basiert.«34 Mögliche Räume für das angestrebte Kalifat sind nach Falks Darstellung der Irak, Somalia, Jemen, Teile von Afghanistan und Pakistan, also Gebiete mit aktuell instabilen Regierungen und Verwaltungsstrukturen. Dort sollen die Muslime in Sicherheit vor den Imperialisten leben können. »Die Imperialisten unter der Führung der USA und der BRD sind äußerst brutale Gegner des Islam. Dies zeigen insbesondere die vielen Kriege, welche die Ungläubigen und Kreuzzügler in den vergangenen Jahren gegen die Muslime geführt haben […].«35 Gegen diese ungläubigen Mächte sollte weltweit Widerstand entwickelt werden. Ziel ist es: […] dem globalen System der Ungerechtigkeit zu entgehen und um die Gesetze Allahs (swt) so anzuwenden, wie sie der Menschheit in Koran und Sunnah offenbart worden sind […].«36 Das Fatwa-Portal Islamfatwa.de vertritt ebenfalls die Position, dass der Islam allumfassend sei: Seine Regelungen erstreckten sich sowohl auf die religiöse als auch auf die politische Sphäre, beide seien eine kohärente Einheit und nicht voneinander zu trennen.37 Die These zu vertreten, der Islam solle das gleiche wie für die Anhänger anderer Religionen bedeuten, also seine Regelungen sollten nur für den religiösen Lebensbereich gelten, sei ein fataler Fehler. Denn der Islam liefere im Unterschied zu den anderen Religionen Lösungen für alle Fragen des Lebens, einschließlich der Politik.38 Auch die Autoren dieser Site sehen in der Säkularisierung die Zerstörung des Islam bzw. islamischer Gesellschaften. Muslimisch geprägte 32 33
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Falk: Wir brauchen ein islamisches Kalifat, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 09.02.2018). Vgl. ebd. Falk (geb. 1967) ist ein deutscher Salafist und ehemaliger linksextremistischer Aktivist. Mehr dazu Shepard: Sayyid Qutb’s Doctrine, S. 521-545; Damir-Geilsdorf: Herrschaft und Gesellschaft, v.a. S. 181ff., 249ff. Falk: Wir brauchen ein islamisches Kalifat, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 09.02.2018). Ebd. Ebd. Vgl. Ibn Hādī: Verhalten bei Verunglimpfung des Propheten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 23.05.2018). Vgl. The Religion of Islam: Die Grundlagen des politischen Systems im Islam, in: www.islamreligion.com/de (abg. am 30.05.2018).
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Staaten befänden sich heute deswegen in einer Misere, da sie sich von Gottes Gesetzen abgewandt hätten und nach sog. säkularen Systemen lebten.39 Um sich aus der Rückständigkeit zu befreien, sollten Muslime zur Religion zurückkehren und Gottes Anweisungen vollumfänglich folgen. Wer politische Parteien bildet oder andere nicht vom Islam herrührende politische Praktiken an den Tag legt, wird in der Konsequenz als abtrünnig diskreditiert und des Unglaubens (kufr) bezichtigt.40 Die Website Islam Q&A nimmt die gleiche Haltung gegenüber Politik und Demokratie ein. Es sei hier folgendes Zitat beispielhaft angeführt: »Dass die Verfassungen (in nicht-islamischen Ländern) im Widerspruch zu dem stehen was Allah vorgeschrieben hat, wie das Legen des Scheidungsrechts in die Hand der Frau, der Entzug des Sorgerechts des Vater über seine Tochter, nachdem sie die Volljährigkeit erreicht hat oder, dass der Anteil der Erbschaft der Tochter gleich dem Anteil der Erbschaft des Mannes (Sohns) ist. Und auch die Erlaubnis des Alkoholkonsum, das Treiben von Unzucht und andere Dinge. So ist es weder erlaubt danach zu handeln noch es zu bestätigen.«41 In ihrem Verständnis von Religion und Staat weicht auch Realität Islam von der eben beschriebenen Auffassung nicht ab. Vertreter der Site sehen in Gott die höchste universale Autorität in allen Angelegenheiten; Ihm allein stehe das Recht zu, nicht nur über religiöse, sondern auch über politische Belange zu entscheiden. Der Islam biete eine Lebensordnung, welche die Bedürfnisse und Instinkte des Menschen sowohl als Individuum als auch als Teil einer Gesellschaft regele. All diese Regelungen sollten ihre Anwendung im Rahmen eines islamischen Staatssystems finden.42 Hierbei wird betont, dass der Islam in seiner authentischen Form gelebt werden solle, frei von der Beeinflussung durch fremde Ideen, säkulare Systeme und Wertvorstellungen. Jegliche (liberalen) Versuche, den Islam zu reformieren, seien zurückzuweisen. Es gebe keinen westlichen, liberalen, politischen oder religiösen Islam. Eine solche Unterscheidung sei irreführend; es existiere nur ein Islam, der als ganzheitliches Programm umgesetzt werden sollte. Die Frage, welcher Islam zu Deutschland gehöre, sei demnach illegitim.43 Die Vision von Realität Islam für einen islamischen Staat gründet ebenfalls auf der Vorstellung, dass der Islam alle Fragen des Dies- und Jenseits abdecke. Ihr zufolge ist ein Staat erst dann islamisch, wenn die Regeln der Scharia als allumfassende Basis der Gesellschafts- und Staatsordnung in jeder Hinsicht berücksich39 40 41 42 43
Vgl. Ibn Hādī: Verhalten bei Verunglimpfung des Propheten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 23.05 2018). Vgl. ebd.; ähnlich bei al-Wādiʿī: Einblicke in unsere ʿAqiidah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 22.04.2018); mehr dazu bei Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 168ff. al-Munajjid: Das Urteil, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 26.05.2018). Vgl. Realität Islam: Gemeinsam, S. 30f. Vgl. ebd., S. 22f.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
tigt werden. Dies sei die Grundlage für die reale Einführung der Scharia-Normen in das Leben des Individuums und, in der Konsequenz, das der Gesellschaft. Auch mehrheitlich muslimische Staaten bzw. islamisch geprägte Gesellschaften der heutigen Zeit erfüllten diese Vision nicht. »Denn in diesen Ländern wird mit den Systemen und Gesetzen des Säkularismus (Kufr) regiert.« Aus Hoffmanns Perspektive muss der angestrebte islamische Staat durch den Kalifen vertreten werden und die Scharia-Regelungen als gesamtheitliche Lebensordnung Anwendung finden. Dass eine Differenzierung zwischen religiösen und rechtlichen Normen der Scharia vorgenommen wird, zumindest für Muslime in einer Minderheitensituation wie etwa in Deutschland, da sonst viele rechtliche Normen der Scharia im Widerspruch zum Grundgesetz stünden, sorgt bei den Vertretern der Plattform Realität Islam für Unzufriedenheit.44 Hoffmann, Sprecher der Realität Islam, schreibt den Nichtmuslimen innerhalb des angestrebten islamischen Staates einen der folgenden vier Status zu und blendet dabei die Lebensrealität völlig aus: Muʿāhidūn (»Verbündete«), also Nichtmuslime, die im islamischen Staatsgebiet auf der Basis eines Friedensabkommens leben und nach festgelegten vertraglichen Bestimmungen behandelt werden sollten; Mustaʾminūn, d.h. jene nichtmuslimischen Bürger, die beim islamischen Staat Zuflucht suchen und Schutz finden. Durch die Schutzerklärung dürften sie ohne steuerliche Verpflichtungen im islamischen Gebiet verweilen, solange sie nicht beabsichtigen, dauerhaft zu bleiben. Die dritte Kategorie umfasst Botschafter, Diplomaten und Abgesandte auswärtiger Staaten, welche nach Hoffmann diplomatische Immunität besitzen, d.h., die Strafgesetzte werden auf sie nicht angewendet. Der vierten Gruppe werden die sog. Schutzbefohlenen (ahl adh-dhimma) zugeordnet. Dies sollen jene Personen sein, die dauerhaft unter islamischer Herrschaft leben, jedoch religiöse Wertvorstellungen vertreten und Praktiken verfolgen, die nicht den Gesetzen und Normen des Islam entspringen bzw. entsprechen. Der islamische Staat sichert ihnen laut Hoffmann zu, sie gemäß dem islamischen Recht wie die muslimischen Bürger zu behandeln und zu betreuen. Besonderheiten könnten durch ein zusätzliches freiwilliges Abkommen festgelegt werden. Muʿāhidūn und Mustaʾminūn wechselten in den Status der Schutzbefohlenen, wenn sie über ein Jahr im Gebiet des Islam lebten; alternativ müssten sie den islamischen Staat verlassen. Als argumentative Grundlage dieser Ausführungen dienen Hoffmann koranische und prophetische Aussagen.45 Vertreter des Islamismus wollen genauso wie die Salafisten die Scharia als allumfassendes, ganzheitliches Gefüge von Normen und Werten verstanden wissen, das sowohl die individuelle Lebensführung als auch die Gesellschafts- und Staatsordnung bestimmen solle. Auch sie gehen davon aus, dass die Trennung von Religi44 45
Vgl. Hoffmann: Das Leben der Nichtmuslime, S. 7f. Siehe mehr dazu ebd., S. 11f.
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Radikalisierung im Cyberspace
on und Politik die gesellschaftlichen Werte muslimischer Gesellschaften erschüttern und Muslime daran hindern würde, ihre Religion zu praktizieren. Für Islamisten ist der Säkularismus ein fremdes westliches Konzept, das mit dem Islam und seinem kulturellen Erbe keineswegs vereinbar sei. So versteht al-Qaradawi bspw. den Säkularismus als Ersatzreligion für den Islam und stellt in der Konsequenz den Glauben säkularer Denker infrage. Muslime seien dementsprechend angehalten, diese »Ersatzreligion« abzulehnen, gar zu bekämpfen. Jegliche Trennung verstoße gegen den Islam und beschädige zugleich – individuell und kollektiv – die Identität der Muslime.46 Um die Wiedereinführung der Scharia in alle Belange des Lebens zu begründen und somit die vermeintliche Universalität des Islam aufrechtzuerhalten, erachten Vertreter dieser Position die Erneuerung des islamischen Rechts- und Normensystems als unabdingbar. Dafür machen sie sich zwar stark, ihre Versuche bleiben dennoch weitgehend konservativ und in vielerlei Hinsicht inkompatibel mit den Bedingungen der Moderne. Dies ist auf ihre bereits oben erwähnte Annahme der universellen Gültigkeit heiliger Texte und die darauf basierende Unterscheidung zwischen statischen und beweglichen Elementen der Scharia zurückzuführen.47
2.1.2
Wahlrecht und Teilhabe am politischen Leben
Nur im Rahmen dieser von Salafisten angestrebten, an Gott orientierten Staatsund Gesellschaftsordnung sei ein demokratisches System möglich, lautet ihre Argumentation. Jedem Individuum komme dann das Recht zu, zu wählen und sich politisch aktiv zu engagieren, um u.a. über den Kalifen Gottes mitzubestimmen sowie über die Bildung der islamischen Regierung mitzuentscheiden. Diese Demokratie sei aber keineswegs mit der im Westen vorherrschenden zu vergleichen. Denn erstere gründe auf Gottes Souveränität, letztere hingegen auf der Herrschaft des Volkes. Man folge dann menschengemachten Gesetzen, während in der islamischen Demokratie nur Gottes Vorschriften zu gehorchen sei.48 Die Frage, ob man unter nichtmuslimischer Herrschaft sein Wahlrecht aktiv oder passiv in Anspruch nehmen dürfe, wird negativ beantwortet. Es sei schariawidrig, an solchen Wahlen teilzunehmen, da politische Systeme im Westen auf Unglauben basierten. Das Parlament nehme anstelle Gottes die gesetzgebende Funktion wahr. Würde man an Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen teilnehmen oder eine Partei unterstützen, sei dies eine Art Bevollmächtigung zum Vollzug verbotener Handlungen. Bei der Wahl eines Kandidaten handele es sich nämlich nicht bloß um eine Personenwahl, sondern um die Wahl eines politischen Programms
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Vgl. al-Qaradawi: al-Islām wa-l-ʿalmānīya, S. 15ff. Siehe mehr dazu Kap. III, Abschn. 3. Vgl. al-Faqīh: Islamische Lebensweise, in: www.islamweb.net/de (abg. am 30.05.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
bzw. Systems, das schariawidrige Grundsätze beinhalte und somit der von Salafisten anvisierten Staatsordnung widerspreche. Die Mehrheit der Salafisten sieht es daher als verboten an, sich politisch zu engagieren oder an Wahlen teilzunehmen. Keinesfalls dürften politische Agenden unterstützt werden wie bspw. die gleichgeschlechtliche Ehe, denn dies sei mit den Werten des Islam nicht vereinbar.49 Von Salafisten wird Demokratie mit »Polytheismus/Beigesellung« (shirk) gleichgesetzt.50 Diese auf jenen Webportalen vertretene ablehnende Haltung gegenüber aus ihrer Sicht schariawidrigen demokratischen Staatssystemen wird mit Belegen aus dem Koran und der Sunna gerechtfertigt. U. a. heißt es dort: »Und so richte zwischen ihnen nach dem, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen, sondern sieh dich vor ihnen vor, dass sie dich nicht der Versuchung aussetzen, (abzuweichen) von einem Teil dessen, was Allah zu dir (als Offenbarung) herabgesandt hat!«51 Neben einer Vielzahl von textlichen Beweisen aus dem Koran und der Sunna werden religiöse Konzepte zur Untermauerung ihrer Ansichten herangezogen und politisch-ideologisch aufgeladen; etwa Konzepte wie tauḥīd (»Eingottglaube«) und dessen Gegenteil shirk: Das ursprünglich theologische tauḥīd-Prinzip wird von Salafisten, wie oben beschrieben, politisch instrumentalisiert.52 In diesem Zusammenhang verstehen sie das Konzept des tauḥīd al-rubūbiyya dahingehend, dass Gott eine absolute, d.h. auch eine politische und gesetzgebende Gewalt zukomme. Der Mensch habe sich dem zu unterwerfen und dieses Verständnis des tauḥīd stets aufrechtzuerhalten. Der tauḥīd al-ulūhiyya wiederum impliziert, dass allein Gottes Herrschaft und Gesetz gelten müssten, was die Ablehnung demokratischer Systeme mit sich bringe. Nach dieser Lesart stellt es einen eindeutigen Verstoß gegen den tauḥīd dar, wenn man schariawidrige Verfassungsordnungen und Gesetze anwendet oder auch nur eine Form von Demokratie akzeptiert. Diese Ideologie hat zur Folge, dass Muslime, die die Demokratie befürworten bzw. diese einem auf den »Gesetzen Gottes« basierenden islamischen System vorziehen bzw. an demokratischen Prozessen teilnehmen, 49
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Vgl. al-Munajjid: Ḥukm tashrīʿ al-qawānīn al-waḍʿīya, in: www.islamqa.info/ar (abg. am 23.05.2019). Eine ähnliche Position vertreten Anhänger des Hizb-ut-Tahrir. In ihrer online verfügbaren Abhandlung zur politischen Partizipation im Westen werden alle politischen Aktivitäten in den bestehenden Staaten aus schariarechtlicher Sicht für strikt verboten erklärt. Vgl. für mehr Hizb-ut-Tahrir in Europa: Die politische Partizipation im Westen, z.B. S. 10f. und 38. In diesem Sinne heißt es: »Democracy is a man-made system, meaning rule by the people for the people. Thus it is contrary to Islam, because rule is for Allah, the Most High, the Almighty, and it is not permissible to give legislative rights to any human being, no matter who he is […].« al-Munajjid: Ruling on democracy, in: www.islamqa.info/en(abg. am 26.03.2019). Siehe z.B. al-Wādiʿī: Einblicke in unsere ʿAqiidah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 22.04.2018). Siehe für weitere Belege: al-Munajjid: Ḥukm ad-dīmūqrāṭīya, in: www.islamqa.info/ar (abg. am 30.05.2018). Zur Bedeutung des tauḥīd-Konzeptes siehe Kap. III, Abschn. 2.
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Radikalisierung im Cyberspace
von Salafisten für ungläubig (kāfir) erklärt werden, da sie dadurch die Pflicht verletzen würden, nur Gott allein anzubeten.53 Auch wenn einige salafistische Gelehrte die Beteiligung an demokratischen Wahlen und die Unterstützung islamischer politischer Parteien befürworten, tun sie dies nur unter der Bedingung, dass es der Wiedereinführung der Scharia diene.54 Zur Rechtfertigung dieser Position berufen sie sich oft auf islamrechtliche Methoden wie etwa ḍarūra (»Notwendigkeit«), ḥāja (»Bedürfnis«) oder maṣlaḥa (»Interesse«); d.h., sie halten demokratische Partizipation für legitim, wenn daraus ein Nutzen resultiere oder es sich dabei um ein Bedürfnis bzw. eine Notwendigkeit handele. Diese Rechtsprinzipien werden als Instrumente der temporären und pragmatischen Anpassung der Scharia an neue Fragen und ungewöhnliche Situationen herangezogen, wobei sie nicht selten willkürlich und im eigenen Interesse angewandt werden.55 Viele säkulare Denker und Autoren hingegen, wie etwa Shahrur, unterstreichen die Notwendigkeit, zwischen dem Islam als Staat und dem Islam als Religion zu unterscheiden, was sich in ihren Abhandlungen durchgehend niederschlägt. Sie befürworten demnach nicht nur die demokratischen Prozesse, sondern rufen sogar dazu auf, politische Rechte in Anspruch zu nehmen und am politischen Leben teilzuhaben.56 Von anderen, dem islamistischen Spektrum zuzurechnenden Gelehrten, wie etwa al-Qaradawi, werden Wege der demokratischen Teilhabe wie die Inanspruchnahme des Wahlrechts und die Bildung von Parteien unterstützt. Dies geschieht aber in erster Linie aus taktischen und strategischen Gründen, und zwar um eigene religiös-politische Ziele zu verwirklichen. Eine bedingungslose Annahme der demokratischen Ordnung im Sinne eines modernen säkularen Staates sucht man in Schriften vieler Islamisten wie al-Qaradawi vergebens.57 Muslimen im Westen wird es in vielen seiner Fatwas für erlaubt erklärt, sich an politischen Vorgängen in nichtmuslimischen Staaten zu beteiligen. Dabei geht es wieder weder darum, sich zum demokratischen Prozedere in der Gesellschaft in Gänze zu bekennen noch darum, aktiv mitzugestalten. Vielmehr wird das Hauptaugenmerk auf die Frage gerichtet, wie man durch den Gebrauch des Wahlrechts und andere 53
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Vgl. al-Munajjid: Ḥukm ad-dīmūqrāṭīya, in: www.islamqa.info/ar (abg. am 30.05.2018); Im Auftrag des Islam: Demokratie und Wahlen für einen Muslim, in: www.youtube.com (abg. am 30.03.2019); Siehe weiterführend dazu Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 16872. Zu einschlägigen Fatwas siehe statt vieler https://www.islamweb.net/ar/fatwa/345838/(abg. am 22.07.2019). Siehe mehr dazu bei Wiedl: Außenbezüge, S. 34f. Zu diesen islamrechtlichen Prinzipien siehe statt vieler El-Wereny: Normenlehre, passim, z.B. S. 98ff., 128ff.; ders.: Zu ḍarūra und ḥāğa, S. 151-183. Vgl. z.B. Shahrur: ad-Daula, S. 141ff.; Shahrur: Ḍarūrat faṣl ad-dīn, in: www.shahrour.org (abg. am 30.03.2019); weiterführend dazu El-Wereny: Normenlehre, 232ff. Vgl. al-Qaradawi: as-Siyāsa ash-sharʿīya, passim.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
politische oder gesellschaftliche Aktivitäten den Nutzen für die muslimische Gemeinschaft im Westen mehren kann. Nach dieser Auffassung sollen Muslime ihre Stimmen nutzen, um gesellschaftliche und politische Entscheidungen im Interesse der »muslimischen Minderheiten« (al-aqalliyyāt al-muslima) herbeizuführen. Die geforderte politische Aktivität beschränkt sich dabei nicht auf die Stimmabgabe, sondern schließt auch die Bildung von politischen Parteien, die Mitgliedschaft in diesen sowie die Kandidatur für politische Ämter ein. Muslime dürften auch, wenn dies für sie von Nutzen sei, Wahlen und Kampagnen finanzieren, auch wenn der Kandidat nicht muslimischen Glaubens sei. Davon erhofft man sich, dass man ein positives Bild des Islam vermittelt und der Mehrheitsgesellschaft die Kompatibilität desselben mit der Demokratie verdeutlicht.58 Doch es gibt auch muslimische Intellektuelle wie den Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan (geb. 1962), denen es nicht allein um den Nutzen der Muslime geht. Nach seinem Verständnis sollten sich Muslime am politischen Leben konstruktiv beteiligen und an politischen Debatten teilnehmen, und zwar aus einem Gefühl der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft heraus. Dazu schreibt er: »Europäer muslimischen Glaubens haben entsprechend jener Prinzipien zu wählen, denen sie nach Gewissen und Verstand verpflichtet sind, und nicht nach Kriterien ethnischer oder religiöser Identität […]. Der muslimische Glaube verpflichtet unser Gewissen und die demokratische Vernunft gebietet unserem Verstand, dass die Entscheidung bei Wahlen nach der Aufrichtigkeit und Kompetenz des Kandidaten getroffen werden, ob er nun Muslim ist oder nicht.«59
2.1.3
Loyalität und Lossagung als politisches Konzept
Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat im Islam erörtern Salafisten, respektive die hier untersuchten Internetseiten, entlang des Grundsatzes al-
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Vgl. al-Qaradawi: Fatāwā muʿāṣira, Bd. 3, S. 425ff.; al-ʿUthaimīn: Ḥukm al-mushāraka fī lintikhābāt, in: www.youtube.com; ähnlich bei ash-Shaqāwī: al-Musharaka wa-t-taṣwīt, in: www.alukah.net/sharia; in englischer Sprache al-Munajjid: Muslim taking part in elections, in: www.islamqa.info/en (abg. am 22.02.2018). Ausführlich dazu Schweizer: Muslime in Europa, S. 35ff. Infolge der migrationsbedingten Dauerpräsenz von Muslimen in nichtislamisch geprägten Ländern befassen sich viele dem Islamismus zuzuordnende Autoren mit der Frage, wie jene Muslime die Lehre des Islam praktizieren können, ohne dabei mit den örtlich geltenden Gesetzen in Konflikt zu geraten. In diesem Rahmen entwickelte sich das Konzept des sogenannten fiqh al-aqalliyyāt al-muslima (»Normenlehre für muslimische Minderheiten«). Es soll für Muslime des Westens adäquate Lösungen zur Bewältigung von mit ihren Lebensumständen einhergehenden Alltagsproblemen liefern. Vgl. für mehr dazu El-Wereny: Normenlehre, v.a. 43-53. Siehe statt vieler Ramadan: Muslimsein in Europa, S. 276; El-Wereny: Normenlehre, S. 221ff.; ders.: Wahlen und Demokratie, S. 53.
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walāʾ wa-l-barāʾ (»Loyalität und Lossagung«). Dabei gelangen sie zu Schlussfolgerungen, die politisch brisant sind. Denn unter »Loyalität und Lossagung« verstehen sie nicht nur die Pflicht, gegenüber Gott, Seinen Vorschriften und auch den anderen muslimischen Gläubigen loyal zu sein, sondern fordern, darauf gestützt, ein Sich-Lossagen von als ungläubig verurteilten Menschen bzw. als unislamisch stigmatisierten Staatsordnungen und politischen Systemen sowie – auf sozialer Ebene – von privaten Kontakten mit Nichtmuslimen.60 Eine solche Lossagung sei von Gott verlangt. Auch der Prophet soll gesagt haben: »Wenn du zu Bett zum Schlafen gehst, sodann rezitiere [die Sure] »Sag: O ihr Ungläubigen […]«, denn wahrlich, wenn du sie rezitierst, so hast du dich vom Schirk [Beigesellung/Vielgötterei] losgesagt.«61 Wenngleich diese Doktrin des al-walāʾ wa-l-barāʾ primär theologischer Natur ist und sich vor allem auf das Verhalten gegenüber Gott, seinem Propheten und Mitmenschen bezieht, wird sie von Salafisten politisch ausgelegt und so auch den Gläubigen zur Pflicht gemacht. Dabei erklären sie die Loyalität zu westlichen – aus ihrer Sicht schariawidrigen – Staatssystemen für verboten, da nur Gott allein das Recht auf Gesetzgebung zustehe. Jegliche Form von Demokratie oder Rechtsstaat, die dieser Grundidee widerspreche, wird als unislamisch betrachtet, was die Forderung nach Lossagung von diesen politischen Systemen nach sich zieht. Muslime, die ein Mehrparteiensystem befürworten oder sich gar in diesem engagieren, machen sich nach einheitlicher Meinung der genannten Webportale der unzulässigen Loyalität gegenüber illegitimen politischen Führern schuldig und seien somit keine wahren Muslime.62 Was die Menschen verbinde, sei weder das Blut noch die Schwägerschaft noch das Land noch die Heimat oder Sprache, sondern allein der Glaube.63 60
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Vgl. al-ʿAfīfī: Gerichtsverfahren vor Kuffar-Gericht, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019); al-Munajjid: Das Urteil, in: https://islamqa.info/ge/176910 (abg. am 13.04.2019); Ibn Abdullah: Wer den Kafir nicht zum Kafir erklärt, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 02.04.2019). Mehr dazu bei Wagemakers: Salafistische Strömungen, 50ff.; El-Wereny: Normenlehre, S. 242f. Die in der Überlieferung gemeinte Sure lautet: »Sag: O ihr Ungläubigen! – Ich diene nicht dem, dem ihr dient! – Und ihr seid keine Diener Dessen, Dem ich diene! – Und ich bin kein Diener dessen, dem ihr dient! – Und ihr seid keine Diener Dessen, Dem ich diene! – Euch euer Diin und mir mein Diin!« Zitiert nach Ibn Abdullah: Wer den Kafir nicht zum Kafir erklärt, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 02.04.2019). Zu den im Kontext des walāʾ und barāʾPrinzips meist zitierten Koranstellen zählen 3:118, 4:144, 5:51 und 60:1. Siehe für mehrere Beispiele al-Munajjid: Loyalität und Lossagung, in: www.islamqa.info/ge; al-Fauzān: Die Aussage, in: www.islamfatwa.de; Ibn Baz u.a.: Staatsbürgerschaft eines nichtmuslimischen (kuffar) Landes, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019). Vgl. dazu Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 50ff.; al-ʿAfīfī: Gerichtsverfahren vor Kuffar-Gericht, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019). Bezugnehmend auf die Salafisten Saudi-Arabiens unterscheidet Wagemakers in dieser Hinsicht zwischen einer quietistisch-sozialen und einer politischen Tendenz: Während Gelehrte, die im Dienste des Königs-
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Auf Grundlage dieser doktrinären Überzeugung werden auf jenen Internetseiten einschlägige Fatwas erlassen, die dazu aufrufen, Vorschriften nichtislamischer Länder nicht zu akzeptieren, da sie menschengemacht seien und somit der islamischen Gesetzgebung zuwiderliefen. Im Koran heiße es: »O die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und den Befehlshabern unter euch! Wenn ihr miteinander über etwas streitet, dann bringt es vor Allah und den Gesandten, wenn ihr wirklich an Allah und den Jüngsten Tag glaubt. Das ist am besten und am ehesten ein guter Ausgang.«64 Auch Gerichtsurteile jener »ungläubigen« Länder dürften nur angenommen werden, wenn eine Zwangslage bestehe. Bestenfalls solle ein Muslim versuchen, »Gerichte der Kuffar zu vermeiden. Wenn er jedoch keine andere Möglichkeit hat, darf er sie nutzen.«65 So wird z.B. in Bezug auf die Scheidung geschrieben: »Solange er (der Ehemann) keine Scheidung ausspricht, oder ein islāmischer Richter oder dessen islāmisch anerkannter Vertreter die Ehe nicht annulliert, ist diese Frau noch seine Ehefrau. Das Urteil des profanen Gerichts ist islāmisch ungültig, der Muslim darf sich sogar nicht an ein profanes Gericht wenden.«66 Auf die Frage, ob ein in einem nichtmuslimischen Land lebender Muslim eine Klage erheben bzw. die Polizei einschalten dürfe, wenn sich ihm sein Schuldner muslimischen Glaubens weigert, seine Schulden zurückzuzahlen, wird wie folgt geantwortet: »Wenn der Bruder bei dir Schulden hat und er nicht die Mittel hat, sie dir zurückzuzahlen, dann obliegt es dir, ihn einen Eid schwören zu lassen. Anhand der Tatsache, dass er in einem nichtmuslimischen Land ist, ist es besser, dass er seinen Bruder mit dieser Art und Weise [einen Schwur abzulegen] behandelt.«67 Neben der grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber der Polizei und der Staatsordnung, weil dort nicht nach der Scharia gerichtet werde, wird in diesem Zusammenhang darüber hinaus mit Texten aus dem Koran sowie der Biografie der Prophetengefährten argumentiert. Im Koran heiße es etwa: »Und wenn er (der Schuldner) in Schwierigkeiten ist, dann sei ihm Aufschub gewährt, bis eine Erleichterung eintritt.«68
64 65
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hauses stehen, die walāʾ und barāʾ-Doktrin einzig auf den sozialen und religiösen Bereich anwenden und Muslime mahnen, sich zum Schutz ihres Glaubens und ihrer Identität von Nichtmuslimen und bidʿa loszusagen, wenden Vertreter des politischen Trends die Doktrin auf innenpolitische Belange des Königreiches an. Wagemakers: The enduring legacy, S. 93110; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 94f. al-Munajjid: Das Ersuchen eines Urteils, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 02.04.2019). Vgl. al-ʿAfīfī: Gerichtsverfahren vor Kuffar-Gericht, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019); ähnlich bei al-Faqīh: Frau verlässt Mann, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 02.04.2019). Ebd.; siehe auch al-Munajjid: Loyalität und die Lossagung, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 02.04.2019). Vgl. an-Najmī,: (Kuffar-)Polizei einschalten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.05.2019). Ebd.
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Auch dem Erwerb der Staatsbürgerschaft eines nichtislamischen Landes stehen Salafisten ablehnend gegenüber.69 In vielen Fatwas wird die Einbürgerung für verboten erklärt mit der Begründung, dass dies eine bereitwillige Unterwerfung und Loyalität gegenüber den »Ungläubigen« sowie den Gesetzen des jeweiligen Landes impliziere. Eine solche bereitwillige Unterwerfung sei kategorisch verboten und widerspreche dem Glauben eines jeden Muslims.70 Zudem bedeute dies, die Bürger dieses Landes wertzuschätzen und sie als Beschützer anzunehmen, was gegen den walāʾund barāʾ-Grundsatz verstoße. Im Koran heiße es: »Die Gläubigen sollen die Ungläubigen nicht statt der Gläubigen zu Beschützern nehmen; und wer solches tut, der findet von Gott in nichts Hilfe – außer ihr fürchtet euch vor ihnen.«71 Ausnahmen seien also nur unter bestimmten Umständen möglich, und zwar wenn man etwa dazu gezwungen werde, sein Land aus politischen oder ähnlichen Gründen zu verlassen, und kein anderes islamisches Land Asyl gewähre.72 Dass salafistisch gesinnte Gelehrte schon von der Kontaktaufnahme mit Nichtmuslimen abraten und eine lossagende, d.h. Abstand wahrende, Haltung gegenüber nichtislamischen Staaten propagieren, den Erwerb der Staatsangehörigkeit eines solchen Staates in Zwangsfällen aber für erlaubt erklären, offenbart ihren arbiträren Umgang mit den religiösen Texten und den Methoden des islamischen Rechts, die sie nicht selten nach ihrem Gutdünken auslegen bzw. einsetzen.73
2.1.4
Exkommunizierung im politischen Kontext
Takfīr (»Exkommunizierung«) bedeutet aus islamrechtlicher bzw. islamisch-theologischer Perspektive, einen Muslim oder eine Gruppe von Muslimen aufgrund behaupteter islamwidriger Handlungen der Apostasie (arab. ridda) zu bezichtigen bzw. zu Ungläubigen, also kāfir (Pl. kuffār), zu erklären. Der Begriff kāfir (»Ungläubiger«) entstammt der Wurzel k-f-r (»bedecken«, »verbergen«, »ungläubig sein«) und wird in der islamischen Rechtswissenschaft und Theologie auch in Bezug auf Phänomene wie Ketzerei (Leugnung der Existenz Gottes) und Polytheismus (Vielgötterei) benutzt. Im Koran wird der Ausdruck kuffār bzw. kufr in unterschiedlichen
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Vgl. für mehr dazu z.B. El-Wereny: Wahlen und Demokratie, S. 48-55. Vgl. Ibn Hādī: Bedingungen für das Leben unter den Kuffar, in: www.islamfatwa.de (abg. am 05.04.2019). Siehe auch al-Munajjid: Is it permissible to swear allegiance, in: www.islamqa.info/en (abg. am 03.04.2019). Koran 3:28. Zitiert nach Ibn Baz u.a.: Staatsbürgerschaft eines nichtmuslimischen (kuffar) Landes, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019). Ausführlich zur Frage der Loyalität gegenüber dem Staat siehe El-Wereny: Normenlehre, S. 241ff. Vgl. al-Munajjid.: Ruling on obtaining nationality, in: www.islamqa.info/en (abg. am 02.04.2019); Ibn Baz u.a.: Staatsbürgerschaft eines nichtmuslimischen (kuffar) Landes, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019). Siehe mehr dazu bei El-Wereny: Normenlehre, z.B. S. 171ff.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Zusammenhängen verwendet, bezieht sich aber oft auf Personen, welche die Wahrheit verbergen oder sich weigern, Gott anzuerkennen bzw. die, die Seine Einheit infrage stellen. In der Sunna bezeichnet der Begriff auch Muslime, die eine große Sünde begangen haben und somit als Abtrünnige gelten. Demnach werden nicht nur vom Islam Abgefallene als kuffār bezeichnet, sondern auch Atheisten, Polytheisten sowie Juden und Christen. In der islamischen Rechtsliteratur unterscheidet man wiederum zwischen »apostatischem Unglauben« (kufr ar-ridda) und »originärem Unglauben« (kufr aṣlī): Ersterer bezieht sich auf das Abfallen eines Muslims vom Islam aufgrund der Missachtung bestimmter Glaubensaspekte und gilt im Verständnis klassischer wie vormoderner Rechtsgelehrter – unter bestimmten Voraussetzungen – als mit dem Tode zu bestrafen, obwohl der Koran selbst keine Strafe im Diesseits vorsieht. Mit festgestelltem takfīr erhält ein Apostat nicht nur die Todesstrafe, sondern wird, nach dem Prinzip des al-walāʾ wa-l-barāʾ, auch aus der Gemeinschaft der Muslime ausgeschlossen. Viele zeitgenössische Gelehrte und liberale Muslime stehen der Bestrafung von Apostaten mit dem Tode ablehnend gegenüber. Dabei sind sie bemüht, die traditionelle Rechtsmeinung im Wege der Kontextualisierung bzw. der Infragestellung herangezogener Rechtsbeweise zu modifizieren.74 Der zweite Typ kufr, also der sog. kufr aṣlī, umfasst drei Gruppen »ursprünglich Ungläubiger« (kuffār aṣlīyūn), für die nach islamischem Völkerrecht unterschiedliche Regelungen gelten: Es wird unterschieden zwischen ahl adh-dhimma (»Schutzbefohlenen«), die legal und geschützt dauerhaft unter islamischer Herrschaft leben und Steuern zahlen; kuffār muʿāhidūn, die auf der Basis eines mit Muslimen abgeschlossenen Sicherheitsgarantievertrages ohne jegliche Steuerverpflichtungen temporären Schutz genießen, und kuffār ḥarbīyūn (»zum Kriege gehörende Ungläubige«), die außerhalb des muslimischen Machtbereichs leben und mit denen von muslimischer Seite kein Nichtangriffs- oder Friedensvertrag abgeschlossen wurde.75 Moderne islamische Denker sind sich der negativen Konnotation des Begriffes kuffār durchaus bewusst und empfehlen oft, diesen zu vermeiden. Auch engagieren sie sich für eine zeitgemäße Interpretation tradierter Rechtsmeinungen zum Umgang mit Nichtmuslimen.76 Trotz der Komplexität dieses Sachverhaltes und der unterschiedlichen Meinungen dazu bedienen sich Salafisten recht unbekümmert der takfīr-Methode, um nicht nur diejenigen, die Gott etwas beigesellen, des Unglaubens zu bezichtigen, sondern auch orthodoxe Muslime, die der salafistischen Ideologie nicht folgen bzw.
