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German Pages 331 [332] Year 2016
Daniel Weisser Quis maritus salvetur?
Patristische Texte und Studien
Im Auftrag der Patristischen Kommission der Akademien der Wissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben von Hanns Christof Brennecke und Ekkehard Mühlenberg
Band 70
Daniel Weisser
Quis maritus salvetur? Untersuchungen zur Radikalisierung des Jungfräulichkeitsideals im 4. Jahrhundert
ISBN 978-3-11-046008-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046313-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046265-4 ISSN 0553-4003 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die für den Druck überarbeitete Fassung einer Dissertation, die der Fakultätsrat der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn im Wintersemester 2014/15 als Promotionsschrift angenommen hat. Nicht nur aus Traditions-, sondern auch aus persönlichen Gründen soll der Dank an den Doktorvater an erster Stelle stehen. Professor Dr. Georg Schöllgen hat die Themenfindung und die Entstehung der Arbeit so begleitet, wie es seine Art ist: Interessiert, umsichtig, zurückhaltend und mit großem persönlichen Wohlwollen. Bliebe der Kontakt zueinander nicht bestehen, wäre das mit der Veröffentlichung der Arbeit einhergehende Ende des so angenehmen Betreuungsverhältnisses ein trauriger Anlass. Für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie wertvolle Hinweise insbesondere zu Hieronymus und zur asketischen Rezeptionsgeschichte danke ich Frau Professor Dr. Gisela Muschiol sehr herzlich. Den Herausgebern Professor em. Dr. Hanns Christof Brennecke und Professor em. Dr. Ekkehard Mühlenberg danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese renommierte Reihe. Professor Dr. Dres. h.c. Christoph Markschies hat nicht nur das dafür notwendige Gutachten verfasst, sondern mit äußerst hilfreichen Hinweisen zur Verbesserung der Arbeit beigetragen; für diese nicht notwendige Mehrarbeit bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Arbeit an der vorliegenden Untersuchung dankenswerterweise finanziell gefördert. Einem Kreis von Kolleginnen und Kollegen, der die Jahre der Promotion in ganz außergewöhnlicher Weise zu einer angenehmen Zeit hat werden lassen, gebührt auch für die Hilfe beim Korrekturlesen Dank: Dres. Theresa und Hanno Dockter, PD Dr. Christian Hornung, cand. theol. Sebastian Lüke, Dr. Christine Mühlenkamp und stud. theol. Niklas Seidensticker. Ohne die hilfreichen Anmerkungen, aufbauenden Worte und konstruktiven Ablenkungsversuche von Anne-Sophie Rüther, M.A. wäre diese Untersuchung nicht entstanden. Meinen Eltern und meiner Großmutter verdanke ich mehr, als sich sagen lässt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Bonn, im April 2016 Daniel Weisser
Inhalt Einleitung
Teil A: I.
1
Jungfräulichkeit als großkirchliches Leitideal des 4. Jhs.
Einleitung
11
II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius 13 II. Biographie II. Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Ambrosius 17 II. De virginibus – Liber primus 18 24 II. Fazit III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus 27 27 III. Biographie III. Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Johannes Chrysostomus III. De virginitate 30 42 III. Fazit IV. Zusammenfassung
Teil B: I.
45
Die Radikalisierung des Leitideals
Einleitung
55
II. Prolog / Die Vorgeschichte II. Apokryphe Apostelakten II.. Einleitung 57 II.. Johannesakten 58 II... Quellenbefund 58 II... Auswertung 60 60 II.. Paulusakten II... Quellenbefund 61 II... Auswertung 63
57 57
13
29
VIII
Inhalt
II.. II... II... II.. II... II... II.. II... II... II.. II. II.. II.. II.. II. II.. II.. II..
Petrusakten 64 64 Quellenbefund Auswertung 65 Andreasakten 65 Quellenbefund 66 68 Auswertung Thomasakten 69 69 Quellenbefund Auswertung 72 Fazit 73 74 Montanisten Einleitung 74 Quellenbefund 75 77 Fazit Aquarier 78 Einleitung 78 79 Quellenbefund Fazit 81
III. Die III. III. III. III. III.. III.. III.. III..
Eustathianer 83 83 Vorbemerkungen Eustathius von Sebaste 83 Zur Datierung des Konzils von Gangra 89 94 Die Synodaldokumente und -beschlüsse Das Präskript 94 Der Prolog 98 Der erste Schwerpunkt: Hochmütige Ablehnung der Ehe 99 Der zweite Schwerpunkt: Ablehnung der Kirche und kirchlicher Versammlungen 111 Der dritte Schwerpunkt: Ablehnung der üblichen Fastenpraxis Der vierte Schwerpunkt: Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsordnung 123 Das Summarium 131 Der Epilog 133 Fazit 136
III.. III.. III.. III.. III.
Exkurs zu III Aerius 140 . Vorbemerkungen 140 . Datierung und biographische Einordnung
140
119
Inhalt
. .
Radikalasketische Positionen 144 Fazit
141
IV. Hierakas und die Hierakiten 146 IV. Vorbemerkungen 146 147 IV. Datierung IV. Radikalasketische Positionen 149 151 IV. Fazit V. Audius und die Audianer 158 158 V. Vorbemerkungen V. Datierung und biographische Einordnung V. Radikalasketische Positionen 160 162 V. Fazit
159
VI. Priszillian und seine Anhänger 164 164 VI. Vorbemerkungen VI. Quellenlage 164 VI. Biographisches 165 VI. Das Konzil von Saragossa 380 167 173 VI. Zwischenfazit VI. Priscilliani in Pauli Apostoli Canones. A Peregrino episcopo emendati. 173 181 VI. Fazit VII. Bundessöhne und Bundestöchter 183 VII. Vorbemerkungen 183 VII. Das Zeugnis der demonstrationes 184 VII. Fazit 191 VIII.Tatian und seine Anhänger und „Erben“ VIII. Vorbemerkungen 193 VIII. Biographisches zu Tatian 194 VIII. Radikalasketische Positionen 195 VIII. Zwischenfazit 198 198 VIII. Enkratiten des 4. Jhs. VIII. Fazit 200
193
IX
X
Inhalt
IX. Apostolische Konstitutionen 202 202 IX. Vorbemerkungen IX. Hinweise auf radikale Askese im Umfeld der Apostolischen Konstitutionen 203 IX. Fazit 208 X. Apotaktiten/Apostoliker 213 213 X. Vorbemerkungen X. Belegstellen für häretische Apotaktiten X. Das Panarion des Epiphanius 214 218 X. Ep. 199 des Basilius X. Codex Theodosianus 219 X. Der Apokritikos des Macarius Magnes 223 X. Fazit
213
221
XI. Der Manichäismus-Vorwurf im Umfeld radikaler Askese XII. Epilog / Die Wirkungsgeschichte XII. Vorbemerkungen 234 XII. Quellenbefund 235 237 XII. Auswertung XIII.Zusammenfassung
Teil C: I.
225
234
240
Die großkirchliche Reaktion und die Konsequenzen
Einleitung
249
II. (Re‐)Integration oder Auslöschung? 250 II. Basilius und seine Mönchsregeln 250 II.. Besitz 252 II.. Bekleidung 254 II.. Ehe / Enthaltsamkeit / Familie 255 II.. Sklavenhaltung 259 260 II.. Fasten II.. Demut/Hochmut 262 II.. Die Feier des Herrenmahls in einem gewöhnlichen Haus II.. Fazit 264
263
Inhalt
II.
Die Beispiele der Vertreibungen des Aerius und der 266 Messalianer II.. Vorbemerkungen 266 II.. Aerius 266 II.. Messalianer 267 267 II... Theodoret II... Gregor von Nyssa 270 271 II.. Fazit III. Die Frage der Schriftauslegung Gesamtzusammenfassung
273
279
Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis I. Abkürzungsverzeichnis 288 II. Quellenverzeichnis 288 297 III. Literaturverzeichnis Sachregister Personenregister
317 319
288
XI
Einleitung Τῷ ἐμῷ κινδύνῳ ἐγγυῶμαί σου τὴν συτηρίαν, κἄν γυναῖκα ἔχῃς.¹ Auf meine eigene Gefahr hin: Ich verbürge mich für dein Heil, sogar wenn du eine Frau hast.
Diese nicht exakt zu datierende Versicherung² eines bedeutenden Theologen der Alten Kirche wirft ein Schlaglicht auf die Frage der Verhältnisbestimmung von Ehe und Jungfräulichkeit, das ebenso aussagekräftig wie erläuterungsbedürftig ist. Gerechtfertigt werden muss ganz offensichtlich die Heilsfähigkeit verheirateter Christen.Wie konnte es zu dieser für moderne Leser nur schwer nachvollziehbaren Konstellation kommen? Die zu dieser Aussage führenden Umstände, theologischen Debatten und Argumente sollen in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Dabei wird der Fokus auf ein bisher wenig beachtetes Phänomen gelegt: Ziel der Arbeit ist die Untersuchung solcher Einzelpersonen oder Gruppierungen, die das Jungfräulichkeitsideal nicht nur für sich selbst gewählt haben, sondern es in einem heilsexklusivistischen Sinn als für alle Christen verbindlich ansehen. Sie lehnen Ehe, Geschlechtsverkehr sowie Kinderzeugung vollkommen ab und betrachten diese Dinge als Heilshindernisse. Diese Radikalisierung des Jungfräulichkeitsideals lässt sich im gesamten Römischen Reich annähernd zeitgleich beobachten und ist häufig verbunden mit weiteren Formen der Askese (Verzicht auf Fleisch, Wein, Schlaf, Besitz u. a.) sowie einer ausgeprägten Gesellschaftskritik, die an den Grundlagen der kirchlichen Ordnung und den „Stützpfeiler[n] der Sozialordnung“³ insgesamt rüttelt. Die vorliegende Untersuchung will Hinweise auf derart radikale Asketen möglichst vollständig sammeln, in den Kontext der neueren Askeseforschung stellen, ihre theologische Programmatik erheben sowie ihre religiösen und sozialen Motive analysieren. Zudem soll der innerkirchliche Umgang mit diesen radikalasketischen Gruppierungen (theologische Bekämpfung durch einzelne Theologen, disziplinäre Maßregelung besonders auf Synoden u. a.) aufgearbeitet werden und nach den Ursachen für ihr langsames Verschwinden seit dem Ende des 4. Jhs. gefragt werden. Sind die Radikalasketen exkommuniziert bzw. endgültig vertrieben oder in die Kirche reintegriert worden? Und, falls sie reintegriert wurden, wie hat dieser Prozess die Kirche verändert? Nach heutigem Forschungsstand fehlt eine Monographie, die den Prozess der Radikalisierung des christlichen Jungfräulichkeitsideals behandelt, bislang völlig.
Joh. Chrys. hom. , in Is. (SC , Dumortier). Vgl. Dünzl / Kaczynski, Johannes Chrysostomus . Brown, Spätantike .
2
Einleitung
Zwar hat es in den vergangenen beiden Jahrzehnten einen enormen Aufschwung der Askeseforschung besonders in den anglo-amerikanischen Altertumswissenschaften gegeben,⁴ die Radikalisierung der Askese und des Jungfräulichkeitsideals sowie ihre kirchlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind hierbei jedoch nur am Rande behandelt worden – wenn sie überhaupt in den Blick kamen: Kyle Harper etwa lässt das Auftreten eines exklusiven Jungfräulichkeitsideals vollkommen außer Acht, wenn er in seiner neuen Monographie (mit Blick auf einen wohl zu Beginn des 5. Jhs.⁵ entstandenen Dialog) festhält: „The salvation of the married was not in any special doubt. As baptized Christians, they were heirs to the ‚promise of everlasting life‘.“⁶ – Auch in der Geschichte des christlichen Mönchtums im Rahmen der Theologie⁷ wird dieser Aspekt entweder ausgeklammert oder nur am Rande berücksichtigt. Eine summarische Präsentation des Materials und wichtiger Fragestellungen findet sich in dem von Georg Schöllgen verfassten Artikel Jungfräulichkeit,⁸ in dem verschiedene Vertreter des exklusiven Jungfräulichkeitsideals zwar aufgelistet, nicht aber ausführlich und vergleichend untersucht werden. Zu den einzelnen Gruppierungen und Bewegungen, die die vorliegende Arbeit untersuchen und in einer Gesamtdarstellung präsentieren möchte, gibt es zwar Forschungsliteratur, sie bleibt mit ihrem Fokus jedoch meist auf eine der Gruppierungen beschränkt und untersucht diese in den meisten Fällen nicht auf das Jungfräulichkeitsideal bzw. dessen Radikalisierung und gesellschaftliche Folgen hin. Als typisches Beispiel können hier Eustathius von Sebaste, der spiritus rector der nach ihm benannten kleinasiatischen Radikalasketen, sowie das sich mit ihm und seinen Anhängern auseinandersetzende Konzil von Gangra gelten: In Monographien und Aufsatzbeiträgen werden entweder die Person und die Biographie des Eustathius,⁹ sein Verhältnis zu Basilius von Caesarea¹⁰ und seine Beteiligung am sogenannten Arianischen Streit,¹¹ die Datierung des Konzils von Gangra (342 oder 343)¹² oder Einzelaspekte konziliarer Beschlüsse¹³ untersucht. Eine kurze
So etwa Brown, Keuschheit; Ders., Bedeutung; Elm, Virgins; Evans, Sex; Shaw, Burden. Siehe jetzt auch Harper, Shame. Vgl. Feiertag, Consultationes. Harper, Shame . Vgl. Lohse, Askese; Nagel, Motivierung. Vgl. RAC () /, hier: /. Vgl. Gribomont, Eustathe de Sébaste; Hauschild, Eustathius; Jurgens, Eustathius; Loofs, Chronologie. Vgl. Frazee, Asceticism und Gribomont, Eustathe le Philosophe sowie jetzt Kardong, Mentor & . Vgl. Hauschild, Pneumatomachen; Mongelli, Eustazio. Vgl. Barnes, Date; Braun, Abhaltung; Jurgens, Date; Laniado, Note.
Einleitung
3
Beschreibung der Folgen der eustathianischen Askese bietet Karl Suso Frank,¹⁴ der jedoch ebenso wie Jean Gribomont¹⁵ nur am Rande auf ihre theologischen und gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen hinweist. Ähnliches gilt auch für die Dissertation von Tomislav Tensek,¹⁶ die auf die Gruppierung der Eustathianer beschränkt bleibt, dem Themenkomplex der Radikalaskese kaum Beachtung schenkt und von der zudem umfangreiche Teile unveröffentlicht geblieben sind. Priszillian von Avila, der auf dem Konzil von Saragossa (380) auch wegen seiner asketischen Praktiken verurteilt wurde, wird selbst im weiterhin maßgeblichen Werk von Henry Chadwick¹⁷ nicht unter dem Aspekt des Jungfräulichkeitsideals gewürdigt; auch bei Virginia Burrus¹⁸ bleibt dieser Aspekt außer Acht. Benedikt Vollmann¹⁹ bietet nicht viel mehr als eine Gesamtbibliographie und einen Quellen- bzw. Forschungsüberblick zum Thema und kommt in seinem Artikel zum Priszillianismus²⁰ nur kurz auf die asketischen Praktiken Priszillians und seiner Anhänger (Fleisch- und Weinverzicht, sexuelle Enthaltsamkeit) sowie auf Parallelen zu den Eustathianern zu sprechen. Auch der einflussreiche und von zahlreichen Anhängern bewunderte ägyptische Mönch Hierakas von Leontopolis wird in diesem Zusammenhang von der Forschung nur marginal wahrgenommen,²¹ obwohl er mit seiner Konzeption einer Kirche, die ausschließlich aus jungfräulich bzw. enthaltsam Lebenden besteht, ein besonders exponierter Vertreter des exklusiven Jungfräulichkeitsideals ist. Besonders im syrischen Raum wird Askese schon sehr früh propagiert, wie etwa der Enkratismus Tatians bereits im 2. Jh. zeigt. Die in der syrischen Kirche praktizierte strenge sexuelle Askese macht sie für die Radikalisierung des Ideals der Jungfräulichkeit im 4. Jh. offenbar besonders empfänglich. Als Beleg hierfür können etwa die Apostolischen Konstitutionen gelten, die in ihrem Umfeld eine ähnliche Radikalaskese wie in Gangra bezeugen, der sie deutlich ablehnend gegenüberstehen: Sie exkommunizieren Kleriker, die Ehe, Fleisch- und Weinverzehr grundsätzlich verurteilen. Im Zusammenhang mit der syrischen Askese ist zudem eine kritische Auseinandersetzung mit den lange Zeit maßgeblichen Thesen von
Vgl. de Churruca, L’anathème; Synek, Kanones. Vgl. Frank, Reform. Vgl. Gribomont, Monachisme au IVe siècle. Vgl. Tensek, L’ascetismo. Vgl. Chadwick, Priscillian. Vgl. Burrus, Making. Vgl. Vollmann, Studien. Vgl. PW Suppl. () /. Vgl. aber Brakke, Athanasius /.
4
Einleitung
Arthur Vööbus²² zum Zölibat als Voraussetzung zur Zulassung zur Taufe unabdingbar. Die sogenannten Apotaktiten lehnen jede Art von Weingenuss ab und ersetzen auch den eucharistischen Wein durch Wasser. Die offensichtlich eng damit verbundene Ablehnung der Ehe und des Besitzes wird bei Epiphanius auf manichäische Einflüsse zurückgeführt. Diese Gruppierung ist bisher noch nicht gründlich analysiert worden.²³ Angesichts der schwierigen Überlieferungssituation und des fraglichen Quellenwerts der Häretikerkataloge des Epiphanius und anderer soll auch die Möglichkeit untersucht werden, ob es sich evtl. um eine häresiologische Konstruktion von geringem Realitätsgehalt handelt. Die von Epiphanius und Ephraem dem Syrer scharf angegriffenen Messalianer bzw. Euchiten²⁴ sind in den Quellen nur schwer fassbar.Wird mit diesem Begriff zu Beginn tatsächlich eine im Kleinasien des 4. Jhs. beheimatete radikalasketische Bewegung bezeichnet, die nach den Vorwürfen ihrer Gegner hierarchische und geschlechtliche Unterschiede ebenso ablehnt wie Arbeit und Besitz, so lassen spätere Zeugnisse eine zeitlich ebenso große wie inhaltlich diffuse Wirkungsgeschichte erahnen: Unter dem Begriff „Messalianer“ werden die verschiedensten asketischen Praktiken subsumiert. Das Konzil von Side (390) beispielsweise identifiziert die Messalianer mit den Eustathianern; eine genaue Analyse der Quellenbelege soll hier zur Klärung beitragen. Für die Untersuchung insgesamt legt sich daher folgende Vorgehensweise nahe: In einem ersten Teil werden zwei von großkirchlichen Bischöfen verfasste Jungfräulichkeitsschriften untersucht. Ambrosius und Johannes Chrysostomus, die ihre Schriften jeweils gegen Ende des 4. Jhs. abgefasst haben, sollen dabei als Exponenten des Westens bzw. des Ostens zur Sprache kommen, deren theologische Einschätzung von Ehe und Jungfräulichkeit als exemplarisch für die mehrheitskirchliche Verhältnisbestimmung der beiden Lebensformen gelten kann. Ihre Werke stellen dabei zugleich die Folie dar, vor der sich die Vertreter eines exklusiven Jungfräulichkeitsideals umso deutlicher abheben. Die Vertreter der bereits genannten exklusiv-asketischen Bewegungen sollen in einem zweiten Teil analysiert werden. Um zu verdeutlichen, dass die Radikalisierung des Jungfräulichkeits- bzw. insgesamt des Askeseideals nicht plötzlich und ausschließlich im 4. Jh. greifbar ist, werden in einem ersten Schritt – ge Vgl. Vööbus, Celibacy. Vgl. Lambert, Apotactites. Vgl. Dörries, Urteil; Ders., Messalianer; Fitschen, Messalianismus; Staats, Gregor; Ders., Messalianer.
Einleitung
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wissermaßen als Prolog zur breit fassbaren Strömung des 4. Jhs. – die Apokryphen Apostelakten sowie die Bewegungen der Montanisten und der Aquarier untersucht. In Bezug auf das 4. Jh. muss dann in erster Linie nach den Motiven für die dort deutlich ausgeprägtere exklusive Askese gefragt werden. Als mögliche Erklärung bietet sich eine neue Exegese der Nachfolgelogien in der Tradition des bei den Synoptikern zu findenden Wanderradikalismus mit seinem Ethos der Familien-, Heimat- und Besitzlosigkeit an. Sie werden jetzt wieder wörtlich verstanden: Ein Jünger Jesu kann nur der sein, der konsequent auf Familie und damit auch auf Geschlechtsverkehr, auf sein angestammtes soziales Umfeld und auf jedweden Besitz verzichtet. Alle anderen verweigern sich der Jüngerschaft und gehen damit des Heils verlustig. Die exklusive Askese kann also, wenn sich diese Vermutung bestätigt, auch als Rückkehr zur Literalexegese der Nachfolgelogien (vgl. Mt. 19,29; Mk 10,29; Lk 14,26) verstanden werden. Die Frage, warum dieser Rekurs auf den Wanderradikalismus in einer derartigen Breite gerade im 4. Jh. erfolgt, wird ebenfalls zu untersuchen sein. Lässt sich dies als Gegenbewegung zur volkskirchlichen Entwicklung im Gefolge der sogenannten Konstantinischen Wende verstehen oder sind andere Motive entscheidend? Die wichtigste Gruppierung sind die bereits erwähnten, nach ihrer Gründergestalt Eustathius von Sebaste benannten kleinasiatischen Eustathianer. Für sie ist die Quellenlage vergleichbar günstig: Neben den Berichten der Kirchenhistoriker Sozomenus und Socrates über die Person des Eustathius bieten vor allem die Dokumente der Synode von Gangra vom Jahr 342/3 Erkenntnisse über die Praktiken dieser Bewegung. Ihre Bedeutung zeigt sich bereits in der Tatsache, dass ein provinzübergreifendes Konzil ausschließlich ihretwegen einberufen wird. Es wird jedenfalls deutlich, dass die herauszuarbeitenden Motive für das radikale Verhalten der Asketen Folgen haben, die über den inneren Raum der Kirche hinausreichen: Der Abkehr asketisch Lebender von ihren familiären Pflichten (cnn. 14/6), der Nivellierung der geschlechtlichen Unterschiede (cnn. 13. 17) und der Forderung nach Sklavenbefreiung (cn. 3) wohnt eine gesellschaftssprengende Kraft inne, die erhebliche soziale Auswirkungen hat. Somit lässt sich der Versuch der Repristination der subversiven Kraft des Urchristentums als ein mögliches Motiv hinter der eustathianischen Praxis vermuten. Eine genaue Analyse der Konzilsdokumente von Gangra soll eine Rekonstruktion der eustathianischen Forderungen und ihrer Konsequenzen ermöglichen, die in Verbindung mit der charismatischen Person des Eustathius notwendigerweise zu großkirchlichen Reaktionen führen muss. Der Fall des Priszillian, der 385 in Trier hingerichtet wird, bietet über die theologische Perspektive hinaus exemplarisch die Möglichkeit, die staatliche
6
Einleitung
Reaktion auf die radikalasketische Lebensweise zu untersuchen. Denn diese besitzt neben der ihr innewohnenden dogmatischen Kategorie der Heterodoxie und der faktischen Verweigerung des Gehorsams gegenüber der kirchlichen Hierarchie auch eine enorme familien- und gesellschaftssprengende Kraft und kann deshalb keine rein innerkirchliche Größe bleiben. Auch die Analyse der Verwendung des Manichäismus-Vorwurfs gegenüber radikalen Asketen verspricht ertragreich zu sein, kann dieser Vorwurf doch wie im Falle Priszillians die Todesstrafe nach sich ziehen. Er ist somit nicht nur Frucht einer theologischen Polemik, sondern kann für die, die ihm ausgesetzt sind, zu einer existentiellen Gefährdung werden. Die diffuse und auffällig häufige Anwendung dieses Vorwurfs macht ihn als polemische Kategorie verständlich, die nicht zwangsläufig auf eine theologische oder organisatorische Verbindung mit Manichäern schließen lässt, sondern durchaus auch als Kampfbegriff in der Auseinandersetzung mit großkirchlichen und somit innergemeindlichen Gruppierungen vorstellbar ist, die aus der Sicht ihrer Gegner eine gefährliche Askese propagieren. In einem weiteren Schritt soll das Verhältnis der verschiedenen radikalasketischen Gruppierungen zur Großkirche in den Blick genommen werden: Grenzen sie sich völlig ab, sind sie kompromissbereit oder gehen sie gar im Laufe der Zeit restlos in der Großkirche auf? Warum genießen sie trotz ihrer Arroganz selbst bei großkirchlichen Christen, die sich ihnen nicht anschließen, ein hohes Maß an Wertschätzung? Als Erklärungsmöglichkeit scheint sich u. a. die Frage nach der Differenz zwischen der großkirchlich-traditionellen und der asketisch-rigoristischeren Exegese anzubieten, die als Literalexegese vielen einfachen Gläubigen intuitiv plausibel sein könnte. Die Asketen sind so wirkmächtig, weil sie ihre Lebensweise auf den Jesus der Evangelien als die zentrale Autorität des Christentums zurückführen können. Lässt sich in diesem Zusammenhang auch der verbreitete Vorwurf von der „Arroganz der Asketen“ als möglicher Hinweis auf innergemeindliche Radikalasketen lesen, die durch ihr ausgrenzendes Verhalten die verheirateten Gemeindemitglieder, die ja die weit überwiegende Mehrheit stellten, provozieren? An Plausibilität gewinnt diese These durch die räumliche Nähe, in der die Radikalasketen zur Gemeinde leben: Wie am Beispiel von Hierakas und den Eustathianern deutlich wird,²⁵ ziehen sich die radikalen Asketen häufig gerade nicht wie anachoretische Mönche in die Wüste zurück, sondern leben ihre radikale Nachfolge in
Vgl. für Hierakas Goehring, Ascetics / sowie für die Eustathianer Sterk, Renouncing / .
Einleitung
7
direkter Nähe und somit auch in ständigem Kontakt zur Gemeinde; dies führt zu häufigen und durchaus heftigen Konflikten. Im dritten Hauptteil der Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der Analyse und Auswertung der Quellen, die eine theologische, kirchenpolitische und doktrinäre Reaktion auf das exklusive Jungfräulichkeitsideal darstellen und ihm gegenüber die Legitimität von Ehe, Geschlechtsverkehr, Fleischgenuss, Besitz etc. betonen.²⁶ Die Synodaldokumente des Konzils von Gangra zeigen bereits deutlich, dass sich die dort versammelten Bischöfe zwischen beinahe apologetisch klingender Hochachtung für die konsequent gelebte Askese einerseits und einer Abwehr radikalexklusivistischer Tendenzen andererseits positionieren. Im Besonderen sollen die Argumentationsmuster der Gegner der Radikalaskese untersucht und auf ihren faktischen Erfolg in der Auseinandersetzung mit den Befürwortern des Ideals überprüft werden. Neben den Kanones von Gangra, die ausdrücklich nicht die Askese und das Ideal der Jungfräulichkeit als solches, sondern vor allem den exklusivistischen Hochmut der Eustathianer kritisieren, könnten nach ersten Untersuchungen auch die Mönchsregeln des Basilius, der lange Zeit in einem schülerähnlichen Verhältnis zu Eustathius stand, für die Untersuchung der Eustathianer von Belang sein. Wie schafft es Basilius als Bischof von Caesarea, die Radikalasketen in die Gemeinde zu integrieren? Oder distanziert er sich als Bischof von den Radikalasketen und grenzt sie aus der Gemeinde aus? Versucht er, einen gangbaren Mittelweg zwischen Gemeindechristentum und exklusiver Askese zu finden? In seinen Mönchsregeln argumentiert Basilius im Wesentlichen mit Schriftzitaten. Entschärft er die in der Tradition des Wanderradikalismus wörtlich verstandenen Nachfolgelogien, indem er ihnen familien-, besitz- und heimatfreundliche Worte Jesu beigesellt und so eine Art von Schriftpositivismus betreibt? Die Frage nach dem Verhältnis der Asketen zur Großkirche kann also auch als Frage nach der unterschiedlichen Rezeption der Evangelien, im Besonderen der jesuanischen Nachfolgelogien, gestellt werden. Die Thesen Karl Suso Franks hierzu sollen überprüft werden. Wie am Beispiel der Synode von Gangra deutlich wird, hat die Auseinandersetzung der Großkirche mit den Asketen weitreichende Folgen. Die römische Synode vom Jahre 393²⁷ könnte mit ihrer Konzeption von der Hierarchie der Lebensformen beispielhaft für den Umgang der Kirche mit den Radikalasketen stehen: Aus einem konkurrierenden Nebeneinander unterschiedlicher Lebens-
Vgl. Hunter, Marriage; Ders., Resistance. Vgl. zur Datierung Weckwerth, Clavis f.
8
Einleitung
formen, das die Gemeinden zu sprengen droht, wird eine Hierarchie von Ständen. Es legt sich der Gedanke nahe, dass diese Hierarchie auch die Folge eines Kompromisses ist, der bei der Reintegration der Radikalasketen geschlossen wird; eines Kompromisses, der kirchengeschichtlich außerordentlich wirkmächtig wird.
Teil A: Jungfräulichkeit als großkirchliches Leitideal des 4. Jhs.
I. Einleitung Bereits den frühesten christlichen Zeugnissen lässt sich entnehmen, dass dem Verhältnis des einzelnen Christen zu Ehe, Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit eine hohe existentielle wie theologische und moralische Bedeutung zugemessen wird.²⁸ Neben dem zeitlich früher anzusiedelnden Korintherbrief des Apostels Paulus (ca. 54– 56)²⁹, dessen siebtes Kapitel sich besonders der Zuordnung von Ehe und Jungfräulichkeit widmet, haben auch die in den kanonischen Evangelien überlieferten diesbezüglichen Logien Jesu wirkungsgeschichtlich großen Einfluss, so dass die Askese als „an der Wiege des Christentums“³⁰ befindlich wahrgenommen wird. Der Verzicht auf die Ehe um des Himmelreiches willen (vgl. Mt 19,12), die Forderung der vorehelichen Enthaltsamkeit (im Anschluss an Ex 22,15f.) und das praktische Beispiel der jesuanischen Lebensweise gelten als Maßstäbe für ein gottgefälliges Leben.Verstöße gegen das strenge Verbot der Ehescheidung (vgl. Mt 19,3 – 9) und des außerehelichen Geschlechtsverkehrs (vgl. Mt 5,27– 30) werden entsprechend hart sanktioniert und haben teilweise den lebenslangen Ausschluss aus der Gemeinschaft der Kirche zur Folge; für Angehörige des höheren Klerus wird in späterer Zeit sogar ein Verbot des ehelichen Geschlechtsverkehrs ausgesprochen.³¹ Die Belege für jungfräulich lebende Christen bleiben in vorkonstantinischer Zeit noch vereinzelt, doch beginnt eine theologische Reflexion auf das Ideal lebenslanger Jungfräulichkeit, das zunehmend Priorität gegenüber einer bloß temporären Enthaltsamkeit oder der Lebensform der Ehe gewinnt.³² Besonders Origenes und Tertullian können in den ersten drei Jhh. als herausgehobene Repräsentanten dieses Ideals gelten und leisten die Anfänge seiner theologischen Durchdringung.³³ In der zweiten Hälfte des 3. Jhs. und besonders im 4. Jh. gewinnt die jungfräuliche Lebensform rasch an Popularität, wofür sich im Wesentlichen zwei Gründe annehmen lassen:³⁴ Zum einen steigt die Zahl derjenigen Gemeindemitglieder, die sich nicht erst im Erwachsenenalter zum Christentum bekehrt haben, durch den Missionserfolg der christlichen Gemeinden exponentiell an. Damit erfahren immer mehr Gläubige bereits von Kindesbeinen an eine christliche Vgl. für die ersten drei Jahrhunderte Munier, Ehe und Beatrice, Continenza sowie zur Bedeutung der Askese im frühen Christentum insgesamt Derrett, Christianity. Vgl. zur Datierung Lindemann, Korintherbrief . Schiwietz, Mönchtum , . Vgl. exemplarisch Conc. Carthag. a. , cn. (CCL , Munier). Vgl. zum Folgenden Schöllgen, Jungfräulichkeit /. Vgl. mit Belegen Schöllgen, Jungfräulichkeit / (für Origenes) sowie / (für Tertullian). Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit /.
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I. Einleitung
Sozialisation, die ganz offensichtlich eine größere Nähe zum Ideal sexueller Enthaltsamkeit propagiert und die Anzahl derer erhöht, die bereit sind, sich diesem existentiell zu verschreiben. Zum anderen findet eine schleichende Neuausrichtung in der Verhältnisbestimmung von Ehe und Jungfräulichkeit statt, die die Virginität begünstigt. Sie erhält zunehmend die Funktion eines Idealbildes, an dem sich alle anderen Lebensformen und besonders die Ehe messen lassen müssen, was sich praktisch in breiten Kontroversen um die Frage der Legitimität der Ehe niederschlägt. Sind Ehe und Geschlechtsverkehr überhaupt erlaubt? Ist die Jungfräulichkeit nicht die in protologischer, eschatologischer und soteriologischer Hinsicht allein zu rechtfertigende Lebensform? Diesen und vergleichbaren Themen widmen sich ab ca. 300 zahlreiche sogenannte Jungfräulichkeitsschriften, die den Versuch der Verbreitung des Ideals gerade in der Großkirche illustrieren.³⁵ Im ersten Abschnitt dieser Untersuchung sollen zwei dieser Schriften ausführlich vorgestellt werden, um die konkret-existentielle Umsetzung und die abstrakt-theologische Reflexion der Jungfräulichkeit in ihrer Breite sichtbar zu machen. Um auch einen geographisch möglichst repräsentativen Querschnitt zu gewährleisten, wird neben einer Jungfräulichkeitsschrift des Mailänder Bischofs Ambrosius als Repräsentantin des lateinischen Westens³⁶ auch eine Abhandlung des aus Antiochien stammenden späteren Bischofs von Konstantinopel Johannes Chrysostomus analysiert. Beide Bischöfe scheinen wegen der zeitlichen Lozierung ihrer zu untersuchenden Schriften in der Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 4. Jhs., ihrer existentiellen wie theologischen Auseinandersetzung mit dem Virginitätsideal und ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung geeignete Zeugen für das großkirchlich geprägte Jungfräulichkeitsideal zu sein. Ihre Biographien können exemplarisch für die verschiedenen Möglichkeiten der zeitgenössischen Begegnung mit dem Jungfräulichkeitsideal stehen und werden deshalb in der gebotenen Kürze referiert. Beide Autoren stellen somit zugleich die ideale Folie dar, vor der sich die Radikalisierung dieses Ideals durch Einzelpersonen und ganze Gruppierungen verstehen und einordnen lässt, die im Hauptteil der Arbeit dargestellt werden soll. Vgl. zu den wichtigsten Schriften dieser neu entstehenden Gattung Solignac, Virginité / und Camelot, Traités; zur Begründung des jungfräulichen Lebens durch die Kirchenväter vgl. auch Bourassa, Excellence. Ambrosius ist in diesem Kontext aus mehreren Gründen anderen lateinischen Autoren vorzuziehen: Sein biographischer Zugang zum Virginitätsideal weist ihn als existentiell damit vertraut aus; er hat die relativ große Zahl von fünf ausschließlich der Jungfräulichkeits-Thematik gewidmeten Traktaten verfasst; diese Schriften besitzen gerade gegenüber Augustinus und seinen Jungfräulichkeitswerken eine zeitliche wie inhaltliche Priorität und sind von der sachlichen Ausgangslage her (Infragestellung der Ehe bei gleichzeitiger Betonung ihrer grundsätzlichen Legitimität) geradezu prädestiniert für die vorliegende Untersuchung.
