113 85 20MB
German Pages 361 Year 2016
Thomas Biller
Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum Ein Handbuch
I. Systematischer Teil
Philipp von Zabern
Soweit nicht anders angegeben, sind alle Abbildungen vom Autor.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Redaktion: Dirk Michel, Mannheim Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagbild: Rothenburg ob der Tauber, das „Spitaltor“. Foto © picture-alliance Satz: Melanie Jungels, scancomp GmbH, Wiesbaden TypoGraphik Anette Klinge, Gelnhausen Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-4975-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5030-3
Inhalt Vorwort
8
Einleitung Definition der mittelalterlichen Stadt im deutschen Raum Gestalt der mittelalterlichen Stadt im deutschen Raum Andere befestigte Siedlungstypen des Mittelalters „Die mittelalterliche Stadt als Festung“
11 11 12 14 17
1. Forschungsstand und Methodik
19
1.1. Probleme und Ziele der Stadtmauerforschung 1.2. Zur Literatur 1.3. Bauinschriften und Baunachrichten 1.4. Historische Schlüsse auf die Zeit der Befestigung 1.5. Abbildende Quellen 1.6. Archäologie und Historische Bauforschung
19 21 22 25 28 30
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
32
2.1. Vorbilder und Vorläufer
32
2.1.1. Spätrömische Befestigungen 2.1.2. Frühmittelalterliche Burgen 2.1.3. Domburgen 2.1.4. Frühformen von Städten 2.2. Befestigungen und Mauern vom 12. bis zum 16. Jahrhundert
32 33 36 39 40
2.2.1. Vorstufen der Mauer
40
41 43 47 51 54 56
2.2.1.1. Nutzung des Geländes 2.2.1.2. Wälle und Gräben 2.2.1.3. Befestigungen aus Holz 2.2.1.4. Dauer bis zum Mauerbau 2.2.1.5. Dauer und Förderung des Mauerbaues 2.2.1.6. Städte ohne Befestigung?
2.2.2. Stein als Baumaterial
57
58 60
2.2.2.1. Bruchstein und Feldstein 2.2.2.2. Quader und hammerrechte Quader
2.2.2.3. Buckelquader 2.2.2.4. Backstein
61 65
2.2.3. Die Hauptmauer
68
70 72 74 77 80 86
2.2.3.1. 2.2.3.2. 2.2.3.3. 2.2.3.4. 2.2.3.5. 2.2.3.6.
Maße der Hauptmauer Wälle mit Mauerfront Fundamentierung Wehrgang und Brustwehr Abstützung des Wehrgangs Mauergasse
2.2.4. Die Türme
2.2.4.1. Defensive Funktionen der Türme 2.2.4.2. Nichtdefensive Nutzungen der Türme 2.2.4.3. Turmlose und turmarme Mauern 2.2.4.4. Anordnung und Gruppierung 2.2.4.5. Quadratische und rechteckige Türme 2.2.4.6. Runde und halbrunde Türme 2.2.4.7. Weitere Turmformen 2.2.4.8. Entwicklung des Schalenturms 2.2.4.9. Öffnungen und Ornamentik 2.2.4.10. „Wahrzeichentürme“
91 91 98 101 105 112 115 122 128 131 142
2.2.5. Der Torturm
145
147 154 157 159 163 166 171 174 183 186
2.2.5.1. Der Baukörper 2.2.5.2. Das Torgewände 2.2.5.3. Die Durchfahrt 2.2.5.4. Das Fallgatter 2.2.5.5. Maueranschluss, Zugänge und Treppen 2.2.5.6. Funktionen der Obergeschosse 2.2.5.7. Fenster 2.2.5.8. Schmuck am Turmschaft 2.2.5.9. Die Dachform 2.2.5.10. Tortürme des 16. / 17. Jahrhunderts
2.2.6. Andere Torformen
2.2.6.1. Das Mauertor 2.2.6.2. Der Torbau 2.2.6.3. Der Turm neben dem Tor 2.2.6.4. Das Doppelturmtor 2.2.6.5. Weitere Torformen, Ausfallpforten und Wasserdurchlässe
191 191 194 198 202 208
2.2.7. Torzwinger
213
214 218 220
2.2.7.1. Das Vortor 2.2.7.2. Die Zugbrücke 2.2.7.3. Größere Torzwinger
2.2.8. Umlaufende Zwinger
225
226 229 230 233
2.2.8.1. 2.2.8.2. 2.2.8.2. 2.2.8.3.
Begriffsprobleme Anfänge Turmlose Zwinger Zwinger mit Streichwehren
2.2.9. Gräben, Wälle, Palisaden und Hecken 2.2.10. Weitere Bauten als Teile der Befestigung
238 244
244 251 254
2.2.11. Bauten im Zeitalter der Feuerwaffen
262
263 267 270 281 286 302 305
2.2.10.1. Burgen und andere Adelssitze 2.2.10.2. Sakralbauten 2.2.10.3. Brücken, Zollstellen, Mühlen, Häuser 2.2.11.1. Traditionelle Mauern im Artilleriezeitalter 2.2.11.2. Anfügung von Türmen und Erhöhung der Mauer 2.2.11.3. Entwicklung der Schießscharten 2.2.11.4. Barbakanen und Vorhöfe 2.2.11.5. Rondelle und andere Kanonentürme 2.2.11.6. Befestigte Außenwälle, Deckungswälle 2.2.11.7. Rondelle und Kanonenplattformen aus Erde
2.2.12. Landwehren und Warten
308
2.3. Das Ende der Stadtmauern
315
316 319 325
2.3.1. Bastionärer Ausbau und Akzise (17. / 18. Jahrhundert) 2.3.2. Abriss, Denkmalpflege und Ringstraßen (19. Jahrhundert) 2.3.3. Stadtmauern heute
3. Zur Organisation von Bau und Verteidigung 3.1. Organisation und Finanzierung des Baues 3.2. Instandhaltung und Verteidigung
4. Die Stadtmauer als Symbol
328 328 337
343
Zusammenfassung: Die Entwicklung der Stadtbefestigung im deutschen Raum
347
347 348 351
Anfänge und Probleme der Forschung Tortürme und Turmreihung (um 1200–1250) Die Blütezeit (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts und 14. Jahrhundert) Späte Ummauerungen und stilistische Neuerung – Ende des 14. Jahrhunderts und 15. Jahrhundert Das Aufkommen der Feuerwaffen (spätes 14. bis 16. Jahrhundert) Nachleben und Nachwirkung
354 355 357
O, Wandrer, hüte Dich! Es packt Dich wildes Schaudern, Mußt über Land Du gehn, Kaum bist Du aus den Mauern, so ist’s um Dich geschehn. Aus der Moritat vom Schinderhannes (um 1798–1803)
Vorwort Wie Kirchen, Klöster und Burgen gehören Stadtmauern zu jenem architektonischen Erbe des Mittelalters, das uns heute noch monumental vor Augen steht. Trotz enormer Verluste in den Jahrhunderten, seit die Stadtmauern ihre Funktionen eingebüßt haben – in Städten ist intensives Bauen, Umbauen und Abreißen der Normalzustand –, ist der Umfang des Erhaltenen im deutschen Sprach- und Kulturraum des Mittelalters noch immer überwältigend. Und obwohl die Stadt des industriellen Zeitalters sich gegen ihr Umland nicht mehr sichern muss und es auch gar nicht mehr könnte, scheint doch der moderne Mensch noch zu verstehen, in welcher Weise Tore und Mauern dem Schutz und der Selbstdarstellung der Bürger dienten. Allerdings läge man hier – wie auch in manch anderem Bereich der älteren Architekturgeschichte – durchaus falsch, wenn man aus dieser Popularität des Bautypus den Schluss zöge, dieser sei umfassend oder auch nur im Wesentlichen erforscht. Vielmehr zeigt die verfügbare Literatur in der Auseinandersetzung mit dem Thema eine bedauerliche Einseitigkeit. Sie beginnt damit, dass auch besonders Interessierten nur wenige gut erhaltene Mauern (Rothenburg ob der Tauber, Nürnberg …) oder auch Einzelbauten (Holstentor) bekannt sind, während die Fülle der oft gut erhaltenen Mauern um Kleinstädte kaum im Bewusstsein ist, obwohl sie mittelalterliche Verhältnisse im Grunde besser als die wenigen großen Zentren jener Epoche widerspiegelt. Darüber hinaus, wenn man sich dem Thema als Forscher zuwendet, gibt es zwar Hunderte von Aufsätzen und auch einige Bücher, die sich mit einzelnen Stadtmauern beschäftigen, aber über die Mehrzahl der Mauern ist unser Wissen trotzdem wenig detailliert und durchaus nicht immer 8 I. Systematischer Teil
wissenschaftlich gesichert. Noch folgenreicher ist dabei die Tatsache, dass nur in seltenen Ausnahmefällen versucht wurde, den Blick über eine einzelne Stadt hinaus auf andere Beispiele des Bautypus zu richten – damit nämlich blieben wichtige Fragen bisher weitgehend ausgespart. Nicht nur, ob sich die Stadtmauern einer Region ähnelten bzw. ob es Einflüsse bestimmter Mauern auf andere gegeben hat, ist bisher weitgehend unbehandelt, sondern letztlich die gesamte geschichtliche Dimension des Themas – ob in den Formen der Mauern historische Kräfte jedweder Art erkennbar werden, Charakteristika der mittelalterlichen Gesellschaft, Zusammenhänge und Entwicklungsrichtungen. In dieser Einseitigkeit spiegelt sich ganz offenbar, dass insbesondere Architektur- und Kunstgeschichte dem Thema bisher wenig Interesse entgegenbrachten. Stadtmauern werden offensichtlich fast durchweg als reine Funktionsbauten empfunden, die sich kaum nennenswert voneinander unterscheiden und letztlich immer dasselbe aussagen, dass nämlich die mittelalterliche Stadt eines sowohl praktischen als auch symbolhaften Schutzes bedurfte. Im Ergebnis blieb das Thema damit weitgehend der Heimatforschung überlassen, deren Ziele typischerweise an den einzelnen Ort gebunden sind. Dies war die Ausgangssituation, als ich vor Jahren mit großem Interesse, aber durchaus auch mit Problembewusstsein den Auftrag übernahm, eine Überblicksdarstellung der Stadtbefestigungen im deutschen Raum des Mittelalters zu schreiben. Ich befürchtete von vornherein, dass die Idee, man könne das Thema allein anhand der Literatur und der Besichtigung wichtiger Objekte umfassend darstellen, sich aufgrund des skizzierten Forschungsstandes als unrealistisch
erweisen würde, und das bewahrheitete sich nur allzu schnell. Ich stand daher vor der Wahl, mich entweder anhand einiger gut erforschter Fälle auf eine eher skizzenhafte Darstellung zu beschränken oder mir mit erwartbar sehr hohem Arbeitsaufwand einen eigenen Überblick über den erhaltenen oder mittelbar noch fassbaren Baubestand zu verschaffen. Das erste Modell hätte zu wenig mehr als einem bemüht kommentierten Bildband geführt, und ich entschied mich daher trotz des Aufwandes für die zweite Vorgehensweise. Zehn Jahre später hatte ich die wohl intensivsten Reisejahre meines Lebens hinter mir und in allen Teilen Mitteleuropas Orte besucht, deren Existenz mir vielfach bis dahin unbekannt war, und ich hatte immer wieder gezweifelt, ob die erheblichen Opfer an Zeit, Geld und Arbeit den Rahmen der Vernunft nicht längst gesprengt hatten. Nur ein hohes Maß an persönlicher und beruflicher Unabhängigkeit machten den Umfang der Reisen möglich, die in diesen Jahren nicht nur jeden Urlaub „geschluckt“ hatten, sondern weit über dessen normalen Umfang hinausgingen. Für viel Geduld ist meiner Frau – damals noch Lebensgefährtin – Jutta Lubowitzki zu danken, die zeitweise vergessen haben dürfte, dass man auch außer Sichtweite von Stadtmauern spazieren gehen kann, und die darüber hinaus meine häufige Abwesenheit zu ertragen hatte. Aber auch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft musste viel Geduld aufbringen, denn ich hatte unrealistischerweise ein Manuskript binnen einer Standardfrist von drei Jahren zugesagt. Dieses Buch beruht also – was für einen so breit angelegten Überblick fraglos ungewöhnlich ist – nahezu ausnahmslos auf direkter Auseinandersetzung mit dem Baubestand. Ich habe tatsächlich alle Stadtmauerreste im deutschsprachigen Raum des Mittelalters selbst gesehen, von Luxemburg bis Masuren, von Schleswig bis Bozen, sofern anhand von Standardliteratur und der (oft schwer ermittelbaren) örtlichen Literatur erkennbar war, dass sich ein Besuch lohnen würde. Eine gute Basis für dieses flächendeckende Vorgehen bot die 1988 von Heinz Stoob bzw. dem Institut für vergleichende Städteforschung in Münster erarbeitete Karte Verbreitung der Städte in Mitteleuropa, die allerdings keine Angaben über erhaltene Bauteile der Befestigungen macht. Diese Angaben wurden neben der Ortsliteratur vor allem
den verschiedenartigen Kunstdenkmälerinventaren, dem Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler („Dehio“) und dem Handbuch der Historischen Stätten entnommen. Alles in allem denke ich, dass ich in dieser Weise 99 Prozent der erhaltenen und zugänglichen Baureste gesehen habe, also alle mit Ausnahme jener wenigen Fälle, die mit den beschriebenen Mitteln nicht erkennbar waren. Die Betrachtung der Bauten mit der Literatur in der Hand – wobei man auf neu erschienene Literatur in der Regel erst vor Ort stößt – ist bei jenen Stadtmauern, über die noch nichts Näheres geschrieben wurde, der einzige Weg, überhaupt zu Erkenntnissen zu kommen; aber auch bei jenen, die bereits behandelt wurden, führt sie oft zu einem verbesserten Bild. Dennoch hat auch diese Methode Grenzen. Viele Bauten sind ohne aufwendige Vorbereitung nicht nahe oder gar von innen zu besichtigen, viele aussagekräftige Befunde wären nur durch Methoden wie Bauforschung oder Archäologie sicher festzustellen; vor allem aber gibt es Informationen historischer Art, die nur auf wiederum anderen Wegen arbeitsaufwendig zu ermitteln sind. Außerdem bestätigen die Betrachtung mit dem analytischen Blick des Bauforschers und der erstmalige Vergleich mit anderen Mauern nicht immer die bisher vorgetragenen Deutungen, sondern sie führen oft auch zu neuen Einschätzungen. Daher wird der Leser hier – er sei gewarnt – gelegentlich mit Aussagen konfrontiert, die sich nicht mit dem bisher Publizierten decken; dabei erlaubt es der enge Rahmen des Buches leider nicht, die oft recht komplexen Gründe der neuen Bewertung vollständig darzulegen. Ein wissenschaftlicher Anmerkungsapparat war für dieses Werk von vornherein nicht vorgesehen, da es seitens des Verlags als Überblick im Sinne eines Sachbuches geplant war, nicht als wissenschaftliche Abhandlung; ohnehin hätten Anmerkungen aufgrund des Umfanges, der das ursprünglich Geplante weit überschritten hat, die Grenzen des Machbaren endgültig hinter sich gelassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Herkunft der zitierten Fakten nicht überprüfbar wäre. Wer insoweit Belege sucht, muss vielmehr so vorgehen, dass er zunächst die eingehendere Darstellung der betreffenden Stadt im „Regionalen Teil“ sucht und dann die im Literaturverzeichnis zu den Städten und Regionen aufgeführten Titel heVorwort
9
ranzieht. Sofern er in dem dort dokumentierten Forschungsstand noch immer keine nachvollziehbare Herleitung meiner Darstellung findet, ist davon auszugehen, dass ich durch die Betrachtung des Baubestandes vor Ort zu anderen Einschätzungen gekommen bin, als ich sie im Forschungsstand vorfand. In diesem Fall bleibt dann leider nur die Erkenntnis, dass eine vertiefende Untersuchung des Einzelfalles noch aussteht. Eine Gesamtdarstellung des Themas, wie sie mit diesem Buch versucht wurde, kann nach alledem, trotz aller Mühe, nicht den Anspruch des Vollständigen, geschweige denn des dauerhaft Sicheren erheben. Allzu vieles beruht nur auf Augenschein und begrenzter Quellenauswertung, anderes auf wenig eindringender oder veralteter Literatur. Jede Untersuchung mit den Mitteln von Bauforschung und Archäologie sowie jede vertiefte Betrachtung historischer Art können das Bild im Einzelfall ändern, und die Anzahl der unerforschten Einzelfälle ist bisher weit höher als die der erforschten. Dessen möge sich der Leser jederzeit bewusst bleiben – und den Autor auf neue Forschungen hinweisen, die die Basis späterer Publikationen verbreitern könnten. Zur ausgewerteten Literatur bleibt ohnehin zu unterstreichen, dass auch sie, trotz erheblichen Umfanges des Literaturverzeichnisses, kaum vollständig sein kann, und zwar vor allem bei den durchaus zahlreichen neueren Publikationen. Ist ältere Literatur noch weit überwiegend in Bibliographien erfasst – wenn auch leider nach immer stark wechselnden Ordnungssystemen –, so ist man für aktuelle Erscheinungen doch recht stark auf den Zufall angewiesen. Vieles in lokalen Zeitschriften oder kleinen Monographien Publizierte findet man nur durch Nachfrage vor Ort, in Buchhandlungen, Bibliotheken oder als Zitat in örtlicher Literatur zur Stadt(bau) geschichte. Dies aber bedeutet, da sich meine Reisen über einen langen Zeitraum erstreckten, dass dieses Buch einen quasi fließenden Redaktionsschluss aufweist: Was kurz nach meinem Besuch erschien, ist mir sicherlich oft entgangen – und dieser Besuch kann schon zehn bis 15 Jahre zurückliegen.