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Vgl. weiterführend dazu statt vieler Walad ad-Duw: at-Takfīr, S. 5ff.; Peters: Apostasy in Islam, S. 1-25; Schirrmacher: »Es ist kein Zwang in der Religion«, S. 113-250. Vgl. Walad ad-Duw: at-Takfīr, S. 5ff.; Björkman: Kafir, S. 407-409; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 340f. Vgl. z.B. El-Wereny: Normenlehre, S. 179ff.
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nicht zu folgen bereit sind. Darunter fallen auch die von ihnen als rāfiḍa (»Ablehner«) betrachtete Glaubensrichtung der Schiiten, die muslimischen Sondergruppen Ahbash und Ahmadiyya sowie die islamischen Mystiker (Sufis).77 Die Bezichtigung des Unglaubens bzw. Exkommunizierung derjenigen, die Gott etwas beigesellen bzw. die aus salafistischer Sicht als ungläubig gelten, sei die Pflicht eines jeden Muslims. Jeder Muslim, der es wissentlich unterlasse, Ungläubige als Ungläubige zu bezeichnen und den takfīr gegen sie auszusprechen, werde selber zum Ungläubigen.78 Im politischen Kontext übertragen Salafisten den kufr auf alle Handlungen, die den Absolutheitsanspruch der Scharia konterkarieren oder die demokratisch verfassten Systeme unterstützen. Säkulare Verfassungen, wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, werden ebenfalls als kufr gebrandmarkt. In diesem Sinne werden auch jene politischen Führer muslimischer Staaten für exkommuniziert erklärt, die mit säkularen Rechtssystemen regieren und die Scharia nicht vollständig anwenden würden.79 Diese ursprünglich theologischen Begriffe dienen den Salafisten dazu, ihren politischen Interessen religiösen Gehalt zu verleihen, wodurch die Verbreitung ihrer Ideen einfacher und ihre eigene Anziehungskraft stärker wird. Wie Farschid darlegt, spielen die auf diese Weise politisierten Konzepte bei der Produktion und Propagierung salafistischer Ideologie und Weltanschauung eine zentrale Rolle.80 Eine solche Bezugnahme auf islamische Begriffe wie tauḥīd, al-walāʾ wa-l-barāʾ, shirk und kufr birgt in sich bereits Radikalisierungspotenzial. Denn dies hat zur Folge, dass Menschen, die als schariawidrig stigmatisierte Verfassungsordnungen und Gesetze anwenden bzw. vermeintlich unislamische politische Systeme befürworten, für ungläubig (kāfir) erklärt werden.81 Nichtsdestoweniger wird im Kontext der daʿwa-Arbeit oft empfohlen, die Verwendung des Wortes kāfir zu vermeiden. Dies deutet darauf hin, dass sich Salafisten offensichtlich bewusst sind, dass die Bezeichnung kāfir bzw. kuffār bei Nichtmuslimen negative Reaktionen auslösen kann.82
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Vgl. weiterführend dazu Zaheer: Schiiten und Sunniten, in: www.basseera.de (abg. am 08.04.2019). Ähnlich: Das Ständige Komitee: Schiitische/Schiah Sekten, in: www.islamfatwa.de; al-Munajjid: The status of the imams, in: www.islamqa.info/en (abg. am 08.04.2019); Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 170. Siehe auch Abschn. 2.2.5. Im Koran 109:1 heiße es: »Sag: O ihr Ungläubigen (kāfirūn)«. Ibn Abdullah: Wer den Kafir nicht zum Kafir erklärt, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 02.04.2019); Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 172ff. Vgl. Farschid: Salafismus als politische Ideologie, S. 170. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 172f.; al-Munajjid: Muslim taking part in elections, in: www.islamqa.info/en (abg. am 22.02.2018); Im Auftrag des Islam: Demokratie und Wahlen für einen Muslim, in: www. youtube.com (abg. am 30.03.2019). Siehe für mehr dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 340f.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
2.1.5
Zwischenfazit
Die Religion des Islam wird von Salafisten nicht nur als religiöse und gesellschaftliche, sondern auch als politische und rechtliche Ordnung verstanden. Der Drehund Angelpunkt dieser Position ist die ḥākimīyat Allāh, die absolute Herrschaft Gottes. Die von Ihm offenbarte Ordnung sei als einzig legitimes Gesetz anzusehen und umzusetzen. Dabei gelten der Koran und die Sunna als fertiger Entwurf einer allumfassenden Staats- und Gesellschaftsordnung, jenseits politischer oder geografischer Grenzen. Demzufolge wird die Volkssouveränität als Basis der Demokratie und die säkulare, institutionelle Trennung von Staat und Religion abgelehnt. Jedwede Ordnung und menschengemachte Gesetze, die in politischen Prozessen entstanden sind, sind für Salafisten null und nichtig. Denn eine von Menschen gemachte Ordnung stelle ihre Gesetze über die Gesetze Gottes und spreche Ihm somit Seine Eigenschaft als einziger »Gesetzgeber« ab. Mithin werden Demokratie, politische Partizipation, Pluralismus, säkulares Recht, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung grundsätzlich abgelehnt. Salafisten sehen hier die Infragestellung der Allmacht und der Autorität Gottes. Allein die Teilnahme an einer freien Wahl wird als Abfall vom Glauben (kufr) verstanden und mit Polytheismus (shirk) gleichgesetzt, mit der Begründung, dies stehe im Widerspruch zum al-walāʾ wal-barāʾ-Prinzip. Um dieses Prinzip, den Absolutheitsanspruch und somit die Einheit Gottes aufrechtzuerhalten, wird propagiert, jegliche Art schariawidriger Vorstellungen und Ideologien zurückzuweisen. Nichtsdestotrotz wird die Möglichkeit eingeräumt, vorläufig aus Notwendigkeit und Zwang heraus die im »Westen« derzeit geltenden Gesetze und Normen zu befolgen. Hierfür werden islamrechtliche Methoden herangezogen, die nicht selten willkürlich angewandt bzw. interpretiert werden. Dass die Beteiligung am politischen Leben auf diese Weise generell verboten wird, solange es nicht im islamischen Rahmen und nach der Scharia-Ordnung verläuft, impliziert unmissverständlich, dass die dieser Studie zugrundeliegenden Webseiten eine ablehnende Haltung gegenüber der Demokratie sowie den politischen Systemen des Westens vertreten. In ihren Abhandlungen einschlägiger Fragen werden nicht nur die religiösen, sondern auch die rechtlichen Normen des Islam über jede weltliche Gesetzgebung gestellt. Gemäß dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht eine solche Einstellung wiederum im Widerspruch zur im Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit. Das politische Denken der Salafisten basiert auf ihrer rigiden, buchstabengetreuen Interpretation der Quellentexte, welche die Lebensumstände und die historischen Entwicklungen außen vor lässt. Während eine Vielzahl salafistischer Gelehrter der Beteiligung an Wahlen bzw. an demokratischen Systemen allgemein ablehnend gegenübersteht, urteilen andere Autoren, die dem islamistischen Spek-
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trum zuzuordnen sind, dass man wählen gehen solle, um das kleinere Übel zu wählen und so als im Westen lebende Muslime Vorteile zu erlangen. Wiederum andere zeitgenössische Theologen und Intellektuelle vertreten die Auffassung, dass sich Muslime des Westens in die Aufnahmegesellschaft integrieren und an den politischen Prozessen des Landes beteiligen sollten. Sie sind der Ansicht, dass Gott keine holistische, absolute Gesellschaftsordnung vorherbestimmt habe. Vielmehr sei es die Aufgabe der Menschen, sich selbst je nach zeitlichen und örtlichen Umständen eine Verfassung und Gesetze zu geben.83
2.2
Der religiös Andere in der salafistischen Ideologie
2.2.1
Der Islam im Verhältnis zu anderen Religionen
Vor dem Aufkommen des Islam im frühen 7. Jahrhundert n. Chr. verehrten viele Stämme Arabiens eigene Götter und Göttinnen, die oft durch Steine oder Skulpturen repräsentiert wurden.84 Der Koran kennt diese Glaubensvorstellungen und weist sie kategorisch zurück. In Bezug auf Göttinnen und Götter, die neben Gott in der Kaʿba verehrt wurden, heißt es bspw.: »Habt ihr Lāt und ʿUzza gesehen, und auch Manāt, diese andere, die dritte? […] Das sind keine Götter, sondern Namen, die ihr und eure Väter erfunden habt. Dafür hat Gott keinem eine Ermächtigung gegeben.«85 Zudem erwähnt der Koran die Namen anderer Götter bzw. Göttinnen wie Wadd, Suwāʿ, Yaghūth, Yaʿūq und Naṣra, die vom Volk Noahs angebetet worden seien.86 Der Koran erachtet diese Anbetungsform als shirk (»Götzendienerei«, »Beigesellung Gottes«) und lehnt sie strikt ab.87 Laut koranischer Darstellung gab es auf der arabischen Halbinsel neben den eben erwähnten Glaubensvorstellungen Anhänger anderer Religionen, wie etwa Juden, Christen, Sabier, Zoroastrier sowie Ḥanīfen.88
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Vgl. El-Wereny: Wahlen und Demokratie, S. 54. Vgl. ausführlich dazu ʿAlī: al-Mufaṣṣal, S. 5ff., 227ff. Folgende Ausführungen sind zum Teil einem bereits veröffentlichten Aufsatz des Autors entnommen. Vgl. El-Wereny: Andere Religionen, S. 51-69. Sure 53:19-20. An einer anderen Stelle heißt es: »Zwischen denjenigen, die glauben, denjenigen, die dem Judentum angehören, den Sabiern, den Christen, den Zoroastriern und denjenigen, die (Gott) beigesellen, wird Gott am Tag der Auferstehung entscheiden. Er ist über alles Zeuge.« Sure 22:17. In Sure 71 Vers 23 heißt es: »Und sie sagen (zueinander): ›Laßt eure Götter nicht im Stich. Und verlaßt weder Wadd noch Suwaʿ noch Yaghūth und Yaʿūq und Naṣra.‹« Vgl. weiterführend dazu ʿAlī: al-Mufaṣṣal, S. 254ff.; Sinai: Der Koran, S. 43f. Siehe bspw. 17:56, 23:117, 34:22. Vgl. z.B. 2:62; 5:69. Letztere waren vor dem Islam eine autochthone monotheistische Glaubensgemeinschaft auf der arabischen Halbinsel. Siehe weiterführend dazu Sinai: Der Koran, S. 38f., 62ff.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Der Koran spricht alle Menschen an, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen und Ethnien. In Sure 22 Vers 17 heißt es bspw.: »Zwischen denjenigen, die glauben, denjenigen, die dem Judentum angehören, den Sabiern, den Christen, den Zoroastriern und denjenigen, die (Gott) beigesellen, wird Gott am Tag der Auferstehung entscheiden. Er ist über alles Zeuge.«89 In seinen Ausführungen räumt der Koran dem Juden- und Christentum einen größeren Raum ein. Ihre Anhänger werden an zahlreichen Stellen als ahl al-kitāb (»Schriftbesitzer«) genannt, wobei damit gelegentlich nur eine der beiden gemeint ist.90 Dabei sieht er die islamische Botschaft nicht als eine neue Religion, welche die anderen früheren Offenbarungsreligionen in Gänze abrogiert. Vielmehr versteht der Koran den Islam als Wiederherstellung und Fortsetzung der einen wahren monotheistischen Religion, die einen Gott für die Menschheit vorsieht. So heißt es bspw. in Sure 42 Vers 13: »Euch hat Er als Religion verordnet, was Er Noah geboten hatte, was dir offenbart worden ist und was Wir Abraham, Moses und Jesus geboten haben. Ihr sollt die Religion aufrechterhalten und nicht darüber streiten.«91 Auch Gewohnheiten und Gesetze vorislamischer Religionen werden nicht gänzlich abgeschafft. Es bleiben vielmehr viele traditionelle Bräuche und Normen anderer Religionen und Völker im Normensystem der islamischen Religion erhalten. »Er hat dir das Buch, den Koran, mit der Wahrheit herabgesandt, das die früheren Offenbarungen bestätigt. Die Thora und das Evangelium hat Er schon einst herabgesandt, um die Menschen rechtzuleiten.«92 Wenngleich sich der Koran in der anfänglichen mekkanischen Phase zu anderen Religionen mit Sympathie äußerte und ihre heiligen Schriften würdigte, kritisierte er sie in der späteren medinensischen Phase, und zwar vor allem auf dogmatischer Ebene.93 Frühere Offenbarungsreligionen werden zwar anerkannt und als Dialogpartner angesehen,94 ihre Anhänger werden dennoch aufgrund theologischer Fragen als kuffār bezeichnet.95 Polytheistische Religionen werden hingegen
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Siehe auch Sure 2:62, 5:69 Vgl. z.B. Sure 2:109, 29:46. Sure 42:13. Sure 3:3. Siehe weiterführend dazu az-Zuḥailī: Uṣūl al-fiqh, Bd. 2, S. 843ff. Sure 3:78: »Und einige von ihnen verdrehen den Wortlaut der Schrift, damit ihr meint, es stamme aus der Schrift, während es (in Wirklichkeit) nicht daraus stammt, und sagen, es stamme von Gott, während es (in Wirklichkeit) nicht von ihm stammt. Damit sagen sie gegen Gott wissentlich eine Lüge aus.« Für Näheres dazu siehe z.B. Abdel Rahem: Die Einstellung der Koranexegeten im 19. Jahrhundert, S. 57-66. »Sprich: ›Wir glauben an Gott, an die Offenbarung, die Er uns herabgesandt hat, an das, was Er Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und dessen Nachkommen herabgesandt hat, und an die Offenbarungen, die Moses, Jesus und die Propheten von ihrem Herrn bekommen haben. Wir machen keinen Unterschied zwischen ihnen und sind Gott ergeben.‹« U. a. Sure 3:84: »Ungläubig sind diejenigen, die sagen: »Gott ist Christus, der Sohn der Maria«. Sag: Wer vermöchte gegen Gott etwas auszurichten, falls er (etwa) Christus, den Sohn der Maria, und seine Mutter und (überhaupt) alle, die auf der Erde sind, zugrunde gehen lassen
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grundsätzlich abgelehnt; mit ihnen in Dialog zu treten, wird aber ebenfalls nicht ausgeschlossen. An verschiedenen Stellen wird das Faktum religiöser Vielfalt bzw. die Glaubensfreiheit unterstrichen. Muhammad verkündet laut koranischer Darstellung ganz eindeutig: »In der Religion gibt es keinen Zwang […],«96 und »Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.«97 Koranischen Aussagen zufolge ist die religiöse Vielfalt von Gott gewollt: »[…] Wenn Gott gewollt hätte, hätte Er euch [Menschen] zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Er hat euch aber verschieden geschaffen, um euch zu prüfen und zu erkennen, was ihr aus den euch offenbarten verschiedenen Rechtswegen und Glaubensrichtungen macht. Wetteifert in der Vollbringung guter Taten! […].«98 Wenngleich der Koran unmissverständlich darlegt, es sei am besten, sich Gott zu ergeben (arab. islām, auch Hingabe an Gott), missbilligt er zugleich die Missachtung oder die Schmähung von Religionen anderer. Muslime seien angehalten, Andersdenkende zu respektieren und ihre Religionen nicht zu verachten. Damit sind nicht nur die monotheistischen Religionen bzw. ihre Anhänger, sondern auch die Polytheisten gemeint.99 Zu den Glaubensgrundlagen des Islam zählt gemäß dem Koran u.a. der Glaube an den einen Gott, alle seine Propheten, alle Offenbarungsschriften (einschließlich der Thora und des Evangeliums) sowie an den Jüngsten Tag.100 Wer an Gott glaubt, seine Gebote befolgt und seine Verbote einhält, der wird laut koranischer Darstellung gerettet und belohnt. Der Koran vertritt in dieser Hinsicht eine inklusivistische Haltung und spricht alle Menschen an: »Die Gläubigen, die Juden, die Sabäer und die Christen, all die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, haben im Jenseits nichts zu befürchten und sie sollen nicht traurig sein.«101 Menschen, die hingegen nicht an Gott glauben bzw. seine Vorschriften nicht beachten, erwartet nach dem Koran im Jenseits eine Bestrafung.102 Auch wenn auf dieser Basis scheinbar ein zweiteiliges Konzept von Gläubigen und Ungläubigen,
wollte? Gott hat die Herrschaft über Himmel und Erde und (alles) was dazwischen ist. Er schafft, was er will, und hat zu allem die Macht.« (Sure 5:17). 96 Sure 2:256; ähnlich 109:6; 18:29; 10:41. 97 Sure 109:6. 98 Sure 5:48. 99 »Ihr sollt die Götzen, die die Ungläubigen anstelle Gottes anbeten, nicht schmähen, sonst würden sie vor Wut aus Unwissenheit Gott beschimpfen. Wir haben jedes Volk dabei belassen, sein Verhalten gut zu finden. Am Jüngsten Tag werden alle Völker zu Gott geführt, Der ihnen ihre Taten vor Augen führen und sie dafür zur Rechenschaft ziehen wird.« Koran 6:108. 100 Koranvers 285, Sure 2 äußert sich dazu wie folgt: »Der Gesandte Gottes (Muhammad) glaubt an das, was ihm von seinem Herrn herabgesandt worden ist, ebenso die Gläubigen; sie alle glauben an Gott und an Seine Engel und an Seine Bücher und an Seine Gesandten. Wir machen keinen Unterschied zwischen Seinen Gesandten.« 101 Koran 5:69. 102 Siehe z.B. 3:77, 4:168-169; 57:13.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Belohnung und Bestrafung bzw. Paradies und Hölle begründet wird, bleibt es Gottes Aufgabe und Entscheidung, die Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, also zu belohnen bzw. zu bestrafen: »Gott ist unser Herr und euer Herr. Unsere Werke gelten uns und eure Werke gelten euch. Es soll keinen Streit mit Argumenten und Gegenargumenten zwischen uns und euch geben. Gott wird uns alle versammeln und zwischen uns richten.«103 Es kann aber wiederum nicht abgestritten werden, dass sich im Koran einige Textstellen finden lassen, die als Aufforderung zur Distanzierung von Nichtmuslimen und zur Verübung von Gewalt gegenüber Andersdenkenden interpretiert werden könnten.104 Solche Koranverse sind, so die Meinung vieler heutiger Gelehrter und Intellektueller, in ihrem sozialen und politischen Kontext des 7. Jahrhunderts zu verstehen und dorthin einzuordnen. Angesichts der Tatsache, dass solche religiösen Texte von militanten Salafisten und anderen islamistischen Gruppen als Legitimation von Gewalt missbraucht werden, sind Ängste nichtmuslimischer Mitbürger zum Teil berechtigt. Ein pauschales Misstrauen gegenüber Muslimen und ihrer Religion aber, das im Grunde auf Unwissen und Vorurteilen beruht, ist nicht im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass in der Gesellschaft noch ein enormer Aufklärungsbedarf über den Islam, seine Schriften und seine Lehre besteht.105 In Anlehnung an die koranische Darstellung propagieren die Online-Salafisten die Ansicht, dass der Islam die einzig richtige und ewig gültige Botschaft sei. Dabei wird der Aspekt der Vielfalt und Pluralität völlig ausgeblendet: Gott habe ein und dieselbe Botschaft, nämlich sich Gott zu ergeben (Islam), die ganze Weltgeschichte hindurch den verschiedenen Propheten immer wieder übermittelt. Die Essenz der Mission eines jeden Propheten sei gewesen, sich selbst dem Einen Gott zu unterwerfen und den Menschen den einen Eingottglauben (wieder) zu überbringen. Entsprechend den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten und den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen seien lediglich bestimmte, den Kern nicht betreffende Ausprägungen dieser einen Lehre unterschiedlich gewesen. Auch offenbare die Bibel eigentlich das Gleiche: Ihr Text widerlege an sich die Behauptung, Jesus sei der Sohn Gottes, und lege – ähnlich wie der Koran – offenkundig dar, dass Jesus nicht mehr als ein Prophet und Gesandter Gottes gewesen sei. »Es war der Römer Paulus, der eigentliche Gründer des heutigen Christentums und ein früherer Feind des Monotheismus, der diese Idee als erster vertrat, wenn wir die Geschichte aufmerksam verfolgen.«106 103 Koran 42:115. 104 Siehe z.B. 2:190-193; 9:12-15. 105 Weiterführend dazu u.a. El-Wereny: Andere Religionen, S. 69; Esack/Tatari: Untersuchungen zum Ğihād-Begriff, S. 93-116; Sinai: Der Koran, S. 107ff.; Mohagheghi: Tötet sie, S. 73-93. Siehe auch Halm/Liakova: Pauschale Islamfeindlichkeit?, S. 12-48. 106 Ibn Abdullah: Jesus, Gottes Sohn?, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 13.05.2019).
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Nach diesem Verständnis sind alle Propheten Muslime (Gott ergeben) gewesen und haben die gleiche Botschaft wie die des Propheten Muhammad vermittelt. Die Religion des Islam begründe dementsprechend im Grunde keine neue Lehre.107 Da andere Religionen jedoch in ihren heutigen Formen (und im Grunde schon zur Zeit Muhammads) von dieser Grundlehre abgewichen seien, stelle der Islam (heute) die einzig wahre Religion dar, deren Befolgung der einzige Weg zum Paradies und zum Heil sei. Im Koran heiße es: »Als einzig wahre Religion gilt bei Gott der Islam.«108 In diesem Sinne sei Muhammad im Gegensatz zu vorherigen Propheten, die Gott nur zu bestimmten Völkern sandte, als Botschafter für alle Welten entsandt worden, wie im Koran 21:107 beschrieben.109 Um dieses Verständnis des Islam als einzig wahrer, universeller und gleichzeitig ursprünglicher Religion zu unterstreichen, erklären Salafisten den Islam zur ›Religion der natürlichen Verfasstheit des Menschen‹ (dīn al-fiṭra), d.h., dass die Natur des Menschen so angelegt sei, dass sich jeder von Geburt an Gott ergebe und somit zum Muslim werde. Dieses Konzept wird von Gelehrten aller Strömungen des Islam propagiert und nimmt laut Wiedl in der daʿwa-Arbeit salafistischer wie nicht-salafistischer Prediger einen wichtigen Platz ein.110 Aus dieser Überzeugung heraus stellt der Islam die einzige Glaubenslehre des wahren Monotheismus dar; Glaubensinhalte anderer Religionen seien indessen Irrlehren und führten zur Verdammnis. Der Koran und die Sunna vermittelten klar und eindeutig die islamischen Glaubensgrundsätze und ließen keinen Raum für Mehrdeutigkeiten, noch Ansätze für individuelle Auslegungen, die zu Missverständnissen und Irrglauben führen könnten. In diesem Sinne glauben Vertreter der hier untersuchten Plattformen, dass die islamischen Offenbarungstexte vor jedweder Verfälschung oder Abänderung über die Jahrhunderte hinweg bewahrt worden seien. Die Schriften anderer Religionen wie etwa die Psalmen Davids, die Thora Mosesʼ oder das Evangelium Jesu seien indessen, wie sie in der heutigen Form vorliegen, verfälscht. Man könne die Wahrheiten von den Lügen nicht unterscheiden.111 Auch wenn einige Stellen authentisch überliefert und original geblie107 Vgl. Ibn Abdullah: Jesus war kein Christ, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 13.05.2019). 108 Koran 3:19. 109 »Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.« Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 275. 110 Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 377; al-Faruqi: Islam and Other Faiths, S. 138. Ähnlich argumentieren auch salafistische Prediger Deutschlands. Vgl. z.B. Vogel: 5/5 Dawa Kurs 5, in: www.youtube.com (abg. am 03.04.2019). 111 Diese Aussagen werden darüber hinaus anhand von Koranversen begründet. Es werden folgende Koranstellen angeführt: 2:79, 378 und 5:13. Weiterführend dazu vgl. Ibn Baz: Fatāwā llajna, Bd. 12, S. 275f. Siehe auch al-Faqīh: Wann wurde das Evangelium verfälscht?, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 25.2018). Viele in deutscher Sprache verfügbare Schriften salafistischer wie nicht-salafistischer Prägung befassen sich mit dieser Thematik und widmen
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
ben seien, hätten sie ihre Gültigkeit durch die koranische Offenbarung verloren. Der Koran als das einzig wahre Wort Gottes abrogiere alle früheren Schriften. Er und die Sunna des Propheten umfassten alle notwendigen Antworten und pragmatischen Lösungen für alle Fragen des Lebens.112 Daher sei der Erwerb und die Lektüre von religiösen Schriften anderer Religionen islamrechtlich sogar verboten: »Es ist nicht zulässig Bücher, in denen Wahrheit und Lüge vermischt sind, zu lesen, um jegliches Übel, welches durch das Lesen dieser (Bücher) resultieren kann, und welches den Iman [Glauben] des Muslim beeinflussen kann. Jene Menschen, welche die Wahrheit suchen, werden sie in den zwei vertrauenswürdigen und sicheren Referenzen finden, welche der Quran und die Sunnah sind, da die Wahrheit nichts anderes sein kann außer diesen.«113 Auch habe der Prophet davor gewarnt, Schriften anderer Religionen zu lesen. Eine Ausnahme wird nur für diejenigen gemacht, die diese Schriften studieren, »um das in ihnen enthaltene Übel zu widerlegen […] ihre Fehler offenzulegen und ihre Widersprüche aufzuzeigen.«114 In diesem Sinne befassen sich salafistische Prediger Deutschlands mit der Bibel und lassen sich auf interreligiöse Diskussionen ein, verstehen dies aber als Teil ihrer daʿwa-Arbeit. Die Auseinandersetzung mit der Bibel ist für Salafisten in Deutschland von großer Relevanz, da sie davon ausgehen, dass sie hier in einer mehrheitlich christlichen Gesellschaft leben und Christen somit eine wichtige Zielgruppe ihrer daʿwa darstellen. Ein generelles Verbot der Lektüre christlicher oder jüdischer Schriften wäre folgerichtig weder durchsetzbar noch ihren Zielen dienlich.115 Zwar erkennen Salafisten den Glauben an alle früheren Propheten der jüdischen und christlichen Tradition und deren Schriften als Bestandteil des Islam an, beschränken dies aber auf die ursprünglichen Schriften in ihren authentischen Formen, bevor sie verfälscht worden seien.116 Die Religion des
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sich dabei vor allem dem Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Vgl. z.B. www.wayto-allah.com/e-books/Isl&Chr.html (abg. am 03.04.2019). Der Koran »[…] beinhaltet keine Widersprüche, keine falschen wissenschaftlichen Aussagen, keine unerfüllten Prophezeiungen; vor allem belasten aber seine Gebote niemanden über sein Leistungsvermögen, sondern regelt alle Dinge völlig pragmatisch, der gottgegebenen Natur des Menschen entsprechend.« Vgl. für mehr dazu www.basseera.de/aqidah/schirk-akuffr; Ibn Abdullah: Bibel und Koran; ders.: Fehler in der Bibel; ders.: Widersprüche in der Bibel, in: www.imauftragdesislam.com (abg. 03.05.2019). Vgl. Farkūs: Urteil über das Lesen der Bibel, in: www.islamfatwa.de (abg. am 27.05.2018). Vgl. ebd.; al-ʿUthaimīn: Das Beschaffen einer Bibel, in: www.islamfatwa.de; al-Munajjid: Ḥukm ad-daʿwa ilā taqārub, in: www.islamqa.info/ar (abg. am 27.05.2018). Siehe auch Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 369. In diesem Zusammenhang wird u.a. die Koranstelle 2:285 angeführt: »Gottes Gesandter glaubt an das ihm von seinem Herrn Offenbarte, und also die Gläubigen: sie glauben alle an Gott, an Seine Engel, an Seine Bücher und an Seine Gesandten.« Zitiert nach Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 81.
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Islam wird demnach nicht bedingungslos als Fortführung und Vervollständigung der zwei abrahamitischen Religionen – Juden- und Christentum – angesehen. In der Konsequenz propagieren die Online-Salafisten eine recht abweisende, wenn nicht abwertende Haltung gegenüber Juden und Christen bzw., allgemeiner gefasst, gegenüber Andersdenkenden. Es wird auf den hier untersuchten Sites grundsätzlich eine dichotome Weltsicht aus »Muslimen«, »gläubig«, »wahr« versus »Nichtmuslime«, »ungläubig« »falsch« vermittelt, die auf die Distanzierung und Abschottung vom religiös Anderen hinausläuft, was sich in einer Vielzahl von Fatwas niederschlägt, wie im Folgenden näher dargelegt wird.117 Jeder, der den Islam nicht annimmt, seine Glaubensgrundsätze nicht akzeptiert, wird als »ungläubig« (kāfir) bezeichnet. Die takfīr-Kette erstreckt sich sogar auf Muslime, die die von salafistischer Seite als ungläubig stigmatisierten Personen selbst nicht als Ungläubige bezeichnen oder daran zweifeln: »Ein fundamentaler Glaube im Islam ist, dass die Christen und die Juden sich im Kufr (Unglauben i. S. des Islam) befinden, da sie den Qurʾan und die Botschaft Muhammads ablehnen. Sie haben auch ihre Bücher derart verändert, dass sie die Anbetung anderer außer Allah und die Beigesellung von Partnern Allah gegenüber in der Anbetung erlauben, ja gar befehlen. Wer auch immer als Muslim an ihrem Kufr zweifelt, der ist selber ein Kafir (Ungläubiger i. S. des Islam).«118 Im Jenseits würden jene »Ungläubigen« in die Hölle kommen, denn sie gelten als »Feinde Gottes, seines Gesandten und aller [muslimischen] Gläubigen.«119 »Die Kuffar, welche in ihrem Kufr sterben, werden für immer im Höllenfeuer verweilen. Jedoch urteilen wir nicht über einen bestimmten Kafir, dass er in der Hölle sein wird, außer es liegt eine Spezifikation im Qurʾan oder der authentischen Sunna vor.«120 Ihnen bleibe nur die Konversion zur »wahren Religion« des Islam, um ins Paradies zu gelangen. Auch Muslime, die Juden und Christen als »Besitzer einer Heiligen Schrift« (ahl al-kitāb) und somit als Gläubige einer anderen Religion betrachten, werden in der salafistischen Ideologie des Unglaubens bezichtigt und als Feinde des Islam und der Muslime diffamiert: »Wer diejenigen, die Schirk [Gott
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Vgl. z.B. Ibn Baz: Bedeutung – Ewiger Aufenthalt in der Hölle, in: www.islamfatwa.de; ähnlich: al-Munajjid: Wie soll der Muslim, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 03.04.2019). 118 Vgl. statt vieler as-Saleh: Der Ruf zur Einheit, in: www.salaf.de (abg. am 03.04.2019). Al-Albānī argumentiert in diesem Zusammenhang gegen die Verpflichtung der Muslime, den kufr auf die als ungläubig erklärten Personen zu sprechen. »Es ist absolut keine Bedingung, dass jemand, der eine Person zum Kafir erklärt oder den Beweis gegen ihn erbracht hat, dass deshalb alle Leute in diesem Urteil des Takfir mit ihm sein müssen. Denn er (seine Situation) mag offen für Interpretation sein.« Mehr dazu al-Albānī: Vorschnelles Urteilen zum Kafir, in: www.islamfatwa.de (abg. am 10.06.2019). 119 Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd.12, S. 278. 120 as-Saleh: Der Ruf zur Einheit, in: www.salaf.de (abg. am 03.04.2019), S. 11.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
etwas beigesellen] machen, nicht als Ungläubige ansieht oder sich nicht sicher ist, ob sie Gläubige oder Ungläubige sind, oder ihren Weg als richtig bezeichnet, ist selber ein Ungläubiger.«121 Demnach wird hier ein exklusivistischer Absolutheitsund Wahrheitsanspruch erhoben, auf dessen Grundlage Andersgläubige diskreditiert werden. Dies basiert vor allem auf dem salafistischen buchstabengetreuen Verständnis der Quellentexte.