II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius II.1 Biographie Ambrosius von Mailand darf aufgrund seines Lebenswandels und seiner mehrfachen literarischen Auseinandersetzung mit dem Jungfräulichkeitsideal als einer der wichtigsten Propagandisten und Förderer dieser Lebensform im lateinischen Westen gelten.³⁷ Sein intellektueller wie praktischer Zugang zum Thema ist dabei in hohem Maße biographisch geprägt. Ambrosius wird nach dem Bericht seines Biographen Paulinus von Mailand³⁸ als Sproß einer vornehmen Familie³⁹ aller Wahrscheinlichkeit nach 333/4⁴⁰ in Trier geboren, wo sein gleichnamiger Vater als praefectus praetorio Galliarum residiert.⁴¹ Ambrosius und seine zwei älteren Geschwister Marcellina und Satyrus siedeln nach dem Tod des Vaters 340 gemeinsam mit ihrer Mutter nach Rom über. Dort erhält Ambrosius eine standesgemäße und strenge Ausbildung in den „freien Künsten“⁴², die ihn auf eine Karriere im römischen Staat vorbereiten soll. Nach dem Abschluss seiner Studien schlägt Ambrosius eine Beamtenlaufbahn ein und wird in der zweiten Hälfte der 360er Jahre zunächst Anwalt (advocatus) am Gerichtshof der illyrischen Präfektur in Sirmium und dann ab 368 Berater (consultor) des dortigen Präfekten. Dieser empfiehlt ihn für das Amt des Provinzstatthalters
Vgl. zum Jungfräulichkeitsideal im Westen Drijvers, Virginity. Die von Paulinus von Mailand verfasste Vita Ambrosii ist die wichtigste erhaltene Quelle über Ambrosius. Zu Paulinus vgl. überblicksartig Dümler, Paulinus . Neben dieser Lebensbeschreibung geben vor allem die Schriften des Ambrosius,vereinzelte Schriften Augustins sowie die Kirchengeschichte (h.e.) des Rufin Aufschluss über die Biographie des Mailänder Bischofs. Vgl. vita . (ViSa , / Bastiaensen). Vgl. zur Diskussion um das Geburtsjahr Dassmann, Ambrosius von Mailand sowie Markschies, Trinitätstheologie mit Anm. und, mit einer Datierung auf das Ende der er-Jahre, Moorhead, Ambrose . Auch wenn Paulinus Trier nicht explizit erwähnt, sondern nur berichtet, dass Ambrosius im Hof des Amtsgebäudes in eine Wiege gelegt worden sei, als sein Vater die Verwaltung der Präfektur der gallischen Provinzen inne gehabt habe (Vita [ViSa , / Bastiaensen]), spricht auch ohne namentliche Nennung alles für Trier als Geburtsort; vgl. zur Diskussion Dassmann, Ambrosius von Mailand f. Vgl. vita (ViSa , Bastiaensen). Vgl. zum näheren Inhalt dieser Ausbildung Dassmann, Ambrosius von Mailand .
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
(consularis) von Mailand, das er wohl im Jahr 373 antritt⁴³ und das die Verwaltung der Provinz Aemilia Liguria umfasst.⁴⁴ Ambrosius ist also auf dem besten Weg, in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters zu treten, der als Präfekt einer der drei höchsten Zivilbeamten des gesamten Reiches war. Im Jahr 374 und somit verhältnismäßig kurz nach Ambrosius’ Amtsantritt stirbt der zur homöischen Kirchenpartei gehörende Mailänder Bischof Auxentius nach beinahe 20 Amtsjahren, wodurch die Wahl eines neuen Ortsbischofs für die Mailänder Kirche nötig wird.⁴⁵ Bei der folgenden Bischofswahl kommt es zu Auseinandersetzungen innerhalb der Mailänder Gemeinde;⁴⁶ mit höchster Wahrscheinlichkeit spielt die Frage nach der Zusammensetzung der Gemeinde und in Folge dessen die Frage nach der kirchenpolitischen Zugehörigkeit des neuen Bischofs dabei keine unerhebliche Rolle.⁴⁷ In Ausübung seiner Pflichten als Statthalter begibt sich Ambrosius zur Bischofswahl; um die entstandenen Unruhen zu schlichten, hält er eine Ansprache an das versammelte Volk, in deren Anschluss er selbst als von beiden Seiten gewünschter Kandidat noch als Katechumene per acclamationem zum Bischof gewählt wird. Paulinus berichtet⁴⁸ von der Weigerung des Ambrosius, die Wahl anzunehmen. Nach kleineren Verzögerungen bzw. größerem Widerstand des Ambrosius bis hin zum Fluchtversuch stimmt er der Wahl schließlich zu und empfängt erst die Taufe und anschließend „alle kirchlichen Weihen nacheinander“⁴⁹. Die über 20 Bischofsjahre des Ambrosius sind neben der Abfassung theologischer Literatur⁵⁰ und seinen seelsorgerischen und organisatorischen Tätigkeiten als Bischof von Mailand vor allem von seinen wirkungsgeschichtlich bedeutsamen kirchenpolitischen Aktivitäten gekennzeichnet; besonders die Auseinanderset-
So gut begründet Markschies, Trinitätstheologie mit Anm. . Vgl. zu den Aufgaben eines Statthalters Dassmann, Ambrosius von Mailand . Vgl. zu Auxentius McLynn, Ambrose /. Vgl. vita (ViSa , Bastiaensen). So Markschies, Ambrosius von Mailand . Vgl auch Dassmann, Ambrosius von Mailand f. Während Markschies (a.a.O.) in Mailand eine homöische Mehrheit verortet („[…] die Nizäner bildeten am Ort nur eine Minderheit.“) und es gar als „>Bollwerk< des Homöertums“ (Trinitätstheologie ) bezeichnet, vermutet Dassmann (a.a.O.), dass zwar der größtenteils durch Auxentius ernannte Klerus homöisch war, diesem aber die „überwiegend nizänisch gesinnte Gemeinde“ feindselig gegenüberstand. Vgl. vita / (ViSa , / Bastiaensen).Vgl. zum Quellenwert der paulinischen Schilderungen McLynn, Ambrose /. Vgl. vita (ViSa , Bastiaensen). Ein Überblick über das literarische Schaffen des Ambrosius findet sich bei Markschies, Ambrosius von Mailand /.
II.1 Biographie
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zung mit dem Heidentum, also allen Nicht-Christen und Nicht-Juden,⁵¹ führt Ambrosius auf religionspolitischer Ebene mit einiger Schärfe, wie vor allem die Kontroverse um den Victoria-Altar bzw. die Victoria-Statue in der römischen Senatskurie zeigt.⁵² Auch wenn Ambrosius der Heidenmission in seinem pastoralen Wirken keine besondere Aufmerksamkeit widmet, führt er die Auseinandersetzung mit dem Heidentum, also allen Nicht-Christen und Nicht-Juden, auf religionspolitischer Ebene mit einiger Schärfe.⁵³ Ambrosius bleibt bis zu seinem Lebensende Mailänder Bischof und genießt weit über seine Diözese hinaus hohes Ansehen, was der Besuch des Augustinus, der 387 von Ambrosius in Mailand die Taufe empfängt, illustrieren mag.⁵⁴ Kurz vor dem Osterfest 397 stirbt Ambrosius hochverehrt nach dem Empfang des viaticum. ⁵⁵ Der Zusammenhang der Biographie des Ambrosius mit seiner praktisch und literarisch vielfach ausgedrückten Anhänglichkeit an das Jungfräulichkeitsideal ist dabei durchgängig greifbar. Zunächst ist an den familiären Hintergrund des Ambrosius zu denken. Seine ältere Schwester Marcellina wird in Rom zur Jungfrau geweiht, als er adolescens ist;⁵⁶ aller Wahrscheinlichkeit nach erlebt er die Weihe in der Peterskirche mit.⁵⁷ Wie sehr sie ihren Bruder beeinflusst haben muss, lässt sich nur schwer ermessen; die an sie gerichtete Widmung der drei Bücher „Über die Jungfrauen“ (De virginibus) mag erahnen lassen, dass es sich nicht um einen geringen Einfluss handelte. Auch der ältere Bruder Satyrus bleibt bis zu seinem Tod 378 jungfräulich, unverheiratet und kinderlos, um zeitlebens eine möglichst enge Beziehung zu seinen Geschwistern aufrecht erhalten und sein Leben in ihren Dienst stellen zu
Die Definition folgt Fredouille, Heiden . Die wichtigsten Dokumente sowie eine ausführliche Einführung in die Thematik finden sich bei Klein, Victoriaaltar. Vgl. auch McLynn, Ambrose / sowie knapp Liebeschuetz, Ambrose / und Dassmann, Ambrosius von Mailand /. Vgl. Dassmann, Ambrosius von Mailand /. Vgl. zur komplexen Beziehung von Ambrosius und Augustinus Dassmann, Ambrosius von Mailand /. Vgl. vita (ViSa , / Bastiaensen). Vgl. vita (ViSa , Bastiaensen). Die Wiedergabe der Weihepredigt des römischen Bischofs Liborius durch Ambrosius (virg. ,,/) dürfte jedoch eine literarische Komposition sein, vgl. Klein, Meletemata Ambrosiana /.
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
können.⁵⁸ Die Auseinandersetzung mit Jungfräulichkeit und Askese ist Ambrosius also von Jugend auf nicht nur auf einer bloß abstrakten Ebene, sondern im Lebensvollzug der Familie geläufig.⁵⁹ Dementsprechend wundert es nicht, dass das Thema Jungfräulichkeit auch den Beginn des schriftstellerischen Schaffens des Mailänder Bischofs mitbestimmt: Die Bücher über die Jungfrauen datieren auf 377, sind somit nur wenige Jahre nach der Bischofsweihe des Ambrosius entstanden und können als seine theologischen Erstlingswerke gelten.⁶⁰ Dies mag auf die besondere Bedeutung hinweisen, die Ambrosius dem jungfräulichen Leben zumisst, dessen Förderung auch im Fokus seines bischöflichen Wirkens steht.⁶¹ Hierbei ist ihm die Abgrenzung der christlichen Jungfrauen von den heidnischen virgines Vestales ein besonderes Anliegen, das er nicht nur im Konflikt um den Victoriaaltar hervorhebt. Nach ambrosianischem Verständnis ist die konsequent, demütig und untadelig⁶² gelebte Jungfräulichkeit ein Ausweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens, der der im Heidentum praktizierten Jungfräulichkeit, „die man mit Geld erkaufen muss“⁶³, an Pflichterfüllung, Hingabe und Tugend überlegen ist.⁶⁴ Ein weiterer Faktor kann den Zusammenhang zwischen Biographie und Virginität illustrieren: Als Kind des 4. Jhs. ist Ambrosius mit der Jungfräulichkeit als dem sich herausbildenden christlichen Leitideal dieser Epoche konfrontiert,⁶⁵ das er als Bischof und Autor nach Kräften unterstützt. Vor diesem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Jungfräulichkeitsideals muss das gesamte Leben und Wirken des Mailänder Bischofs verstanden werden, der als klassisch gebildeter christlicher Intellektueller dazu beiträgt, dieses Ideal nicht bloß der gebildeten, philosophisch interessierten zeitgenössischen Avantgarde, sondern einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dies tut er, wie bereits anklang, durch das Beispiel seiner eigenen Lebensführung, durch die Betreuung jungfräulich
So erklärt Ambrosius in seiner Trauerrede anlässlich des Todes seines Bruders, vgl. exc. Sat. , (OOSA , Banterle). So auch Dassmann, Ambrosius von Mailand , der vermutet, dass „Virginität und Askese Dauerthema“ im Elternhaus des Ambrosius gewesen seien. Zwar hatte Ambrosius im Rahmen seiner bischöflichen Tätigkeiten bereits zuvor Predigten gehalten, diese sind jedoch erst später und zudem nicht alle durch ihn persönlich verschriftlicht worden; vgl. Dückers, Einleitung f. (Anm. ). Vgl. dazu Dassmann, Pastorale Anliegen /. Vgl. ep. , ( Klein). Ep. , ( Klein). Vgl. knapp Dassmann, Ambrosius . Vgl. zu diesem Phänomen Schöllgen, Jungfräulichkeit, bes. / sowie Brown, Keuschheit.
II.2 Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Ambrosius
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lebender junger und älterer Frauen in Mailand und Umgebung⁶⁶ und durch seine bis heute bedeutsamen Schriften zum Themenkomplex der Jungfräulichkeit.
II.2 Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Ambrosius Allein vom Mailänder Bischof sind uns fünf Virginitätsschriften überliefert,⁶⁷ deren Abfassung von seinem Amtsantritt als Bischof an bis zu seinem Tod erfolgt und ihm ein „Herzensanliegen“⁶⁸ ist: Neben der ältesten, seiner Schwester Marcellina gewidmeten Schrift De virginibus (377⁶⁹) umfasst das Corpus die häufig als viertes Buch von De virginibus überlieferte Schrift De virginitate, den kurzen, vielleicht von der Lebensweise seiner Mutter inspirierten Text De viduis sowie die beiden Werke De perpetua virginitate sanctae Mariae (bzw. traditionell De institutione virginis) und Adhortatio virginitatis (bzw. traditionell Exhortatio virginitatis). Eine weitere Jungfräulichkeitsschrift (De lapsu virginis) wird dem Mailänder Bischof zwar zugeschrieben, ist aber nicht von ihm verfasst worden.⁷⁰ Aller Wahrscheinlichkeit nach kompiliert Ambrosius selbst diese fünf Schriften in seinen letzten Lebensjahren zu einem zusammenhängenden Corpus, um das Jungfräulichkeitsideal in seiner ganzen Vielfalt populär zu machen.⁷¹ Durch die schriftliche Abfassung seiner Gedanken zur Jungfräulichkeit erhoffte sich Ambrosius wohl einen höheren Verbreitungsgrad seiner Ideen, da er mit mündlicher Propaganda vor allem jene jungen Frauen nicht erreichen kann, die von ihren Eltern aus den verschiedensten Gründen daran gehindert werden, seinen Predigten zuzuhören.⁷² Im Folgenden soll anhand ausgewählter Textstellen aus dem ersten Buch der Schrift De virginibus die Sichtweise des Mailänder Bischofs auf das Jungfräulichkeitsideal veranschaulicht werden. Während im zweiten Buch der Schrift ex-
Vgl. Dassmann, Pastorale Anliegen ; Ders., Ambrosius von Mailand / sowie Savon, Ambroise f; vgl. knapp zum Widerspruch, den Ambrosius vor allem von den Eltern jüngerer Mädchen erfahren musste, Dassmann, Ambrosius von Mailand f.; Ders., Ambrosius und die Märtyrer f.; Monachino, Ambrogio /. Ein kurzer Überblick findet sich bei Markschies, Ambrosius von Mailand f. sowie bei Dassmann, Ambrosius von Mailand /. Dassmann, Ambrosius von Mailand . Vgl. zur Datierung knapp und plausibel Markschies, Trinitätstheologie (mit Anm. ). Vgl. Dudden, Life f. und im Anschluss an ihn Dassmann, Ambrosius von Mailand . Vgl. zur Überlieferung und Zusammenstellung des Corpus Zelzer, Corpus, bes. /; Dies., Scritti. Vgl. zum Jungfräulichkeitsideal bei Ambrosius insgesamt Cagiada, Trasfigurazione; Castano, Sant’Ambrogio; Dossi, Ambrogio; Mirri, Donna; Dies., Monachesimo; Riggi, Verginità; Savon, Modèle; Schneider, Ende /. Vgl. Dückers, Einleitung f. (mit Anm. ).
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
empla jungfräulichen Lebens vorgestellt und im dritten Buch praecepta an die Jungfrauen gerichtet werden, ist das erste Buch als laudatio virginitatis geeignet, um die spezifisch ambrosianische Betrachtung der Jungfräulichkeit darzustellen.⁷³ Es macht zugleich deutlich, dass Ambrosius mit Recht als „one of the principal spokesmen for a movement that was changing the western church“⁷⁴ bezeichnet werden kann. Im Gesamtzusammenhang der Untersuchung ist besonders die Verhältnisbestimmung der Jungfräulichkeit zur Institution der Ehe in der Konzeption des Ambrosius von Interesse, weil sich radikalasketische Bewegungen (s.u. Abschnitt B) häufig durch eine ausgeprägte Ablehnung der Ehe auszeichnen und deshalb die großkirchliche Position zu dieser Haltung, die sich bei Ambrosius – zumindest für den lateinischen Westen – beispielhaft findet, Hinweise und Kriterien zu einer Abgrenzung der beiden Positionen zu geben verspricht.
II.3 De virginibus – Liber primus Im Vorwort zum ersten Buch⁷⁵ erläutert Ambrosius zunächst seine bischöfliche Pflicht, das Wort Gottes an die Menschen weiterzugeben, aus der heraus auch die Motivation für die erstmalige Abfassung eines Buches herrühre.⁷⁶ Mehrfach betont er im Anschluss mit dem Verweis auf verschiedene Schriftstellen⁷⁷ seine eigene Unerfahrenheit (imperitia) und Abhängigkeit von Gottes Gnade,⁷⁸ die ihn darauf vertrauen lässt, dass auch sein Unterfangen gelingen kann. Das erste Kapitel⁷⁹ ist der Jungfrau und Märtyrerin Agnes gewidmet, an deren Gedenktag Ambrosius eine Predigt⁸⁰ gehalten hat, die den Ausführungen als Vorlage zugrunde liegt.⁸¹ Das konkrete Vorbild der Agnes nimmt der Bischof zum
Vgl. zu Aufbau und Gliederung des gesamten Werkes Duval, Originalité /. Eine Gliederung des ersten Buches findet sich bei Dückers, Einleitung /. McLynn, Ambrose . Vgl. virg. ,,/ (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Ambrosius nennt die Rede Gottes aus dem Dornbusch (Ex , – ), die sprechende Eselin Bileams (Num , – ) sowie den Lobgesang des zuvor stummen Zacharias, des Vaters Johannes‘ des Täufers (Lk ,f.), als Beispiele für die Aufhebung scheinbar unüberwindlicher Hindernisse durch Gott. Vgl. virg. ,,/ (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,,/ (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Der Gedenktag der heiligen Agnes ist der . Januar. In welchem Jahr Ambrosius die entsprechende Predigt gehalten hat, ist allerdings nicht völlig geklärt. Aller Wahrscheinlichkeit nach
II.3 De virginibus – Liber primus
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Anlass, die Jungfräulichkeit als Ganze zu loben und ihre enge Verbindung zum Martyrium zu betonen:⁸² Wie der Märtyrer Christus im Tod nachfolgt, so besteht das Opfer der Jungfrau darin, dass sie ihren Körper und ihr Leben vollständig Gott hingibt. Agnes selbst tritt mit ihrem zweifachen (duplex) Martyrium⁸³ in die intensivste Form der Nachfolge ein, sie verbindet die Keuschheit ihrer Lebensführung mit der Frömmigkeit ihres Todes. Für Ambrosius ist diese Nähe zwischen Jungfräulichkeit und Martyrium durchaus folgerichtig und nicht etwa zufällig. Er weist explizit darauf hin, dass die Virginität nicht nur – gewissermaßen akzidentell – die Lebensform einiger Märtyrer ist, sondern dass vielmehr umgekehrt ein jungfräuliches Leben die Bereitschaft zum Martyrium erhöht und somit „selbst Märtyrer hervorbringt“⁸⁴. Die Jungfräulichkeit ist für ihn eine christliche „Haupttugend“ (principalis virtus ⁸⁵), die höchstes Lob verdient, „über die Gewohnheit der Natur hinausgeht“⁸⁶, letztlich „vom Himmel hervorgeströmt ist“⁸⁷ und der Lebensweise der Engel entspricht.⁸⁸ Den sterblichen Menschen ist diese Lebensweise nur durch die Vermittlung Christi zugänglich geworden, der durch seine Inkarnation und das Vorbild seines jungfräulichen Lebens ihre Verbreitung auf Erden ermöglicht hat.⁸⁹ Konsequenterweise kann wahres jungfräuliches Leben in der Konzeption des Ambrosius auch nur innerhalb des Christentums existieren.⁹⁰ Auch wenn die Christen mit Heiden, Barbaren und den übrigen Lebewesen sogar die Luft zum Atmen teilen, ist die Jungfräulichkeit spezifisch christlich:⁹¹ Die römischen Vestalinnen leben nur für eine bestimmte Zeit jungfräulich und werden
handelt es sich um das Jahr ; vgl. Dückers, Einleitung f. (mit Anmm. und ) sowie Markschies, Trinitätstheologie (mit Anm. ). Der Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Martyrium wird bei Ambrosius mehrfach erwähnt, vgl. neben virg. ,, noch virg. ,, und off. ,, (CCL , Testard). Siehe dazu auch Dassmann, Ambrosius und die Märtyrer f.; Ders., Pastorale Anliegen /; Dückers, Einleitung /. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. Mt ,; Mk ,. Der Topos des engelgleichen Lebens (ἀγγελικός βίος bzw. vita angelica) ist besonders bei asketischen Bewegungen und auch im frühchristlichen Mönchtum weit verbreitet, vgl. dazu umfassend Frank, Angelikos Bios; Elm, Engel. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. zur Askese außerhalb des Christentums Strathmann, Askese und Brown, Asceticism sowie Nathan, Family /.
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
dafür steuerlich privilegiert,⁹² die heidnischen Kulte kennen keine Jungfrauen und frönen zudem der Unzucht,⁹³ und auch unter den Anhängern der Philosophie ist niemand in der Lage, die eigenen Begierden vollständig und dauerhaft zu kontrollieren.⁹⁴ Insofern sind die christlichen virgines einzigartige Zeugen für das christliche Bekenntnis und Bräute Christi, der der Urheber (auctor) der virginitas (bzw. castitas) ist, deren Heimat (patria) somit der Himmel darstellt.⁹⁵ Dieser übernatürliche Ursprung der jungfräulichen Lebensform⁹⁶ hat nach Ambrosius zur Folge, dass sie nicht im Sinne eines Gebotes vorgeschrieben, sondern vielmehr, mit Bezug auf den Ersten Korintherbrief, dem Wunsch des Paulus folgend angestrebt werden sollte.⁹⁷ Entsprechend betont Ambrosius in der Verhältnisbestimmung der Jungfräulichkeit zur Ehe,⁹⁸ die im Folgenden⁹⁹ breit thematisiert wird, dass er das jungfräuliche Leben bewundert und lobt, die Ehe als „Heilmittel gegen die Schwäche“¹⁰⁰ (remedium infirmitatis) jedoch akzeptiert und nicht tadelt. Er hebt eigens hervor, dass das Eingehen einer Ehe keine Sünde darstellt, hält jedoch an der jungfräulichen Lebensform als der besseren, weil aufgrund ihrer Herkunft aus dem Himmel ewigen fest.¹⁰¹ Die Schwierigkeiten, die mit dem Leben als verheiratete Frau einhergehen, listet Ambrosius detailliert auf. Die Geburt ihrer Kinder ist mit Schmerzen und Gefahren verbunden,¹⁰² sie sorgt sich ständig um Erzie-
Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. zu diesem Themenkomplex umfassend Bätz, Sacrae virgines; zur Jungfräulichkeitskonzeption bes. /. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,,f. (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Die Übersteigung der Natur durch die Jungfräulichkeit betont Ambrosius mehrfach, vgl. auch virg. ,,; ,,.; ,,. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. dazu Dooley, Marriage. Vgl. virg. ,,/,, (OOSA ,, / Gori). Virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Die zu heilende „Schwäche“ dürfte hier in Anlehnung an Kor ,. die Gefahr der Unzucht (πορνεία), also des vor- und somit außerehelichen Geschlechtsverkehrs sein. Auch wenn für Paulus die Vermeidung von Unzucht nicht der alleinige Zweck der Ehe ist, misst er dieser Funktion dennoch hohe Bedeutung zu; vgl. Schrage, Brief /. Eigentlich wünschenswert ist aus der Sicht des Paulus jedoch einzig die Enthaltsamkeit; vgl. zur diesbezüglichen Konzeption des Ersten Korintherbriefs ausführlich Niederwimmer, Askese / . Der eng mit der Sichtweise des Ambrosius zusammenhängende Begriff des remedium incontinentiae taucht in nicht allzu großer zeitlicher Entfernung bei Hieron. ep. , (CSEL ,, Hilberg) auf. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori).
II.3 De virginibus – Liber primus
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hung, Wohlergehen und Zukunft ihrer Nachkommen,¹⁰³ sie ist dem Mann in Knechtschaft untergeordnet¹⁰⁴ und dem dauerhaften Bestreben ausgesetzt, ihm durch den Gebrauch von Schminke und Schmuck gefallen zu wollen.¹⁰⁵ Demgegenüber ist den beatae virgines aufgetragen, für die Erhaltung der Schönheit ihrer Seelen Sorge zu tragen.¹⁰⁶ Dies soll ihnen eine zahlreiche geistige Nachkommenschaft bescheren, wie sie auch der unbefleckten und jungfräulichen Kirche eigen ist, die zwar keinen irdischen Mann, aber den Bräutigam (sponsus) Christus hat und reich an Kindern ist.¹⁰⁷ In einer direkten Gegenüberstellung vergleicht Ambrosius die Situation von Eltern, die ihre Tochter zur Führung eines jungfräulichen Lebens ermuntern oder sie ihr zumindest nicht verbieten,¹⁰⁸ mit der Situation solcher Eltern, die ihre Kinder verheiraten,¹⁰⁹ und kommt hierbei zu einem überwiegend pragmatisch orientierten Urteil, das angesichts der Absicht seiner Schrift wenig überrascht: Auch aus elterlicher Perspektive ist die Jungfräulichkeit die zu bevorzugende Lebensform, weil sie den Eltern die Zahlung der Aussteuer erspart, jungfräulich lebende Töchter nicht das elterliche Haus und damit den Bereich der elterlichen Kontrolle verlassen und sie zudem durch ihre gottgefällige Lebensführung eine Opfergabe darstellen, die auch ihren Eltern das göttliche Wohlwollen erwirkt.¹¹⁰ Im folgenden Abschnitt¹¹¹ wehrt sich Ambrosius wie schon virg. 1,6,24 gegen den Vorwurf, er lehne die Ehe rundherum ab. Ob diese Klarstellung auf eine konkrete Gruppierung in seinem zeitgenössischen Mailänder Umfeld antwortet oder als topische Anfrage aufgegriffen wird, muss offen bleiben.¹¹² Ambrosius dementiert diese Kritik nachdrücklich und hebt hervor, dass er die Ehe sogar empfiehlt und jene verdammt (damnare), die sie verachten. Allen, die die Ehe ablehnen, zeigt er die Folge ihrer Haltung auf: Sie verschmähen Kinder und die menschliche Gemeinschaft insgesamt und räumen damit in letzter Konsequenz ein, dass sie selbst nicht hätten geboren werden sollen. Eine derartig lebens- und
Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,,f. (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Diese zeitgenössisch sicher lebensnahen, aus heutiger Sicht etwas kurios klingenden Begründungsversuche bringen Dassmann, Frömmigkeit zu dem aus moderner Sicht verständlichen Urteil, dass die Darstellung der vermeintlichen Vorteile des jungfräulichen Lebens auf Kosten der Ehe bei Ambrosius in „manchmal peinlicher Weise“ geschehe. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. dazu knapp Dückers, Einleitung f. (Anm. ).
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
weltfeindliche Sichtweise bekämpft Ambrosius scharf und bekräftigt die grundsätzliche Legitimität der Ehe, die mithin den biologischen Ursprung auch jener Menschen darstellt, die sich im Verlauf ihres Lebens gegen die Ehe und für das jungfräuliche Ideal entschieden haben.¹¹³ Trotz dieser prinzipiellen Akzeptanz der ehelichen Lebensform lässt Ambrosius keine Zweifel an der Höherrangigkeit der Jungfräulichkeit aufkommen und betont ausdrücklich, dass deren Überordnung über die Ehe nicht seiner persönlichen Überzeugung, sondern dem Zeugnis der Hl. Schrift (Weish 4,1) entstammt: „Besser ist Unfruchtbarkeit mit Tugend.“¹¹⁴ Die Schönheit der Jungfräulichkeit wird im Alten Testament vielfach gepriesen, wie Ambrosius detailliert aufweist.¹¹⁵ Sie leitet sich von der Schönheit ihres Bräutigams, des ewigen Königs, her, und erfährt durch ihn ihre Heiligung. Deshalb ist sie der ehelichen Lebensform überlegen, und die Liebe, die ihr von ihrem Herrn zuteil wird, kennt kein Ende. Mit verschiedenen alttestamentlichen Bildern und Vergleichen lobt der Mailänder Bischof die Virginität. Sie ist fleißig und enthaltsam wie eine Biene und bringt dabei ebenso süße Frucht hervor,¹¹⁶ sie teilt ihre (materiellen wie geistlichen) Reichtümer mit den Armen und lässt sie so an ihrem Vermögen teilhaben.¹¹⁷ Die Jungfrau soll in der im Hohenlied (vgl. Hld 2,1f.) geschilderten Blume Christus erkennen, dem sie sich nähern und der sie nähren soll.¹¹⁸ Mit Flügeln des Geistes soll sie über die irdischen Laster hinweg zu Christus fliegen,¹¹⁹ der, wie die Keuschheit selbst, einem verschlossenen Garten gleicht,¹²⁰ der gut bewacht werden muss.¹²¹ Die durch ein keusches Leben erworbenen Verdienste bleiben den Jungfrauen dauerhaft erhalten¹²² und machen sie würdig, mit den himmlischen Wesen verglichen zu werden.¹²³ Ihrer außergewöhnlichen Lebensform kommt dabei dreifacher Schutz zu: Für die Jungfrauen und die Bewahrung ihrer Keuschheit kämpfen die Kirche,¹²⁴ Gott selbst¹²⁵ und seine Engel¹²⁶. Mit Letzteren
Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). „Melior est sterilitas cum virtute“, der Text folgt LXX. Vulg. liest allerdings „Melior est generatio cum claritate“. Vgl. virg. ,,/ (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,,f. (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori).
II.3 De virginibus – Liber primus
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ist die Jungfräulichkeit besonders deshalb eng verbunden, weil Jungfrauen mit ihrer Enthaltsamkeit bereits auf Erden die Lebensweise des Himmels praktizieren¹²⁷ und so, zum himmlischen Leben aufgestiegen, eine den wegen ihrer Unmäßigkeit gefallenen Engeln (vgl. Gen 6,2) im wahrsten Sinne des Wortes entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben.¹²⁸ Deshalb ist die Jungfrau frei vom Streben nach materiellem Besitz oder weltlichem Ansehen¹²⁹ und wird nicht von den Wunden geplagt, die Schmuck an ihrem Körper hinterlassen.¹³⁰ Auch bleibt ihr die erniedrigende Erfahrung erspart, auf dem Heiratsmarkt versteigert zu werden.¹³¹ Den Schlussteil des Buches¹³² widmet Ambrosius der Auseinandersetzung mit denjenigen Eltern, die ihre Kinder durch Verbote von einem jungfräulichen Leben abzuhalten versuchen. Er beklagt die Erfolglosigkeit seiner Werbungsversuche für die Jungfräulichkeit im heimischen Mailand, die im krassen Gegensatz zu seinem Erfolg in anderen Regionen stehen.¹³³ Besonders unverständlich ist für Ambrosius, dass (offensichtlich in seinem näheren Umfeld) sogar Witwen ihre Töchter vom jungfräulichen Leben fernhalten wollen,¹³⁴ wo doch sogar aus dem weit entfernten Mauretanien junge Mädchen nach Mailand kommen, um sich dort zur Jungfrau weihen zu lassen.¹³⁵ Auch in Bologna gibt es zahlreiche Mädchen, die sich dem jungfräulichen Leben verschrieben haben¹³⁶ und sich stetig um die Vergrößerung ihrer Gemeinschaft mühen.¹³⁷ Diesen Eifer legt Ambrosius auch den Mailänder Jungfrauen ans Herz und ermahnt sie, nicht aus Angst vor finanzieller Benach-
Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,,/, (OOSA ,, / Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Dies ist für Ambrosius deshalb unverständlich, weil Witwenschaft und Jungfräulichkeit aus seiner Sicht zwei eng miteinander verwandte Lebensformen darstellen. Demzufolge sollte eine Witwe größeres Verständnis für die Entscheidung der Tochter zur Jungfräulichkeit aufbringen, als eine verheiratete Mutter dies tut.Vgl. zum pastoralen Umgang mit dem Witwenstand bei Ambrosius Monachino, Ambrogio /; Dassmann, Frömmigkeit /; Ders., Ambrosius von Mailand /. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Im Gegensatz zur in Mailand üblichen Lebenweise scheinen die Jungfrauen in Bologna dem jungfräulichen Ideal außerhalb ihres Elternhauses nachgeeifert und vielleicht sogar gemeinsam ein Gebäude bewohnt zu haben; vgl. Dückers, Einleitung (Anm. ).
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
teiligung durch die Eltern, d. h. wegen einer möglichen Verweigerung der Aussteuer, vor dem jungfräulichen Leben zurückzuschrecken.¹³⁸ Der Widerstand der Eltern ist, so Ambrosius,¹³⁹ lediglich als Prüfung für die Ernsthaftigkeit des Entschlusses der Töchter zu sehen und muss deshalb überwunden werden.¹⁴⁰ Wichtiger als der Gehorsam den Eltern gegenüber ist der Gehorsam gegenüber Gott und der Religion.¹⁴¹ Außerdem werden den Jungfrauen ihre finanziellen Verluste bereits auf Erden und auch im Himmelreich großzügig vergolten werden.¹⁴² Ambrosius schildert im Folgenden als an die Eltern gerichtetes warnendes exemplum den fiktiven liturgischen Ablauf einer Jungfrauenweihe durch den Bischof,¹⁴³ während derer sich die Jungfrau ihres reichen, mächtigen und adeligen Bräutigams Christus rühmt und ihn allen vergänglichen weltlichen Reichtümern vorzieht. Auf die schroffe Nachfrage eines Teilnehmers der Zeremonie, was der verstorbene Vater der zu weihenden Jungfrau wohl über die Weihe denken würde, antwortet die virgo nicht weniger direkt: „Vielleicht ist er gerade deshalb gestorben, damit er (mir) nicht irgendein Hindernis in den Weg legen könnte.“¹⁴⁴ Dies bewirkt einen Sinneswandel bei den bisher ablehnend eingestellten Verwandten, die sich davor fürchten, durch ihre Ablehnung möglicherweise das Schicksal des Vaters der Jungfrau zu teilen. Ambrosius beschließt das erste Buch mit einer Mahnung an die Eltern jungfräulich lebender Mädchen, diesem Beispiel zu folgen.
II.4 Fazit Im ersten Buch seiner Abhandlung über die Jungfrauen stehen für Ambrosius vor allem zwei Aspekte im Mittelpunkt: Einerseits rühmt er die Jungfräulichkeit um ihrer selbst willen als Geschenk des Himmels, andererseits stellt er sie im Vergleich mit der Ehe als die überlegene der beiden Lebensformen heraus. Die Jungfräulichkeit gilt ihm als die Lebensform Jesu Christi. Dies ist Ausweis ihres himmlischen Ursprungs und Ziels, das zugleich ihr spezifisch christliches Cha-
Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). McLynn, Ambrose bringt die Kontroverse zwischen den Eltern und dem Bischof über die Frage, wessen Autorität die Tochter untersteht bzw. unterstehen soll, auf die Fomel: „As far as the church was concerned, she was theirs, but the family tended to think otherwise.“ Vgl. ebd.; vgl. auch virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori). Vgl. virg. ,, (OOSA ,, / Gori). Virg. ,, (OOSA ,, Gori).