10 I. Systematischer Teil
Der fast immer lokale Charakter der Forschung bewirkte auch, dass die Unterstützung, die ich bei meiner Arbeit erhielt, sich fast immer nur auf einzelne Städte bezog. All den Fachkollegen, Museumsleuten, Heimatforschern, Buchhändlern und Bewohnern von Baudenkmälern zu danken, die mir Hinweise gaben oder Zugang gewährten, oder die mich mündlich oder schriftlich auf Literatur hinwiesen, verbietet sich daher – alle zu nennen, wäre unmöglich, jede Auswahl ungerecht. Sie alle mögen entschuldigen, wenn ich ihnen daher nur pauschal Dank abstatte! Besonders nennen möchte ich jedoch jene, deren Unterstützung von grundsätzlicherer Art war. Das gilt in erster Linie für das „Institut für vergleichende Städtegeschichte” in Münster, das seinen digitalen Katalog in Form mehrerer Volltext-Recherchen auswertete und so den Grundstock meiner Literatur entscheidend ergänzte. Hans-Rudolf Sennhauser lud mich 1993 zum Kolloquium über die schweizerischen Mauern ein, das auch zur Geburtsstunde des vorbildhaften Werkes zum gleichen Thema wurde. Kazimierz Pospieszny (damals Malbork) ermöglichte mir durch Empfehlung einen kostengünstigen Aufenthalt im früheren Ost- / Westpreußen. Burghard Lohrum teilte mir einige noch unveröffentlichte Dendrodaten von baden-württembergischen Stadtmauern mit. Vielfache Hinweise zu den Mauern ihrer Region sind Bernhard Metz (Strassburg) – der seit Jahren die Quellen zu den elsässischen Mauern auswertet –, Ronald Woldron (Wien), Stefan Ulrich (Neustadt / Weinstr.), Yves Hoffmann (Dresden), Joachim Müller (damals Duisburg), Andreas Heege (damals Einbeck), Jens Christian Holst (Hoisdorf), Reinhard Schmitt (Halle), Christoph Matt (Basel) und Thomas Steinmetz (Wiesbaden) zu verdanken. Fotos stellten neben den Genannten vor allem auch Christofer Herrmann (Olsztyn), Daniel Burger und G. Ulrich Großmann (beide Nürnberg), Gotthard Kießling (Warburg), Timm Radt (Stuttgart) und Andrea Bulla (Göttingen) zur Verfügung. Meine Frau Jutta Lubowitzki schließlich teilte mit mir die Mühe des Korrekturlesens. Thomas Biller, im Frühjar 2016
Einleitung Jene Siedlungsform, die wir „Stadt“ nennen, geht in ersten, orientalischen Beispielen letztlich bis in die Jungsteinzeit zurück. Am Ende des Römischen Reiches, das in Mitteleuropa das weitgehende oder völlige AbsterDefinition der ben städtischen Lebens mittelalterlichen Stadt bedeutete, hatte das Städteim deutschen Raum wesen seine erste Blütezeit bereits hinter sich. Sein erneutes Aufblühen im Mittelalter war daher zwar ein bedeutungsvoller, Europa bis heute entscheidend prägender Prozess, aber dieser griff auf ein Modell zurück, das bereits eine lange Reifung hinter sich hatte. Was aber ist eine „Stadt“ eigentlich, was genau definiert diese spezifische Art einer Siedlung? Selbstverständlich gibt es über diese Frage seit Langem umfangreiche Forschungen und Diskussionen, die hier nur ganz knapp resümiert und auf das wesentlich engere Thema der Befestigungen bezogen werden können. Sicherlich nicht mehr umstritten ist heute, dass eine Stadt in ihrem Kern ein Markt ist, also ein Ort, wo spezialisierte Produzenten ihre Produkte anbieten – Lebensmittel, Werkzeuge, Luxusgüter usw. –, um sie an andere Spezialisten zu verkaufen, die diese käuflich erwerben müssen, weil sie selbst etwas anderes produzieren. Die Stadt ist also Ausdruck der arbeitsteiligen Gesellschaft schlechthin, einer Gesellschaft, die besonders produktiv ist, weil sich jeder auf eine bestimmte Arbeit konzentriert und sie daher besonders gut beherrscht. Mit dem komplexen Charakter, der sich hieraus ergibt, unterschied sich die Stadt von vornherein und in auffälliger Weise von der anderen, noch älteren und grundlegend wichtigen Siedlungsform, nämlich der landwirtschaftlich bestimmten von Hof, Weiler und Dorf. Freilich war die Marktfunktion nur das zentrale Merkmal der mittelalterlichen Stadt, keineswegs das einzige. Neben den Händlern, die Waren teils über große Entfernungen heranschafften, war der Markt auch für die Handwerker anziehend, die ihn ebenfalls belieferten. Dabei war das Element des Fernhandels in der Frühzeit sicher das wichtigere, aus dem sich – zur Regelung des
Verhältnisses der Kaufleute untereinander – auch die ersten Ansätze eines Marktrechts entwickelten; in der Vielzahl kleiner, eher noch den Dörfern verwandter Märkte des Spätmittelalters trat dagegen der Handel mit dem nahen Umland stärker hervor. In dieser Phase spielte dann auch das bäuerliche Element eine erhebliche Rolle, weil die Stadtbevölkerung natürlich versorgt werden musste; zwar konnten die Äcker oder Gärten meist keinen Platz in der Stadt finden, aber für die Höfe war diese geschützte Lage durchaus von Vorteil. Neben den Bauern („Ackerbürgern“) hatten auch andere Bevölkerungsgruppen nicht direkt mit den zentralen Funktionen Handel und Handwerk zu tun, wurden aber von ihnen angezogen und verstärkten die Bevölkerungskonzentration ebenso, wie sie von ihr profitierten. Nachdem die ersten Städte bei Bischofssitzen und großen Klöstern entstanden waren, wirkte diese Anziehungskraft frühzeitig vor allem auf die Geistlichkeit und deren Pfarreien, Klöster, Stifte und religiös geprägte „Dienstleistungsbetriebe“ wie vor allem die Hospitäler. Im Laufe der Zeit begriff auch der Adel, die herrschende Schicht der Epoche und anfangs auch Herr der Städte, die Vorteile städtischer Wirtschaft; er versuchte die Bevölkerung der Stadt zu mehren, indem er den „Bürgern“ persönliche und steuerliche Freiheit und andere Privilegien zusagte („Stadtrechte“); und gerade für die Spitzengruppe des Adels war ab dem 13. Jahrhundert die Nutzung von Burgen am Stadtrand typisch. Vom Funktionieren einer voll entwickelten mittelalterlichen Stadt profitierten also viele Mitglieder der damaligen Gesellschaft, und ihrer aller Interesse musste es sein, die Komplexität der Beziehungen und Abläufe in dauerhafte organisatorische und politische Strukturen zu fassen und sie gegen gewalttätige Eingriffe zu schützen. Natürlich ging dies nicht ohne Konflikte zwischen den verschiedenen Interessenten ab. Vor allem ins 13. Jahrhundert fallen Kämpfe zwischen einigen der größten Städte und ihren bischöflichen Stadtherren, die meist mit einem weitgehenden Einflussverlust der Bischöfe endeten. In derartigen Kämpfen, die es außerhalb von Deutschland Einleitung
11
noch früher gab, bildete sich die Herrschaft einer städtischen Oberschicht heraus, die sich im Rat organisierte. Die kleine Gruppe der „ratsfähigen“ Geschlechter umfasste zunächst vor allem reiche Kaufleute, aber oft auch ehemalige Ministerialen des Stadtherrn; ihre Herrschaft ähnelte durchaus der des Adels und hatte wenig mit Demokratie in einem modernen Sinne zu tun. Aus dieser Lage heraus entstand dann im Spätmittelalter der andere Typus innerstädtischer Konflikte, die „Zunftkämpfe“, in denen auch die weit umfangreichere Schicht der Handwerker ihren Einfluss auf die Politik der Städte durchsetzte. Die Ratsherrschaft prägte also die ausgereifte mittelalterliche Stadt in entscheidendem Maße. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass Größe und Bedeutung der Städte sehr variierten, weswegen auch das Maß ihrer politischen Selbstbestimmung ganz unterschiedlich war. Sie reichte von der faktischen Unabhängigkeit der „Freien Reichsstädte“, die dem Kaiser als Stadtherrn mehr Vorteile boten als umgekehrt, bis zu der Vielzahl kleiner und kleinster, meist eher spät entstandener Städte, deren geringe Wirtschaftskraft und teils stockende Entwicklung sie meist in weitgehender Abhängigkeit von ihrem adligen Herrn hielten. Die mittelalterliche Stadt beruhte also auf einem Funktionsmodell, das sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Natur war, das aber selbstverständlich auch ihre Gestalt prägte. Für Historiker war lange Zeit die rechtliche Struktur – die städtische „Verfassung“ – das, was die Stadt letztlich ausmachte. Heute neigt man zunehmend zu einem Verständnis, das das Zusammenwirken der Faktoren stärker berücksichtigt, die sich nicht Gestalt der mittelalter- einem „herrschenden“ lichen Stadt im deutschen Ordnungsprinzip unterRaum ordneten, sondern vielmehr Zug um Zug die geschlossene und markante Form der mittelalterlichen Stadt hervorbrachten. Damit wird auch der baulichen Entwicklung des Phänomens Stadt ein höherer Stellenwert zuerkannt; sie war nicht nur Nachvollzug politischer und juristischer Organisation, sondern wirkte auch bei der Entstehung des Gesamtphänomens mit. Im Zusammenhang mit dem Thema „Stadtbefestigung“ steht natürlich die bauliche Gestalt 12 I. Systematischer Teil
ohnehin im Vordergrund. Dabei interessiert weniger das funktionale Zentrum der Stadt mit Markt, Pfarrkirche und später Rathaus (was bei großen Städten alles mehrfach vorkommen bzw. sich auf jeweils mehrere Bauten verteilen konnte), sondern vielmehr ihre Peripherie. Und diese wiederum ist abhängig von der Herausbildung der Stadt als geschlossenes Gebilde, also einer Form, die uns heute für die mittelalterliche Stadt ganz selbstverständlich vorkommt, es aber keineswegs von Anfang an war. Vor fast einem halben Jahrhundert charakterisierte Erich Herzog die „ottonische Stadt“ – also die Stadtform des 10. und frühen 11. Jahrhunderts – als eine Siedlungsform, die noch keineswegs eine geschlossene Form besaß (Abb. 1). Sein Bild dieser frühen Städte, das trotz zahlreicher Ergänzungen im Einzelfall doch bis heute wegweisend ist, zeigt im Zentrum in der Regel einen befestigten Bischofssitz, eine Domimmunität oder „Domburg“, nur ausnahmsweise einmal ein anderes Herrschaftszentrum wie ein großes Kloster oder einen königlichen Hof. Vor dem Tor dieses befestigten Herrschaftssitzes entstand meist mit der Zeit ein Markt mit den Häusern und Höfen von Händlern und Handwerkern – der eigentliche Kern der späteren bürgerlichen Städte. In einigem Abstand um die Domburg lagen Stifte und Klöster, meist in landschaftlich beherrschender Lage, die den sakralen Charakter des Ortes auch sichtbar betonten. Wann aus solch lockeren Gruppen von Siedlungen verschiedener Funktion jene geschlossene Stadtform mit klarem Straßennetz, regelmäßiger Parzellierung und gemeinsamer Befestigung wurde, die uns spätestens in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entgegentritt, wird umstritten bleiben, solange nur an wenigen Plätzen systematische Grabungen stattgefunden haben. Ein Handelsplatz wie Haithabu wies schon im 9. / 10. Jahrhundert eine dichte Bebauung an parallelen Straßen auf, aber in aller Regel wird man frühestens ab dem 11. und dann vor allem im 12. Jahrhundert mit der Verbreitung solcher Merkmale zu rechnen haben. Die Befestigung spielte bei dieser Entwicklung des geschlossenen Stadtkörpers sicherlich eine Rolle. Umwehrung war in der friedlosen Zeit des Frühmittelalters weitverbreitet, auch um die Domimmunitäten, Klöster und Herrschaftssitze,
Abb. 1 Goslar (Niedersachsen) als Beispiel einer „ottonischen Stadt“. Charakteristisch ist die Mehrheit der Siedlungskerne, darunter eine Marktsiedlung und mehrere Klöster oder Stifte. Die spätere Stadtmauer ist strichpunktiert angegeben (E. Herzog, Die ottonische Stadt, 1964).
Einleitung
13
die in den entstehenden Städten lagen. Sobald die Siedlung der Händler und Handwerker reich genug war, wird auch sie folglich eine Umwehrung angestrebt haben; Haithabu ist wieder ein gut untersuchtes Beispiel, mit einem Wall schon ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Allgemein aber können die vorliegenden Erkenntnisse zu den frühen Befestigungen bisher noch wenig zur Klärung beitragen, wann sich die geschlossene Stadtform herausbildete, und zwar wiederum aus Gründen des Forschungsstandes. In der Regel bestand die früheste Befestigung auch der Städte aus Holz und Erde (vgl. 2.2.1.2. und 2.2.1.3.) und ist daher heute nicht mehr leicht zu fassen; die wenigen frühen Beispiele, die ergraben wurden, reichen noch nicht für ein abgesichertes Bild. Immerhin kann ein herausragender Fall wie Speyer – dessen ausgedehnte Mauer schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Domburg, Händlersiedlung und Stifte umschloss – zumindest andeuten, wie früh sich die Entwicklung in rheinischen Bischofsstädten vollzogen haben kann; Basel und Worms, gleichfalls ohne römische Stadtmauern, bieten Vergleiche. Dabei ist nicht nur der Zeitpunkt der Umwehrung als solcher aussagekräftig, sondern mehr noch die Tatsache, dass so früh schon eine Mauer entstand; denn in der Regel folgte sie erst mit erheblichem Zeitabstand auf die anfängliche Holz-Erde-Umwehrung, offenbar nämlich dann, wenn die Wirtschaftskraft der entstehenden Stadt hierfür die Basis bot (vgl. 2.2.1.4.). Gruppen aus mehreren Dörfern, meist um die Burg eines Hochadligen bzw. Fürsten und gelegentlich bereits als Stützpunkte eines einsetzenden Fernhandels, gab es übrigens auch im slawischen Siedlungsraum, der – wie man nicht vergessen darf – bis zum 12./13. Jahrhundert einen Großteil des Gebietes einnahm, in dem dann deutsche Städte entstanden. Die Entwicklung bewegte sich dort, im Osten und Norden, also auf durchaus vergleichbaren Bahnen. Allerdings ging sie hier nicht so organisch in die Phase der geschlossenen Stadtform über wie im Westen und Süden Deutschlands, weil die Stadt „deutschen Rechts“ hier fast immer als fertiges Modell importiert wurde und in der Regel als plänmäßige „Gründungsstadt“ auf freiem Feld entstand, wenn auch oft nahe den slawischen Vorgängern. 14 I. Systematischer Teil
Die „Gründungsstadt“ als formal perfektionierte Ausprägung der entwickelten mittelalterlichen Stadt war auch den schon längst deutsch besiedelten Gebieten im Westen und Süden des deutschen Raumes keineswegs fremd. Sie spielte dort aber, trotz keineswegs geringer Anzahl, die Rolle eines Spätlings, weil gerade die frühesten Städte aus vorhandenen Siedlungskernen entstanden waren. Für die Stadtbefestigungen spielt der Unterschied zwischen „gewachsenen“ und Gründungsstädten allerdings kaum eine Rolle, weil sich die Peripherie beider Stadttypen zu der Zeit, in der die Mauern entstanden, nicht mehr nennenswert unterschied. Lediglich waren die „gewachsenen“ Städte in der Regel die älteren, oft auch die größeren, weswegen ihre Befestigungen oft früher begonnen wurden und mehr Umbauphasen aufweisen. Die Stadt im engeren Sinne war keineswegs die einzige befestigte Siedlungsform des hohen und späten Mittelalters, sondern nur eine unter vielen. Das entsprach einer agonalen Gesellschaft, in der Gewalt noch fast alltägliches Mittel des Interessenausgleichs war. Eine kurze Darstellung der anderen Befestigungsformen ist nicht nur bei der Andere befestigte Siedlungstypen des Bestimmung gewisser GrenzMittelalters fälle hilfreich, sondern kann auch auf einer allgemeineren Ebene das Besondere des Phänomens Stadtmauer anschaulich machen. Einen interessanten Versuch auf der Grundlage der relativ entwickelten Forschungssituation in der Schweiz hat Thomas Bitterli 2010 vorgelegt. Einige Befestigungsformen des Mittelalters waren hoch spezialisiert in dem Sinne, dass sie einer begrenzten gesellschaftlichen Gruppe dienten, die eine besondere Position einnahm bzw. einen besonderen Lebensstil pflegte. Die wichtigsten Beispiele dafür waren die Burgen und Klöster bzw. Stifte, also die Sitze des Adels und religiöser Gemeinschaften. Sie unterschieden sich auch formal ganz erheblich von den Städten und werden hier nur insoweit ins Blickfeld rücken, als sie mit den Städten in direkter Verbindung standen. Sowohl Herrschaftssitze als auch Klöster konnten Ausgangspunkt der Stadtentwicklung sein, ihre frühen Befestigungen daher auch vorbildhaft für jene der Städte werden (vgl. 2.1.2, 2.1.3.). Burgen entstanden zudem auch später noch oft am Rand
Abb. 2 Ostheim vor der Rhön (Unterfranken), die Kirchenburg von Norden; die Befestigung stammt aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Eine Kirchenburg bot weniger Schutz als eine Umwehrung der gesamten Siedlung, aber die Dorfbewohner konnten sich immerhin mit ihrer wichtigsten Habe in Sicherheit bringen.
bzw. in Ecklage der Städte und wurden so bei aller Eigenständigkeit zu einem Teil der Befestigungen (vgl. 2.2.10.1.). Darüber hinaus gab es aber auch Befestigungsformen, die wie die Stadt nicht nur einer kleinen Gruppe dienten, sondern kollektiven Charakter besaßen. Aussparen kann man dabei die nur in Notzeiten aufgesuchten, siedlungsfernen und unbewohnten Fliehburgen, die im Frühmittelalter augenscheinlich häufig waren, die aber mit dem Aufkommen der befestigten Städte (und Dörfer) ihre Bedeutung verloren. Und ebenso geht es hier nicht um die Kirchhofsbefestigungen („Kirchenburgen“), die keineswegs nur in Siebenbürgen, sondern auch im engeren deutschen Raum im Hoch- und Spätmittelalter weit häufiger waren, als der heutige Anschein vermuten lässt; schöne Beispiele findet man etwa noch in Unterfranken, manchmal noch mit den „Gaden“, in denen die Dorfbewohner ihre wichtigste Habe lagern konnten (Abb. 2). Sie dienten zwar einer ganzen Siedlung, aber nicht in dem Sinne, dass sie die Wohnstätten der Dorfbewohner schützten, sondern im Sinne eben der früheren Fliehburgen – man überließ die Höfe notgedrungen dem Feind und rettete nur das Leben und das wichtigste Gut. Durch diesen Verzicht war eine zugleich stärkere und billigere Bauform möglich, die aber wenig mit den Stadtbefestigungen zu tun hatte. Beschränkt man sich also auf jene Befestigungsformen, die – wie eben im Falle der Stadt – in beachtlicher Ausdehnung die Siedlung selbst umschlossen, so sind das Dorf, die Landwehr und schließlich zwei Grenzfälle der Stadt anzusprechen, nämlich Markt und Burgfreiheit.