2.2.2
Haltung zu Nichtmuslimen auf sozialer Ebene
Der distanzierenden bis feindlichen Haltung der Salafisten gegenüber Nichtmuslimen liegt die oben angesprochene dualistische Weltsicht »gläubig« versus »ungläubig« zugrunde. Auf deren Grundlage wird Muslimen verboten, Andersdenkenden zu ihren religiösen oder nationalen Festen zu gratulieren. Dies beinhalte nämlich eine Art Einverständnis mit ihren falschen Traditionen sowie Loyalität ihnen gegenüber.122 Im Koran heiße es: »O die ihr glaubt, nehmt nicht die Juden und die Christen zu Schutzherren! Sie sind einer des anderen Schutzherren. Und wer von euch sie zu Schutzherren nimmt, der gehört zu ihnen. Gewiss, Gott leitet das ungerechte Volk nicht recht.«123 Wieso sich ein Muslim in einem Christen einen Schutzherrn sucht, wenn er ihm lediglich »Frohe Weihnachten« wünscht, bleibt fragwürdig. Es zeigt erneut, wie Salafisten an der Oberfläche der Quellentexte unreflektiert festhalten. Argumentiert wird darüber hinaus damit, dass es im Islam nur zwei Feste gebe, die der Prophet verkündet habe, nämlich das Opferfest und das Fest des Fastenbrechens, das dem Fastenmonat Ramadan unmittelbar folgt. Ein drittes, wöchentliches Fest sei der Freitag. Alle anderen feierlichen Anlässe erachten Salafisten als »unzulässige Neuerung« (bidʿa), deren Vollzug eine Sünde darstelle.124 Es sei sogar verboten, Nichtmuslime zu grüßen. Ihren Gruß zu erwidern, sei zwar erlaubt, aber ihnen zuerst mit einem Gruß zu begegnen, sei verboten. Dies 121
Ibn Abdullah: Wer den Kafir nicht zum Kafir erklärt, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 02.04.2019); ähnlich: Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 279 (abg. am 01.05.2018). Für Näheres dazu siehe u.a. Rudolph: Von »Schriftbesitzern« zu »Ungläubigen«, S. 291-301. 122 Vgl. Das Ständige Komitee: Gratulieren zum Neujahr; dass.: Es ist Muslim nicht erlaubt, in: www.islamfatwa.de (abg. am 26.02.2019); Munajjid: Ist es ihm erlaubt mit dem Verkauf, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 11.07.2018). 123 Koran 5:51. Siehe für mehr dazu das Ständige Komitee u.a.: Speisen u. Geschenke der Kuffar, in: www.islamfatwa.de (abg. am 26.02.2019). 124 Vgl. z.B. al-Faqīh u.a.: Die Annahme von Essensgeschenken, in: www.islamweb.net/gern (abg. am 29.05.2018). In diesem Zusammenhang heißt es: »Es ist nicht erlaubt, Weihnachten (die Geburt Jesu, Frieden sei mit ihm), noch irgendein anderes Fest der Nichtmuslime zu feiern. Dies ist einerseits eine Nachahmung der Nichtmuslime und andererseits die Einführung eines (religiösen) Festes, das Allāh nicht gestattet hat. Es ist auch nicht erlaubt, den Geburtstag irgendeiner Person zu feiern, denn dies gehört zu den Veränderungen in der Religion und zur Nachahmung der Nichtmuslime. Die Muslime haben nur zwei Feste, nämlich das Fest des Fastenbrechens und das Opferfest. Ein drittes wöchentliches Fest ist der Freitag. Al-
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habe ebenfalls der Prophet gefordert: »Beginnt nicht mit dem Gruß des Salaam [Frieden] bei den Juden und Christen.«125 Unter Berufung auf das al-walāʾ wa-lbarāʾ-Prinzip – siehe oben – geht al-Fauzān so weit, dass er es für verboten erklärt, Freundschaft oder Nähe zu Nichtmuslimen zu suchen: »Allah hat dem Gläubigen die freundschaftliche Verbundenheit und Nähe im Herzen und Handeln (Muwalaah) zu Nichtmuslimen verboten, selbst wenn diese die ihm verwandtschaftlich am nächsten stehenden Menschen sind.«126 In diesem Zusammenhang kritisieren Vertreter der Realität Islam die staatliche Integrationspolitik und werfen ihr vor, Muslime dazu zwingen zu wollen, sich den Nichtmuslimen bedingungslos anzugleichen: »Der gegenwärtigen Integrationspolitik nachzukommen, die nicht nur die Einhaltung der öffentlichen Ordnung beinhaltet (welche von der islamischen Gemeinschaft bereits erfolgt), sondern darüber hinaus die Übernahme westlicher Werte und Handlungsmaßstäbe fordert, würde in der Nachahmung von Handlungen der Nichtmuslime münden, die zu ihrer Spezifität (Eigenheit) zählen. Den Muslimen wurde jedoch solche eine Nachahmung untersagt! So sprach der Gesandte Allah (s): »Wer sich einem Volk angleicht, der gehört zu ihnen.«127 In vielen der dort online gestellten Beiträge wird oft eine Dichotomie von »Minderheit und Mehrheit«, »Muslimen« und »Nichtmuslimen«, »ihr« und »wir« konstruiert. Dies entspricht ihrer Zielsetzung, ihre Version der islamischen Identität aufrechtzuerhalten. Für sie stellt die Identität eines Muslims das zentrale Unterscheidungsmerkmal als Individuum oder als Kollektiv in einer Gesellschaft dar, welches ihn vom »anderen« hervorheben und abgrenzen solle. Dabei wird der Identitätsbegriff als das Festhalten an den islamisch-religiösen Überzeugungen und Werten verstanden, womit u.a. die Einhaltung islamischer Pflichten einhergeht, wie etwa das regelmäßige Verrichten des Gebets, das Tragen eines Kopftuchs für Frauen oder auch die Nichtteilnahme an christlichen Feiertagen. Auf diese Art und Weise strebt Realität Islam an, die Persönlichkeit eines jeden Muslims zu definieren, wobei sie davon ausgeht, dass die Identität des Muslims vollkommen sei und keiner Ergänzung aus anderen Quellen bedürfe. Ein Muslim habe sein ganzes Leben entsprechend den Werten und Normen des Islam zu gestalten. Der Islam werde somit zur Quelle seiner Beständigkeit, seiner Stärke und seines Mutes. Nur durch
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le anderen sind Neueinführungen, die nichts mit dem Islām gemein haben.« al-Faqīh u.a.: Ist Weihnachten feiern eine Sünde?, in: www.islamweb.net/gern (abg. am 29.05.2018). Vgl. u.a. Ibn Baz: Pflichten des Muslims gegenüber dem Kafir, in: www.islamfatwa.de (abg. am 22.06.2018); al-Munajjid: al-Wājib ʿalā l-muslim, in: www.islamqa.info/ar(abg. am 22.06.2018); Das Ständige Komitee: Gratulieren zum Neujahr; dass.: Es ist Muslim nicht erlaubt, in: www.islamfatwa.de (abg. am 26.02.2019). al-Fauzān: Loyalität und Lossagung im Islam, S. 6. Realität Islam: Das richtige Argument, S. 46f.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
die Annahme des Islam bekomme man klare Orientierung; das Leben habe dann einen Sinn. Er wäre dann auch fähig, zwischen Wahrheit und Lüge, Richtigem und Falschem und zwischen Gutem und Schlechtem zu unterscheiden.128 Diese Identität werde vom Westen aber angegriffen: Verrichte man das Gebet regelmäßig oder nehme man an christlichen Feiertagen nicht teil, werde dies als Akt fundamentalistischer Gesinnung verstanden. »Diese rigoros betriebene ›Minderheitenpolitik‹ nötigt die Muslime zur Aufgabe ihrer islamischen Werte. Jeder Muslim, der an den Gesetzen des Islam festhalten und diesen praktizieren will, gilt fortan als potenzieller Extremist bzw. als gewaltbereit.«129 In ihrer Argumentation betonen Anhänger der Realität Islam, dass das Festhalten an den islamischen Normen nichts mit sog. »extremistischen Auslegungen« der Religion zu tun habe. Vielmehr sei das Beharren auf den islamischen Werten und Überzeugungen genau der Islam, von dem niemals abgerückt werden dürfe. Dies stelle für Vertreter der Site den essentiellen Ausdruck der islamischen Identität dar und stehe nicht zur Diskussion. »Extrem ist, wer uns davon abhalten will!«130 Grundlagen dieser Werte sind nach Realität Islam der Koran und die authentische Sunna. Nach ihrem Verständnis sind diese Quellen Gottes Worte bzw. Willen, welche zeit- und ortsunabhängig Gesetze und Anweisungen verbindlichen Charakters lieferten.131 Demnach versteht Realität Islam das Abweichen von in einer Gesellschaft vorherrschenden Traditionen nicht als radikal oder integrationshemmend, sondern als Mittel, die islamische Identität zu bewahren. In diesem Kontext wird Medien und Politik erneut vorgeworfen, Druck auf Muslime auszuüben, ihre islamischen Werte aufzugeben und die westlichen Werte zu akzeptieren. Muslime würden ständig vor die Entscheidung gestellt, sich entweder zu den islamischen oder zu den westlichen Werten zu bekennen. Dabei würden die Werte und Normen des Islam verurteilt und verteufelt, während die Werte des Westens als universell vorgestellt würden. Negative Vorfälle würden absichtlich mit dem Islam in Verbindung gebracht und auf dessen Werte und Normen zurückgeführt. Dieses willkürliche und provokative Verfahren, was sich vor allem in den Medien widerspiegele, führe »zwangsläufig zu einer Identitätskrise bei den Muslimen, in der sie sich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen sehen. […] Die ständig negative Darstellung des Islam in den Medien und die praktische Gleichsetzung des Islam mit Gewalt, Terror, Frauenfeindlichkeit und Rückständigkeit bestärken bei den Muslimen das Gefühl der Ausgrenzung.«132 Ein weiterer Aspekt, der die Reserviertheit der Salafisten gegenüber Nichtmuslimen zeigt, ist ihre Position zur interreligiösen Ehe. Wenngleich die interreligiöse 128 129 130 131 132
Vgl. ebd., S. 31f. Realität Islam: Gemeinsam, S. 25. Realität Islam: Das richtige Argument, S. 23ff. Vgl. ebd., S. 41ff. Realität Islam: Gemeinsam, S. 25-28.
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Ehe zwischen einem Muslim und der Angehörigen einer Buchreligion, also einer Jüdin oder Christin, grundsätzlich erlaubt ist, wie anhand von Textbeweisen aus dem Koran und der Sunna belegt ist,133 stehen Salafisten einer solchen Verbindung zurückhaltend gegenüber. Salafistische Gelehrte halten eine solche Ehe zwar für erlaubt, präferieren aber die Ehe mit einer Muslimin; dies mit der Begründung, dass eine nichtmuslimische Ehefrau das Ehe- und Familienleben dominiere und den Kindern möglicherweise ihre »irreführenden« religiösen Überzeugungen vermittele. Dies stelle ein Hindernis für die Gründung einer muslimischen Familie dar. Aufgrund solcher »Risiken« seien Muslime angehalten, möglichst Frauen muslimischen Glaubens zu heiraten. Gehe man dennoch eine solche interreligiöse Ehe ein, müsse die Frau keusch und tugendhaft sein. Auch wenn diese Voraussetzungen, die nicht näher definiert bleiben, erfüllt würden, sei, so schreibt Ibn Baz, »der Verzicht auf eine solche Ehe besser.«134 Eine Ehe mit einer Polytheistin (mushrika), Atheistin (mulḥida), Apostatin (murtadda) oder einer Bahai (bahāʾīya) usw. wird indessen für strikt verboten erklärt. Denn es heiße im Koran: »Und heiratet nicht heidnische Frauen, solange sie nicht gläubig werden! Eine gläubige Sklavin ist besser als eine heidnische Frau, auch wenn euch diese gefallen sollte […]«.135 Ebenso wird die Teilnahme der Muslime an der Beerdigung von Nichtmuslimen für verboten erklärt. Nur Muslime könnten gegenseitig den Anspruch erheben, dass der eine an der Beisetzung des anderen teilnehme. Es sei im Falle der Nichtmuslime zwar erlaubt, die Angehörigen des Verstorbenen zu trösten und ihnen das Beileid auszusprechen; es sei aber verboten, »[…] am Trauerzug des Islām-Leugners teilzunehmen und den nichtmuslimischen Verstorbenen ins Grab zu bringen, weil darin eine Art Verehrung und Reinigung für den Islām-Leugner liegt, was mit dem Beten vergleichbar sein kann, das der Qurʾān ausdrücklich verbietet.«136 Diese Art Respekt, Verehrung und Gefolgschaft dürfe einem »Ungläubigen« nicht geleistet werden. Nur in dem Fall, dass die Familienangehörigen des
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Eine solche interreligiöse Ehe zwischen einem Muslim und einer Nichtmuslimin wird hauptsächlich mit folgendem Koranvers legitimiert: »Heute sind euch die guten Dinge erlaubt. Das Essen der Schriftbesitzer ist euch erlaubt, wie euer Essen ihnen erlaubt ist. Ihr dürft freie, ehrbare muslimische Frauen und freie ehrbare Frauen aus den Gemeinden der Schriftbesitzer heiraten, wenn ihr ihnen die ihnen zustehende Morgengabe entrichtet mit der Absicht, eine Ehe zu schließen und nicht uneheliche Verhältnisse zu unterhalten oder Konkubinen zu nehmen.« Vgl. für mehr dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 158ff. Vgl. Ibn Baz: Ḥukm zawāj al-muslim, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 17.07.2018); weiterführend dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 202f. Koran 2:221. Ibn Baz: Nichtmuslimische Frauen heiraten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 17.07.2018). al-Faqīh: Trösten beim Sterben, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 18.07.2018). Ähnlich alMunajjid: Tashyīʿ jināzat al-kāfir, in: https://islamqa.info/ar; Abul Baraa: Besuch von Friedhöfen, in: www.youtube.com (abg. am 04.04.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Verstorbenen nicht vor Ort sind, um selbst die Bestattung vorzunehmen, sei es zulässig, dass Muslime dies übernähmen: »Wenn einige der Kuffar [Ungläubigen] anwesend sind, die ihre Toten begraben können, dann sollte der Muslim dies nicht tun oder sich ihnen anschließen oder sie dabei unterstützen oder ihnen gemäß politischer Sitte Freundlichkeit durch die Teilnahme an ihren Beerdigungen erweisen. Es ist nicht bekannt, dass der Gesandte Allahs oder die rechtgeleiteten Khalifen so etwas taten.«137 Zur weiteren Begründung dieser Position werden Aussagen vergangener Gelehrter herangezogen. So soll Mālik b. Anas, Namensgeber der malikitischen Rechtsschule (gest. 795), gesagt haben: »Ein Muslim sollte seinen Vater nicht waschen, wenn dieser als Ungläubiger verstorben ist. Er darf ihn nicht beerdigen oder in sein Grab hineinbringen, außer wenn er fürchtet, dass der Leichnam verwest – dann darf er ihn begraben.«138 Was die Erlaubnis, Nichtmuslimen bei einem Trauerfall zu kondolieren, angeht, so wird sie mit dem Zweck der Missionierung (daʿwa) gerechtfertigt: Nur durch einen guten Umgang mit Nichtmuslimen könnten diese für den Islam gewonnen werden.139 Einerseits wird Muslimen von Salafisten empfohlen, fast ganz auf interreligiöse Aktivitäten mit Nichtmuslimen zu verzichten; andererseits wird ihnen auferlegt, letztere zum Islam einzuladen und so die Ausbreitung des Islam erfolgreich voranzutreiben. »Die islamischen Verkünder müssen sich gegenüber den Muschrikin [Personen, die Gott andere Gottheiten beigesellen] sehr bedacht verhalten. Sie müssen alles dafür tun, um sie für den Islam zu gewinnen.«140 Die Frage, wie dies geschehen und wie überhaupt ein guter Umgang zustande kommen soll, bleibt unbeantwortet.141 Die Quintessenz des salafistischen Denkens ist jedenfalls, dass Muslime nur dann in Kontakt mit Nichtmuslimen treten sollen, wenn es darum geht, sie zum Islam einzuladen. Einen interreligiösen Dialog zu führen, um Gemeinsamkeiten zu finden und harmonisch zusammenzuleben, widerspreche aber den islamischen Grundsätzen, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird.
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Das Ständige Komitee: Teilnahme an Beerdigungen der Kuffar, in: www.islamfatwa.de (abg. am 17.07.2018). 138 Für Näheres dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 230. 139 Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 9, S. 132; Abul Baraa: Beileid für Familie eines Kafirs, in: www. youtube.com (abg. am 22.06.2018). 140 Ibn Abdullah: Nichtmuslime die Muslimen helfen, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am. 05.04.2019). Dort heißt es weiter: »Doch wenn ihnen das nicht gelingt, so sollten sie wenigstens verhindern, diese zu Feinden des Islams zu machen. Sie sollten sich vor jeder Handlung und Äußerung hüten, was zur Verstärkung ihrer Feindschaft führen könnte. Zudem sollten sie jede Möglichkeit nutzen, die Kuffar gegeneinander aufzuhetzen. Denn dadurch wrden sie die Fronten und die Feinde gehen den Islam mindern und Schwächen.« 141 Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 282-284. Siehe weiterführend dazu in Abschn. 2.2.3.
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2.2.3
Dialog mit dem religiös Anderen
Versuche, sich mit dem religiös Anderen auszutauschen oder einen interreligiösen Dialog zugunsten einer Annäherung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zu führen, werden von religiösen Autoritäten des salafistischen Spektrums für verboten erklärt. Dieser ablehnenden Position liegt die Annahme zugrunde, dass Initiativen zum interreligiösen Dialog darauf abzielen, Muslime von ihrem Glauben abzubringen und sie »zu einer allgemeinen Apostasie verführen« zu wollen.142 Jeder Ruf zum interreligiösen Dialog, unter welchem Namen auch immer, sei gefährlich. Sich auf solche Einladungen einzulassen, bringe die Gefahr mit sich, die Unterschiede zwischen Glauben bzw. Wahrheit (Islam) und Unglauben bzw. Falschheit (Judentum und Christentum) zu vermischen und somit das Grundprinzip der Loyalität zu Muslimen und der Lossagung von Nichtmuslimen abzuschaffen. »Die Christen und die Juden wollen, dass Muslime so werden wie sie. […] Sie wünschen, dass ihr [Muslime] ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, so dass ihr alle gleich werdet.«143 Einschlägigen Fatwas zur Ablehnung des interreligiösen Dialogs liegt der Argwohn zugrunde, die Vertreter anderer Religionen strebten einen Synkretismus an. Zusammenfassend heißt es bei as-Saleh: »Der Ruf zur Einheit der Religionen – manchmal irreführend als ›Toleranz der Religionen‹ bezeichnet – zielt darauf ab, alles zu zerstören, was den Islam vom Kufr unterscheidet.«144 Daher erklären es Salafisten für verboten, Moscheen, Synagogen und Kirchen auf einem gemeinsamen Areal zu bauen oder den Koran und die Bibel in einer Buchausgabe zu kombinieren. Eine solche gegenseitige Annäherung und die damit einhergehende Akzeptanz anderer Religionen sei islamrechtlich illegitim und inakzeptabel. Die Basis dieser Haltung, die die Vorbehalte vieler Salafisten gegenüber dem Dialog der Religionen grundsätzlich erklären kann, ist ihre Überzeugung, dass die Religion des Islam die einzig wahre sei; im Umkehrschluss werden andere als irreführend herabgewürdigt. Ibn Baz schreibt bspw., »der Islam ist der einzig richtige Weg zu Gott,« der zum Paradies führe. Alle anderen Religionen seien falsch und nichtig. Der Islam setze all die vorherigen Religionen und Glaubensrichtungen außer Kraft. Im Koran heiße es: »Und wer eine andere Religion als den Islam begehrt: nimmer soll sie von ihm angenommen werden, und im Jenseits wird er unter den Verlierern sein.«145
142 Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 280. Für Näheres dazu El-Wereny: Interreligiöser Dialog, S. 15-63. 143 as-Saleh: Der Ruf zur Einheit, in: www.salaf.de (abg. am 03.04.2019), S. 3f.; ähnlich bei Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 12, S. 279ff. 144 Vgl. as-Saleh: Der Ruf zur Einheit, in: www.salaf.de (abg. am 03.04.2019), S. 11. 145 Koran 3:85. Ibn Baz: al-Islām huwa l-ḥaq, in: www.binbaz.org.sa; ähnlich: al-Munajjid: Ruling on the call to unite, in: www.islamqa.info/en (abg. am 09.05.2019). Mehr dazu bei Wiedl:
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Muslime, die zum interreligiösen Dialog aufrufen oder sich an interreligiösen Aktivitäten beteiligen, werden als Abtrünnige vom Islam verurteilt.146 Das bedeute aber nicht, dass Muslime mit der daʿwa-Arbeit aufhören sollten. Ihnen sei vielmehr anbefohlen, Nichtmuslime zum Weg Gottes einzuladen. Salafisten wollen den interreligiösen Dialog also als einseitigen Prozess verstanden wissen, auf den sich Muslime nur dann einlassen dürften, wenn er der daʿwa-Arbeit diene. Ein solcher aus salafistischer Sicht zielführender Dialog solle von den Lehren des Islam, d.h. von dessen Richtigkeit und der Falschheit der anderen Religionen, ausgehen und ausschließlich auf eine positive Darstellung des Islam hinarbeiten. Ein solcher Dialog, der einseitig und nur im Dienste der daʿwa stattfinden dürfe, kann aus neutraler Perspektive natürlich nicht als interreligiös bezeichnet werden. Er stellt eben eher eine Form von Missionierung dar.147 Ein offener interreligiöser Dialog, wie er bisweilen in westlichen Gesellschaften initiiert wird, wie etwa die von der DIK geförderten Projekte,148 gilt Salafisten als Mittel, das »aus der Tradition der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft erwächst. Mit religiöser Suche und der Hingabe an Gottes Willen hat es nur wenig zu tun. Vielmehr geht es um die Verankerung säkularer und pluralistischer Denkweisen bei den Muslimen, um einen »akzeptablen« reformierten Islam zu schaffen, der sich mit seiner ihm zugewiesenen Nische zufrieden gibt.«149 Ein interreligiöser Dialog nach den Vorstellungen und Kriterien der Nichtmuslime könne niemals der daʿwa dienen. Denn ein solcher Dialog »[…] kann nicht zur Daʿwa umfunktioniert werden, ohne dass sich die Muslime verstellen und heucheln – ein islamisch inakzeptables Verhalten.«150 Da das salafistische Verständnis vom interreligiösen Dialog die Förderung der daʿwa und in der Konsequenz die Ausbreitung des Islam voraussetzt, befassen sich Vertreter des Salafismus in diesem Kontext nicht damit, Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte zwischen den Religionen zu thematisierten, die das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften und Kulturen stärken könnten. Vielmehr richten sie ihr Augenmerk auf die Widerlegung der Glaubensinhalte anderer Religionen, insbesondere des Christentums. Dies spiegelt sich in vielen ihrer online zur Verfügung gestellten Texte und Vorträge wider.151
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Zeitgenössische Rufe, S. 325f.; ähnlich bei al-ʿUthaimīn: Raʾy ash-shaikh M. Ibn ʿUthaimīn fī ttaqrīb, in: www.youtube.com (abg. am 22.06.2018). Vgl. ar-Rājiḥī: Veranstaltungen, die zur Vereinigung der Religionen aufrufen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 05.04.2019). Siehe weiterführend dazu Siddiqui: Christian-Muslim Dialogue, S. 75f. Vgl. z.B. Deutsche Islam Konferenz (DIK): Projektförderung zum interreligiösen Dialog, in: deutsche-islam-konferenz.de (abg. am 25.07.2019). Abu Muhammad: Dialog Chance, in: www.salaf.de (abg. am 05.04.2019), S. 7. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. z.B. www.way-to-allah.com/e-books/Isl&Chr.html(abg. am 03.04.2019); Vogel: Christentum; ders.: War Jesus Muslim, in: www.youtube.com (abg. am 05.04.2019).
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Diese ihre Art des Dialoges wird von ihnen als »theologischer Dialog« beschrieben. Sie unterscheide sich wesentlich vom im Westen weitverbreiteten Verständnis des Dialoges zwischen Christen und Muslimen.152 In ihrem Argumentationsstil folgen viele salafistische Prediger und Autoren der mittelalterlichen Polemik, die sich vorwiegend der Entkräftung christlicher Dogmen mit Hilfe koranischer und prophetischer Aussagen sowie rationaler Logik widmet. Als Vorbild gilt in diesem Zusammenhang Ibn Taimiyya. In seiner umfangreichen Schrift al-Jawāb al-ṣaḥīḥ li-man baddala dīn al-masīḥ (»Die korrekte Antwort an jene, die die Religion von Christus veränderten«) widerlegt er eine apologetische Schrift des christlichen Bischofs Būlus al-Rāhib al-Antākī (Paul von Antiochien, der Mönch), wobei er nicht nur mit Beweisen aus dem Koran und der Sunna, sondern auch rational dagegen argumentiert.153 Wiedl nimmt in diesem Zusammenhang an, dass Ibn Taimiyyas Text, der in einer konfliktbeladenen Zeit zwischen Islam und Christentum entstanden ist, die Haltung der heutigen Salafisten zum religiös Anderen und zum interreligiösen Dialog negativ beeinflusst habe. Dies sei aber nur ein Teil des allgemeinen Einflusses Ibn Taimiyyas auf den zeitgenössischen Salafismus.154 Während Vertreter des Salafismus ihre Ablehnung des interreligiösen Dialogs textlich begründen, legitimieren andere islamische Gelehrte, die sich für den interreligiösen Dialog aussprechen, ihre Position ebenfalls mit Belegen aus dem Koran und bezeichnen ihn als »Buch des Dialogs«. Hierbei wird u.a. folgende Koranstelle angeführt: »Sprich: ›O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Gott allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Gott.‹ Und wenn sie sich abwenden, so sprecht: ›Bezeugt, dass wir (Ihm) ergeben sind.‹«155 Gelehrte des islamistischen Spektrums, wie etwa al-Qaradawi, erachten den Dialog zwischen den Religionen als Instrument des Friedens, gleichwohl auch als Mittel der daʿwa. »Wir Muslime sind gefordert, in Dialog mit dem Anderen zu treten. Das ist eine unserer daʿwa-Methoden.«156 Koranverse, die zum Verbieten interreligiöser Dialoge und Begegnungen herangezogen werden, werden in den Kontext des siebten Jahrhunderts eingeordnet. Interreligiöse Aktivitäten, die das friedliche Zusammenleben fördern, werden für erlaubt erklärt. Auch jene von Nichtmuslimen initiierten interreligiösen Begegnungen, in deren Rahmen theologische, po152 153 154 155 156
Vgl. Klinkhammer: Der Dialog mit Muslimen, S. 40f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 322. Vgl. Ibn Taimiyya: al-Jawāb aṣ-ṣaḥīḥ, S. 29ff. Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 321. Koran 3:64. Für Näheres dazu u.a. Siddiqui: Christian-Muslim Dialogue, passim; El-Wereny: Interreligiöser Dialog, S. 62f. al-Qaradawi: Ḥiwār al-adyān, in: www.aljazeera.net (abg. am 25.07.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
litische oder soziale Fragen thematisiert werden, werden befürwortet. Jene Befürworter sehen den interreligiösen Dialog nicht als Wettstreit zwischen den Religionen, sondern als Gelegenheit, ein besseres Verständnis voneinander zu gewinnen, Vorurteile und Ängste abzubauen und gemeinsam für ein besseres Miteinander zu arbeiten ‒ nicht zuletzt aber auch als Chance, ein positives Bild über den Islam zu vermitteln und die daʿwa-Arbeit voranzutreiben. Den interreligiösen Dialog sehen sie als notwendig an, weil die Welt heute zu einem kleinen Dorf zusammengerückt sei, d.h., die Menschen seien dichter miteinander vernetzt als jemals zuvor. Es sei daher unabdingbar, dass die »Dorfbewohner« zugunsten ihrer gemeinsamen Interessen zusammenarbeiten und für diesen Zweck nach Gemeinsamkeiten suchen. Für einen solchen erfolgversprechenden Dialog erarbeiten Gelehrte wie al-Qaradawi einige Prämissen: Zunächst solle nach Gemeinsamkeiten gesucht werden. Heikle Streitfragen hingegen, insbesondere theologischer Art, sollten verschoben bzw. nicht in den Vordergrund gestellt und nur von Fachleuten diskutiert werden. Beide Dialogparteien sollten sich mit den eigenen Glaubensvorstellungen sowie historischen Bezugssituationen sachlich und kritisch auseinandersetzen. Zudem hätten sich beide Seiten als gleichberechtigte Dialogpartner zu betrachten. Dies sei die Basis dafür, der jeweils anderen Seite zuzuhören, sich zu verständigen und den anderen zu respektieren. Gemeinsame Grundwerte wie Toleranz, Respekt und Anerkennung des religiös Anderen werden in diesem Kontext hervorgehoben. Die Folge wäre eine friedliche Koexistenz.157 Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, warum Salafisten bzw. salafistisch gesinnte Prediger überhaupt in nichtmuslimischen Gesellschaften leben, wenn sie doch eine solch distanzierende bis feindliche Haltung gegenüber nichtmuslimischen Mitbürgern hegen und propagieren. Dieser Frage geht folgender Abschnitt nach.
2.2.4
Warum überhaupt unter »Ungläubigen« leben?
Hinsichtlich der Frage, ob Muslime in nichtislamischen Ländern leben dürften, vertreten Salafisten grundsätzlich eine territoriale Dichotomie: Es gebe ein »Gebiet des Islam« (dār al-islām) und ein »Gebiet des Unglaubens« (dār al-kufr) bzw. ein »Gebiet des Krieges« (dār al-ḥarb): Während ersteres jenes Territorium umfasst, welches unter muslimischer Herrschaft steht und in dem in Familie und Gesellschaft nach den Regelungen der Scharia gelebt wird (auch wenn es einige Bewohner nichtislamischen Glaubens bzw. Schutzbefohlene (ahl adh-dhimma) gibt), bezeichnet letzteres alle anderen Gebiete der Welt, in denen der Islam nicht Staatsreligion ist und die Scharia nicht die Grundlage der Staats- und Gesellschaftsordnung bildet, sondern nach von Menschen gemachten Gesetzen regiert wird. Das heißt, 157
Siehe ausführlich dazu ebd.; El-Wereny: Interreligiöser Dialog, S. 63f.