II.4 Fazit
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risma ausmacht: Vor dem Christentum und außerhalb des Christentums gibt es keine wahre Jungfräulichkeit, da diese erst durch die Inkarnation in die Welt kam.¹⁴⁵ Sie ist zugleich die Lebensform der Engel, weswegen alle irdischen Jungfrauen am himmlischen Leben Anteil haben, den besonderen Schutz der Engel genießen und bereits die Auszeichnungen der Auferstehung an sich selbst besitzen. Zu diesem eschatologischen Aspekt kommen gewisse soziale Vorteile des jungfräulichen Lebens, die sich vor allem auf ihre Freiheit von der Gefallsucht und der Unterordnung dem männlichen Geschlecht gegenüber beziehen und es ihr ermöglichen, auf leiblichen und damit sterblichen Nachwuchs zu verzichten und stattdessen eine reiche geistige Nachkommenschaft hervorzubringen. Lobenswert ist die Jungfräulichkeit auch deshalb, weil sie – analog zum Martyrium – eine Ganzhingabe an Gott und somit ein Opfer darstellt, das eine würdige Antwort der virgo auf das Opfer Christi ist. Schließlich erfährt die jungfräuliche Lebensform im letzten Kapitel des ersten Buches¹⁴⁶ noch eine göttliche Legitimation: Der Vater einer Anwärterin auf den Jungfrauenstand sei, wie bereits beschrieben, darum frühzeitig von Gott zu sich gerufen worden, um der angehenden virgo consecrata kein Hindernis auf dem Weg zu ihrer Jungfrauenweihe darzustellen – eine direkte Intervention als Ausdruck des göttlichen Wohlgefallens für das Jungfräulichkeitsideal. Mit Blick auf die vorliegende Untersuchung sind besonders jene Passagen aus de virginibus interessant, in denen Ambrosius Ehe und Jungfräulichkeit miteinander vergleicht; diesem Thema ist immerhin knapp ein Viertel des Umfangs des ersten Buches gewidmet. Entscheidend ist hierbei, dass sich für Ambrosius die Vorrangstellung der Jungfräulichkeit vor der Ehe notwendig aus der göttlichen Offenbarung ergibt und sie nicht einfach ein möglicher Lebensentwurf ist, der gleichrangig neben anderen steht: Sie entspricht dem Willen Gottes des Vaters, wurde durch den Heiligen Geist den Propheten zur Verkündigung aufgegeben und erfährt schließlich in der Lebensweise Jesu Christi ihre Vollendung. Eine derartige Hochschätzung der jungfräulichen Lebensform zieht als logische Konsequenz die prinzipielle Erklärungsbedürftigkeit der Legitimität der Ehe nach sich. Selbst wenn hinter den zahlreichen diesbezüglichen Formulierungen im 1. Buch von virg. (bes. 1,6,24. 34f.) keine konkreten Anfragen von Einzelpersonen oder Gruppierungen in Mailand
Die in virg. ,, genannten alttestamentlichen Figuren Elija und Mirjam stehen nach ambrosianischem Verständnis insofern nicht außerhalb des Christentums, als sie Bilder der Kirche und somit ihre Mitglieder sind. Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori).
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II. Das Jungfräulichkeitsideal im lateinischen Westen – Ambrosius
stehen sollten,¹⁴⁷ war angesichts des weithin populären asketischen Lebenswandels¹⁴⁸ offenbar dennoch ein entsprechender Rechtfertigungsdruck gegeben, dem Ambrosius hier Rechnung trägt. Zwar verteidigt Ambrosius die Institution der Ehe vor ihren Kritikern, grundsätzlich jedoch ist auch er von der Höherrangigkeit der Jungfräulichkeit überzeugt und bewegt sich somit in einer argumentativen Grauzone.¹⁴⁹ Konkret ergeben sich etwa Vereinbarungsschwierigkeiten zwischen der prinzipiellen Einschätzung der Ehe als rechtmäßiger Institution einerseits und dem Vokabular, mit dem Ambrosius über den ehelichen Geschlechtsverkehr spricht, andererseits.¹⁵⁰ Für die zu untersuchende Fragestellung ist dies im doppelten Sinn aufschlussreich: Zum einen tritt die Jungfräulichkeit deutlich als ein Lebensmodell hervor, dem Ambrosius weitere Verbreitung sichern will und das die Ehe und ihre Befürworter merklich in Begründungsnot bringt; zum anderen muss selbst ein derart prononcierter Förderer des Jungfräulichkeitsideals wie Ambrosius in seiner Lehre und Verkündigung darauf achten, dass die diesbezügliche großkirchliche Position (der Legitimität der Ehe) den ihr zustehenden Raum erhält. Von ihrer Gesamttendenz her lässt sich die ambrosianische Schrift gewissermaßen als Protreptikos für das jungfräuliche Leben ansehen, dem die Ehe auch bei dem sie verteidigenden Ambrosius essentiell – nicht bloß graduell – untergeordnet ist.
Vgl. nochmals Dückers, Einleitung f. (Anm. ). Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit f.; Brown, Keuschheit /. Vgl. zur schwierigen Positionsbestimmung des Ambrosius in Bezug auf Ehe und Jungfräulichkeit Dassmann, Frömmigkeit /. Ambrosius hebt in virg. ,, hervor, dass die Kirche ihre geistigen Nachkommen unbefleckt von Geschlechtsverkehr (immaculata coitu) gebäre; Dassmann, Frömmigkeit (Anmm. /) weist auf weitere terminologische Derbheiten hin.
III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus III.1 Biographie Johannes von Antiochien, genannt Chrysostomus, zählt bis heute zu den wichtigsten Theologen des spätantiken christlichen Ostens. Die Quellenlage zu seiner Biographie und Bibliographie ist außergewöhnlich günstig.¹⁵¹ Ein unmittelbarer familiär-biographischer Bezug zum Jungfräulichkeitsideal, wie er bei Ambrosius festgestellt werden kann, ist bei ihm nicht zu erkennen. Johannes wird auch ohne familiäre Vorprägung von dieser Lebensform angezogen, womöglich weil sie im Osten – zunächst in den gebildeten Kreisen – bereits stärker zum zeitgenössischen Mentalitäts-Mainstream gehört. Aus diesem Grund kann die biographische Skizze bei Johannes kürzer ausfallen als bei seinem Mailänder Amtskollegen.¹⁵² Johannes wird vermutlich 349¹⁵³ in eine wohlhabende antiochenische Familie hineingeboren. Sein Vater Secundus ist hoher Beamter im Dienst der antiochenischen Militärverwaltung¹⁵⁴ und stirbt bereits kurz nach der Geburt seines Sohnes. Er hinterlässt seine Witwe Anthusa mit Johannes¹⁵⁵ und einer älteren Schwester, die in den Quellen namenlos bleibt. In seiner Heimatstadt wächst Johannes auf und studiert dort standesgemäß auch Philosophie (bei Andragathius) und Rhetorik (bei dem berühmten heidnischen Rhetor Libanius¹⁵⁶).¹⁵⁷
Vgl. dazu Baur, Johannes Chrysostomus VIII, der feststellt, „dass wir über kein Leben aus dem griechisch-christlichen Altertum so gut unterrichtet sind, wie über das seine.“ Ebd., XII findet sich eine Liste aller Biographen des Johannes; vgl. zur Quellenlage außerdem Brändle, Johannes Chrysostomus f. Vgl. zur trotz der günstigen Quellenlage schwierigen Rekonstruktion zumindest der Jugendjahre des Johannes Carter, Chronology. Vgl. a.a.O., . Vgl. Pallad. dial. (SC , Malingrey); s. dazu auch Jones, Parentage . Dies berichtet Johannes in seiner Schrift über den Witwenstand, vgl. vid. , (SC , Ettlinger). Vgl. Soz. h.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen) und die Anspielung bei Johannes selbst, vid. (SC , / Ettlinger). So auch die Mehrheitsmeinung der Forschung, vgl. zur Diskussion etwa Petit, Étudiants /. Vgl. Socr. h.e. , (GCS N.F. , f. Hansen); vgl. die kurze Schilderung des Unterrichts und der Person des Libanius bei Brändle, Bischof /. Vgl. zu Libanius insgesamt auch Nesselrath, Libanios sowie Festugière, Antioche /. Illustrativ für das rhetorische Talent des Johannes und die Hochschätzung durch seinen Lehrer ist das von Sozomenus (h.e. ,, [GCS N.F. , Bidez / Hansen]) überlieferte Diktum des Libanius auf seinem Sterbebett, dass er sich Johannes als
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
Nach dem Abschluss seiner Studien lässt er sich, wohl 367¹⁵⁸ oder 368¹⁵⁹, taufen,¹⁶⁰ verbringt anschließend auf den Wunsch des antiochenischen Bischofs Meletius hin drei Jahre in dessen unmittelbarer Nähe¹⁶¹ und wird dann in das Lektorenamt eingesetzt.¹⁶² Parallel dazu widmet er sich intensiv dem Schriftstudium¹⁶³ und besucht das von Diodor, dem späteren Bischof von Tarsus, geleitete sogenannte asketerion, eine Gemeinschaft asketisch lebender junger Männer, die sich zu einem gemeinsamen geistlichen Leben entschlossen haben, jedoch getrennt voneinander wohnen.¹⁶⁴ Die Zugehörigkeit zu dieser asketischen Kommunität ist zugleich die erste uns explizit überlieferte biographische Verbindung des Johannes mit dem spätantiken Leitideal der Askese; sie findet ihre konsequente Fortsetzung in einem Rückzug aus Antiochien, den Johannes in den Jahren zwischen 372 und 378 vollzieht: Er begibt sich zunächst für insgesamt vier Jahre bei einem alten syrischen Mönch in die Schule, der in den Bergen unweit von Antiochien lebt und ihn strenge asketische Übungen lehrt, um seine Begierden zu bekämpfen.¹⁶⁵ Als er ein höheres Maß an Selbstkontrolle erworben hat, zieht er sich für weitere zwei Jahre allein in eine Höhle zurück. Er verzichtet weitestgehend auf Schlaf und lernt die Hl. Schrift auswendig. Aufgrund der harten Askese erkrankt Johannes und kehrt schließlich in die Stadt zurück, „in den Hafen der Kirche“¹⁶⁶. Dies wird von seinem Biographen Palladius als rettendes Eingreifen Gottes selbst dargestellt, der ihn „von der Schwäche der Askese“¹⁶⁷ befreien will. Johannes setzt nun den cursus honorum innerhalb der antiochenischen Kirche fort, indem er zunächst zwei weitere Jahre als Lektor dient und dann zum Diakon ordiniert wird. Nach seiner Presbyterweihe 386 widmet sich Johannes seiner seinen Nachfolger als Rhetoriklehrer gewünscht hätte, wenn ihn die Christen nicht gestohlen hätten. So etwa Brändle, Johannes Chrysostomus ; Moulard, Jean Chrysostome . So Carter, Chronology . Vgl. Pallad. dial. (SC , Malingrey); angesichts der gewohnheitsmäßigen zeitgenössischen Praxis darf das Osterfest als Tauftermin gelten. Vgl. ebd.; Brändle, Johannes Chrysostomus , äußert die Vermutung, dass es sich um eine Tätigkeit als Assistent des Bischofs handeln könnte. Zur ursprünglichen Bedeutung des bei Palladius verwendeten Verbs παρεδρεύω vgl. Malingrey / Leclercq, Introduction (Anm. ). Vgl. Pallad. dial. (SC , Malingrey). Vgl. Soz. h.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Vgl. zum asketerion Kelly, Golden Mouth /.. Zu den Wegbegleitern des Johannes in dieser Gemeinschaft zählte wie bereits während der Zeit als Schüler des Libanius auch Theodor von Mopsuestia. Vgl. Pallad. dial. (SC , / Malingrey); siehe auch Kelly, Golden Mouth /. Pallad. dial. (SC , Malingrey). Ebd.
III.2 Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Johannes Chrysostomus
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umfangreichen Predigttätigkeit, die ihm den Beinamen Chrysostomus einbringt.¹⁶⁸ Er wendet sich mit häufig scharfem und polemischem Ton gegen Häretiker, Juden und reiche Gemeindemitglieder, die ihren Reichtum nicht mit den Armen teilen möchten. Sein Sensus für soziale Themen ist es möglicherweise auch, der dazu beiträgt, dass er 397 zum Bischof von Konstantinopel erhoben wird.¹⁶⁹ Hier gewinnt er mit seinem karitativen Engagement und den von ihm initiierten Einsparungen innerhalb der kirchlichen Verwaltung schnell die Zuneigung der Bevölkerung.¹⁷⁰ Seine hohen Ansprüche an den eigenen Klerus sowie die strenge Disziplin vor allem in Finanzfragen sind es unter anderem, die den Unmut gegen ihn wachsen lassen und schließlich zur sogenannten Eichensynode vom Jahre 403 führen,¹⁷¹ die Johannes in dessen Abwesenheit verurteilt. Er wird schließlich gewaltsam aus Konstantinopel verschleppt und nach Kukusus in Armenien in die Verbannung geschickt,¹⁷² wo er häufig Besuch aus seiner antiochenischen Heimat empfängt¹⁷³ und wohl u. a. deshalb 407 nach Pityus am Schwarzen Meer verlegt werden soll. Auf dem Weg dorthin stirbt er im Mai 407.¹⁷⁴
III.2 Die Jungfräulichkeitsliteratur bei Johannes Chrysostomus Insgesamt sind uns fünf literarische Werke des Johannes überliefert, die sich vorwiegend mit Theorie und Praxis des Jungfräulichkeitsideals beschäftigen;¹⁷⁵ sie stammen wahrscheinlich allesamt aus seiner Zeit als Diakon in Antiochien (380/ 6).¹⁷⁶ Neben der sich explizit mit der Jungfräulichkeit beschäftigenden Schrift de virginitate (ca. 382¹⁷⁷) sind zwei Schreiben über den Witwenstand (ad viduam
Vgl. zu den Predigten des Johannes überblicksartig Dünzl / Kaczynski, Johannes Chrysostomus /. So die Vermutung bei Brändle, Johannes Chrysostomus . Vgl. Socr. h.e. , (GCS N.F. , f. Hansen). Die Beschlüsse der Eichensynode bringt Phot. bib. (/ Henry I). Vgl. zur Eichensynode und ihrer Vorgeschichte Brändle, Johannes Chrysostomus /; Ders., Bischof /; Liebeschuetz, Fall; Ders., Barbarians /. Vgl. Pallad. dial. (SC , Malingrey). Vgl. Pallad. dial. (SC , Malingrey). Vgl. Socr. h.e. , (GCS N.F. , f. Hansen). Zur Jungfräulichkeit bei Johannes vgl. kurz Clark, Theory f. f. Vgl. auch Kelly, Golden Mouth /. So die begründete Vermutung bei Dünzl / Kaczynski, Johannes Chrysostomus ; zu den Datierungsfragen der einzelnen Schriften vgl. außerdem Adkin, Date /; Brändle, Johannes Chrysostomus . So die hier zugrunde gelegte Annahme von Brändle, Johannes Chrysostomus .
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
iuniorem 1 und 2¹⁷⁸) überliefert, in denen von der Zweitehe abgeraten und die Enthaltsamkeit als die einer Witwe angemessene Lebensform nachdrücklich empfohlen wird.¹⁷⁹ Außerdem wendet sich Johannes in den Abhandlungen Adversus eos qui apud se habent subintroductas virgines und Quod regulares feminae viris cohabitare non debeant gegen die Lebensform der Syneisakten, die in seinen Augen nicht nur moralisch unschicklich, sondern ganz praktisch der Bewahrung der Jungfräulichkeit abträglich ist.¹⁸⁰ Für den Horizont unserer Untersuchung ist besonders die Schrift de virginitate ¹⁸¹ relevant. In ihr legt Johannes seine Auffassung des Jungfräulichkeitsideals dar, verortet es explizit in der Kirche und grenzt somit das großkirchlich geprägte Virginitätsideal von seinen häretischen und heidnischen Ausprägungen deutlich ab.
III.3 De virginitate Johannes beginnt seine Schrift mit einer ausgeprägten Polemik gegen diejenigen Anhänger des Jungfräulichkeitsideals, die aus seiner Sicht zu den Häretikern zu zählen sind (vgl. virg. 1– 11). Unmittelbar zu Beginn des Traktats erklärt er, dass diese keinen Lohn zu erwarten haben, „weil sie dadurch dazu gekommen sind, sich der Ehe zu enthalten, dass sie sie verachten. Denn dadurch, dass sie die Ehe unzüchtig nennen, haben sie sich den Lohn der Jungfräulichkeit bereits vorher selbst genommen.“¹⁸² Schließlich können sie, so Johannes, keine Belohnung für die Ablehnung einer Lebensform verlangen, die sie ohnehin als Sünde ansehen,¹⁸³ sondern haben im Gegenteil eher eine Strafe zu erwarten, da „sie im Widerspruch zu Gott eigene Gesetze aufstellen“¹⁸⁴, nämlich offenbar die Jungfräulichkeit als einzig legitime Lebensform propagieren. Demgegenüber weist Johannes mit Bezug auf 1 Kor 7,25 ausdrücklich darauf hin, dass die Ehelosigkeit kein Gebot Gottes ist, sondern lediglich einen Ratschlag darstellt.¹⁸⁵ Deshalb stammt die Ablehnung der Ehe, wie sie laut Johannes etwa durch Mani¹⁸⁶ vorgebracht wird, ursächlich von Satan selbst.¹⁸⁷ Vgl. SC , / Ettlinger. Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Ehe und Jungfräulichkeit bei Johannes insgesamt Scaglioni, Ideale. Vgl. insgesamt zur Jungfräulichkeitsliteratur bei Johannes Liebeschuetz, Ambrose /. Vgl. SC , / Musurillo; eine deutsche Übersetzung bringt Chrysostomus Mitterrutzner in: BKV , /. Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo).
III.3 De virginitate
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Die Jungfrauen der von Johannes adressierten αἱρετικοί sind aus diesen Gründen in einem doppelten Sinn gestraft: Sie erfahren keine irdischen Freuden und kommen zudem nicht in den Genuss einer himmlischen Entlohnung,¹⁸⁸ weil sie die Jungfräulichkeit in falscher Intention (προαίρεσις¹⁸⁹) ausüben. Somit kämpfen sie gegen Gottes Willen und sind daher noch mehr zu verachten als die Wolllust (ἀσελγεία), die lediglich Menschen verletzt.¹⁹⁰ Trotz ihres jungfräulichen Lebens sind diese Häretiker nicht nur an ihrer Seele – wegen ihrer unreinen Gesinnung –, sondern auch an ihrem Leib befleckt, weil ihre lästerlichen Gedanken in sprachlichen und körperlichen Gebärden ihren Ausdruck finden und so Gottes Schöpfung missachten.¹⁹¹ Johannes betont ihnen gegenüber mit Bezug auf den Hebräerbrief (Hebr 13,4) ausdrücklich die Ehrbarkeit von Ehe und (ehelichem) Geschlechtsverkehr,¹⁹² die für die Großkirche aus schöpfungstheologischer Sicht notwendigerweise positiv konnotiert sind bzw. sein müssen.¹⁹³ Zugleich belehrt er die Häretiker dahingehend, dass nicht jeder bloß dadurch eine gottgewollte Jungfrau ist, dass er auf die Ehe verzichtet;¹⁹⁴ wer aber die Ehe verbietet, der bringt sich selbst um die Frucht der Jungfräulichkeit.¹⁹⁵ Auch Johannes ist offenbar dem Verdacht ausgesetzt, er verbiete die Ehe¹⁹⁶ – diese Kritik wird ihm weniger von häretischer, als von großkirchlicher Seite entgegengeschlagen sein und weist auf Gegner des Jungfräulichkeitsideals in seinem Umfeld hin, die angesichts der breiten Auseinandersetzung keine unbedeutende Größe gewesen sein dürften. Johannes distanziert sich von diesen Vorwürfen, ordnet die Ehe aber zugleich der Jungfräulichkeit deutlich unter: Die Ehe ist nur insofern lobenswert, als sie ein „Hafen der Enthaltsamkeit“¹⁹⁷ (!) für diejenigen ist, die sonst von ihren Begierden überwältigt würden. Somit ist sie legitim, und Johannes fügt explizit hinzu, dass er diejenigen, die die Ehe verbieten, aus der Kirche auszuschließen beabsichtigt.¹⁹⁸ Er verdeutlicht mit einem argumentationslogischen Zugang, dass die Verdammung der Ehe zugleich auch eine Abwertung des
Vgl. zum Manichäismus und der mit ihm verbundenen Polemik weiter unten /. Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. ebd. Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo).
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
jungfräulichen Lebens ist; wer hingegen die Ehe lobt, verherrlicht so auch die Jungfräulichkeit, da sie im Vergleich mit einer als hochgeschätzt und erstrebenswert verstandenen Ehe umso bewundernswerter erscheint.¹⁹⁹ Der Unterschied zwischen Ehe und jungfräulicher Lebensform entspricht nach Johannes dem Unterschied zwischen Erde und Himmel, zwischen Menschen und Engeln:²⁰⁰ Die Jungfräulichkeit gewährt den sie Ergreifenden schon auf Erden Anteil an der Lebensform der Engel, die keine Ehe eingehen und deshalb Gott uneingeschränkt dienen können.²⁰¹ Nach dieser prominent am Anfang seiner Schrift platzierten Ketzerpolemik²⁰² wendet sich Johannes nun an die τέκνοι τῆς ἐκκλησίας²⁰³ in Antiochien. Er bezieht sich in seiner folgenden Argumentation auffällig häufig auf 1 Kor 7, was ganz offensichtlich in seiner starken Inspirationsvorstellung begründet liegt: „Denn es ist nötig, seine [sc. des Paulus] Ermahnung als Ermahnung des Herrn zu glauben.“²⁰⁴ Johannes wendet diesen hermeneutischen Ansatz explizit auch auf jene Stellen in 1 Kor 7 an, in denen Paulus selbst nicht die Autorität Jesu für sich in Anspruch nimmt.²⁰⁵ Zur Begründung weist er auf 1 Kor 7,40 hin, wo Paulus auf seinen Geistbesitz rekurriert, die seinen Aussagen zu Ehe und Jungfräulichkeit zumindest in der Interpretation des Johannes entsprechendes Gewicht verleihen.²⁰⁶ Johannes lobt die Korinther für ihr Interesse an der Jungfräulichkeit,²⁰⁷ das sie ohne einen vorhergehenden diesbezüglichen Rat des Paulus an den Tag legen; zugleich lobt er Paulus, der durch sein vorhergehendes Schweigen erst das Verlangen der Korinther geweckt hat.²⁰⁸ Verschiedene Einwände gegen das jungfräuliche Leben, die möglicherweise von Gegnern des Jungfräulichkeitsideals innerhalb der antiochenischen Gemeinde stammen, widerlegt Johannes im Folgenden (vgl. virg. 14– 24), wobei er besonders den Ursprung von Ehe und Jungfräulichkeit thematisiert. Im Paradies hat es demnach weder die Ehe gegeben,²⁰⁹ noch haben die ersten Menschen eine „Begierde nach Geschlechtsverkehr“²¹⁰ gekannt.²¹¹ Vielmehr ist der Ursprung der
Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. Brox, Häresie /. Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. etwa Kor ,f. Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo).
III.3 De virginitate
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Ehe in Ungehorsam, Fluch und Tod, d. h. im Sündenfall zu finden, weshalb konsequenterweise gilt: „Wo der Tod ist, dort ist die Ehe.“²¹² Dies bedeutet jedoch nicht, dass Ehe und Fortpflanzung im postlapsarischen Zustand für den Erhalt des Menschengeschlechts verantwortlich sind;²¹³ weiterhin hängt der Bestand der Menschheit allein von Gott und seinem Wort ab (hier bezieht sich Johannes auf die an Abraham ergangene Verheißung in Gen 1,28).²¹⁴ Die Ehe ist lediglich ein Zugeständnis,²¹⁵ dessen Unvollkommenheit mit Christus offenbar geworden ist, da durch diesen die οὐράνια φιλοσοφία²¹⁶ der Jungfräulichkeit Einzug gehalten hat. In der damit angebrochenen „Fülle der Zeiten“²¹⁷ richten sich die Anhänger des Virginitätsideals nach dem Himmel aus und lösen ihre Bindungen an alles Irdische,²¹⁸ wohingegen die Verheirateten „in tiefem Schlaf“²¹⁹ verharren und sich weiterhin weltlichen Dingen widmen. Folgerichtig parallelisiert Johannes Ehe und Geschlechtsverkehr mit dem Fieber, das einen Kranken ergriffen hat, und zu dessen Heilung ein behutsamer Umgang mit der analog zur Medizin verstandenen Jungfräulichkeit nötig ist.²²⁰ Bei der Behandlung der Leidenschaften des Körpers kommt es auf den καιρός²²¹ an, damit die Heilung von den Begierden erfolgreich verläuft,²²² was aus der Sicht des Johannes das Zueinander von Ehe und Jungfräulichkeit erklärt. Der jungfräuliche Stand ist als ursprüngliche Lebensform des Menschen zu sehen, welche der postlapsarisch entstandenen Ehe chronologisch und ontologisch vorgeordnet ist.²²³ Logischerweise trägt die jungfräuliche Lebensform in dieser Konzeption auch nicht zur Gefährdung des Fortbestandes des Menschengeschlechtes bei, lediglich die Sünde und die „Vermischungen, die fehl am Platz sind“²²⁴, haben Schuld an jener Gefahr.²²⁵ Von den ursprünglich zwei
Der asexuell verstandene Urzustand taucht als Topos immer wieder auf, vgl. Lutterbach, Theraphie. Virg. , (SC , Musurillo).Vgl. Müller, Forderung , dessen für das . Jh. getroffene Feststellung bei Johannes augenscheinlich noch immer Gültigkeit besitzt: „Geschlechtlichkeit und Todesherrschaft gehören zusammen ebenso wie Jungfräulichkeit und ewiges Leben, Unvergänglichkeit, Anteil am messianischen Reich.“ Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Ebd. Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. (SC , Musurillo).
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
Zwecksetzungen der Ehe, der Zeugung von Nachkommen einerseits und der Eindämmung der Wolllust andererseits, bleibt nach der starken Vermehrung der Menschheitsfamilie nur noch die letztgenannte übrig.²²⁶ Derjenige, der dies bestreitet oder gar den jungfräulichen Stand insgesamt verachtet, „gibt [dadurch; D.W.] gegenüber allen ein nicht geringes Zeugnis seiner Schändlichkeit ab“²²⁷, weil er sich als „Feind und Gegner der Tugend“²²⁸ offenbart. Johannes warnt mit Rückgriff auf den Propheten Jesaja (Jes 5,20) die Kritiker des Jungfräulichkeitsideals vor der großen Gefahr, die ihre Haltung für sie selbst bedeutet,²²⁹ und weist sie auf die Strafen hin, denen sie zu verfallen drohen;²³⁰ diese Strafen verdeutlicht er am Beispiel der Spötter des Propheten Elischa,²³¹ welche durch direkte göttliche Intervention den sofortigen Tod erlitten haben (2 Kön 2,23 – 25). Johannes adressiert nun die Kritiker der jungfräulichen Lebensform, indem er die ihnen drohenden Strafen eschatologisch ausdehnt²³² und damit verschärft. Für ihn ist vollkommen plausibel, warum dem gleichen Vergehen, nämlich der Beleidigung einer gottgewollten Lebensweise, unterschiedliche Konsequenzen – Strafe und scheinbares Entrinnen – folgen können:²³³ Einige werden bereits im Diesseits für ihre Vergehen bestraft, anderen drohen nach ihrem Tod in der zukünftigen Welt noch weitaus härtere Strafen;²³⁴ daher sollte eine diesseitige Verschonung eher Grund zur Beunruhigung für die Sünder sein.²³⁵ Johannes setzt seine Abhandlung mit einer Exegese des Ersten Korintherbriefs fort. Er betont, dass Paulus die Ehe weder verwirft noch sie über die Maßen erhöht, und lehnt somit beide Extrempositionen im Umgang mit der Institution der Ehe ab.²³⁶ Sie ist vielmehr eine Stütze für den Fallenden²³⁷ und allein deshalb als gut zu bezeichnen. Wer jedoch ohne Notwendigkeit auf sie zurückgreift, d. h. aufgrund seiner Eigenschaften und Anlagen auch jungfräulich leben könnte, fügt sich selbst
Die Formulierung ἄτοποι μίξεις (ebd.) könnte an eine dualistische Konzeption denken lassen. Im Duktus der johanneischen Argumentation finden sich für diese These jedoch keine weiteren Belege. Vgl. virg. , (SC , / Musurillo); auch hier beruft sich Johannes auf Kor , ..). Virg. (SC , Musurillo). Virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo).
III.3 De virginitate
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großen Schaden zu, weil er sich um den Lohn bringt, der den Jungfrauen vorbehalten ist.²³⁸ Dieser Lohn ist nur durch enorme Anstrengung²³⁹ und nicht ohne die Mitwirkung Gottes zu erreichen, der den Asketen im Kampf gegen die übersinnlichen Mächte (der Teufel selbst sowie seine Geister und Dämonen) beistehen muss, die den Menschen ins Verderben reißen wollen.²⁴⁰ Aufgrund dieser manifesten Bedrohungen, die der jungfräuliche Lebenswandel anzieht, hat Paulus ihn nach Ansicht des Johannes in 1 Kor 7 nur mit wenigen Worten erwähnt und versucht mit dem Hinweis der Ehe als Möglichkeit zur Überwindung der Unzucht für die Schwachen (vgl. 1 Kor 7,2), seine Zuhörer nicht zu überfordern.²⁴¹ Dieses Vorgehen schreibt ihm Johannes durchgängig zu, wenn er die Argumentation des Paulus mit einem Köder vergleicht, der seine Zuhörer durch die Rede zugunsten der Ehe doch eigentlich der Ehe entfremden will.²⁴² Entsprechend polemisiert Johannes, dass die paulinischen Worte in 1 Kor 7,4 doch angesichts der drohenden Unterwerfung des Ehemanns und seines Leibes unter den Willen der Ehefrau jeden seiner Hörer von der Ehe abschrecken müssten;²⁴³ sogar ein Sklave hat es mithin besser als ein Verheirateter, da er sich im Gegensatz zu diesem freikaufen kann.²⁴⁴ Auch die folgenden Worte des Paulus (1 Kor 7,5) argumentieren nur scheinbar für die Institution der Ehe, bei genauer Untersuchung jedoch lässt sich ihre „apostolische Würde“²⁴⁵, d. h. ganz offensichtlich ihr zunächst verstecktes Votum für die Jungfräulichkeit, erkennen. Ebenso wie Samuel wortreich über die Einsetzung eines Königs für Israel spricht, diese aber eigentlich verhindern möchte (vgl. 1 Sam 8), sind die vielen Ausführungen des Paulus über die „Tyrannei der Ehe“²⁴⁶ laut Johannes mit dem Ziel vorgebracht, vor ihr zu warnen.²⁴⁷ Dies liegt darin begründet, dass Paulus die Aufrichtigkeit der Bemühungen nicht durch Strenge oder Zwang untergraben möchte.²⁴⁸ Die Begründung für die von Paulus geforderte Enthaltsamkeit während des Gebetes liefert Johannes mit einer antijüdischen Polemik: Wenn selbst die dem strengen Ritualgesetz – und einer von Johannes postulierten gesetzlichen Forderung zum Beischlaf ²⁴⁹ – verpflichteten
Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo).
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
Juden sich für die Zeit des Gebetes enthalten, müssen die mit der Gnade Christi und dem Geist Gottes gesegneten Jünger Jesu dies umso ernsthafter praktizieren.²⁵⁰ Weil Fasten und Enthaltsamkeit „die Sorgen der Seele“²⁵¹ überwinden, sind sie Voraussetzung für das recht vollzogene Gebet,²⁵² das Gott nicht durch Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit beleidigt.²⁵³ Um die Notwendigkeit dieser Vorschrift zu betonen, wiederholt Johannes sie in seiner Verkündigung immer wieder, wie auch Christus selbst und Paulus sie ihren Hörern beständig gepredigt hätten.²⁵⁴ Denn während die Verheirateten jederzeit in ihren „Zufluchtsort“²⁵⁵ zurückkehren und ihre Enthaltsamkeit unterbrechen können, sind die jungfräulich Lebenden dauerhaft den „Nachstellungen des Teufels“²⁵⁶ sowie ihren eigenen Leidenschaften ausgesetzt, dem „Stachel der Begierde“²⁵⁷. Da die Jungfrau also unablässig mit dem Feuer kämpft²⁵⁸ und doch enthaltsam bleibt, ist ihre Lebensform der Institution der Ehe, die lediglich unter Spott und Vorwürfen erlaubt ist,²⁵⁹ weit überlegen.²⁶⁰ Der angeratenen Lebensform der Jungfrau steht also, so Johannes, die bloß geduldete Lebensform des Verheirateten gegenüber.²⁶¹ Paulus selbst gilt Johannes als ein Vorbild jungfräulichen Lebens, das durch seine eigene Lebensführung zum Ansporn für seine Schüler wird²⁶² und zugleich den „Charakter apostolischer Demut“²⁶³ bewahrt, indem es die von ihm mit großer Anstrengung praktizierte Lebensform der Jungfräulichkeit in aller Bescheidenheit eine „Gnadengabe Gottes (χάρισμα Θεοῦ)“²⁶⁴ nennt und somit nicht auf sein eigenes Zutun verweist.²⁶⁵ Es kommt jedoch auch auf die Handlungen und Tugenden der Gläubigen an, nicht allein auf Gottes Wirken, wie der paulinische Tadel den Verheirateten gegenüber zeigt.²⁶⁶
Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo).
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Seiner Konzeption der Unterordnung der Ehe unter der Jungfräulichkeit folgend, beschreibt Johannes auch die Zweitehe nach dem Tod eines Ehepartners als der Witwer- und Witwenschaft unterlegen.²⁶⁷ Für das enthaltsame Leben der Verwitweten sind Schätze im Himmel als Belohnung hinterlegt; sie unterscheiden sich lediglich dadurch von den Jungfrauen, dass jene nie von der Wollust überwunden worden sind, während die Verwitweten erst „nach ihrer Bezwingung gesiegt haben.“²⁶⁸ Mit ausgeprägter Wettkampfrhetorik erläutert Johannes, wieso Paulus den Jungfrauen im Gegensatz zu den Verheirateten keinerlei Erleichterung gestattet: Wenn der Kampf einmal begonnen hat, gibt es nur noch die Wahl zwischen der Krönung des Siegers, die der „Wettkampfrichter Christus“²⁶⁹ vornimmt, und der Schmach des Verlierers.²⁷⁰ Wer, ob Witwe oder Jungfrau, der (Zweit‐)Ehe bereits entsagt und somit den „Kampfplatz der Enthaltsamkeit“²⁷¹ betreten hat, soll auch weiterhin frei für den Herrn bleiben.²⁷² Wer sich jedoch noch nicht für eine der beiden Lebensform entschieden hat, dem steht die Heirat als legitime Wahlmöglichkeit offen, die jedoch nicht um ihrer selbst willen geschätzt wird, sondern um der durch sie geleisteten Vermeidung der Unzucht willen.²⁷³ Bereits die typischen Charaktereigenschaften der Frauen und vor allem die der Männer sollten vor der „Knechtschaft“²⁷⁴ des Ehelebens zurückschrecken lassen, um nicht auf Lebenszeit die Tyrannei des Ehepartners ertragen zu müssen oder gar Ehebruch zu begehen.²⁷⁵ Mit scharfer antijüdischer Polemik versucht Johannes zu plausibilisieren, dass die im Judentum erlaubte Entlassung aus der Ehe mit dem mangelnden Sanftmut der Juden zu erklären ist, dem durch die Möglichkeit der Ehescheidung Rechnung getragen wird.²⁷⁶ Bei den Christen hingegen ist dem Einzelnen zwar die Entscheidung für oder gegen die Ehe anheim gestellt, innerhalb der Ehe sind die Partner dann jedoch bedingungslos den Regeln unterworfen, auf die sie sich wissentlich eingelassen haben.²⁷⁷ Der jung-
Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. zu den semantischen Parallelen zwischen der Vorbereitung und der Durchführung eines griechischen Sportfestes einerseits und den asketischen Leistungen christlicher Jungfrauen bzw. dem Weg eines christlichen Märtyrers in den Tod andererseits Merkelbach, Wortschatz /. Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo).