Dörfer, die von Graben, Hecke oder Zaun („Etter“) umgeben und durch Holztore abgeschlossen waren, gab es vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert so gut wie überall im deutschen Raum, wobei die Belege angesichts der Vergänglichkeit der Anlagen meist indirekter Art sind: ältere Beschreibungen, Pläne und Ansichten, Erwähnung als Grenzen, Straßennamen, Parzellierung usw. Dementsprechend ist die Literatur, die über Einzelfälle hinaus ein Gesamtbild zu skizzieren sucht, bisher sehr spärlich (Reinhard Schmitt zu Sachsen-Anhalt). Für unser Thema ist besonders zu betonen, dass es sich bei Dorfumfriedungen keineswegs immer um Befestigungen gehandelt haben muss. Die Notwendigkeit, die Tiere im Dorf, fern von den Feldern und Gärten, zu halten, wird die meisten Etter oder Dorfgräben hinreichend erklären, wobei die von Historikern betonte Rechts- und Wirtschaftsbedeutung an die vorhandene Abgrenzung nur anknüpften, ähnlich wie an die Stadtmauern. Dass Dorfumfriedungen Befestigungscharakter hatten, ist – außer im seltenen Fall eindeutiger Quellenlage – vor allem dann sicher zu erkennen, wenn Reste erhalten sind. Das ist natürlich nur der Fall, wenn die Umwehrungen oder zumindest Teile davon in Stein errichtet waren – und dies war die große Ausnahme. Heute findet man Reste steinerner Dorfumwehrungen vor allem in Weinbaugebieten – etwa im Oberelsass, am Untermain, in Rheinhessen oder im Moseltal –, aber auch in anderen fruchtbaren Agrarregionen, etwa der Magdeburger Börde oder in Franken, wo es auch noch Dorftore des 15.–18. Jahrhunderts gibt, meist aus Fachwerk. Für die frühere Verbreitung ist dies gewiss nur insoweit repräEinleitung
15
sentativ, als in solchen Gebieten die Dörfer am größten und reichsten waren, sodass sie sich gegen Ende des Mittelalters oder noch später eine Mauer leisten konnten. Aus der Sicht der Bauund Kunstgeschichte kommt eine Diskussion der komplexen funktionalen und rechtlichen Fragen dieses Nachbargebietes der Stadtmauern hier nicht infrage. Da jedoch die Dorfmauern in ihren Formen von spätmittelalterlichen Kleinstadtmauern der jeweiligen Region in der Regel kaum unterscheidbar sind – anders gesagt: da es sich, ungeachtet des Rechtsunterschiedes von Dorf und Stadt, um dieselbe bauliche Entwicklung handelt –, werden erhaltene Dorfmauern im regionalen Teil prinzipiell mitbehandelt. Eine weitere Form der kollektiven Umwehrung bestand darin, dass eine ganze Anzahl von Siedlungen nebst ihrem zugehörigen Umland durch eine gemeinsame Umwehrung gesichert wurde, durch eine „Landwehr“ (vgl. 2.2.12). Eine Landwehr ist aufgrund ihrer stets enormen Länge in gewisser Weise die aufwendigste Form einer mittelalterlichen Siedlungsumwehrung gewesen, jedoch relativiert sich dies bei näherer Betrachtung. Landwehren waren nämlich keine verteidigungsfähigen Befestigungen, sondern das, was militärisch als „Annäherungshindernis“ bezeichnet wird, das heißt, sie waren so gestaltet, dass sie auch ohne Verteidiger ein Hindernis bildeten. In der Regel handelte es sich um mehrfach gestaffelte Wallgräben, die mit dichten (Dornen-) Hecken besetzt waren; bei einiger Pflege, die bis zum systematischen Verflechten der Büsche ging, konnte ein Weg durch eine solche Anlage nur mit erheblichem Zeit- und Arbeitsaufwand gebahnt werden. Dennoch war eine Landwehr im Laufe der Zeit recht einfach anzulegen und man vereinfachte die Arbeit weiter, indem man Wasserläufe, Täler, Steilhänge und andere natürliche Hindernisse in den Verlauf einbezog; im Planbild blieben Landwehren daher fern jeder Regelmäßigkeit. Ein Sonderfall von Landwehren, der die Einbeziehung natürlicher Hindernisse besonders deutlich macht, waren die „Talsperren“ in den Gebirgen, wo die Berge den Großteil des Schutzes bildeten und eine Sperre am Taleingang oder einer Engstelle genügte; die geringe Länge und das leicht verfügbare Material ermöglichten hier sogar Mauern und Türme, wie etwa bei den „Letzinen“ der Urschweiz. 16 I. Systematischer Teil
Vor allem im norddeutschen Flachland weist vieles darauf hin, dass Landwehren schon vor dem Aufblühen des Städtewesens ein verbreitetes Mittel territorialer Abgrenzung waren. Insoweit kann man sagen, dass die Städte – deren Landwehren seit dem 13. Jahrhundert belegbar sind, allerdings mit dem Höhepunkt erst im 15. Jahrhundert – nur spät ein längst bewährtes Mittel übernahmen, um auch ihrem landwirtschaftlich wichtigen Umland einen gewissen Schutz zu bieten. Nur diese funktional eingeschränkte Spätphase der städtischen, meist durch „Warten“ ergänzten Landwehr kann im Zusammenhang unseres Themas interessieren. Zwei Siedlungsformen stehen den „echten“ Städten vom Bild und teilweise auch von der Funktion her so nahe, dass man sie als Grenzfälle den Städten zuordnen kann: Markt und Burgfreiheit. Sie unterscheiden sich primär in der Rechtsform, was allerdings auch Folgen für die bauliche Ausprägung hatte, nämlich in dem Sinne, dass ihre eingeschränkte Selbstbestimmung sie meist an stärkerer Entwicklung hinderte. Der „Markt“ als eigenständige Siedlungsform tritt uns heute vor allem noch in Bayern und im österreichischen Raum entgegen und es weist vieles darauf hin, dass dies das Ergebnis einer bewussten landesherrlichen Politik war. Wie schon ausgeführt, war der Markt im Grunde die Vorstufe und der funktionale Kern jeder Stadt, wobei eine echte Stadt aber Rechte und Möglichkeiten besaß, die über Wirtschaftliches im engen Sinne weit hinausgingen. Einer Siedlung das Marktrecht zu verleihen, ihr aber weitere städtische Freiheiten zu verweigern, war aus der Sicht des Landesherrn also augenscheinlich ein Versuch, die Vorteile einer Stadt zu nutzen, ohne sie in eine allzu ausgeprägte Selbstständigkeit zu entlassen. Ob es in der Absicht der Herzöge von Bayern und weiterer, vor allem süddeutscher Landesherren des 13. Jahrhunderts lag, die von ihnen gegründeten Märkte auf Dauer in dieser rechtlichen Vorform und damit Abhängigkeit festzuhalten, oder ob die Weiterentwicklung zu „vollständigen“ Städten im Rechtssinne zwar beabsichtigt war, aber aus irgendwelchen Gründen nicht recht funktionierte – dies wird auch von historischer Seite nur schwer umfassend zu klären sein. Unter dem Aspekt der Stadtbefestigungen genügt die Feststellung, dass viele der
Märkte, besonders auffällig in Bayern, sich nicht erkennbar von „echten“ Kleinstädten unterscheiden, dass sie insbesondere oft auch (bescheidene) Befestigungen besaßen. Die Befestigungen der Märkte werden daher in den Regionalkapiteln ebenso mit einbezogen wie jene der Dörfer. Eine weitere Übergangsform zur echten Stadt war die „Burgfreiheit“, das heißt eine kleine, direkt einer Burg angeschlossene und befestigte Siedlung, die herrschaftlich und auch wirtschaftlich voll von dieser abhing (Abb. 3). Sie ist einerseits kaum mehr als eine größere und planmäßiger bebaute Vorburg, andererseits kaum weniger als eine Kleinstadt – deren auch rechtlichen Status sie in manchen Fällen durchaus erreichte. Normalfall war jedoch das Fehlen städtischer Rechte, was sich nicht zuletzt in der Bezeichnung „(Burg-)Freiheit“ spiegelt. Gemeint ist jene Ansiedlung, die von der „Freiheit“ des adligen Burgherrn profitierte – Freiheit von Steuern und Abgaben, auch von fremdem Gericht –, obwohl sie nicht innerhalb der eigentlichen (Kern-) Burg lag. Im Rheinland trat alternativ auch der Begriff „Tal“ auf, der eine der typischen Lagen solcher Siedlungen charakterisiert, nämlich unterhalb der eigentlichen Burg im Tal bzw. am Hang; die andere typische Lage war auf gleicher Höhe mit der Burg, im Flachland, vor dem Halsgraben, oder auf dem Rest eines größeren Gipfelplateaus. Es fällt auf, dass sich derartige Burgstädtchen am Westrand des deutschen Sprachraumes häufen, im Rheinland, Westfalen und dem westlichen Hessen, aber auch im Elsass, in Baden und in der Westschweiz. Es liegt daher nahe, hier eine Anregung durch die in Frankreich verbreitete Form des bourg castral zu vermuten, mit einem wohl ähnlichen Hintergrund – relativ einkommensstarke Burgherren, die ihre qualifizierteren Untertanen nicht in die „freien“ Städte abwandern lassen und ihnen daher wenigstens gewisse städtische Vorzüge bieten wollten, etwa einen kleinen Markt, aber vor allem auch Schutz durch Befestigungen. Angesichts der Kleinheit der Anlagen kann aber kaum überraschen, dass diese Befestigungen eher bescheiden blieben. Im Bereich des Rheinischen Schiefergebirges ist zum Beispiel deutlich, dass die Zäune und Gebücke erst ab der Zeit um 1400 und bis ins 16. Jahrhundert hinein durch Mauern ersetzt wurden, und in Westfalen gibt
es noch einige Fachwerktore des 16. Jahrhunderts. Die Ummauerungen, die auch anderswo kaum vor das 14. Jahrhundert zurückgehen, weisen in der Regel höchstens einen Torturm auf (Tengen / Baden, spätes 13. Jahrhundert?; Staufenberg / Hessen, „1401“), aber es gibt auch Ausnahmefälle wie etwa Braunfels (Hessen) mit einem Doppelturmtor des 15. Jahrhunderts oder insbesondere Sonnenberg bei Wiesbaden, wo das „Tal“ bei einer Länge von maximal 120 m doch vier ausgesprochen hohe Türme besitzt! Auch bei einer so ungewöhnlich aufwendigen Annäherung an das Bild echter Stadtmauern darf man nicht vergessen, dass sich hier keineswegs unabhängiger Bürgerstolz zeigte, sondern die besonderen Möglichkeiten eines Adligen, der Siedlung und Mauer als Teil seiner darüber aufragenden Burg verstand. Dass eine mittelalterliche Stadt auch Funktionen einer „Festung“ übernehmen konnte, hat Carl Haase in einem gern zitierten Aufsatz von 1963 vorgetragen „Die mittelalterliche Stadt als Festung“ und in einem Buch über die Befestigungen der Städte ist dieses Thema zu diskutieren. Darf oder muss man gar die mittelalterliche Stadt als „Festung“ verstehen? Zunächst muss dafür der Begriff der „Festung“ geklärt werden, der zumindest in der neueren Architekturgeschichte konkreter definiert wird, als Haase und andere ältere Historiker es taten. Dabei spielen zwei Aspekte die entscheidende Rolle, nämlich der des Militärs und jener der Artillerie. Eine Festung im strengen Sinne ist ein verteidigungsfähiges Bauwerk, das von militärisch organisierten Einheiten verteidigt wird, und zwar unter Verwendung von Artillerie bzw. Feuerwaffen; dabei steht hinter dem Begriff des „Militärs“ notwendigerweise auch der des Staates, denn nur ein entwickeltes Staatsgebilde benötigt eine Armee zur Verteidigung seines Territoriums und kann sie finanzieren. Aus dieser Definition geht hervor, dass Festungen neuzeitliche Phänomene sind, da von Artillerie im Sinne systematisch unterhaltener und genutzter Geschütze erst seit dem 15. Jahrhundert, von einem Militär im Sinne des „stehenden Heers“ erst im 17. Jahrhundert die Rede sein kann. In diesem engeren Sinne konnte eine mittelalterliche Stadt durch moderne Befestigungen und eine Garnison zwar Einleitung
17
sekundär zur Festung gemacht werden – was seit den „Landesfestungen“ des 16. Jahrhunderts oft der Fall war –, aber im Mittelalter selbst konnte sie noch keine „Festung“ sein. Jedoch hat es im Mittelalter und noch früher durchaus gewisse Vorformen von Festungen gegeben, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind. Die Kastelle des Römischen Reiches waren durchaus militärische Anlagen im engeren Sinne und manche große Burgen konnten spätestens ab dem 12. / 13. Jahrhundert über eine beachtliche Anzahl von Burgmannen verfügen, von einer Ordensburg mit ihrer Kriegerkaste ganz abgesehen. Allerdings erfüllten gerade die Burgen damit nur im weitesten Sinne das Kriterium einer „Garnison“, während von einer Prägung der Bauformen durch „Artillerie“ (= Wurfgeschütze) noch keine Rede sein konnte. Diesem letzteren Kriterium kamen höchstens manche Ordensburgen in den Kreuzfahrerstaaten etwas näher, wo im 13. Jahrhundert Wurfgeschütze bereits sehr effektiv eingesetzt wurden und in Ansätzen die Bauform zu prägen begannen. Die mittelalterliche Stadt war dagegen primär ein ökonomisch funktionierendes Gebilde, das Abb. 3 Reifferscheid (Nordrhein-Westfalen) als Beispiel einer „Burgfreiheit“. Die nur mit der „Freiheit“ des Burgherrn ausgestattete, ummauerte Siedlung ist kaum größer als die Burg selbst (Dehio Nordrhein-Westfalen I, 2005).
18 I. Systematischer Teil
seine Befestigungen in erster Linie zum eigenen Schutz anlegte und unterhielt, und auch wenn die Bürgerschaft durchaus zu ihrer Verteidigung organisiert war (vgl. 3.2.), so war dies doch nicht ihr ursprünglicher Daseinszweck, sondern nur dessen Folge. Nichtsdestoweniger konnte eine Stadt natürlich strategische Bedeutung haben, weil ihre Verteidigungswerke samt Verteidigern, ihre wirtschaftliche Stabilität und nicht zuletzt ihre pure Größe es ihr erlaubten, prinzipiell mit jeder Burg zu konkurrieren bzw. sie in ihrem strategischen Wert zu übertreffen. Ein Landesherr konnte folglich die Gründung von Städten durchaus auch dazu verwenden, wichtige Plätze – eine Region, eine Grenze, eine Straße – zu sichern, oder er konnte vorhandene Städte entsprechend einsetzen und ausgestalten; dies machte zuletzt etwa Christine Müller für mehrere ludowingische Kleinstädte in Thüringen wahrscheinlich. Neben einer sorgfältigen Lagewahl (vgl. 2.2.1.1.) und dem Ausbau ihrer eigenen Befestigungen konnte dabei auch die Kombination mit einer Burg ein sinnvolles Mittel sein – oder die Ansiedlungen von Burgmannen in der Stadt (vgl. 2.2.10.1.). Diese strategische Bedeutung bestimmter Städte blieb aber in jedem Falle eine Zusatzfunktion, die die wirtschaftlichen Kernfunktionen der Stadt nur ergänzte bzw. auf sie aufbaute, sie aber keineswegs etwa ersetzen konnte und sollte – die Stadt war höchstens „auch“ territorialpolitischer Stützpunkt, wurde aber nie vollständig zu einem solchen. Zudem bleibt im Rahmen der architekturgeschichtlichen Betrachtungsweise dieses Buches zu betonen, dass die besondere strategische Funktion einer Stadt in der Regel nicht an der Gestalt ihrer Befestigungen abzulesen ist. Auch wenn man in der historischen oder der Heimatliteratur nicht selten die Akzentuierung findet, eine Stadtbefestigung sei besonders „stark“ gewesen – oder die Stadt eben eine „Festung“ oder „Bastion“ –, so wird man diese Metaphorik aus dem Baubefund heraus kaum je bestätigt finden. Sicher waren die Befestigungen der Städte verschieden stark ausgebaut, insbesondere im Spätmittelalter, nach langer Entwicklung, aber in aller Regel wird man eher feststellen, dass sich darin Größe, Alter und Wirtschaftskraft der Stadt ausdrückt und dass eine allzu starke Betonung des Strategischen gegenüber dem Wirtschaftlichen bei der Stadtgründung später eher zu einer Stagnation führte.
1. Forschungsstand und Methodik 1.1. Probleme und Ziele der Stadtmauerforschung „Ueber das Alter der Stadtmauern lässt sich nichts Bestimmtes sagen; sie mögen die ursprüngliche Palisadenbewehrung allmählich ersetzt haben, und Erneuerungsarbeiten kamen jedenfalls häufig vor.“ G. Voss, Stadt Meiningen und die Landorte, Jena 1909 (Bau- u. Kunstdenkmäler Thüringens, Sachsen-Meiningen, Bd. I, 1. Abth.), S. 235
Diese Formulierung des thüringischen Inven tarisators Anfang des 20. Jahrhunderts brachte die architekturgeschichtliche Problematik der Stadtmauern schon vor einem runden Jahrhundert auf den Punkt. So eindrucksvoll manche Mauern erhalten sind, so schwer fällt es, ihre Entstehungszeit im Einzelnen zu fassen. Dieses Problem teilen die Mauern mit einem Großteil der mittelalterlichen Architektur, und zwar aufgrund der zeittypischen Seltenheit von Schriftquellen; sie sollten in der Regel Rechtsverhältnisse dokumentieren, während Bauvorgänge nur ausnahmsweise, zum Spätmittelalter hin zunehmend, Erwähnung fanden. Bei Profanbauten und gar Befestigungsanlagen kommt erschwerend hinzu, dass das weitgehende Fehlen von Schmuckformen auch die kunsthistorische Stildatierung erschwert, die sonst den Schriftquellenmangel wenigstens teilweise ausgleichen kann. Und wenig hilfreich ist auch, wie Voss schon skizzierte, die Tatsache, dass ausgedehnte und jahrhundertelang funktionierende Bauten wie Stadtmauern schon durch normale Maßnahmen der Instandhaltung und Modernisierung eine Fülle von „Bauabschnitten“ aufweisen, die eine Betrachtung und Datierung der Mauer als einheitliches Bauwerk gar nicht zulassen, und dies umso mehr, als kaum eine Mauer lückenlos erhalten ist (Abb. 4). Und als ein zentrales Problem der Sachlage bleibt schließlich anzuführen, wiederum mit Voss, dass die Anfänge der meisten Befestigungen schon deswegen außerhalb einfacher Erkenntnismöglichkeiten liegen, weil es sich um recht bald ersetzte Anlagen aus Holz und Erde gehandelt hat.