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die Anwendung der Scharia in ihrem holistischen Anspruch ist aus salafistischer Perspektive der Prüfstein für die Anerkennung eines Staates als islamisch. Eine weitere Kategorie, die in diese Debatte eingebracht wird, ist dār al-ʿahd (»Gebiet des Bündnisses«) bzw. dār aṣ-ṣulḥ (»Gebiet des Friedensschlusses«); gemeint sind jene nichtislamischen Länder, mit denen ein Friedensabkommen besteht.158 Wenngleich diese Konzepte weder auf den Koran noch auf die Sunna zurückgehen, sondern vielmehr von klassischen Gelehrten des achten Jahrhunderts kreiert wurden, nehmen sie in der salafistischen Weltanschauung einen zentralen Platz ein. Obwohl jene Gelehrte diese Termini aus ihrer konkreten historischen Situation heraus entwickelten und als Kriterium für die Erstellung ortsbezogener Fatwas und Lehrmeinungen verwendeten, finden sie bis heute immer noch Anwendung, vor allem von salafistisch geprägten Gelehrten.159 So meinen die meisten zeitgenössischen Gelehrten des Salafismus, dass es generell nicht wünschenswert sei, im »Gebiet des Unglaubens« unter nichtislamischer Herrschaft zu leben. Grundsätzlich sei es Muslimen nicht gestattet, sich dort aufzuhalten. Im Koran heiße es: »Diejenigen, die Unrecht getan haben und in Schmach starben, werden von den Engeln gefragt: ›Wie habt ihr gelebt?‹ Sie werden antworten: ›Wir haben unter der Herrschaft der Ungläubigen auf Erden unterjocht gelebt.‹ Darauf werden die Engel sagen: ›War denn Gottes Erde nicht weitläufig genug, so dass ihr hättet auswandern können?‹ Die Hölle wird ihre Heimstätte werden. Welch schlimmes Ende!«160 Zudem habe der Prophet gesagt: »Ich sage mich von jedem Muslim los, der unter den Ungläubigen lebt.« Begründet wird diese Grundhaltung darüber hinaus damit, dass Muslime in nichtislamischen Ländern der fitna (hier dt.: Verfallen in die Sünde wie unerlaubten Geschlechtsverkehr, Drogen etc.) ausgesetzt seien, da dort »[…] alles Sittenwidrige legitimiert wurde und durch Gesetze geschützt wird. Ein Muslim sollte sich daher nicht selbst diesem Übel und dieser Versuchung aussetzen.«161 Ferner würde der dauerhafte Verbleib von Muslimen in nichtislamischen
Vgl. Ibn Baz: Ḥukm iqāmat al-muslim, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 06.04.2019); al-Faqīh: Shurūṭ iʿtibār, in: www.islamweb.net (abg. am 05.05.2019); Abu Yunus: Voraussetzungen, in: www.basseera.de (abg. am 21.01.2019). Im Gegensatz zum Mainstream-Salafismus teilen dschihadistische Salafisten die Welt in zwei Teile ein: einen, in dem der Islam herrsche, und einen, in dem Krieg geführt werden solle, weil dort der Islam noch nicht herrsche. Auf Grundlage dieser dualistischen Logik erachten sie den Dschihad als Pflicht eines jeden Muslim. 159 Vgl. für mehr dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 37f. 160 Koran 4:97. Weiterführend dazu: Abu Yunus: Ihm ist es möglich, in: www.basseera.de (abg. am 09.04.2019). 161 Für Näheres Abu Yunus: Ihm ist es möglich, in: www.basseera.de (abg. am 09.04.2019); Ibn Hādī: Bedingungen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 09.04.2019). 158
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Ländern die islamische Welt schwächen, weswegen der Prophet, wie eben erwähnt, davor gewarnt habe.162 Folgerichtig wird Muslimen, die in nichtislamischen Ländern leben, auferlegt, in islamisch beherrschte Territorien auszuwandern (hijra).163 Sie sollten auch aus islamisch geprägten Ländern, in denen die Scharia nicht über das gesamte Gesellschafts- und Staatssystem bestimmt, auswandern und mit ihrer Religion in ein islamisches Gebiet flüchten, wo sie die Scharia vollumfänglich ausleben und all ihren Vorschriften unbehelligt nachkommen könnten. Muslime in islamischen Gesellschaften hätten ihren muslimischen Geschwistern »aus diesen Gebieten des Unglaubens« herauszuhelfen. Wer aber nicht auswandern könne, der sei entschuldigt. In Sure 4, Vers 98 heiße es: »Ausgenommen davon [von der Auswanderung] sind die unterdrückten Männer, Frauen und Kinder, die über keinerlei Möglichkeit verfügen und keinen Ausweg finden. Diese sind es, denen Gott vergeben möge […].«164 Darunter fallen auch jene Muslime, die unter bestimmten Umständen, wie etwa aufgrund eines Krieges oder politischer Verfolgung, ihr Land verlassen müssten und denen zugleich kein Asyl in einem islamischen Land gewährt werde. Ausgenommen seien ebenfalls jene Muslime, die sich dort zum Zwecke der daʿwa, d.h. der Missionierung und Verbreitung der Religion des Islam aufhalten würden. Andernfalls wird Muslimen in nichtislamischen Ländern auferlegt, aus dem Land des »Unglaubens« in ein islamisches Land auszuwandern.165 Das heißt, Muslime dürften nur in begründeten Ausnahmefällen in nichtislamischen Gesellschaften leben: unter der Bedingung, dass sie die daʿwa-Arbeit vorantreiben, keinen Verlust ihrer Religion befürchten müssten bzw. ihre Religion dort uneingeschränkt ausüben könnten; ansonsten sollten sie ins Gebiet des Islam emigrieren. Ähnlich betrachtet Realität Islam die Dauerpräsenz von Muslimen in westlichen Ländern als legitim, weil sie die »elementaren Verpflichtungen« des Islam dort praktizieren könnten. Sollte die Erfüllung religiöser Pflichten, wie etwa das Gebet
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Vgl. Abu Yunus: Ihm ist es möglich, in: www.basseera.de (abg. am 09.04.2019). Unter Auswanderung versteht man nicht nur, aus dem Land des Unglaubens in ein Land des Islam auszuwandern, wie es die ersten Muslime von Mekka nach Medina taten, sie kann vielmehr auch heißen, von einem Land des Unglaubens in ein anderes Land des Unglaubens auszuwandern, wo weniger Gefahr für die Muslime besteht, so wie einige der ersten Muslime auf Befehl des Propheten von Mekka nach Abessinien (Äthiopien) auswanderten. Ausführlich dazu siehe das Ständige Komitee: Wann Hijrah (Auswanderung) verpflichtend ist, in: www.islamfatwa.de (abg. am 09.04.2019). 164 Ibn Hādī: Bedingungen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 08.04.2019). 165 Vgl. Ibn Baz: Fatāwā l-lajna, Bd. 2, S. 69. Siehe auch Ibn Baz u.a.: Staatsbürgerschaft eines nichtmuslimischen (kuffar) Landes, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019); Das Ständige Komitee: Wann Hijrah (Auswanderung) verpflichtend ist, in: www.islamfatwa.de (abg. am 09.04.2019); al-Munajjid: Ruling on obtaining nationality, in: www.islamqa.info (abg. am 02.04.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
zur vorgegebenen Zeit, das Tragen des Kopftuches für Frauen oder das Fasten, behindert bzw. beschränkt werden, womit der Verlust der islamischen Identität einherginge, so sei die Auswanderung in ein anderes Land, in dem die Praktizierung islamischer Vorschriften uneingeschränkt möglich ist, eine Pflicht (farḍ).166 Im Unterschied zu anderen Webportalen spricht Realität Islam das Thema Einwanderung und Integration konkreter an und kritisiert dabei wiederholt die Integrationspolitik Deutschlands: Sie ziele darauf ab, Muslime von ihrer Religion abzutrennen. Von Muslimen werde erwartet, dass sie sich zu den westlichen Werten, wie Freiheit, Säkularismus, sexueller Freizügigkeit, gleichgeschlechtlicher Ehe usw. uneingeschränkt bekennen. Diese Art von Integration sei eine »Einbahnstraße«. Es berücksichtige die Muslime und ihre Werte nicht und fordere ausschließlich die Assimilation der Muslime ein. Dies sei anhand von vielen politischen und gerichtlichen Entscheidungen eindeutig erkennbar. Die gegenwärtige Integrationspolitik fordere nicht nur die Einhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern darüber hinaus auch, die westliche Lebensweise als ultimative Art der Lebensführung anzuerkennen. Auch wenn in diesem Zusammenhang konkrete Beispiele fehlen, meinen Vertreter der Realität Islam, dass das Handeln nach den in Deutschland vorherrschenden Traditionen das »(zumindest partielle) Ablehnen des islamischen Handlungsmaßstabs von ḥalāl (Statthaftem) und ḥarām (Verbotenem)« mit sich bringe, was in letzter Konsequenz zum Verlust der islamischen Identität führe. So fordere die gesellschaftliche Integration die Muslime auf, es in ihren Handlungen den Nichtmuslimen gleichzutun. Wenn mit Integration eine solche »vollständige Übernahme der hiesigen Werte, Denkstrukturen und Gepflogenheiten« und Aufgabe der eigenen Werte gemeint sei, sei dies »keine Option für die Muslime in Deutschland […].«167 Für Repräsentanten der Realität Islam impliziert die Integration die Einhaltung der Gesetze und der öffentlichen Ordnung, den Erwerb der deutschen Sprache und die Partizipation am Arbeitsmarkt.168 Der Integrationsforderung nachzukommen, wie sie von der deutschen Integrationspolitik formuliert sei, kommt für Realität Islam nicht infrage, da es bedeuten würde, gegen Gottes Willen und Gesetze zu handeln.169 Die nach ihrer Darstellung in eklatantem Widerspruch zu den islamischen Werten stehenden westlichen bzw. deutschen Konventionen würden den Muslimen aufgezwungen, während auf der anderen Seite ihre islamischen Überzeugungen
166 Vgl. ausführlich dazu Realität Islam: Gemeinsam, S. 40f. Diese Position wird ebenfalls mit dem bereits erwähnten Koranvers 4:97 gerechtfertigt. Hizb-ut-Tahrir vertritt eine ähnliche Position. Siehe für mehr dazu: Hizb-ut-Tahrir in Europa: Die Auswanderung, in: www.kalifat.com, (abg. am 08.05.2019), insb. S. 17ff. 167 Beide Zitate in Realität Islam: Das richtige Argument, S. 43f. 168 Vgl. ebd., S. 43f. 169 Vgl. ebd., S. 46.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
und Normen ständig verteufelt und stigmatisiert würden.170 Für Vertreter dieser Site hat der Islam eigene spezifische Werte und Grundeinstellungen, die von allen Muslimen angeeignet und eingehalten werden müssten. Führe die angestrebte Integration in Deutschland zum Verlust dieser Grundeinstellungen oder auch nur eines Teils davon, so dürfe dieser Integrationsforderung seitens der Muslime keineswegs nachgekommen werden. Im Koran heiße es: »Glaubt ihr an einen Teil des Buches und leugnet ihr einen anderen? Für diejenigen unter euch, die solches tun, gibt es keine andere Vergeltung außer Schande in diesem Leben; und am Tage der Auferstehung werden sie der strengsten Bestrafung zugeführt. Und Allah ist nicht achtlos gegenüber dem, was ihr tut.«171 Folgerichtig wird Realität Islam von Sicherheitsbehörden Deutschlands vorgeworfen, der Integration entgegenzuwirken. Sie propagiere in ihren Online-Auftritten, dass die freie Religionsausübung in Deutschland eingeschränkt sei. Auch sei in ihren Schriften die Rede von einer ›Dämonisierung und Kriminalisierung der Muslime‹ sowie von einer ›islamfeindlichen Atmosphäre in der Gesellschaft‹.172
2.2.5
Schiiten als Häretiker
Salafisten zählen Muslime schiitischer Glaubensrichtung zu den als ungläubig gebrandmarkten Nichtmuslimen wie Juden, Christen, Polytheisten, Atheisten und Bahai. Begründet wird diese Position mit den aus salafistischer Sicht abweichenden Ritualen und Praktiken der Schia. Aufgrund ihrer Glaubensinhalte sahen und sehen sich Schiiten seit der Anfangszeit des Islam von puristischer sunnitischer Seite immer wieder dem Vorwurf der Häresie ausgesetzt. So wird schiitischen Muslimen vorgeworfen, die Ehefrau des Propheten ʿĀʾisha (gest. 678), verleumdet zu haben. Ferner hätten sie die ersten muslimischen Kalifen Abū Bakr (gest. 634), ʿUmar b. al-Khaṭṭāb (gest. 644) sowie viele andere Prophetengefährten zu Ungläubigen (kuffār) erklärt.173 Weitere von salafistischen Gelehrten erhobene Vorwürfe betreffen den Glauben der Zwölferschiiten an die Unfehlbarkeit ihrer zwölf Imame,174 die Behauptung, die ersten drei Kalifen seien widerrechtlich an die Macht 170 Vgl. Realität Islam: Gemeinsam, S. 27. 171 Koran 2:85. Für mehr dazu Realität Islam: Das richtige Argument, S. 44ff. 172 Vgl. z.B. RP Online: Reul warnt vor der Vereinigung »Realität Islam«, in: www.rp-online.de (abg. am 12.06.2019). 173 Vgl. Ibn Baz: Hal ash-shīʿa kuffār?, in: www.binbaz.org.sa (abg. am 26.07.2019); al-Fauzān: Die Aussage, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019); ähnlich: al-Munajjid: Etwas von dem zu essen; ders.: Wann bricht der Fastende sein Fasten, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 09.04.2019); al-Faqīh: Sekten und Denkschulen, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 22.07.2018). Für Näheres dazu Ourghi: Schiiten als Ungläubige, S. 279-291. 174 Schiiten glauben, dass alle rechtmäßigen Nachfolger des Propheten, die sog. Imame, aus der Familie des Propheten (»ahl al-bayt«, wörtl.: Angehörige des Hauses) stammen und sehen in ihnen unfehlbare spirituelle und politische Autoritäten und Führer eines Imamats. Sunniten hingegen sprechen nicht von einem Imamat, sondern von einem Kalifat und betrachten
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Radikalisierung im Cyberspace
gekommen, die Ablehnung weiter Teile der Sunna und die Erlaubnis der Zeitehe.175 Auch der Gräberkult und die Verehrung von Heiligen, wie im schiitischen Islam praktiziert, sind nach salafistischer Glaubensdoktrin eine Form der Beigesellung zu Gott (shirk) und stünden somit eindeutig in Widerspruch zum tauḥīd-Konzept. Auch das, was die Schiiten während ihres ʿAshūra-Festes176 an Ritualen durchführen, wie teils blutige Selbstgeißelungen und auch die speziellen Essenszubereitungen zu dieser Zeit, sei sämtlich als erfundene, verwerfliche Neuerungen (bidaʿ, Sg. bidʿa) einzustufen. An dieser Feierlichkeit teilzunehmen oder dabei zu helfen, sei nicht erlaubt, da man sich und andere dadurch der Sünde zuführe.177 Salafisten folgen in ihrem Argumentationsstil Muhammad b. ʿAbd al-Wahhābs Standpunkt gegenüber den Schiiten. Dieser hat bereits im 18. Jahrhundert Anhänger der Schia zu Ungläubigen erklärt und sie als schlimmer als Juden und Christen denunziert; dies mit der Begründung, sie würden den Islam von innen korrumpieren.178 Aufbauend darauf, und unter Rückgriff auf das Grundprinzip der Loyalität zu Muslimen und Lossagung gegenüber Nichtmuslimen, wird Muslimen jegliche Form von Kommunikation und Interaktion mit Schiiten untersagt. »Allah, Der Allmächtig und Große, verpflichtete uns zur Baraa’a (Lossagung) von den Ahl alDalaala (Leuten der Irreleitung).«179 In diesem Sinne wird auf sozialer Ebene die Ehe zwischen einer sunnitischen Muslimin und einem Schiiten für unzulässig erklärt. Dieses Verbot wird erneut mit den als häretisch und irreführend diffamierten Glaubensgrundsätzen der Schia gerechtfertigt. So wird Anhängern der Schia vorgeworfen, Bittgebete zu den ahl al-bayt (»Leuten des Hauses«, d.h. der Familie des Propheten Muhammad) zu sprechen und sie um Hilfe zu ersuchen, was ebenfalls eine Form des shirk darstelle.180 Mit der gleichen Begründung wird es darüber Kalifen (Stellvertreter des Propheten) als fehlbar. Der Begriff »Imam« bezeichnet im Islam üblicherweise einen Vorbeter, im Schiitentum jedoch auch einen als unfehlbar betrachteten spirituellen und politischen Führer. Für Näheres dazu statt vieler Amirpur: Der schiitische Islam, S. 56-64. 175 Vgl. weiterführend dazu Zaheer: Schiiten und Sunniten, in: www.basseera.de (abg. am 08.04.2019). Ähnlich: Das Ständige Komitee: Schiitische/Schiah Sekten, in: www.islamfatwa.de(abg. am 08.04.2019); al-Munajjid: The status of the imams, in: www.islamqa.info/en (abg. am 08.04.2019). 176 ʿAshūra ist ein Trauerfest im schiitischen Islam, das am 10. Muharram zur Erinnerung an Hussains Martyrium bei Kerbela stattfindet. Vgl. weiterführend dazu z.B. Amirpur: Der schiitische Islam, S. 79-83. 177 Vgl. al-Munajjid: Etwas von dem zu essen, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 09.04.2019); Ibn Taimiyya: An ʿAschura, in: www.islamfatwa.de (abg. am 22.07.2018); Ibn Baz: Verbreitete Bidah-Handlungen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 08.04.2019). 178 Vgl. weiterführend dazu Steinberg: Dschihadi-Salafism, S. 112f.; Ourghi: Schiiten als Ungläubige, S. 279ff. 179 al-Fauzān: Die Aussage, in: www.islamfatwa.de (abg. am 02.04.2019). 180 Vgl. Das Ständige Komitee: Darf sunnitische Frau einen Schiah-Mann heiraten?, in: www.islamqa.info/en (abg. am 18.04.2019); al-Munajjid: A Christian woman, in: www.islamqa.in-
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
hinaus für unzulässig erklärt, hinter Muslimen schiitischen Glaubens zu beten. Schiiten werden hierbei eindeutig als mushrikūn (Sg. mushrik), also als solche diskreditiert, die Gott andere Gottheiten beigesellten. Al-Munajjid zitiert in diesem Kontext Ibn Baz‘ Fatwa, in der es heißt: »Es ist nicht zulässig hinter den Muschrikin zu beten. Zu ihnen zählen auch diejenigen, die Hilfe von anderen außer Allah suchen und Unterstützung von ihnen verlangen. Denn das Hilfeersuchen von irgendeinem außer Allah, wie den Toten, den Götzen, den Jinn und anderen ist eine Art des Schirk […].«181 Schiitische Muslime als Brüder im Islam zu benennen, sei daher eine Sünde. Aufgrund ihrer Glaubensdoktrin und der Verleumdung von Prophetengefährten, so die salafistische Argumentation, »sind [sie] keineswegs unsere Brüder […]. Vielmehr sind sie die Brüder des Schaitan (Teufels). Wer solche Aussagen tätigt (dass sie seine Brüder sind), muss Reue (Tauba) vor Allah machen und Ihn um Vergebung bitten.«182 Nicht nur Schiiten, sondern auch jene Muslime, die die salafistische Weltanschauung nicht teilen, wie etwa Mystiker oder säkular orientierte Muslime werden in salafistischen Diskursen heftig angegangen, nicht selten gar zu »Ungläubigen« (kuffār) erklärt.183 Salafistische Prediger Deutschlands definieren Schiiten ebenfalls als ahl al-bidʿa (»Leute der unzulässigen Neuerung«) und erachten sie als Zielgruppe ihrer daʿwa. Wie Wiedl darstellt, sind Begegnungen und Auseinandersetzungen mit ihnen sowie auch mit den Anhängern anderer Glaubensgemeinschaften wie der Ahmadiyya von Polemik und verbalen Angriffen gekennzeichnet, die sogar in körperliche Gewalt umschlagen könnten.184 Folgerichtig stehen viele Salafisten dem innerislamischen Dialog zurückhaltend gegenüber. Den wenigen Gelehrten der salafistischen Szene, die den Dialog mit andersdenkenden Muslimen befürworten, geht es primär auch nicht darum, Gemeinsamkeiten bzw. Differenzen zu entdecken und zu diskutieren, um eine Basis für Toleranz im Sinne einer gelebten Vielfalt und friedlichen Koexistenz zu schaffen, vielmehr sind sie in der Regel daran interessiert, die – aus ihrer Sicht – falschen Glaubensvorstellungen der anderen Dialogpartei zu korrigieren bzw.
fo/en (abg. am 18.04.2019); al-Faqīh: Das Familienleben im Islām, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 13.07.2018). Weiterführend dazu Ourghi: Schiiten als Ungläubige, S. 279-291. 181 al-Munajjid: Das Urteil hinter einem Schiiten zu beten, in: www.islamhouse.com/de (abg. am 22.05.2019), S. 3; ders.: Ruling on praying, in: www.islamqa.info/en (abg. am 08.04.2019). 182 Das Ständige Komitee: Schiitische/Schiah Sekten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 08.04.2019). 183 Vgl. z.B. an-Najmi: Wird Saddam Hussein zum Kafir, in: www.islamfatwa.de (abg. am 08.04.2019); al-Fauzān: Ist Herrscher, in: www.islamfatwa.de (abg. am 14.07.2019); alMunajjid: Geht der Muslim ins Höllenfeuer, wenn er Alkohol trinkt?, in: www.islamqa.info/ ge (abg. am 13.07.2018). 184 Vgl. Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 301.
177
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Radikalisierung im Cyberspace
oft zu diskreditieren. Dabei präsentieren sie ihre Lehre als die einzige wahre. Unter intra- sowie auch interreligiösem Dialog verstehen Salafisten demnach eher ein Streitgespräch, in dessen Rahmen die Dialogbeteiligten ihre Argumente bzw. Gegenargumente liefern sollten, um die Wahrheit der einen Partei bzw. das Irren der anderen auszudiskutieren. So ruft al-ʿUthaimīn bspw. Muslime dazu auf, Meinungsverschiedenheiten mittels einer Suche nach Antworten zu klären, deklariert dabei aber den Koran und die Sunna des Propheten Muhammad als alleinige Entscheidungskriterien für die Ermittlung der Wahrheit – und erkennt somit die Sunna der Schiiten nicht an, welche die Aussagen der Zwölf Imame als Bestandteil davon ansehen. Al-ʿUthaimīn untermauert seine Position mit folgendem Koranvers: »Und wenn ihr über eine Sache uneins seid, dann führt sie auf Gott und den Gesandten zurück, wenn ihr an Gott und den Jüngsten Tag glaubt. So ist es am besten und nimmt am ehesten einen guten Ausgang.«185 In Anbetracht dessen beschreiben Islamwissenschaftler wie Abu al-Louz den Standpunkt der Salafisten zum Dialog zu Recht als geistig unflexibel.186 Ihnen wird eine einseitige Sichtweise und fehlendes Wissen attestiert: über unterschiedliche Methoden der Koraninterpretation sowie über die geschichtlichen Entwicklungen und die damit einhergehenden unterschiedlichen Lehren anderer Strömungen innerhalb des Islam. Die salafistische, auf normativ aufgeladenen konfessionellen Differenzen beharrende Haltung führt nach Ourghi nicht nur zum emphatischen verbalen takfīr, wie oben dargestellt, sondern auch zur Anwendung von Gewalt gegen die andere konfessionelle Gruppe.187 Autoren des islamistischen Spektrums vertreten indessen eine versöhnende bzw. tolerante Haltung gegenüber anderen Strömungen im Islam wie den Schiiten. Sie dulden im Unterschied zu salafistischer Position ein größeres Maß an ideologischen und rituellen Differenzen zwischen sunnitischer und schiitischer Lehre. Religiöse Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten beträfen nach ihrer Darstellung nur die Zweige der Religion, nicht die zentralen Glaubensgrundlagen (uṣūl ad-dīn). Dabei geht es ihnen in erster Linie darum, die islamische Gemeinschaft zu stärken. Das Trachten danach, eine Einheit in der muslimischen Gemeinschaft (umma) wiederherzustellen, bildet das Leitmotiv in ihrem Plädoyer für einen innerislamischen Dialog. Die angestrebte Einheit, die al-Qaradawi, um nur ein Beispiel zu nennen, als eine Pflicht betrachtet, könne nur durch Annäherung, Zusammenhalt und Solidarität untereinander gelingen. Sie sei unerlässlich, vor allem um gemeinsam in der Lage zu sein, dem europäischen Kolonialismus und dessen Herausforderungen begegnen zu können, der nahezu alle Länder der islamischen
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Koran 4:59. Ibn Baz/al-Fauzān: Rechtsgutachten, in: www.islam-forum.info (abg. am 15.07.2018), S. 15. 186 Siehe z.B. Abu al-Louz: New Salafist Dogmas, S. 51-66. 187 Ausführlich dazu Ourghi: Schiiten als Ungläubige, S. 282.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Welt unterjoche und für deren Unterentwicklung er heute noch verantwortlich sei. Demnach wird die Einmischung fremder Mächte, allen voran die USA, Europa und Russland, als einer der zentralen Gründe für Spaltungen und Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten dargestellt.188
2.2.6
Zwischenfazit
Als Zwischenergebnis kann an dieser Stelle Folgendes festgehalten werden: Salafisten bzw. die hier untersuchten Webportale erheben den exklusivistischen Wahrheitsanspruch, das einzig wahre und authentische Verständnis des Islam zu erkennen und zu repräsentieren. In ihrem Standpunkt zu anderen Religionen postulieren sie, es gebe nur eine wahre Religion, den Islam. Alle anderen Religionen seien irregegangen und daher durch den Islam abrogiert worden. Als die »einzig wahren Muslime« beanspruchen Salafisten für sich die Deutungshoheit über die islamische Religion. Im Umkehrschluss sind alle anderen islamischen Glaubensrichtungen »unwahr«. Daraus folgt, dass neben Nichtmuslimen auch alle Muslime, die ihre Ansichten nicht teilen, zurückgewiesen und nicht selten des Unglaubens bezichtigt werden. Argumentiert wird dabei mit koranischen und prophetischen Aussagen, die selektiv ausgesucht werden. Denn in den Quellentexten lässt sich keine klare einheitliche Haltung gegenüber dem religiös Anderen festlegen. Entsprechende Aussagen dort liefern eher ein ambivalentes Bild des Verhältnisses zu anderen Religionen. Sie wurden nämlich in unterschiedlichen Kontexten verlautbart und beschreiben unterschiedliche Situationen, die wiederum unterschiedliche Optionen im Umgang mit dem religiös Anderen anbieten: dialogisch bzw. daʿwa-bezogen, inklusivistisch, aber auch exklusivistisch.189 Religiöse Texte, die das Faktum religiöser Vielfalt und somit interreligiöser Koexistenz akzeptierend konstatieren, wie etwa die Koranverse 10:99 und 11:118, finden bei salafistischen Autoritäten hingegen keine Beachtung. Vielmehr räumen sie Referenztexten, die ihre exklusivistische Position zu begründen scheinen, mehr Platz ein. Auch wenn sich in den Quellentexten entsprechende Stellen finden lassen, sollten diese aufgrund ihrer kontextbedingten Offenbarung in ihrem damaligen Kontext gelesen und verortet werden. Gestützt auf ihre exklusivistische Position propagieren Salafisten eine distanzierende bis feindliche Haltung gegenüber dem religiös Anderen. In diesem Sinne lehnen sie z.B. den Dialog mit anderen Religionen ab. Dieser verfolge nämlich nur das Ziel, die Muslime von ihrem Glauben abzubringen. Die strenge Aufteilung der Welt in ein »Gebiet des Glaubens« und ein »Gebiet des Unglaubens« und somit der Menschen in »Gläubige« und »Ungläubige« dient Salafisten darüber hinaus 188 Vgl. für Näheres dazu al-Qaradawi: Mabādiʾ, passim; El-Wereny: Innerislamischer Dialog, S. 70ff. 189 Siehe weiterführend dazu statt vieler Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit, S. 200-203.
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Radikalisierung im Cyberspace
dazu, sich noch weiter gegenüber dem religiös Anderen bzw. anderen Glaubensvorstellungen abzugrenzen. Sie bildet die Basis für Distanzierung, Intoleranz und Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden. Auch das walāʾ und barāʾ-Prinzip, das Salafisten bei der Rechtfertigung ihrer ablehnenden Haltung zu Rechtsstaaten und demokratischen Systemen heranziehen, wird von ihnen ins Spiel gebracht, um eine umfassende Distanzierung ihrer Glaubensbrüder von Nichtmuslimen einzufordern. Loyalität gebühre nur Gott, dem Propheten und den Glaubensbrüdern und -schwestern; von allen anderen solle man sich lossagen. Damit geht einher, dass Muslimen alle sozialen Interaktionen mit Nichtmuslimen islamrechtlich untersagt werden. Der Kontakt werde nur dann gestattet, wenn er der Missionierung diene, was den hohen Stellenwert der daʿwa bei Salafisten zeigt. Die Frage, wie dies vonstattengehen soll, wenn doch immer wieder betont wird, dass interreligiöse Aktivitäten nicht stattfinden dürften und als »irreführende Handlungen« gälten, bleibt offen. Das heißt, ein Dialog darf nur im Sinne der daʿwa-Arbeit erfolgen. Dementsprechend wird die Partizipation von Muslimen an der daʿwa von vielen Gelehrten salafistischer wie islamistischer Prägung als eine Legitimation für ihren Aufenthalt in nichtislamischen Ländern angeführt.190 Gleiches wird gefordert für den Umgang mit Schiiten bzw. Andersdenkenden. Das Kernziel eines Dialogs müsse ausschließlich sein, »Ungläubige« und »irregeleitete Gruppen« vom Islam zu überzeugen. Eine solche Abwertung Andersdenkender kollidiert zum einen mit Grundwerten wie Toleranz und Vielfalt, die nicht nur in den islamischen Quellentexten Grundlagen haben, sondern auch durch die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierte Religionsfreiheit geschützt sind. Zum anderen stellt diese Haltung eine Barriere für die Integration von Muslimen dar. Das aufgrund der konstruierten Dichotomie zwischen »wahren Gläubigen« und »dem Rest der Welt«191 geschlossene Weltbild der Salafisten, welches sie entsprechend in der virtuellen Welt verbreiten und so zur Distanzierung gegenüber Nichtmuslimen aufrufen, könnte an Einfluss unter Muslimen in Deutschland gewinnen. Dies wiederum könnte deren Integration bzw. friedliches und kooperatives Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft durchaus erschweren. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb groß, weil salafistische Aussagen größtenteils auf der Basis von Fatwas, d.h. normativ, erfolgen und von religiösen Autoritäten ausgesprochen werden, welche eine nicht zu unterschätzende Anerkennung unter Muslimen weltweit genießen. Vielen Muslimen dienen solche Fatwas als Handlungsorientierung im Alltag. Auch der Mangel an Alternativen, im Sinne moderater und zeitgemäßer Fatwas bzw. Inhalte, begünstigt die Verbreitung bzw. Akzeptanz salafistischer Ansichten.
190 Vgl. für mehr dazu Wiedl: Daʿwa, z.B. S. 134ff. 191 Roy: Der islamische Weg, S. 51, 229f.; Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 178f.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Andere zeitgenössische Gelehrte des Islam bzw. liberale Muslime treten für ein toleranteres, pluralistisches und moderates Islamverständnis ein und sind in diesem Sinne bemüht, eine Theologie des Zusammenlebens zu etablieren, die auf die Stärkung von Gemeinsamkeiten hinarbeitet und einer friedlichen und kooperativen Koexistenz mit dem religiös Anderen dient. Sie treten für eine dialogische bzw. inklusivistische Lesart der Referenztexte ein und bedienen sich bei der Thematisierung problematischer Textstellen des Kontextualisierungsprinzips. In ihren einschlägigen Diskussionen räumen sie der Problematik der Dichotomie des dār alislām und dār al-ḥarb kaum Platz ein. Sie sind der Ansicht, dass diese dichotome Aufteilung der Welt nur noch historisch bedeutsam sei, eine Übertragung auf die Gegenwart aber letztlich jeglicher Grundlage in Koran und Sunna entbehre. Von vielen Gelehrten wird diese Dichotomie eher als nichtig betrachtet, insbesondere seit den 1950er Jahren, nachdem sich viele muslimische Zuwanderer in Europa und Nordamerika niedergelassen hatten. Auf sozialer Ebene wird zu einem kooperativen und solidarischen Zusammenleben und Zusammenwachsen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen aufgerufen. In diesem Sinne werden interreligiöse Aktivitäten, wie etwa Dialoge oder auch Feierlichkeiten unterstützt – einschließlich eines innerislamischen Dialogs. Als Argumente werden hier etwa die Ziele der Scharia (maqāṣid ash-sharīʿa), die Förderung des Wohls der Menschen etc., aber auch Koranverse und Prophetenaussprüche herangezogen. Vor allem wird die Koranstelle 60:8 als die »goldene Regel« für die Etablierung eines solidarischen Zusammenlebens angeführt: »Gott verbietet euch nicht, gegen diejenigen, die euch des Glaubens wegen nicht bekämpft und euch aus euren Häusern nicht vertrieben haben, gütig und gerecht zu sein. Gott liebt die Gerechten.«192
2.3 2.3.1
Die Stellung der Frau im Salafismus Geschlechterverhältnis
Auf den in der vorliegenden Studie untersuchten Webportalen sowie beinahe auf jeder salafistisch geprägten Internetseite ist Material zum Thema Frauen im Islam bzw. Geschlechterrollen zu finden. Dass Salafisten dem Thema soviel Platz und Aufmerksamkeit widmen, kann als Reaktion auf »westliche« Kritik an der Stellung der Frau im Islam verstanden werden. Nach der Anthropologin Saba Mahmood findet dieses Thema eine solche Beachtung, weil »westliche Massenmedien muslimische Frauen weiterhin als unvergleichbar stark durch unlösbare Ketten der religiösen und patriarchalischen Unterdrückung gebundene Personen darstellen.«193 192
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Vgl. statt vieler El-Wereny: Normenlehre, passim; Hilberath/Abdallah: Theologie des Zusammenlebens, passim, z.B. S. 17ff., 51ff.; Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit, S. 200-214; Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 47ff., 129ff. Im Originaltext heißt es: »The ongoing importance of feminist scholarship on women’s agency cannot be emphasized enough, especially when one remembers that Western pop-
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Auch wenn von Salafisten im Gegenzug versucht wird, den Islam als Beschützer der Frauenrechte darzustellen, indem sie einen Vergleich der Situation von Frauen auf der arabischen Halbinsel vor und nach dem Entstehen des Islam anstellen, der in puncto Stärkung der Frau positiv ausfällt, bleibt folgendes festzuhalten: Bei ihnen wird ein Frauenbild propagiert, das dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter entgegensteht. Eine Vielzahl von frauenbezogenen Fatwas und anderen Beiträgen begründet eine massive Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern. Dabei wird für die Wiederherstellung des traditionellen Familienrechtszustandes mit strenger Geschlechterrollenverteilung geworben. Frauen wird eine überkommene, den Männern untergeordnete Rolle zugewiesen, sei es in der Gesellschaft oder der Politik. Nach dem dort propagierten Frauenbild sind Männer und Frauen zwar vor Gott gleich viel wert, doch im Hinblick auf ihre Rollen im gesellschaftlichen und politischen Leben nicht gleichberechtigt. Eine häufig geäußerte Begründung ist die angeblich von Natur aus gegebene physische und psychische Ungleichheit von Mann und Frau. Sie seien in ihrer körperlichen und geistigen Verfassung verschieden und hätten daher unterschiedliche Aufgaben im Leben zu erfüllen.194 Einschlägige Fatwas, die die Geschlechter voneinander unterscheiden und die Freiheit der Frau einschränken, werden schon für Mädchen ab Beginn der Pubertät erteilt. Dies geschieht von der Überzeugung getragen, dass voreheliche und außereheliche Beziehungen verboten seien. Um solchen präventiv entgegenzuwirken, sei ein Kontakt zwischen Männern und Frauen außerhalb der Kernfamilie nicht ohne Aufsichtsperson erlaubt, da dies zu »Unzucht« (zinā) führen könne. Muslimischen Frauen sei daher verboten, alleine ohne eine männliche nahverwandte Aufsichtsperson (maḥram) zu verreisen. Denn sie liefen Gefahr, in Kontakt mit fremden Männern zu kommen und in der Konsequenz in die Versuchung der zinā zu geraten.195 Alltägliche Probleme resultieren aus diesem geschlechterungerechten Verständnis und stellen Frauen vor große Herausforderungen: Ihnen sei verboten, Passfotos anfertigen zu lassen, da das Gesicht ʿaura (»Blöße«, bzw. »ein zu verhüllender Teil des Körpers«) sei, oder Hosen zu tragen, da sie so Männer nachahmen würden. Sie dürften zudem weder Schuhe tragen, die wie Männerschuhe aussehen, noch
ular media continues to portray Muslim women as incomparably bound by the unbreakable chains of religious and patriarchal oppression.« Mahmood: Politics of Piety, S. 7; zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 386. 194 Vgl. z.B. Ibn Abdullah: Die Rolle der Frau im Islam, in: www.imauftragdesislam.com; Ibn Baz: Eine Frau, in: www.islamfatwa.de; al-Munajjid: Sie fragt nach den Frauenrechten, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 30.05.2018). 195 Vgl. al-ʿUthaimīn: Darf die Frau ohne mahram reisen, in: www.islamfatwa.de; al-Faqīh: Rechtsnorm für das Zusammensitzen einer Frau, in: www.islamweb.net/de (abgerufen am 24.04.2018).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Absatzschuhe, da sie so die »ungläubigen sittenlosen (schlechten) Frauen« nachahmen würden und die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zögen, was auch verboten sei.196 Auf gesellschaftspolitischer Ebene dürften Frauen keine Führungspositionen übernehmen. Denn es heiße im Koran: »Die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen wegen dessen, womit Gott die einen von ihnen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Besitz (für sie) ausgeben.«197 In einer prophetischen Überlieferung heiße es ferner: »Kein Volk wird jemals erfolgreich sein, welches eine Frau zu seinem Führer ernannt hat.«198 Auch das Zeugnis einer Frau gelte in einigen Bereichen nur soviel wie die Hälfte des Zeugnisses eines Mannes, so schreibe es der Koran vor.199 Es wird zwar von salafistischer Seite in diesem Zusammenhang versucht, dies auf bestimmte Fragen zu beschränken, und zwar solche, bei denen sich Frauen nicht auskennten; doch letztlich scheint die grundsätzliche Position salafistischer Gelehrter durch, dass Mann und Frau unterschiedlich einzustufen und zu behandeln seien: »Die Frau verfügt über ein starkes Gedächtnis in Angelegenheiten, die zu ihrer Welt gehören. Sie verfügt aber über ein schwaches Gedächtnis in finanziellen Angelegenheiten, da sie wenig damit zu tun hat. Dies bringt mit sich ein Defizit und einen Mangel an Erfahrung in diesem Bereich. Neben diesem Mangel ist sie im Gegensatz zu Männern überemotional.«200
2.3.2
Kleidungsvorschriften
Nach salafistischer Auffassung müssen Frauen weite, bodenlange Kleidung tragen. Ein Kopftuch, das die Haare und den Halsbereich vollständig verhüllt, ist das min-
196 Muslimische Gelehrte sind unterschiedlicher Meinung über die ʿaura einer Frau. Nach der Mehrheitsmeinung muslimischer Gelehrter sei die Blöße der Frau ihr ganzer Körper außer ihrem Gesicht und den Händen. Salafistische Autoren meinen hingegen, dass die Frau auch ihr Gesicht und ihre Hände zu bedecken habe. Vgl. al-Albānī: Darf eine Frau Absatz-/Stöckelschuhe tragen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 24.05.2018); Ibn Baz: Das (Gesichts-)Foto einer Frau, in: www.islamfatwa.de (abg. am 30.05.2018). 197 Koran 4:34. Ibn Abdullah: Die Rolle der Frau im Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 30.05.2019); Ibn Baz: Eine Frau, in: www.islamfatwa.de (abg. am 30.05.2019). 198 Vgl. z.B. Ibn Baz: Eine Frau, in: www.islamfatwa.de (abg. am 30.05.2019). 199 In diesem Zusammenhang wird die Koranstelle 2:282 angeführt: »Und lasst zwei Zeugen unter euren Männern es bezeugen, und wenn es keine zwei Männer gibt, dann [sollen es bezeugen] ein Mann und zwei Frauen. Siehe ausführlich dazu al-Faqīh: Shahādat al-marʾa, in: www.islamweb.net (abg. am 30.05.2018). 200 Ebd.; ähnlich: Ibn Abdullah: Die Rolle der Frau im Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 30.05.2019).