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
fräulich Lebende hingegen ist keinem Zwang unterworfen, ihn erwartet nach den zahlreichen Entbehrungen seines Lebens vielmehr eine reiche Belohnung.²⁷⁸ Auch Paulus weise ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei der Ermahnung zur Jungfräulichkeit um einen Rat handle, der wegen der bevorstehenden Not (vgl. 1 Kor 7,26) seine Berechtigung habe;²⁷⁹ diese Not ist jedoch nicht eschatologisch zu verstehen, so Johannes, sondern Paulus meint damit die allenthalben drohende „Verführung der Dinge des Lebens“²⁸⁰. Unter diesen Dingen, die eine große Schwierigkeit auf dem Weg zum Himmel darstellen, ist es besonders die Ehefrau, die ihren Mann „nach unten zieht“.²⁸¹ Da aber die mit einer Ehe verbundenen Belastungen bekannt sind, gibt es für diese freiwillig eingegangene Beschwernis auch keine Belohnung zu erwarten;²⁸² bei der existentiellen Umsetzung eines von Tugend bestimmten Lebens ist die Ehefrau ein bloßes Hindernis²⁸³ und stellt aufgrund des Sündenfalls nicht die Gehilfin dar, als die sie ursprünglich geschaffen wurde.²⁸⁴ Ihrer ursprünglichen Aufgabe wird sie dann gerecht, wenn sie jegliches Merkmal einer Ehefrau ablegt, „zur Tugend seliger Männer hinschreitet“²⁸⁵ und sich einem „evangelischen Leben“²⁸⁶ zuwendet. So kann sie die Seele ihres Mannes retten.²⁸⁷ Denn trotz der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten nennt Paulus die Ehe ein Band, das unauflöslich ist und dessen Zertrennung härteste Strafen mit sich bringt.²⁸⁸ So darf auch eine Frau sich nicht gegen den Willen ihres Mannes dem ehelichen Beischlaf enthalten, weil sie ihn damit der Unzucht überlässt.²⁸⁹ Die „große Wohltat der Ehe“²⁹⁰ bewahrt also lediglich vor der Sünde, führt jedoch nicht zu einer Belohnung, so wie es die Jungfräulichkeit tut;²⁹¹ dieser folgen – allerdings rein irdische – Belohnungen:²⁹² Paulus treibe deshalb mit sichtbaren Dingen zur jungfräulichen Lebensform an, weil die fleischlichen und sinnlichen Menschen damit leichter zu beeinflussen
Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Virg. (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo).
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seien.²⁹³ Zudem wird mit den in Aussicht gestellten Belohnungen deutlich, dass mit der Jungfräulichkeit weniger Beschwernisse verbunden sind als mit der Ehe, die nur scheinbar einen Genuss darstellt.²⁹⁴ Tatsächlich wird aber bereits durch die Propheten jegliche Ausschweifung – und somit auch jene in der Ehe – angeklagt,²⁹⁵ darüber hinaus lassen auch weitere Dinge die Lust an der Ehe vergehen.²⁹⁶ Besonders die Eifersucht, so versucht Johannes an zahlreichen Beispielen zu belegen,²⁹⁷ erschwert das Leben als Verheirateter. Selbst wenn dies nicht in jeder Ehe der Fall ist, so bleibt doch die Furcht davor bestehen, die bei der Jungfräulichkeit per se ausgeräumt ist.²⁹⁸ Außerdem ist die Ehe mit einem wohlhabenden Partner besonders beschwerlich. Eine vermögende Frau ist nämlich häufig herrschsüchtig,²⁹⁹ kann aber auch durch übermäßige Unterwürfigkeit die Ehe gefährden,³⁰⁰ während ein reicher Mann seine Ehefrau oft wie seine Sklavin behandelt.³⁰¹ Nachdem sich also selbst diese vordergründig positiven Aspekte der Ehe als Nachteile herausgestellt haben, spricht Johannes nun ihre ausschließlich negativen Seiten an,³⁰² die bereits vor der Eheschließung mit der Suche nach einem Ehepartner³⁰³ bzw. auf der Seite der Eltern mit der Sorge um eine ausreichende Mitgift beginnen.³⁰⁴ In der Ehe selbst gibt es nichts, das nicht von Furcht geprägt wäre:³⁰⁵ Die Angst vor dem Tod von Angehörigen, deren Kreis sich mit der Heirat und der Zeugung von Nachkommen vervielfacht;³⁰⁶ die Angst vor einer Fehlgeburt;³⁰⁷ die Sorgen um die Erziehung der Kinder.³⁰⁸ Selbst beim theoretischen Konstrukt einer rundum sorglosen Ehe – laut Johannes in der Realität ein Ding der Unmöglichkeit³⁰⁹ – stehen die Ehepartner im Bezug auf die Ewigkeit noch immer mit leeren Händen da, was sie grundlegend von den jungfräulich Lebenden un
Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg. ,/ (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo).
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terscheidet.³¹⁰ Diese müssen sich nicht um einen Bräutigam sorgen,³¹¹ sich nicht vor Eifersucht grämen³¹² und sich nicht um Geld³¹³ und Schmuck des Leibes³¹⁴ bemühen. Sie tragen mit ihrer Lebensform der Jungfräulichkeit stattdessen den Schmuck ihrer „philosophischen Seele“³¹⁵ umher, die den Leib vollkommen kontrolliert und ihrem Verhalten anzugleichen sucht, was besonders den Verzicht auf jede Art von Fröhlichkeitsäußerung und die ständige Bereitschaft beinhaltet, Tränen zu vergießen.³¹⁶ Denn Tränen um Christi willen, wie sie die Jungfrauen vergießen, bereiten in Wirklichkeit Freude und sind deshalb den Beschwernissen der Ehe, besonders den Geburtsschmerzen, in jedem Fall vorzuziehen.³¹⁷ Auch übermäßiger Luxus, wie ihn Johannes in den folgenden Kapitel (vgl. virg. 66 – 72) kritisiert, ist einer gottgefälligen Lebensführung abträglich. So resultiert die Nutzung von Mauleseln zum Transport aus einer Schwächlichkeit und Faulheit, die die Abhängigkeit von Transporttieren zur Folge hat und die Reichen letztlich an ihr Haus fesselt.³¹⁸ Dort sind sie dann mit der Sorge um ihr Hauspersonal belastet, das im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht zur Entlastung beiträgt, sondern vielmehr aus den verschiedensten Gründen (Krankheit, Tod, Streitigkeiten) für Arbeit sorgt.³¹⁹ Die in Einsamkeit lebende Jungfrau hingegen muss sich mit derlei Kummer nicht beschäftigen und kann sich deshalb ganz auf Gott konzentrieren.³²⁰ Auch von den zahlreichen Unnanehmlichkeiten großer Mähler (Magenbeschwerden, Schwindel, Sorgen des Gastgebers um seine Gäste u. a.³²¹) bleiben die Jungfrauen verschont, da ihr nüchterner und genügsamer Lebenswandel sie gesund erhält und sowohl ihren Körper³²² als auch ihre Seele vor den Auswirkungen der Maßlosigkeit bewahrt.³²³ Zudem sind Schicksalsschläge für asketisch Lebende leichter zu verarbeiten, da sie nicht an Reichund Besitztümer gebunden sind.³²⁴
Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. Bardy, Philosophie; Leipoldt, Philosophie. Vgl. virg. f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , Musurillo).
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Zum Abschluss seiner Abhandlung (vgl. virg. 73 – 84) legt Johannes eine Art geschichtstheologische Konzeption mit eschatologischem Fokus dar. Die Jungfräulichkeit bereitet ihre Anhänger vor allem durch die von Christus gepredigten Ideale Armut und Enthaltsamkeit³²⁵ schon in der Gegenwart auf die kommende Welt vor, in der sie über ihre Handlungen Rechenschaft ablegen werden müssen.³²⁶ Diese Sorge um Christi willen ist nicht mit den Sorgen der Welt zu vergleichen, sondern weitaus leichter erträglich.³²⁷ Die Jungfrau, die sich durch ihren Lebenswandel dem Gekreuzigten angleicht, muss nur für ein einziges Gewand und ihre eigene Nahrung Sorge tragen.³²⁸ Dies ist allerdings auch den Eheleuten möglich, denn die von Paulus in 1 Kor 7,5 an die Ehepartner gerichtete Aufforderung, sich einander nicht zu entziehen, gilt nur für den Geschlechtsverkehr; in allen anderen Lebensbereichen ist besonders der Ehemann dafür verantwortlich, derlei überflüssige Sorgen von sich selbst und seiner Ehefrau fernzuhalten.³²⁹ Die Ehe ist dennoch erlaubt, der Vorteil des jungfräulichen Lebens aber evident: All dies bleibt den Jungfrauen erspart,welche sich ausschließlich um die Heiligung ihrer Seele und ihres Leibes kümmern können.³³⁰ Niemand darf zur Ergreifung eines jungfräulichen Lebens gezwungen werden, vielmehr sind gerade die offensichtlichen Vorzüge dieser Lebensform ein Anreiz, sich ihr freiwillig zu verschreiben.³³¹ Eine Jungfrau zeichnet sich also nicht bloß dadurch aus, dass sie unverheiratet lebt; auch die „Reinheit der Seele“³³² ist entscheidend, welche wesentlich die Ablegung irdischer Sorgen und die Hinwendung zu den göttlichen Dingen beinhaltet, die durch die Ehe verhindert wird.³³³ Die Ehe bleibt aber dennoch legitim, so stellt Johannes in einer Art Zwiegespräch mit Paulus fest, da nicht jeder Christ stark genug für die Lebensform der Jungfräulichkeit ist: Deshalb wird der Verheiratete von Paulus nicht getadelt, die Jungfrau jedoch gelobt³³⁴ und jeder, der sie von ihrer Entscheidung für diese Lebensform abbringen möchte, ist als Feind zu behandeln.³³⁵ Denn die Jungfrauen sind, ebenso wie Elija, Elischa und Johannes der Täufer, in ihrer Lebensführung den Engeln gleich geworden, un-
Johannes nimmt hier Bezug auf die Nachfolgelogien Lk ,f. Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,/ (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,/ (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Johannes nimmt explizit auf das Nachfolgelogion Mt , Bezug.
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
terscheiden sich nur noch durch ihre Sterblichkeit von diesen und vermögen aus diesem Grund, alles zu tun.³³⁶ Ihre Verachtung aller überflüssigen und selbst der notwendigen Dinge zeigt „den Anstand und die Wachsamkeit“³³⁷ des jungfräulichen Standes, dessen Wurzel und Frucht ein „gekreuzigtes Leben“³³⁸ ist.³³⁹ Dies beginnt bereits mit der Armut, da die Verachtung des Reichtums schließlich zur Verachtung des Todes führt.³⁴⁰ Einigen der Jungfräulichkeit kritisch eingestellten Zeitgenossen gegenüber gibt Johannes zu bedenken, dass ein jungfräuliches Leben nicht an sich zu loben und Eheleute nicht an sich zu verurteilen sind. Er illustriert dies am Beispiel Abrahams sowie der aus dem Hochzeitssaal ausgeschlossenen Jungfrauen (Mt 25,10 – 13): Diese sind, obgleich jungfräulich, wieder in die Beschwernisse dieser Welt zurückgefallen und werden deshalb zurückgewiesen; jener hingegen hat während seiner Ehe versucht, sich den Tugenden der Jungfräulichkeit anzunähern.³⁴¹ Da aber durch Christus ein neuer Maßstab der Vollkommenheit gegeben wurde, gelten die Forderungen aus der Zeit der Patriarchen nun nicht mehr, so dass die Christen strengeren Ansprüchen gerecht werden müssen.³⁴² Dies liegt in der Ausgießung des Heiligen Geistes begründet, die die Christen, vergleichbar mit dem Kindesalter entwachsenen Männern, zu größerer Tugend befähigt.³⁴³ Diese Geistbegabung gilt es fruchtbar zu machen, indem die Jungfräulichkeit und ihre Tugenden eingeübt werden, um aus dem von Johannes in Anlehnung an Mt 25,46 geschilderten forensischen Szenario nicht traurig hervorzugehen, sondern das Leben zu erlangen.³⁴⁴
III.4 Fazit Johannes beschäftigt sich in seinem Traktat über die Jungfräulichkeit mit zwei Adressatenkreisen: Zu Beginn wird in den Kapiteln virg. 1– 11 einem nicht völlig exakt zu bestimmenden Kreis von Häretikern gegenüber³⁴⁵ die prinzipielle Legi-
Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo) mit direktem Bezug auf Kor ,. Virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. ,f. (SC , / Musurillo). Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Ob die Nennung von Marcion, Valentinus und Mani in virg. (SC , / Musurillo) auf einen aus deren Anhängerschaft bestehenden Adressatenkreis schließen lässt, der womöglich gar
III.4 Fazit
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timität der Ehe betont; Johannes formuliert explizit, dass er ein Verbot der Ehe mit dem Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft ahndet.³⁴⁶ In den übrigen Kapiteln virg. 12– 84 erfährt die Ehe im binnenkirchlichen Kontext äußerst scharfe Kritik und wird unter Verwendung verschiedenster Metaphern (Krankheit, Hafen u. a.) als lediglich geduldet und der Lebensform der Jungfräulichkeit untergeordnet eingestuft.³⁴⁷ Der relativ große Umfang der Schrift lässt zweifelsohne Rückschlüsse auf den existentiellen Bezug des Autors zu diesem Thema zu;³⁴⁸ ebenso ist es, nicht zuletzt angesichts von fünf Abhandlungen dieser Art, wahrscheinlich, dass die inhaltliche Relevanz der Fragestellungen im kirchlichen Kontext entsprechend hoch und zugleich umstritten war. Johannes argumentiert so ausführlich, eindringlich und werbend³⁴⁹ für das Jungfräulichkeitsideal und seine Vorteile, weil diese in der Lebenswirklichkeit seiner Gemeinde offenbar keine oder nur geringe Aufnahme fanden. Er ist dabei zwischen den Fronten der verheirateten Widerständler gegen das Jungfräulichkeitsideal und den exklusiv-asketischen Bekämpfern der Ehe positioniert, wie seine Argumente in beide Richtungen belegen. Die prominent platzierte Ketzerpolemik ad extra zu Beginn der Abhandlung kann programmatisch als Klärung eines fraglichen Sachverhaltes verstanden werden. Die Hervorhebung der Ehe als von Gott geschaffener und daher erlaubter Lebensform ist von massiven Anfragen hervorgerufen und deutet auf ihren enormen Rechtfertigungsbedarf hin. Dass es im monastisch-asketischen Umfeld des Johannes solcherlei Strömungen gab, ist gut vorstellbar. Der Passus virg. 1– 11 lässt sich mithin als direkte Reaktion auf diese Position und die entsprechende Propaganda radikaler Asketen verstehen, die er in ebenso kompromissloser Art verurteilt. In jedem Fall wird der hohe Erklärungsbedarf der Institution der Ehe deutlich, mit deren Legitimierung und Plausibilisierung Johannes seine Abhandlung einleitet. Nach diesem grundsätzlich positiven Urteil über die Ehe wird sie im Folgenden als eine der Jungfräulichkeit unterlegene Lebensform charakterisiert: 1 Kor im direkten Umfeld des Johannes verortet ist, oder lediglich topisch-polemischen Charakter hat – der freilich nachgewiesen werden müsste –, muss offen bleiben. Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Zwar äußert Johannes in späterer Zeit als Presbyter und Bischof eine positivere Sichtweise auf die Ehe (vgl. Brändle, Bischof f.; Ders., Johannes Chrysostomus f.), dies weist seine wohl als Diakon geäußerte frühe Kritik jedoch in Bezug auf ihren Inhalt und ihre Form als umso untersuchenswerter aus. Vgl. Brändle, Bischof /; Ders., Johannes Chrysostomus /. Dumortier, Mariage kommentiert: „Son analyse ne manque ni de pénétration, ni de charme.“
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III. Das Jungfräulichkeitsideal im griechischen Osten – Johannes Chrysostomus
7 wird vollständig, d. h. samt der zunächst scheinbar für die Ehe argumentierenden Stellen, auf das Jungfräulichkeitsideal hin interpretiert, das als mit apostolischer Würde ausgestattet³⁵⁰ bezeichnet wird. Die Ehe hat demgegenüber im Sündenfall ihren Ursprung³⁵¹ und erfährt damit eine merkliche Degradierung – sie ist nicht bloß überflüssig, sondern sogar schädlich. Der Verzicht auf die Ehe (aber auch auf alles andere Irdische) wird bei Johannes zum Kriterium, das in das Christentum eine Differenzierung zwischen den „Liebhabern des Lichtes“³⁵² und denen, „die im Schlaf verbleiben“³⁵³ einzieht.³⁵⁴ Diese qualitative Unterscheidung zwischen Ehe und Jungfräulichkeit kreiert eine Unterteilung, deren upper class die Vertreter der kirchlich anerkannten Jungfräulichkeit bilden. Sie sehen die Ehe zwar prinzipiell als legitim an, ordnen sie aber der Enthaltsamkeit unter, der sie sich existentiell verschrieben haben. Die breite Aufzählung der Nachteile der familiären und ehelichen Integration in die Gesellschaft³⁵⁵ ist dabei zugleich als Werbung für die enthaltsame bzw. jungfräuliche Lebensform zu verstehen, die ein Leben unter kirchlichen Vorgaben und mit völliger Desintegration in die Gesellschaft mit sich bringt. Auffällig ist zudem die ausgesprochen misogyne Paulusinterpretation des Johannes, aus dessen Sicht die Ehefrau dem Mann nur dann die in der Schöpfungsordnung vorgesehene Hilfe sein kann, wenn sie jungfräulich lebt.³⁵⁶
Vgl. virg. , (SC , Musurillo). Vgl. virg. , (SC , / Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Virg. , (SC , Musurillo). Liebeschuetz, Ambrose ist der Ansicht, dass Johannes nicht nur Jungfrauen oder ohnehin bereits asketisch Interessierte anspricht: „Chrysostom wanted to reform everybody.“ Vgl. virg. / (SC , / Musurillo). Vgl. zur Paulusinterpretation des Johannes Chrysostomus insgesamt Heiser, Paulusinszenierung. Zwar wird die Auseinandersetzung des Johannes mit Kor dort nur knapp thematisiert, ebd. findet sich aber der Hinweis auf die johanneische Hochschätzung der Akese.
IV. Zusammenfassung Die Jungfräulichkeitsschriften der beiden ausgewählten Autoren bieten ein exemplarisches Bild des großkirchlichen Jungfräulichkeitsideals im 4. Jh., das als Folie für die im zweiten Hauptteil folgende Betrachtung des Phänomens der Radikalaskese dienen soll. Ambrosius und Johannes können pars pro toto für den Versuch der Propagierung des Jungfräulichkeitsideals in der christlichen Spätantike des 4. Jhs. stehen. Während Johannes aus der gehobenen Mittelschicht Antiochiens stammte, gehörte Ambrosius der Mailänder Aristokratie an. Unterschiedlich sind auch die Zugänge beider zum asketischen Leben: Johannes wird ganz offensichtlich durch die gesamtgesellschaftliche (und -kirchliche) Prägung des Ostens sowie die im direkten Umfeld Antiochiens präsenten Mönche angezogen, Ambrosius hat einen primär biographisch-familiären Zugang zum Ideal, dem sich (nach dem Tod ihres Mannes) seine Mutter, seine ältere Schwester (sogar in der institutionalisierten Form des Jungfrauenstandes) und auch sein früh verstorbener älterer Bruder verschreiben.³⁵⁷ Ob er ohne seine Familie einen derartig intensiven Zugang zum Jungfräulichkeitsideal bekommen hätte, bleibt zumindest fraglich.³⁵⁸ Bei aller Vorsicht ist wohl insgesamt eine regionale Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung anzunehmen. Zwar ist die institutionalisierte Ausprägung des Ideals im Jungfrauenstand in den ersten drei Jahrhunderten vor allem im Westen nachweisbar.³⁵⁹ Die zeitliche und quantitative Priorität des östlichen Mönchtums, das dem Westen als Vorbild dient, weist aber auf den Zulauf hin, der dem Ideal hier widerfährt.³⁶⁰ Der hauptsächlich in Alexandrien und Palästina lebende Origenes entwickelt zudem als erster uns bekannter christlicher Theologe eine systematische Theologie des Jungfräulichkeitsideals,³⁶¹ bis die Jungfräulichkeit schließlich zunächst im Osten eine immer größere Bedeutung entwickelt.³⁶² Zudem lässt sich eine Unterscheidung nach sozialen Kriterien ausmachen. Die gebildete Oberschicht scheint, auch wegen der zeitgenössisch verbreiteten pagan-philosophischen Vorprägung, für das als philosophisch verstandene Jungfräulichkeitsideal offener zu sein.³⁶³ Zwar gilt der Versuch der Implementierung des Jungfräulichkeitsideals
Vgl. Dassmann, Ambrosius von Mailand und exc. Sat. , (OOSA , Banterle). Vgl. Dassmann, Ambrosius von Mailand . Ähnlich auch Liebeschuetz, Ambrose /. Vgl. dazu mit Belegen Schöllgen, Jungfräulichkeit /. f. Vgl. Otten, Augustine /. Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit /. Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit . Vgl. zur Bezeichnung der Jungfräulichkeit als Philosophie Bardy, Philosophie passim.
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IV. Zusammenfassung
innerhalb des Christentums allen Kreisen gleichermaßen, doch scheint die Anziehungskraft gerade in aristokratischen Kreisen besonders hoch zu sein.³⁶⁴ Johannes und Ambrosius widmen mit jeweils fünf Schriften dem Themenfeld der Jungfräulichkeit bzw. der Enthaltsamkeit breiten Raum in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit; dazu kommen zahlreiche diesbezügliche Anklänge in Predigten und anderen Abhandlungen, besonders in den Kommentaren zu den einschlägigen Schriftstellen.³⁶⁵ Intensive Beachtung schenken sie vor allem dem 7. Kapitel des 1. Korintherbriefes, das ihnen in zahlreichen Fällen als Belegstelle dient und angesichts seiner enormen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bei der theologischen Begründung der Jungfräulichkeit als so etwas wie das Hohelied der Enthaltsamkeit gelten darf. Zwischen den beiden beschriebenen Schriften lassen sich deutliche Gemeinsamkeiten feststellen, die für die Untersuchung der Radikalisierung des Jungfräulichkeitsideals von entscheidender Bedeutung sind: Die Institution der Ehe ist großkirchlicherseits grundsätzlich als legitime christliche Lebensform anerkannt. Sie wird dabei der Jungfräulichkeit zwar untergeordnet, ihre Zulässigkeit wird aber nicht bestritten, sondern vielmehr explizit betont. Die nachdrückliche und wiederholte Betonung ihrer Legitimität gegenüber bestimmten Kreisen weist allerdings darauf hin, dass sie trotz ihrer prinzipiellen Rechtmäßigkeit erklärungsbedürftig ist. Die bei Johannes und Ambrosius zu findenden äußerst harschen, zum Teil verachtenden Formulierungen in Bezug auf die Ehe machen zudem deutlich, dass nicht jede Kritik an ihr und ihren Eigenschaften ipso facto diejenigen, die sie vorbringen, aus der Gemeinschaft der Kirche ausschließt. Als Bischof und Diakon vertreten die beiden Autoren zur jeweiligen Abfassungszeit ihrer Jungfräulichkeitsschriften ein zwar sehr ausgeprägtes Virginitätsideal, das aber zweifelsohne innerhalb des großkirchlichen Rahmens bleibt. Hierbei scheint die ostentative Betonung der Legitimität der Ehe das entscheidende Kriterium darzustellen: Betrachtet man die herbe Kritik an und die teilweise vollständige Ablehnung der Institution der Ehe in den beiden Abhandlungen isoliert, so könnten diese ebenso aus dem Werk eines von Johannes kritisierten Häretikers stammen. Eine die Ehe grundsätzlich anerkennende
Vgl. neben Ambrosius auch Basilius, dessen Familie zu den wohlhabendsten im gesamten Römischen Reich zählte. Vgl. auch Cameron, Ascetic Closure, die ebd. asketisches Gedankengut als „not simply the domain of the few, but rather the experience of society at large“ bezeichnet. Dies sind besonders die Nachfolgelogien Jesu in den Evangelien (vgl. Mt ,; Mk ,; Lk ,), seine Worte zur Enthaltsamkeit (etwa Mt , – ) sowie das . Kapitel des . Korintherbriefes.
IV. Zusammenfassung
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Grundeinstellung ist die Voraussetzung für die großkirchliche Akzeptanz der jeweiligen Position auch und gerade dann, wenn die Ehe durch diese noch so heftig abgewertet und kritisiert wird.³⁶⁶ Dass nicht allein Ambrosius und Johannes Belege für dieses Kriterium liefern, sondern sich diese in zahlreichen zeitgenössischen Jungfräulichkeitsschriften des gesamten 4. und frühen 5. Jhs. finden lassen,³⁶⁷ zeigt nachdrücklich die Bedeutung dieser prinzipiellen Akzeptanz der Ehe, die eines der unterscheidenden Merkmale zwischen der Bischofskirche und den exklusiven Asketen darstellt. So betont die Jungfrau Theophila im Symposium des Methodius von Olympus³⁶⁸ (zu Beginn des 4. Jhs.³⁶⁹) gegenüber ihrer Gesprächspartnerin, dass Christus zwar durch seine eigene Lebensform die Jungfräulichkeit als „Besseres und Süßeres“³⁷⁰ neben die Ehe gestellt, letztere aber nicht aufgehoben hat: Jedem ist das ihm Eigentümliche und Nützliche zugewiesen, und die Ehe schützt eben die Schwachen vor der Befleckung durch die Unzucht;³⁷¹ jeder, der zu Selbstkontrolle und Enthaltsamkeit nicht in der Lage ist, tut deshalb gut daran, sich in die legitime Lebensform der Ehe zu begeben.³⁷² Es ist nach Methodius mithin ungehörig, ein Verbot der in der Ehe vollzogenen Erzeugung von Kindern aufstellen zu wollen.³⁷³ Zwar kann auch Verheirateten das Heil prinzipiell zuteil werden, so die Jungfrau Prozilla, aber der Herr möchte nicht allen die gleiche Ehre zuteil werden lassen und bevorzugt im Himmelreich die Jungfrauen, welche die vornehmsten unter den Töchtern der Kirche sind. Während die Jungfrauen zu Bräuten des Herrn werden, ist für alle anderen und somit auch für die Verheirateten nur die Rolle einer „Nebenfrau“ oder „Magd“ oder „Tochter“ übrig.³⁷⁴ Verheiratete schmücken ihren
Zur Schwierigkeit der Gratwanderung zwischen der Hochschätzung der Jungfräulichkeit und der Anerkennung der Ehe vgl. Dassmann / Schöllgen, Haus : „Selbst wo häretische Verurteilungen vermieden wurden, bedurfte es eines besonderen Zartgefühls u. genauer sprachlicher Differenzierung, sollte der Lobpreis der Jungfräulichkeit nicht auf Kosten einer positiven Einschätzung von Ehe u. Kinderfreudigkeit gehen.“ Vgl. auch Liebeschuetz, Ambrose f., der konstatiert, dass sich „concepts and arguments“ aus beiden Schriften ebenso bei zahlreichen anderen zeitgenössischen Autoren finden ließen. Vgl. überblicksartig Schöllgen, Jungfräulichkeit / und Harper, Shame /. Vgl. zur Datierung Schöllgen, Jungfräulichkeit . Meth. Olymp. symp. , (SC , Musurillo). Vgl. Meth. Olymp. symp. , (SC , / Musurillo). Vgl. Meth. Olymp. symp. , (SC , Musurillo). Vgl. Meth. Olymp. symp. , (SC , / Musurillo). Ein Hinweis auf die konkrete Äußerung dieser Forderung im Entstehungsumfeld der Schrift findet sich nicht, wäre aber denkbar. Meth. Olymp. symp. , (SC , Musurillo).
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IV. Zusammenfassung
Körper nicht mit der Reinheit, da sie ständig den Versuchungen der Leidenschaften mit ihrer rechtmäßigen Gattin ausgeliefert sind. Trotz der Rechtmäßigkeit dieser Verbindung können sie so das Fest am jüngsten Tag schwerlich mitfeiern.³⁷⁵ Gregor von Nyssa charakterisiert in seiner Abhandlung De virginitate (vor 378³⁷⁶) die Ehe als „Anfang und Wurzel des Strebens nach sinnlosen Gütern“³⁷⁷. Wer die Ehe vermeidet, schützt sich damit vor allem „Übel der Menschen“³⁷⁸, das sich in ihr finden lässt.³⁷⁹ Infolge der Ehe treffen den Menschen Leid und Unglück, sie bringt „bejammernswerte Schauspiele“³⁸⁰ hervor. Gregor vergleicht sie mit einem Schwert, das zwar leicht anzufassen, aber seinem Wesen nach ein „Werkzeug des Todes“³⁸¹ ist. Die weltliche Ehe macht verächtlich und ist mit der geistlichen Ehe der Jungfräulichkeit unvereinbar:³⁸² Wer sich letzterer widmen will, muss sich von der Beschäftigung mit der anderen trennen.³⁸³ Gleichzeitig weist er aber in einem eigenen Kapitel darauf hin, dass er die Ordnung der Ehe nicht verwirft, da auch sie den „Segen Gottes“³⁸⁴ erhält. Wer die Ehe als verabscheuenswert definiert, verwundet sich damit selbst, da er doch aus einer Ehe stamme.³⁸⁵ Vorherrschen muss, so Gregor, aber auch bei den Eheleuten die Sorge um die göttlichen Dinge.³⁸⁶ In seinem wohl 383³⁸⁷ verfassten Traktat De Mariae perpetua virginitate legt auch Hieronymus eine Bestimmung des Verhältnisses von Ehe und Jungfräulichkeit vor.³⁸⁸ In der Frage nach der Jungfräulichkeit Mariens betont er eigens, die Ehe nicht zu verachten, da sie jungfräulich Lebende aus sich hervorbringt.³⁸⁹ Heilige Frauen können sich in der Ehe jedoch nur dann finden, wenn sie aufgehört haben, Gattinnen zu sein, und sich der Keuschheit zuwenden.³⁹⁰ Bei einem Vergleich
Vgl. Meth. Olymp. symp. , (SC , / Musurillo). Vgl. zur Datierung Dünzl, Gregor . Vgl. zu virg. außerdem knapp Solignac, Virginité . Virg. , (SC , Aubineau); Übers. nach BGrL , Blum. Virg. , (SC , Aubineau); Übers. nach BGrL , Blum. Vgl. virg. , (SC , / Aubineau). Virg. , (SC , Aubineau); Übers. nach BGrL , Blum. Virg. , (SC , Aubineau); Übers. nach BGrL , Blum. Vgl. virg. , (SC , / Aubineau). Vgl. virg. ,f. (SC , / Aubineau). Vgl. virg. , (SC , Aubineau). Vgl. virg. , (SC , Aubineau). Vgl. virg. , (SC , Aubineau). Vgl. Fürst, Hieronymus . Vgl. zum Hintergrund Hunter, Marriage sowie Ders., Resistance. Vgl. virg. Mar. (PL , ). Vgl. virg. Mar. (PL , ).
IV. Zusammenfassung
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zwischen der Ehe und dem Stand der Jungfrauen weist Hieronymus explizit darauf hin, dass er keinesfalls die Jungfräulichkeit auf das Niveau der Ehe herabsetzen will.³⁹¹ Ein unvorsichtiger Vergleich beider Lebensformen ist aus seiner Sicht lachhaft³⁹² und widerspricht dem „Lichtglanz des Evangeliums“³⁹³. Ein äußerst knapp formulierter Ausdruck der Anerkennung der Institution der Ehe steht demnach hier der vollständig auf Enthaltsamkeit hin interpretierten evangelischen Überlieferung entgegen. Ein letzter Hinweis auf die Anerkennung der Ehe bei ihrer gleichzeitigen Erklärungsbedürftigkeit mag bereits der bloßen Tatsache zu entnehmen sein, dass Augustinus in größter zeitlicher Nähe zu seiner Jungfräulichkeitsschrift De sancta virginitate auch einen Traktat verfasst hat, der eigens der Frage nachgeht, ob die Ehe ein Gut darstellt (De bono coniugali).³⁹⁴ Die Antwort auf diese Frage muss nach Augustinus durch eine Untersuchung herausgefunden werden,³⁹⁵ ist also nicht evident. Grundsätzlich ist die Ehe demnach ein Gut, weil Christus sie durch seine Teilnahme an der Hochzeit zu Kana sowie durch das Verbot der Ehescheidung als solches bestätigt hat.³⁹⁶ Die Institution der Ehe verhindert sexuelle Ausschweifungen und ist deshalb zur Eindämmung der Wolllust und zur Erzeugung von Kindern nützlich.³⁹⁷ Eine Ehe zwischen zwei Christen ist sogar in höherem Maße wertzuschätzen als das jungfräuliche Leben eines Heiden, was jedoch an sich nichts über die Zuordnung der beiden Lebensformen, sondern lediglich etwas über die Inferiorität des Heidentums gegenüber dem Christentum aussagt.³⁹⁸ Im Christentum hingegen ist die Ehe zwar prinzipiell löblich, ihre Verbindung mit der Enthaltsamkeit aber wünschenswert; beide Varianten sind jedoch der (lebenslangen) Jungfräulichkeit eindeutig unterlegen.³⁹⁹ Enthaltsam lebende Witwen sowie geweihte Jungfrauen werden allerdings explizit davor gewarnt, nicht Hochmut (superbia ⁴⁰⁰) an den Tag zu legen oder sich geschwätzig (verbosa ⁴⁰¹) und
Vgl. virg. Mar. (PL , ). Vgl. virg. Mar. (PL , ). Virg. Mar. (PL , ). Beide Schriften sind wohl im Jahre entstanden, vgl. Walsh, Augustine IX; vgl. auch Geerlings, Augustinus f. Vgl. zu Inhalt und Wirkungsgeschichte von b. coniug. knapp Signori, Paradiesehe /. Vgl. Aug. b. coniug. (CSEL , Zycha). Vgl. Aug. b. coniug. (CSEL , Zycha). Vgl. Aug. b. coniug. . (CSEL , . f. Zycha). Vgl. Aug. b. coniug. (CSEL , f. Zycha). Vgl. Aug. b. coniug. . (CSEL , f. Zycha). Aug. b. coniug. (CSEL , Zycha). Aug. b. coniug. (CSEL , Zycha).
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IV. Zusammenfassung
streitsüchtig (litigiosa ⁴⁰²) gegenüber anderen zu verhalten – ganz offensichtlich ein konkretes Problem im Umfeld des Augustinus, dessen er Herr zu werden versucht.⁴⁰³ Vergleichbar argumentiert Augustinus auch in De sancta virginitate. Seine in prägnanter Kürze vorgebrachte Position bestärkt die bei der Untersuchung von Ambrosius und Johannes gewonnene Vermutung in Bezug auf das großkirchliche Jungfräulichkeitsideal des 4. Jhs.: Er rät den enthaltsam bzw. jungfräulich lebenden Männern und Frauen, das von ihnen gewählte Gut über das der Ehe zu stellen, ohne diese dabei zu verachten und als „Fallgrube der Sünde“⁴⁰⁴ anzusehen.⁴⁰⁵ Diese Belege stammen nicht nur aus den verschiedensten Teilen des Reiches, sondern decken zudem die verhältnismäßig große Zeitspanne nahezu des gesamten 4. Jhs. ab. Damit verstärken sie die Plausibilität der These, dass eine grundsätzliche Akzeptanz der Ehe die Voraussetzung für die großkirchliche Rezeption des jeweiligen Autors und seiner Jungfräulichkeitkonzeption darstellt. Auf dieser prinzipiellen Zustimmung zur Legitimität der Ehe fußend kann offensichtlich selbst schärfste Kritik vorgebracht werden, ohne dass dies disziplinäre Konsequenzen nach sich zieht. Bereits die häufig wiederkehrende Warnung vor einer Missachtung der Ehe deutet als Hinweis auf ihre tatsächliche Ablehnung durch bestimmte Einzelpersonen oder Gruppen im Umfeld der jeweiligen Autoren hin. Auch wird deutlich, dass das Ideal des jungfräulichen Lebens noch nicht fest etabliert ist, sondern sich erst in der Entwicklung „zum christlichen Allgemeingut“⁴⁰⁶ befindet, dem auch Kritik entgegenschlägt. Ambrosius und Johannes sowie die weiteren kurz untersuchten Autoren stehen dabei als Avantgardisten da, deren Propagierung des Jungfräulichkeitsideals nicht den zeitgenössischen Mainstream repräsentiert. Besonders die Bemerkung des Ambrosius, seine Werbungsversuche seien im heimischen Mailand weniger erfolgreich als im fernen Mauretanien,⁴⁰⁷ lassen ihn als Exponent einer reichsweiten Elite plausibel werden, deren Überzeugungsversuche nicht durchgängig akzeptiert werden. Man wird wohl davon ausgehen müssen, dass das Virginitätsideal zunächst nur von
Aug. b. coniug. (CSEL , Zycha). Die Formulierungen sint () bzw. novimus () deuten in diese Richtung; so auch Walsh, Augustine mit Anm. . Aug. virg. (CSEL , Zycha). Vgl. Aug. virg. (CSEL , f. Zycha). Karmann, Maria . Vgl. virg. ,, (OOSA ,, Gori).