Jede Gesamtdarstellung eines Bautypus wird grundsätzlich zwei miteinander verbundene Ziele anstreben. Zunächst geht es darum, die Entwicklung des Typus als solche zu klären, und dann auf dieser Grundlage um das Verständnis, welche historischen Bedingungen diese Entwicklung vorangetrieben und geformt haben. Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten kann es nicht überraschen, dass selbst das erste dieser beiden Ziele für die Stadtbefestigungen noch in weiter Ferne liegt. Weit über 90 Prozent dessen, was seit dem 19. Jahrhundert über Stadtmauern publiziert wurde, bezieht sich auf die Mauer nur einer einzelnen Stadt, aber unter diesen Hunderten von Veröffentlichungen sind jene viel zu selten, die Forschung im strengeren Sinne vorgelegt haben, also Auswertung der Schriftquellen, Bauforschung am aufgehenden Bestand oder archäologische Erfassung – oder gar Datierung verschwundener Teile. Gerade unter den älteren, selten von Bau- oder Kunsthistorikern geschriebenen Monographien überwiegen vielmehr solche, die nur summarisch die Reste beschreiben bzw. den ehemaligen Verlauf der Mauer zu rekonstruieren suchen. Gerade bei kleineren Städten und dort, wo Zerstörung die Befestigung aus dem Bewusstsein schwinden ließ, fehlen Darstellungen der Mauern außerdem oft gänzlich und Datierungsversuche beschränken sich allzu häufig auf die methodisch unhaltbare Gleichsetzung der Ersterwähnung als Stadt mit der Bauzeit der erhaltenen Teile – jede Stadt hatte dieser simplifizierenden Denkweise zufolge von Anfang an eine Mauer und alle Reste gehören zu ihr, die man sich dabei als Bau „aus einem Guss“ denkt (vgl. 1.4.). Dass solche Simplifikationen in 1. Forschungsstand und Methodik
19
Abb. 4 Worms (Rheinland-Pfalz), steinrechte Ansicht eines Stadtmauerabschnitts beim Stift St. Andreas als Beispiel eines mehrphasigen Befundes mit Befundnummern; hochmittelalterlich sind nur die grau unterlegten Teile (vgl. Abb. 37; O. Wagner / A. de Filippo in: Wormsgau, 30, 2013).
der Tourismuswerbung gängig sind, liegt auf der Hand, aber leider findet man sie auch oft auf den an sich verdienstlichen Informationsschildern vor Ort, wo man doch mehr Sachverstand einfordern dürfen sollte. Angesichts solch grundsätzlicher Probleme, eine Mauer „per se“ zu interpretieren, darf man a priori einige Erwartungen auf den Vergleich zwischen den Stadtmauern einer Region richten – Typisches könnte im Vergleich erkannt werden und das an einem Ort Undatierbare besser einzuordnen sein. Leider aber fehlen solche vergleichenden Untersuchungen bisher so gut wie völlig. Im Grunde sind für den gesamten deutschen Raum nur drei größere Arbeiten zu nennen, die dieses Ziel methodisch sinnvoll angestrebt haben. Die Dissertation von Udo Mainzer behandelte 1973 die Stadttore des Rheinlandes, dabei stand die Rezeption der großartigen Kölner Mauer des frühen 13. Jahrhunderts im Zentrum, und Heinrich Trost hat schon 1959 die besonders schmuckreichen Stadttore im Backsteingebiet insbesondere von Brandenburg und Mecklenburg thematisiert. Beide Arbeiten verfolgten einen dezidiert kunsthistorischen Ansatz und griffen daher aus dem Gesamtzusammenhang der Mauern die Tore heraus, also deren schmuckreichste Einzelbauten, die am ehesten Aussagen über die Entwicklung von Formen und den symbolischen Gehalt zulassen. Einer gänzlich anderen Methodik verpflich20 I. Systematischer Teil
tet ist dagegen das jüngste der drei vorliegenden Überblickswerke, das erst 1995–99 dreibändig die Stadt- und Landmauern (= Stadtmauern und Landwehren) der Schweiz zu erfassen sucht. Hier handelt es sich um das (mit geringen Lücken) flächendeckend angelegte Inventar aller Stadtmauern eines Landes, das vor allem Untersuchungsergebnisse zusammenstellt, die mit den Mitteln von Archäologie und Bauforschung erzielt wurden. Damit spiegelt es den Eintritt in eine neue, noch recht junge Phase der Forschung, die – über das Betrachten und Interpretieren hinaus – zum ersten Mal „untersucht“, das heißt auch ins stratigraphische und technische Detail geht, um das Bauwerk, seine Bauphasen und Funktionen möglichst umfassend zu verstehen. Der kunsthistorische Formenvergleich spielt in den Stadt- und Landmauern zwar eine geringere Rolle, weil zusammenfassende Betrachtungen der Initiative der Autoren überlassen blieben. Dafür aber zeigen die Stadt- und Landmauern, warum solche Vergleiche bisher nur begrenzt möglich sind, weil nämlich wenige Mauern gut untersucht sind und es methodisch inakzeptabel ist, sich auf jene zu beschränken, die durch die Zufälle der Jahrhunderte besser erhalten sind. Nicht nur wegen seiner Sorgfalt, sondern auch wegen dieser korrekten Widerspiegelung eines noch bruchstückhaften Wissensstandes ist der Schweizer Ansatz vorbildhaft und wird hoffentlich Nachfolge auch in anderen Ländern und Regionen finden.
1.2. Zur Literatur Weitaus die meiste Literatur, die zum Thema dieses Buches gehört, behandelt nur einzelne Städte und kann, wegen ihrer Verschiedenartigkeit, kaum zusammenfassend charakterisiert werden. Sie ist hier im dritten Teil des Literaturverzeichnisses aufgeführt, die Auswertung erfolgt im zweiten Band dieses Werkes. Eine Literatur zum Thema, die über die einzelne Stadt hinausging, hat es dagegen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Zwar behandelte die im 19. Jahrhundert aufblühende „Burgenliteratur“ selten genug auch Stadtmauern, quasi als Exkurs, aber der ahistorische, im Grunde nur an der Beschreibung „militärischer“ Funktionen interessierte Ansatz dieser Darstellungen verhinderte nennenswerten Gewinn. Der Forschungsstand, sofern dieses Wort hier angebracht ist, besteht daher neben den reinen „Mauermonographien“ aus Werken, die das Thema in einem größeren Rahmen lediglich mitbehandeln. Im Wesentlichen geht es dabei um zwei recht unterschiedliche Arten von Literatur, nämlich um Inventare von Baudenkmälern und um Darstellungen der Geschichte einer Stadt. Beide Publikationsarten haben seit dem 19. Jahrhundert eine Fülle von Veröffentlichungen hervorgebracht, aber beide haben auch die Stadtbefestigungen fast immer am Rande gelassen und – wegen der auch hier vorliegenden Beschränkung auf stets nur einen Ort – keine für das Thema weiterführende Fragestellung entwickelt. Die Bestandsaufnahmen der Kunstdenkmäler, die für einen großen Teil des deutschen Raumes vorliegen, aber immer noch riesige Lücken haben, durchliefen ab dem 19. Jahrhundert eine Entwicklung, die von recht summarischen Übersichten über oft aufwendige („Groß-“)Inventare bis hin zu den eher auf die Administration zielenden, sehr knappen Kartierungen und Listen („Denkmaltopographien“) der Gegenwart führten. Wissenschaftlichen Gewinn erzielten dabei fast nur die aufwendigen „Großinventare“, wobei aber wirklich eindringende Untersuchungen von Mauern die Ausnahme blieben; positiv hervorgehoben seien etwa Lübeck (Hugo Rathgens), Köln (Hans Vogts) oder Basel (Casimir Hermann Baer). In vielen anderen Fällen bleibt die Darstellung jedoch unbefriedigend, und Überschriften wie
das häufig gewählte „Lage und Befestigung der Stadt“ deuten einen der Gründe an. Die Befestigung wurde nämlich oft weniger als funktional und ästhetisch gestaltetes Bauwerk erfasst, sondern eher als topographisches Merkmal, nämlich als Grenze der Stadt. Der selten bauanalytische Blick der Autoren führt ferner dazu, dass oft selbst einfachste Fragen offenbleiben: War ein Torturm einmal höher, ein Turm ursprünglich ein Schalenturm oder deuten seine Scharten auf Feuerwaffen? Noch weniger darf Derartiges natürlich vom Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler („Dehio“) erwartet werden, das naturgemäß den Forschungsstand nur ordnet und knapp resümiert, aber vorhandene Lücken in Erfassung und Analyse nicht schließen will und kann. Als dramatisches Beispiel der Folgen darf hier Hollfeld in Oberfranken angeführt werden, das neben erheblichen Mauerteilen sogar einen bescheidenen, aber vollständigen Torbau bewahrt hat, der jedoch sowohl im „Dehio“ als auch im Handbuch der Historischen Städten verschwiegen wird. Weit häufiger wirkt sich negativ aus, dass dem Kunsthistoriker nur der erhaltene und „künstlerisch“ gestaltete Bau etwas gilt; wo einer Stadt ein stattlicher Torturm geblieben ist, aber nicht mehr als das, wird man im „Dehio“ in der Regel das Stichwort „Stadtbefestigung“ finden. Blieben jedoch noch 90 Prozent der Mauer, nur leider ohne Türme und weitgehend verbaut, so wird der „Dehio“ durch Nichterwähnung das unzutreffende Bild einer Stadt ohne Mauerreste vermitteln. Trotz solcher Schwächen bietet er nach wie vor einen flächendeckenden Einstieg zumindest in die erhaltene Substanz, manchmal die einzige Beschreibung überhaupt. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass sein Patron, Georg Dehio, der bisher Einzige war, der eine nach Vollständigkeit strebende Geschichte der deutschen Kunst (1930–34) vorgelegt hat, in der die Stadtmauern nicht übergangen, sondern angemessen gewürdigt wurden. Die Geschichte einzelner Städte ist recht häufig auf gutem Niveau geschrieben worden, wobei die „Städtebücher“ bzw. „Städteatlanten“ Flächendeckung anstreben und bei dem Prototyp der Gattung, Erich Keysers Deutschem Städ1. Forschungsstand und Methodik
21
tebuch, auch erreicht haben; sie zählen zu den wichtigsten Hilfsmitteln, wenn es um Stadtmauern geht. Allerdings dokumentieren auch sie, als historisch angelegte Werke, nur einen Teil des Faktenmaterials und können das häufige Fehlen eines interdisziplinären Arbeitsansatzes nicht überbrücken. Die Daten aus den Schriftquellen werden in zuverlässiger Weise dokumentiert, wobei zum betreffenden Zeitpunkt noch nicht aufgearbeitete Archivalien natürlich unerfasst bleiben, und die erhaltenen Bauten knapp aufgelistet; bei den „Städteatlanten“ geben die Pläne einen in aller Regel zuverlässigen und vollständigen Überblick über das ehemals Vorhandene. Gegenüber den Angaben zu Bauabfolge und Datierung ist bei dieser Literaturgattung aber grundsätzlich Vorsicht geboten, da häufig die Aussagen der Schriftquellen ohne Berücksichtigung bau- und kunsthistorischer Methodik absolut gesetzt werden, bzw. weil keine Diskussion der Widersprüche zwischen Quellenlage und Baubefund stattfindet. Das ebenfalls für einen ersten Überblick unverzichtbare, wenn auch leider in manchen Bänden veraltete Handbuch der Historischen Stätten verhält sich zu den monographischen
Städtegeschichten und den „Städtebüchern“ wie der „Dehio“ zu den Großinventaren – es bietet knappe Überblicke, will und kann sich aber aus der Abhängigkeit vom Forschungsstand nicht lösen. Bei einer flächendeckenden „Begehung“, wie ich sie vorgenommen habe, zeigt sich außerdem, weit ausgeprägter als beim „Dehio“, die Verschiedenartigkeit der Bände; die Bearbeiter haben sich offensichtlich von Land zu Land recht unterschiedlich verpflichtet gesehen, auf die Befestigungen einzugehen. Als äußerst hilfreiche neuere Veröffentlichung sei abschließend die Karte der mittelalterlichen Städte in Mitteleuropa genannt, die Heinz Stoob 1988 veröffentlicht hat. Sie vermittelt ein im Grundsatz vollständiges Bild der Siedlungen – mit Ausnahme der Dörfer –, in denen mit einer ehemaligen oder erhaltenen Befestigung zu rechnen ist; dabei unterliegen die Angaben zu ehemaligen Holz-Erde-Befestigungen aber naturgemäß dem Vorbehalt archäologischer Prüfung. Die Vollständigkeit der Erfassung ist hoch, obwohl – bei Hunderten von Städten und der inhomogenen Literatur verständlich – kleine Lücken nicht gänzlich vermieden sind (etwa eine Stadt mit der Bedeutung von Waiblingen).
1.3. Bauinschriften und Baunachrichten Im weitaus größten Teil der Literatur, die man für das Thema Stadtbefestigungen verwenden kann, kommen Schriftquellen, obwohl sie neben den Bauten selbst der wichtigste Ausgangspunkt jeder Erkenntnis sind, nur indirekt vor. In aller Regel werden Jahreszahlen oder Zeiträume, die offensichtlich der Schriftüberlieferung entnommen sind, als gesicherte Ergebnisse verwendet, aber die Quelle selbst und ihr Aufbewahrungsort wird kaum je angegeben, die Literatur, in der sie exakt zitiert sein könnte, nur gelegentlich. Eine Diskussion der Schriftquellen, also eine Abklärung des grundsätzlich immer vorhandenen Interpretationsspielraumes, ist also kaum je anzutreffen. Diese Tatsache, die keineswegs auf den Themenbereich der Stadtbefestigung beschränkt ist, sondern für weite Teile der (älteren) Architekturgeschichte, der Inventare und Kunstführer gilt, weist auf ein Problem hin, nämlich 22 I. Systematischer Teil
auf das der oft ungenügenden Auswertung der Quellen. Denn mittelalterliche Schriftüberlieferung enthält nur selten Aussagen, die unsere heutigen Fragen direkt und eindeutig beantworten können. Eine gewisse Annäherung an die Erwartungen des Historikers ist erst im Spätmittelalter zu verzeichnen, als Ratsprotokolle, städtische Rechnungsbücher, Wachordnungen, Wächterund Bewaffnungslisten, um nur besonders konkretes Quellengattungen zu nennen, sich direkt auf einzelne Bauteile und Bauvorgänge zu beziehen begannen (vgl. 3.1.). Aber auch sie stecken noch, ganz abgesehen von der seltenen und zufallsbedingten Erhaltung, voller Interpretationsprobleme. Zwar werden manche Bauteile eindeutig angesprochen – Tore und wichtige Türme mit feststehenden Namen –, aber anonyme bzw. wechselnd benannte Bauteile wie Mauer-
abschnitte, Zwinger, Wehrgänge oder Gräben bleiben meist auch dann unidentifizierbar, wenn Kosten und Zeitpunkt einer Baumaßnahme eindeutig angegeben sind. Hinzu kommt, dass im Spätmittelalter, insbesondere im 15. / 16. Jahrhundert, die weitaus meisten Mauern längst existierten und lediglich verstärkt oder ausgebessert wurden, womit die relativ detaillierten Quellen dieser Phase nur wenig zu der zentralen Frage beitragen können, wann die Mauern ursprünglich errichtet wurden. Bevor wir uns daher der komplizierteren Frage zuwenden, wie aus älteren, andersartigen Quellen auf die Entstehungszeit oder gar Gestalt von Stadtbefestigungen geschlossen werden kann (siehe 1.4.), sei kurz auf die seltenen Datierungen an den Bauten selbst eingegangen. Auch sie ordnen sich der Aussage unter, dass schriftliche Angaben zu Datierungen erst im Spätmittelalter aufkommen. Trotz Literaturauswertung und eigenen Begehungen mag noch manche Inschrift unentdeckt sein, aber das Gesamtbild scheint dennoch aussagekräftig. Vor dem Ende des 14. Jahrhunderts sind mir nur drei Inschriften bekannt geworden – jene am Goslarer „Teufelsturm”, er sei 1280 vom Grafen von Blankenburg als Buße für einen Viehraub erbaut worden (Abb. 432), jene von 1323 am Nürnberger Turm „Männereisen“ und eine aus demselben Jahr am „Untertor“ in Dambach (Unterelsass; Abb. 5). Ende des 14. Jahrhunderts sind Inschriften zu nennen in Aschaffenburg („Sandtor“ 1380, gemeint ist wohl die Stadterweiterung), Zons („Zollturm“ 1388) und Heilbronn („Götzenturm” 1392). 1401 folgt der Torturm von Staufenberg / Hessen, 1413 Inschriften in Lauingen und am „Diebsturm“ in Witzenhausen; an der Spitalkirche in Aichach nennt eine Inschrift 1418 den Mauerbau Ludwigs des Gebarteten von Bayern-Ingolstadt, womit Schärding zu vergleichen ist, wo eine Tafel im Kirchturm (Abb. 292) den Beginn von Bauten desselben Herzogs 1429 festhält. Weitere Beispiele bis ins frühe 16. Jahrhundert sind Stadthagen (Stadtwappen und „1423“ auf dem Türsturz eines Turmes), nochmals Goslar („Kegelworthturm“ 1459), Billigheim / Pfalz (Torturm 1468), Haltern („Siebenteufelsturm“ 1501) und Borken („Diebesturm“ 1504). Fast alle Beispiele gehören also in die Zeit, in der Bauinschriften in Deutschland allgemein
Abb. 5 Dambach-la-Ville (Elsass), Bauinschrift am Untertor: „Im Jahre des Herrn 1323, an den 12. Kalenden des Juli, wurde der erste Stein dieser Stadt gelegt“ – ein seltenes Beispiel, dass der Baubeginn einer Stadtmauer am Bauwerk datiert wurde.