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deste, wobei das Tragen eines Niqabs (Vollverschleierung) präferiert wird.201 In unterschiedlichen Beiträgen macht die Website Islamfatwa.de z.B. das Niqab-Tragen sogar zur Pflicht. Die zentrale Argumentationsbasis bilden dabei textliche Belege aus dem Koran und der Sunna. Im Koran heiße es bspw.: »Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist. Und sie sollen ihre Kopftücher auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen.«202 Zudem heiße es in 33:59: »O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das ist eher geeignet, dass sie erkannt und so nicht belästigt werden.«203 Auch zahlreiche Überlieferungen bestätigen nach salafistischer Lesart die Niqab-Pflicht. Über ʿĀʾisha wird beispielhaft berichtet, dass sie und andere Frauen des Propheten ihre Tücher vom Kopf herunter auf ihr Gesicht nehmen sollten, als sie in Begleitung des Propheten auf einer Wallfahrt waren und ihnen Reisende entgegenkamen.204 Ohne den historischen Hintergrund dieser Aussagen oder den Authentizitätsgrad der prophetischen Aussage zu hinterfragen, werden diese und andere Überlieferungen in notorisch an der Buchstabenebene anhaftenden Weise hingenommen und ihre ebensolche praktische Umsetzung auch von Musliminnen in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften angemahnt. Nur unter bestimmten Umständen, wie etwa bei ärztlicher Behandlung oder im Falle der Zeugenschaft, wird die Erlaubnis erteilt, den Niqab abzusetzen.205 Andere Rechtsbeweise, die nur das Kopftuch-Tragen einfordern und es somit erlauben, das Gesicht und die Hände zu zeigen, werden als aufgehoben bzw. abrogiert erachtet. »Es sollte klargestellt werden, das Beweise, welche die Pflicht, Gesicht und
201 Vgl. Ibn Abdullah: Die Rolle der Frau im Islam; ders.: Die Frau im Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 30.05.2019); Abul Baraa: Über den Niqab, in: www.youtube.de (abg. am 13.06.2019). 202 Koran 24:31, zitiert nach: Das Ständige Komitee: Darlegung über die Pflicht des Niqab, in: www.islamfatwa.de (abg. am 07.05.2018). Sieh auch al-Munajjid: Regeln, die speziell für die Frauen, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 07.05.2018). 203 Vgl. Das Ständige Komitee: Darf tugendhafte Frau, in: www.islamfatwa.de (abg. 07.05.2018); ähnlich: al-Munajjid: Do women have to wear niqaab, in: www.islamqa.info/en; al-Faqīh: View of some scholars regarding Niqab, in: www.islamweb.net/en (abg. am 09.05.2018). 204 Koran 24:31, zitiert nach: Das Ständige Komitee: Darlegung über die Pflicht des Niqab, in: www.islamfatwa.de (abg. am 07.05.2018). 205 Vgl. Das Ständige Komitee: Darlegung über die Pflicht des Niqab, in: www.islamfatwa.de (abg. am 07.05.2018); al-Fauzān: Darf sie ihre Augen vor Nicht-Mahrams entblößen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 30.05.2018).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Hände zu bedecken, aufzeigen, andere Beweise, die erlauben, diese zu entblößen, aufheben.«206 »Der Westen« wird in diesem Zusammenhang als Feindfigur ins Spiel gebracht und ihm vorgeworfen, eine Kampagne nicht nur gegen den Niqab, sondern auch gegen das Kopftuch zu führen. In westlichen Gesellschaften werde die Kopfbedeckung der Frau als Unterdrückung verstanden und als etwas dargestellt, das »den Verstand der Frau bedeckt«. Frauen, die Kopftuch tragen, würden von jener Mehrheitsgesellschaft »als zurückgeblieben, rückschrittlich und als Opfer der Männer« gebrandmarkt. Dieser gegen die Kopfbedeckung öffentlich erklärte Krieg, so die Argumentation, manifestiere sich zudem darin, dass der Westen die islamischen Märkte mit allerlei Arten von Kosmetik, Parfüm und enger bzw. durchsichtiger Kleidung überflute, welche die Triebe der Männer auslöse und steigere.207 Ähnlich steht Realität Islam zum Niqab-Tragen: In einem Video geht Hoffmann auf die Debatte um das Niqab-Verbot in Deutschland ein, betrachtet es als Eingriff in den Alltag der muslimischen Frauen und kritisiert dabei erneut die Integrationspolitik, die das Niqab-Verbot aus frauen- und integrationspolitischen Gründen bundesweit einführen wolle.208 In ihrer Stellungnahme bringt Realität Islam den Niqab bzw. die Frage seines Verbots in engen Zusammenhang mit der islamischen Identität, wobei dort undifferenziert die Rede von der Burka ist. Unter dem Hashtag BurkaUnsereIdentität steht folgendes: »[Es] ist für uns ein muss als islamische Gemeinschaft an einem Strang zu ziehen und Solidarität zu zeigen. Es ist von äußerster Wichtigkeit, das wir gerade jetzt die Diskussionen nicht scheuen und deutlich unsere Meinung [gegen das beabsichtigte Burka-Verbot] der Öffentlichkeit kundtun. Es ist nun notwendig, dass wir unseren Unmut gegenüber dieser Debatte äußern.«209 Für Vertreter dieser Site stehen die Ge- und Verbote der Scharia im Vordergrund. In diesem Sinne heißt es: »Wenn ein Widerspruch zwischen dem Islam und den hiesigen Ideen auftreten sollte, so halten wir an dem fest, was Allah und sein Gesandter uns befohlen haben. Auch wenn das bedeutet, dass wir gegen den Strom schwimmen müssen.«210
206 Das Ständige Komitee: Darlegung über die Pflicht des Niqab, in: www.islamfatwa.de (abg. am 07.05.2018). 207 Vgl. al-Faqīh: Der Kampf gegen den Hidschāb, in: www.islamweb.net/de (abg. am 11.04.2019). 208 Vgl. Hoffmann: Stellungnahme: Burka-Verbots-Debatte, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 11.04.2019). 209 Hoffmann: Burka unsere Identität, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 11.04.2019). Niqab und Burka sind Kleidungsstücke, die große Teile des Gesichts bedecken. Ersterer wird oft zusammen mit einem langen Kleid getragen, wobei ein Augenschlitz das Sehen ermöglicht; letzterer ist ein Ganzkörpergewand mit einer Art Sichtgitter vorne. 210 Siehe Hoffmann: Islam First, in: www.clipzui.com (abg. am 11.04.2019).
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Frauen, die kein Kopftuch bzw. keinen Niqab tragen, habe Gott »eine schlimme Strafe für den Tag des Gerichts angedroht«, wie es der Prophet vorausgesagt habe: »Zwei Arten der Höllenbewohner habe ich noch nicht gesehen: […] (Und die andere Gruppe) sind angezogene Frauen, die in Wirklichkeit nackt sind (d.h. sie tragen so enge Kleidung, dass man ihre Aura [Blöße] sieht, als ob sie nackt wären.) Sie sind auf dem Irrweg und leiten andere auch auf den Irrweg. Ihre Haartracht gleicht der Wolle auf den Kamelhöckern, die sich zur Seite neigen (damals die Haartracht der Prostituierten). Sie werden nicht das Paradies betreten und nicht dessen Duft einatmen, obwohl sein Duft von einer sehr weiten Entfernung wahrnehmbar ist.«211 Es bedienen sich die Salafisten also zumeist textueller Argumente, die auch in traditionell islamischen Kreisen Anwendung finden, wenn es darum geht, Frauen auf ihre Rolle als Mutter, Ehefrau und Hausfrau festzulegen und somit ihre rechtliche Gleichstellung mit dem Mann infrage zu stellen. Für Vertreter dieser Position stellen die islamischen Kleidungsvorschiften eine Art Schutz und Ehre für die Frau dar. Diese Kleiderordnung sorge dafür, Frauen vor den Blicken der Männer zu schützen, die die Frau als Sexobjekt betrachteten: »Die bedeckte Frau wird von den triebgeführten Wölfen der Männer außer Acht gelassen und wird nicht – wie die anderen unbedeckten Frauen – nur als Lustobjekt betrachtet, an dem man seine niederen Triebe befriedigt.«212 Die Männer sind nach dieser Sichtweise triebgesteuert und tendenziell übergriffig; auch die Sexualität wird als »niedriger Trieb« dargestellt. Dass Sexualität nichts Schmutziges oder Gefährliches und eher ein Vergnügen für den Menschen ist, mit dem er freilich verantwortungsvoll umgehen sollte, wird außer Acht gelassen. Sexualität dient darüber hinaus einerseits der Fortpflanzung, andererseits als Vehikel für emotional vertiefte Beziehungen. Viele andere Autoren und liberale Muslime weisen diese aus den salafistischen Ansichten resultierende Ungleichbehandlung von Mann und Frau zurück und setzen sich nachdrücklich für die Gleichberechtigung ein. Dies erfolgt auf Basis ihrer historisch-kritischen Lesart der religiösen Traditionen, was sich in einer Vielzahl von Abhandlungen und Ansätzen widerspiegelt.213 In diesem Sinne wird bspw. die salafistische Position zur Niqab-Pflicht unter Berufung auf das Kontextualisierungsprinzip der Quellentexte widerlegt. So steht Shahrur nicht nur dem Niqab-, 211 212
213
al-Faqīh: Der Kampf gegen den Hidschāb, in: www.islamweb.net/de (abg. am 11.04.2019). Ibn Abdullah: Die Rolle der Frau im Islam, in: www.imauftragdesislam.com (abg. am 30.05.2019); al-Faqīh: Der Kampf gegen den Hidschāb, in: www.islamweb.net/de (abg. am 11.04.2019). Vgl. für mehr dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 160ff.; Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gotttes, S. 150-165; Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit, passim, z.B. S. 151-158, 176ff., 196ff.; Idriz: Der Koran, S. 143ff; Schneider: Der Islam, passim, z.B. S. 69ff., 147ff.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
sondern auch dem Kopftuchtragen kritisch gegenübet.214 Die oben angeführte Koranstelle 24:31 versteht er als die Bedeckung des Dekolletés. Sie besage nicht, dass Frauen ihren Kopf mit einem Tuch bedecken müssten, vielmehr sollten sie den Schlitz ihres Kleides bedecken. Der Koranvers 33:59, in dem der Prophet aufgefordert wird, die Frauen der Gläubigen zur Verschleierung aufzurufen, liest er als Sonderregelung für Ehegattinnen des Propheten. Darauf aufbauend erklärt er, dass jene Verse keine rechtlich eindeutige Aussagekraft hätten, weder für die Niqabnoch für die Kopftuchpflicht.215 Die Kopfbedeckung erachtet er als kulturspezifische Praxis im Arabien des siebten Jahrhunderts und führt sie auf die damaligen klimatischen Gründe zurück. Es handele sich um eine zeit- und ortsabhängige Praxis, d.h., es sei legitim, sie unter neuen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten zu verändern.216 Anders als Shahrur ist al-Qaradawi in seiner Argumentation zum Thema Niqab- und Kopftuchtragen bemüht, die oben angeführten Beweise für die NiqabPflicht lediglich auf das Tragen des Kopftuches zu beschränken. Ihm zufolge geben die oben angeführten textlichen Beweise keine solide Grundlage für die Notwendigkeit ab, das Gesicht und die Hände zu bedecken. Selbst wenn jene Belege authentischer Natur wären, gälte die darin enthaltene Regelung nicht für alle Musliminnen, sondern nur für die Gattinnen des Propheten, die sog. Mütter der Gläubigen (ummahāt al-muʾminīn).217
2.3.3
Händeschütteln mit und Sprechen zu fremden Männern
Mit dem von Salafisten in der virtuellen Welt propagierten Frauenbild, das sich ebenfalls auf ihr buchstabentreues Verständnis der Quellentexte stützt, gehen viele Einschränkungen des alltäglichen Lebens der Frau einher: Selbst die Begrüßung per Handschlag zwischen Mann und Frau wird für religiös verboten erklärt. Dazu habe der Prophet gesagt: »Ich gebe Frauen nicht die Hand.« Ebenfalls berichte ʿĀisha über den Propheten folgendes: »Die Hand des Propheten […] hat keine Frau berührt […].«218 Um ihre Position zu stärken, berufen sich salafistische Gelehrte auf die islamische Rechtsphilosophie, also die Lehre von den Zielen und Absichten Gottes (maqāṣid ash-sharīʿa), die hinter den Scharia-Normen stehen: Dem Verbot
214 Vgl. u.a. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 16; El-Wereny: Normenlehre, S. 160ff. 215 Vgl. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, S. 16, 347f. 216 Vgl. ebd., S. 355f. Siehe auch Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 161f.; El-Wereny: Normenlehre, S. 162ff. 217 Vgl. u.a. al-Qaradawi: an-Niqāb laisa farḍ; ders.: Li-mādhā namnaʿu n-niqāb, in: www.al-qaradawi.net (abg. am 26.03.2019). Mehr dazu bei al-Qaradawi: Fatāwā muʿāṣira, Bd. 2, S. 328ff.; El-Wereny: Mit Tradition, S. 235f.; ders.: Normenlehre, S. 162ff. 218 Vgl. Das Ständige Komitee: Das Händeschütteln, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019); ähnlich Hoffmann: Stellungnahme: Der Druck zum Händedruck, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 11.04.2019).
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des Händeschüttelns liege in diesem Zusammenhang die Prävention von schariawidrigen Beziehungen zugrunde. Salafisten gehen nämlich davon aus, dass infolge der Begrüßung und der Berührung zwischen Frau und Mann eine Versuchung zur »Unzucht« entstehen könne. Um diesem vermeintlichen Übel vorzubeugen, dürften Frauen fremde Männer nicht per Hand grüßen. Warnend habe Muhammad gesagt: »Es ist besser, dass einer von euch mit einem Eisenstachel in den Kopf gestochen wird, als dass er eine Frau berührt, die er nicht berühren darf.«219 Darüber hinaus werden Musliminnen und Muslime dazu ermahnt, ihre Blicke vor dem anderen Geschlecht zu senken und nicht unnötig lange hinzusehen, um mögliche Versuchungen zu vermeiden.220 Einschlägige Fatwas behandeln die Frage, ob die Stimme der Frau zu ihrer ʿaura (einer Blöße, die es zu verhüllen gilt) gehöre, so dass sie in Anwesenheit fremder Männer nicht sprechen dürfe. Trotz Meinungsverschiedenheiten muslimischer Gelehrsamkeit über diese Frage221 meinen Salafisten, dass Frauen grundsätzlich ein Anziehungspunkt für das sexuelle Verlangen von Männern seien und daher auch ihre Stimmen eine entsprechende Gefahr darstellten. Folgerichtig wird ihnen auferlegt, wie sie sich artikulieren sollten: Sie haben nach diesem Standpunkt auf eine geziemende Weise zu sprechen, in der keine Versuchung oder etwas Argwohn Erregendes liegen solle. »Die muslimische Frau […] darf nicht auf eine Weise mit Nicht-Mahrim Männern sprechen, die ihre Hoffnungen ansteigen lassen oder sie in Versuchung führen können. Wenn sie zu einem Laden oder Ort gehen muss, wo es Männer gibt, sollte sie sittsam sein und sich bedecken und die islamischen Anstandsregeln befolgen.«222 Auch muslimische Männer werden in diesem Zusammenhang angehalten, Frauen nur hinter etwas Trennendem wie etwa einem Vorhang anzusprechen. Im Koran heiße es: »Und wenn ihr sie [Frauen des Propheten] um irgendetwas zu bitten habt, so bittet sie hinter etwas Trennendem. Das ist reiner für eure Herzen und ihre Herzen.«223 Wenngleich sich der Vers in erster Linie auf die Frauen des Propheten bezieht, vertreten Salafisten den Standpunkt, dass er sich doch auf alle Musliminnen erstrecke. Denn wenn Gott den ersten Musliminnen und Muslimen trotz ihres starken Glaubens ein solches Gebot auferlegt habe, 219
Vgl. Das Ständige Komitee: Das Händeschütteln, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019). Siehe auch Hoffmann: Stellungnahme: Der Druck zum Händedruck, in: www. realitaet-islam.de (abg. am 11.04.2019). 220 Vgl. Das Ständige Komitee: Das Händeschütteln, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019); ähnlich Hoffmann: Stellungnahme: Der Druck zum Händedruck, in: www.realitaet-islam.de (abg. am 11.04.2019). 221 Vgl. für mehr dazu Ball: Between ʿAwra and Arab Feminism, S. 71-84; Hsu: Dress in Islam, S. 19f. 222 al-Fauzān: Das geziemende Sprechen der Frau (abg. am 04.04.2019); Das Ständige Komitee: Ist die Stimme der Frau aurah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 27.03.2019). 223 Das Ständige Komitee: Ist die Stimme der Frau aurah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 27.03.2019).
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so sei diese Anweisung für die heutigen Musliminnen und Muslime aufgrund ihres schwachen Glaubens erst recht wünschenswert. Gestützt auf diesen Vers wird Musliminnen und Muslimen, die nicht maḥram sind, generell anbefohlen, sich nicht an einem Ort aufzuhalten (ikhtilāṭ, wörtlich übersetzt: »Vermischung«) oder zueinander zu sprechen, außer wenn ein notwendiger Grund vorliege.224 Die Site Islamweb.net vertritt eine ähnliche Position. Sie betrachtet die Stimme der Frau grundsätzlich zwar nicht als ʿaura, setzt dafür aber voraus, dass die Frau ihre Stimme weder zart mache noch verführerisch. Treffe letzteres zu, gelte ihre Stimme laut dem Koran als verboten: »[…] Schmeichelt nicht beim Reden, damit nicht derjenige, in dessen Herzen Krankheit ist, begehrend wird, sondern sagt geziemende Worte.«225 In diesem Sinne wird Frauen islamrechtlich untersagt, vor fremden Männern zu singen, da die Melodie eine Sanftheit bzw. Zärtlichkeit der Stimme mit sich bringe.226 Es stellt sich hier die Frage, ob Frauen über zwei Stimmen verfügen und somit mal zart und mal hart sprechen können. Die Fatwas der Salafisten bleiben auch an dieser Stelle der Lebenspraxis fremd und schränken die Frauen in ihren Möglichkeiten noch einmal stark ein. Dies ist zum einen auf die Grundhaltung der Salafisten zu den Quellentexten zurückzuführen, die sie weder interpretieren noch kontextualisieren, sondern vielmehr auf Buchstabenebene als ewig gültig verstanden wissen wollen, zum anderen auf ihr selektives Verfahren mit den Traditionen. Sie lassen in diesem Zusammenhang andere Überlieferungen unberücksichtigt, die darüber berichten, dass Frauen ihre Fragen an den Propheten und im Beisein anderer Männer herangetragen haben.227
2.3.4
Erwerbstätigkeit und Koedukation
Neben der unterschiedlichen Zuweisung von Räumen und Rechten an Frauen und Männer für den Alltag gehören religiös begründete soziale Ungleichheiten zu den wesentlichen Merkmalen der salafistischen Haltung zu Frauen. Wenngleich sie längst Teilhaberinnen am öffentlichen Leben geworden sind und hohe Positionen in Politik und Gesellschaft bekleiden, vertreten Salafisten heute immer noch ultrakonservative Positionen, die Frauen in das Korsett von Regelungen einer ganz anderen Zeit zurückzwängen. So sollten Frauen nach salafistischer Lehre grundsätzlich zu Hause bleiben; nur aufgrund einer dringenden Angelegenheit dürften sie herausgehen. Denn im Koran heiße es: »Und bleibt [ihr Frauen] in euren Häusern und prunkt nicht wie in den Zeiten der Dschahiliya [vorislamische Unwissenheit]«. Auf den Einwand, dass diese Koranaussage ausschließlich an die Ehefrauen 224 Vgl. al-Fauzān: Das geziemende Sprechen der Frau, in: www.islamfatwa.de (abg. am 04.04.2019); Das Ständige Komitee: Ist die Stimme der Frau aurah, in: www.islamfatwa.de (abg. am 27.03.2019). 225 al-Faqīh: Dürfen Mädchen, in: www.islamweb.net/de (abg. am 04.04.2019). 226 Vgl. ebd. 227 Siehe weiterführend dazu Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 618.
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des Propheten gerichtet ist, erwidern Salafisten, dass muslimische Frauen ihnen darin zu folgen hätten, da die Prophetenfrauen als Vorbilder gälten. Der Prophet habe zu diesem Sachverhalt ferner gesagt: »Die Frau ist ʿaurah, und wenn sie hinausgeht, verfolgt sie der Satan mit seinem Blick. Und Allah am nächsten ist sie im abgeschiedensten Zimmer ihres Hauses.« Auch Frauen, die zum Gebet ausgehen wollen, wird unter Berufung auf eine prophetische Überlieferung empfohlen, zu Hause zu beten. Erneut wird an dieser Stelle damit argumentiert, dass Frauen »sexuelle Versuchung« (fitna) für Männer seien und somit eine gewisse Gefahr darstellten. Diese frauenverachtende Überzeugung wird mit einer weiteren dem Propheten zugeschriebenen Überlieferung gerechtfertigt: »Ich habe nach mir keine gefährlichere Versuchung (fitna) für die Männer hinterlassen, abgesehen der Frauen. Die Versuchung der Kinder Israʾils (Bani Israʾil) waren gerade die Frauen.«228 Die o.g. Position erstreckt sich auch auf die Erwerbstätigkeit der Frau. Nur in Ausnahmefällen und unter bestimmten Bedingungen dürfen Frauen nach salafistischer Sicht eine solche Tätigkeit ausüben: Es müsse ein wirklicher Bedarf bestehen, wie etwa wenn es darum ginge, den benötigten Lebensunterhalt zu sichern. Die Tätigkeit müsse zudem »der Natur der Frau« entsprechen. Daraus resultierend dürften Frauen nur in bestimmten Bereichen arbeiten, wie etwa der Medizin, Pflege, Pädagogik oder der Schneiderei; eine Einengung, die die Diskriminierung gegenüber Frauen noch einmal aufzeigt. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass die Frau nicht in einem gemischten Umfeld, d.h. mit fremden Männern zusammenarbeite, da dies zur fitna führen könne: »Es ist bekannt dass die Zusammenkunft mit dem Mann die Arbeit des Mannes beeinflusst, denn er würde von ihr abgelenkt […], besonders wenn sie jung und schön ist.«229 Frauen werden des Weiteren angehalten, die islamrechtlichen Kleidungsvorschriften wie etwa das Kopftuch-Tragen bei der Arbeit einzuhalten. Würde eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt oder die Arbeit zur Vernachlässigung der häuslichen Verpflichtungen, d.h. hinsichtlich des Haushalts oder der Verantwortung gegenüber Ehemann oder Kindern, führen, so dürfe die Frau nicht arbeiten.230 Wirft man einen Blick auf diese Konditionen, stellt man fest, dass dadurch die Berufsausübung von Frauen beträchtlich erschwert bzw. beinahe für verboten erklärt wird. Von al-ʿUthaimīn wird diese unterschiedliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau als Schutz für die Frau gedeutet:
228 Zitierte Stellen sind al-Munajjid: Die Richtlinien für die Arbeit einer Frau, in: www.islamqa. info/ge (abg. am 12.04.2019) entnommen. 229 al-ʿUthaimīn: Ist Islam ungerecht, in: www.islamfatwa.de (abg. am 12.04.2019). 230 Vgl. al-Munajjid: Die Richtlinien für die Arbeit einer Frau, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 12.04.2019); ähnlich: al-ʿUthaimīn: Erlaubte und verbotene Arbeitsbereiche, in: www.islamfatwa.de (abg. am 15.04.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
»Der Mann macht seine Arbeit, welche normalerweise das Arbeiten, um den Lebensunterhalt zu sichern, und/oder der Nutzen der Ummah ist. Wenn sie [die Frau] daheim ist, schaut sie nach ihm und den Kindern, denn dies ist ihre Aufgabe. Es ist zu alldem ein Schutz für sie, denn es schützt sie vor Unmoral, die im Zusammenhang mit dem Vermischen mit dem [fremden] Mann, aufkommt.«231 Eng mit diesem Sachverhalt verknüpft ist die Frage, ob Frauen mit dem anderen Geschlecht an koedukativen Universitäten und Schulen studieren dürften. Die salafistische Antwort lautet, dass solche Lehranstalten, welcher Art auch immer, religiös verboten seien und »eine große Abscheulichkeit« darstellten. Würde man in einem nichtislamischen Land studieren, sei es noch strikter verboten, da das Unheil dort noch größer sei. Die Koedukation führe »zu sexueller Begierde und Unmoral, zu weiteren verbotenen Taten, Übeln und Verdorbenheit […]«.232 Immer wieder wird in diesem Zusammenhang betont, dass in koedukativer Bildung großer Schaden und eine Bedrohung für die Keuschheit der Frau wie auch des Mannes liege. Folgerichtig wird nicht nur an islamisch geprägte Länder appelliert, in den Bildungsstätten die Geschlechter zu trennen, sondern auch an die Muslime des Westens, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für eine Geschlechtertrennung in den Schulen und Universitäten einzutreten. Dies sei eine religiöse Pflicht.233 Diese ablehnende Haltung gegenüber koedukativen Bildungsinstitutionen beschränkt sich nicht nur auf die Schüler bzw. Studierenden, sondern meint auch die Lehrenden. Muslimische Lehrerinnen dürften Jungen nicht unterrichten, nicht mal in der Grundschule. Denn Jugendliche befänden sich in diesem Alter im Stadium der Pubertät, da manche das Grundschulstadium nicht in der dafür vorgesehenen Zeit beenden könnten. Nach dieser Ansicht wird ein Junge, der das Alter von zehn Jahren erreicht hat, als Heranwachsender angesehen. Er entwickele bereits in diesem Alter eine natürliche Neigung zu Frauen und laufe somit Gefahr, in Versuchung zu geraten.234 Auf der anderen Seite gibt es zeitgenössische Stimmen, die solche Fatwas für absurd und übertrieben erachten und sich stattdessen stark für die Beteiligung der Frau am gesellschaftlichen und politischen Leben einsetzen. Sie argumentieren, dass das, was man an der salafistischen Haltung als zu streng kritisiere, in der Tat eine Basis im überlieferten islamischen Rechtssystem habe. Dieses solle aber eben nicht blind übernommen, verteidigt und propagiert werden. Denn solche auf Geschlechterungleichheit abzielenden Fatwas basierten auf zeit- und ortsbedingten
231 al-ʿUthaim̄ in: Ist Islam ungerecht, in: www.islamfatwa.de (abg. am 12.04.2019). 232 Das Ständige Komitee: Darf Frau an gemischten Universitäten/Schulen im Westen studieren?, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019). 233 Vgl. Ibn Baz: Gemischte Bildungsstätten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019). 234 Vgl. Ibn Baz: Die Gefahr Lehrer des anderen Geschlechts, in: www.islamfatwa.de (abg. am 11.04.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
Traditionen und Umständen des siebten Jahrhunderts, die heute keinen Gültigkeitsanspruch mehr haben sollten. Sie seien gemäß der damaligen Situation ausgesprochen worden.235 In diesem Sinne wird z.B. der Moscheebesuch von Frauen nicht nur für erlaubt erklärt, vielmehr werden Frauen dazu ermutigt. Dafür werden auch zahlreiche Belege aus dem Koran und der Sunna herangezogen. Frauen dürften genauso wie Männer ihre Gebete verrichten, sogar im selben Moscheeraum. Moscheen dienten Männern wie Frauen dazu, Gottesdienste zu vollziehen und ihre Beziehung zu Gott zu stärken. Auch böten sie eine ideale Atmosphäre an, um soziale Beziehungen zwischen den Musliminnen und Muslimen zu stärken und die rituellen, sozialen und charakterbezogenen Riten des Islam öffentlich zu praktizieren.236
2.3.5
Frauen als Imaminnen
In der virtuellen Welt des Salafismus wird Frauen verboten, Männer im Gebet zu leiten. Dieses Verbot wird mit Belegen aus dem Koran gerechtfertigt, die jedoch keinen direkten Bezug zu dieser Thematik aufweisen. Es handelt sich dabei um Koranstellen, die nach ihrem Wortlaut Männer über Frauen stellen, wie etwa der o.g. Koranvers 4:34. Zur Untermauerung dieser Position werden darüber hinaus Meinungen früherer Rechtsgelehrter herangezogen. So habe ash-Shafiʿī gesagt: »Wenn eine Frau Männer, Frauen und Jungen im Gebet leitet, dann ist das Gebet der Frauen gültig, während das Gebet der Männer und Jungen ungültig sein wird, weil Allah den Männern die Rolle der Beschützer und Versorger der Frauen zugeteilt hat.« Darauf aufbauend vertreten salafistische Gelehrte die Ansicht, dass das Gebet von Männern unter der Führung einer Frau ungültig sei und demnach wiederholt werden müsse. Laut Ibn Ḥazms Darstellung besteht darüber sogar ein Konsens unter muslimischen Gelehrten: »Sie stimmen darin überein, dass eine Frau keinen Mann im Gebet leiten darf, wenn diese wissen, dass sie eine Frau ist. Wenn sie es dennoch tun, ist ihr Gebet ungültig […].« Das Gebet der Frau selbst sei indessen richtig. Ginge es dabei um ein Freitagsgebet, sei ihr Gebet auch ungültig.237 Warum das Freitagsgebet für nichtig erklärt wird, wohingegen andere Gebete nicht, bleibt unbeantwortet. Die Frage, ob eine Frau nur reine Frauengruppen im Gebet leiten dürfe, wird indessen mit einem klaren »Ja« beantwortet. Dabei wird empfohlen, dass sich die 235 Vgl. z.B. Shahrur: Naḥwa uṣūl jadīda, passim; Abu Zaid: Islam und Politik, passim, z.B. 97ff, 170ff. 236 Vgl. statt vieler Dār al-Iftāʾ al-Miṣrīya: Dhahāb an-nisāʾ ilā al-masāji, in: www.dar-alifta.org/ar (abg. am 12.05.2019). 237 Alle drei Zitate sind folgender Quelle entnommen: Islamfatwa.de (Hg.): Wenn eine Frau Männer, Jungen u. Frauen im Gebet leitet, in: www.islamfatwa.de (abg. am 14.04.2019). alQaradawi vertritt in diesem Zusammenhang eine ähnliche Position wie die Salafisten. Vgl. al-Qaradawi: Matā tajūzu imāmat al-marʾa, in: www.al-qaradawi.net (abg. am 01.10.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Imamin nicht vor, sondern mitten in die Gebetsreihe mit den anderen Frauen stellen solle. Diese Empfehlung wird mit einer Überlieferung über ʿĀʾisha und Umm Salama (gest. 683), Ehefrauen des Propheten, begründet, in der es heiße: »Wenn eine Frau andere Frauen im Gebet leitet, soll sie in der Mitte von ihnen stehen.« Den Grund dafür sieht al-ʿUthaimīn darin, dass dies für die als Imamin fungierende Frau »verbergender ist«, denn eine Frau müsse so viel wie möglich von ihrem Körper bedecken.238 Was mit der Bedeckung hier gemeint ist und wozu diese Empfehlung überhaupt dienen soll, wenn Frauen nur unter sich beten, bleibt offen. Die Frau wird, wie in vielen Fatwas, immer wieder sexualisiert. Gegenstimmen wie Abou El Fadl, die die Leitung des Gemeinschaftsgebetes durch eine Frau befürworten, rechtfertigen ihre Position damit, dass weder im Koran noch in der Sunna solide Beweise für das Verbot einer solcher Handlung vorlägen, anders als von Salafisten behauptet. Von der Maxime ausgehend, dass alles, was Gott an Handlungen und Möglichkeiten erschaffen habe, prinzipiell erlaubt sei und nur das als verboten gelte, für dessen Verbot ein authentischer, solider Rechtsbeweis in den Quellentexten stehe, sei es daher erlaubt, dass Frauen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit wie Männer Gebete führen dürften.239 Diese Meinung ist darüber hinaus von früheren Gelehrten wie Abū Thaur (gest. 860) und aṭ-Ṭabarī (gest. 923) vertreten worden, auch wenn sie sich mit ihrer Position in der Minderheit befunden haben, wie Ibn Rushd darlegt. Ihm zufolge begründen diese Gelehrten ihren »abweichenden« Standpunkt mit einer Überlieferung über die Prophetengefährtin Umm Waraqa, wonach der Prophet Muhammad sie angewiesen habe, die zu ihrem Haushalt gehörenden Personen im Gebet zu leiten.240 Amina Wadud, eine islamische Theologin, die im März 2005 mit der Leitung eines Freitagsgebetes in New York die Diskussion neu entfacht hat, ob und wie Frauen in der Neuzeit als Imamin fungieren können, macht sich für die Geschlechtergleichheit stark. Sie vertritt die Grundposition, dass Gott klar und deutlich den Menschen als Kalif, also als Statthalter auf Erden eingesetzt und dabei keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht habe.241 Argumente bzw. Positionen, die auf die Sexualisierung der Rolle der Frau hinauslaufen, werden für offensichtlich unhaltbar erklärt. Denn Männer, die sich beim Gebet tatsächlich auf dessen Kern konzentrierten und dadurch die Nähe zu Gott suchten, würden sich nicht irritieren oder ablenken lassen, wenn sich eine Frau vor ihnen beuge (rukūʿ) oder die 238 al-ʿUthaimīn: Frau leitet andere Frauen im Gebet, in: www.islamfatwa.de (abg. am 12.04.2019); al-Qaradawi: Matā tajūzu imāmat al-marʾa, in: www.al-qaradawi.net (abg. am 01.10.2019). 239 Siehe ausführlich dazu Abou El Fadl: On Women Leading Prayer, in: www.searchforbeauty.org (abg. am 23.05.2019). 240 Vgl. Ibn Rushd: Bidāyat al-mujtahid, Bd. 1, S. 339f. 241 Vgl. Wadud: Qur’an and Woman: Rereading the Sacred Text, z.B. S. 62ff.; Amirpur: Den Islam neu denken, S. 117-150.