IV. Zusammenfassung
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einer aktiven Minderheit propagiert wird, die zugleich die Ehe, die lange das christliche Leitideal darstellte, als erstrebenswerte Lebensform dekonstruiert. Der sich gegen diese Entwicklung regende Widerstand zwingt großkirchliche Bischöfe dazu, die Legitimität der Ehe zu verteidigen.
Teil B: Die Radikalisierung des Leitideals
I. Einleitung Das Jungfräulichkeitsideal erfährt in der Großkirche des ausgehenden 3. und vor allem des 4. Jhs. also eine bemerkenswert breite Propagierung im gesamten Römischen Reich, von der u. a. die zahlreichen zur Gattung der Jungfräulichkeitsschriften zählenden Traktate beinahe aller bedeutenden Theologen Zeugnis geben. Wie die Analyse der Schriften vor allem des Ambrosius und des Johannes ergab, steht dem Bemühen um eine weitgehende Verbreitung und eine argumentative Unterfütterung des Ideals von Seiten dieser beiden Bischöfe offenbar ein Widerstand in ihren Gemeinden gegenüber, die zum weit überwiegenden Teil aus verheirateten bzw. nicht primär am jungfräulichen Leben interessierten Christen bestanden haben werden. Die großkirchlichen Bischöfe haben jedoch nicht nur mit einer Ablehnung des Jungfräulichkeitsideals zu kämpfen, sondern auf der anderen Seite eben auch mit seiner Radikalisierung. Der zuvor erhobene großkirchliche Hintergrund dient nun als Folie für die Analyse der Radikalisierung dieses Ideals durch zahlreiche Einzelpersonen und Gruppierungen im Laufe des 4. Jhs., deren Zeugnisse, Motive und jeweils konkrete Umsetzungen im Folgenden zu erheben versucht wird. Von entscheidender Bedeutung sind hier zunächst die Kriterien, anhand derer sich bestimmen lässt, wann ein Asket den Boden des großkirchlich erlaubten und geförderten jungfräulichen Lebens verlässt und zum Vertreter eines exklusiven Askeseideals, also zum Radikalasketen bzw. Hyperasketen⁴⁰⁸ wird. Hier dürften nicht immer randscharfe terminologische, inhaltliche oder formale Faktoren in den Referenztexten vorliegen, so dass wohl eine gewisse Grauzone zwischen Kirchlichkeit und Häresie bestehen bleibt; diese soll aber mit Hilfe von möglichst präzise bestimmten Unterscheidungsmerkmalen so klein wie möglich gehalten werden. Es können vorläufig drei Hauptcharakteristika ausgemacht werden, die für die Analyse leitend sein sollen: Ein ganz entscheidendes Kriterium wurde bereits bei der Untersuchung der beiden großkirchlichen Exempla des Jungfräulichkeitsideals deutlich: Die Frage nach der Legitimität der Ehe muss deutlich affirmativ beantwortet werden, wie es Ambrosius und Johannes durch die jeweiligen Prolegomena, Einschübe und Anspielungen eindeutig tun – ob aus voller Überzeugung oder aus pastoraler Notwendigkeit heraus, ist in diesem Zusammenhang nicht vorrangig; die Haltung zur Ehe wird zu einem „Kriterium für die Unterscheidung von Großkirche und Häresie“⁴⁰⁹. Im Anschluss an diese grundsätzliche Akzeptanz der Ehe können
Beide Begriffe werden in dieser Untersuchung synonym verwendet. Niebergall, Ehe .
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I. Einleitung
dann auch heftige Polemiken gegen die Ehe geäußert werden, ohne dass dies Konsequenzen, etwa disziplinärer Art, nach sich zöge. Damit ist zugleich ein weiteres wichtiges Kriterium gegeben, denn die positive Rezeption der jeweiligen geäußerten Meinung durch die catholica ist in sich selbst wiederum der Maßstab für ihre geduldete und geförderte Verbreitung innerhalb der Großkirche. Ein einzelner Bischof oder ein Konzil schreitet erst dann gegen eine Position ein, wenn sie den großkirchlich vorgezeichneten Rahmen verlässt und so eine Schärfung der institutionellen wie inhaltlichen Ränder notwendig wird. Ein weiterer Faktor, auf den bei der Analyse zu achten sein wird, könnte eine Anhäufung von Dingen oder Tätigkeiten sein, in Bezug auf die Verzicht geübt wird. Die Lebensform der Enthaltsamkeit bzw. der Jungfräulichkeit wird häufig mit anderen Formen der Entsagung verbunden, so dass eine innere Logik des Verzichts angenommen werden darf, die weitere Objekte der Askese nach sich zieht; zu nennen sind hier etwa Fleisch und Wein, Schlaf, luxuriöse Kleidung, Körperpflege u. a. Diese konkrete asketische Praxis nimmt bei den verschiedenen Gruppierungen jeweils unterschiedliche Ausprägungen an. Jedoch ist eine harte, womöglich sogar übersteigerte Askese an sich noch kein Faktor, der ausschließlich Radikalasketen zu eigen wäre; sie gibt es auch im Raum der Großkirche. Als entscheidendes Kriterium wird deshalb vor allem auf den Exklusivitätsanspruch zu achten sein, der mit der asketischen Praxis verbunden wird:Wo immer die alleinige Heilsrelevanz der asketischen Lebensform propagiert wird, verlassen ihre Protagonisten den von der Großkirche vorgesehenen Konsens über ein gestuftes Miteinander von enthaltsamer bzw. jungfräulicher und ehelicher Lebensform. Hier wird daher das maßgebliche Kriterium für die Identifizierung radikalasketischer Einzelpersonen und Gruppierungen zu suchen sein.
II. Prolog / Die Vorgeschichte II.1 Apokryphe Apostelakten II.1.1 Einleitung Bei den sogenannten alten bzw. frühen Apokryphen Apostelakten handelt es sich um eine zwischen ca. 150 und 240 entstandene Gattung frühchristlicher Literatur, die aus fünf Schriften besteht und in enger literarischer Beziehung zur später kanonisierten Apostelgeschichte des Neuen Testaments steht, aber auch in der manichäischen Literatur rezipiert wird.⁴¹⁰ Die einzelnen Akten schildern in narrativem Stil die Taten jeweils eines Apostels, der umherziehend predigt, heilt und in der Mehrzahl der Akten den Märtyrertod erleidet.⁴¹¹ Sie werden deshalb häufig mit dem antiken Roman verglichen, den sie christlich adaptieren.⁴¹² In theologischer und ethischer Hinsicht liegt ein deutlicher Schwerpunkt der acta auf der Verkündigung von Enthaltsamkeit und lebenslanger Jungfräulichkeit, die als der eigentliche Kern der christlichen Botschaft verstanden werden. Die Johannes-, Paulus-, Petrus-, Andreas- und Thomasakten⁴¹³ fordern zwar nicht durchgängig Jungfräulichkeit,⁴¹⁴ aber doch dezidiert Enthaltsamkeit, und sollen daher, obwohl in das 2. und 3. Jh. zu datieren, in ihrer Rolle als Wegbereiter zur breiteren Auseinandersetzung mit dem Ideal im 4. Jh. in dieser Untersuchung wenigstens überblicksartig Beachtung finden.⁴¹⁵
Vgl. zur Gattung insgesamt und zur Datierung Klauck, Apostelakten / sowie Schäferdiek, Johannes-Akten f. Vgl. Klauck, Apostelakten . Vgl. Klauck, Apostelakten / sowie von Dobschütz, Roman. Zur Frage möglicher wechselseitiger Abhängigkeiten der acta untereinander vgl. exemplarisch Lalleman, Acts. Anders Schöllgen, Jungfräulichkeit , aus dessen Sicht die Apostelakten „zu den wirksamsten Propaganda-Instrumenten des J[ungfräulichkeits]ideals in altkirchlicher Zeit“ gehörten. Vgl. zum Enkratismus der Apostelakten mit umfangreicher Bibliographie van Uytfanghe, Encratisme. Vgl. zu familiären und sexuellen Diskursen innerhalb der Apostelakten Jacobs, Affair.
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
II.1.2 Johannesakten Während die Johannesakten von Schäferdiek⁴¹⁶ in die erste Hälfte des 3. Jhs. datiert wurden, sind sie nach der Ansicht jüngerer Forschungen⁴¹⁷ die ältesten der fünf Apostelakten und bereits um 150 – 160 entstanden. Als Herkunftsort kommen entweder der syrische Raum⁴¹⁸ (dort entstanden aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Thomasakten) oder Kleinasien⁴¹⁹ in Frage. Der auch von Schäferdiek⁴²⁰ vermutete Entstehungsrahmen der Johannesakten ist das Leben einer konkreten Gemeinde, insofern könnte dies wegen der Auseinandersetzung mit der dort sehr lebendigen Johannestradition eher auf einen kleinasiatischen Hintergrund hindeuten.⁴²¹ Die Darstellung des johanneischen Lebens und Wirkens in den Johannesakten ist stark von der Schilderung der Reise- und Missionstätigkeit des Apostels geprägt,⁴²² in deren Rahmen vor allem drei Episoden die Haltung der Johannesakten zu Ehe und Jungfräulichkeit illustrieren können.
II.1.2.1 Quellenbefund Johannes und seine Anhänger begegnen, der göttlichen Vorsehung folgend, auf ihrer Reise einem jungen Mann, der die Ehefrau eines Freundes begehrt.⁴²³ Die Warnungen seines Vaters, der ihn zu einem untadeligen und jungfräulichen Leben erziehen wollte, ignoriert er, und ermordet ihn sogar.⁴²⁴ Johannes hält ihn auf, als er zudem noch der von ihm begehrten Frau und deren Mann das Leben nehmen will, und stellt ihm die Auferweckung seines Vaters in Aussicht, wenn er von der Ehefrau seines Freundes abzulassen verspricht.⁴²⁵ Nach der Zustimmung des Jünglings weckt Johannes seinen Vater von den Toten auf, bekehrt ihn zum Christentum und führt ihn zu seinem Sohn, der sein Johannes gegebenes Versprechen in die Tat umsetzt, indem er sich selbst entmannt und seine Genitalien
Vgl. Schäferdiek, Herkunft . Vgl. Junod / Kaestli, Introduction ; Klauck, Apostelakten . /.Vgl. zur Diskussion um die Datierung auch Zwierlein, Petrus /. Vgl. Schäferdiek, Johannes-Akten . Vgl. Klauck, Apostelakten f. Vgl. Schäferdiek, Johannes-Akten sowie auch Ders., Johannesakten /. Vgl. Klauck, Apostelakten f.; vgl. auch Schäferdiek, Herkunft; zu Herkunft und Abfassungszeit vgl. Sirker-Wicklaus, Untersuchungen /. Vgl. zum Gesamtaufbau der Akten Schäferdiek, Johannesakten f. Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh f. (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh f. (CCSA , Junod / Kaestli).
II.1 Apokryphe Apostelakten
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der vormals von ihm begehrten Frau überreicht.⁴²⁶ Johannes aber verurteilt die Selbstkastration als Teufelswerk und betont, dass ein Wandel der Gesinnung entscheidender ist als eine solche körperliche Amputation.⁴²⁷ Bei seinem zweiten Aufenthalt in Ephesus kehrt Johannes mit seinen Anhängern im Haus des Andronikos und der Drusiana ein.⁴²⁸ Drusiana hat ihren Ehemann trotz dessen heftigen Widerspruchs und manifester leiblicher Bedrohungen davon überzeugt, den ehelichen Geschlechtsverkehr nicht zu vollziehen.⁴²⁹ Umso niedergeschlagener ist sie, als sie davon erfährt, dass sie einen Verehrer hat; sie fühlt sich mitschuldig an der Erweckung seiner Leidenschaften und bittet Gott darum, sie zu sich zu nehmen, was dieser auch tut.⁴³⁰ Für Andronikos ist bei aller Trauer und Hoffnung auf die Auferstehung seiner Frau entscheidend, dass diese rein aus dem Leben geschieden ist.⁴³¹ Der verzweifelte und vom Satan besessene Verehrer Kallimachos verschafft sich jedoch Zugang zu Drusianas Grab,versucht, ihren Leichnam zu schänden, und wird erst durch einen Schlangenbiss davon abgehalten, als er den Leichnam bereits beinahe vollständig entkleidet hat.⁴³² Johannes erweckt Kallimachos und Drusiana vom Tod⁴³³ und betet in einem Exorzismus um die Befreiung von satanischer Nachstellung: Insbesondere das Fasten und Beten, die fleischliche Nahrung und der Trank sowie die Enthaltsamkeit der Gläubigen sollen vom Teufel unbehelligt bleiben.⁴³⁴ Als Johannes, kurz vor seinem Tod stehend und betend, dankbar auf sein Leben zurückblickt, nimmt seine unmittelbar von Gott bewirkte und vom Apostel so verstandene Bewahrung vor der Ehe eine zentrale Rolle ein.⁴³⁵ Dreimal trägt Johannes sich als junger Mann mit einer Heiratsabsicht; dreimal interveniert Gott und verhindert die Eheschließung, damit Johannes ihm allein dienen kann: „Johannes, wärest Du nicht mein, hätte ich dich heiraten lassen.“⁴³⁶ Geschlechtsverkehr verabscheut er, bereits das bloße Anschauen einer Frau fällt ihm
Vgl. ActJoh / (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh f. (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh f. (CCSA , /. Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli), übers. aus Schäferdiek, Johannesakten (NTApo ).
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
schwer.⁴³⁷ Nach der Vollendung seines Gebets schließlich stirbt Johannes rein und unberührt.⁴³⁸
II.1.2.2 Auswertung Zwar fallen die Aussagen der Johannesakten zu Ehe und sexueller Enthaltsamkeit im Vergleich zu ihrem Gesamtumfang quantitativ kaum ins Gewicht, ihre Position ist aber umso eindeutiger. Der unmittelbar durch Gott zu lebenslanger Jungfräulichkeit berufene Apostel Johannes stellt mit seiner Lebensform das Idealbild für ein gottgefälliges Leben dar. Die Ehe ist demgegenüber untergeordnet, aber legitim. Die von Drusiana und Andronikos praktizierte Enthaltsamkeit innerhalb der Ehe wird als erstrebenswert präsentiert, wobei beide sogar vollständig jungfräulich bleiben und den ehelichen Geschlechtsverkehr überhaupt nicht vollziehen; Drusiana lässt sich dabei auch durch Todesdrohungen nicht zur Aufgabe ihrer Jungfräulichkeit bewegen. Streng abgelehnt wird in den Johannesakten der Geschlechtsverkehr insgesamt, der mehrfach mit scharfer Terminologie als ekelhaft⁴³⁹ gekennzeichnet wird: Er sei ein „im Fleisch wohnender Wahn“⁴⁴⁰ und eine „nicht zu bändigende Krankheit“⁴⁴¹. Insofern wird die Ehe nicht um ihrer selbst willen verworfen, sondern im Gegenteil als Institution nicht in Frage gestellt: Der Vollzug des (nur in der Ehe überhaupt legitimen) Geschlechtsverkehrs ist aus der Sicht der Johannesakten das eigentlich Abzulehende, wie anhand der mehrfach geschilderten negativen Auswirkungen des Geschlechtstriebes verdeutlicht wird.
II.1.3 Paulusakten Die Paulusakten sind in der frühchristlichen Literatur erstmals in Tertullians de baptismo bezeugt, dessen Entstehung um 200 zu datieren ist.⁴⁴² Da die Paulusakten aller Wahrscheinlichkeit nach in Kleinasien entstanden sind,⁴⁴³ lässt sich
.
Vgl. ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). Vgl. ActJoh (CCSA , Junod / Kaestli). ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). ActJoh (CCSA , / Junod / Kaestli). Vgl. Schulz-Flügel, Tertullian . So schon Tertullian selbst, vgl. bapt. , (SC , Refoulé); vgl. auch Klauck, Apostelakten
II.1 Apokryphe Apostelakten
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unter Berücksichtigung der Verbreitung von dort nach Nordafrika eine Entstehungszeit von 170 – 180 plausibilisieren.⁴⁴⁴ Im Kontext dieser Arbeit sind besonders die neben dem 3. Korintherbrief und einem Martyriumsbericht des Paulus in den Paulusakten enthaltenen, aber auch eigenständig überlieferten und zeitweise sehr populären Theklaakten von Belang.⁴⁴⁵
II.1.3.1 Quellenbefund Die Theklaakten berichten, dass Paulus auf seinen Missionsreisen im kleinasiatischen Ikonium auftritt und dort im Hause eines Onesiphorus einkehrt.⁴⁴⁶ Im Zentrum der paulinischen Predigt steht das Wort Gottes, vom Redaktor der Theklaakten näher charakterisiert als „das Wort Gottes von der Enthaltsamkeit und der Auferstehung“⁴⁴⁷. Konkret beginnt die paulinische Predigt in Ikonium mit der Rezitation von 13 jeweils gleich aufgebauten Seligpreisungen,⁴⁴⁸ die sich formal an die jesuanischen Seligpreisungen der matthäischen Bergpredigt anlehnen, inhaltlich aber, paulinische Theologie vor allem aus 1 Kor rezipierend und in gewisser Weise radikalisierend, Enkrateia zu ihrem Programm machen.⁴⁴⁹ Die Adressaten der einzelnen Makarismen sind u. a. solche Christen, „die ihr Fleisch rein bewahrt haben“, „die Enthaltsamen“, „die dieser Welt entsagt haben“, „die Frauen haben als hätten sie nicht“, „die die Taufe bewahrt haben“ und „die um der Liebe Gottes willen das weltliche Wesen verlassen haben“⁴⁵⁰. Unmittelbar im Anschluss an den letzten Makarismus, der die Leiber der Jungfrauen seligpreist, wird die Jungfrau Thekla in den Erzählkontext eingeführt, die „das Wort vom jungfräulichen Leben“⁴⁵¹ hört und davon angezogen ist. Ihr Verlobter Thamyris sieht angesichts dieser Anhänglichkeit Theklas an Paulus und seine Lehre seine baldige Eheschließung in Gefahr und erkundigt sich bei seinen Mitbürgern über Paulus.⁴⁵² Zwei in den Theklaakten bereits als ausgesprochene Feinde des Paulus
Vgl. Ebner / Lau, Überlieferung; vgl. auch Klauck, Apostelakten . Rordorf, Introduction geht sogar von einer Datierung um aus. Vgl. dazu insgesamt den Sammelband von Ebner, Liebe sowie Rordorf, Plan.Vgl. auch Klauck, Apostelakten /. Vgl. ActThecl f. (AAA , / Lipsius). ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. Lau, Enthaltsamkeit. Vgl. ActThecl f. (AAA , / Lipsius). Vgl. insgesamt Ebner, Seligpreisungen sowie Barrier, Asceticism. ActThecl f. (AAA , / Lipsius). ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl / (AAA , / Lipsius).
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
ausgewiesene Männer⁴⁵³ geben dessen Verkündigung folgendermaßen wieder: „Er macht aber Jünglingen die Frauen und Jungfrauen die Männer abspenstig, indem er sagt: ‚Auf andere Weise gibt es für euch keine Auferstehung, es sei denn, daß ihr rein bleibt und das Fleisch nicht befleckt, sondern es keusch bewahrt‘.“⁴⁵⁴ Damit wird der Paulus der Theklaakten als Vertreter eines exklusiven Jungfräulichkeitsideals charakterisiert – allerdings, worauf Schöllgen⁴⁵⁵ zu Recht hinweist, von als Gegnern des Paulus bekannten Protagonisten. Paulus wird im Zuge eines Aufruhrs zum Statthalter gebracht und rechtfertigt seine Verkündigung vor diesem mit einem direkten Auftrag Gottes, alle Menschen der Unreinheit zu entreißen.⁴⁵⁶ Auch Thekla wird vor den Richterstuhl des Statthalters geführt.⁴⁵⁷ Während Paulus aus der Stadt vertrieben wird, soll sie im Theater verbrannt werden; ein durch direkte göttliche Intervention verursachter Regenguss löscht das Feuer allerdings.⁴⁵⁸ Die aus Anlass von Theklas Rettung abgehaltene Feier findet, der enkratitischen Grundgesinnung der Theklaakten folgend, ohne Wein bei Brot, Gemüse und Wasser statt.⁴⁵⁹ Nachdem Thekla Paulus nach Antiochien gefolgt ist und dort die Avancen eines vornehmen Antiocheners ablehnt, wird sie erneut zum Tode verurteilt.⁴⁶⁰ Sie soll mit wilden Tieren kämpfen, die sie jedoch auf wundersame Weise in der Arena nicht anrühren;⁴⁶¹ da sie von einer Feuerwolke eingehüllt wird, ist zudem ihre Nacktheit verborgen.⁴⁶² Als der Statthalter sie schließlich erstaunt befragt,wie sich diese Ereignisse erklären ließen, predigt Thekla ihm ihren Glauben an Jesus Christus, der auch ihre Rettung vor den Tieren bewirkt habe, woraufhin sich in Antiochien zahlreiche Bekehrungen vollziehen.⁴⁶³ Thekla kehrt schließlich in ihre Heimatstadt Ikonium zurück, wo sie vom Tod ihres Verlobten erfährt.⁴⁶⁴ Sie ist dadurch endgültig frei für die Predigt des Wortes Gottes, begibt sich auf Missionsreise und stirbt schließlich in Seleukia.⁴⁶⁵
Vgl. ActThecl . (AAA , f. Lipsius). ActThecl (AAA , Lipsius). Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit sowie Ders., Eros . Vgl. ActThecl f. (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl f. (AAA , / Lipsius). Vgl. ActThecl / (AAA , / Lipsius). Vgl. ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl f. (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl f. (AAA , f. Lipsius). Vgl. ActThecl (AAA , Lipsius).
II.1 Apokryphe Apostelakten
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II.1.3.2 Auswertung Im Fokus der Theklaakten steht eindeutig die Propagierung des Enthaltsamkeitsideals, sie sind geradezu ein Protreptikos des enthaltsamen Lebens. Dem widerspricht durchaus nicht, dass mit Onesiphorus und seiner Familie auch verheiratete Christen positiv beurteilt werden können und Paulus nachfolgen – sie haben zwar bereits Kinder gezeugt, sich dann aber der Enthaltsamkeit innerhalb der Ehe verschrieben und so das Ideal der Enkrateia verwirklicht.⁴⁶⁶ Den Theklaakten geht es also nicht um Jungfräulichkeit „im strikt biologischen Sinn […], sondern vielmehr um eine bestimmte Haltung sowohl Menschen als auch dem Besitz gegenüber.“⁴⁶⁷ Diese Haltung der Enthaltsamkeit soll dem Adressatenkreis als Vorbild präsentiert werden und wird von Thekla personifiziert: Sie lehnt gleich zweimal die Avancen gesellschaftlich hochstehender Männer ab; im Vergleich zur Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit, die sie ebenfalls zweimal in Todesgefahr bringt, gelten ihr Reichtum und Ruhm dieser Welt nichts. Entsprechend wird sie zweimal durch göttliche Intervention vor dem Tod gerettet und stellt nach ihrer Heimkehr nach Ikonium fest, dass ihr Verlobter gestorben ist, ihre Keuschheit also nicht mehr durch ihn bedroht wird. Parallel zu diesem Aufweis der Enthaltsamkeit als gottgewollter Lebensform findet sich in den Theklaakten allerdings eine Art von Virginitätserotik. Sie wird besonders dort anschaulich, wo Thekla sich zu Paulus hingezogen fühlt und sogar den Boden liebkost, auf dem Paulus saß und lehrte.⁴⁶⁸ Diese scheinbare Spannung zwischen erotischer Anziehung und Enthaltsamkeitsideal lässt sich allerdings dadurch auflösen, dass Theklas Sehnsucht nicht eigentlich der irdischen Gestalt des Paulus, sondern dem von ihm verkündigten himmlischen Christus gilt.⁴⁶⁹ Wie der Rückzug der Familie des Onesiphorus aus ihrem Haus in eine Höhle außerhalb der Stadt⁴⁷⁰ und der Verzicht auf Wein bei der Feier nach Theklas Rettung deutlich machen, werden in den Theklaakten neben der sexuellen Enthaltsamkeit auch die Ideale der Heimatlosigkeit, die durch die umherziehenden Paulus und Thekla noch verstärkt wird, und der Besitzlosigkeit als in der Konsequenz eines auf Christus ausgerichteten Lebens liegend dargestellt.⁴⁷¹ Zwar werden Onesiphorus und seine Frau in den Theklaakten wohl ausschließlich deshalb positiv dargestellt, weil sie sich der Enkrateia verschrieben
Vgl. Ebner, Seligpreisungen . Ebner, Seligpreisungen . Vgl. ActThecl . . (AAA , f. f. Lipsius). Vgl. Schöllgen, Eros f. Vgl. ActThecl / (AAA , / Lipsius); vgl. Ebner, Seligpreisungen f. Anders Schöllgen, Eros , der neben dem Virginitätsideal (!) „keine weiteren Indizien für enkratitisches Gedankengut“ in den Theklaakten auszumachen meint.
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
haben, eine Kritik an der Schließung ihrer Ehe oder der Zeugung ihrer beiden Kinder wird aber weder explizit noch implizit formuliert. Insofern ist hier tatsächlich nicht vom einem exklusiven Jungfräulichkeitsideal auszugehen,⁴⁷² wie es Paulus von seinen beiden Gegnern in den Mund gelegt wird.⁴⁷³ Allerdings hätte der Redaktor der Theklaakten auch effektivere und eindeutigere Möglichkeiten gehabt, das exklusive Jungfräulichkeitsideal abzulehnen, als es „nur“ paulinischen Gegnern zuzuschreiben – eine explizite Ablehnung des Ideals durch Paulus selbst etwa wäre im narrativen Kontext problemlos möglich gewesen. Dass so nicht nur in der Forschung,⁴⁷⁴ sondern sicher auch in der zeitgenössischen Rezeption zumindest der Nimbus eines exklusiven Jungfräulichkeitsideals um die Theklaakten kreiste, ist gut nachvollziehbar.
II.1.4 Petrusakten Die Petrusakten sind in ihrem Textbestand sowie ihrer Überlieferungsgeschichte und damit auch in Bezug auf ihre zeitliche und geographische Einordnung schwierig zu rekonstruieren.⁴⁷⁵ Von ihrem Ansatz her wollen sie die narrative Lücke schließen, die in der Apostelgeschichte beim Übergang des Erzählfokus von Petrus auf Paulus entsteht; hierin gleichen sie den neutestamentlichen Petrusbriefen, die ein ähnliches Ziel verfolgen.⁴⁷⁶ Als Entstehungszeit lässt sich ziemlich sicher das späte 2. Jh. vermuten,⁴⁷⁷ während die Hypothesen über den Entstehungsort zwischen Rom, Alexandrien und Kleinasien variieren; eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dabei für einen städischen Hintergrund im südlichen Kleinasien.⁴⁷⁸
II.1.4.1 Quellenbefund Zwar wird die Frage der Reinheit (ἁγνεία) und der Enthaltsamkeit erst am Schluss der Petrusakten und auch dort nur kurz überhaupt thematisiert, hier im Kontext des petrinischen Martyriums jedoch als Kern der gesamten Verkündigung des
Mit Schöllgen, Jungfräulichkeit und Ders., Eros gegen Sfameni Gasparro, Atti f. Vgl. ActThecl (AAA , Lipsius). Vgl. neben Sfameni Gasparro, Atti auch Tibiletti, Verginità. Vgl. überblicksartig Klauck, Apostelakten /. Vgl. Klauck, Apostelakten f. Vgl. Bremmer, Women /; Poupon, Introduction .Vgl. auch Klauck, Apostelakten . Vgl. Bremmer, Women .
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Apostels Petrus in Rom (und damit der Verkündigung Jesu) dargestellt.⁴⁷⁹ Die Verkündigung der Keuschheit als einer wesentlichen christlichen Eigenschaft bewegt die vier Konkubinen des Stadtpräfekten Agrippa, sich von ihrem Herrn zurückzuziehen und enthaltsam zu leben.⁴⁸⁰ Neben zahlreichen weiteren Frauen wird auch Xantippe, die Gattin eines unmittelbaren Kaiserfreundes, von den Lehren des Petrus ergriffen und verweigert ihrem Mann den Beischlaf.⁴⁸¹ Die Ehemänner der nun innerhalb ihrer Ehe enthaltsam lebenden Frauen fassen gemeinsam den Plan, Petrus hinzurichten, und setzen diesen schließlich auch in die Tat um.⁴⁸²
II.1.4.2 Auswertung Die mit Ausnahme der Thomasakten insgesamt vorherrschende Tendenz⁴⁸³ der Apokryphen Apostelakten wird in den Petrusakten besonders deutlich: Sie schildern nicht explizit (lebenslange) Jungfräulichkeit als bevorzugte christliche Lebensweise; die von ihnen präsentierten exempla der innerhalb der Ehe enthaltsam lebenden Frauen haben jedoch implizit das Jungfräulichkeitsideal zur Konsequenz.⁴⁸⁴ Wiederum ist es eine starke Abneigung gegenüber dem ehelichen Geschlechtsverkehr, die als movens hinter dem Rückzug der Ehefrauen von ihren Männern steht. Die nun dem Christentum anhängenden Frauen werden von Christus selbst gestärkt und dazu befähigt, ihren Widerstand gegen den ehelichen Verkehr aufrecht zu erhalten.⁴⁸⁵ Ohne eine Ablehnung der Institution der Ehe und eine Negierung ihrer Heilsfähigkeit zu propagieren, beschreiben die Petrusakten so das enthaltsame Leben als originär in der Nachfolge Christi stehend.
II.1.5 Andreasakten Die Andreasakten waren sowohl in großkirchlichen als auch in häretischen Kreisen in Gebrauch, was auf ihre verhältnismäßig große Popularität ebenso
Vgl. ActPetr f. (AAA , / Lipsius). Vgl. ActPetr (AAA , Lipsius). Vgl. ActPetr (AAA , Lipsius). Vgl. ActPetr / (AAA , / Lipsius). Siehe dazu unten f. Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit f. Vgl. ActPetr (AAA , Lipsius); vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit .
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
hindeutet wie auf teils heftige Kontroversen um ihren Inhalt.⁴⁸⁶ Es scheint plausibel, dass die Andreasakten ursprünglich noch deutlich heftigere asketische und dualistische Tendenzen in sich trugen und erst im Anschluss an eine großkirchliche „Reinigung“ auch in der catholica weitere Verbreitung fanden.⁴⁸⁷ Eine Entstehung am Ende des 2. Jhs. in Kleinasien ist als wahrscheinlich anzunehmen.⁴⁸⁸
II.1.5.1 Quellenbefund Der Apostel Andreas tritt in der Stadt Patras in der Achaia auf und verkehrt dort in den Kreisen der Maximilla, die als Gattin des heidnischen Prokonsuls Aegeates ihren christlichen Glauben nur im Verborgenen praktizieren kann.⁴⁸⁹ Durch Unterweisung⁴⁹⁰ und gemeinsames Gebet⁴⁹¹ sammelt Andreas einen ständig wachsenden Kreis von Gläubigen um sich und ermuntert seine weiblichen und männlichen Anhänger zu Reinheit und Unbeflecktheit.⁴⁹² Maximilla beginnt daraufhin, sich von ihrem Mann zurückzuziehen, und fleht Gott im Gebet um ihre Bewahrung vor dem Geschlechtsverkehr an, den sie als befleckend bezeichnet.⁴⁹³ Als ein erstes deutliches Zeichen lehnt sie es sogar ab, Aegeates nach Beendigung ihres Gebets zu küssen.⁴⁹⁴ Andreas bestärkt sie in dieser Vorgehensweise und betet für Maximilla um Bewahrung vor der schändlichen Befleckung durch den ehelichen Geschlechtsverkehr.⁴⁹⁵ Um sich dem ehelichen Beischlaf dauerhaft entziehen und keusch leben zu können, verspricht sie ihrer Sklavin Ekleia reiche Geschenke und die Freiheit, damit diese an ihrer statt mit Aegeates schläft.⁴⁹⁶ Zunächst bemerkt Aegeates den Rollentausch der beiden Frauen nicht, erfährt nach einiger Zeit aber doch von der Verschwörung gegen ihn und von der Abscheu, die seine Frau gegenüber dem Verkehr mit ihm hegt.⁴⁹⁷ Als er sie umzustimmen versucht, gesteht Maximilla ihm daraufhin ihre heftige Liebe zu einer Sache, die nicht zu
Vgl. zur Verwendung der Andreas- wie der Johannes- und der Thomasakten durch die Priszillianer Vollmann, Priscillianus /; vgl. insgesamt Klauck, Apostelakten /. Vgl. Klauck, Apostelakten f. Vgl. Prieur, Histoire ; Bremmer, Man . Vgl. ActAndr / (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr f. (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr . f. (CCSA , . / Prieur).
II.1 Apokryphe Apostelakten
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„den Dingen dieser Welt“⁴⁹⁸ gehört, der allein sie aber gehören will.⁴⁹⁹ Von seinem Bruder Stratokles, der durch Maximillas Einfluss auch zum Kreis um Andreas gehört, erhält Aegeates den Hinweis, dass der Apostel und die von ihm verkündigte Frömmigkeit (θεοσέβεια) die Schuld am Rückzug seiner Frau vom ehelichen Geschlechtsverkehr tragen,⁵⁰⁰ woraufhin der Prokonsul Andreas festnehmen und einsperren lässt.⁵⁰¹ Andreas erhält im Gefängnis immer wieder Besuch von Maximilla und weiteren Anhängern, die wundersamerweise von den Wärtern nicht entdeckt werden.⁵⁰² Aegeates versucht ein weiteres Mal, seine Frau zum ehelichen Verkehr und zur Kinderzeugung zu bewegen, und droht ihr an, andernfalls dem Andreas, den „du mehr liebst als mich“⁵⁰³, Leid anzutun.⁵⁰⁴ Maximilla berichtet dem Apostel sofort von ihrem Gespräch mit Aegeates und wird von Andreas ausdrücklich dazu ermuntert, den Drohungen ihres Mannes nicht nachzugeben und dem „abscheulichen und schmutzigen Leben“⁵⁰⁵ fernzubleiben.⁵⁰⁶ Er begründet die Notwendigkeit eines Lebens in vollkommener Enthaltsamkeit mit einem Konzept der Repristinierung des menschlichen Urzustandes vor dem Fall Adams und Evas: Wer enthaltsam lebt, entkommt dem postlapsarischen Zustand und macht damit seinen eigenen Fall wieder gut.⁵⁰⁷ Andreas bezeichnet das enthaltsame Leben ausdrücklich als ein Gebot des Herrn, dessen Verwirklichung Maximilla in die Würde ihres Wesens, d. h. ihres ursprünglichen Seins, zurückversetzt.⁵⁰⁸ Der Apostel beschwört Maximilla, „keusch, rein, heilig, unbefleckt, tadellos, nicht ehebrecherisch, ungewillt zum Umgang mit dem, der uns fremd ist […] und ohne Sympathie für die Werke des Kain“⁵⁰⁹ zu leben. Er tituliert den auf ehelichen Geschlechtsverkehr insistierenden Aegeates ausdrücklich als Teufelssohn.⁵¹⁰ Die Andreasakten berichten, dass Maximilla trotz der Drohungen ihres Mannes den Weisungen des Apostels folgt und weiterhin den ehelichen Umgang ablehnt, woraufhin Aegeates den Beschluss fasst, Andreas hinrichten zu lassen.⁵¹¹
ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr / (CCSA , / Prieur). ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , / Prieur). ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur).