zunehmen; auffällig ist damit an den Inschriften der Stadtmauern eher ihre große Seltenheit. Dabei verpflichtet auch ihre Aussagekraft stets zur Diskussion im größeren Rahmen, wie eines der jüngsten Beispiele belegen kann. Ein Rondell in Büdingen – an einer der spätesten umfassend erneuerten Stadtbefestigungen Deutschlands – trägt das Datum „1511“, das aber lediglich den Tod des Erbauers als Gedenkinschrift dokumentiert; das Rondell selbst existierte nachweislich schon 1489! Wendet man sich damit den Schriftquellen im engeren Sinne zu, der Überlieferung auf Papier, Pergament und Ähnlichem, so ist auch hier zunächst nach jenen Aufzeichnungen zu fragen, die direkt von der Erbauung einer Befestigung berichten. Das Ergebnis ist dabei einerseits dem bei den Bauinschriften vergleichbar – auch solche Nachrichten sind selten und interpretationsbedürftig –, andererseits beginnen sie doch deutlich früher als die Inschriften und spiegeln damit die reale Entwicklung weitaus besser. Schon 1140–43 entstand ein Ruhmgedicht auf den Mauerbau in Trier. 1160 wurde die Mainzer Mauer als Strafe für die Ermordung des Erzbischofs von Kaiser Friedrich I. mindestens teilweise abgerissen und 1171 wies Friedrich Aachen an, sich neu zu befestigen. 1180 erlaubte derselbe Kaiser die Vollendung des Wallgrabens von Köln; 1187 aber musste ein dortiges Tor 1. Forschungsstand und Methodik
23
wieder bis aufs Erdgeschoss abgetragen werden. 1229 baute ein Konverse des Zisterzienserklosters Himmerod das „Untere Tor“ von Zell / Mosel – die früheste Erwähnung des Baumeisters einer Befestigung; das Tor aber existiert nicht mehr. 1248 verzichtete der Markgraf von Meißen auf Einspruch gegen Mauern und Gräben in Merseburg, und auch das nahe Naumburg durfte erst 1276 Gräben oder Planken mit Erkern beginnen. 1279 erlaubte der Erzbischof von Köln den Bürgern von Zülpich, ihr „Städtchen mit Mauern zu stärken“ (oppidum muro firmare), und 1294 erteilte Erzbischof Sigfrid Kempen Stadtrechte, wobei er anmerkte, die Bürger hätten schon viel Mühe in den Mauerbau gesteckt (er dauerte dennoch bis Ende des 14. Jahrhunderts!). In Brandenburg erhielt Prenzlau 1287 die landesherrliche Erlaubnis zum Mauerbau, worauf bis 1361 etliche weitere brandenburgische Städte folgten. Ornbau erhielt 1317 die Befestigungserlaubnis des Bischofs von Eichstätt, ebenso wieder 1464, wobei wohl erst das zweite Datum die Entstehung von Mauer und Zwinger markiert. Die „Wildunger Altarchronik“ berichtet zum 8. September 1319, die Mauer von Wildungen sei begonnen worden – die früheste quellenmäßige Datierung einer hessischen Mauer, auf die bis 1547 / 48 (Flörsheim) etliche weitere folgten. In Quedlinburg wurde chronikalisch 1337 der Graf von Regenstein verpflichtet, nach erfolgloser Belagerung sieben Türme zu bauen. 1360 erlaubte Graf Heinrich von Montfort, Immenstadt zu befestigen, und 1350 wurde die portze[,] die nuweliche vur unser stat van Andernach enbuzen gebuwet is[,] erwähnt, was wohl das erhaltene „Koblenzer Tor“ meinte. Arberg in Mittelfranken wurde zwischen 1383 und 1415 durch zwei Türme verstärkt. Und schließlich wurde 1498 in Dillingen ein Vertrag geschlossen: Der Bischof von Augsburg hatte einen Zwinger und die Vorstadtmauer gebaut, für deren Erhaltung Bischof und Stadt gemeinsam sorgen wollen. Die erdrückende Mehrzahl dieser (zumeist ersten) Erwähnungen der Befestigung bezieht sich auf eine Anweisung des Landesherrn oder Königs, der die Anlage einer Befestigung entweder wünschte oder zumindest erlaubte, ausnahmsweise auch einmal ihre Zerstörung verfügte. Das verwundert nicht, waren doch weitaus die meisten Städte keineswegs selbstständig, sondern 24 I. Systematischer Teil
unterlagen wie alle anderen Siedlungen und deren Bewohner den Inhabern der feudalen Herrschaftsgewalt. Im 12. Jahrhundert galt dies auch noch für die ganz großen Handelsstädte wie etwa Köln, die dann im 13. Jahrhundert teilweise ein beachtliches Maß an Freiheit erringen konnten. Aus architekturgeschichtlicher Sicht ist zu dieser Art von Quellen anzumerken, dass eine Erlaubnis zur Befestigung noch nicht heißt, dass die Mauer unmittelbar danach begonnen oder gar schnell vollendet wurde – und falls ihre Erbauung durch die besondere Formulierung oder weitere Quellen belegbar oder zumindest wahrscheinlich ist, bleibt immer noch zu fragen, welche Form sie anfangs hatte. Bei den beispielhaft zitierten Nachrichten ist nur in fünf Fällen (von 20) vom Bau oder von der Existenz einer wirklichen Mauer die Rede, in drei weiteren von einzelnen Toren und Türmen. In zwei Fällen (Köln, Naumburg) sind explizit Anlagen aus Holz und Erde angesprochen, sonst aber bleibt die Art der Befestigung genauso offen wie letztlich der Baubeginn. Einen direkteren Schluss auf Bauarbeiten lassen Steuerbefreiungen zu, die ebenfalls vom Landesherrn zum Zwecke der Befestigungen ausgesprochen wurden (vgl. 3.1.). In einer Zeit, die noch kaum ein Instrumentarium besaß, eingenommenes Geld über längere Zeit aufzubewahren oder es gar „arbeiten zu lassen“, bestand die normale Form finanzieller Förderung darin, eine Einnahmequelle – Ländereien, Steuern, Zölle usw. – zeitweise abzutreten. Steuerbefreiungen für die Befestigung waren daher weitverbreitet, vor allem als „Ungeld“, eine ausgesprochen ertragreiche Verkaufssteuer auf alkoholische Getränke. Gerade in den auch hier weit überwiegenden spätmittelalterlichen Fällen besteht zwar das bekannte Problem, dass zwischen der Erbauung der Mauer und einer ebenfalls finanziell aufwendigen Instandsetzung nicht unterschieden werden kann, aber zumindest eine frühe Quelle ist hier als aussagekräftiger hervorzuheben: das zufällig erhaltene staufische Steuerverzeichnis von 1241. Es erfasst Städte in staufischem Besitz und ihr Steueraufkommen dieses Jahres, wobei aus Steuererlässen mit einiger Vorsicht Schlüsse auf laufende oder schon abgeschlossene Befestigungsarbeiten gezogen werden können; angesichts des frühen Zeitpunktes handelt es sich in der Regel wohl um die erste Ummauerung.
Alle anderen Arten direkter Erwähnungen des Befestigungs- und Mauerbaues treten gegenüber den Erlaubnissen und Finanzierungshilfen des Landesherrn in den Hintergrund, wie etwa das erwähnte Gedicht, das den Trierer Mauerbau feiert, oder auch der Vertrag zwischen dem bischöflichen Stadtherrn und dem Rat in Dillingen 1498. Aus seiner Seltenheit ist nicht etwa zu schließen, dass der Rat anderswo nichts mit dem Mauerbau zu tun hatte. Im Spätmittelalter war der Rat vielmehr in aller Regel Träger des Mauerbaues, was sich in den schon erwähnten typisch städtischen Quellen wie Ratsprotokollen oder Rechnungsbüchern zeigt; das Besondere in Dillingen war jedoch die Finanzschwäche und Abhängigkeit der Stadt, die so spät noch eine Unterstützung des Stadtherrn erforderte. Viel häufiger als diese Fälle, wo wirklich die Entstehung der Stadtbefestigung berührt wird, ist
nach alledem die zufällige Ersterwähnung ihrer Existenz. Die Mauer gehört dabei selbst nicht zum inhaltlichen Kern des Schriftstückes, sondern wird nur aus praktischen Gründen berührt. Auch hier geht es fast immer um Juristisches, das heißt etwa um Verkauf oder Verpachtung von Grundstücken, Beschreibungen von Teilen der Stadt usw., wobei man in einem Zeitalter, das noch keine exakten Pläne kannte, die Lage eines Objektes dadurch festhielt, dass man angrenzende, besonders markante Bauten und Orte ansprach; die Befestigung als eindeutige Stadtgrenze war dafür besonders geeignet. Das Kernproblem solcher Erwähnungen der Existenz einer Mauer besteht grundsätzlich darin, dass sie keine Aussage darüber enthalten, wie lange sie schon existierte – die Mauer konnte bei einer derartigen Ersterwähnung, um es zu pointieren, eben noch im Bau, aber auch schon mehrere Jahrhunderte alt sein.
1.4. Historische Schlüsse auf die Zeit der Befestigung Mit dieser Aussage ist eine weiter gehende Frage berührt, die in der Literatur implizit und explizit eine zentrale Rolle spielt: Mit welchen historischen, auf die Schriftquellen bezogenen Methoden kann man in jenem Normalfall, wo direkte Hinweise auf die Entstehungszeit der Befestigung fehlen, diese Zeit dennoch ungefähr bestimmen? Der in Historikerkreisen wohl häufigste Rückschluss ist jener von der Verleihung der „Stadtrechte“ bzw. städtischen „Freiheiten“ auf den Bau der Mauer, der aber von kritischen Vertretern der Zunft mit gutem Grund zurückhaltend angewendet wird. Die Problematik beginnt schon damit, dass der oft unscharf verwendete Begriff nicht nur einen Kern von Privilegien umfasst – die persönliche Freiheit des Bürgers samt Grundbesitz und Erbrecht, ein eigenes Gericht –, sondern von Fall zu Fall verschieden ausgestaltet und durch weitere Rechte ergänzt wurde. In den meisten Fällen wird die spezifische Rechtsausstattung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt greifbar und es ist deshalb nicht zu beweisen, dass alle Rechte in einem formellen Verleihungsakt zusammen erteilt wurden. Die Rechte können in mehreren Stufen verliehen worden sein und sie
wurden auch gelegentlich erneuert, etwa weil die erste Verleihung folgenlos geblieben war oder weil sich das Recht einer anderen Stadt bzw. „Stadtrechtsfamilie“ als praktikabler erwies. Im Endergebnis ist daher eher selten der effektive Zeitpunkt der „Stadtgründung“ bzw. „Stadtrechtsverleihung“ bekannt, sondern diese Rechte oder Teile davon werden meist erst in einer Stadt fassbar, die schon seit einer nicht genau bestimmbaren Zeit bestanden hat. Schon deshalb sind allzu direkte Schlüsse von der Verleihung der Stadtrechte auf den Mauerbau selten tragfähig. Zudem bleibt das Verhältnis des Zeitpunktes der Befestigung zu jenem einer Rechtsverleihung stets klärungsbedürftig. Zwar mag es normal gewesen sein, dass auf die Verleihung bzw. die Stadtgründung möglichst schnell eine Umwehrung aus Holz und Erde und dann einige Jahrzehnte später die weitaus aufwendigere, der exakten Planung und mühsamen Finanzierung bedürftige Mauer, im eigentlichen Sinne von Steinen und Mörtel, folgte (vgl. 2.2.1.4). Aber Ausnahmen sind nie ganz auszuschließen – eine noch rechtlose „Nichtstadt“ (Dorf, Burgfreiheit, Marktflecken) kann im Einzelfall sehr wohl eine 1. Forschungsstand und Methodik
25
Mauer gehabt haben, eine rechtliche „Vollstadt“ andererseits kann das Stadium des Mauerbaues aus Gründen wirtschaftlicher Unterentwicklung spät oder nie erreicht haben. Eine wichtige Rolle in der stadtgeschichtlichen Literatur spielt auch der Versuch, aus bestimmten Bezeichnungen in den Quellen auf die Befestigung von Siedlungen bzw. ihre Stadteigenschaft zu schließen – ein Ansatz, der für das Hoch- und Spätmittelalter inzwischen vor allem durch Archäologie und Historische Bauforschung bedeutend ergänzt und teilweise überholt ist (vgl. 1.6.). Im Mittelpunkt stand und steht dabei die Bedeutung der besonders häufig auftretenden Bezeichnungen „civitas“ und „oppidum“, wobei freilich auch die – hier nur am Rande interessierende – Entwicklung von der Antike zum Frühmittelalter eine bedeutende Rolle spielte (Gerlach 1913, Schlesinger 1954). „Civitas“ bezeichnet nach herrschender, vielfach belegbarer Meinung im Hoch- und Spätmittelalter die verfasste Bürgergemeinde, das heißt die Stadt im voll entwickelten rechtlichen Sinne (die dann auch, wie Carla Mayer jüngst betonte, im Spätmittelalter vor allem für ihre politischen und kulturellen Errungenschaften gelobt wurde, kaum noch für die offenbar selbstverständliche Befestigung). Ist folglich seit dem 12., spätestens dem 13. Jahrhundert klar, dass „civitas“ eine Stadt und damit prinzipiell ein befestigtes Gemeinwesen meint, so sind die Anfänge leider auch hier nicht ganz so eindeutig. In der Frühzeit bezeichnete „civitas“ auch „Domburgen“ und „Landesburgen“, die zwar zu wichtigen Anknüpfungspunkten gerade früher und großer Städte wurden (vgl. 2.1.2., 2.1.3.), aber nach Funktion und Bewohnerschaft selbst noch keine waren; die ältere historische Forschung hat den Übergang vom einen zum anderen und damit eine Entwicklung von zentraler Bedeutung oft allzu wenig thematisiert. Aber auch sonst kann es frühe Fälle geben, bei denen die Erwähnung einer „civitas“ oder auch von „cives“ (Bürgern) noch nicht auf eine Stadt im Sinne einer rechtlich definierten und planerisch neu gestalteten Anlage deutet, sondern erst auf eine gewachsene und daher vielleicht noch unbefestigte Marktsiedlung wie verschiedentlich in Baden und Oberschwaben. Eine sicherlich aussagekräftige Abfolge bietet dabei das als Stammsitz der Welfen wichtige Ravens26 I. Systematischer Teil
burg: 1109 noch „suburbium“ – also Siedlung bei der Welfenburg –, hat es 1152 die Stufe des „forum“ (Markt) erklommen; an diesem Markt hatte sich dann bis 1224 eine „universitas burgensium“ (verfasste Bürgerschaft) gebildet, die dann 1251 unter dem üblichen Begriff „civitas“ erscheint; die Ummauerung fällt dabei jedenfalls erst in spätstaufische Zeit, deutlich nach 1200. Noch direkter auf die Entwicklung zur ummauerten Stadt dürften die Fälle weisen, bei denen „civitas“ und „oppidum“ aufeinanderfolgen, wie etwa Offenburg (1139 „locus“, 1148 „castrum“, 1233 „civitas“, 1246 „oppidum“) oder Hannover (1189 „civitas“, 1202 „oppidum“) – wobei es leider aber auch die umgekehrte Reihenfolge gibt (Freyburg / Unstrut: 1229 „oppidum“, 1261 „civitas“). Ist „civitas“ als Wort und Begriff vom rechtlich definierten Bürger abgeleitet, worin letztlich auch die Zweifel in Bezug auf die Befestigung gründen, so weist das weit häufigere „oppidum“ direkter auf die Befestigung hin, bedeutete es doch eben dies im klassischen Latein. Im Mittelalter kennzeichnete „oppidum“ den Normalfall der Epoche, nämlich die relativ kleine, neben Markt und Handel auch durch Ackerbürger geprägte Stadt. Dabei umfasste der Begriff aber offenbar auch manchen Marktflecken; Heinz Stoob hat für dieses umfangreiche und vielfach undurchsichtige Feld den Begriff der „Minderstädte“ geprägt. Auch für diese meist unbefestigten, stadtartigen oder stadtähnlichen Siedlungen hatte das Mittelalter zwar Begriffe – wie „burgus“, „fleccen“, „wigbold“, „suburbium“, „Freiheit“ und andere –, aber die Grenze war eben fließend. Ergänzende Charakterisierungen wie „oppidum forense“ (Marktort: Amberg um 1140 / 60) oder „firmissimum oppidum“ (sehr festes Städtchen: Durlach 1273) verdeutlichen gelegentlich, dass die Spannweite des Möglichen schon Zeitgenossen bewusst war. Dass „oppidum“ noch keineswegs zwingend die Mauer belegt, zeigt das 1297 so genannte und mit Lindauer Recht versehene Tettnang, für das dem Grafen von Montfort erst 1330 von Ludwig dem Bayern erlaubt wird, das er seinen fleccen zu Tetebache vesten mach … mitt mauren und graben, wies er will, als ein statt. Im Extremfall konnte die „Festigkeit“ des Ortes ganz ohne menschliche Zutat auskommen, wie Küstrin, das – schon 1261 als „oppidum“ erwähnt – bis 1446 nicht einmal „Planken“ besaß,
sondern nur eine Lage zwischen Flüssen und Sümpfen aufwies (vgl. 2.2.1.1.). Jedenfalls hat die Forschung für viele Regionen des deutschen Raumes die Bedeutung von „oppidum“ als kleine Stadt oder stadtähnliche Siedlung konstatiert. In der Schweiz dominiert der Begriff neben offensichtlichen Synonyma wie „burgus“, „munitio“, „urbs“ oder „stetli“; Lichtensteig etwa erscheint 1271 als „oppidum seu munitio“. Virneburg in der Eifel wird ab 1246 manchmal „oppidum“ genannt – etwa damals entstand seine Mauer –, später „Städtlein“ oder auch „Tal“, das heißt nichtstädtische Burgfreiheit. In Westfalen meinte „oppidum“ in der Regel das, was deutsch „wigbold“ (Weichbild) genannt wurde, also den Markt mit begrenzter Rechtsausstattung, der gelegentlich später zur echten Stadt erhoben wurde (zum Beispiel Cloppenburg: 1411 Wigboldrecht, 1435 Stadtrecht von Münster); Pattensen war 1299 „oppidum“, aber im 15. Jahrhundert wieder „wicbelde“; hier im Flachland war die Holz-Erde-Befestigung der Normalfall. In Unterfranken und Thüringen war „oppidum“ ab dem 13. Jahrhundert das übliche Wort für kleine Städte, wobei man sich vor allem in Thüringen nicht sicher ist, wie anfangs ihre Befestigungen aussahen. In Pommern schließlich traf man im 13. Jahrhundert auf ähnliche Zustände wie in Westfalen – „oppidum“ meinte wohl meist noch einen unbefestigten Marktflecken; Naugard etwa wird 1268 noch unschlüssig „villa sive oppidum“ genannt („Dorf oder Städtchen“). Weitere Bezeichnungen, die deutlich seltener auftreten, aber gleichfalls auf Befestigung schließen lassen oder bei denen dies zumindest diskutiert wurde, sind neben dem schon angesprochenen „munitio“ (Befestigung) auch „castrum“ und „castellum“ bzw. „burc“, schließlich „burgus“. Die offenbar ähnliche Bedeutung von „oppidum“ und „munitio“, beides meinte eine kleine Stadt oder stadtartige Siedlung, war schon berührt worden. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob nicht „munitio“ doch in noch engerem Sinne die Befestigung als solche gemeint hat, quasi ohne die Stadt, zumindest in Einzelfällen. Grebenstein in Nordhessen wird 1311 „nova municio“ genannt; sollte das etwa meinen, die Ummauerung habe schon bestanden, aber die Stadt im vollen Rechtssinne noch nicht? Ähnliche Überlegungen mag man daran knüpfen, dass Haßfurt 1230 noch
„munitio“ ist, 1243 aber „oppidum“ – von der weitgehend leeren Mauer zur echten Stadt? Dass „munitio“ enger an der Mauer als Bauwerk hängt, zeigt schließlich 1254 Eglisau, wo „munitio et porta“ angesprochen werden – was wohl doch nicht „Stadt und Tor“ meint, sondern eher „Mauer und Tor“. Die frühen Städte in der Schweiz wurden oft als „castrum“ bezeichnet und das seit der Antike in optimaler Berglage befestigte Breisach (Baden) erscheint zwischen 939 und 1002 mehrfach als „oppidum“ oder „castellum“; damals war es natürlich noch keine Stadt, aber was sonst – eine „Landesburg“? Jedenfalls erinnert dies daran, dass die Endung „-burg“ im Frühmittelalter den ersten Städten zugewiesen wurde, vor allem jenen, die sich hinter römischen Mauern sicherten (Straßburg, Regensburg, Salzburg und andere). Nachklänge dieses älteren Sprachgebrauches gab es jedenfalls bis ins 13. Jahrhundert, wie auch etwa das junge Kaufbeuren bestätigt, das 1240 in der ersten deutsch verfassten Urkunde überhaupt als „burc“ bezeichnet wurde; man darf hier auch erwähnen, dass die auf „-burg“ endenden Namen der Adelsburgen fast durchweg erst im 15. Jahrhundert auftraten, indem man die ursprünglich auf „-berg“ lautenden Namen umwandelte. In Franken, wo die römischen Vorgänger fehlten, meinten „castrum“, „castellum“, „urbs“ und „civitas“ im 10. / 11. Jahrhundert die „Landesburgen”, die damals politische, aber mit angefügten Siedlungen auch schon wirtschaftliche Mittelpunkte waren. Ab Ende des 12. Jahrhunderts tritt hier die Bezeichnung „burgus“ neu auf, die man wegen ihrer Etymologie auch auf Befestigung zu beziehen versucht hat. Heute ist man davon eher abgekommen und sieht in ihnen Marktsiedlungen bei Königs- oder Herrenhöfen, also gleichfalls direkte Vorstufen von Städten. Der „burgus“ des Klosters Neuwerk grenzte 1181 / 86 an zwei Tore von Goslar, war aber eben noch nicht identisch mit der Stadt, sondern mit einem ihrer rechtlich weiterhin selbstständigen älteren Kerne. Auf eine weitere Verwirrungsmöglichkeit sei nur knapp hingewiesen, weil sie noch selten bemerkt wurde: Auch „Schloss“ kann eine kleine, stadtartige Siedlung meinen. Ein gutes Beispiel ist Ottweiler im Saarland, wo 1393, als die Stadtmauer schon bestand, „slozz, burg und vorburg“ genannt sind, was mit unseren Worten hieße: 1. Forschungsstand und Methodik
27
Städtchen bzw. „Burgfreiheit“, Burg und deren Vorburg; erst 1550 wurden hier städtische Freiheiten verliehen. Eine letzte Frage, die sich auf die Aussagekraft von Bezeichnungen bezieht, hat mit der Lageangabe „intra“ bzw. „extra muros“ zu tun, die nicht selten zum Beleg der Ummauerung wurde. Aber ist die Formulierung auch im technischen Sinne wirklich ernst zu nehmen, meinte sie wirklich immer die Befestigung aus Stein und Mörtel? Denn die Tradition auch dieser Bezeichnung geht bis in die Antike zurück, und daher darf man sich fragen, ob sie nicht längst den formelhaften Bedeutungsgehalt von „in der Stadt“ bzw. „außerhalb der Stadt“ angenommen hat – unabhängig davon, wie deren Grenze nun konkret markiert war. Die Forschung geht überall davon aus, dass der „murus“ der Formel wirklich eine Mauer war, und so halte ich es auch in diesem Buch; aber Zweifel sind durchaus vertretbar. Zusammenfassend ist also zu sagen, dass bestimmte Bezeichnungen in den Quellen –
vor allem „civitas“ und „oppidum“ – in der Regel durchaus auf eine fortgeschrittene bzw. im rechtlichen Sinne abgeschlossene Stadtwerdung deuten, und damit auch in gewisser Weise auf Befestigung. Allerdings ist der direkte Schluss auf die steinerne Befestigung, die „Mauer“ im technischen Sinne, oder gar auf die Mauer in der heute noch fassbaren Form fast immer fahrlässig. Sicherlich bedeutete das durch diese Worte belegte Konzept „Stadt“, dass man Befestigung beabsichtigte, aber ob diese – gerade bei frühen Erwähnungen – noch in Planung, im Bau oder vollendet war, bleibt im Einzelfall zunächst offen, so wie es auch stets klärungsbedürftig bleibt, ob es sich zunächst um Holz-Erde-Anlagen oder ausnahmsweise von Anfang an um eine Mauer gehandelt hat. Die Bezeichnungen in den Quellen sind damit wichtige Fingerzeige, aber Sicherheit über die bauliche Realität einer bestimmten Zeit lassen auch sie kaum zu.