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Niederwerfung vollziehe (sujūd). Eine derartige Argumentation sei zudem auch im umgekehrten Fall, also bei einem männlichen Vorbeter, nicht schlüssig. Des Weiteren beteten Frauen und Männer ja auch während der Pilgerfahrt geschlechtergemischt. Dass nun behauptet werde, Männer würden beim Gebet durch Frauen abgelenkt, tauge als Argument also ganz und gar nicht. »Wer sich im Gebet wirklich Gott hingibt und auf den Schöpfer geistig konzentriert ist, der lässt sich durch nichts ablenken. Die wirkliche Hingabe (islām) macht frei von jeglichen ablenkenden Einflüssen der diesseitigen Umwelt […].«242
2.3.6
Schwimmen für Frauen
Ein weiteres Thema, bei dem die Ungleichbehandlung von Mann und Frau im salafistischen Denken an den Tag kommt, ist das Schwimmen bzw. die Teilnahme an Schwimmkursen. Eine Muslima darf nach salafistischem Standpunkt nicht schwimmen gehen bzw. schwimmen lernen; außer, es finde Zuhause statt, wo sie nicht entblößt und von fremden Männern gesehen werde. Dieses Verbot gelte nicht nur, wenn Männer dabei sind, sondern auch wenn Frauen unter sich seien. Entsprechend ihrer schwarzen Pädagogik drohen Salafisten auch in diesem Zusammenhang mit einer göttlichen Strafe, ginge eine Frau trotz dieses Verbots in ein Schwimmbad. Sie verletze somit die Scharia-Vorschriften und beginge eine Sünde, was ihr in der Konsequenz Leid und Elend bringe. Der besagten Sünde liegt die vermeintliche Entblößung der zu bedeckenden Körperteile zugrunde. Dabei wird mit mehreren Prophetenaussprüchen argumentiert: »Entblöße nicht deine Oberschenkel (vor anderen) und schaue nicht auf die Oberschenkel einer lebenden oder toten Person.« Und: »Der Mann soll nicht auf die ʿAurah des (anderen) Mannes schauen und die Frau soll nicht auf die ʿAurah der (anderen) Frau schauen.«243 Dass Frauen auf die Idee kämen, schwimmen gehen zu wollen, wird damit erklärt, dass sie »zu viel Freizeit« hätten und daher versuchten, sich die Zeit mit allen Mitteln zu vertreiben. Um diesem von der Internetseite Islamfatwa.de als Übel bezeichneten Sachverhalt entgegenzuwirken, werden Muslime verpflichtet, etwas gegen solche Schwimmanlagen zu unternehmen und, falls möglich, ihre Schließung zu bewirken, um so muslimische Frauen zu schützen.244 Das Internetportal Islamweb.net vertritt indessen die Ansicht, dass das Schwimmen für Frauen in öffentlichen Schwimmbädern grundsätzlich erlaubt sei, stellt aber dafür folgende Bedingungen auf, die diese Erlaubnis mit beträchtlichen Einschränkungen versehen: Das Schwimmbad müsse ausschließlich eines für Frauen sein, und eine Videoüberwachung dürfe nicht eingesetzt werden, denn diese berge
242 Weiterführend dazu der Liberal-Islamische Bund: Frauen als Vorbeterinnen, in: www.libev.jimdo.com (abg. am 23.05.2019); Idriz: Der Koran, S. 126ff. 243 Ᾱl Schaich: Das Schwimmen für Frauen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 15.04.2019). 244 Die Rede ist an dieser Stelle von Muslimen in islamisch geprägten Ländern. Vgl. ebd.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
die Gefahr, dass Frauen von fremden Männern beobachtet werden. Die Frau müsse für das Schwimmen zudem die Erlaubnis ihres Vormundes245 einholen. Ohne sein Einverständnis dürfe sie nicht schwimmen gehen. Ferner müsse sie die schariarechtlichen Kleidervorschriften einhalten: So dürfe sie im Schwimmbad keine eng anliegenden Badeanzüge tragen, die ihre Figur betonen oder ihre ʿaura zeigen. In diesem Kontext wird die ʿaura der Frau als die Körperpartie vom Nabel bis zum Knie definiert. Demnach dürften muslimische Frauen unter sich ihre Haare, Füße und Brüste zeigen, wobei im gleichen Atemzug angemerkt wird, dass in der Anwesenheit von Nichtmusliminnen nur das Gesicht und die Hände gezeigt werden dürften.246 Dass die ʿaura in der Gegenwart von Andersgläubigen anders definiert wird, zeigt zum einen die feindliche Haltung der Salafisten gegenüber dem religiös Anderen und zum anderen ihre kritiklose Übernahme tradierter Ansichten früherer Autoritäten.247 Trotz dieser Voraussetzungen wird zum Schluss der Fatwa eindeutig empfohlen, öffentliche Schwimmbäder nicht zu besuchen, insbesondere wenn es sich um Musliminnen handele, die in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften leben, da dort die eben erwähnten Kriterien nicht erfüllt werden könnten.248 Deutsche salafistische Prediger vertreten eine ähnliche Position: Sie fordern an Schulen die Einführung eines geschlechtergetrennten Schwimmunterrichts. Um diese Forderung und somit die islamischen Normen auch deutschen Nichtmuslimen nahezubringen, wird an die konservativen europäischen Traditionen erinnert. So sagt Vogel bspw.: »Wo ist das Problem, dass es einen getrennten Schwimmunterricht gibt? Vor fünfzig Jahren […] da gab es keinen gemischten Sportunterricht […]. Und wenn ein Muslim dann sagt: ›Das spricht gegen meine Moralvorstellungʻ, dann wird er da als der Böse stigmatisiert […].«249
245 Der Vormund, arab. walī, heißt in diesem Zusammenhang der Vertreter einer Frau. Dieser kann nach islamischer Auffassung der Vater, der Ehemann oder ein anderer naher Verwandter aus der Familie des Vaters sein. 246 Vgl. al-Faqīh: Schwimmen unter Frauen, in: www.islamweb.net/de (abg. am 12.04.2019). 247 Die unterschiedliche Bestimmung des Begriffs ʿaura einer Muslimin vor einer Nichtmuslimin hat eine Basis in der klassischen islamischen Rechtsliteratur. Während der Begriff ʿaura muslimischer Frauen untereinander die Gegend zwischen Nabel und Knie umfasst, wird er in der Anwesenheit einer Nichtmuslimin laut der Mehrheitsmeinung muslimischer Gelehrter als ihre gesamten Körperteile, bis auf ihre Hände und ihr Gesicht, definiert. Vgl. weiterführend dazu al-Faqīh: al-Qaul aṣ-ṣaḥīḥ, in: www.islamweb.net (abg. 15.05.2019); Schulze: Die Verhüllung der Frau, S. 117-134. 248 Vgl. al-Faqīh: Schwimmen unter Frauen, in: www.islamweb.net/de (abg. am 12.04.2019); Abul Baraa: Darf eine Frau mit einem Burkini zwischen Männern schwimmen?, in: www.youtube.com (abg. am 14.04.2019). 249 Siehe z.B. Vogel: Schwimmzwang in der Schule, in: www.youtube.com (abg. am 03.04.2019); zitiert nach Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 280f.
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Andere Autoren, wie etwa Shahrur, wenden nichts dagegen ein, dass Frauen ins Schwimmbad gehen und Schwimmanzüge tragen. Ohne hierbei auf den Aspekt der getrennten oder gemischten Schwimmbäder einzugehen, setzt er in diesem Zusammenhang lediglich voraus, dass die ʿaura der Frau bedeckt werden solle. Diese definiert er als die Brüste, Achseln, die Genitalien und den After mit den benachbarten Bereichen. Alles andere sei entsprechend den in der Gesellschaft vorherrschenden Gewohnheiten und Traditionen offenzulassen bzw. zu bedecken.250 Al-Qaradawi erachtet das Schwimmen für Männer wie Frauen grundsätzlich als wünschenswert und untermauert seine Position mit mehreren prophetischen Aussagen. Ähnlich wie die Salafisten setzt er dennoch voraus, dass dies nur in separaten Schwimmbädern bzw. zu Badezeiten speziell für Frauen stattfinde. Auch betont er die Notwendigkeit, die ʿaura zu bedecken, die er in diesem Zusammenhang jedoch nicht näher definiert. Die Teilnahme an gemischtem Schwimmunterricht erklärt er, im Gegensatz zu Salafisten, für erlaubt; dies aber unter der Bedingung, es liege eine Notwendigkeit vor, wie etwa wenn muslimische Schülerinnen in der Schule durchfielen, wenn sie den Schwimmunterricht versäumten.251
2.3.7
»Und schlagt sie!« – Häusliche Gewalt gegen Frauen
Neben der strikten Einschränkung der persönlichen Freiheit der Frau auf unterschiedlichen Ebenen geben salafistische Gelehrte dem Ehemann das Recht, seine Ehefrau zu züchtigen, und zwar, wenn sie sich bei etwas widersetze, was er ihr – an islamrechtlich Erlaubtem – anbefehle. Im Koran heiße es: »Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht gegen sie keine Ausrede.«252 Ohne den historischen Kontext dieser häufig diskutierten Passage des Korans zu hinterfragen oder die Mehrdeutigkeit seiner einzelnen Wörter zu prüfen, stützen sich Salafisten darauf. Auch sie meinen, dass die Züchtigung erst erfolgen dürfe, wenn andere Schritte unwirksam wären: Zunächst habe der Ehemann seine Frau mit Worten mehrmals zu ermahnen, dann sie im Bett zu meiden (d.h. mit ihr keinen Geschlechtsverkehr haben), wenn die Ermahnung erfolglos war. Dies möge als Ausdruck der Missbilligung verstanden werden in der Hoffnung, dass die Ehefrau ihr Verhalten reflektiere und mit ihrer widerspenstigen Handlung aufhöre. Hälfen diese zwei Schritte nicht, so die salafistische Argumentation, dürfe der Ehemann sie schlagen. Auch wenn in diesem Zusammenhang immer wieder betont wird, 250 Vgl. Shahrur: Hal yajūzu li-l-marʾa as-sibāḥa bi-l-bikīnī«, unter: http://shahrour.org (abg. am 15.04.2019). 251 Vgl. statt vieler al-Qaradawi: Fiqh al-lahw; ähnlich ders.: Yajūzu li-l-muslima, in: www.youtube.com (abg. am 15.04.2019). 252 Koran 4:34. al-Munajjid: Was sind die Rechte des Ehemanns, in: www.islamqa.info/ge (abg. 15.04.2019); ähnlich: Das Ständige Komitee: Ungehorsame Ehefrau, in: www.islamweb.net/ grn (abg. am 28.02.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
dass dies kein Appell an Männer sei, ihre Ehefrauen auf Gedeih und Verderb zu schlagen, werden unter Berufung auf die hanafitische Rechtsschule folgende bizarre Gründe für das Schlagen der Ehefrau zum Zwecke der Zurechtweisung angeführt: »Wenn sie sich nicht hübsch macht, wenn er das von ihr verlangt; wenn sie sich seiner Einladung ins Ehebett widersetzt, […] das Unterlassen des Gebets; und darunter ist das Verlassen des Hauses ohne seine Erlaubnis.«253 Andere Fatwas, die beschreiben, wie das Schlagen erfolgen solle, bestätigen die grundsätzlich befürwortende Haltung der Salafisten zum Schlagen von Frauen einmal mehr. Nach ihrer Empfehlung solle das Schlagen schmerzlos sein, nicht ins Gesicht erfolgen und keine Spuren hinterlassen. Hierfür solle ein Zahnputzholz (miswāk) eingesetzt werden, also ein Stock bzw. Zweig, der traditionell zur Reinigung der Zähne verwendet wurde bzw. von vielen salafistisch gesinnten Muslimen heute noch dazu benutzt wird.254 Modernen Interpretationsansätzen zufolge bedeutet die oben erwähnte Koranaussage »und schlagt sie« gar nicht »schlagen« im Sinne einer Ausübung physischer Gewalt mit der Hand. Vielmehr bedeute sie »trennt euch von ihnen« oder »haltet euch von ihnen fern«. In diesem Sinne wird das arabische Verb ḍaraba (welches neben einer Vielzahl an anderen Bedeutungen auch »schlagen« bedeuten kann) anders interpretiert. Hierfür werden entsprechende Koranstellen herangezogen, die zeigen, dass dieser Ausdruck des Öfteren im Sinne von »verreisen«, »vorübergehend weggehen«, und »sich trennen« verwendet wird. Vertreter dieser Position gehen davon aus, dass eheliche Beziehungen auf Ruhe, Barmherzigkeit und Liebe beruhen sollten. Damit gehe der gegenseitige Respekt des Ehepaars einher. Im Koran heiße es: Und Er (Gott) hat zwischen euch Zuneigung und Barmherzigkeit bewirkt.«255 Dass ein solches Verhalten gegenüber der Frau erwünscht ist, wird darüber hinaus mit zahlreichen Überlieferungen über den Propheten bestätigt, denen zufolge er niemals irgendeine seiner Ehefrauen geschlagen habe. Vertreter des europäischen Fatwa-Rates berufen sich in diesem Zusammenhang auf die Ziele der Scharia (maqāṣid ash-sharīʿa): »Durch Reflexion über die islamrechtlichen Texte der Scharia und Berücksichtigung der universellen und partikularen Ziele der Scharia erwägen wir das Untersagen des Schlagens. Das erfolgt aus Berücksichtigung der zeitgenössischen Tradition und der vorherrschenden Gesetze, welche mit der prophetischen Praxis harmonieren.«256 Gegen die Annahme, dass mit Schlagen »sich 253 al-Munajjid: Was sind die Rechte des Ehemanns, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 15.04.2019). 254 Vgl. al-Faqīh: Faqīh: Hal thabata ḥadīth, in: www.islamweb.net/ar (abg. am 30.01.2019). 255 Koran 30:21. Siehe mehr dazu bei Özsoy: Modernes Islamverständnis, in: www.qantara.de (abg. am 27.05.2019); Idriz: Grüß Gott Herr Imam, S. 150f.; ders.: Der Koran, S. 91ff. 256 Vgl. The European Council for Fatwa and Research (ECFR): Wieso ein Mann seine Frau nicht schlagen darf, in: www.fatwarat.de (abg. am 15.04.2019). Der (ECFR), gegr. 1997 in Dublin, macht sich zur Aufgabe, Muslime des Westens mit Fatwas bzw. Lösungen für Alltagsfragen
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trennen« oder »sich fernhalten« gemeint ist, äußert sich Abu Zaid. Ihm zufolge ist ḍaraba korrekt mit Schlagen zu übersetzten. Wenngleich er den Vers entsprechend seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden wissen will, sieht er die Notwendigkeit, ihn in seinen historischen Kontext einzuordnen und als Anrede an die Araber des siebten Jahrhunderts zu betrachten. Der von Salafisten als pauschale Forderung zur Züchtigung der Ehefrau verstandene Vers wird von Abu Zaid somit entschärft, da auf einen bestimmten zeitlichen Kontext hin relativiert.257
2.3.8
Polygynie
Auch bei der Frage der Vielehe halten sich salafistische Prediger und Gelehrte am Wortlaut der Offenbarungstexte fest und lassen keine zeitgemäßen Interpretationen zu. Unter Berufung auf den Koranvers 4:3 wird die Mehrehe mit bis zu vier Frauen für erlaubt erklärt und als Grundlage für Keuschheit und die Vermehrung der Nachkommenschaft angesehen. Im besagten Vers heißt es: »Und wenn ihr fürchtet, den Waisen gegenüber ungerecht zu sein, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier. Und wenn ihr fürchtet, so viele nicht gerecht zu behandeln, dann nur eine […].« Hierbei werden also zwei seitens des Mannes zu erfüllende Bedingungen aufgestellt, um eine solche Vielehe schließen zu dürfen. Zum einen müsse er gegenüber all seinen Frauen gerecht und zum anderen in der finanziellen Lage sein, sie zu versorgen und sich genügend um sie zu kümmern. Fürchte man, ersteres nicht erfüllen zu können, dürfe man nur eine Frau heiraten. Die Salafisten argumentieren nun, der Prophet selbst habe die Vielehe auch praktiziert und den Männern seiner Gemeinschaft klargemacht, dass sie es ebenfalls tun dürften. Die allgemeine Forderung, dem Propheten zu folgen, untermauern Salafisten mit folgender Koranstelle: »Ihr habt im Propheten ein schönes Vorbild für den wahren Gläubigen, der Gottes Huld und die Belohnung des Jenseits anstrebt und Gottes häufig gedenkt.«258 Eine Vielehe führe ferner zur Keuschheit und zum »Senken des Blickes« gegenüber fremden Frauen und schütze somit vor der Gefahr der Unzucht. Doch die Vertreter dieser Position pro Polygynie erkennen nicht, dass ihre Argumentation im Widerspruch zu hierzulande geltenden Gesetzen steht. Dessen ungeachtet behaupten sie, dass eine Frau, welche sich einen Mann mit einer anderen Frau teile, besser sei, als diejenige, die gar keinen Mann habe.259 zu versorgen, die ihre Lebensumstände berücksichtigen sollten. al-Qaradwai hatte den Vorsitz dieses Rates bis Ende 2018 inne. Für Näheres dazu statt vieler El-Wereny: Normenlehre, S. 66ff., 91; https://fatwarat.de/uber-uns/(abg. am 27.07.2019). 257 Vgl. Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 160; El-Wereny: Normenlehre, S. 168ff. 258 Koran 33:21. 259 Vgl. Ibn Baz: Bedingungen mehrere Frauen zu heiraten, in: www.islamfatwa.de (abg. am 16.04.2019). Beide Koranzitate sind dieser Quelle entnommen.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Das Webportal Islamweb.net vertritt die gleiche Position, ist aber bemüht, seine Ansicht ausführlicher zu rechtfertigen. Das Grundargument lautet, dass Vorschriften der Scharia für jede Zeit und an jedem Ort gälten, losgelöst von politischen oder geografischen Grenzen. Dies erstrecke sich auf alle Angelegenheiten des Lebens, einschließlich der Familie und ehelicher Fragen. Da die Polygynie durch den Koran und die Sunna begründet sei, dürfe sie auch praktiziert werden. Auch wenn sie missbraucht werden könne, dürfe sie nicht für prinzipiell verboten erklärt werden. Unter bestimmten Umständen habe sie vielmehr eine noch wertvollere Funktion, etwa in Zeiten des Krieges. Sie gewährleiste dann Fürsorge und Schutz für die zurückgebliebenen Witwen. Wäre eine Vielehe unter solchen Gegebenheiten verboten, würden die hinterbliebenen Frauen entweder ohne Mann leben oder unerlaubte Beziehungen eingehen. Eine andere Situation, bei der die Polygynie befürwortet wird, ist der Fall der Unfruchtbarkeit oder der Krankheit der Ehefrau. Vor dem Hintergrund, dass die Familie den Grundstein der Gesellschaft bilde und es dem Mann zustehe, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, dürfe er eine zweite oder sogar weitere Ehen (maximal vier) eingehen, wenn diese im Rahmen bestehender Ehe(n) nicht erfüllt werden könnten. Eine Mehrehe wäre darüber hinaus wertvoll, wenn sie mit einer Frau geschlossen werde, die ihren Lebensunterhalt nicht selbständig bestreiten könne und daher finanzielle Unterstützung brauche.260 Anhand der angeführten Beispiele wollen Salafisten hervorheben, dass Polygynie nicht in erster Linie zwecks der Erfüllung sexueller Bedürfnisse des Mannes erlaubt sei. Vielmehr diene sie vorrangig dazu, Lösungen für Probleme der Gesellschaft zu bieten. Dementsprechend meinen Befürworter dieser Position, dass der der Vielehe zugrundeliegende Koranvers 4:3 in einem ähnlichen Kontext offenbart worden sei, und zwar nach der Schlacht von uḥud, in der eine Vielzahl von männlichen muslimischen Kämpfern ums Leben gekommen sei. Die Fürsorge für die Kriegshinterbliebenen (Witwen und Waisen) sollten die muslimischen Überlebenden im Rahmen der Polygynie übernehmen. Demnach gehe es hier nicht um die Befriedigung der sexuellen Begierden der Männer, sondern vielmehr um Mitgefühl und die Verantwortung für Witwen und Waisen.261 Dass heute solche Umstände wie nach der Schlacht von uḥud, d.h. zahlreiche Kriegswitwen ohne soziale Versorgung, nicht mehr herrschen, wird in der Fatwa nicht angesprochen. Die koranische Voraussetzung für die Mehrehe – laut dem oben angeführten Vers 4:3 das gerechte Handeln gegenüber allen Frauen – wird von zeitgenössischen Autoren und liberalen Muslimen in Kombination mit der Koranstelle 4:128 als Grundlage für die Infragestellung der Vielehe angeführt. Auf dieser Basis, sowie unter Bezugnahme auf den historischen Hintergrund der Offenbarung dieser 260 Vgl. al- Faqīh: Islām und Polygamie, in: www.islamweb.net/de (abg. am 04.02.2019). 261 Vgl. ebd.
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Koranstellen, argumentieren sie für das Verbot der Polygynie.262 Salafisten interpretieren die im Koranvers geforderte Gleichbehandlung als auf Unterkunft, Ernährung und den guten Umgang mit den Ehefrauen bezogen. Erfülle der Ehemann diese Bedingungen nicht, sei er angehalten, nur eine Frau zu heiraten. Nichtsdestoweniger wird immer wieder betont, dass die Polygynie weitaus besser und ehrenhafter sei, als sich auf anderweitige, verpönte oder verbotene Handlungen einzulassen, etwa indem man in uneheliche Beziehungen gerate oder sich scheiden lasse, weil die Ehefrau z.B. unfruchtbar oder krank sei. Es wird darüber hinaus damit argumentiert, dass die Frau nicht gewaltsam verheiratet werde, vielmehr gehe sie eine solche polygame Ehe freiwillig ein. Dass der Mann für die zweite Ehe das Einverständnis seiner ersten Frau einholen müsse, was unter muslimischen Gelehrten unterschiedlich diskutiert wird, wird von Vertretern dieser Position nicht als Voraussetzung angeführt.263 Al-Qaradawi schließt sich der salafistischen Meinung an und meint ebenfalls, dass mit der Gleichbehandlung nur die Versorgung, Unterkunft und Verteilung der Zeit des Ehemanns auf die Frauen gemeint sei. Der Koranvers 4:129 beziehe sich ausschließlich auf die Liebe und die stärkere Zuneigung zu einer Frau als zur anderen. Dies könne man nicht kontrollieren, da sich Gleichmäßigkeit in der Empfindung von Liebe für die verschiedenen Ehefrauen nicht erzwingen lasse; folglich würden Ungleichmäßigkeiten diesbezüglich von Gott vergeben.264 Neben reformorientierten Stimmen, die sich gegen die Polygynie äußern und die dieser zugrundeliegenden textlichen Beweise historisch kontextualisieren, wird die Polygynie in vielen islamisch geprägten Ländern an eine Reihe von Voraussetzungen gekoppelt und somit stark eingeschränkt. Jene Bedingungen beziehen sich auf die soziale Lage des Mannes, die Informationspflicht gegenüber allen beteiligten Frauen und die Scheidungsmöglichkeit der ersten Frau. In Tunesien und der Türkei besteht sogar ein Polygynieverbot.265
2.3.9
Zwischenfazit
Das Anhaften der Salafisten am Wortlaut der Quellentexte und ihre Rückbesinnung auf das Ideal der islamischen Frühzeit schlagen sich auch in ihrem Verständnis der Frau und ihrer gesellschaftlichen Stellung nieder: Männer und Frauen seien zwar 262 Der Koranvers 4:129 besagt: »Und ihr [Männer] werdet die Frauen, (die ihr zu gleicher Zeit als Ehefrauen habt) nicht gerecht behandeln können.« Siehe für Näheres dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 168ff.; Idriz: Der Koran, S. 30ff. Shahrur historisiert diese Koranstellen nicht, sondern erachtet die Polygynie mit bis zu vier Frauen grundsätzlich für erlaubt, beschränkt sie aber auf Witwen mit unversorgten minderjährigen Kindern. Weiterführend dazu Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, 597-603. 263 Vgl. al-Faqīh: Islām und Polygamie, in: www.islamweb.net/de (abg. am 04.02.2019). 264 Vgl. für Näheres dazu El-Wereny: Normenlehre, S. 168f. 265 Siehe ausführlich dazu u.a. Schneider: Der Islam, S. 80.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
vor Gott in religiöser Hinsicht gleichgestellt, in der Politik und Gesellschaft hätten sie jedoch deutlich verschiedene Rollen und Aufgaben. Diese Unterschiede werden von Salafisten als gottgewollt und damit unveränderbar angesehen. Hierbei werden nicht nur Frauen ihrer Rechte beraubt, sondern es wird vielmehr von einer gegebenen Benachteiligung der Frau ausgegangen. Diese wird mit zwei zentralen Argumentationssträngen gerechtfertigt; zum einen mit den physischen und psychologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau und zum anderen mit von der Scharia abgeleiteten Normen, die nach salafistischem Standpunkt als durch den Koran bzw. die Sunna belegt gelten. Vertreter dieser Webportale erkennen fast ausschließlich die islamischen Texte als normative Quellen an. Aus ihrer Sicht seien diese eindeutig und ausreichend, um Musliminnen und Muslime für alle Zeiten und unter allen Umständen zu führen und auf dem geraden Weg zu begleiten. In diesem Sinne werden Rechtsbestimmungen zur Stellung der Frau äußerst restriktiv interpretiert. Demnach soll die Frau nur die Rolle einnehmen, die ihr nach koranischen oder prophetischen Aussagen zusteht, und zwar als Mutter und Ehefrau. Ihre Rolle wird also fast ausschließlich auf häusliche Aufgaben, wie den Haushalt, die Erziehung der Kinder und die Unterstützung des Ehemannes beschränkt. Aus diesem restriktiven Verständnis der Quellentexte resultiert, dass Frauen auferlegt wird, sich immer dem Willen ihrer Männer zu beugen. Die tradierten Ansichten zur Überlegenheit des Mannes über die Frau und der Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann werden nicht infrage gestellt. Genauso verhält es sich beim von Salafisten dem Mann zugesprochenen Recht, mehrere Frauen (bis zu vier) zu heiraten sowie sie bei Ungehorsam bzw. Widerspenstigkeit zu züchtigen. Diese Befürwortung der Unterdrückung und Abschottung der Frau spiegelt sich in vielen Fatwas zu alltäglichen Fragen wider, wie etwa in solchen zum alleinigen Verlassen des Hauses, zur Ausübung eines Berufes (was nur in Ausnahmefällen und unter bestimmten Bedingungen erlaubt wird) sowie zu ihrem Recht, schwimmen zu gehen oder sich nach ihrem Geschmack zu kleiden. Bei der Verschleierungspflicht der Frau lassen die Salafisten kaum Spielraum für neue Lesarten. Grundlegend für diese strikten Vorschriften ist der Standpunkt der Salafisten, dass jeglicher Kontakt zwischen fremden Männern und Frauen die Gefahr von Unzucht heraufbeschwöre; eine schwere Sünde, die es unbedingt zu vermeiden gelte. Die Frau wird fast ausschließlich als ʿaura (zu verdeckende Blöße) angesehen: Während muslimische Gelehrte mehrheitlich die Blöße der Frau als ihren Körper außer Gesicht und Händen definieren, nehmen salafistisch gesinnte Gelehrte einen strikteren Standpunkt ein, wonach die Frau auch ihr Gesicht und ihre Hände zu verhüllen habe. Auch betrachten sie die Stimme der Frau und die Geräusche, die ihre Füße beim Gehen verursachen, als Teil ihrer Blöße. Hingegen verstehen sie die ʿaura des Mannes als die Gegend zwischen Nabel und Knie, wobei Meinungsverschiedenheit darüber herrscht, ob Nabel und Knie selbst schon dazu gehören
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Radikalisierung im Cyberspace
oder nicht. Wie man sieht, entspricht die ʿaura beim Mann ungefähr der Gegend, wo die Geschlechtsteile liegen. Die Frau dagegen wird als ganze auf ihre Sexualität reduziert und darauf gestützt in ihrer Freiheit stark beschränkt. Im Salafismus herrscht die abwertende Haltung gegenüber Frauen, dass sie in öffentlichen Betätigungen für Männer leicht zur sexuellen Versuchung würden. Die von ihnen dazu angeführten Überlieferungen aus Koran und Sunna funktionieren argumentativ allerdings nur, weil sie buchstabengetreu verstanden werden. Sie dienen dann als Basis für ihre Fatwas, die die Frau aus dem öffentlichen Raum verbannen. Weder wird die Gültigkeit solcher Überlieferungen angesichts zeitlicher und örtlicher Veränderungen infrage gestellt noch ihre Authentizität hinsichtlich der Sunna hinterfragt. Diese Fatwas und weitere Äußerungen offenbaren, was für ein Menschen- und Frauenbild in der virtuellen Welt des Salafismus propagiert wird. Die Notwendigkeit, Entwicklungen des Lebens bei der Auslegung der Quellentexte sowie die Ziele der Scharia (maqāṣid ash-sharʿīa) zu berücksichtigen, die doch in die Erstellung von religiösen Auskünften einfließen sollten, bleibt unbeachtet. Nach Abu Zaid wäre es »einfach absurd zu erwarten, dass eine göttliche Botschaft des siebten Jahrhunderts mit unserem heutigen Verständnis von Gleichheit übereinstimmt […].«266 Der Koran habe mit einer Reform der Geschlechterverhältnisse gemessen an der Lebensrealität jener Zeit angefangen und gewisse reformerische Veränderungen eingeführt. Die islamische Rechtsprechung habe es jedoch versäumt, den vom Koran eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Dies solle heute in Anpassung an Erfordernisse der Gegenwart fortgesetzt bzw. wiederaufgenommen werden. »Wir müssen uns hier entscheiden: Wollen wir uns von den sozio-historisch begründeten Regelungen beschränken lassen, die ihre Wurzeln im 7. Jahrhundert haben, oder folgen wir der Richtung, die im religiösen Bereich angegeben ist und die auf das Ideal der Gleichheit verweist?«267 Dass das von diesen Internetportalen vertretene Frauenbild ganz deutlich eine Benachteiligung der Frau gegenüber dem Mann darstellt, sehen die auf diesen Websites als Muftis fungierenden Akteure nicht. Vielmehr halten sie es für positiv und einen Schutz für die Frau. Da dieses Frauenbild aber Unterdrückung und erhebliche Einschränkungen der Rechte der Frau impliziert, widerspricht es eindeutig dem in Art. 3 Abs. 2 und 3 Satz 1 GG garantierten Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau.268 Auch die Behauptung eines körperlichen Züchtigungsrechts muslimischer Ehemänner gegenüber ihren Ehefrauen steht im Widerspruch zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG.269
266 267 268 269
Abu Zaid/Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes, S. 150. Vgl. weiterführend dazu ebd., S. 150-156; ähnlich bei Shahrur: al-Kitāb wa-l-qurʾān, S. 594f. Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html (abg. am 16.04.2019). Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html (abg. am 16.04.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
2.4
Position der Online-Salafisten zu politischer Gewalt
Vor allem nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ist das Thema Islam und Gewalt bzw. Islam und Terrorismus Gegenstand politischer Diskussionen, medialer Berichterstattung sowie akademischer Debatten.270 Dies spiegelt sich in der virtuellen Welt wieder: Nicht nur salafistische, sondern auch islamisch-liberale Plattformen räumen in ihren Online-Angeboten dem Thema Islam und Gewalt einen großen Platz ein. Dort lassen sich vorwiegend apologetische Aussagen und Argumente gegen die Anwendung von Gewalt finden, aber auch Widerspruch gegen Behauptungen, dass Gewalt dem Islam bzw. den Muslimen wesenseigen sei. Dabei wird sich von jeglicher Form von Gewalt im Namen des Islam distanziert und stattdessen ein friedliches und barmherziges Bild des Islam gezeichnet.271 Was die Prüfung anbelangt, ob und ggf. welche Andockpunkte die OnlineSalafisten für die Legitimation von und die Anstiftung zur politisch-religiösen Gewalt bieten, so ist zunächst eine begriffliche bzw. theoretische Unklarheit zu beseitigen: Es liegen nämlich unterschiedliche Ansätze zum Begriff der »politischen Gewalt« vor, auf die im Rahmen dieser Studie nicht en détail eingegangen werden kann. Für diese Studie erscheint es zweckmäßig, weitestgehend mit Enzmanns Definition politischer Gewalt zu arbeiten: »(1) die direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen, die (2) zu politischen Zwecken stattfindet, d.h. darauf abzielt, von oder für die Gesellschaft getroffene Entscheidungen zu verhindern oder zu erzwingen oder die auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zielt und versucht bestehende Leitideen zu verteidigen oder durch neue zu ersetzen, die außerdem (3) im öffentlichen Raum, vor den Augen der Öffentlichkeit und an die Öffentlichkeit als Unterstützer, Publikum oder Schiedsrichter appellierende stattfindet.«272 Im Folgenden wird nun auf die Positionen der dieser vorliegenden Studie zugrundeliegenden Internetportale zur Gewalt eingegangen.
2.4.1
Krieg im Kontext
Die hier untersuchten Online-Salafisten lehnen politische Gewalt ebenso wie viele andere Muslime kategorisch ab. Vielmehr präsentieren sie den Islam als eine Heimstatt für Toleranz, Barmherzigkeit, Güte und Leichtigkeit im Leben. Der Islam als Religion rufe Muslime dazu auf, Frieden zu stiften und Böses zu vermeiden. Die in diesem Zusammenhang immer wiederkehrenden textlichen Belege stammen in 270 Vgl. z.B. Kepel: Das Schwarzbuch des Dschihad; Steinberg: Der nahe und der ferne Feind; Wright: Der Tod wird euch finden; Coolsaet: Dschihadi terrorism; Said: Salafismus und politische Gewalt, S. 193-229. 271 Vgl. bspw. Shahrur: al-ʿᾹlamiyya fī l-islām, in: www.shahrour.org; www.al-khechin.com/article/150; www.islam.de/17354 (abg. am 20.04.2019). 272 Enzmann: Politische Gewalt, S. 46; für Näheres dazu Said: Salafismus und politische Gewalt, S. 193-229.
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Radikalisierung im Cyberspace
erster Linie aus dem Koran und der Sunna.273 Kriege, die Muhammad und seine Gefährten geführt haben, werden als Einsatz für Gottes Sache angesehen, der situationsbedingt ausgeführt worden sei. Diese Kriege werden zumeist als Akte der Verteidigung eingestuft. Ihr Ziel sei gewesen, die damals auf Zwang beruhenden politischen Systeme des »Unglaubens« abzuschaffen, »dem Zeitalter religiöser Verfolgung ein Ende zu setzen und das Zeitalter religiösen Friedens einzuläuten.«274 Heute lebe man hingegen in einer Zeit, »[…] in der das Schwert in der Schwertscheide gelassen werden sollte und man sich in der Daʿwa-Arbeit engagieren sollte.«275 Das heißt, die Möglichkeit, die Verbreitung des Islam durch die heute in vielen Ländern gegebenen Freiheiten durch daʿwa friedlich voranzutreiben, ist für Salafisten ein Argument, warum auf den militanten Dschihad verzichtet werden sollte. Die Ablehnung politischer Gewalt erfolgt also nicht aus moralischen Gründen, sondern sie ist kontextbedingt und kann somit im Falle veränderter gesellschaftlicher Gegebenheiten auch wieder aufgeweicht bzw. aufgegeben werden. Nichtsdestoweniger werden Behauptungen, der Islam biete eine Grundlage für die Anwendung von Gewalt oder er sei mit dem Schwert verbreitet worden, aufs Schärfste kritisiert und zurückgewiesen. »Der Islām ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Religion des Friedens.«276
2.4.2
Dschihad als spiritueller Kampf
Das Fatwa-Portal Islamfatwa.de nimmt eine ähnliche Position wie Islamweb.net ein. In einer Fatwa zum Thema Terrorismus wird der Begriff Dschihad auf seine lexikalische Bedeutung reduziert: »Der Dschihad ist, dass du gegen dich selbst ankämpfst, indem du die Gesetze deines Herrn einhältst. […] Indem du Allah gehorchst und die Sunnah des Propheten befolgst. Dabei spielt es keine Rolle, ob du dich in einem muslimischen Land befindest oder hier in diesem Land (Deutsch-
273 In diesem Zusammenhang werden u.a. folgende Koranstellen angeführt: 2:224: »Und macht Allah nicht bei euren Schwüren zum Hinderungsgrund, ehrlich und gottesfürchtig zu sein und Frieden zwischen den Menschen zu stiften.«; 5:32: »Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israʾils vorgeschrieben: Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.«; 21:17: »Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.« al-Munajjid: Toleranz im Islam, in: www.islamqa.info/ge; al-Faqīh: Islām: Eine Religion des Friedens, in: www.islamweb.net/de (abg. am 19.04.2019). 274 al-Faqīh: Eine Religion des Friedens, in: www.islamweb.net/de (abg. am 19.04.2019); ähnlich: al-Munajjid: Toleranz im Islam, in: www.islamqa.info/ge (abg. am 20.04.2019). 275 al-Faqīh: Islām: Eine Religion des Friedens, in: www.islamweb.net/de (abg. am 19.04.2019). 276 Vgl. al-Faqīh: Islām: Eine Heimstätte für Toleranz, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 19.04.2019); al-Faqīh: Islâm: Eine Religion des Friedens, in: www.islamweb.net/grn (abg. am 21.04.2019).