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
Er wirft ihm vor, seine Frau verdorben zu haben, lässt ihn foltern und schließlich kreuzigen.⁵¹² Andreas aber predigt noch vom Kreuz herab und vergleicht diejenigen mit Räubern, die den Vergnügungen der Welt anhängen.⁵¹³ Als die Menge die Begnadigung des Andreas fordert und Aegeates dem Gesuch aus Angst vor Unruhen stattgeben will, ist es der Apostel selbst, der die weitere Verbindung mit dem Fleisch, d. h. mit der Welt und ihren Verlockungen, ablehnt, seinen Tod wünscht und schließlich am Kreuz stirbt.⁵¹⁴
II.1.5.2 Auswertung In den Andreasakten begegnen die äußerst energische Forderung nach Enthaltsamkeit auch innerhalb der Ehe und eine strenge Ablehnung des Geschlechtsverkehrs, der mit scharfen Formulierungen als abscheulich und unrein verworfen wird. Wer nicht wie der Apostel Andreas unverheiratet und damit jungfräulich leben kann, soll wenigstens innerhalb der Ehe auf Sexualität verzichten. Die Lebensform der Enthaltsamkeit wird entsprechend nicht, wie es sonst unter Bezugnahme auf 1 Kor 7 geschieht, als Rat, sondern vielmehr als (verpflichtendes!) Gebot (ἐντολή) gekennzeichnet.⁵¹⁵ Wenn Maximilla nach dem Willen des Andreas nicht ehebrecherisch leben, sondern die Werke des Kain meiden soll,⁵¹⁶ bezieht sich dies konsequenterweise nicht auf einen möglichen sexuellen Ehebruch mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann; der Apostel hebt hier vielmehr auf die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit und damit ihrer unbefleckten Verbindung zu Gott ab. Sexualität gehört nicht zum ursprünglichen Wesen des Menschen, sondern ist erst nach dem Sündenfall in die Welt gekommen. Die Wiedererlangung des Urzustandes ist deshalb das Ziel der enthaltsamen Lebensweise und weist das gesamte Konzept der Andreasakten als ein protologisch motiviertes aus.⁵¹⁷ Die vom Apostel Andreas verkündigte Frömmigkeit (θεοσέβεια⁵¹⁸) ist dabei nichts anderes als Askese und näherhin sexuelle Enthaltsamkeit.⁵¹⁹ Zwar propagieren auch die Andreasakten nicht explizit ein exklusives Jungfräulichkeitsideal, in der Folge ihres dualisierenden Weltbildes⁵²⁰ liegt allerdings
Vgl. ActAndr / (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr / (CCSA , / Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit f. ActAndr (CCSA , Prieur). Vgl. zum Begriff auch Conc. Gangr. cnn. . f. Siehe dazu unten /. Vgl. bes. ActAndr (CCSA , Prieur).
II.1 Apokryphe Apostelakten
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die scharfe Ablehnung des Geschlechtsverkehrs, die, konsequent zu Ende gedacht, neben der Enthaltsamkeit innerhalb einer bereits bestehenden Ehe, lebenslange Jungfräulichkeit nach sich zieht.
II.1.6 Thomasakten Die Thomasakten sind – wenn auch nicht in ihrer ursprünglichen Fassung – vollständig überliefert, was sie von den anderen Vertreterinnen ihrer Gattung unterscheidet.⁵²¹ Eine gewisse Nähe zur Theologie Tatians macht das syrische Edessa als Entstehungsort wahrscheinlich, die Entstehungszeit dürfte am Beginn des 3. Jhs. liegen.⁵²² Der vermutete syrische Hintergrund drückt sich zudem in deutlich enkratitischen Tendenzen aus.⁵²³
II.1.6.1 Quellenbefund Nachdem sich die Apostel nach den Osterereignissen in Jerusalem versammelt haben, teilen sie die Welt in verschiedene Missionsgebiete ein und diese unter sich auf.⁵²⁴ Thomas gelangt so trotz seines anfänglichen Widerstandes nach Indien in die Stadt Andrapolis, in der kurz nach seiner Ankunft eine königliche Hochzeit stattfindet;⁵²⁵ Thomas verzichtet während der Feierlichkeiten allerdings auf jede Nahrungsaufnahme.⁵²⁶ Als ihn einer der anwesenden Diener körperlich angreift,⁵²⁷ Thomas dessen baldiges Ende voraussagt und diese Ankündigung dann auch tatsächlich eintrifft,⁵²⁸ bittet der König den Apostel um Fürsprache für seine frisch vermählte Tochter.⁵²⁹ Thomas stimmt zu und betet für das Brautpaar, bevor er und alle anderen das Brautgemach verlassen.⁵³⁰ Während der Bräutigam sich der Braut nähern möchte, erscheint Christus den beiden in der Gestalt des Apostels Thomas und belehrt sie über das rechte Verständnis der Ehe.⁵³¹ Er ermahnt sie,
Vgl. Klauck, Apostelakten . Vgl. Poirier / Tissot, Introduction ; Klauck, Apostelakten f. Vgl. ausführlicher Bremmer, Acts. Vgl. zum enkratitischen Hintergrund Blond, Encratisme sowie Tissot, Encratisme. Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet).
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
ihre Körper rein zu bewahren, d. h. auf den als schmutzig bewerteten ehelichen Geschlechtsverkehr völlig zu verzichten;⁵³² besonders von der Kinderzeugung rät er ab, da sie eine schwere moralische „Deformation der Eltern“⁵³³ zur Folge habe und diese wiederum eschatologische Konsequenzen mit sich bringe.⁵³⁴ Die Eheleute nehmen diese Lehre an, enthalten sich der „schmutzigen Begierde“⁵³⁵ sogar in der Hochzeitsnacht und bleiben damit jungfräulich. Sie danken Gott dafür, dass er ihnen durch den Verzicht auf den als schwer heilbare Krankheit verstandenen Geschlechtsverkehr geholfen hat, den postlapsarischen Zustand zu überwinden und zur ursprünglichen Form ihres Menschseins zu gelangen.⁵³⁶ Thomas reist durch Indien und wirbt für Enthaltung von Hurerei, Habsucht und Völlerei;⁵³⁷ dabei lebt er selbst asketisch und fastet sogar am Herrentag.⁵³⁸ Als biblische Belege für die asketische Lebensform dienen dem Apostel den Thomasakten zufolge Mt 19,23, Lk 21,34 und andere einschlägige Schriftstellen.⁵³⁹ Thomas begegnet auf seinen Predigtreisen einer jungfräulich lebenden Frau, die von einem Dämon besessen ist, der sie sexuell missbraucht.⁵⁴⁰ Sie bittet den Apostel darum, von diesem Dämon befreit zu werden, um wieder zu ihrer „ursprünglichen Natur“⁵⁴¹ zurückkehren zu können. Thomas ist erschüttert über die Attacke auf die Jungfrau⁵⁴² und vertreibt den Dämon, um der Frau ein Leben in Enthaltsamkeit zu ermöglichen.⁵⁴³ Bei der Darstellung einer Begegnung des Apostels mit einem jungen Mann wird das von den Thomasakten vertretene Ideal besonders deutlich: Thomas trifft auf einen Mann, der von seiner Jungfräulichkeitspredigt bereits überzeugt ist und wie er selbst die Ansicht vertritt, dass jede Art von Geschlechtsverkehr – ob in der Ehe oder außerhalb – vom ewigen Heil ausschließt.⁵⁴⁴ Er will in keuscher Lebensgemeinschaft mit einer Frau zusammenleben und tötet diese aus Eifersucht,
Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Schöllgen, Jungfräulichkeit . Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Zur Praxis des sogenannten Überfastens siehe im Zusammenhang mit den Eustathianern auch unten /. Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet).
II.1 Apokryphe Apostelakten
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als sie ablehnt, weil sie sich der Jungfräulichkeit nicht verschreiben will.⁵⁴⁵ Der Apostel weist nun die Schuld an diesem Mord dem Geschlechtsverkehr und den menschlichen Trieben zu, die unmittebar vom Teufel her stammten.⁵⁴⁶ Thomas lässt sich durch den jungen Mann zum Ort des Mordes führen⁵⁴⁷ und erweckt mit ihm zusammen die Verstorbene von den Toten auf.⁵⁴⁸ Nach ihren Erlebnissen im Jenseits befragt, schildert sie ihre Begegnung mit Verheirateten und Ehebrechern in der Hölle: Ihre Seelen werden gequält, weil sie das Zusammenleben von Mann und Frau pervertiert haben.⁵⁴⁹ Thomas knüpft an diese Darstellungen an, mahnt alle Anwesenden zu einem keuschen Lebenswandel, der zur Vergebung ihrer vorherigen Verfehlungen führt, und fordert besonders Ehebrecher auf, keine Unzucht mehr zu treiben.⁵⁵⁰ Die Umstehenden kommen nach dieser Predigt zum Glauben – und damit nach der Stoßrichtung der Thomasakten zur Enthaltsamkeit.⁵⁵¹ Der Apostel bittet Christus um seine Hilfe für den Lebenswandel der Bekehrten, da sie sich nun den von ihm vorgelebten Idealen der Heimat-, Familien-, Besitz- und Ehelosigkeit verschrieben haben.⁵⁵² Thomas überzeugt mit seiner Predigt auch die Adelige Mygdonia von der enthaltsamen Lebensweise: Er fordert den Verzicht auf Ehebruch sowie auf jeglichen Geschlechtsverkehr, stattdessen sollen alle Menschen nach Heiligkeit streben.⁵⁵³ Der Verzicht auf Reichtum, Schmuck, die Verlockungen der Welt und besonders auf den als schmutzig beschriebenen ehelichen Geschlechtsverkehr führen zur geistlichen Gemeinschaft mit Christus, die in jedem Fall der Ehe vorzuziehen ist, die als „Gegenstand der Verachtung“⁵⁵⁴ bezeichnet wird.⁵⁵⁵ Mygdonia verweigert sich daraufhin dem ehelichen Verkehr mit ihrem Mann Charîs⁵⁵⁶ und muss sich seiner Annäherungen immer wieder erwehren.⁵⁵⁷ Charîs berichtet dem König davon, dass seine Frau von den Lehren des Apostels beeinflusst werde, nach denen kein Verheirateter oder Reicher ewiges Leben erlangen könne.⁵⁵⁸ Thomas
Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom / (AAA ,, / Bonnet). ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, f. f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet).
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
bestärkt Mygdonia in ihrem Widerstehen⁵⁵⁹ und wird deshalb ins Gefängnis geworfen,⁵⁶⁰ Mygdonia aber lehnt weiterhin den Verkehr mit ihrem Mann ab.⁵⁶¹ Thomas wird vor den König geführt und gibt ihm gegenüber zu, dass er tatsächlich ein exklusives Askeseideal predigt und Heiligkeit und Reinheit als Bedingung für das ewige Leben verkündet.⁵⁶² Als sich schließlich auch noch die Frau des Königs dem Apostel und der von ihm geforderten Enthaltsamkeit verschreibt⁵⁶³ und ihren Mann davon überzeugen möchte, Gleiches zu tun,⁵⁶⁴ befiehlt der König die Hinrichtung des Thomas.⁵⁶⁵ Aber selbst nach der öffentlichen Hinrichtung⁵⁶⁶ erscheint Thomas seinen Anhängern, um sie in der Beibehaltung ihrer enthaltsamen Lebensform zu bestärken.⁵⁶⁷
II.1.6.2 Auswertung Die Thomasakten vertreten ein explizit und im strengen Sinn exklusives Jungfräulichkeitsideal und fordern die Abkehr von Ehe, Geschlechtsverkehr und Kinderzeugung. Sie begründen ihre Forderung nach Jungfräulichkeit bzw. (falls jemand schon Geschlechtsverkehr vollzogen haben sollte) Enthaltsamkeit zum einen protologisch – als einzige Möglichkeit des Menschen, seine ursprüngliche und damit gottgewollte Natur wiederzuerlangen – und zum anderen vom Gedanken der Heiligkeit bzw. Reinheit her: Wer zum christlichen Glauben gekommen ist, hat von diesem Zeitpunkt an die Pflicht, seinen Leib rein und von den als schädlich verstandenen Einflüssen der Welt unbefleckt zu bewahren. Der jungfräuliche Lebenswandel ist dabei nicht einfach eine Option unter verschiedenen legitimen Lebensformen oder eine bloße Privatmeinung des Apostels Thomas, sondern wird in der Polymorphieszene (vgl. ActThom 11f.) durch Christus selbst als die eigentliche christliche Lebensform bestätigt. Im Gegensatz zur irdischen Ehe ist die Verbindung mit Christus rein und von ewiger Dauer und stellt die für den Menschen eigentlich vorgesehene Lebensweise dar. Neben der sexuellen Askese werden wiederholt die Fastenpraktiken des Apostels beschrieben. Er verzichtet fast vollständig auf Nahrung und fastet sogar
Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom f. (AAA ,, / Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, f. Bonnet). Vgl. ActThom (AAA ,, / Bonnet).
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am Sonntag, dem Tag der Auferstehung des Herrn, an dem nach großkirchlichem Brauch nicht gefastet werden darf.⁵⁶⁸ Dieser Brauch ist sowohl für die Eustathianer als auch für die Priszillianer belegt und darf neben dem exklusiven Jungfräulichkeitsideal als ein Grund dafür gelten, dass die Thomasakten vor ihrer Rezeption in der Großkirche einem Überarbeitungsprozess unterworfen wurden.⁵⁶⁹
II.1.7 Fazit Die Apokryphen Apostelakten richten den Fokus ihrer Darstellungen auf die Enthaltsamkeit, die aus ihrer Sicht der eigentliche Kern der christlichen Botschaft ist und häufig protologisch begründet wird.⁵⁷⁰ Die Theklaakten bringen dies prägnant zum Ausdruck, wenn sie berichten, dass Paulus „das Wort Gottes von der Enthaltsamkeit und der Auferstehung“⁵⁷¹ verkündet – hier entspricht die Reihenfolge Enthaltsamkeit – Auferstehung der theologischen Schwerpunktsetzung der Apostelakten. Im Zeitraum ihrer Entstehung, der zweiten Hälfte des 2. und dem Beginn des 3. Jhs., wird angesichts des zunehmenden Abstands zur apostolischen Zeit in verschiedenen Bereichen des kirchlichen Lebens die Frage virulent, auf welche Weise sich entscheidende Fragen autoritativ lösen lassen.⁵⁷² So borgen sich auch die Apostelakten die Autorität und das Beispiel der Apostel, um einen enthaltsamen Lebensstil in der damaligen Gegenwart als die eigentliche christliche Lebensweise zu präsentieren. Zwar werden Enthaltsamkeit bzw. Jungfräulichkeit mit Ausnahme der Thomasakten nicht expressis verbis als exklusiv-christliche Lebensform eingefordert, aber doch als deutlich höherwertiger im Vergleich zur Ehe bewertet, die, vor allem wegen des in ihr vollzogenen Geschlechtsverkehrs, mit teils deutlichen Worten kritisiert wird.⁵⁷³ In der Konsequenz einer solchen Ablehnung der Ehe liegt letztlich das exklusive Jungfräulichkeitsideal, das an der Wende vom 2. zum 3. Jh. aber zumindest in der Großkirche – wohl vor allem wegen des assoziativ mit ihm verbundenen Verdachts der Heterodoxie – nicht im größeren Rahmen Fuß fassen kann. In jedem Fall begegnen im 4. Jh. teils ähnliche Tendenzen, die innerhalb der
Vgl. Arbesmann, Fasttage f. Vgl. Klauck, Apostelakten f. Vgl. dazu insgesamt Sfameni Gasparro, Enkrateia / sowie Dies., Image und Bianchi, Tradition. ActThecl (AAA , f. Lipsius). Vgl. etwa für die Frage der Amtstheologie die Konzeption der Apostolischen Sukzession des Irenäus von Lyon, die ebenfalls am Ende des . Jhs. entsteht. Dazu Merkt, Problem. Vgl. zum Enkratismus der Apostelakten insgesamt Tissot, Encratisme.
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
Großkirche durch die Betonung der prinzipiellen Legitimität der Ehe entschärft, bei radikalasketischen Gruppierungen hingegen mit allen ihnen innewohnenden (auch soziologischen) Folgen sichtbar werden. Die Sonderstellung der Thomasakten, die als einzige der alten Apostelakten dezidiert ein exklusives Jungfräulichkeitsideal propagieren, ist sicher auch mit ihren stark ausgeprägten dualisierenden Tendenzen und ihrer Nähe zu manichäischen Strömungen zu erklären.⁵⁷⁴ Dass es bei ihnen sowie mindestens im Fall der Johannes- und der Andreasakten eine großkirchliche Redaktion gegeben hat, weist eindeutig auf das Gefährdungspotential hin, das zeitgenössisch in ihrem extremen Enthaltsamkeitsideal gesehen wurde und bei den Gruppierungen des 4. Jhs. zur Entfaltung kam.⁵⁷⁵
II.2 Montanisten II.2.1 Einleitung Die aus dem kleinasiatischen Phrygien⁵⁷⁶ stammende, nach ihrem Gründer Montanus benannte Bewegung der Montanisten⁵⁷⁷ begegnet zum ersten Mal in der 2. Hälfte des 2. Jhs.⁵⁷⁸ Entscheidet man sich zwischen den abweichenden Datierungen bei Epiphanius⁵⁷⁹ und Eusebius⁵⁸⁰ mit Barnes⁵⁸¹ u. a.⁵⁸² für den Bericht des Eusebius, ist der Beginn des öffentlichen Wirkens des Montanus um 170 anzusetzen. Die stark prophetisch bzw. ekstatisch⁵⁸³ beeinflusste Gruppe und ihr Gründer standen vor allem wegen des Anspruchs in heftiger Kritik, Montanus und die zwei
Vgl. Bousset, Manichäisches. Markschies, Apokryphen, weist darauf hin, dass später apokryph gewordene Schriften während bestimmter Perioden ihrer Rezeption Ausdruck mehrheitskirchlicher (!) Frömmigkeit waren, insofern also nicht von vornherein unter dem Vorzeichen ihrer späteren Marginalisierung gelesen werden dürfen. Vgl. zur exakten geographischen Einordnung besonders der Anfänge der montanistischen Bewegung Strobel, Land sowie Markschies, Pepuza. Vgl. noch immer maßgebend Labriolle, Crise. Vgl. zur Datierung des erstmaligen Auftretens des Montanus Barnes, Chronology. Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Eus. h.e. ,, (GCS N.F. ,, Schwartz / Mommsen) sowie Hieron. chron. zum Jahre (GCS , Helm). Vgl. Barnes, Chronology passim. Vgl. Baumeister, Bewegung / sowie Markschies, Montanismus f. Vgl. Trevett, Montanism /.
II.2 Montanisten
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ihn begleitenden Prophetinnen Maximilla und Priscilla seien der im Johannesevangelium verheißene Paraklet bzw. sprächen in seinem Namen und mit seiner Vollmacht.⁵⁸⁴ Aber auch die asketischen Tendenzen der Gruppierung sorgten bereits sehr früh für heftigen Widerspruch: Zunächst durch den um 207 selbst Anhänger des Montanismus gewordenen Tertullian und später durch die bereits genannten Eusebius und Epiphanius. Angesichts der Tatsache, dass es auch im 4. und selbst im 5. Jh. noch aktive montanistische Gemeinden in beiden Teilen des Reiches gegeben hat,⁵⁸⁵ ist besonders danach zu fragen, welche Radikalität der montanistischen Askese zukommt – einerseits in der Frühzeit, andererseits im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit, dem 4. Jh.
II.2.2 Quellenbefund Der älteste und in vielerlei Hinsicht wichtigste Zeuge für die Bewegung des Montanismus zumindest in Nordafrika ist der Schriftsteller Tertullian. Er lebt zur Zeit der zweiten Generation⁵⁸⁶ des Montanismus in Karthago, wendet sich diesem um das Jahr 207 herum zu und bekämpft nun die Großkirche mit einiger Vehemenz.⁵⁸⁷ Hatte Tertullian in seiner großkirchlichen Phase etwa noch die Zweitehe unter der Bedingung für erlaubt erklärt, dass der Ehepartner Christ sein müsse,⁵⁸⁸ so lehrt er in der später entstandenen Schrift de monogamia die Legitimität nur einer einzigen Ehe, welcher die falschen Praktiken der Großkirche (Legitimität der Zweitehe) und der Häretiker (völliges Verbot der Ehe) gegenüberstünden.⁵⁸⁹ An anderer Stelle⁵⁹⁰ fordert er die Verschleierung bereits sehr junger Mädchen im Gottesdienst, damit diese keinen Anlass zu sexueller Erregung geben – eine deutliche Verschärfung im Vergleich zur großkirchlichen Praxis.⁵⁹¹ Schließlich ist auch die rigorosere Fastenpraxis kennzeichnend für Tertullians montanistische
Vgl. Ehrhard, Kirche f. Vgl. Markschies, Montanismus . Siehe dazu unten f. Vgl. zur Frage, „welchen“ Montanismus Tertullian kennenlernte, Powell, Tertullianists f. Vgl. Tert. uxor. , (SC , Munier). Vgl. Tert. monog. , (SC , Mattei). Vgl. Tert. virg. vel. ,. ,/ (CCL , . f. Dekkers). Vgl. Schöllgen, Tempus .
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
Phase: Das in der Großkirche in das Ermessen des Einzelnen gestellte Stationsfasten ordnet er als für alle verbindlich an.⁵⁹² Anhand dieser drei montanistischen Zeugnisse Tertullians vom Anfang des 3. Jhs. lässt sich zwar eine verhältnismäßig strenge, sicherlich asketisch motivierte Haltung in Bezug auf Ehe, Sexualität und Nahrungsaufnahme ableiten; von einem im strengen Sinn exklusiven Askeseideal ist diese Position aber weit entfernt. Die Nähe des Montanismus zu radikalasketischem Gedankengut ist vor allem durch den kurzen Bericht des Eusebius in seiner zwischen 290 und 325 verfassten Kirchengeschichte hervorgerufen worden. Darin zitiert er den Antimontanisten Apollonius und dessen Urteil über die sogenannte Neue Prophetie⁵⁹³ des Montanus, der laut dieser Einschätzung die Auflösung der Ehen fordert und Fastenvorschriften erlässt.⁵⁹⁴ Die beiden montanistischen Prophetinnen, so Apollonius weiter, seien entgegen der Behauptung der Neuen Prophetie keine Jungfrauen, sondern hätten sofort ihre Männer verlassen, als der Geist sie erfüllte.⁵⁹⁵ Epiphanius widmet den Montanisten, die er auch als Phrygier, Quintillianisten, Pepuzianer, Artotyriten oder Priszillianer bezeichnet,⁵⁹⁶ zwei Kapitel seines in den 370er-Jahren entstandenen Panarion und ordnet sie dort als Nachfolger der Enkratiten⁵⁹⁷ ein.⁵⁹⁸ Er sieht in den Montanisten u. a. die vom Apostel Paulus angekündigten Sekten (vgl. 1 Tim 4,3) verwirklicht, die die Ehe verbieten und die Enthaltung von bestimmten Nahrungsmitteln vorschreiben.⁵⁹⁹ Dies täten sie allerdings nicht aus Tugendhaftigkeit (ἀρετή), sondern weil sie Teile der göttlichen Schöpfung verabscheuten.⁶⁰⁰ Die katholische Kirche ehre Jungfräulichkeit, enthaltsames (einsames) Leben und Reinheit und empfehle die Witwenschaft, akzeptiere aber eine rechtmäßig eingegangene Ehe; sie verbiete Unzucht, Ehebruch und Unkeuschheit.⁶⁰¹ Gerade weil Christus um die menschliche Schwäche wisse, erfreue er sich umso mehr an denen, die ein Leben in Jungfräulichkeit, Reinheit
Vgl. Tert. ieiun. , (CCL , Reifferscheid / Wissowa); vgl. auch Baumeister, Bewegung f. So vermutlich die Selbstbezeichnung der Bewegung, vgl. Eus. h.e. ,, (GCS N.F. ,, Schwartz / Mommsen) sowie Markschies, Montanismus . Vgl. Eus. h.e. ,, (GCS N.F. ,, Schwartz / Mommsen). Vgl. Eus. h.e. ,, (GCS N.F. ,, Schwartz / Mommsen). Vgl. Epiph. haer. ,,. ,, (GCS , . Holl / Dummer). Siehe dazu unten /. Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,,f. (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer).
II.2 Montanisten
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und Enthaltsamkeit führten.⁶⁰² Er ehre zwar die einmalige Ehe,⁶⁰³ habe aber das Priestertum für jungfräulich Lebende bzw. für enthaltsam lebende Verheiratete vorgesehen.⁶⁰⁴ Für einen Schwachen sei auch die Zweitehe nicht verboten, insofern er kein Priester sei;⁶⁰⁵ die Großkirche rate zwar allen, auf die Zweitehe zu verzichten, übe in dieser Frage jedoch keinen Zwang aus.⁶⁰⁶ Die Montanisten verböten demgegenüber die Ehe und schlössen jeden aus, der eine zweite Ehe eingehe.⁶⁰⁷ Zudem benutzten die Montanisten bei ihren Eucharistiefeiern keinen Wein, sondern nur Brot und Käse, woher sich auch ihr Beiname Artotyriten herleite.⁶⁰⁸
II.2.3 Fazit Die Einordnung der montanistischen Bewegung in den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist nicht völlig eindeutig vorzunehmen. Der älteste Zeuge Tertullian, der zudem zeitweise mit dem Montanismus sympathisiert, berichtet von asketischen Praktiken, die im Vergleich mit der zeitgenössischen mehrheitskirchlichen Disziplin zwar rigoroser, aber keinesfalls als exklusiv-asketisch zu beurteilen sind. Erst die späteren Zeugen Eusebius und Epiphanius sprechen im Zusammenhang mit dem Montanismus von einem absoluten Verbot der Ehe, dies allerdings jeweils mit explizitem Bezug auf das „Gründungstrio“⁶⁰⁹. Wie ist dies zu erklären? Die enge Verbindung zwischen Jungfräulichkeit bzw. Enthaltsamkeit und Prophetie ist altkirchlich gut belegt, so dass der Vorwurf der Eheauflösung mindestens in Bezug auf Maximilla und Priscilla keine Ketzerpolemik des Eusebius darstellen muss.⁶¹⁰ Ob der frühe Montanismus aber tatsächlich die Aufhebung aller Ehen fordert, ist demgegenüber eine schwerer zu beantwortende Frage. Wollen Eusebius bzw. Apollonius den Montanismus dadurch diskreditieren, dass
Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , f. Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). Vgl. zu den in der Frühzeit nicht zwangsläufig häretischen, im . Jh. aber teils heftig bekämpften Artotyriten insgesamt Schwegraf, Käse f. Markschies, Montanismus . So die Behauptung von Jensen, Töchter ; vgl. dagegen Schöllgen, Jungfräulichkeit f. (mit Belegen) und Markschies, Montanismus .
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
sie die im Fall der beiden Prophetinnen für damalige Ohren durchaus plausible (weil für Geistträgerinnen angemessene⁶¹¹) Auflösung der Ehe auf eine umfassendere Ablehnung der Ehe als Institution durch den Montanismus insgesamt ausweiten? Angesichts der Entwicklung des Montanismus von einer enthusiastischen und radikalen Bewegung hin zu einer stärkeren Hierarchisierung⁶¹² ist eine andere Erklärung als wahrscheinlicher anzunehmen: Der Montanismus der frühen Zeit ist deutlich stärker von asketischem Radikalismus geprägt, der durchaus auch die Forderung nach einer Auflösung aller Ehen und ein noch radikaleres Fasten umfasst haben kann, als es Tertullian ca. 35 Jahre nach dem ersten Auftreten des Montanus beschreibt. Dass die angestrebte Auflösung allen Ehen gilt, somit Verheiratete vom Heil ausschließt und der früheste Montanismus also ein exklusives Enthaltsamkeitsideal propagiert, das später abgeschwächt wird, ist damit durchaus plausibel.⁶¹³ Deshalb ist auch mit Blick auf die noch im 4. Jh. existierenden montanistischen Gemeinden nicht anzunehmen, dass sie ein exklusives Jungfräulichkeitsideal vertreten; insofern sind die Montanisten des 4. Jhs. als weniger radikale Nachfahren des exklusiv-asketischen Frühmontanismus am Ende des 2. Jhs. zu verstehen.
II.3 Aquarier II.3.1 Einleitung Wie bereits bei der Untersuchung der Apokryphen Apostelakten deutlich wurde, begegnet in den einschlägigen Quellen neben der augenscheinlich populärsten Askeseform, der Sexualaskese, immer wieder auch der Verzicht auf andere Tätigkeiten sowie die Enthaltung von bestimmten Nahrungsmitteln. Dabei findet in den meisten Fällen keine Beschränkung auf nur eine asketische Disziplin statt: Die gleichzeitige Praktizierung etwa von Sexualaskese und verschiedenen Formen der Nahrungsaskese ist – bereits vor dem 4. Jh.⁶¹⁴ und dann auch im 4. Jh.⁶¹⁵ – durchaus üblich. Im Folgenden wird deshalb mit den Aquariern ein Beispiel für eine Form asketischen Lebens vorgestellt, die vorwiegend über ihre speziellen eucharistischen Praktiken definiert ist.
Vgl. Schöllgen, Jungfräulichkeit /. . Vgl. Markschies, Montanismus . So auch Ehrhard, Kirche und im Anschluss an ihn Baumeister, Bewegung . Siehe oben zu den Thomasakten /. Siehe unten zu den Eustathianern /. /.
II.3 Aquarier
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Bei den Aquarii handelt es sich nicht um eine räumlich oder zeitlich genau eingrenzbare Gruppierung, sondern als Aquarii wird von Filastrius von Brescia die Gesamtheit derjenigen Christen bezeichnet, die bei der Eucharistiefeier neben dem Brot keinen Wein, sondern lediglich Wasser benutzt.⁶¹⁶ Unter diesen Sammelbegriff können demnach Einzelpersonen und Gruppierungen aus verschiedenen Epochen und Regionen subsumiert werden. Diese werden je nach ihrem zeitlichen Auftreten nicht zwingend als häretisch ausgeschlossen, da in der Frage der Verwendung der eucharistischen Gaben innerhalb der Großkirche bis weit ins 3. Jh. hinein kein Konsens besteht, der zur Verurteilung einer anderweitigen Praxis führte.⁶¹⁷ Solche Aquarier sind für das 4. Jh. von Epiphanius und Filastrius bezeugt. Um das Phänomen der häretischen Aquarier und ihre mehrfache, wenn auch mit der Ausnahme Cyprians jeweils nur sehr kurze Bezeugung für den Zeitraum des 2. und 3. Jhs. im Rahmen dieser Arbeit zu würdigen, sollen sie – wenn sie auch nicht eo ipso exklusiv-asketisch sind – doch als eine Art Vorläufer zu den Entwicklungen des 4. Jhs. Erwähnung finden.⁶¹⁸
II.3.2 Quellenbefund Filastrius gibt, von seiner Definition der Aquarii als „Wasserdarbringer“ abgesehen, keinen Hinweis auf eine zeitlich oder räumlich näher bestimmbare Gruppe;⁶¹⁹ er gilt zudem, wenn er als einziger Zeuge herangezogen wird, als nicht besonders zuverlässig.⁶²⁰ Epiphanius belegt neben den noch ausführlicher zu behandelnden Apostolikern und Enkratiten noch zwei weitere Gruppen als zu den Aquariern gehörig: Ebioniten und Marcioniten. Die judenchristliche Gruppierung der Ebioniten⁶²¹ wird von Epiphanius in seinem Panarion scharf kritisiert. Sie feierten die Eucharistie mit ungesäuertem Brot und nur mit Wasser;⁶²² ein Vorwurf, der bereits von Irenäus erhoben wird.⁶²³
Vgl. Filastr. haer. (CCL , Heylen). Vgl. Gentz, Aquarii (mit Belegen). Der zu den Aquariern zählenden Bewegung der Apostoliker sowie Tatian und den Enkratiten sind im weiteren Verlauf der Arbeit eigene Kapitel gewidmet, siehe unten /. /. Vgl. Filastr. haer. (CCL , Heylen). Vgl. Dümler, Filastrius. Vgl. Strecker, Ebioniten sowie Stemberger, Judenchristen. Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl). Vgl. Iren. haer. ,, (SC , Rousseau). Vgl. auch Strecker, Ebioniten .
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
Auch wenn Epiphanius ausführlich schildert, dass er mit einem ehemaligen Ebioniten über die Praktiken der judenchristlichen Gruppe gesprochen hat,⁶²⁴ dürfte ihre Verbreitung im 4. Jh. bereits relativ gering und nicht mehr mit ihrer Präsenz im 2. und 3. Jh. vergleichbar sein.⁶²⁵ Die Anhänger Markions⁶²⁶ können nicht nur in puncto Weinverzicht bei der Eucharistiefeier als Vorläufer radikaler Asketen des 4. Jhs. gelten: Neben der ausschließlichen Verwendung von Wasser bei der Eucharistie wirft Epiphanius Markion und seinen Anhängern das Sonntagsfasten sowie die Forderung nach einem ehelosen Leben vor.⁶²⁷ Die ausführlichste Bekämpfung des Brauchs, die Eucharistiefeier nur mit Wasser zu begehen, findet sich im 63. Brief (ca. 253/4) des karthagischen Bischofs Cyprian, der an Bischof Cäcilius von Biltha gerichtet ist. Ausdrücklich bezeichnet Cyprian die Praxis der Aquarier als Irrtum (error ⁶²⁸), die der Einsetzung Jesu widerspreche.⁶²⁹ Noah,⁶³⁰ Melchisedek,⁶³¹ Salomon⁶³² und andere alttestamentliche Gestalten⁶³³ wiesen mit ihren Worten und Taten, zu denen auch die Opferung bzw. der Konsum von Wein zählt, bereits auf das Opfer Christi voraus. Während das im Kelch dargebrachte Wasser für die Taufe stehe, symbolisiere der Wein das Blut Christi, ohne das das Opfer nach Christi eigenen Worten nicht rechtmäßig gefeiert werden könne.⁶³⁴ Auch Paulus bestätige diese Tradition der Mischung von Wein und Wasser, weshalb Cyprian nachdrücklich vor einer abweichenden Praxis warnt:⁶³⁵ Wer aus Wein Wasser mache, begebe sich in unmittelbaren Gegensatz zu Christus, der auf der Hochzeit zu Kana doch gerade Wasser in Wein verwandelt habe.⁶³⁶ In der Vermischung von Wein und Wasser im eucharistischen Kelch sei zudem die Verbindung Christi mit seinem Volk dargestellt; daher dürfe weder
Vgl. Epiph. haer. , (GCS , f. Holl). Vgl. zu den Zeugnissen der Kirchenväter über judenchristliche Gruppen Stemberger, Judenchristen /. Vgl. insgesamt Aland, Marcion /. Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , f. Holl / Dummer). Vgl. zur Ablehnung der Ehe bei den Markioniten auch Tert. adv. marc. ,, (SC , Braun). Cypr. ep. ,, (CCL C, Diercks). Vgl. Cypr. ep. ,f. (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, f. Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, Diercks). Vgl. Cypr. ep. ,/ (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, f. Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, f. Diercks).