1.5. Abbildende Quellen Abbildungen von Stadtmauern sind vor dem 16. / 17. Jahrhundert kaum vorhanden und vor dem 18. / 19. Jahrhundert in ihrer Aussagekraft recht begrenzt. Zwar sind Stadtsiegel, die im Wesentlichen die Herrschaft über eine Stadt symbolisierten – gleich, ob die eines Stadtherren oder der Stadt selbst –, bis mindestens ins 13. Jahrhundert zurück zahlreich erhalten, im Prinzip also bis in die Entstehungszeit der meisten Städte, und gelegentlich als realistische Abbildungen von Befestigungen interpretiert worden. Beispielsweise in Hessen findet man in der Literatur mitunter die Argumentation, eine Stadt habe zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Mauer besessen, weil das Siegel einer Urkunde dieser Zeit gemauerte Bauteile zeigt – in der Regel ein Tor innerhalb einer symmetrischen Gruppierung, dahinter oft einen Sakralbau. Diese Argumentation ist aber abzulehnen, und zwar deswegen, weil die Siegelbilder nahezu immer eine symbolhaft idealisierte Architektur zeigen, bei der bis in die Antike zurückgehende Darstellungstraditionen deutlich wichtiger waren als der Versuch, die 28 I. Systematischer Teil
Realität getreu abzubilden. Die Mauer auf einem solchen Siegel will gewiss vermitteln, dass dahinter bereits eine Stadt steht, bei der Befestigung zumindest als Anspruch eine Selbstverständlichkeit war – dass die Befestigung im Jahr des Siegels schon die konkrete bauliche Ausprägung einer Mauer besaß, hieße aber, die Aussagekraft zu überfordern. Dass es dennoch in seltenen Fällen unbestreitbare Annäherungen des Siegelbildes an eine reale Architektur gab, hilft im Regelfall nicht weiter, weil wir diese Ähnlichkeit ja nur feststellen können, wenn die letztere selbst erhalten oder noch greifbar ist. Erst ab der Zeit um 1500 und danach – mit Hartmann Schedel (1493), Sebastian Münster und Georg Braun / Frans Hogenberg (1572–1618) – kommt die nach Genauigkeit strebende bildliche (und auch textliche) Darstellung ganzer Städte auf. Vor allem die für den Typus namengebenden „Topographien“ des Frankfurter Verlegers und Kupferstechers Matthäus Merian aus dem mittleren 17. Jahrhundert sind bis heute populär geblieben, weil sie von einer großen Anzahl
europäischer Städte ein höchst anschauliches Bild ihrer in den Grundzügen noch mittelalterlichen Gestalt geben, und zwar nicht selten das früheste. Die Befestigungen spielen bei solchen Darstellungen, ob von realem Stadtpunkt vor der Stadt gezeichnet, ob aufwendig konstruierte Vogelschau, natürlich eine zentrale Rolle und sind für das Verständnis des ehemaligen Gesamtzusammenhanges unersetzlich, gerade auch als Dokumentation verschwundener Teile, von denen wir sonst wenig oder nichts wüssten; das gilt insbesondere für die Tore und noch mehr für deren Vorwerke, mit denen das 19. Jahrhundert fast immer konsequent aufgeräumt hat (Abb. 6). Darüber hinaus allerdings bleibt die Aussagekraft solcher überwiegend in Kupfer gestochenen Gesamtansichten – nicht der Detailansichten, die es ausnahmsweise auch gab – engstens begrenzt. Die Mauern wurden von den Zeichnern, und noch mehr von den Stechern, nicht ohne Grund als letztlich immer wieder ähnlich aussehende Bauwerke aufgefasst und das trug neben der Kleinheit des Maßstabes Entscheidendes zu einer stark schematisierten Darstellung bei. Die Aussagen, die man aufgrund dieser Quellen über verschwundene Einzelbauten machen kann, sind daher in der Regel begrenzt; selbst so entschei-
dende äußerliche Merkmale wie der Grundriss eines Turmes oder seine Dachform können falsch sein, und erst recht ist es unmöglich, aus diesen Darstellungen Aussagen zur Entstehungszeit der Bauteile oder Umbauten abzuleiten. Ähnliches gilt im Übrigen für die gleichfalls ab dem 16. Jahrhundert aufkommenden Festungspläne, die die mittelalterlichen Befestigungen als einbezogene oder angrenzende Teile oft mit darstellen, in der Regel aber nur grob im Grundriss. Besser wurde die Situation erst mit der wachsenden Verbreitung von Detaildarstellungen, die im 18. Jahrhundert begann und ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erreichte. Spätestens ab der Romantik wurden auch einzelne Tore und Türme bzw. die Partie „An der Stadtmauer“ zum verbreiteten Motiv. Sowohl Gemälde als auch Drucke, vor allem Stahlstiche, entstanden nun in beeindruckender Fülle und bieten – gerade in der Epoche, in der auch die Abrisse ihren Höhepunkt erreichen – Information über Bauten, über die wir sonst kaum etwas wüssten. Das gilt ähnlich für zeichnerische Umbauplanungen, die ebenfalls ab dem 18. Jahrhundert gelegentlich auftraten, aber erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Archiven der Bauämter systematisch gesammelt wurden; ihre Aussagekraft ist in der Regel
Abb. 6 Düren (Nordrhein-Westfalen) aus der Vogelschau; Kupferstich von Matthäus Merian, 1647. Ein graphisch gelungenes Beispiel, wie Merian die Befestigungen einer Stadt darstellte, von denen heute nur Reste erhalten sind (Merian, Topographia Westphaliae, 1647). 1. Forschungsstand und Methodik
29
dadurch beschränkt, dass der Altbau nur erfasst wurde, soweit er für die Planung nötig war. Im Rahmen dieses Buches gilt jedenfalls, dass von diesen Darstellungen des 18. / 19. Jahrhunderts in der Regel nur jene ausgewertet wurden, die schon
halbwegs im Zusammenhang der Stadtmauern publiziert sind, da es schlicht unmöglich ist, der ungeheuren Fülle dieser Dokumente in Museen, Archiven, Antiquariaten oder gar in Privatbesitz nachzuspüren.
1.6. Archäologie und Historische Bauforschung Wie einleitend gesagt, war in der älteren Literatur die vertiefte Auseinandersetzung mit einer Stadtmauer als Bauwerk die seltene Ausnahme. Erst in den letzten Jahrzehnten, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und der zunehmenden Verbreitung akademischer Bildung, entwickelten sich Forschungszweige, die auch diesen Bautypus bis ins Detail zu untersuchen begannen: Mittelalterarchäologie und Historische Bauforschung. Beide bilden in gewisser Weise einen gemeinsamen Gegenpol zum Vorgehen der traditionellen Kunstgeschichte, indem sie zunächst gerade nicht stilistische Merkmale einordnen und den Gesamtüberblick suchen, sondern mit letztlich technischer Methodik Schichten, Entwicklungen und Brüche erfassen, um der späteren Interpretation auf historischer Ebene ein verbessertes Fundament zu schaffen. Diese verbesserte Interpretation kann natürlich nur auf lange Sicht entstehen, gegenwärtig sehen wir uns noch einer beständig wachsenden Menge von Einzelergebnissen gegenüber, die im topographischen Band II dieses Buches bereits eine wichtige Rolle spielen, und auch dort, wo die Archäologie die einzige Erkenntnismöglichkeit bietet, vor allem bei den frühen Befestigungen aus Holz und Erde (vgl. 2.2.1.3.). Trotz der zeitraubenden Verdichtung zu übergreifenden Erkenntnissen haben Mittelalterarchäologie und Historische Bauforschung jedenfalls eine neue Phase der Forschung eingeleitet, in der gesichertes Wissen von bisher unbekannter Detailliertheit und Konkretion an die Stelle einer bisher eher oberflächlichen Betrachtung der Bauten zu treten beginnt; als Beispiel seien etwa die bereits zusammenfassend ausgewerteten Grabungen im Land Brandenburg genannt, die zeigen, dass die Mauern relativ häufig über vorher schon genutztes bzw. bebautes Gelände geführt wurden. Dass freilich auch in Zukunft Interpretationsprobleme auftre30 I. Systematischer Teil
ten werden, wenn das Faktenmaterial sich stärker verdichtet hat, kann etwa Duderstadt belegen, wo etliche Einzeluntersuchungen an der Mauer zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und Deutungen führten, sodass erst deren nachträgliche Gesamtauswertung ein halbwegs geschlossenes Bild der lokalen Entwicklung ermöglichte. Zu den grundlegenden Rahmenbedingungen von Archäologie und Bauforschung gehören neben der Finanzierung der zeitaufwendigen Arbeit auch der vorgefundene Zustand und die Zugänglichkeit der Areale und Bauten. (Alt-)Städte sind kleinteilig parzelliert, dicht und vielphasig bebaut und Objekte intensiver Interessen ihrer Bewohner und Nutzer. Genaue Untersuchungen des Bodens oder erhaltener Bauten haben es daher nahezu immer mit vielfach veränderter, schwer analysierbarer Substanz zu tun und sie kommen nur unter günstigen Bedingungen zustande. So wird man heute nur ganz selten ein Stadttor oder einen Turm finden, der nicht jahrhundertelang als Gefängnis oder Armenwohnung gedient hat, der vom Abbruch der Zinnen oder gar der Obergeschosse und vom Einbruch größerer Fenster verschont blieb – was „echter“ aussieht, ist in der Regel restauriert und damit unter dem Aspekt der Bauforschung eher noch schwerer zu analysieren. Wenn in diesem Buch eher wenig über die mittelalterlichen Nutzungen von Innenräumen gesagt werden kann, so liegt das also nicht nur an der schweren Zugänglichkeit der weit überwiegend nicht öffentlich zugänglichen Bauten, sondern auch daran, dass fast immer nur intensive Bauforschung den Urzustand klären könnte, nicht aber reine Betrachtung. Außerdem ist es von regionalen Traditionen abhängig, wie stark die neuen Forschungsansätze in Ländern und Städten zum Zuge kommen; so ist die Archäologie im norddeutschen Flachland
ab dem frühen 20. Jahrhundert stets recht einflussreich gewesen, während die Möglichkeiten der noch jungen Bauforschung von Land zu Land und Ort zu Ort bisher sehr verschieden sind, vor allem wohl deswegen, weil die Möglichkeiten zu einem sinnvolleren Umgang mit der denkmalwerten Substanz, die sie eröffnet, in Bauwesen und Verwaltung erst langsam begriffen werden. Aber regionale Sonderbedingungen prägten den Zustand der Mauern schon weit früher, und damit auch den methodischen Ansatz und Aufwand, der zu ihrem Verständnis nötig ist. So führte der Mangel an Steinmaterial im glazial geprägten Flachland – in Norddeutschland, aber auch in weiten Teilen Bayerns – nicht nur zu verspäteter Errichtung relativ weniger Mauern, sondern auch dazu, dass sie nach dem Verlust ihrer Funktion bald und weitgehend wieder abgetragen wurden. Der Effekt, der auch von Burgen bekannt ist, führt zu einer deutlich eingeschränkten Kenntnis der Mauern solcher Regionen – bis es zu einer breit angelegten Forschung mit archäologischen Mitteln kommt, die dann sogar zu Erkenntnissen führen kann, die in Regionen mit besser erhaltenen Mauern noch fehlen. Ein bisher nirgends beschriebener, aber eng verwandter Effekt betrifft das Vorhandensein von Mauergassen (vgl. 2.2.3.6.). In ganz Süddeutschland sind Mauergassen die Ausnahme, die Parzellen stoßen dort meistens direkt an die Mauer. Die städtische Bebauung wurde dort spätestens ab dem 15. / 16. Jahrhundert,in der Schweiz manchmal schon beim Mauerbau, bis an die Mauer herangeführt, worauf diese sich allmählich zur vielfach durchbrochenen und veränderten, oder gar ganz erneuerten Hausfassade wandelte. Kommt dazu noch ein Bruchsteinmauerwerk, das gegen Witterungseinflüsse Verputz erfordert, so sind unmittelbare Analysen der Bausubstanz heute nur im Falle größerer Baumaßnahmen möglich. In manchen Fällen ist die Mauer auf diese Weise so vollständig aus dem Bewusstsein verschwunden, dass die Bewohner und manchmal sogar Wissenschaftler unter „der“ Stadtmauer die vorgelagerte Zwingermauer verstehen und die verbaute Hauptmauer schlicht übersehen (Abb. 7). Dagegen hat das Vorhandensein einer Mauergasse – in Norddeutschland, aber auch in
Abb. 7 Amberg (Oberpfalz) als Beispiel einer Stadtmauer, die wegen der fehlenden Mauergasse später zu Hausfassaden umgenutzt werden konnte. Nur die durchlaufende Flucht und die beiden verbauten Rundtürme lassen noch ahnen, dass es sich um die Stadtmauer handelt.
großen Städten und bei späteren Mauern des Südens – die Mauer in der Regel vor allzu starker Verbauung und Veränderung geschützt, falls sie nicht systematisch beseitigt wurde. Zwar wurden auch hier manchmal Häuser an die Mauer gelehnt, aber das waren in der Regel kleine Fachwerkhäuser, die sie als Stütze benötigten und sie schon deshalb weniger veränderten. Ein wichtiger Aspekt der jüngeren Archäologie und Bauforschung ist das Aufkommen naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden, die die Einordnung auch von Stadtmauern schon hier oder dort auf zuverlässigere Grundlagen gestellt haben. Dies gilt vor allem für die Dendrochronologie, die etwa in Baden-Württemberg schon für eine Reihe von wichtigen Mauern angewendet wurde (unter anderen durch Burghard Lohrum in Schwäbisch Gmünd, Villingen, Konstanz). Wie diese ein mit historischen Mitteln gewonnenes Bild nicht nur festigen, sondern zugleich stark verändern können, zeigt etwa Kaiserslautern. Schon 1253 als „oppidum“ erwähnt, ab 1276 Reichsstadt, würde man hier, mitten im Sandsteingebiet mit seinem optimalen Baumaterial, durchaus eine Mauer des 13. Jahrhunderts annehmen, aber die an zwei Stellen ergrabenen Fundamentpfähle der Mauer wurden erst 1330– 33 geschlagen.
1. Forschungsstand und Methodik
31
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung 2.1. Vorbilder und Vorläufer 2.1.1. Spätrömische Befestigungen Städte gehen als Phänomen, einschließlich ihrer Befestigungen, bis in die Jungsteinzeit zurück; Jericho im Jordantal gilt gemeinhin als das älteste Beispiel, mit ergrabenen Mauerresten und einem Turm der Zeit um 7000 v. Chr. Die Blüte des antiken Städtewesens erreichte den späteren deutschen Raum in römischer Zeit und brachte vom 1. bis 4. nachchristlichen Jahrhundert im Westen und Süden, vor allem an Rhein und Donau, einige hervorragende Beispiele von Stadtmauern hervor. Daneben entstand, vor allem im 3. / 4. Jahrhundert, eine erhebliche Anzahl von Kastellen zur Sicherung der Grenzen und Verkehrswege, deren Größe und starke, turmreiche Mauern durchaus schon den Dimensionen einer kleinen mittelalterlichen Stadtmauer entsprachen oder sie übertrafen. Die Stärke und technische Qualität dieser römischen Befestigungen sicherten ihnen auch
nach dem Zusammenbruch des Imperiums und der Verödung der Städte und Militäreinrichtungen ein langes Überleben, und als im Frühmittelalter neue Machtkonzentrationen und Handelsmittelpunkte heranwuchsen boten sie diesen weitaus mehr Sicherheit, als es sonst mit den begrenzten Mitteln der Zeit möglich gewesen wäre. Voraussetzung dafür war natürlich die örtliche Kontinuität, die in den meisten Fällen über christliche Kultstätten bzw. Bischofssitze zustande kam, aber natürlich auch mit der Verkehrslage zu tun hatte. So sicherten sich bedeutende Städte wie Köln, Trier, Mainz, Straßburg oder Regensburg noch bis ins 12. Jahrhundert im Wesentlichen hinter römischen Mauern, die nur in Köln und Regensburg schon vor 1000 durch befestigte Vorstädte ergänzt worden waren. Beispiele für kleinere Städte, die in römischen Kastellmauern entstanden, finden sich westlich des Rheins (Zabern / Saverne, Boppard
Abb. 8 Boppard (RheinlandPfalz), das Kastell aus dem mittleren 4. Jahrhundert ist eine der besterhaltenen spätrömischen Befestigungen im deutschen Raum. Vorbilder für mittelalterliche Stadtmauern wurden derartige Anlagen aber nicht (A. Freiherr von Ledebur, Kunstdenkmäler Rheinland-Pfalz, Bd. 8, St. Boppard, 1988).