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
land).«277 Auf die Frage, ob man eine Terrorgefahr bei den zuständigen Behörden zu melden habe, wird erklärt, dass Muslime in nichtmuslimischen Ländern verpflichtet seien, eine solche Gefahr zu melden. Denn sie hätten durch die Akzeptanz des Visums oder des Passes des jeweiligen Landes einen Vertrag mit dem jeweiligen Staat geschlossen und sollten daher seine Regeln und Gesetze achten. Die Site distanziert sich nicht nur von Gewaltanwendung und von aktuell im Namen des Islam verübten terroristischen Aktionen,278 vielmehr wird auch mit einem großen Logo auf eine andere Website mit dem Namen Islamgegenextremismus.de verwiesen; ein Internetportal, das sich ausschließlich dem Thema Islam und Gewalt bzw. Islam und Terrorismus widmet.
2.4.3
Islamgegenextremismus.de
Neben dem selbsterklärenden Namen der Site erscheinen beim Aufrufen etliche Fotos von Personen wie Sayyid Quṭb, Osama bin Laden (gest. 2011), Ayman aẓẒawāhirī (geb. 1951) und Abū Bakr al-Baghdadi (geb. 1971), wobei über deren Augen ein schwarzer Balken gelegt wird, um sie als Kriminelle zu markieren. Unter diesen Bildern befinden sich im Sinne einer Distanzierung von ihren Ideologien und von ihnen veranlassten terroristischen Akten Aussagen wie »Sie sind die schlimmsten Geschöpfe.« und »Sie sind die Hunde des Höllenfeuers.«279 Das Impressum der Website nennt als Verantwortlichen wieder Nasser Malik, den Betreiber der Seite Islamfatwa.de, und als Standort ebenfalls Hamburg, wobei erneut mit Hinweis auf Sicherheitsbedenken keine weiteren Angaben gemacht werden. Auf der Site werden vorwiegend Artikel und Beiträge bereitgestellt, bei denen bereits der Titel eine Distanzierung von terroristischen Aktionen bzw. Gruppen signalisiert – konkrete Angaben zum Autor oder zum Erscheinungsjahr fehlen oft. Die Mehrzahl der Textbeiträge ist wie eine Fatwa strukturiert, d.h., sie werden mit einer Frage eingeleitet, worauf die Antwort von einem Gelehrten folgt. Viele Antworten stammen von namhaften Gelehrten Saudi-Arabiens wie z.B. Ibn Baz, al-ʿUthaimīn und ʿAbd al-ʿAzīz Āl ash-Shaikh (geb. 1943) und sind teilweise als Tondokument verfügbar, das in die deutsche Sprache übersetzt und transkribiert wurde.280 Neben zahlreichen Fatwas und Artikeln, die politische Gewalt und Terroranschläge verurteilen, findet sich auf dieser Site weiteres Informationsmaterial zum
277 Vgl. Ismāʿīl: Deutschen Behörden konkrete Terrorgefahr melden, in: www.islamfatwa.de; ähnlich bei Mandakār: Ist es erlaubt, in: www.basseera.de (abg. am 21.04.2019); al-Munajjid: Ruling on Dschihad, in: www.islamqa.info/en (abg. am 18.04.2019). 278 Vgl. z.B. Ibn Hādī: Sind Anschläge in nichtmuslimischen Ländern richtig?, in: www.islamfatwa.de (abg. am 20.04.2019). 279 Siehe Anh. 18. 280 Vgl. z.B. Ᾱl Schaich: Sollen wir gegen diejenigen warnen, in: www.islamgegenextremismus.de (abg. am 28.04.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
Thema Islam und Terrorismus. Dort werden terroristische Organisationen wie alQaida und ISIS als Nachfolger der Charidschiten281 angesehen und ihre Taten als barbarisch verurteilt. Nicht nur muslimischen Herrschern wird in diesem Zusammenhang moralisch auferlegt, diese Terrorgruppen zu bekämpfen und gegen sie den Dschihad auszurufen, sondern Muslime allgemein werden aufgefordert, sich daran zu beteiligen. In einer prophetischen Überlieferung heiße es: »So tötet sie, wo immer ihr sie auffinden möget, denn wahrlich, in ihrer Tötung ist eine Belohnung am Tag des Gerichts für den, der sie tötet«.282 Zur Unterstreichung dieser Forderung werden darüber hinaus weitere einschlägige Aussagen von Gelehrten salafistischer Prägung zitiert, die die Charidschiten, ihre Gewalttaten sowie die Anwendung politscher Gewalt generell verdammen. Dabei geht es diesen Gelehrten hauptsächlich darum, zu zeigen, dass Salafisten bzw. salafistische Gelehrte die größten und wirksamsten Opponenten des Terrorismus seien. In diesem Sinne heißt es: »Keiner von den Muslimen hat sich so standhaft, konsequent, einheitlich und stark gegen die Khawārij [Charidschiten] geäußert, wie die Salafi-Gelehrten, Salafi-Institutionen, Moscheen und Zentren, und allgemein die Salafis im Westen.«283 Abschließend wird zum einen an die westlichen Medien, Politiker, Autoren etc. appelliert, den Islam bzw. den Salafismus nicht mit dem Terrorismus gleichzusetzten. Muslime hätten sich bereits von solchen terroristischen Organisationen losgesagt. »Die Taten der Khawārij dem Islām oder gar dem der Salafiyyah zuzuschreiben, ist ein Verbrechen und eine große Ungerechtigkeit.«284 Zum anderen wird von jedem einzelnen Muslim erwartet, sich entsprechendes Wissen über die Frage Islam und Gewalt anzueignen, um Freunde, Familie usw. aufzuklären und somit den Islam und die Muslime vor ungerechtfertigten Beschuldigungen zu schützen.285
2.4.4
Distanzierung von Terror und Gewalt
Auch die Argumentation von Basseera.de bewegt sich im gleichen apologetischen Rahmen. Dabei geht es auch vorwiegend darum, die Vorwürfe, Salafisten übten Gewalt aus bzw. unterstützten diese, zu entkräften. In einem Textbeitrag mit dem
281
282 283 284 285
Charidschiten (khawarij) waren Anhänger einer religiös-politischen Oppositionsbewegung, die in der Frühzeit des Islam infolge innerislamischer Auseinandersetzungen, auch kriegerischer Natur, entstanden ist und laut muslimischer Überlieferungen terroristische Akten gegen Muslime ausgeführt haben soll. Die Wurzeln des sog. islamischen »Extremismus« bzw. »Fundamentalismus« werden von vielen Autoren auf diese Bewegung zurückgeführt. Vgl. für mehr dazu Kap. II, Abschn. 4. Rafiq: Warnung vor den Terrorgruppen, in: www.islamgegenextremismus.de (abg. am 22.04.2019). Ebd., S. 6f. Ebd., S. 6f. Vgl. ebd., S. 6f.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
Titel Die Unschuld der Salafis von den terroristischen Anschlägen wird sich in klaren Worten von allen terroristischen Aktionen und Gewalttaten distanziert, die in Verbindung mit dem Islam gebracht werden. Der Islam stehe in keinerlei Verbindung zu solchen Übeltaten und legitimiere sie niemals. Terroristen, die solche Anschläge verüben, werden des Unglaubens bezichtigt und als Wiedergänger der Charidschiten angesehen: »Die Selbstmordattentate, die in Großbritannien und auch anderswo verübt werden, werden von den Takfīris von diesen Chawāridj verübt und geplant […]. Zweifellos wird solch ein Anschlag auch nur von solchen verübt, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben. Du wirst keinen finden, der an Allah und den Jüngsten Tag wahrhaftig glaubt und dann solche bösen und verbrecherische Taten begeht, die einen enormen Schaden und großes Unheil mit sich bringen.«286 Dennoch bleibt festzuhalten, dass kriegerische Auseinandersetzungen keinesfalls von Salafisten ganz allgemein ausgeschlossen oder missbilligt werden. Vielmehr dürfe je nach zeitlichen und örtlichen Umständen und unter Einhaltung bestimmter Regeln durchaus von Gewalt Gebrauch gemacht werden, so wie ja auch der Prophet und seine Gefährten verfahren seien: In der Folge ihrer Kriegszüge hätten sie die »Ungläubigen« zunächst mit Worten zum Islam aufgerufen und ihnen dann die jizya (»Kopfsteuer«) auferlegt, wenn sie den Islam nicht annahmen. Erst wenn die »Ungläubigen« beides abgelehnt hätten, so die Argumentation, habe man ihnen den Krieg erklärt und sie bekämpft. »Somit hat der Gesandte Allahs […] Verrat und Tücke verboten, den diese Terroristen jedoch benutzen. Er verbot auch das Töten von Frauen, Kindern und älteren Männern, die nicht fähig sind zu kämpfen und deshalb auch nicht kämpfen. Er verbot, diese Menschen zu töten, genauso wie er das Unheilstiften auch verboten hat.«287 Es wird also betont, dass ein Krieg erst nach einer formellen Kriegserklärung geführt werden dürfe und dass dabei bestimmte Regeln einzuhalten seien. Eine generelle bzw. prinzipielle Hinterfragung kriegerischer Handlungen bleibt hingegen aus.
2.4.5
Dschihad ist »nicht immer die Waffe«
Ähnlich positioniert sich die Website Im Auftrag des Islam. In ihrer Selbstpräsentation wird die Ablehnung von Terror und Gewalt als eines ihrer Grundprinzipien dargestellt. Mit Nachdruck distanziert man sich von allen terroristischen Anschlägen und gewaltbereiten religiösen Bewegungen. Der Begriff Dschihad wird als das spirituelle Bemühen eines jeden Muslims um das rechte religiöse und moralische
286 an-Nadjmī: Die Unschuld der Salafis, in: www.basseera.de (abg. am 09.04.2019); Ibn Baz: Die verheerenden Auswirkungen des Terrors, in: www.basseera.de (abg. am 22.04.2019). 287 Vgl. an-Nadjmī: Die Unschuld der Salafis, in: www.basseera.de (abg. am 09.04.2019).
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Radikalisierung im Cyberspace
Verhalten (d.h. gegenüber Gott und den Mitmenschen) definiert, wobei seine Bedeutung als bewaffneter Krieg nicht gänzlich ausgeschlossen wird: Der Dschihad auf dem Wege Gottes beinhalte »nicht immer die Waffe, sondern ist ein allgemeiner Begriff für die Anstrengung auf dem Wege Allahs.« Wann auf die Waffe zurückgegriffen werden dürfe, wird von Vertretern der Site an dieser Stelle nicht erläutert. Es wird lediglich die Relevanz des Dschihad des Wortes als Mittel der daʿwa hervorgehoben und als das effektivste Medium zur Verbreitung des Islam angesehen; dies sei der Weg zur Errichtung der angestrebten islamischen Herrschaft nach dem Modell der ersten drei Generationen des Islam.288
2.4.6
Das Verbot der Tötung »unschuldiger« Menschen
Die Haltung der Realität Islam zur Gewaltanwendung weicht nicht von der der oben angeführten Webportale ab. Auch ihre Repräsentanten verurteilen die Terroranschläge, die nach ihrer Darstellung dem Islam bloß zugeschrieben werden. Ihre Position stützen sie u.a. mit folgendem Koranvers: »Deshalb haben Wir den Kindern Israels verordnet, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, es so sein soll, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, es so sein soll, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.«289 Entsprechend diesem Koranvers sprechen Vertreter des Portals konkret vom »Töten von unschuldigen Menschen«, was eindeutig impliziert, dass nicht jede Form der Gewalt bzw. des Dschihads für die Sache Gottes abgelehnt wird. Die Frage, wann konkret ein kriegerischer Einsatz erlaubt sein könnte, bleibt hier ebenfalls (wie bei Im Auftrag des Islam) unbeantwortet. Anders als die anderen Plattformen aber kritisiert Realität Islam jene Forderungen, die Muslime dazu nötigen würden, sich von terroristischen Attentaten zu distanzieren. Denn solche Forderungen beruhten auf dem Generalverdacht gegen Muslime, diese Terroranschläge zu befürworten bzw. mitzutragen. Nicht die Muslime sollten sich von Terroranschlägen distanzieren, vielmehr müsse sich die Mehrheitsbevölkerung des Westens von jenen tagtäglichen Verbrechen gegen Muslime im Irak, in Syrien und Afghanistan lossagen. Denn solche westlichen Kriege beruhten auf der Vollmacht, die das Volk den Entscheidungsträgern durch demokratische Wahlen erteile. »Die Mehrheitsbevölkerung ist deshalb umso mehr dazu angehalten, sich von den Verbrechen gegen die Muslime weltweit zu distanzieren, anstatt den Druck auf die Muslime abermals zu
288 Vgl. Ibn Abdullah: Die Plattform im Auftrag des Islam. In: www.imauftragdesislam.com (abg. am 25.02.2019); ähnlich: al-Munajjid: Ruling on Dschihad, in: www.islamqa.info/en (abg. am 18.04.2019). 289 Koran 5:32, zitiert nach Realität Islam: Das richtige Argument, S. 16.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
erhöhen und von ihnen eine Distanzierung einzufordern.«290 Dass im westlichen Diskurs über Islam und Gewalt zwischen einem »guten, liberalen« und einem »bösen, fundamentalistischen« Islam unterschieden wird, erfährt strikte Ablehnung. Es gebe nur einen Islam, wie dem Koran zu entnehmen sei: »Wahrlich, die Religion bei Allah ist der Islam«.291
2.4.7
Da‘ wa statt Krieg
Auch die Mainstream-Salafisten Deutschlands begründen ihre Ablehnung politischer Gewalt mit der Überzeugung, dass der Islam eine bzw. die Religion des Friedens sei. Das Wort »Frieden« komme 140 Mal im Koran vor, während das Wort »Krieg« lediglich sechsmal Erwähnung finde. Der Name der islamischen Religion selbst (»Islam«) gehe auf das Wort salām zurück, was »Frieden« bedeute. Zudem laute einer der 99 Namen Gottes as-salām (»der Friede bzw. der Friedensstifter«). Mit diesen und anderen Argumenten sind salafistische Prediger Deutschlands wie etwa Pierre Vogel in vielen Text- und Videobeiträgen bemüht, den Islam als Religion des Friedens darzustellen. Indem sie dabei das Paradies, das auch »Haus des Friedens« (dār as-salām) heißt, zu ihrem Ziel erklären, wollen sie somit auch den Frieden als ihr Ziel verstanden wissen.292 Einen weiteren Grund, der gegen die Anwendung von Gewalt spreche, sieht Vogel in der Möglichkeit, den Islam durch die daʿwa auf friedlichem Wege zu verbreiten. Der Islam genieße in Deutschland ein nicht zu unterschätzendes Maß an Religions- und Meinungsfreiheit, das es Muslimen ermögliche, sich in der daʿwa-Arbeit uneingeschränkt zu betätigen, ohne mit dem bestehenden Staatssystem in Konflikt zu geraten. Diese Rechte und Freiheiten seien förderlicher als Umstände der Konfrontation und des Krieges. Muslime seien daher angehalten, das deutsche Recht zu achten und politische Gewalt zu vermeiden, um diese Freiheiten nicht zu verlieren. Dazu sagt er: »Terrordrohungen gegen Deutschland, das ist das Dümmste, was passieren kann, wenn hier irgendjemand eine Bombe wirft, dann kann es vorbei sein mit der daʿwa.«293 Seine Absage an politische Gewalt stützt sich darüber hinaus auf den zwischen den ersten Muslimen in Medina und den Mekkanern im siebten Jahrhundert abgeschlossenen Friedensvertrag, den sog. ṣulḥ al-ḥudaybiyya.294 Im Zuge dieses Vertrags hatten Muslime, so Vogel,
290 291 292 293
Ebd., S. 20ff. Ebd., S. 17. Siehe weiterführend dazu Kap. IV, Abschn. 6. Vgl. Vogel: Krieg und Frieden im Islam, in: www.youtube.com (abg. am 22.04.2019). Vogel: Unser Vorschlag, in: www.youtube.com (abg. am 20.04.2019); mehr dazu bei Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 238f. 294 Ṣulḥ al-ḥudaybiyya war laut islamischer Geschichtsliteratur ein zehnjähriges Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Propheten Muhammad und den Koreischiten aus Mekka, das 628 geschlossen und zwei Jahre später seitens der Mekkaner gebrochen wurde. Daraufhin marschierte Muhammad mit ca. 10.000 Soldaten gen Mekka und befreite die Stadt un-
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zehn Jahre Frieden und Sicherheit, den Islam offen zu verkünden. Die Zahl der Muslime konnte dadurch innerhalb von zwei Jahren rasch ansteigen: »Und wir [in Deutschland] haben das, wir haben diese Sicherheit. Und deshalb dürfen wir diese Sicherheit nicht riskieren.«295 Verse wie 9:29 und 2:193, die den Krieg gegen Nichtmuslime befürworten, werden in diesem Zusammenhang historisch kontextualisiert. Einschlägige Koranstellen seien situationsbedingt offenbart worden, d.h. in einer Zeit, in der Muslime unterdrückt und verfolgt oder von Feinden angegriffen worden seien. In diesen Situationen hätten Muslime das Recht gehabt, sich zu verteidigen. Jene koranischen Aussagen müssten daher in ihrem Kontext gelesen und dürften keineswegs als generelle Erlaubnis zum Kampf gegen Nichtmuslime verstanden werden.296
2.4.8
Zwischenfazit
Alle hier untersuchten Webportale distanzieren sich von jeglicher politischer Gewalttat bzw. von Terroranschlägen, die im Namen des Islam begangen oder ihm zugeschrieben werden. Muslimen, die solche Übeltaten ausführen, wird der Glaube abgesprochen. Dass Vertreter dieser Sites der politischen Gewalt als Mittel der Umsetzung religiöser und politischer Anschauungen grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen und für die Errichtung ihrer angestrebten schariakonformen Staatsund Gesellschaftsordnung auf friedliche Mittel wie Missionierung, Bildung und karitative Tätigkeiten zählen, bedeutet nicht, dass sie den bewaffneten Dschihad vollständig verwerfen. Ihre Absage an politische Gewalt erfolgt in erster Linie aus strategischen und pragmatischen Gründen. Sie gehen davon aus, dass der Islam heutzutage friedlich mit Hilfe der daʿwa verbreitet werden könne und daher ein offensiver bzw. expansiver Dschihad (jihād aṭ-ṭalab) im klassischen Sinne – also ein bewaffneter Kampf zur Verbreitung des Islam bzw. Erweiterung des islamischen Herrschaftsbereiches – nicht notwendig sei. Ihre ablehnende Haltung ist demnach pragmatisch begründet und kann daher – theoretisch – bei veränderter Lage der Muslime revidiert werden. Genauso verhält es sich beim Mainstream-Salafismus in Deutschland. Wiedl kommt zu dem Fazit, dass dieser seine Position zur Gewalt ändern würde, falls sich die Situation religiöser Muslime in Deutschland ändere. Als mögliche Gründe eines solchen hypothetischen Positionswechsels erwähnt sie: zunehmende Macht und Stärke der salafistischen Szene, verstärkte staatliche Repressionen gegen salafistische daʿwa oder Gesetzesverschärfungen, die Salafisten als essentielle Einschränblutig, da sich die Mekkaner ergeben haben. Siehe dazu u.a. Ibn Isḥāq: Das Leben des Propheten, S. 213ff. 295 Vogel: Unser Vorschlag, in: www.youtube.com (abg. am 20.04.2019); siehe auch Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 238f. 296 Vgl. Vogel: Einführung in die Methodik, in: www.youtube.com (abg. am 20.04.2019); Wiedl: Außenbezüge, S. 60.
V. Die virtuelle Welt des Salafismus – ein Weg zur islamistischen Radikalisierung?
kung ihrer Religionsfreiheit empfinden. »Staatliche Repressionen und Gesetzesverschärfungen können also theoretisch einen Übergang von einer gewaltablehnenden zu einer gewaltbefürwortenden Strategie religiös legitimieren.«297 Auch wenn in den angeführten Stellungnahmen zur Gewaltanwendung nicht direkt auf die unterschiedlichen Formen des Dschihads eingegangen wurde, implizieren ihre Erklärungen die Befürwortung des defensiven Dschihad (jihād difāʿī), wie er im klassischen sowie mehrheitlich im modernen Rechtsdenken vertreten wird.298 Der defensive Dschihad, Antonym zum expansiven Dschihad, erlaubt Muslimen, sich gegen fremde Angriffe zu verteidigen. Er diene der Verteidigung bzw. der Befreiung muslimischer Länder und/oder Gemeinschaften von Besatzungsmächten. Diese Art Dschihad wird zur individuellen Pflicht (farḍʿain) erklärt; d.h., jedes geistig wie körperlich fähiges Individuum der muslimischen Gemeinschaft sei verpflichtet, sein Land gegen Angriffe fremder Mächte zu verteidigen. Der expansive Dschihad wird indessen als kollektive Pflicht (farḍ kifāya) betrachtet und dient der Unterwerfung nichtmuslimischer Gebiete und Bevölkerungen unter islamische Herrschaft. Hierfür wird u.a. vorausgesetzt, dass der Krieg vom Kalifen bzw. Anführer des islamischen Reiches und nicht von Bürgern, Terroristen, Aufständischen oder Predigern ausgesprochen werde, einen guten Zweck verfolge und dabei keine Zivilisten zum Schaden kommen.299 Bezugnehmend auf die Positionen zur Gewaltanwendung teilt Wagemakers den dschihadistischen Salafismus in drei Typen ein. Die entsprechenden Kategorien hängen mit den verschiedenen Arten des Dschihads zusammen: (1) Befürworter des defensiven Dschihads, einer Form des Verteidigungskriegs von Muslimen gegen Nichtmuslime, (2) revolutionäre Dschihadisten, welche den Krieg gegen muslimische Herrscher aufgrund ihrer Weigerung, die Scharia allumfassend einzuführen, erklären und ihren Umsturz anstreben und (3) globale Dschihadisten, wie etwa al-Qaida-Anhänger, die den Westen u.a. als Unterstützer für diktatorische Regimes in der muslimischen Welt auffassen und ihn daher attackieren. In diesem Zusammenhang kritisiert Wagemakers, dass Dschihad-Salafisten manchmal einfach als Salafisten angesehen werden, »die Dschihad betreiben«. »Dies ist zweifellos eine Vereinfachung ihrer Ansichten, da alle Salafisten den Dschihad als integralen Bestandteil des Islams ansehen.«300 Diese Aufteilung Wagemakersʼ ist meines Erachtens misslungen und irreführend, da sich darunter nicht nur die in der vorliegenden Studie untersuchten salafistischen Webportale, sondern auch die Mehrheit der Muslime unter die erste Kategorie des dschihadistischen Salafismus 297 Wiedl: Außenbezüge, S. 60f.; siehe auch Said: Salafismus und politische Gewalt, S. 201ff. 298 Vgl. z.B. al-Munajjid: Ruling on Dschihad, in: www.islamqa.info/en (abg. am 18.04.2019); Ibn Hādī: Terror-Organisationen, in: www.islamfatwa.de (abg. am 23.04.2019). 299 Siehe weiterführend dazu statt vieler Peters: Dschihad, insb. S. 1-9; Esack/Tatari: Untersuchungen zum Ğihād-Begriff, S. 93-116; az-Zuḥailī: Ᾱthār al-ḥarb, S. 93ff., 124ff. 300 Vgl. Wagemakers: Salafistische Strömungen, S. 62f.
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subsumieren lassen. Der defensive Dschihad, also der Verteidigungskrieg, wird nicht nur von Salafisten oder Muslimen für erlaubt erklärt, sondern steht letztlich sogar mit dem völkerrechtlichen Kriegsrecht in Einklang, das ja angegriffenen Staaten erlaubt, sich zu wehren und sich zu verteidigen.
VI. Fazit und Ausblick
Die vorliegende Studie widmete sich der Darstellung und Analyse ausgewählter Internetseiten, um die Frage zu beantworten, ob die virtuelle Welt des Salafismus im deutschsprachigen Raum eine Quelle islamistischer Radikalisierung darstellt. Andere oft mit dem Salafismus im gleichen Atemzug ausgesprochene und nicht selten als synonym verwendete Begriffe wie etwa Salafiyya, Islamismus, Extremismus und Fundamentalismus wurden der Abgrenzung halber zunächst vorgestellt: Der Rückbezug auf die islamischen Quellentexte und die Tradition früherer Muslime, insbesondere der ersten drei Generationen, stellt einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt zwischen diesen sowie auch allen anderen islamistischen Bewegungen und sogar allgemein vielen Anhängern der Religion des Islam dar. Dies kann und darf aber nicht als Grundlage dazu dienen, den Islam als Ganzes oder die Muslime in ihrer Allgemeinheit, unter welcher Bezeichnung oder Zuschreibung auch immer, undifferenziert unter den Generalverdacht des Fundamentalismus bzw. Extremismus zu stellen. Entscheidend ist die Herangehensweise der jeweiligen Strömung bzw. Denkschule an die Quellentexte und die Tradition, also die Hermeneutik. Dazu kommen ihre Ziele, Strategien und historischen Verortungen. Auf dieser Basis lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Strömungen feststellen: Während der Salafismus wahhabitischen Ursprungs ist und die islamischen Quellentexte weitestgehend wortgetreu verstanden wissen will, ist die Salafiyya eine in Reaktion auf den Kolonialismus um die Wende des 20. Jahrhunderts entstandene Reformbewegung, die eine zeitgemäße Lesart der Offenbarungstexte anstrebt(e). Im Unterschied zum Islamismus ist der Salafismus eine Gruppierung des sunnitischen Islam, die teilweise apolitisch ist und eine Herrschaftsordnung vollständig nach den Vorgaben der Scharia propagiert, orientiert am Wortlaut der religiösen Texte sowie den Traditionen der salaf. Der Islamismus stellt hingegen eine im sunnitischen wie schiitischen Islam vertretene Ideologie politischer Natur dar, die ihren ideologischen Ursprung in der modernen Salafiyya und ihre organisatorischen Wurzeln in der ägyptischen Muslimbruderschaft hat. Wie der Salafismus zielt auch er auf die Wiedererrichtung eines auf der Scharia basierenden Staatsund Gesellschaftssystems ab, ist aber bemüht, den Islam bzw. seine Referenztexte zeitgemäß zu interpretieren, um dem erhobenen Anspruch, Islam und Moderne
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seien vereinbar, gerecht zu werden. Beide Strömungen eint also das Anliegen, die Trennung von Religion und Staat als Ausdruck der Säkularisierung aufzuheben und die Scharia als holistisches Gebilde im Sinne einer islamischen Staat- und Gesellschaftsordnung institutionell zu verankern, wobei sie sich in ihren Strategien unterscheiden und daher jeweils in unterschiedliche Gruppen aufgespalten sind. Salafisten, aber auch Islamisten, pauschal und ohne nähere Differenzierung als Fundamentalisten zu bezeichnen, ist demnach nicht immer zutreffend und zielführend, da sich alle islamischen bzw. islamistischen Bewegungen auf die Fundamente, d.h. die Quellen, des Islam in unterschiedlichem Maße beziehen. Zudem halten nicht alle Salafisten wortwörtlich an den autoritativen Texten vollumfänglich fest, vielmehr werden einige Textstellen, wie etwa die Dschihad-Verse, von puristischen wie politischen Salafisten historisiert, auch wenn dies aus strategischem Kalkül heraus erfolgt. Sehr zurückhaltend gilt es ebenfalls zu sein bei der Übertragung des Begriffs Extremismus auf den Salafismus, vor allem aufgrund seiner Vieldeutigkeit und seines überwiegend politisch-ideologisch aufgeladenen Gehaltes. Der angestrebte differenzierte Gebrauch jener Begriffe, wie im Kap. II dargelegt, vermag dazu beizutragen, Vorurteile und Misstrauen gegenüber den muslimischen Mitbürgern abzubauen und einem kooperativen und vertrauensvollen Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen den Weg zu ebnen. Im darauffolgenden Kapitel wurden die wichtigsten Inhalte der salafistischen Ideologie präsentiert: Der Koran und die Sunna sind in salafistischer Deutung göttliche Offenbarungstexte, deren vollkommene Absolutheits- und Wahrheitsansprüche zu akzeptieren seien. Dazu kommen die Traditionen der salaf, deren Lehren und Handlungen den Salafisten als verbindliches Vorbild gelten, da diese in vorbildlicher Weise den authentischen, wahren Islam praktiziert hätten. Diese drei Quellen bieten nach salafistischer Überzeugung in ihrer authentischen Form allumfassende Antworten und Lösungen für alle Fragen und Probleme des Lebens. Nur durch eine richtige Befolgung dieser befände man sich auf dem richtigen Pfad und verwirkliche das von Gott vorgesehene Ziel, die Errichtung eines islamischen Staates, und befreie sich von allem Unheil und von allen weltlichen Krisen. Wenngleich diese Quellen das normative Fundament aller muslimischen Glaubensrichtungen bilden, charakterisiert sich der salafistische Zugang dadurch, dass er auf diese Grundlagen unreflektiert zurückgreift und eine nahezu vollständige Umsetzung dieser in Familie, Gesellschaft und Politik fordert. Diese erzkonservative Denkweise, die die unentwegten Entwicklungen und Veränderungen des Lebens außer Acht lässt, schlägt sich in ihrer Idealisierung der Scharia, ihrer ablehnenden Haltung zur Frage der Erneuerung der »Tradition« (turāth) sowie in ihrem Verfahren bei der islamischen Lebensberatung bzw. der Fatwa-Erteilung nieder. Versuche, wie sie von vielen zeitgenössischen muslimischen Theologen und Intellektuellen unterschiedlicher Prägung unternommen werden, diese Quellen und das kulturelle Erbe zeit- und ortsgemäß in Anpassung
VI. Fazit und Ausblick
an die Erfordernisse der Zeit zu lesen bzw. zu re-interpretieren, werden von Salafisten durchweg abgelehnt und als bidʿa bzw. nicht selten als kufr diffamiert. Das heißt, sie wollen die Rückkehr zu Lehren des Islam, wie sie der Prophet Muhammad vermittelt habe und wie sie die frommen Altvorderen verstanden und angewendet hätten, in Authentizität und unverfälschter Reinheit, ohne Makel und ohne Neuerungen. Die Reinigung der Religion und die Rückkehr zum reinen Islam der salaf stehen daher im Mittelpunkt der salafistischen Agenda. Davon ausgehend sehen sich Salafisten in der Verantwortung, sowohl Muslime von der vermeintlich einzig wahren Lesart des Islam zu überzeugen, als auch Nichtmuslime auf dem Wege der daʿwa zu missionieren. Die daʿwa wird von vielen Salafisten daher oft als Pflicht eines jeden Muslims angesehen. Zu den konstitutiven Inhalten der salafistischen Ideologie gehört darüber hinaus die umfangreiche Monotheismuslehre, die in unterschiedlichen Kontexten politisch interpretiert und als Argumentationsstütze eingesetzt wird. Von der Überzeugung getragen, allein die Wahrheit zu erkennen und zu präsentieren und dass die Scharia ein universell und ewig gültiges Staats- und Gesellschaftssystem darstelle, bieten Salafisten ein Regelwerk zu allen Angelegenheiten des Dies- und Jenseits an: von der Theologie und Ethik über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bis hin zur Bildung, Erziehung und Mission. Einschlägige Inhalte zur Verbreitung salafistischer Propaganda, die überwiegend in normativer Gestalt, d.h. in Form von Fatwas, vorgetragen werden, werden, mit dem Anspruch daʿwa zu betreiben, nicht nur in gedruckten Publikationen, sondern auch über das Internet besonders stark verbreitet. Die virtuelle Welt und mit ihr einhergehend Social Media, Netzwerke und Videoportale sind längst zu einem festen Bestandteil unserer heutigen Lebenswelt geworden. Vor allem Jugendliche nutzen heute eher das Internet, um sich über alle möglichen Fragen zu informieren, einschließlich der Religion. Es ermöglicht, eine schnelle, einfache und anonyme Informationsbeschaffung, unabhängig von Ort und Zeit. Für Menschen muslimischen Glaubens wird der Cyberspace also zu einer Art virtuellen und leicht zu findenden alternativen Moscheegemeinde, die gerade aufgrund der scheinbar gewährleisteten Anonymität, der Attraktivität der Angebote und der Verfügbarkeit in deutscher Sprache viele Menschen erreichen kann. Informationsangeboten über den Islam im Internet, insbesondere OnlineFatwa-Diensten, kommt also eine große Bedeutung zu, da sie eine große Reichweite haben und ein breites Spektrum an Themen bieten. Für Salafisten dient der virtuelle Raum als Verbreitungsplattform für ihre Botschaft, womit er auch ein zentrales Kommunikationsmittel zur Mobilisierung und Rekrutierung neuer Anhänger wird. Ob die Inhalte salafistischer Online-Propaganda Radikalisierungspotenzial besitzen, wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit exemplarisch anhand ausgewählter deutschsprachiger Internetplattformen, nämlich Islam Q&A, Islamweb.net/de, Islamfatwa.de, Basseera.de,
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Realität Islam und Im Auftrag des Islam, erörtert. Die dort propagierte Ideologie wird nicht nur von anderen Webseiten wie etwa Botschaft des Islam, Salaf .de, Islamreligion.com, Way-to-allah.com und IslamHouse.com übernommen, sondern auch über andere Kanäle wie YouTube oder soziale Netzwerke (Facebook, Twitter und Instagram) weiterverbreitet. Sie erhält somit, vor allem durch ihre Verfügbarkeit in mehreren Sprachen, eine globale Reichweite. Als religiöse Autoritäten treten dort vorwiegend salafistische Gelehrte saudischer Herkunft auf, wie etwa Ibn Baz, al-ʿUthaimīn, al-Munajjid und al-Fauzān, deren Fatwas bzw. Lehrmeinungen buchstabengetreu übernommen und vom Arabischen ins Deutsche übersetzt werden. Es werden nicht nur religiöse Fragen und Fatwas zur Alltagspraxis behandelt, sondern auch Themen politischer und gesellschaftlicher Art. Dies ist auf attraktive Weise zugeschnitten auf die Interessen und Bedürfnisse vieler Jugendlicher und Erwachsener. Auf salafistische Inhalte zu stoßen, bedarf also keiner aufwändigen Recherche. Die Wahrscheinlichkeit, weltweit von zuhause aus an salafistische, möglicherweise radikalisierungsfördernde Propaganda zu gelangen, ohne direkt in salafistische Gruppen bzw. Moscheegemeinden eingebunden zu sein, ist demnach als groß zu bewerten, gerade aufgrund des Mangels an moderaten Alternativen. Um zu prüfen, ob die Inhalte dieser Internetseiten radikalisierungsfördernd sind, wurde zunächst der Begriff Radikalisierung als Bewertungskriterium vorgestellt: Die islamistische Radikalisierung kann kognitiv auf politischer, gesellschaftlicher oder religiöser Ebene erfolgen, sodass ein Radikalisierter verfassungsfeindliche bzw. -widrige Überzeugungen und Bestrebungen vertritt. Radikalisierung kann sich aber auch in Gewaltbereitschaft manifestieren und in terroristische Akten münden, indem auf den bewaffneten Dschihad als Mittel zur Durchsetzung der adoptierten Ideologie gesetzt wird. Auch wenn das Internet eine große Rolle bei der Radikalisierung zu spielen vermag, bleibt diese doch teils von der realen Welt abhängig. Virtuelle und reale Welt wirken wechselseitig aufeinander ein. Das heißt, online erfolgt, oftmals während der Phase der Selbstidentifikation, zunächst die Informationsbeschaffung, woraus dann die erste realweltliche Kontaktaufnahme zur salafistischen Szene entstehen kann. Umgekehrt kann der im realen Leben aufgenommene Kontakt durch soziale Medien fortgeführt bzw. aufrechterhalten werden. Anhand von vier Themenschwerpunkten, die Einstellung der Webseiten zur Politik, zu Andersdenkenden, zur Stellung der Frau und zur Gewaltanwendung betreffend, konnte hinsichtlich der Untersuchungsfrage festgestellt werden, dass die Online-Salafisten, zumindest am Beispiel der oben angeführten Webportale, ein verkrustetes, veraltetes Islamverständnis vertreten, das sich nicht nur gegen die Demokratie und die politischen Systeme des Westens, sondern auch gegen Frauen, Nichtmuslime sowie andere Muslime richtet, die ihre Sicht nicht teilen. Da die dort propagierte Ideologie in vielerlei Hinsicht im Widerspruch zur freiheitlich de-
VI. Fazit und Ausblick
mokratischen Grundordnung steht, sind die Inhalte dieser Webseiten nicht nur als radikalisierungsfördernd zu bewerten, sondern auch als integrationshemmend. In der Gesamtschau wird dort auf folgende Weise für radikalisierungsfördernde Inhalte und somit eine verfassungsfeindliche Weltanschauung geworben: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden zu einer dem Islam feindlich gesinnten »Religion« bzw. »Gegenreligion« erklärt und grundsätzlich abgelehnt. Sie seien nämlich menschengemacht, obwohl nur Gott das Recht auf Gesetzgebung und Herrschaft zustehe; nur Ihm alleine gebühre der absolute Gehorsam. In der Konsequenz positionieren Salafisten Gottes Gesetz bzw. die Scharia, wie sie sie verstehen, über jede Form weltlichen Rechts. Daraus ergibt sich die Infragestellung bzw. die Ablehnung schariawidriger Gesetze. Handlungsmaximen und argumentative Basis sind hierbei Konzepte wie tauḥīd (»Eingottglaube«), ḥākimīyat Allāh (»die absolute Herrschaft Gottes«) und al-walāʾ wa-l-barāʾ (»Loyalität und Lossagung«), die theologisch begründet und je nach Kontext politisch umgedeutet werden. So wird die Anerkennung menschengemachter Gesetze oder staatlicher Verfassungsordnungen als ein Akt der Anbetung anderer Götter interpretiert und somit als Verstoß gegen das tauḥīd-Prinzip gewertet. Politische Aktivitäten, wie etwa die Teilnahme an einer freien Wahl, wird als Abfall vom Glauben (kufr) betrachtet und die Übertragung der Gesetzgeberschaft auf die Menschen mit Polytheismus (shirk) gleichgesetzt. Menschengemachte Gesetze dürften, auch von Muslimen in mehrheitlich nichtislamischen Gesellschaften, nur in Ausnahmefällen und unter besonderen Umständen anerkannt und befolgt werden. Indem Online-Salafisten Gottes Souveränität über die Volkssouveränität stellen und die Scharia über jede weltliche Gesetzgebung positionieren, wenden sie sich gegen die Ordnung verfassungsdemokratischer Staaten. Auf gesellschaftlicher Ebene wird ein freundlicher, kooperativer Umgang mit Nichtmuslimen religiös begründet untersagt. Um eine in diesem Sinne umfassende Distanzierung ihrer Glaubensbrüder von Nichtmuslimen einzufordern, stützen sich Salafisten nicht nur auf textliche Grundlagen, sondern berufen sich darüber hinaus auf das al-walāʾ wa-l-barāʾ-Prinzip sowie auf die von ihnen konstruierte dualistische Weltsicht (gläubig vs. ungläubig, gut vs. böse etc.). Muslime, die dennoch die Nähe zu Nichtmuslimen suchen oder sich auf interreligiöse Aktivitäten einlassen, werden diffamiert und nicht selten des Unglaubens bezichtigt. Zentrales Narrativ salafistischer Propaganda ist hierbei neben Referenztexten eine angebliche Verschwörung der »Ungläubigen« mit dem Ziel, die Religion des Islam zu manipulieren oder gar zu vernichten. Diese intolerante bis diskriminierende Haltung gegenüber dem religiös Anderen beschränkt sich nicht auf Nichtmuslime, sondern erstreckt sich auch auf Muslime, die die salafistische Weltanschauung bzw. das salafistische Verständnis von Religion, Politik und Gesellschaft nicht teilen, wie etwa Schiiten und Sufis; diese werden ebenfalls als »ungläubig« stigmatisiert. Ein Dialog mit dem religiös Anderen darf nach salafistischem Verständnis nur dann er-
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folgen, wenn es der Missionierung dient. Religiöse Texte indessen, die Grundwerte wie Toleranz und Vielfalt und somit das inner- und interreligiöse Zusammenleben fördern, finden bei salafistischen Autoritäten keine Beachtung. Eine solche in der virtuellen Welt verbreitete Haltung gegenüber Andersdenkenden könnte also ein Hindernis für eine erfolgreiche Integration der Muslime in mehrheitlich nichtislamische Gesellschaften sein und ein friedliches und kooperatives Miteinander durchaus erschweren, gerade weil die salafistischen Ansichten mit normativem Anspruch, nämlich in Form von Fatwas, vertreten werden. Frauen wird im salafistischen Denken nur eine Rolle im Haus zuerkannt, d.h. als Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Durch die dem Mann gegenüber der Frau zugesprochene Autorität und seine alleinige Versorgerrolle sind Frauen in ihren Möglichkeiten häufig stark eingeschränkt, auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Diese Einschränkung der Frau und die mit ihr einhergehende strikte Geschlechtertrennung beginnt mit dem Eintritt in die Pubertät: Frauen dürfen sich z.B. nur in Begleitung und mit Erlaubnis des Vormundes in die Öffentlichkeit begeben, müssen eine bestimmte Kleidungsordnung im angeblich islamischen Sinne wahren, dürfen keine Führungspositionen übernehmen und nur unter bestimmten Bedingungen erwerbstätig werden. Hintergrund dessen ist die Überzeugung der Salafisten, dass jeglicher Kontakt zwischen Männern und Frauen, die nicht maḥram sind, die Gefahr von unehelichen Beziehungen heraufbeschwöre. Die Reduzierung der Frau auf ihre Sexualität wird mit Texten aus dem Koran und der Sunna gerechtfertigt, die wortwörtlich verstanden und oftmals willkürlich interpretiert werden. Auch bedient man sich in diesem Zusammenhang der klassischen Rechtsliteratur, die ebenfalls eine strenge Geschlechterrollenverteilung vertritt, in der Frauen stets gegenüber Männern benachteiligt werden. Dieses Frauenbild wird von Salafisten nicht als Unterdrückung oder Benachteiligung der Frau wahrgenommen, sondern positiv interpretiert und als Schutz für die Frau dargestellt. Ob sich dieses Bild von der passiven bzw. unterdrückten Frau im Salafismus, insbesondere in westlichen Ländern, in letzter Zeit dadurch gewandelt hat, dass Frauen teilweise alleine in Kriegs- und Krisengebiete ausgereist sind und »eine nicht unwesentliche Rolle bei der Radikalisierung ihrer Männer und Kinder gespielt haben bzw. weiterhin spielen«, wie in Berichten deutscher Sicherheitsbehörden dargelegt wird,1 kann im Rahmen des Dargestellten nicht bestätigt werden. Es bedarf empirischer Forschung, um genauere Erkenntnisse darüber zu gewinnen. Die auf den hier untersuchten Webportalen propagierten Ansichten stellen ein Medium für islamistische Radikalisierung dar, doch bleibt dies auf die kognitive Ebene beschränkt. Hinsichtlich der Frage, ob sie auch zur gewaltbereiten Radikalisierung führen könnten, konnte in ihren Angeboten kein entsprechendes Indiz dafür festgestellt werden, dass sie zum bewaffneten Dschihad aufrufen oder 1
Vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Frauen im Salafismus, S. 4.