II.3 Aquarier
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allein Wasser noch lediglich Wein dargebracht werden, da die eschatologische Verbindung Christi und der Kirche sonst nicht zustande komme.⁶³⁷ Im konkreten Fall der Aquarier fehle somit Christus bei der Wandlung, dem es aber doch gerade nachzufolgen gelte.⁶³⁸ Auch die bei einigen Aquariern offenbar verbreitete Praxis, unter Berufung auf den Zeitpunkt des Abendmahles Christi mit seinen Aposteln eine morgendliche Eucharistiefeier ohne Wein und eine abendliche Eucharistiefeier mit Wein zu feiern, lehnt Cyprian strikt ab, da sie dem Willen Christi zuwiderlaufe.⁶³⁹ Wer sich dieser Anweisung widersetze, begehe Ehebruch (adulterium ⁶⁴⁰) und schände das Wort Gottes.⁶⁴¹ Dass es auch am Ende des 4. Jhs. noch Aquarier gibt, belegt eine Notiz in einer Predigt des Johannes Chrysostomus, der von einer noch sehr präsenten Irrlehre spricht und vor ihr warnt: Christus habe bei seiner Erscheinung nach der Auferstehung Wein getrunken und bei der Einsetzung des Abendmahls (vgl. Mt 26,29) explizit vom Weinstock gesprochen, um die Praxis der Aquarier auszurotten.⁶⁴²
II.3.3 Fazit Unter die Bezeichnung Aquarier wird keine exakt einzugrenzende Gruppierung, sondern eine bestimmte Form der eucharistischen Praxis gefasst. Die Feier der Eucharistie ohne Wein ist dabei zunächst nicht an sich verboten, da nach dem überwiegenden Zeugnis christlicher Schrifsteller vor allem die Darbringung des Brotes als konstitutives Element betont wird.⁶⁴³ Bereits von Irenäus und spätestens zur Zeit Cyprians auch in Nordafrika wird die aquarische Praxis großkirchlicherseits jedoch scharf bekämpft. Sie begegnet im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit bei dem in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. schreibenden Epiphanius als Merkmal häretischer Gruppierungen, das von ihm als falsch verstandene Askese bekämpft wird. Während Cyprian in der Mitte des 3. Jhs. seine antiaquarische Position noch dadurch stützen kann, dass er die Trunkenheit Noahs als positiv
Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. ,f. (CCL C, / Diercks). Vgl. Cypr. ep. ,f. (CCL C, f. Diercks). Cypr. ep. , (CCL C, Diercks). Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, / Diercks). Vgl. Joh. Chrys. hom. in Mt. , (PG , ). Vgl. etwa Tert. praescript. , (SC , Refoulé / De Labriolle); vgl. zum Versuch der Rekonstruktion einer „Urgestalt“ der christlichen Eucharistie sowie zur Verwendung von Wasser, Wein und Brot mit Belegen Lietzmann, Messe /.
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II. Prolog / Die Vorgeschichte
wertet, da der von ihm konsumierte Wein auf das Leiden Christi vorausweise,⁶⁴⁴ ist eine solche Argumentation bei Epiphanius undenkbar: Seine im Mainstream der Avantgarde des 4. Jhs. liegende, auch an anderen Stellen seines Panarions ⁶⁴⁵ zu beobachtende prinzipielle Hochschätzung der Askese verbietet eine derartige Begründung. Aus seiner Sicht ist die Vermeidung von Wein bei der Wandlung zwar auch verurteilenswert, wird allerdings an keiner Stelle mit einer grundsätzlichen Legitimität des Weinkonsums oder sogar der Trunkenheit begründet. Epiphanius sieht den eucharistischen Weinverzicht offensichtlich primär als Merkmal der disziplinären Abweichung einer dissidenten Gruppierung.Weingenuss im Kontext der Eucharistiefeier ist von ihm demnach akzeptiert und sogar gefordert, besitzt abseits der gottesdienstlichen Verwendung aber keine Berechtigung.
Vgl. Cypr. ep. , (CCL C, f. Diercks). Vgl. etwa seine Bewertung der Askese des Einsiedlers Hierakas, siehe dazu unten . f.
III. Die Eustathianer III.1 Vorbemerkungen Verhältnismäßig günstig ist die Quellensituation für die im nördlichen Kleinasien bezeugte, nach ihrem Gründer benannte Gruppierung der Eustathianer. Sie finden mit ihren radikalasketischen Praktiken offenbar derartig starken Zulauf, dass sie großkirchlichen Widerspruch hervorrufen und sich eine Synode eigens mit ihnen und dem von ihnen propagierten exklusiven Jungfräulichkeitsideal beschäftigen muss: In Gangra versammeln sich kleinasiatische Bischöfe, um Bestimmungen über den Umgang mit den Hyperasketen zu fassen. Um das Phänomen der eustathianischen Radikalaskese möglichst umfassend zu untersuchen, soll im Folgenden in drei Schritten vorgegangen werden: Zunächst werden, so weit es die Quellenlage zulässt, biographische Notizen zu Eustathius von Sebaste gesammelt, insofern sie für die Frage nach dem Urheber der asketischen Praxis der Eustathianer relevant sind. In einem zweiten Schritt wird versucht, eine möglichst präzise Datierung des Konzils von Gangra zu bieten. Drittens sollen die Synodaldokumente von Gangra einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden, um die eustathianische Hyperaskese und ihre kirchliche Verurteilung so konkret wie möglich zu beleuchten; diese Analyse ist der eigentliche Nukleus der gesamten Arbeit.
III.2 Eustathius von Sebaste Unter dem Namen des Eustathius von Sebaste sind keine Schriften überliefert, weder asketische noch (trinitäts‐)theologische.⁶⁴⁶ Informationen über das Leben des Eustathius lassen sich hauptsächlich aus zwei Quellen gewinnen: dem Briefcorpus des Basilius von Caesarea⁶⁴⁷ sowie den Acta verschiedener Konzilien,⁶⁴⁸ an denen Eustathius teilgenommen hat. Letztere
Diese Auffassung wird von keinem Forscher ernsthaft bestritten, vgl. etwa Gribomont, Eustathe le Philosophe ; Hauschild, Eustathius . Allerdings wird diskutiert, inwieweit er zu basilianischen Schriften beigetragen haben könnte; so vermutet etwa Hauschild, Pneumatomachen /, dass die dem Basilius zugeschriebenen libri duo de baptismo eine pseudo-basilianische Schrift sein könnten, da sie in hohem Maße vermeintlich eustathianisches Gedankengut beinhalten. Vgl. auch Ders., Basilius . Das Briefcorpus ist editiert bei Courtonne, Lettres; eine kommentierte deutsche Übersetzung findet sich in der dreibändigen Ausgabe von Hauschild, Briefe. Diese sind bei Jurgens, Eustathius / detailliert aufgeführt.
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III. Die Eustathianer
beziehen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem auf die kirchenpolitische, näherhin die mit dem „Arianismus“ sowie dem sogenannten Arianischen Streit und seinen Folgen einhergehende Rolle des Eustathius.⁶⁴⁹ Außerdem finden sich biographische Hinweise über Eustathius bei den Kirchenhistorikern Sozomenus und Socrates. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll vor allem die (radikal‐)asketische Praxis des Eustathius und seiner Anhänger untersucht werden. Der Name von Eustathius’ Vater lautet Eulalius,⁶⁵⁰ und auch er war Bischof; es ist allerdings unklar, welchem Sitz er zuzuordnen ist: Socrates⁶⁵¹ und Sozomenus⁶⁵² lozieren ihn in Kappadokien. Tillemont⁶⁵³ konnte jedoch nachweisen, dass unter den Bischöfen von Caesarea in der betroffenen Zeit keiner mit dem Namen Eulalius zu finden ist. Von fast allen Autoren wird seitdem angenommen, dass Eulalius Bischof von Sebaste war.⁶⁵⁴ Sein Sohn Eustathius wäre somit der Herkunft nach (Klein‐)Armenier.⁶⁵⁵ Über die Kindheit des Eustathius gibt es nur wenige Informationen, aber zahlreiche Mutmaßungen. Zwischenzeitlich wurde von Tillemont unter Bezugnahme auf ep. 244,1 angenommen, dass Eustathius und Basilius von Caesarea sich von Kindesalter an kannten und eng miteinander befreundet waren.⁶⁵⁶ Dies ist aufgrund des deutlichen Altersunterschiedes aber unmöglich: Basilius wurde um 329 geboren und stand zu Beginn in einem schülerähnlichen Verhältnis zu Eustathius,⁶⁵⁷ so dass höchstens eine Begegnung im Kindesalter des Basilius gemeint
Im Verlauf dieser Arbeit soll nur sehr vereinfacht zwischen „Nizänern“ und solchen, die das Nizänum ablehnen, unterschieden werden; besonders der problematische, oft polemisch und nicht präzise verwendete Begriff „Arianer“ soll dadurch vermieden werden. Zu den Ausdifferenzierungen innerhalb der nicht-nizänischen Kirchenparteien und den in ihnen bestehenden theologischen Unterschieden vgl. Löhr, Entstehung. Vertiefend zur weiteren Entwicklung innerhalb der homöischen Partei vgl. Brennecke, Studien. Zu den dogmatischen Streitigkeiten zwischen Eustathius und Basilius vgl. außerdem Mongelli, Eustazio. So übereinstimmend Soz. h.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen) und Socr. h.e. ,, (GCS N.F. , Hansen). H.e. ,, (GCS N.F. , Hansen). H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Tillemont, Mémoires . Vgl. etwa Jurgens, Eustathius f.; Hauschild, Eustathius ; Loofs, Chronologie . Vgl. aber die Notiz bei Basil. ep. , (, Courtonne), der die Begegnung mit Hermogenes von Caesarea als Rückkehr εἰς τὴν ἑαυτοῦ (in seine Heimat) bezeichnet. Damit wäre Eustathius gebürtiger Kappadokier. Vgl. zum Geburtsort auch Jurgens, Eustathius . Tillemont, Mémoires . Vgl. Basil. ep. (,/ Courtonne) und neben vielen anderen van Dam, Families f.; anders Kardong, der in seinen beiden Beiträgen Basilius’ ältere Schwester Macrina als Haupteinfluss vermutet.
III.2 Eustathius von Sebaste
85
sein könnte.⁶⁵⁸ Einer Notiz bei Epiphanius zufolge hatte Eustathius einen Schulkameraden namens Aerius, der ihm in seiner späteren Bischofszeit als Presbyter unterstand.⁶⁵⁹ Zudem wurde vielfach unter Berufung auf ep. 263,3 des Basilius und ein Rundschreiben des Bischofs Athanasius von Alexandrien an die Bischöfe von Ägypten und Libyen behauptet, dass Eustathius in seiner Jugend bzw. im jungen Erwachsenenalter ein Schüler des Arius gewesen sei;⁶⁶⁰ diese Behauptung konnte Hauschild jedoch überzeugend widerlegen.⁶⁶¹ Welche Art von Ausbildung Eustathius genossen hat, bleibt ebenfalls fraglich; Sozomenus hält lediglich fest, er sei in der Redekunst nicht geübt gewesen, d. h. er habe kein Rhetorikstudium absolviert.⁶⁶² Als erstes biographisches Faktum bleibt festzuhalten, dass Eustathius den Versuch unternimmt, in Antiochien ein kirchliches Amt zu erlangen, hierbei aber vom damaligen (gleichnamigen) Bischof Eustathius zurückgewiesen wird.⁶⁶³ Eustathius von Sebaste ist, wie später bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich werden wird, kein Nizäner. Zwar stimmt er dem Symbolum von Nizäa 325 zunächst zu, jedoch hält dieser Sinneswandel nicht lange an und er unterzeichnet letztlich verschiedene nicht-nizänische Symbola. Eustathius von Antiochien hingegen ist ausgewiesener Nizäner,⁶⁶⁴ und vor dem Hintergrund dieser Konstellation ist wohl die Ablehnung des Gesuches zu verstehen. Wichtig für die Festlegung eines möglichen Geburtsdatums des Eustathius von Sebaste ist nun, dass Eustathius von Antiochien von Ende 324 oder Anfang 325⁶⁶⁵ bis zum wohl durch seinen antiarianischen Kampf begründeten Sturz um 330 Bischof in Antiochien ist und die Anfrage also aus dieser Zeit stammen muss. Legt man als vorgeschriebene Untergrenze für die Ordination zum Presbyter den Beschluss aus cn. 11 des Konzils von Neocaesarea zu Grunde⁶⁶⁶ und nimmt an, dass dieser, selbst wenn er nicht überall strikt eingehalten wird, dennoch als
Van Dam, Families , vermutet eine Gleichaltrigkeit von Eustathius und Basilius‘ Vater. Vgl. Epiph. haer. ,, (GCS , Holl / Dummer). So u. a. Loofs, Chronologie f.; Jurgens, Eustathius f.; Gribomont, Eustathe de Sébaste ; Tensek, Ascetismo im Anschluss an Basil. ep. , und Athan. ep. Aeg. Lib. , (AW ,,, Hansen / Savvidis). Hauschild, Pneumatomachen f. mit Anm. . H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Dies schildert Athanasius, h.Ar. , (AW ,, Opitz). Vgl. Fuhrer, Eustathius; Jurgens, Eustathius nennt ihn „a devoted follower of Nicea“; laut Theodt. h.e. ,, (GCS N.F. , Hansen), hatte er sogar den Vorsitz des Nizänums inne. Dies ist zwar historisch nicht haltbar, deutet aber auf die überzeugt nizänische Grundeinstellung des Eustathius von Antiochien hin. So die Angabe bei Fuhrer, Eustathius . Beneševič.
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III. Die Eustathianer
sachliche Norm gelten kann, so lässt sich unter der plausiblen Annahme, dass die Zurückweisung des Eustathius durch den Bischof von Antiochien theologische und nicht kirchenrechtliche Gründe (also ein zu geringes Alter) hatte, das Alter des Eustathius zur Zeit des Gesuchs auf etwa 30 Jahre bestimmen.⁶⁶⁷ Demzufolge ist Eustathius um 300 geboren worden.⁶⁶⁸ In der bereits erwähnten ep. 263,3 zeichnet Basilius eine Kurzbiographie des Eustathius. Demnach wird Eustathius schließlich von Bischof Hermogenes von Caesarea ordiniert (wahrscheinlich zum Presbyter).⁶⁶⁹ Hermogenes ist einer der profiliertesten Nizäner⁶⁷⁰ und weiht, Basilius zufolge, Eustathius nur deshalb, weil dieser ihm ein „Bekenntnis des gesunden Glaubens“⁶⁷¹ in schriftlicher Form überreicht hat (der basilianischen Polemik gegen Eustathius zufolge hält diese „Bekehrung“ allerdings nicht lange). Hermogenes ist bis ca. 340 Bischof von Caesarea, so dass die Ordination des Eustathius in die Zeit vor 340 fallen muss. Unmittelbar⁶⁷² nach dem Tod des Hermogenes wird er bei Bischof Eusebius von Konstantinopel (vormals von Nikomedien)⁶⁷³ vorstellig, um in dessen Sprengel aufgenommen zu werden.⁶⁷⁴ Dass sowohl Basilius⁶⁷⁵ als auch Sozomenus⁶⁷⁶ Eusebius bereits nach Konstantinopel verorten, ist insofern von Belang, als Eustathius somit nach 338/9 (Datum der Einsetzung des Eusebius als Bischof von Konstantinopel) zu ihm gestoßen sein muss. Ebenso finden sich bei Basilius⁶⁷⁷ und Sozomenus⁶⁷⁸ Anmerkungen, dass Eustathius von Eusebius wieder abgesetzt wurde. Da Eusebius ebenfalls kein Anhänger des Nizänums ist und gegen Antiarianer vorgeht,⁶⁷⁹ sind Konflikte zwischen den beiden in dieser Hinsicht eher unwahrscheinlich; so berichtet auch Sozomenus nur unkonkret, dass er „wegen
So auch Jurgens, Eustathius f. . Diese Auffassung kann als Konsens unter den Kommentatoren gelten; vgl. Hauschild, Eustathius ; Gribomont, Eustathe de Sébaste ; Jurgens, Eustathius . Vgl. zu Hermogenes auch epp. . , (,/ Courtonne. ,f. Courtonne). Vgl. dazu Hauschild, Briefe , (Anm. ). Ep. , (,f. Courtonne). Basil. ep. , (, Courtonne) liest „[…] πρὸς τὸν ἐπὶ τῆς Κωνσταντινουπόλεως Εὐσέβιον ἔδραμεν […]“, was von Migne (PG , ) mit „statim […] accurit“ übersetzt ist. Zu Eusebius vgl. Böhm, Eusebius. Die Vermutung von Hauschild, Eustathius , nach der Eustathius wegen Streitigkeiten in Bezug auf seine Askese von Caesarea nach Konstantinopel gegangen ist, bleibt vom Autor unbegründet und scheint unplausibel. Ep. , (,f. Courtonne). H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Ep. , (,f. Courtonne). H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Vgl. Böhm, Eusebius, .
III.2 Eustathius von Sebaste
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bestimmter Aufgaben, mit denen er betraut war“ (ἐτὶ διοικήσεσί τισιν αἵς ἐπετράπη καταγνωσθείς⁶⁸⁰) abgesetzt worden sei. Irgendwann während seiner Zeit als Presbyter sei Eustathius von seinem eigenen Vater verurteilt und ausgeschlossen worden, schreibt Sozomenus.⁶⁸¹ Später habe ihn, so Sozomenus weiter, eine Synode in Neocaesarea exkommuniziert.⁶⁸² Eustathius wird von Sozomenus⁶⁸³ als Begründer der Mönchsphilosophie (μοναχικῆς φιλοσοφίας⁶⁸⁴) in Armenien, Pontus und Paphlagonien bezeichnet und findet neben Basilius und seiner Familie⁶⁸⁵ zahlreiche weitere Anhänger. Diese Asketen leben mit solcher Konsequenz, dass ihre radikale Sichtweise zu Konflikten mit dem Gemeindechristentum der damaligen Zeit führt und die Gruppe um Eustathius schließlich auf der Synode von Gangra verurteilt wird. Ob Eustathius selbst oder nur seine noch radikaleren Anhänger verurteilt werden, ist eine viel diskutierte Frage, die bereits bei Sozomenus aufgeworfen⁶⁸⁶ und durch die Formulierung τῶν περί Ευστάθιον aus dem Synodalbrief ausgelöst wird.⁶⁸⁷ Angesichts der weiteren klerikalen Laufbahn des Eustathius spricht vieles dafür, dass in Gangra nicht er, sondern seine Anhänger verurteilt werden; Eustathius selbst ist also in diesem Sinne kein Eustathianer. Denn trotz vielfältiger Konflikte mit der Kirche als Institution bleibt Eustathius innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft und wird so einer der prominentesten uns bekannten Asketen im Bischofsamt: Legt man die Historia Arianorum des Athanasius zugrunde, die auf 356/7 datiert wird, so wird Eustathius kurz vor ihrer Abfassung Bischof von Sebaste (νῦν ἐν Σεβαστείᾳ⁶⁸⁸).
H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Ebd. Jurgens, Eustathius f.vertritt die These, dass es sich bei dieser Verurteilung um die des Konzils von Gangra gehandelt habe und identifiziert den im Synodalbrief erwähnten Eulalius mit Eulalius von Sebaste. Socrates und Sozomenus erwähnen das Konzil von Gangra jedoch jeweils gesondert von der Verurteilung durch den Vater. Ebd. Zur fraglichen Zeit lässt sich jedoch keine Synode von Neocaesarea unter den – allerdings spärlich überlieferten – synodalen Quellen ausmachen. Die bereits erwähnte Synode von Neocaesarea fand zu früh statt, um hier gemeint sein zu können. H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Vgl. zur Terminologie Bardy, Philosophie. Ebd., , wird betont, dass „Philosophie“ in den Stromateis des Clemens von Alexandrien nicht einfach eine Lehre, „mais une manière de vivre“ sei. Dies lässt sich analog auf Eustathius und seine Gefolgschaft anwenden. Vgl. auch Hadot, Philosophie / sowie Fredouille, Lebensform f. Vgl. ep. (,/ Courtonne) und besonders ep. (,/ Courtonne). H.e. ,,f. (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Beneševič. H.Ar. , (AW ,, Opitz).
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III. Die Eustathianer
Für diese Datierung spricht auch die Bemerkung des Basilius in ep. 263,3, nach der Eustathius kurz nach seiner Ernennung zum Bischof das homöusianische Konzil von Ankyra vom Jahre 358 besucht.⁶⁸⁹ Bezüglich des Todeszeitpunkts des Eustathius lassen sich, ähnlich wie über den seiner Geburt, nur Vermutungen anstellen. Eine der wichtigsten Informationsquellen über Eustathius ist, wie bereits erwähnt, das Briefcorpus Basilius’ des Großen, der ein langjähriger Freund und Weggefährte des Eustathius ist.⁶⁹⁰ Im „an die Okzidentalen“ gerichteten Brief Nr. 263, der sich auf den Herbst 375⁶⁹¹ oder den Sommer 377⁶⁹² datieren lässt, spricht Basilius von Eustathius im Präsens als einem „von denen, die uns große Trauer bereiten“⁶⁹³ und der „jetzt“⁶⁹⁴ Anführer der Pneumatomachen, also derjenigen Gruppierung innerhalb der Kirche, die die Gottheit des Heiligen Geistes ablehnt, sei. Da dies die letzte Notiz über Eustathius im Briefcorpus des Basilius ist, lässt sich das Abfassungsdatum von ep. 263 als Terminus post quem des Todes des Eustathius festhalten. Als Terminus ante quem ist das Konzil von Konstantinopel 381 heranzuziehen. Hier erscheint Eustathius nicht mehr in der von Kaiser Theodosius geladenen Delegation der Pneumatomachen,⁶⁹⁵ was angesichts der soeben geschilderten Bemerkung des Basilius sicherlich nur durch eine schwere Krankheit oder eben seinen Tod zu erklären ist. Für die letztgenannte Vermutung sprechen in eindeutiger Weise die Belege in der Kirchengeschichte des Theodoret, der Petrus, den Bruder des Basilius, als Teilnehmer des Konzils aufführt,⁶⁹⁶ und vor allem im gleichnamigen Werk des Nicephorus Callistus, der Petrus als Bischof von Sebaste erwähnt.⁶⁹⁷ Petrus scheint also zumindest ein, vielleicht sogar der direkte Nachfolger des Eustathius auf dem Bischofsstuhl von Sebaste zu sein. Hieraus lässt sich der Terminus ante quem des Todes des Eustathius präzisieren: Basilius erwähnt in keinem seiner Briefe die Tatsache, dass sein Bruder Bischof in Sebaste sei. Dies legt nahe, dass Petrus erst nach dem Tod des Basilius’ am 1. Januar 379 zu diesem Amt kommt.⁶⁹⁸ Der Todeszeitpunkt des Eustathius ließe sich demnach auf die Zeit zwischen 379 und 381
Vgl. Hefele, Histoire, I,,. Vgl. zu dieser Thematik grundlegend Loofs, Chronologie sowie zum engen Verhältnis der beiden Gribomont, Voyages. So Hauschild, Briefe III, in Anm. . So neben vielen anderen Jurgens, Eustathius ; Loofs, Chronologie . ; Gribomont, Eustathe de Sébaste ; Fedwick, Chronology . Basil. ep. , (, Courtonne). Ep. , (, Courtonne). Vgl. zur Delegation der Pneumatomachen kurz Hefele, Histoire, II,,. Theodt. h.e. ,, (GCS N.F. , f. Hansen). Nic. Call. h.e. , (PG , ). Vgl. Jurgens, Eustathius .
III.3 Zur Datierung des Konzils von Gangra
89
eingrenzen. Während das Konzil von Konstantinopel als zuverlässiges Datum gelten kann, hängt der Terminus post quem von der Datierung der Basilius-Briefe ab. Wie allerdings Eustathius, der anderen zum Vorbild des asketischen Lebens wird, selbst mit der Askese als populärer Lebensform in Berührung gekommen ist, lässt sich aus den uns überlieferten Quellen bedauerlicherweise nicht erheben: Lernt er sie bereits im familiären Umfeld kennen, wie es von zahlreichen anderen Anhängern dieses Ideals bekannt ist? Wird er, wie sein Schüler Basilius,⁶⁹⁹ auf asketischen „Bildungsreisen“ etwa in Ägypten oder Syrien mit diesem Ideal vertraut gemacht? Diese für die Entstehung und Ausprägung der radikalen Askese zumindest in Kleinasien virulente Frage bleibt offen. Es scheint zumindest wahrscheinlich, dass er nicht der erste Asket im nördlichen Kleinasien war, sondern dass die asketische Bewegung in Eustathius ihren „Wortführer“⁷⁰⁰ erhält. Offensichtlich begeistert Eustathius zahlreiche Einzelpersonen und (wie im Fall des Basilius) ganze Familien von dieser Lebensweise und darf deshalb als charismatischer Propagandist des radikalen Jungfräulichkeitsideals gelten: Er beeindruckt durch sein ἦθος⁷⁰¹ und erlangt durch seine Lebensführung eine beträchtliche Überzeugungskraft.⁷⁰² Die von ihm auf diese Weise um sich gesammelte Anhängerschaft scheint jedenfalls keine geringen Ausmaße zu haben und sorgt über einen längeren Zeitraum mit ihrer Askese für Aufsehen und Unruhe in beachtlichen Teilen der christlichen Gemeinden des nördlichen Kleinasiens, so dass sich schließlich sogar ein Konzil der Problematik der radikalen Asketen und ihrer Praktiken annehmen muss. Auch wenn sich die Popularität des jungfräulichen bzw. asketischen Leitideals in Kleinasien bereits vor Eustathius und seinen Anhängern vermuten lässt, stellen die Eustathianer das früheste Zeugnis einer Radikalisierung dieses Ideals für diese Region dar und sind deshalb von großem Interesse für die vorliegende Untersuchung.
III.3 Zur Datierung des Konzils von Gangra Aus den gerade genannten Gründen ist auch die in der Forschungsliteratur stark umstrittene Datierung des Konzils von einiger Bedeutung: Je nach der zeitlichen Ansetzung der Synode von Gangra ist sie entweder (bei einer Frühdatierung) das
Vgl. Pauli, Basilius . Frank, Reform . Soz. h.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Vgl. Soz. h.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen).
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III. Die Eustathianer
einzige frühe Zeugnis für die kirchenrechtliche Auseinandersetzung mit radikalen Asketen in Kleinasien oder (bei einer Spätdatierung) der wichtigste von dann allerdings mehreren Belegen für die Bekämpfung derartiger Strömungen in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. Neben zahlreichen Veröffentlichungen, die der Frage der Datierung nur kurze Anmerkungen widmen, gibt es einige Untersuchungen, die sich der Thematik gesondert annehmen.⁷⁰³ Im Wesentlichen gibt es bezüglich der Datierung zwei Positionen: Die eine nimmt ein Datum um ca. 340/3 an,⁷⁰⁴ die andere favorisiert eine Datierung auf die Mitte oder das Ende der 350er-Jahre, z.T. sogar noch später in die 370er-Jahre.⁷⁰⁵ Die abweichenden Angaben basieren auf den widersprüchlichen Notizen bei Socrates⁷⁰⁶ und Sozomenus⁷⁰⁷, welche die Synode von Gangra jeweils unterschiedlich in eine offenbar chronologische Aufzählung von Ereignissen und Synoden einordnen, die Beschlüsse gegen Eustathius gefasst haben sollen. So hat nach der Chronologie bei Sozomenus die Synode von Gangra nach der Verurteilung des Eustathius durch Eusebius von Konstantinopel und vor einer nicht näher bezeichneten Synode in Antiochien und der Synode von Melitene 358 stattgefunden. Hieraus ergibt sich für die Synode von Gangra ein möglicher Datierungszeitraum zwischen ca. 341 und 358. Socrates hingegen platziert die Synode von Gangra in seiner Aufzählung nach der Synode von Konstantinopel 360. Aus diesen beiden Angaben lassen sich unterschiedliche Schlüsse ziehen: 1. Identifiziert man die bei Sozomenus erwähnte Synode von Antiochien mit der Enkänien-Synode von 341, so lassen sich 340 oder 341 als mögliche Daten für die Abhaltung festsetzen. 2. Nimmt man mit Loofs an, dass es sich bei besagter Synode um eine 344 in Antiochien stattgefundene handelt,⁷⁰⁸ eröffnet dies die Jahre 340/4 als möglichen Datierungsspielraum. 3. Hält man mit Barnes⁷⁰⁹ allerdings die Synode von Antiochien für die bei Sozomenus an anderer Stelle erwähnte Synode von 358,⁷¹⁰ weitet sich das Datierungsfenster auf die Jahre 340 bis 358 aus. Genannt seien hier Barnes, Date; Braun, Abhaltung; Jurgens, Date; Laniado, Note. So Braun, Abhaltung; Jurgens, Date; Laniado, Note; außerdem Loofs, Chronologie ; Gribomont, Monachisme au IVe siècle . So Barnes, Date; außerdem Zucchetti, Sinodo; Fedwick, Chronology mit Anm. und f. mit Anm. . H.e. ,,/ (GCS N.F. , Hansen). H.e. ,, (GCS N.F. , Bidez / Hansen). Vgl. Loofs, Eustathius von Sebaste . Vgl. Barnes, Date . H.e. ,,/ (GCS N.F. , Bidez / Hansen).
III.3 Zur Datierung des Konzils von Gangra
4.
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Eine Ansetzung der Synode von Gangra nach der Synode von Konstantinopel schließlich lässt als mögliche Daten die Jahre 360 bis zum Tod des Eustathius, also ca. 380, offen.
Diese gerade genannten verschiedenen Zeitfenster können durch die Hinzunahme anderer Hinweise nun auf unterschiedliche Weise näher eingegrenzt werden. Fedwick⁷¹¹ etwa hält eine Datierung in die 370er-Jahre aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit der Verurteilungen von Gangra mit einigen Texten aus dem auf diese Zeit zu datierenden Asketikon des Basilius für möglich und beruft sich dabei auf Gribomont, der das Konzil jedoch trotz der Ähnlichkeiten auf 341 datiert⁷¹² und die Parallelen mit dem Wirken radikaler Anhänger des Eustathius zur Zeit der Abfassung des Asketikons erklärt. Reynolds identifiziert den zu Beginn des Synodalbriefes genannten Bischof Eusebius mit Eusebius von Samosata und schlägt deshalb 372/3 als Datum vor.⁷¹³ Fast alle anderen Kommentatoren stützen sich bei ihren Datierungsversuchen allerdings auf die bei Sozomenus dargestellte Chronologie, so dass ein Datum zwischen 340 und 358 anzunehmen ist. Vielfach wurde versucht, die im Synodalbrief als Konzilsväter von Gangra erwähnten Bischöfe zu identifizieren, um hieraus Anhaltspunkte für eine mögliche Datierung zu gewinnen.⁷¹⁴ Hierbei wurden 3 der 13 Unterzeichner (Proairesios von Sinope, Philetos von Juliopolis und Bithynikos von Zela) mit auf dem Konzil von Serdica 343 anwesenden Bischöfen identifiziert und dies als Argument für eine Datierung kurz vor dem Konzil von Serdica herangezogen. Angesichts der nur schwer und z.T. gar nicht möglichen Eingrenzung der Amtszeiten der jeweiligen Bischöfe erweist sich dies jedoch als kein stichhaltiges Argument zur Klärung der Datierungsfrage.⁷¹⁵ Bereits Braun weist in seinem Aufsatz auf ein wichtiges Faktum hin, das einen Beitrag zur Beantwortung der Datierungsfrage liefern kann, Jurgens und Laniado folgen ihm später darin:⁷¹⁶ In der syrischen Version der Kanones von Gangra⁷¹⁷
Vgl. Fedwick, Chronology f. mit Anm. unter Bezugnahme auf Gribomont, Monachisme au IVe siècle. Vgl. Gribomont, Monachisme au IVe siècle . Vgl. Reynolds, Eusebius f. So z. B. Jurgens, Date f. Vgl. Barnes, Date . Vgl. Braun, Abhaltung ; Jurgens, Date /; Laniado, Note /. Vgl. zu den bibliographischen Angaben Laniado, Note .
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III. Die Eustathianer
befindet sich eine Datumsangabe, die allerdings umstritten ist und z.T. für sekundär gehalten wird.⁷¹⁸ Es handelt sich dabei um eine doppelte Datierung, die das Konzil von Gangra einerseits in das Konsulat von Placidus und Romulus und andererseits in das Jahr 390 nach der antiochenischen Caesarenära verortet. Das Konsulat von Placidus und Romulus lässt sich anhand überlieferter Dokumente genau und sicher bestimmen⁷¹⁹ und ist mit dem Jahr 343 unserer Zeitrechnung identisch. Das antiochenische Caesarenzeitalter beginnt entweder mit dem 1. September bzw. 1. Oktober des Jahres 48. v.Chr. (syrische Zählweise) oder 49 v.Chr. (griechische Zählweise).⁷²⁰ Das Jahr 390 entspricht also der syrischen Zählung nach dem Jahr 342/3 unserer Zeitrechnung und würde in Übereinstimmung mit der Amtszeit von Placidus und Romulus einen Zeitraum von Januar bis August bzw. September 343 für die Abhaltung des Konzils von Gangra ergeben. Der griechischen Zählweise nach hätte das Konzil von Gangra im Jahre 341/2 getagt.⁷²¹ Ob die Differenz zum Konsulatsjahr von Romulus und Placidus einer „négligence d’un copiste“⁷²² zuzuschreiben oder „the product of later guesswork“⁷²³ ist, bleibt offen. Trotz dieser Abweichung bietet die syrische Überlieferung ein starkes Argument für eine frühe Datierung des Konzils um 343. Wer, wie etwa Barnes, eine späte Datierung annimmt, muss zudem auch plausibilisieren, warum Eustathius in den Konzilsdokumenten entgegen der überwiegenden Praxis nicht als Bischof von Sebaste bezeichnet wird. Barnes geht in seiner Argumentation von der grundlegenden Annahme aus, es habe sich beim Konzil von Gangra um ein „local gathering of Paphlagonian bishops“⁷²⁴ gehandelt und sieht hierin auch den Grund dafür, dass die anwesenden Bischöfe Eustathius nicht namentlich verurteilt hätten: Dafür habe ihnen einfach die jurisdiktionelle Handhabe über den aus Armenien stammenden Eustathius gefehlt.⁷²⁵ Aus ebendiesem Grund hätten sie ihn auch nicht als Bischof bezeichnet. Dass die
Vgl. Barnes, Date . Vgl. die Auflistung der nach ihrer Herkunft systematisierten Belege aus Inschriften, Papyri und juristischen Texte bei Bagnall u. a., Consuls f. sowie die entsprechenden Angaben bei Jones / Martindale / Morris, Prosopography f. (zu Placidus) und (zu Romulus). Vgl. zur antiochenischen Caesarenära Grumel, Chronologie . Die Angaben bei Braun, Abhaltung , nach denen das Konzil nach griechischer Zählung / und nach syrischer Zählung / stattgefunden habe, beruhen ganz offensichtlich auf einem Rechenfehler Brauns. Laniado, Note . Barnes, Date . Barnes, Date . Vgl. ebd.