32 I. Systematischer Teil
(Abb. 8), Koblenz, Andernach, Bitburg), oft mit noch imposanten Resten, aber auch in Österreich, wo etwa das 1517 restaurierte Doppelturmtor von Traismauer (Abb. 280) einen römischen Vorgänger hatte. Die Vorstellung, dass die römischen Mauern für die Stadtmauern des Mittelalters vorbildhaft geworden seien, liegt unter diesen Umständen nahe – noch mehr, wenn man bedenkt, dass im 12. / 13. Jahrhundert fraglos noch viel mehr von ihnen als heute erhalten war. Aber obwohl im Nachbargebiet der Burgenforschung die Ableitung von römischen Kastellen und „burgi“ im 19. Jahrhundert zeitweise stark propagiert wurde, fehlt Entsprechendes für die Stadtmauern weitgehend. Lediglich die in der Tat ungewöhnlichen und frühen Doppelturmtore von Köln, deren Ähnlichkeit mit römischen Bauten beachtlich ist – man vergleiche das „Hahnentor“ (zweites Viertel des 13. Jahrhunderts) mit der „Porta Ostiensis“ in Rom (im Wesentlichen Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) –, haben früh zu der Idee römisch-imperialer Einwirkung geführt. Da Köln selbst einen älteren Tortypus ohne vorspringende Rundtürme besaß (1. Jahrhundert n. Chr.), wird hier nicht ohne Grund das Vorbild des Brückenkopfkastells Deutz angenommen, und auch die Trierer „Porta Nigra“ als besterhaltenes römisches Stadttor in Deutschland dürfte hier mitspielen. Die Kölner Mauer aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte im Rheinland eine vielfältige Nachfolge, die deshalb mindestens zum Teil als indirekte antike Einwirkung verstanden werden darf; dabei bleibt freilich zu beachten, dass um 1200 auch im benachbarten Frankreich eine eigenständige Befestigungstradition mit Rundtürmen und Doppelturmtoren entstand, die im Laufe des 13. Jahrhunderts auch in die Regionen am Rhein eindrang und das Kölner Vorbild überlagerte. Von dieser wichtigen Ausnahme abgesehen, fehlen aber in Deutschland Hinweise auf ein Weiterwirken der (spät)antiken Mauern und ihrer Formen so gut wie völlig. Man kann zwar auf die voll vorspringenden Rundtürme der um 1000 entstandenen Domburg in Hildesheim („Bernwardsmauer“) verweisen, der Türme an der karolingischen Pfalz Ingelheim ähnelten, und auch einzelne Türme an dieser oder jener frühen Burg des 10. / 11. Jahrhunderts, aber dies sind seltene
Ausnahmen in einem frühmittelalterlichen Gesamtbild, das zunächst lange durch Holz-ErdeAnlagen und Trockenmauerwerk, dann durch turmlose Mauern und erst ab dem 13. Jahrhundert wieder durch Türme geprägt wurde – und auch dann zunächst fast nie durch runde Türme und noch weniger durch solche, die sowohl innen wie außen wie die römischen vorsprangen. Und auch andere Hauptmerkmale der spätantiken Befestigungen sind an den mittelalterlichen Mauern in aller Regel nicht wiederzufinden. So sind für die Kastelle des 3. / 4. Jahrhunderts im Rheinland neben den Rundtürmen auch extreme Mauerdicken zwischen 2 m und 3 m üblich, dabei aber schlichte Tordurchlässe. Im Mittelalter wird man ganz im Gegenteil kaum je Mauern finden, die 2 m dick sind oder mehr (vgl. 2.2.3.1.), und die Tore sind als Tortürme fast immer die entscheidenden Akzente der Mauern; man darf also bei grundsätzlich gleicher Bauaufgabe von absolut gegensätzlicher Gestaltung sprechen. Die Erklärung für dieses Auseinanderklaffen liegt im Grunde auf der Hand. Hinter den Bauten des späten Imperiums standen ein durchorganisiertes Staatswesen, ein effektives Militär und eine funktionierende Finanzverwaltung. Damit konnten sich die entstehenden Städte des 12. / 13. Jahrhunderts noch lange nicht messen, auch wenn sie Zentren eines Wirtschaftssystems waren, das sich langsam wieder formierte. Ihr kulturelles und ökonomisches Bezugssystem war vergleichsweise rudimentär und gewann erst über Jahrhunderte hinweg langsam an Solidität, was sich auch in der Entwicklung der Befestigungen zeigte. Ein Staat von der Stärke des Imperium Romanum entstand bis über die frühe Neuzeit hinaus nicht mehr, und dementsprechend sind erst die Festungen des entwickelten Absolutismus in ihrem Bauaufwand wieder mit den Städten und Kastellen der Spätantike zu vergleichen.
2.1.2. Frühmittelalterliche Burgen Neben den Stadt- und Kastellmauern in jenem Teil Deutschlands, der zum Imperium Romanum gehört hatte, kommt auch eine weitere Gruppe von Bauten als Vorbild der hoch- und spätmittelalterlichen Stadtmauern infrage. Denn in jener Zeit, als sich die Ansätze des mittelalterlichen 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
33
Städtewesens herauszubilden begannen, gab es natürlich bereits andersartige, nichtstädtische Befestigungen. A priori spricht Wichtiges dafür, in diesen frühmittelalterlichen Burgen eher die unmittelbaren „Väter“ der Stadtmauern als Bauwerke als in den römischen Mauern zu suchen. Denn die wirtschaftlichen, politischen und technischen Voraussetzungen solcher Burgen des 8.–11. Jahrhunderts waren prinzipiell dieselben wie für die Anfänge der bürgerlichen Niederlassungen. Und da viele der frühen Burgen – die ja noch keine Adelsburgen waren, sondern im weitesten Sinne „staatlichen“ Funktionen und als Fliehburgen dienten – durchaus die Größe späterer Städte erreichten, gab es auch insoweit eine Ähnlichkeit ihrer Umwehrungen. In manchen Fällen entstanden Städte später in solchen Befestigungen, zum Beispiel Paderborn, Obermarsberg, Weilburg / Lahn, Kassel, Fulda, Amöneburg oder Nabburg. Der Forschungsstand zu den Burgen der karolingischen, ottonischen und salischen Zeit war und ist allerdings von aufwendigen archäologischen Untersuchungen abhängig, daher lückenhaft und kann hier nicht im Detail referiert werden. Er reicht aber dafür aus, einige ausgewählte und besser untersuchte Anlagen zu betrachten, um Schlaglichter auf die Gestalt der Umwehrungen bzw. ihrer Einzelelemente zu werfen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die großen karolingischen Grenzburgen in Nordhessen wie Christenberg und Büraberg – wohl ein Vorgänger der Stadt und des Bischofssitzes Fritzlar – und einige frühe Pfalzen, vor allem das großflächig ergrabene Tilleda. (Abb. 9) In (Ober-)Franken (Würzburg, Hammelburg) und der Oberpfalz (Nabburg, Cham) hat W. Emmerich ottonische „Landesburgen“ mit Pfarrkirche, Siedlung und Fiskalbezirk beschrieben, denen Vergleichbares in Thüringen entsprochen haben dürfte („urbs“ Erfurt 729; Gotha, Altenburg, Eisenberg). Von besonderer Bedeutung sind schließlich die frühen „Domburgen“, die deswegen gesondert behandelt werden (vgl. 2.1.3.). In der Regel handelte es sich dabei um Anlagen, denen vom Reich – oder dessen Amtsträgern wie Herzögen oder Grafen – neben strategischen Funktionen auch administrative Aufgaben als „Mittelpunktsburgen“ zugewiesen waren. Sie beherbergten vielfach Kirchen und gewiss Raum für den Rückzug der Bevölke34 I. Systematischer Teil
rung in Notzeiten; oft lagen sie in Grenzregionen und sicherten Handelsplätze. Die Umwehrungen solcher Burgen – bei flacherem Gelände von Gräben verstärkt, die oft mehrfach gestaffelt waren – bestanden in der Regel aus Wällen, gegebenenfalls mit stützenden Holzeinbauten und mit Holz oder Mauerwerk verstärkter Außenfront; aber auch Trocken- und Mörtelmauerwerk ohne Hinterschüttung trat durchaus schon in karolingischer Zeit auf. Gerade von der letzteren Form zur steinernen Stadtmauer führte natürlich der denkbar kürzeste Weg, aber auch für die hinterschüttete Mauer – oder reziprok formuliert: den mauerverkleideten Wall – gibt es nach jüngeren Forschungsergebnissen bei frühen Stadtumwehrungen des südwestdeutschen Raumes Vergleichsbeispiele (vgl. 2.2.3.2.). Die Tore der frühmittelalterlichen Befestigungen waren noch nicht durch aufragende Türme gesichert, sondern durch überlappende oder parallel geführte Mauerteile, von denen aus der Ankömmling über eine längere Strecke beschossen werden konnte (Zangentor, eingezogenes Tor, Torgasse). Erst an deren innerem Ende können in vielen Fällen aus Fundamenten oder Pfostenlöchern Torkammern festgestellt werden, über denen mindestens ein verteidigungsfähiges Obergeschoss anzunehmen ist; aber schon dies ist nur Vermutung, die Annahme turmartiger Bauten wäre höchstens bei steinernen Kammertoren diskutabel. Eine Entwicklung von solchen Torformen zu dem bei deutschen Stadtmauern normalen Torturm (2.2.5) ist also nicht gesichert, aber vorstellbar. Wir wissen ja über die Tore der frühen Holzbefestigungen kaum etwas und eher noch weniger über die Tore der vor 1200 entstandenen Mauern. Immerhin waren die frühesten, noch spätromanischen Tortürme in Deutschland deutlich niedriger als die späteren (vgl. 2.2.5.1.), was man als Folge einer Entwicklung aus noch bescheideneren Vorgängern verstehen könnte. Und auch rudimentäre Torgassen kommen bei Stadtmauern des 13. / 14. Jahrhunderts vor, allerdings nur noch sehr selten (vgl. 2.2.5.5.). Auch sonst sind Türme bei frühmittelalterlichen Burgen Ausnahmen, was natürlich primär damit zu tun hat, dass erst Mörtelmauerwerk höhere Bauten ermöglicht und dass dieses anfangs noch selten war.
Abb. 9 Beispiele stadtähnlicher Siedlungen in vorstädtischer Zeit. Die Pfalz Tilleda (Sachsen-Anhalt; oben) besaß im 10. / 11. Jahrhundert eine Vorburg mit zahlreichen Handwerkerhäusern, der Büraberg (Hessen, Mitte) war eine fränkische Burg des 8. / 9. Jahrhunderts mit Bischofssitz; die Rekonstruktion zeigt die Ostecke. Alt Lübeck (Schleswig-Holstein) war eine slawische Burg mit Handwerker- und Kaufmannssiedlung (Grimm, Tilleda, Bd. 2, 1990; Wand, Die Büraburg, 1974; Ausflüge zu Archäologie, Geschichte und Kultur in Deutschland, 56: Hansestadt Lübeck).
Was die Bebauung und Nutzung ihres Innenraumes oder gar den rechtlichen Status ihrer Bewohner betrifft, waren diese Burgen natürlich etwas anderes als Städte. Freilich steht auch diese Aussage unter dem Vorbehalt höchst begrenzter Grabungsergebnisse. In den karolingischen Be-
festigungen Büraberg und Christenberg sieht man mit gutem Grund noch rein militärische Befestigungen, funktionale (nicht formale) Nachfolger römischer Kastelle. Bei späteren Anlagen wird die Händler- oder Handwerkersiedlung meist neben der Befestigung vermutet, aber ein 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
35
Ausgrabungsergebnis wie jenes der Pfalz Tilleda zeigt, dass es vom 10. bis 12. Jahrhundert auch schon innerhalb der Befestigungen dichte Besiedlung bäuerlicher und handwerklicher Art geben konnte. Das, was ohne Ausgrabung, also nahezu immer, gerne als „Vorburg“ bezeichnet wird, kann demnach in dieser Zeit schon einen Charakter entwickelt haben, den man als eine der Vorstufen zu wirklichen Städten verstehen darf. Auch im ehemals slawisch besiedelten, erst vom 10. bis zum 13. Jahrhundert vom deutschen Adel eroberten und kolonisierten Gebiet – in der Spätphase waren dies noch Schlesien, Brandenburg, Mecklenburg, Pommern und das spätere Ostpreußen, vor dem 12. Jahrhundert auch große Teile von Sachsen und anderen Gebieten weiter westlich – gab es schon zuvor Burgen mit Mittelpunktsfunktionen. Einige von ihnen, und weitere außerhalb der später deutschen Territorien, sind aufwendig ergraben (Alt-Lübeck, Spandau, Oppeln und andere). In der Regel handelte es sich um fürstliche oder „Kastellanei“-Burgen, die Zentren einer mehrteiligen Siedlungsverdichtung bildeten. Typisch war neben der Wasser- und Sumpflage die sehr enge Bebauung der umwehrten „suburbien“, die nicht nur Fischern und Handwerkern dienten, sondern auch schon ersten Händlern, vor allem aber die hoch entwickelte Holzarchitektur. Sie wird für die deutschen Stadtbefestigungen dieses Raumes anfangs sicher eine Rolle gespielt haben, aber unser beschränktes Wissen über diese Frühphase verbietet dazu noch detailliertere Aussagen (vgl. 2.2.1.3.). Sicher ist dagegen, dass die neu gegründeten deutschen Städte oft an slawische Burgen und Siedlungskonzentrationen anknüpften, womit sie sich vorhandene Strukturen auch bezüglich des Verkehrs zunutze machten. In der Regel aber entstanden die Städte in einiger Entfernung neben den slawischen Anlagen, die auf ihren Inseln für die weit großzügiger angelegten deutschrechtlichen Städte zu wenig Platz boten, geschweige denn für Erweiterungen. Im relativ früh eroberten Sachsen wurde das Land ab dem 10. Jahrhundert in „Burgwarden“ organisiert, das heißt, Befestigungen oder „Landesburgen“ blieben weiterhin Zentren der politischen Organisation. In manchen Fällen waren dies mit Sicherheit die örtlich beibehaltenen 36 I. Systematischer Teil
slawischen Anlagen; als Beispiel sei Bautzen genannt, das schon 1002 als „civitas“ bzw. „urbs“ genannt ist. In der Regel wissen wir aber noch nichts über die frühe Gestalt der Befestigungen, die Zentren dieser „Burgwarde“ waren. Als Beispiele für Städte, die neben wichtigen slawischen Burgen entstanden, seien in Brandenburg Jüterbog, Köpenick, Prenzlau, Spandau, Tangermünde und Brandenburg selbst genannt, in Mecklenburg Rostock, wo 1189 zuerst ein „forum“ bei der Burg genannt ist. In Pommern entsprachen diesem Ablauf Altentreptow, Belgard, Cammin, Demmin, Kolberg, Pyritz, Schivelbein, Stargard, Stettin, Stolp, Treptow, Usedom und Wolgast.