VI. Fazit und Ausblick
die Gewaltanwendung in offensiver Form befürworten. Vielmehr lehnen sie diese Art von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele ab, was sich in vielen ihrer Fatwas und entsprechenden Abhandlungen niederschlägt. Die Absage an politische Gewalt erfolgt allerdings nicht aus humanen oder religiösen Überzeugungen heraus, sondern vielmehr aus taktischen Gründen, d.h., dies würde sich ggf. ändern, wenn sich die gegenwärtigen Umstände veränderten. Diese Strategie orientiert sich gemäß der salafistischen Argumentation primär am Vorbild des Propheten Muhammad: In Zeiten der Schwäche (Mekka-Epoche) solle friedlich daʿwa betrieben, in Zeiten der Stärke (Medina-Epoche) aber dürfe expansiver Dschihad geführt werden. In diesem Sinne widmen sich politische und puristische Salafisten intensiv der daʿwa als Mittel zur friedlichen Verbreitung des Islam und weisen den Generalverdacht, in Terrorismus bzw. in Gewalttaten involviert zu sein, vehement zurück. Die Gründe für die unterschiedlichen Positionen der Salafisten zur Gewalt liegen demnach nicht nur in der vielfältigen Herangehensweise der verschiedenen Strömungen an die Quellentexte, sondern auch in deren Interpretationen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umstände. Für Muslime in einer Minderheitensituation, wie in Deutschland, gilt nach dem Mainstream-Salafismus eine Friedenspflicht, mit der die Einhaltung der dort herrschenden Gesetze verbunden ist, sofern sie den islamischen Prinzipien nicht widersprechen. In Anbetracht des Dargestellten sind die in dieser Studie vorgestellten Internetseiten in erster Linie dem politischen Spektrum des Salafismus zuzuordnen; davon auszunehmen sind die Webportale Realität Islam und Im Auftrag des Islam, die sich aufgrund ihrer politischen Ideologie und ihres historischen Hintergrundes eher in den Islamismus bzw. den politischen Islam einordnen lassen. Richtet man sich nach Wagemakersʼ oben vorgestellter Dreiteilung des puristischen Salafismus in »Distanzierte«, »Loyalisten« und »Propagandisten«, fallen die ersten vier Webportale (Islam Q&A, Islamweb.net, Islamfatwa.de und Basseera.de) wiederum in die puristische Fraktion des Salafismus, vorwiegend in die Subkategorien Loyalisten und Propagandisten.2 Man kann also keine strengen Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gruppen des Salafismus ziehen. Genauso verhält es sich bei der Radikalisierung; sie ist ein Komplex ineinandergreifender Prozesse, der online und offline erfolgen, bloß kognitiv sein oder auch in terroristische Akte münden kann. Die Weltanschauung der Mainstream-Salafisten in Deutschland weicht nicht von der der hier untersuchten Webseiten ab. Es ließen sich viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Haltung zu Staat und Demokratie, zum Umgang mit dem religiös Anderen, zur Stellung der Frau und zur Gewaltanwendung feststellen. Sie verkünden zwar, Muslime müssten in einem an der Scharia orientierten Staatsund Gesellschaftssystem leben, rufen aber nicht öffentlich dazu auf, die deutsche
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Siehe dazu Kap. II, Abschn. 1.
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Verfassung aufzuheben und die Scharia als Grundlage der Rechtsordnung einzuführen. Nach Wiedl aber tun sie das deswegen nicht, »weil sie sich bewusst sind, dass dies strafrechtliche Konsequenzen haben könnte.«3 Es wurde darüber hinaus verdeutlicht, dass es im Islam viele andere reformorientierte Stimmen gibt, die dem salafistischen Gedankengut widersprechen und sich für eine zeitgemäße Lesart der Quellentexte und der Tradition einsetzen, in dem Bestreben, Islam und Moderne in einen Einklang zu bringen. Zwar verfügen sie auch, wie am Beispiel al-Qaradawi und Shahrur gezeigt, über unterschiedliche Kommunikationskanäle, über die sie ihre einschlägigen Ansätze verbreiten und gemäßigte bis liberale Ansichten bzw. Fatwas propagieren; diese bleiben aber quantitativ und qualitativ hinter der salafistischen Medienpräsenz zurück. Diese Gegenstimmen lassen sich in zwei Tendenzen zusammenfassen: Während die eine eine offene und tolerante Haltung bzw. Weltsicht vertritt und für eine klare Trennung von Staat und Religion, die Gleichbehandlung von Muslimen und Nichtmuslimen sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau eintritt, lässt sich die andere dem reformorientierten islamistischen Spektrum zuordnen. Allen Islamisten ist die Absicht eigen, den Islam zu Staat und Religion zu machen. Die Scharia als Staat- und Gesellschaftssystem enthalte, selbst nach heutigem Maßstab, alle notwendigen Regelungen für alle Bereiche des Lebens. Dies bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass reformorientierte Islamisten die bestehende Trennung von Religion und Staat als Ausdruck der Säkularisierung von heute auf morgen aufheben und die Scharia-Quellen als Grundlage des angestrebten islamischen Staates mit sofortiger Wirkung institutionell verankern wollen. Vielmehr ist es für sie, anders als für die dschihadistische Fraktion des Islamismus, ein allmählicher, langwieriger Prozess, welcher nur auf längere Sicht erreicht werden könne und mit der Islamisierung von Institutionen und Prinzipien wie Menschenrechten, Pluralismus und Volkssouveränität fortschreiten könne. In der Gesamtschau kann man konstatieren, dass salafistische Internetseiten in der Überzahl sind, und solcherart ausgerichtete Sites dominieren auch die deutschsprachigen Informationsangebote über den Islam. Ihre in der virtuellen Welt kursierenden gesellschaftlichen und politischen Inhalte können in der Tat nicht nur integrationshemmend sein, sondern auch radikale Potenziale fördern, d.h. radikalisierende Auswirkungen auf ihre Rezipienten ausüben. Die in der Forschung sowie seitens deutscher Sicherheitsbehörden aufgestellte These, das Internet spiele eine wichtige Rolle bei islamistischen Radikalisierungsprozessen, kann gemäß der in dieser Studie getätigten Analyse bestätigt werden. In welchem Maße und in welcher Weise aber genau sich deutschsprachige User dieser salafistischen Netzinhalte durch sie radikalisieren lassen, könnte nur durch entsprechende empirische Untersuchungen beantwortet werden. Dies füllte nicht 3
Vgl. für mehr dazu Wiedl: Zeitgenössische Rufe, S. 278.
VI. Fazit und Ausblick
nur eine der vielen empirischen Leerstellen im Verständnis des Salafismus und seiner Rolle in Radikalisierungsprozessen, sondern wäre auch von großer Relevanz für die Präventionsarbeit. Um der Verbreitung solcher radikalen Inhalte und somit der salafistischen Szene im deutschsprachigen Raum entgegenzuwirken, könnte man etwa vom Instrument eines rechtskräftigen Verbots solcher Internetseiten Gebrauch machen. Dies kann allerdings problematisch sein, da ein Großteil salafistischer Propaganda nicht gegen Jugendschutz- oder Strafgesetze verstößt. Daher ist es hier wichtig, Jugendliche zu sensibilisieren und bei der Ausbildung einer kritischen Mediennutzung bzw. von Medienkompetenz zu unterstützen. Dies sollte sie dazu befähigen, salafistisch, islamistisch oder allgemein radikale Inhalte zu erkennen und Manipulationsstrategien durchschauen zu können. Pädagogisches Personal müsste dafür genau geschult werden. In dieser Hinsicht stehen nicht nur Sicherheitsbehörden, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure im Präventionsbereich in der Verantwortung, radikalen Tendenzen durch präventive Maßnahmen zu begegnen und, vor allem bei Jugendlichen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Dabei ist die Zusammenarbeit der beteiligten Stellen unerlässlich. Ebenso wichtig wäre die Schaffung von alternativen Angeboten, die der Attraktivität salafistischer Ansprachen Konkurrenz bereiten und reale Perspektiven von Engagement in der Gesellschaft aufzeigen. Entsprechende Aktivitäten zur Teilhabe der Jugendlichen an der Gesellschaft, vor allem derer mit Migrationshintergrund, muss attraktiver sein als der vollständige Rückzug in die Schaffung der muslimischen Gemeinschaft (umma), wie sie von Salafisten bzw. Islamisten propagiert wird. Hierfür steht auch die muslimische Community in Deutschland in der Verantwortung, d.h., sie muss sich in der Debatte stark engagieren. Muslimische Dachverbände sowie die mittlerweile an deutschen Hochschulen etablierte Islamische Theologie sollten bspw. mittlerweile in der Lage sein, die Aufgabe zu übernehmen, moderate, zeitgemäße und adäquate Informationsangebote über den Islam zu erstellen, auch wenn sich dies anfänglich nur auf die Übersetzung und die Onlinestellung von moderaten Informationen bzw. Fatwas beschränken würde.4 Dem islamischen Religionsunterricht kommt in diesem Zusammenhang auch eine besondere Bedeutung zu. Die Prävention gehört zwar nicht zu seinen Hauptaufgaben, wie Kiefer plausibel darlegt, doch sollten Schülerinnen und Schüler hier die Kompetenz erwerben, religiöse Inhalte samt den angeführten Quellen kritisch zu reflektieren. Um angehende Lehrkräfte, die an öffentlichen Schulen zukünftig islamischen Religionsunterricht erteilen sollen, entsprechend zu qualifizieren, sollte das Thema politscher Islam (Salafismus und Islamismus) ein fester Bestandteil in Lehre und Forschung der Islamischen Theologie sein.5 4 5
Für Näheres dazu Nordbruch: Präventionsarbeit, S. 273-284. Siehe weiterführend dazu Kiefer: Prävention, S. 256f.; Kaddor: Zum Töten bereit, S. 119-128.
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Auch kommt den Moscheegemeinden als Orten der religiösen Praxis und der Begegnung, des Lernens und der sozialen Teilhabe eine wichtige Rolle in der Präventionsarbeit zu. Vor dem Hintergrund, dass sich viele Muslime, vor allem Jugendliche, in hohem Maße mit ihren Gemeinden identifizieren und diese als Orte der Ruhe, der Gemeinschaftsbildung, der freien Entfaltung und der Reflexion über eigene Haltungen und Gedanken sehen, können Moscheegemeinden einen erheblichen Beitrag zur Radikalisierungsprävention leisten. Ihre umfassenden lokalen Organisationsstrukturen und direkten Zugänge zu Jugendlichen und ihren Familien könnten hier von entscheidendem Vorteil sein. Sie könnten im Gemeindeumfeld für Vertrauen werben und eine Reihe von Angeboten und Lernarrangements gegen religiös begründete Radikalisierung installieren. Oft fehlt es allerdings an Ressourcen und Expertise. Die Politik ist gefragt, sich zur Präventionsarbeit in den Moscheegemeinden zu bekennen und diese stärker zu unterstützen. Muslimische Gemeinden sind ihrerseits angehalten, ihre Vorbehalte gegen staatlich organisierte bzw. vermittelte Prävention zu überdenken.6 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden sechs Webseiten salafistischer Prägung vorgestellt und ihre Inhalte auf ihren Radikalisierungsgehalt hin untersucht. Weitere Studien zur Internetpräsenz des Salafismus bzw. Islamismus, wie etwa IslamHouse.com, Kalifat.com, Botschaft des Islam und Generation Islam wären geboten und brächten wichtige Erkenntnisse. Die Frage, ob diese Propaganda bzw. diese Online-Angebote über den Islam generell von Muslimen in soziales Handeln umgesetzt werden und somit auf ihre Lebenspraxis Einfluss ausüben, ist bisher nicht erforscht und bedarf einer empirischen Untersuchung. Darüber hinaus steht eine eingehende Studie über die genauen Radikalisierungsmechanismen durch das Internet noch aus. Die Thematisierung dieser Fragen und die Schaffung von fundiertem Wissen über die Nutzung sozialer Medien in Radikalisierungsprozessen ist deshalb notwendig, weil es entscheidend dafür ist, entsprechende Präventionsmaßnahmen bzw. alternative Inhalte über den Islam zu entwickeln bzw. bereits vorhandene anzupassen.
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Näheres dazu bei Charchira: Möglichkeiten der Einbindung muslimischer Institutionen, S. 303-319; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 165ff.; Kaddor: Zum Töten bereit, S. 171-180.
Glossar1
Ahl al-kitāb (»Buchbesitzer« bzw. »Leute der Schrift«) bezieht sich auf Angehörige anderer Schriftreligionen, insbesondere Juden und Christen. al-Walāʾ wa-l-barāʾ (»Loyalität und Lossagung«) ist ein im salafistischen Denken zentrales Prinzip, dem zufolge die Loyalität allein Gott, dem Gesandten und der eigenen Gruppe der Muslime gilt. Im Umkehrschluss heißt es, dass man sich vom Unglauben und denjenigen, die aus salafistischer Sicht ungläubig sind, lossagen solle. ʿᾹ shūra (»der 10. des ersten Monats im islam. Kalender, Muḥarram«) ist vor allem für schiitische Muslime ein Feiertag, an dem sie weltweit die Ermordung des Imams Hussein (gest. 680), dem Enkel des Propheten Muhammad und Sohn ʿAlīs in der Schlacht von Kerbela/Irak betrauern. Am Tag der Trauerfeier praktizieren gläubige Schiiten Selbstgeißelungen und erinnern mit Erzählungen und Inszenierungen an die Ereignisse der Schlacht. as-Salaf as-sāliḥ (»die frommen Altvorderen«) bezieht sich auf die Prophetengefährten und ersten Muslime, insbesondere der ersten drei Generationen nach Muhammad. Diese werden von Salafisten idealisiert und als Vorbild angesehen, dem heutige Muslime nachzueifern hätten. Bidʿa (»Neuerung«, »Innovation«) bezeichnet oft eine religiöse Neuerung, für die es aus salafistischer Sicht keine Legitimation im Koran bzw. in der Sunna gibt. Salafisten fassen religiöse Neuerungen im negativen Sinne als eine nichtislamische Veränderung der Religion auf, die es zurückzuweisen gelte. Dār al-islām (»Gebiet islamischer Herrschaft«) umfasst gemäß muslimisch-klassischer Traditionen jene geographischen Gebiete, die unter muslimischer Regentschaft stehen. Die zweite Komponente dieser dualistischen Weltsicht ist 1
Die hier aufgeführten Erklärungen stützen sich auf die in der vorliegenden Arbeit verwendete Literatur und berücksichtigen vorwiegend das salafistische Verständnis.
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dār al-ḥarb bzw. dār al-kufr (»Gebiet des Krieges bzw. des Unglaubens«). Dschihadistische Salafisten stützen sich auf diese Aufteilung, um ihre gewaltbefürwortenden Ansichten zu rechtfertigen. Daʿwa (»Ruf«, »Einladung zum Islam«) beschreibt im salafistischen Kontext die Missions- und Propagandaaktivitäten der Salafisten. Sie greifen auf diese Methode in vielfacher Form intensiv zurück, um neue Anhänger für ihre Botschaft zu gewinnen, in dem Bestreben, die Utopie einer weltumspannenden islamischen Glaubensgemeinschaft (umma) zu verwirklichen. Dhimmī (»Schutzbefohlener«), Pl. dhimmīyūn, auch als ahl adh-dhimma (»Leute unter Schutz«) genannt, bezieht sich auf Nichtmuslime, die auf der Basis eines Schutzvertrages unter muslimischer Herrschaft, d.h. im »Gebiet des Islam« dār al-islām) lebten und im Gegenzug »Sondersteuer« (jizya) zahlten. Farḍ ʿayn (»Individualpflicht«) wird zur Bezeichnung obligatorischer religiöser Handlungen verwendet, die von jedem einzelnen Muslim erfüllt werden müssen und nicht von anderen übernommen werden können, z.B. das rituelle Gebet fünfmal am Tag. Farḍ kifāya (»kollektive Pflicht«) stellt eine Gemeinschaftspflicht dar, die nicht jeder Muslim vollziehen muss, wenn sie von anderen Muslimen erfüllt wird, z.B. das Gebot der Wissensaneignung. Ein solches Gebot kann aber wieder zu Individualpflicht werden, wenn die muslimische Gemeinschaft als ganze es vernachlässigt. Fatwā (»religiöse Auskunft«) ist ein religiöses Gutachten eines islamischen Rechtsgelehrten bzw. eines Muftis zu einer Fragestellung. Eine Fatwa erfolgt zwar unter Bezugnahme auf u.a. den Koran bzw. die Sunna, ihre Befolgung bleibt dennoch fakultativ. Ḥākimiyyat allāh (»alleinige Herrschaft/Souveränität Gottes«) Salafisten und andere Islamisten vertreten die Ansicht, dass die Herrschaft allein Gott zukommen dürfe. Demnach sind nur Gesetze und Handlungen, die sich von den Quellentexten des Islam ableiten lassen, legitim und gerecht. Hijra (»Auswanderung«) bezieht sich auf die Flucht des Propheten Muhammad und seiner Gefährten im Jahre 622 aus Mekka vor der Verfolgung und Bedrohung dort nach Medina. Diese Bezeichnung markiert zugleich den Beginn der islamischen Zeitrechnung. Für Salafisten dient es als Argumentationsgrundlage für ihre Aufforderung an Muslime im Westen, aus nichtislamischen Gesellschaften auszuwandern.
Glossar
Ḥudūd (»Grenzen«, Sg. ḥadd«) sind nach dem klassischen islamischen Recht Strafen für bestimmte Taten, die als Verstoß gegen die von Gott gesetzten Vorschriften bzw. Grenzen gesehen werden. Zu den Delikten, die diesen Strafen unterliegen, gehören u.a. nichtehelicher Geschlechtsverkehr, Alkoholkonsum und Diebstahl. Während Salafisten sowie andere islamistische Gruppen auf der Anwendung dieser Strafen bestehen, werden sie von vielen muslimischen Intellektuellen aufgrund der Verletzung der Grund- und Menschenrechte abgelehnt. ʿIbādāt Sg. ʿibāda, Gottesdienstliche Handlungen meist rituellen Charakters, die u.a. zur Stärkung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen, Seinen Dienern (ʿibād), erfolgen sollen, wie z.B. das Verrichten des Gebetes, das Fasten, die Sozialpflichtabgabe usw. Ikhtilāṭ das Zusammensein von Männern und Frauen, die nicht-maḥram sind. Das religiös begründete Verbot des ikhtilāṭ ist im salafistischen Denken eine Vorsichtsmaßnahme, um keine verbotenen Beziehungen einzugehen. ʿIṣma (»Schutz«, Unfehlbarkeit«) bezeichnet als Fachterminus der islamischen Theologie die Sündlosigkeit und Unfehlbarkeit des Propheten Muhammad, nach schiitischer Lehre auch der zwölf Imame. Jihād (»Dschihad«, »Kampf«, »Anstrengung«) bedeutet für dschihadistische Salafisten einen militärischen Kampf gegen aus ihrer Sicht »Ungläubige« oder vermeintlich vom Islam abgefallene Muslime. Andere Salafisten kontextualisieren, taktisch motiviert, die Dschihad-Texte und verstehen darunter wie viele andere Muslime den spirituell-geistigen Kampf gegen die inneren Unzulänglichkeiten, wobei kämpferische Auseinandersetzungen im Verteidigungsfall dennoch erlaubt werden. Kāfir (»Ungläubiger«, Pl. kuffār, hergeleitet von kafara, »bedecken«, »leugnen«) wird von Salafisten standardmäßig für Nichtmuslime verwendet sowie auch für Muslime, die nach ihrer Auffassung vom »richtigen« Glauben abgefallen sind. Während die Frage der Exkommunizierung (takfīr: Erklärung eines Muslims für ungläubig) seit der formativen Zeit des Islam kontrovers diskutiert und dabei zwischen einem großen und einem kleinen Unglauben unterschieden wird, erklären Salafisten jedermann, der den Islam nicht entsprechend ihrer eigenen, strengen Glaubensauffassung lebt, oft zum kāfir. Khawārij (»Charidschiten, wörtl. die Hinausgehenden«) ist der Name einer religiös-politischen Protestbewegung, die infolge innerislamischer Auseinandersetzungen in der frühislamischen Zeit (nach 656) entstand. Sie spaltete sich von anderen Muslimen ab und ging gegen sie gewaltsam vor, wobei sie sich auf die Quellentexte des Islam in rigoroser Deutung beriefen.
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Maḥram Pl. maḥārim, bezieht sich auf eng verwandte Personen beider Geschlechter, unter denen eine Ehe religiös verboten ist. Nashīd (»religiöses Lied«, »islamischer A-capella-Gesang«, Pl. anāshīd) bezeichnet muslimische religiöse Musik, die gesanglich häufig a cappella von Männern oder Kindern vorgetragen wird und religiöse Inhalte wie die Lobpreisung Gottes und des Propheten Muhammad beinhaltet. In der salafistischen Szene wird diese Art Musik in unterschiedlichen Formen für ihre Propaganda verwendet. Niqāb (»Gesichtsschleier«) bezeichnet den meist schwarzen Schleier, der von Musliminnen oft in Kombination mit einem weiten Gewand (ʿabāya) und einer Kopfbedeckung, manchmal noch mit Handschuhen, getragen wird. Bis auf einen Schlitz für die Augen verhüllt der Nikab oft das gesamte Gesicht der Frau, mindestens aber die Partie unterhalb der Augen. Sharīʿa (»Scharia«, wörtl. »Weg zur Wasserstelle«, »gebahnter Pfad«) umfasst als Sammelbegriff alle göttlichen Normen, die Anweisungen für Muslime zum Verhalten in Familie und Gesellschaft geben und sie nach muslimischer Überzeugung zum Heil führen sollen. Dabei handelt es sich aber nicht um ein kodifiziertes Gesetzbuch, vielmehr erfolgt die Ableitung von Normen aus den Quellentexten (Koran und Sunna), in der Regel variabel nach Zeit und Ort. Shīʿa (»Schia«, »Schiiten«) ist die nach dem Sunnitentum (Sunniten) weltweit zweitgrößte Strömung innerhalb des Islam, die historisch auf den politischen Konflikt über die Frage der Nachfolge Muhammads nach dessen Tod im Jahr 632 zurückgeht. Schiiten betrachten den Schwiegersohn und Vetter Muhammads als den von ihm designierten Nachfolger (Kalif), doch sei er zugunsten dreier weniger würdiger, von Sunniten aber anerkannten, Kalifen (Abū Bakr, ʿUmar b. al-Khaṭṭab und ʿUthmān b. ʿAffān) übergangen worden. Shirk (»Polytheismus«, wörtl. »Beigesellung«) ist der Gegensatz zum Monotheismus (tauḥīd) und wird in salafistischen Kreisen in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet, um Handlungen unterschiedlicher Art wie etwa demokratische Prozesse oder Heiligenverehrung, die nach salafistischer Sicht unislamischen Ursprungs sind, für verwerflich zu erklären. Shūrā (»Beratung«) beschreibt eine frühislamische Form der konsensualen Findung von Entscheidungen in der Politik oder der Rechtsprechung. Im islamistischen Diskurs wird es als Argument für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam angeführt und mit textlichen Belegen untermauert. Ṣūfiyya (»Sufismus«) ist ein Sammelbegriff für viele unterschiedliche mystische Orden innerhalb des Islam, die asketische Tendenzen aufweisen und um ei-
Glossar
ne spirituelle Verbindung zu Gott bzw. um eine emotionale Gotteserkenntnis bemüht sind. Ihre Anhänger werden als Sufis oder Derwische bezeichnet. Sunna (»Tradition«, »etablierte Praxis«) inkludiert die Gesamtheit tradierter Aussagen, Handlungen, Unterlassungen und stillschweigender Einverständnisse des Propheten Muhammad und gilt als die zweite Quelle islamischer Normund Gesetzgebung. Eine Einzeltradition nennt man Hadith (»Erzählung«, »Bericht«); sie besteht aus einer Überlieferungskette (sanad) und einem Überlieferungstext (matn). Ṭāghūt (»Götze«, urspr. ṭaghā: »Grenzen Überschreitender«) Pl. ṭawāghīt, wird von Salafisten als all das verstanden, was neben Gott angebetet wird. Im politischen Kontext diffamieren sie jede nichtislamische Staats- oder Gesellschaftsordnung als ṭāghūt. Tafsīr bi-l-maʾthūr (»Koranauslegung durch Überliefertes«) ist eine Methode der Konraninterpretation mittels Rückgriff auf Überlieferungen und Aussagen innerhalb der Traditionen über den Propheten sowie dessen Gefährten und deren Nachfolger. Tafsīr bi-r-raʾy (»Koraninterpretation durch den Verstand«) bezeichnet die freiere Koranauslegung mit Hilfe des menschlichen Räsonierens. Tauḥīd (»Einheit Gottes«, »Monotheismus«) impliziert die Lehre von der absoluten Einheit und Einzigkeit Gottes. Ihm etwas beizugesellen, wird shirk genannt. Tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt (»Einheit der Namen und Eigenschaften Gottes«) bezieht sich auf das Bekenntnis dazu, dass Gott der alleinige Inhaber der Namen und Attribute ist, mit denen er in den Quellentexten beschrieben wird, ohne diese mit denen Seiner Schöpfung zu vergleichen. Tauḥīd al-ulūhiyya (»Einheit Gottes in der Anbetung«) bedeutet der Glaube an Gott als den einzig Anbetungswürdigen. Tauḥīd ar-rubūbiyya (»Einheit Gottes in der Herrschaft«) ist das Bekenntnis dazu, dass Gott einzig und allein der Schöpfer und Bewahrer des Universums und aller Geschöpfe ist. Umma (»Gemeinschaft«, »Volk«) bezeichnet die von Salafisten sowie vielen Islamisten muslimische Glaubensgemeinschaft, die ethnische Zugehörigkeiten außer Acht lässt und jenseits politischer und geografischer Grenzen gedacht ist.
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1 . Eingangsseite Islam Q&A (29.04.2018).
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2 . Fatwa-Kategorien auf Islam Q&A (29.04.2018).
3 . Eingangsseite Islamweb.net.de (29.04.2018)
Anhang
4 . Fatwa-Kategorien auf Islamweb.net.de (29.04.2018)
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6 . Fatwa-Kategorien auf Islamfatwa.de (14.04.2018).
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Anhang
8 . Eingangsseite Im Auftrag des Islam (13.11.18)
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10 . Eingangsseite Realität Islam (15.12.2018)
Anhang
11 . Realität Islam bei Facebook (02.08.2019)
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Anhang
15 . Pierre Vogel bei Facebook (23.07.2019)
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Islamwissenschaft Abbas Poya (Hg.)
Koranexegese als »Mix and Match« Zur Diversität aktueller Diskurse in der tafsir-Wissenschaft 2017, 218 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4112-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4112-1
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Religiöse Sozialisation in muslimischen Familien Eine vergleichende Studie 2017, 484 S., kart., 4 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4047-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4047-6
Theresa Beilschmidt
Gelebter Islam Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland 2015, 270 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3288-0 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3288-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Islamwissenschaft Florian Kreutzer
Stigma »Kopftuch« Zur rassistischen Produktion von Andersheit (unter Mitarbeit von Sümeyye Demir) 2015, 236 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3094-7 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3094-1
Abbas Poya
Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext 2014, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2590-5 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2590-9
Sabine Schmitz, Tuba Işik (Hg.)
Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel 2015, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2561-5 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2561-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de