III.3 Zur Datierung des Konzils von Gangra
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Charakterisierung des Konzils von Gangra als eines regionalen Konzils keineswegs zwingend ist, soll noch gezeigt werden.⁷²⁶ Ob, von Größe und Einzugsgebiet des Konzils abgesehen, allein der Ärger der Konzilsväter über ihre mangelnde kirchenrechtliche Zugriffsmöglichkeit auf Eustathius bereits den Verzicht auf die Titulierung des Eustathius als Bischof rechtfertigt, erscheint äußerst fraglich. Etwas kurios wirkt auch Barnes’ damit zusammenhängende Annahme, die Konzilsväter des Konzils von Konstantinopel 360 hätten in einer absichtlichen Falschdarstellung („deliberate misrepresentation“⁷²⁷) behauptet, Eustathius sei in Gangra als Bischof abgesetzt worden.⁷²⁸ Seine abschließende Vermutung, die Bischofsversammlung von Gangra sei eins der vom Nizänum gewünschten halbjährlichen regionalen Konzilien gewesen,⁷²⁹ bleibt ebenso unbelegt wie unplausibel; die von den Eustathianern verursachte, verhältnismäßig große Unruhe und die Tatsache, dass zumindest die überlieferten Synodaldokumente sich ausschließlich mit ihnen beschäftigen, scheint eher auf ein nur diesem Anlass gewidmetes Konzil hinzudeuten.⁷³⁰ Eine Datierung um 342/3 wird zusätzlich durch die Ereignisse um den Presbyter Aerius plausibel.⁷³¹ Bei der Annahme dieser Datierung stellt das Konzil von Gangra ein frühes Zeugnis für ein exklusives Jungfräulichkeitsideal dar, das von einer relativ großen Zahl weiblicher und männlicher Asketen gelebt wird. Selbst wenn man annimmt, dass die Bischöfe der umliegenden Gemeinden sich sehr schnell zu einem Konzil zusammengefunden hätten, ist eine in derartiger Breite belegte Bewegung zu Beginn der 340er-Jahre bemerkenswert. Sollte sich die Entwicklung hin zu einer Radikalisierung und Vergrößerung der eustathianischen Gruppierung erst langsam vollzogen haben, liegen ihre Anfänge möglicherweise bereits in den 330er-Jahren und damit über 40 Jahre vor der Verurteilung Priszillians und seiner Anhänger in Saragossa, die eine vergleichbare Bewegung darstellen.⁷³² Wie sehen nun diese radikalasketischen Praktiken konkret aus? Weswegen wird die Einberufung eines Konzils notwendig, das ausschließlich dem Zweck der Verurteilung einer solchen Bewegung dient? Für die Bewegung der Eustathianer
Siehe unten /. Barnes, Date . Barnes, Date mit Bezug auf den entsprechenden Passus des Constantinopolitanums (Mansi, Bd. , D). Vgl. Barnes, Date . So auch Rubenson / Hornung, Mönchtum . Siehe unten f. Siehe unten /.
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III. Die Eustathianer
ist die Quellenlage außergewöhnlich günstig, so dass eine Analyse der überlieferten Synodaldokumente von Gangra Aufschluss zu geben verspricht.
III.4 Die Synodaldokumente und -beschlüsse Als Synodaldokument liegt uns das ursprünglich in griechischer Sprache verfasste synodale Beschlussprotokoll in Form eines Synodalbriefes vor.⁷³³ Es ist zudem in verschiedenen antiken Übersetzungen überliefert⁷³⁴ und lässt sich in das Präskript, den Prolog, 20 Kanones und den Epilog gliedern. Sieht man vom Präskript ab, lässt sich aus den drei Hauptelementen des Synodalbriefes ein umfassendes Bild der Eustathianer zeichnen. Nach einer kurzen Analyse des Präskripts sollen Prolog und Kanones zu den sich aus ihnen ergebenden thematischen Schwerpunkten zugeordnet und analysiert werden; bei diesen insgesamt vier Schwerpunkten, unter die sich sämtliche Inhalte vor allem des Prologs und der Kanones subsumieren lassen, handelt es sich um die Themenfelder „Ablehnung der Ehe“, „Ablehnung der Kirche und kirchlicher Versammlungen“, „Ablehnung der üblichen Fastenpraxis“ und „Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsordnung“. Diesen unterschiedlichen Vorwürfen liegt als Gemeinsamkeit der Hochmut zugrunde, mit dem die Eustathianer sie äußern bzw. leben. Der abschließend zu untersuchende Epilog bietet eine Interpretationshilfe, in der die Konzilsväter darlegen, wie ihre Ausführungen und Verurteilungen zu verstehen sind – und, vielleicht noch interessanter, wie eben nicht. Die einzelnen Abschnitte des Prologs bzw. Epilogs sowie die Kanones werden dabei, je nach ihrer Ergiebigkeit, entweder separat oder en bloc behandelt.
III.4.1 Das Präskript Κυρίοις τιμιωτάτοις ἐν ᾿Aρμενίᾳ συλλειτουργοῖς Πάππος, Εὐσέβιος, Εὐλάλιος, Αἰλιανός, Ὑπάτιος, Ὀλύμπιος, Προαιρέσιος, Βιθυνικός, Βάσσος, Γρηγόριος, Εὐγένιος, Φιλητός, Εὐγένιος ἄλλος, Βασίλειος, οἱ συνελθόντες εἰς τὴν κατὰ Γάγγραν ἁγίαν σύνοδον, ἐν κυρίῳ χαίρειν.⁷³⁵ Den ehrwürdigsten Herren, den Mitdienern in Armenien entbieten Pappos, Eusebios, Eulalios, Ailianos, Hypatios, Olympios, Prohairesios, Bithynikos, Bassos, Gregorios, Euge-
Vgl. / Beneševič. Lateinisch, syrisch, aramäisch u. a., vgl. Geerard, CPG , f. (Nr. f.). Beneševič.
III.4 Die Synodaldokumente und -beschlüsse
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nios, Philetos, der andere Eugenios und Basileios, die zur heiligen Synode in Gangra zusammengekommen sind, ihren Gruß im Herrn.
Das Präskript ist besonders für die Frage nach dem Teilnehmerkreis der Synode interessant, näherhin für die Frage nach der Möglichkeit einer Zuordnung der anwesenden Bischöfe zu ihren jeweiligen Bischofssitzen. Diese Zuordnung ist nicht mit Gewissheit möglich; es sind vielmehr verschiedene Varianten denkbar, die jeweils unterschiedliche Konsequenzen für Größe und Autorität des Konzils mit sich bringen: Handelt es sich um eine regionale oder eine überregionale Bischofsversammlung? Eng damit zusammen hängen auch Aussagen über die mögliche geographische Ausbreitung der Anhänger des Eustathius. Praktizieren diese ihre radikale Askese lediglich an einem einzelnen Ort? Sind sie in einer größeren Region verbreitet? Oder finden sich Eustathianer womöglich gar in verschiedenen und weit auseinander liegenden Teilen Kleinasiens? Versuche der Zuordnung der Konzilsteilnehmer zu ihren Bischofssitzen finden sich vor allem bei Barnes⁷³⁶ und Jurgens⁷³⁷. Sie stützen sich bei ihren Rekonstruktionsversuchen in erster Linie auf die Unterschriftenliste weiterer zeitgenössischer Synoden, die eine Zuweisung eines bestimmten Bischofs zu einem bestimmten Sitz zumindest wahrscheinlicher machen. Dass Barnes hierbei ausgerechnet die 343 abgehaltene Synode von Serdica als Orientierungspunkt wählt und damit eine Datierung des Konzils von Gangra auf 355 (!) plausiblisieren möchte,⁷³⁸ mag für sich sprechen; für eine Datierung des Konzils von Gangra auf 343, wie sie in der vorliegenden Arbeit vertreten wird, ist die Teilnehmerliste von Serdica in jedem Fall ein hilfreicher Anhaltspunkt. Mit den Hinweisen von Jurgens und Barnes sowie unter Rückgriff auf Destephens Prosopographie chrétienne du Bas-Empire. Prosopographie du Diocèse d’Asie (325 – 641) ⁷³⁹ lassen sich verschiedene mögliche Konstellationen entwerfen. Die im Folgenden dargestellte Zuordnung der Bischofssitze ist dabei eine Variante, deren hohe Plausibilität m. E. nur dann bestritten werden kann, wenn man, wie Barnes,⁷⁴⁰ bereits im Voraus – und ohne Quellenbeleg – von einer Charakterisierung der Synode von Gangra als Regionalkonzil ausgeht. Barnes’ These beruht im Wesentlichen auf der Verortung dreier Bischöfe, die ausweislich des Syn-
Vgl. Barnes, Date . Vgl. Jurgens, Date f. Vgl. Barnes, Date . Paris . Vgl. Barnes, Date .
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III. Die Eustathianer
odalbriefes von Serdica⁷⁴¹ auch am dortigen Konzil teilgenommen haben. Sie vermutet er in Sinope (Prohairesios), Zela (Bithynikos) und Juliopolis (Philetos); allesamt Gemeinden, die in relativer räumlicher Nähe zu Gangra entweder in Bithynien oder Diospontus liegen. Gegen diese Lozierung ist prinzipiell nichts einzuwenden, folgerte Barnes daraus nicht eine ähnliche geographische Einordnung auch für die übrigen Synodenteilnehmer. Hier liegt die eigentliche Schwäche seines Ansatzes, denn diese übrigen Bischöfe lassen sich, mit Ausnahme der scheinbar „ortlosen“ Episkopen Pappas, Hypatios, Olympios⁷⁴² und des „anderen Eugenios“, prinzipiell auch anderen Bischofssitzen zuordnen: Prohairesios: von Sinope in Pontus⁷⁴³ Basileios: von Kaunos in Lykien⁷⁴⁴ Eugenios: von Lisynia in Pamphylien⁷⁴⁵ Eusebios: von Dorylaion in Phrygien⁷⁴⁶ Gregorios: von Nazianz in Kappadozien⁷⁴⁷ Bassos: von Zeugma am Euphrat⁷⁴⁸ Eulalios: von Sebaste in Armenien⁷⁴⁹ Bithynikos: von Zela in Pontus⁷⁵⁰ Philetos: von Juliopolis in der Galatia Prima⁷⁵¹
Ob der bei der Textaugabe Benesěvičs erstgenannte Bischof Pappas den Vorsitz der Synode innehatte und mithin als Bischof von Gangra einzuordnen ist, lässt sich letztlich nicht nachweisen.⁷⁵² Vgl. CSEL , / Feder. Die Vermutung von Jurgens, Date , es handle sich um Olympios von Doliche, bleibt zwar ohne Beleg, weist aber ebenfalls in die Nähe des syrischen Zeugma. Vgl. Jurgens, Date ; Barnes, Date ; Conc. Sard., Nr. der anwesenden Bischöfe (CSEL , Feder). Vgl. Destephen, Prosopographie f. Vgl. Jurgens, Date ; Destephen, Prosopographie . Vgl. Destephen, Prosopographie . Vgl. Jurgens, Date ; es handelte sich dann um Gregor den Älteren. Vgl. Jurgens, Date . Vgl. Jurgens, Date ; Ders., Eustathius f.; Hauschild, Eustathius ; Loofs, Chronologie . Hierbei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den Vater des auf dem Konzil angeklagten Eustathius. Vgl. Jurgens, Date ; Barnes, Date ; Conc. Sard., Nr. der anwesenden Bischöfe (CSEL , Feder). Vgl. Jurgens, Date ; Barnes, Date ; Conc. Sard., Nr. der anwesenden Bischöfe (CSEL , Feder). Bei Mansi und Hefele-Leclercq wird Pappas nicht genannt; vgl. auch Jurgens, Date . Barnes, Date mit Anm. weist darauf hin, dass Ähnliches auch für Eusebius (Vorsitzender) oder Hypathius (Bischof von Gangra) denkbar wäre.
III.4 Die Synodaldokumente und -beschlüsse
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Warum Gangra als Versammlungsort gewählt wird, ist ebenfalls unklar. Das (spät‐) antike Gangra (Γάγγρα) ist die Hauptstadt der römischen Provinz Paphlagonien in der Diözese Pontus.⁷⁵³ Diese herausgehobene Verwaltungsfunktion allein wird schwerlich der Grund für die Abhaltung der Synode in Gangra sein, zumal eben auch eine Verbreitung der Eustathianer in anderen nicht unbedeutenden Provinzen und Städten als Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss. Naheliegend wäre es etwa gewesen, die Synode in Sebaste abzuhalten, dem Herkunftsort der Gründergestalt der zur Verurteilung anstehenden Radikalasketen und eines der Synodenteilnehmer, der zudem noch dessen Vater ist. Zieht man die Möglichkeit in Betracht, dass die Eustathianer in beträchtlichen Teilen Kleinasiens verbreitet sind, könnte Gangra den Status einer Art Hochburg („Epizentrum“) der eustathianischen Bewegung einnehmen; auch wegen seiner einigermaßen zentralen Lage ist die Auswahl Gangras als Abhaltungsort der Synode denkbar – wobei aus geographischer Sicht andere Orte (z. B. Ankyra) sogar noch geeigneter wären. Die Briefanschrift des Präskriptes, das an die „Mitbischöfe in Armenien“ adressiert ist, kann dabei in der Frage des Tagungsortes und der Ausbreitung der Eustathianer in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Entweder finden sich in Armenien und dessen Hauptstadt Sebaste bisher noch keine oder nur wenige Eustathianer – was angesichts der Tatsache, dass es sich hier um die Heimatstadt des Eustathius handelt, eher unwahrscheinlich ist. Der Synodalbrief und das Protokoll der Kanones wären dann als eine Art Vorwarnung vor einer weiteren Ausbreitung der Bewegung auch in diese Provinz zu verstehen und zugleich als kollegiale Information, dass bereits ein synodaler Beschluss gegen die Gruppierung der Eustathianer und die von ihnen vertretenen Lehren vorliegt. In dieser Hinsicht lässt sich auch der letzte Satz des Prologs interpretieren, der den Kanones von Gangra unmittelbar voransteht: „Und die Bischöfe werden in Bezug auf alles derartige, was bei ihnen gefunden wird, acht geben müssen.“⁷⁵⁴ Oder die Konzilsväter von Gangra schreiben nach Armenien, weil dort, eben in Sebaste, der Ursprung der Geschehnisse auszumachen ist, gegen die sie gemeinsam mit dem dortigen Bischof Eulalius auf der Synode vorgehen und über die sie alle armenischen Bischöfe informieren möchten.
Vgl. Schöllgen, Gangra ; zur Stadtgeschichte in christlicher Zeit vgl. ausführlich Janin / Stiernon, Gangres /. Beneševič.
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III. Die Eustathianer
Formal lässt sich das Präskript als eine Mischung aus der zweiteiligen orientalisch-jüdischen Form des Briefanfangs und der dreiteiligen griechischen Form charakterisieren.⁷⁵⁵
III.4.2 Der Prolog Im direkten Anschluss an die Briefanschrift erläutern die Konzilsväter von Gangra den Adressaten den Anlass ihrer Zusammenkunft und ihres Schreibens: Ἐπειδὴ συνελθοῦσα ἡ ἁγιωτάτη σύνοδος τῶν ἐπισκόπων ἐν τῇ κατὰ Γάγγραν ἐκκλησίᾳ διά τινας ἐκκλησιαστικὰς χρείας, ζητουμένων καὶ τῶν κατὰ Εὐστάθιον, ηὕρισκε πολλὰ ἀθέσμως γινόμενα ὑπὸ τούτων αὐτῶν τῶν περὶ Εὐστάθιον, ἀναγκαίως ὥρισεν καὶ πᾶσι φανερὸν ποιῆσαι ἐσπούδασεν εἰς ἀναίρεσιν τῶν ὑπ‘αὐτοῦ κακῶς γινομένων·⁷⁵⁶ Da die heiligste Synode der Bischöfe, die wegen gewisser kirchlicher Erfordernisse – untersucht wurden auch die Fragen in Bezug auf Eustathios – in der Kirche von Gangra zusammenkam, fand, dass vieles von ebenjenen Anhängern des Eustathios widerrechtlich getan worden war, fasste sie notwendigerweise Beschlüsse und beeilte sich, diese allen bekannt zu machen, um die von ihm (Eustathios) ausgehenden Ärgernisse zu beseitigen.
Sie finden sich, wie es bei Synoden übliche Praxis war,⁷⁵⁷ in der Kirche von Gangra zusammen, um dort über den Umgang mit Eustathius und seinen Anhängern zu beraten. Das Ziel ihrer Versammlung ist demnach ein Doppeltes: Sie wollen zum einen die von Eustathius ausgehenden Schwierigkeiten beseitigen. Da Eustathius als der Urheber dieser Ärgernisse ohne weitere Attribute (etwa eine Herkunftsbezeichnung oder ein möglicherweise von ihm bekleidetes Amt) genannt wird, ist er offensichtlich nicht nur den in Gangra versammelten Bischöfen bekannt, sondern auch von ihren armenischen Amtskollegen eindeutig zu identifizieren. Der inhaltlich sehr offen formulierte Einberufungsgrund „gewisser kirchlicher Erfordernisse“ wird in der Folge allerdings auf die zunächst nur als ein Thema unter mehreren genannte Auseinandersetzung mit Eustathius fokussiert, die ganz offensichtlich Lehre und Disziplin der Kirche betrifft und die Einberufung einer Synode erfordert. Die gegen ihn und seine Anhänger erhobenen Vorwürfe werden mit dem nicht näher bestimmten τῶν umschrieben und erfahren im weiteren Verlauf der Dokumente eine Konkretisierung. Diese widerrechtlichen Ärgernisse
Vgl. zur Gattungsfrage Klauck, Briefliteratur. Zum Synodalbrief vgl. knapp Weckwerth, Ablauf f. Beneševič. Vgl. etwa für das erste Konzil von Toledo () Weckwerth, Konzil mit Anm. , dort auch der Hinweis auf die vergleichbare Praxis des Konzils von Turin ().
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gehen, zumindest dem Wortlaut dieses Abschnittes nach, nur von den Anhängern des Eustathius aus, nicht von diesem selbst. Die genannten Umtriebe führen offenbar zu einer derart massiven Störung des Gemeindelebens und der sozialen Ordnung, dass umfassende und strenge Beschlüsse notwendig sind, um gegen sie vorzugehen. Welcher Art diese Verstöße sind, ob sich der Aspekt ihrer Illegalität also gegen rein kirchliche Vorschriften oder gegen geoffenbarte Inhalte richtet, wird an dieser Stelle noch nicht spezifiziert. Zum anderen wollen die Konzilsväter die von ihnen gefassten Beschlüsse allen bekannt machen – gemeint sind hier wohl in erster Linie die Bischöfe der von den Eustathianern bereits betroffenen Gemeinden, die sich in ihrem zukünftigen Verhalten nun an den Synodalbeschlüssen orientieren können. Aber auch für die noch nicht vor Ort mit den Eustathianern in Berührung gekommenen Bischöfe bieten die Kanones eine Richtschnur des Umgangs, falls es noch zu einem Kontakt kommen sollte. Die Aufgabe der Bischöfe ist dann einerseits der Schutz der ihnen anvertrauten Gläubigen vor dem Hochmut und der Ablehnung der Eustathianer bzw. schlimmstenfalls sogar einer „Kontamination“ mit dem eustathianischen Gedankengut und andererseits ein konsequentes Vorgehen gegen die Radikalasketen, um deren weitere Ausbreitung zu verhindern; konkret wird hierbei an ihren endgültigen Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft zu denken sein, den ja bereits die Synodaldokumente im Falle einer Zuwiderhandlung als Folge vorsehen.
III.4.3 Der erste Schwerpunkt: Hochmütige Ablehnung der Ehe καὶ γάρ ἐκ τοῦ καταμέμφεσθαι αὐτοὺς τὸν γάμον καὶ ὑποτίθεσθαι, ὅτι οὐδεὶς τῶν ἐν γάμῳ ὄντων ἐλπίδα παρὰ θεῷ ἔχει, πολλαὶ γθναῖκες ὕπανδροι ἀπατηθεῖσαι τῶν ἰδίων ἀνδρῶν ἀνεχώρησαν καὶ ἄνδρες τῶν ἰδίων γυναικῶν εἶ τα ἐν τῷ μεταξὺ μὴ δυνηθεῖσαι ἐνεγκεῖν ἐμοιχεύθησαν καὶ διὰ τὴν τοιαύτην ὑπόθεσιν ὠνειδίσθησαν·⁷⁵⁸ Denn aus ihrer Verurteilung der Ehe heraus und ihrer Behauptung, dass niemand, der verheiratet ist, Hoffnung bei Gott habe, wurden viele verheiratete Frauen fehlgeleitet und zogen sich von den eigenen Männern zurück und Männer von den eigenen Frauen; dann konnten sie diesen Zustand in der Zwischenzeit nicht ertragen und begingen Ehebruch und wegen ebendieses Vorfalls wurden sie geschmäht.
Bereits aus dem mit γὰρ konstruierten Anschluss an den vorhergehenden Satz ergibt sich die zentrale Bedeutung des nun folgenden Abschnitts: Die von Eustathius und seinen Anhängern ausgehenden Ärgernisse scheinen unmittelbar
f. Beneševič.
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III. Die Eustathianer
und vordringlich mit ihrer Verurteilung und Ablehnung der Institution der Ehe sowie ihrem abwertenden Verhalten einzelnen verheirateten Christen gegenüber zusammenzuhängen; auch der erste Kanon des Konzils widmet sich an prominenter Stelle der Verurteilung dieser Haltung. Was ist der Kern des Problems? Die Eustathianer lehnen die Institution der Ehe ab und sehen sie nicht als eine legitime, d. h. in diesem Fall zum Heil führende Lebensform an. Ihrem Heilsverständnis nach sind Verheiratete ipso facto vom ewigen Leben ausgeschlossen. Sie propagandieren dies offensiv und – angesichts der Tatsache, dass sich eine Synode mit ihnen beschäftigen muss – offensichtlich sehr erfolgreich, so dass sich nicht wenige Ehepartner (Männer wie Frauen), durch die eustathianische Predigt verunsichert, zunächst sexuell voneinander zurückziehen und schließlich trennen. Diesen Zustand der Trennung können sie „nicht ertragen“, also ihrer sexuellen Begierde nicht standhalten, und begehen Ehebruch. Anhand dieser offenbar nicht bloß einmalig geschehenen Übertretung kirchlicher Gebote lässt sich die Abgrenzung von Großkirche und Eustathianern besonders deutlich sichtbar machen: Aus der Sicht der Großkirche sind sowohl Ehe als auch Enthaltsamkeit bzw. lebenslange Jungfräulichkeit legitime Lebensformen, stehen also prinzipiell jedem Gemeindechrist und jeder Gemeindechristin zur freien Wahl. In den Augen der Eustathianer entscheiden sich Christen jedoch nur dann für die richtige Lebensform, wenn sie selbst enthaltsam leben, die Ehe ablehnen und, zumindest häufig, Verheiratete unter Spott für ihre derzeitige Lebensform von der exklusiven Heilsrelevanz der Enthaltsamkeit zu überzeugen suchen. Die Großkirche verurteilt den Ehebruch als eine schwere Sünde. Sie orientiert sich in dieser Frage an Paulus und rät zur Eheschließung, wenn Enthaltsamkeit nicht praktizierbar erscheint (vgl. 1 Kor 7,2. 5. 9). Die eustathianische Haltung ist demgegenüber auch hier durch eine grundsätzliche Ablehnung von Sexualität zu erklären, ihr ist also die völlige Verdammung der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Lebensformen immanent, wie sie die Großkirche lehrt. So sind die Gemeindechristen zwischen rivalisierenden Anschauungen gefangen: Von den Eustathianern werden sie verurteilt, wenn sie verheiratet sind und ihre jeweiligen Gatten nicht verlassen (eine Art geistliches und soziales Mobbing ist die Folge); von der Großkirche werden sie verurteilt, wenn sie dem Ruf der Eustathianer folgen (disziplinarisches Problem), und erst recht, wenn sie einem enthaltsamen Leben nicht gewachsen sind und Ehebruch begehen (sexualethisches Problem). Aus dieser ganz konkreten Notsituation heraus wird die Notwendigkeit einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit der eustathianischen Radikalaskese verständlich, die die Konzilsväter von Gangra zu leisten haben. Bedenkt man über diese Überlegungen hinaus, dass die Ehe nicht eine bloß theologische oder kirchenrechtliche Relevanz hat, sondern ja auch als die Keimzelle von Familie und Gesellschaft der zentrale Stützpfeiler der antiken Ge-
III.4 Die Synodaldokumente und -beschlüsse
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sellschaft in Bezug auf gegenseitige Ernährung, Erziehung (die Verantwortung der Eltern für ihre unselbständigen Kinder) und Altersvorsorge (die Verantwortung der Kinder für ihre alt gewordenen Eltern) ist, zeigt sich hier also ganz explizit auch die soziale Relevanz und Sprengkraft der Eustathianer und ihrer Askese. Noch ein weiterer Aspekt wird im Synodalbrief deutlich: καὶ ἐν οἴκοις γεγαμηκότων εὐχὰς ποιεῖσθαι μὴ βουλόμενοι καὶ γινομένων εὐχῶν καταφρονοῦντες καὶ πολλάκις προσφορῶν ἐν αὐταῖς ταῖς οἰκίαις τῶν γεγαμηκότων γινομένων μὴ μεταλαμβάνοντες·⁷⁵⁹ die in den Häusern von Verheirateten keine Gebete verrichten wollen und die (dort) verrichteten Gebete verachten und häufig nicht an den Darbringungen teilnehmen, die in ebenjenen Häusern von Verheirateten verrichtet werden;
Die vollkommene Ablehnung der Ehe durch die Eustathianer geht sogar so weit, dass sie nicht nur selbst nicht heiraten, sondern auch alle Verheirateten verachten und in ihren Häusern keine Gebete verrichten und an den dortigen Darbringungen häufig nicht teilnehmen wollen. In welche Richtung πολλάκις hier zu deuten ist, bleibt offen; es gibt mehrere Möglichkeiten: Wird ein Besuch von der „Disposition“ der anwesenden Kleriker abhängig gemacht, d. h. ehelose Vorsteher werden akzeptiert, wohingegen verheiratete abgelehnt werden? Die scharfe und grundsätzliche Ablehnung der Ehe, die sich ja auch auf die weiteren Gebetsteilnehmer erstrecken würde, lässt dies allerdings fraglich erscheinen; der unmittebar folgende Abschnitt ist jedoch für eine Deutung in diese Richtung offen. Offensichtlich besteht innerhalb der eustathianischen Bewegung eine Uneinheitlichkeit darüber, wie derartige Versammlungen in den Häusern von Verheirateten zu bewerten sind. Demnach würden eustathianische „Hardliner“ solche Darbringungen grundsätzlich ablehnen und nie aufsuchen, während eustathianische Mitläufer dies als unproblematisch ansähen. Dies korreliert auch mit der im Synodalbrief betonten Tatsache, dass unter den Eustathianern nach ihrer Abweichung vom kirchlichen Kanon keine einheitliche Position entstanden sei.⁷⁶⁰ Die radikaleren Eustathianer enthalten sich des Kontaktes mit verheirateten Mitgliedern der Großkirche und des Besuchs ihrer Häuser und liturgischen Versammlungen diesem Gedanken nach vollkommen; evtl. fürchten sie den Kontakt mit verheirateten Christen und warnen deshalb vor der Teilnahme an diesen Gebeten. Ob sie in einem allerdings eher neuzeitlich-kirchenrechtlichen Sinn solche Gebete und vor allem die Darbringung des eucharistischen Opfers gänzlich
f. Beneševič. Vgl. Beneševič.
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III. Die Eustathianer
für ungültig halten und ihnen deshalb teilweise fernbleiben, lässt sich den Synodaldokumenten nicht entnehmen. Jedenfalls ist auch hier wieder ein starker Akzent auf die Verachtung gelegt, mit der die Eustathianer den großkirchlichen Christen, Gemeinden und Praktiken gegenüberstehen. Sie lehnen das Verrichten von Gebeten im Rahmen großkirchlicher Veranstaltungen nicht einfach für sich selbst ab, sondern sehen es in einem umfassenderen Sinn als tadelnswert an und tun dies entsprechend kund, worauf auch die folgende Charakterisierung hinweist: καὶ πρεσβυτέρων γεγαμηκότων ὑπερφρονοῦντες, καὶ τῶν λειτουργιῶν τῶν ὑπ‘αὐτῶν γινομένων μὴ ἁπτόμενοι·⁷⁶¹ die verheiratete Presbyter verachten und nicht an den von ihnen gehaltenen Liturgien teilnehmen;⁷⁶²
Hier wird die Konsequenz der eustathianischen Askese für die Beurteilung verheirateter Presbyter und der von ihnen gefeierten liturgischen Versammlungen deutlich. Die Ablehnung der Ehe ist so stark, dass die Eustathianer die verheirateten großkirchlichen Presbyter nicht nur ablehnen, sondern sogar verachten und den von ihnen gehaltenen Liturgien fernbleiben. Ob der Skopus hierbei, analog etwa zu den Donatisten in Nordafrika, bei der persönlichen Würdigkeit des Presbyters liegt, die für eine gültige Spendung der Sakramente unabdingbar ist, wird nicht ausgeführt. Eher unwahrscheinlich ist, dass besonders radikale Reinheitsvorstellungen hinter der Ablehnung der Eustathianer stecken, dass sie also verheiratete Presbyter als durch Ehe und vor allem Geschlechtsverkehr befleckt und deshalb für den Vorsitz einer liturgischen Versammlung unwürdig und ungeeinigt ansehen; im gesamten weiteren Synodaldokument deutet nichts in diese Richtung. Bemerkenswerterweise ist im Text nur von verheirateten Presbytern die Rede, nicht aber von Bischöfen. Angesichts der eustathianischen Haltung ist es allerdings wahrscheinlich, dass die Bischöfe im Sinne eines quanto magisArguments erst recht in diese Argumentation miteinbezogen sind. Jedenfalls ist hier ein interessanter persönlicher Aspekt angedeutet, der im Epilog noch einmal deutlicher zutage tritt. Die meisten der in Gangra versammelten Bischöfe werden, wie im 4. Jh. durchgängig üblich und teils sogar angemahnt, verheiratet und Väter von Kindern sein; zumindest für den Konzilsvater Eulalius von Sebaste, den Vater des Eustathius, ist dies explizit belegt. Sie sind
Beneševič. Dieser im Synodalbrief formulierte Vorwurf an die Eustathianer ist zugleich ein früher Beleg für außerhalb von Bischofskirchen zelebrierte liturgische Feierlichkeiten, die offenkundig von Presbytern geleitet wurden.
III.4 Die Synodaldokumente und -beschlüsse
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also in ihrer eigenen Lebensführung von der eustathianischen Kritik betroffen, die ja letztlich nur die radikalisierte Fortführung des aufkommenden Leitideals des 4. Jhs. darstellt. Insofern könnte die eustathianische Kritik an verheirateten Klerikern, zumal Angehörigen des clerus maior, auf eine gewisse Sympathie auch bei sonst weniger radikal gesonnenen Gemeindechristen treffen, die dem Leitideal in seiner großkirchlichen Prägung anhängen. Bereits in cn. 1 wird die eustathianische Haltung zur Ehe verurteilt: 1 Εἴ τις τὸν γάμον μέμφοιτο καὶ τὴν καθεύδουσαν μετὰ τοῦ ἀνδρὸς αὐτῆς, οὗ σαν πιστὴν καὶ εὐλαβῆ, βδελύσσοιτο ἤ μέμφοιτο, ὡς ἄν μὴ δυναμένους εἰς βασιλείαν εἰσελθεῖν, ἀνάθεμα ἔστω.⁷⁶³ 1. Wenn jemand die Ehe für tadelnswert hält und eine gläubige und fromme Frau, die mit ihrem Mann schläft, verabscheut oder tadelt, als ob sie⁷⁶⁴ nicht in das Reich eingehen könnten, sei er ausgeschlossen.
Die Reihe der Kanones beginnt mit dem zentralen großkirchlichen Kritikpunkt an den Eustathianern. Zum einen kritisieren diese die Ehe und lehnen sie ab, eifern also als Gruppe dem Virginitätsideal nach. Dieses Ideal sehen sie jedoch nicht nur für sich selbst als erstrebenswert an, sondern wollen die Ablehnung der Ehe auch für andere verbindlich machen, was sich in ihrer Abscheu für alle Verheirateten ausdrückt; dies markiert den Unterschied zwischen einer asketischen und einer exklusiv- bzw. radikalasketischen Gruppierung. Βδελύσσομαι, das eine Haltung heftiger, beinahe körperlich spürbarer Abscheu ausdrückt, kommt in den Kanones insgesamt fünfmal vor und ist damit eines der Schlagworte, mit denen die eustathianische Haltung beschrieben wird: Sie lehnen die Ehe nicht einfach für sich persönlich als Lebensform ab, sondern erkennen ihre Legitimität grundsätzlich nicht an und stehen ihr insgesamt mit Verachtung gegenüber. Im Hintergrund dieser Position könnte zum einen die Tradition des frühchristlichen Wanderradikalismus stehen, der die Nachfolgelogien Jesu (hier exemplarisch Lk 14,26) wörtlich nimmt und dementsprechend familiäre Bindungen und somit auch die Ehe ablehnt.⁷⁶⁵ Diese wörtliche Interpretation der Nachfolgelogien greifen die Eustathianer auf und machen sie sich zu eigen, woraus ihre Ablehnung der Ehe zu erklären ist. Zum anderen ist hier an die auch großkirchlich breit rezipierte Auf-
Beneševič. Gemeint sind beide Eheleute. Vgl. zum Phänomen des Wanderradikalismus grundlegend Theißen, Wanderradikalismus; Ders., Soziologie, zur Familienlosigkeit besonders f.; Draper, Charismatics sowie den Überblick bei Stegemann, Jesus /. Vgl. zur patristischen Exegese von Lk , Jacobs, Exegesis.
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fassung des Paulus aus 1 Kor 7 zu denken,⁷⁶⁶ besonders an die Verse 25 – 38. Diese sind im Kontext einer akuten Naherwartung zu verstehen (siehe vor allem vv. 26. 29) und empfehlen nachdrücklich die ungeteilte Zuwendung zum Herrn.⁷⁶⁷ In solch einer Konzeption ist Ehe als ein Störfaktor zu verstehen, der diese ungeteilte Zuwendung beeinträchtigt und somit gegenüber einem jungfräulichen Leben als minderwertig anzusehen ist. Die eustathianische Auffassung knüpft hier an und radikalisiert diese Ansicht: Bezeichnet Paulus vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gnadengaben und Berufungen (v. 7b) die Ehe noch als richtig, die Jungfräulichkeit aber als besser, so lehnen die Eustathianer die Ehe nicht nur ab, sondern halten sie für tadelnswert und sprechen Verheirateten sogar die Möglichkeit ab, das ewige Heil zu erlangen. Die mit βδελύσσομαι ausgedrückte Abscheu der Eustathianer gegenüber der Ehe und gegenüber Verheirateten, mit der in Röm 2,22 die Abscheu der Christen vor heidnischen Götzenbildern beschrieben wird, kann vor diesem Hintergrund dem Charakter der Ehe als eines der Götzenverehrung vergleichbaren Heilshindernisses zugeschrieben werden. Zwar sind keinerlei exegetische oder anderweitige Schriften der Eustathianer überliefert, und auch das Konzil von Gangra nimmt nicht auf ihre Schriftauslegung Bezug. Aus der eustathianischen Praxis heraus lässt sich jedoch vor allem der Rekurs des Paulus, dass sich Verheiratete „um die Dinge der Welt“ (v. 33) sorgen und nicht den Herrn im Blick haben, als biblischer Hintergrund vermuten; zum anderen aber und vor allem ist cn. 1 die absolute Ablehnung des Geschlechtsverkehrs zu entnehmen, auf Grund derer die Eustathianer ein an 1 Kor 7,29b angelehntes Bild der Ehe vertreten: Neue Ehen werden nicht geschlossen, und solche, die es tun, werden verachtet. Wer aber bereits verheiratet ist, muss sich enthalten, wenn der Partner ebenfalls asketisch lebt; ist dies nicht der Fall, sollte man ihn verlassen, um das eigene Heil nicht zu gefährden (vgl. cn. 14). Wer bereits als Jungfrau lebt, wendet sich von den Dingen der Welt ab und lebt als sponsa Christi allein für Gott. Geschlechtliche Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit und die Ablehnung der Ehe sind nicht nur vor dem Hintergrund asketischer Bemühungen zu sehen, ihre Motivation liegt tiefer, was im Zusammenhang mit den weiteren Kanones, besonders cnn. 12f. 17, deutlich wird. Neben den angeführten Stellen aus dem Ersten
Dies legt die Notiz in den Mönchsregeln des Basilius nahe (vgl. LR, [PG , ]), die die Ehe unter Bezugnahme auf Kor zu jenen weltlichen Dingen zählt, die die Sammlung des Geistes und somit die Nähe zu Gott verhindern. Vgl. zu v. Merklein, Brief, der festhält, dass „die Parusie die Zeit nicht nur in ihrem Ablauf verkürzt, sondern auch in ihrer sachlichen Bedeutung intensiviert. Der Zeit-Lauf (>chronos