2.1.3. Domburgen Die befestigten Immunitäten der Bischofssitze, die „Domburgen“, gehörten zu den wichtigsten Vorgängern bzw. Ausgangspunkten der mittelalterlichen Städte, denn sie boten gute Möglichkeiten für Handwerk und Handel. Sie entsprachen in ihrer politischen Bedeutung durchaus den schon angesprochenen „Mittelpunktsburgen“, übertrafen sie aber als zugleich geistige und religiöse Zentren noch deutlich. Eine Mehrheit religiöser Gemeinschaften – Stifte und Klöster, wie sie sich um Bischofssitze ballten – benötigte nicht nur in erheblichem Umfang Güter des täglichen Bedarfs, sondern auch Wertgegenstände für Liturgie und Kirchenschatz. Geistliche und Mönche waren außerdem die besten Organisatoren der Zeit, weil sie schreiben konnten, Bildung besaßen und einer gesamteuropäisch und darüber hinaus etablierten Organisation angehörten. Dass die frühesten wirklichen Städte des Mittelalters gerade an und aus Bischofssitzen entstanden, ist daher leicht erklärlich. In der Regel bildete sich der Markt vor dem wichtigsten Tor der Domburg, aber als große Ausnahme lag er auch einmal innerhalb der Mauern, wie offenbar in Osnabrück, wo der Mauerverlauf allerdings bisher nicht sicher erfasst ist. Es war bereits erwähnt worden, dass die Entwicklung vom geistlichen Zentrum zum Marktort sich auch im Wortgebrauch der Quellen spiegelt, indem vor allem „civitas“ oder auch „urbs“ beides nacheinander bezeichnen konnten, ohne dass die Entwicklung von der Domburg zur wirk-
lichen Stadt erkennbar würde – eine Tatsache, die die Geschichtsforschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dazu gebracht hat, die Anfänge echter Städte und auch ihrer Befestigungen deutlich zu früh anzusetzen. Noch Haase musste daher 1963 in seinem Aufsatz über die „Stadt als Festung“ betonen, dass die mittelalterliche Stadt im eigentlichen Sinne mit der bürgerlichen Ansiedlung beginnt und nicht bereits mit der Domburg. Weil die Domburgen – und auch einige wichtige Stifte und Klöster – in jeder Hinsicht Mittelpunkte der damaligen Welt waren, zogen sie nicht nur die frühen Märkte und Händlersiedlungen an, sondern besaßen auch Umwehrungen, die im Rahmen ihrer Zeit hohen Standard erreichten. Damit sind nicht nur die römischen Mauern gemeint, in denen sich die Bischofssitze vor allem an Rhein und Donau einrichteten – Straßburg, Mainz, Köln, Trier, Regensburg, Augsburg –, sondern noch mehr die Bischofssitze außerhalb des ehemaligen Imperiums. Zwar bildeten auch hier, wie bei anderen Burgen und später den Städten, sicherlich Holz-Erde-Befestigungen den Anfang und lange den Normalfall. Durch Grabung nachgewiesen oder zumindest naheliegend sind sie etwa in Speyer, Münster, Halberstadt, Bremen und Hamburg; in Augsburg ist, trotz der weiterbenutzten römischen Mauer, im 10. Jahrhundert die Rede nur von „Wällchen und Palisaden“. Aber Mauern traten hier besonders früh auf, manche erhielten früher und konsequenter als andere Befestigungen Türme und ihre Torbauten waren aufwendiger. Freilich sind wir über dies alles nur noch aus Schriftquellen und einigen Grabungen informiert. Mauern um die Domburgen entstanden, so wie es bisher aussieht, vom mittleren 10. Jahrhundert bis zum mittleren 12. Jahrhundert, wobei die Entwicklung offenbar im Süden begann, vermutlich von den Resten römischer Mauern beeinflusst. In Augsburg wollte Bischof Ulrich Mitte des 10. Jahrhunderts die erwähnten Wälle durch Mauern ersetzen, die aber beim Ungarnangriff 955 noch niedrig und turmlos waren. In Passau wurde ein älterer, die ganze Halbinsel samt Dom schützender Abschnittswall im 10. Jahrhundert erneuert („Römerwehr“) und auch in Trier gab es um 1000 schon eine neue Mauer (wobei der davorliegende Markt, ab dem frühen 12. Jahrhundert wallgesichert, schon 1140–43 ebenfalls
ummauert wurde). In Norddeutschland ist der steinverkleidete Wall der bischöflichen Nebenresidenz Soest, wohl aus dem 9. Jahrhundert, der älteste Fall, während die meisten Beispiele jünger sind, so etwa in Münster (Mauer um 1100), in Osnabrück (spätestens frühes 12. Jahrhundert) und bei dem reichen Kloster Fulda (Mauer um 1150–65). In diesen Fällen bleibt zumeist unklar, ob die Mauern schon Türme besaßen; immerhin ist die ausdrückliche Erwähnung, sie hätten 955 in Augsburg noch gefehlt, ein Indiz, dass sie zumindest von manchen als normaler Bestandteil betrachtet wurden. In einigen Fällen wissen wir jedoch sicher von Türmen, und zwar nicht von vereinzelten, sondern von regelmäßig gereihten, die wiederum an Römisches erinnern. Das große Kloster St. Gallen errichtete zwischen 953 / 54 und 975 eine Befestigung mit 13 Türmen – die früheste Anlage mit Türmen, von der wir wissen, bei der man aber bisher nur vermuten kann, dass sie das Kloster selbst umgab. Die anderen mit Türmen versehenen Mauern liegen im Norden und entstammen der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Unter Bischof Bernward (993–1022) entstand die schon erwähnte Mauer in Hildesheim, die eine ältere Befestigung ersetzte und voll vorspringende Rundtürme besaß. Bremen, ursprünglich umwallt, sollte zwischen 1032 und 1043 eine getürmte Mauer erhalten – man unterstellt dort quadratische Türme –, der Bau wurde aber abgebrochen; ähnlich sollte der „Heidenwall“ in Hamburg, der neben der „Hammaburg“ auch die Siedlung in Halbinsellage schützte, um 1035 / 43 durch eine Mauer mit zwölf Türmen ersetzt werden, was auch nicht zustande kam. Über die Tore dieser Domburgen sind wir in ähnlicher Weise informiert, das heißt in der Regel nur aus Schriftquellen. Offenbar gab es öfter Kapellen in den Obergeschossen, die die Doppelbedeutung der „Dom-Burg“ unterstrichen. Interessanterweise ist gerade dies ein Element, das auch bei besonders frühen Stadttoren wiederkehrte, bei Bischofsstädten (Köln), aber auch bei anderen (Soest, Goslar; vgl. 2.2.5.6.). In Hildesheim, wo die Tore der Bernwardsmauer solche Kapellen besaßen, ist in der Stiftskirche Heilig-Kreuz das wohl einzige Tor dieser Art weitgehend erhalten geblieben (Abb. 10). Offenbar hatte man die Domburg wenige Jahrzehnte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
37
nach der Ummauerung schon gegen Osten erweitert und einen mächtigen Torbau mit dreischiffiger Torhalle und entsprechender Kapelle im Obergeschoss errichtet; eben dieser wurde schon bald, 1079, zur Stiftskirche umgestaltet – aus einem „Haus des Krieges“ (domus belli) in eines des Friedens, wie der Chronist berichtet. Als Sonderfälle befestigter Bischofssitze, die einer anschließenden Stadtentwicklung besonderen Vorschub leisteten, seien noch kurz jene angesprochen, bei denen aufgrund der Topographie offenbar keine separate Domburg entstand, sondern von vornherein ein größeres Gebiet gesichert wurde, das neben dem Domstift viel mehr Platz zur Entfaltung bot. In der Regel handelte es dabei um Spornlagen bzw. Halbinseln, bei denen eine Abriegelung der einzigen, relativ schmalen Angriffsseite ökonomischer als eine längere und trotzdem ein kleineres Gebiet schützende „Burg“ inmitten des Sporns war. Prototypisch darf man Passau nennen, wo die Spitze zwischen Donau und Inn auf natürlich vorgegebener Geländekante durch einen Wall gesichert war, der im 10. Jahrhundert als Mauer erneuert wurde; das geschützte Gelände reichte der Stadt dann bis ins Spätmittelalter aus. Direkt vergleichbar ist Konstanz, ursprünglich eine Halbinsel zwischen Rhein, Boden- und Untersee. In Basel ging der Abschnittswall auf dem Sporn letztlich auf eine keltische Befestigung zurück, war aber doch etwas klein, sodass eine weiter gespannte Ummauerung („Burkardsmauer“; Abb.300) schon vor 1100 entstand. Hamburg schließlich ähnelte Passau und noch mehr Konstanz, aber hier war die Abschnittsbefestigung des „Heidenwalls“ erst die zweite Entwicklungsstufe nach der „Hammaburg“, die älter war und isoliert dahinterlag.
Abb. 10 Hildesheim (Niedersachsen). In der Kirche Heilig Kreuz ist ein Torbau der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verbaut, im Grundriss quadratisch markiert. Unten ein Rekonstruktionsversuch des Inneren von J. Bohland (A. Rieger, Die Kreuzkirche in Hildesheim, 1962).
38 I. Systematischer Teil
2.1.4. Frühformen von Städten Domburgen und „Landes-“ oder „Mittelpunktsburgen“ waren Herrschaftssitze, die der allmählichen Herausbildung von Märkten und der Ansiedlung spezialisierter Produzenten einen Anknüpfungspunkt und Schutz boten. Nach dem gegenwärtigen, immer noch nur punktuell vertieften Kenntnisstand war dies vermutlich der häufigste Fall der Entstehung früher Städte. Das Augenmerk der historisch orientierten Städteforschung hat daneben schon früh einer Form früher Handelsplätze gegolten, bei denen solche Herrensitze oder Plätze staatlicher Amtsträger keine nennenswerte Rolle spielten, den sogenannten Wiken (oder Wieken; vom germanischen Wort für Bucht oder Umzäunung), die insbesondere an den Küsten von Nord- und Ostsee entstanden und an Flüssen, die von dorther befahrbar waren. Das besondere Interesse solcher Anlagen liegt aus historischer Sicht vor allem auch darin, dass man hier nicht ohne Grund von einer Art früher Selbstverwaltung der Kaufleute ausgeht, die manche Züge des späteren Marktund Stadtrechts vorweggenommen hätte. Ob solche nur den wirtschaftlichen Gesetzen folgenden Handelsplätze wirklich nichts mit Herrensitzen zu tun hatten und ob sie im Einzelfalle befestigt waren, ist natürlich wieder eine Frage, die fast nur durch Archäologie zu klären ist, weswegen das Thema hier auch nur kurz berührt werden soll. Im Wesentlichen sind es die umfangreichen Ausgrabungen in Haithabu (Schleswig-Holstein; Abb. 11) gewesen, die verdeutlicht haben, was an solchen Orten schon vor 1000 möglich war; in Haithabu waren die Bedingungen für die Forschung ideal, weil der Ort später verödete und die Bodenfunde daher unzerstört und zugänglich blieben. Nicht nur war diese frühe „Stadt“ schon äußerst dicht bewohnt und bebaut, sondern der Reichtum der Bewohner genügte auch, um vor 968 eine starke, 1300 m lange und 10 m hohe
Abb. 11 Haithabu (Schleswig-Holstein), Rekonstruktionsversuch des befestigten Handelsplatzes im Zustand des 10. Jahrhunderts (GEOEPOCHE ).
Umwallung zu schaffen, die dann bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts in neun Phasen verstärkt wurde. Edith Ennen hat hier einen allgemeinen Strukturwandel der westeuropischen „Wike“ im 10. Jahrhundert erschlossen, der freilich noch stark der Veranschaulichung durch Grabungsergebnisse an anderen Orten bedürfte; gerade auch die Frage, wie die fraglos öfter vorhandenen Befestigungen aussahen und wann sie entstanden sind, bedürfte solcher Klärungen. Jenseits der Küsten bzw. der Verbreitungsgebiete der „Wike“ ist es, soweit ich sehe, bisher unmöglich, frühe befestigte Siedlungen ohne Anschluss an einen Herrschaftssitz sicher zu fassen. Als Beispiel der Problematik sei Ladenburg erwähnt, wo ein kleiner Bereich im Zentrum der römischen Stadt nach Einschätzung der örtlichen Forschung schon im 9. / 10. Jahrhundert eine 2 m dicke Mauer samt Graben erhielt, die man als Sicherung eines wormsischen (Wirtschafts-) Hofes versteht. Bei scharfer Betrachtung ist aber die Funktion dieses später dicht verbauten Kernbereiches der Stadt ebenso ungeklärt wie die genaue Datierung.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
39
2.2. Befestigungen und Mauern vom 12. bis zum 16. Jahrhundert Die Blütezeit der mittelalterlichen Stadtbefestigung – im Sinne der „Mauer“, des Bauwerkes aus Steinen und Mörtel – lag im 12. Jahrhundert und vor allem im 13. Jahrhundert, wenn man auf die vorbildhaften Mauern der wichtigsten Städte abhebt. Sie zieht sich aber unübersehbar bis ins 14. / 15. Jahrhundert und gar in den Beginn des 16. Jahrhunderts hin, wenn man die oft bedeutenden Modernisierungen oder neuen, äußeren Mauern größerer Städte und vor allem die Fülle der Kleinstadtmauern zum Maßstab macht. Im Folgenden werden die Elemente dargestellt, aus denen die Befestigungen in dieser langen Zeit bestanden, basierend auf aussagekräftigen Beispielen desselben Materials, das im regionalen Teil dieses Buches vorgelegt wird. Ziel ist dabei nicht nur die formale und funktionale Charakterisierung dieser Elemente, sondern ebenso und mehr noch die Darstellung ihrer Entwicklung. Auch der Aufbau der folgenden Kapitel folgt dem historischen Ablauf, indem die Holz-Erde-Befestigungen, die meist am Beginn standen, auch hier den Anfang, und jene Bauformen, die erst in Reaktion auf die Feuerwaffen entstanden, den Abschluss bilden.
2.2.1. Vorstufen der Mauer Dass eben erst gegründete Städte zunächst nur provisorisch gegen Angriffe gesichert wurden, liegt auf der Hand. Einerseits waren sie Objekte, die schnell zum politischen Störfaktor werden oder auch einen Raubzug lohnen konnten, andererseits sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass der Aufwand des Mauerbaues in der Aufbauphase einer Stadt noch kaum zu leisten war. Eine Hunderte Meter lange, mehrere Meter hohe und 1–2 m starke Mauer, ergänzt durch etliche Türme, bedeutete ein Bauvolumen, das selbst größere Kirchen deutlich übertraf, auch wenn der Aufwand an Ornamentik bzw. Steinmetzarbeit weit hinter dieser zurückblieb. Eine wirtschaftlich florierende Stadt konnte diese enorme Leistung erbringen, indem sie Arbeit und Finanzmittel über viele Jahre verteilte (vgl. 2.2.1.5.) – aber keine Stadt florierte schon in den allerersten Jahren. 40 I. Systematischer Teil
Die häufige Gleichsetzung von „Befestigung“ und „Mauer“ hat in der älteren Literatur – in der Heimatforschung, aber auch bei den mit Baulichem wenig befassten Historikern – dazu geführt, dass man manchen Städten, die nach der Schriftüberlieferung früh Bedeutung erlangten, von Anfang an, mindestens ab dem 12. Jahrhundert, Mauern zuschrieb. Im national gesinnten 19. und frühen 20. Jahrhundert erreichte dies einen Höhepunkt, wenn bedeutende und damals geradezu mystifizierte Dynastien mit der Stadtentstehung zu tun hatten, etwa die Staufer, Welfen oder Zähringer. Hinweise darauf, dass manche Städte gerade in der Frühzeit auch Befestigungsteile aus Erde und Holz besessen haben, wurden dagegen kaum zum Ausgangspunkt kritischer Forschung. In der Seltenheit solcher Belege sah man in der Regel den Beweis ihrer Unwichtigkeit, anstatt sich zu fragen, ob sich in deren Unscheinbarkeit nicht eher die Kargheit der Quellen spiegelt, nicht aber die wirkliche Bedeutung des Phänomens. Auch die Tatsache, dass in vielen Regionen frühe Mauern im Baubestand kaum zu finden sind, trotz durchaus vorhandener Städte – zum Beispiel in Niedersachsen praktisch bis ins 15. Jahrhundert, ähnlich in Oberund Niederbayern, aber auch etwa in Thüringen mindestens bis Ende des 13. Jahrhunderts –, wurde lange übersehen bzw. gab keinen Anlass zu kritischen Fragen. Die ins Detail vordringende Forschung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Mittelalterarchäologie, hat gerade in diesem Punkt zu veränderten Einschätzungen geführt. Obwohl es vor dem mittleren 12. Jahrhundert in Deutschland durchaus einige wenige Mauern gab, hat die Mehrheit der frühen Städte auch in Bezug auf ihre Befestigungen fraglos bescheidener ausgesehen, als man früher annahm. Selbst, wenn man also unterstellt, dass Städte prinzipiell von Anfang an befestigt waren (vgl. 2.2.1.6.), so ist das Augenmerk zunächst – bevor es um die wirklichen „Mauern“ geht – auf zwei Alternativen zu richten, nämlich einerseits auf die Nutzung natürlicher Gegebenheiten und andererseits auf die einfach und schnell zu errichtende Befestigung aus Erde und Holz, deren
große Bedeutung mit der Dauer der Forschung immer klarer hervortritt. 2.2.1.1. Nutzung des Geländes Eine Stadt muss, um gut und dauerhaft zu funktionieren, Anforderungen verschiedener Art erfüllen, die teilweise in deutlichem Widerspruch zum Aspekt der Verteidigung stehen. Der Handel forderte eine verkehrsgünstige Lage, die Versorgung der Bewohner Nähe zum Agrarland und vor allem zum Wasser, das auch für Mühlen und Gewerbe wichtig war. Eine Schutzlage entweder auf steiler Höhe oder zwischen Gewässern an allen oder fast allen Seiten – die beiden Hauptfälle, die man bei Befestigungen aller Art und Zeitstellung findet – ist damit nur schlecht vereinbar. Schwierigkeiten bereitete insbesondere die Wasserversorgung, die für die wenigen Bewohner einer Burg auch in Höhenlage lösbar, aber für die zahlreichen Bürger einer Stadt allzu aufwendig war. Deswegen sind deutsche Städte in echter Berglage selten, im Gegensatz zu großen Teilen des Mittelmeerraumes, wo Zisternen wegen des sommerlichen Wassermangels ohnehin nötig waren. Es überrascht deshalb nicht, wenn viele Städte eine indifferente oder sogar ungünstige Verteidigungslage zeigen. Der Aspekt der Verteidigung spielte bei ihrer Gründung – oder der Entstehung der Vorgängersiedlung – eben nicht die ausschlaggebende Rolle. Die Lage am Wasser und an den Verkehrswegen schien vielmehr den Gründern so wichtig, dass sie eine Befestigung in
Abb. 12 St. Goarshausen (Rheinland-Pfalz) als klassisches Beispiel einer Stadt am Mittelrhein, deren Befestigung in der Burg Neukatzenelnbogen („Katz“) gipfelte; von den zur Burg führenden Schenkelmauern sind beim rechten Turm noch Reste erhalten.
Kauf nahmen, die nur mühsam zu verteidigen war, weil sie zum Beispiel unter einem überhöhenden Berghang verlief. Derartiges findet man im gesamten deutschen Raum; als markantes Beispiel seien jene Städte im Mittelrhein- und Moseltal genannt, die die Lage am Fluss damit bezahlten, dass sie von den steilen Schieferhängen unmittelbar überragt wurden, oft so steil, dass sie bergseitig ganz auf Mauern verzichteten. Eine Burg über der Stadt bot zwar oft punktuellen Schutz, der Großteil der Siedlung blieb aber einem Angriff von oben ausgesetzt. (Abb. 12). Dennoch gibt es auch Städte in Schutzlage, und zwar – von manchen beherrschend liegenden Burgstädtchen einmal abgesehen – am ehesten unter den Gründungsstädten, deren Lagewahl unabhängiger von engen örtlichen
Abb. 13 Drosendorf (Niederösterreich), Baualterplan. Die Stadt nutzt einen Bergsporn, der nur im Süden bei der Burg leicht zugänglich war (R. Woldron / R. Rhomberg, Drosendorf, 2007). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
41
Abb. 14 Berlin und Cölln um 1200, schematische Rekonstruktion. Die Doppelstadt war ein Beispiel für die Schutzlage auf Fluss inseln, wobei Flussübergänge von Fernstraßen gleichfalls wichtig waren (A. von Müller, Edelmann … Bürger …, 1979).
Vorgaben erfolgte und daher einem optimalen Verhältnis der verschiedenen Einflussfaktoren näherkommen konnte. Die meisten Beispiele findet man im nordostdeutschen Flachland – Mecklenburg, Brandenburg, Pommern und Preußen –, wo sich die späte und systematische Gründung der meisten Städte in optimaler Weise mit den Geländeverhältnissen verband; aber auch im gleichfalls spät erschlossenen österreichischen „Waldviertel“ gibt es Städte in geschützter Höhenlage, die dort teilweise durch die Verlegung der Vorgängersiedlung entstanden (Abb. 13). In Norddeutschland verband die Lage auf sandigen Flussinseln oder zwischen eiszeitlich geprägten See- und Sumpfsystemen oft in idealer Weise das Wasserbedürfnis der Siedlung mit dem Schutz gegen unerwünschte Annäherung; der lockere Sandboden erlaubte außerdem die mühelose Anlage von Gräben, auch für den Betrieb von Wassermühlen. Als bekanntere Beispiele für die Nutzung von Flussinseln oder Deltasituationen seien Hamburg, Berlin / Cölln (Abb. 14), Küstrin, Brandenburg / Neustadt und Havelberg genannt; in manchen Fällen mögen künstliche Durchstiche die Situation ergänzt haben. Von Seen umgeben ist Ratzeburg; weniger spektakulär lehnen sich letztlich die meisten Städte Nord- und Ostdeutschlands an einen oder mehrere Seen an, wobei sumpfige, inzwischen meist trockengelegte Niederungen oft fast einen Rundumschutz schufen. 42 I. Systematischer Teil
Auch in den anderen Regionen Deutschlands gibt es vergleichbare Fälle, aber nur verstreut. Man darf Geithain in Sachsen erwähnen („civitas“ 1209), das anfangs nur durch aufgestaute Bäche in den beidseitigen Tälern gesichert war, während die Mauern nicht vor das 14. Jahrhundert zurückreichen; ähnlich sind die Anfänge von Weimar zu beschreiben. Stauteiche – streng genommen künstliche Anlagen, die aber mit überschaubarem Aufwand natürliche Angebote maximal nutzen – schützten zum Beispiel auch Dinkelsbühl, Burgau in Bayerisch Schwaben und etliche kleine Städte in der Oberpfalz, wo Stauteiche wegen des Bergbaues ohnehin verbreitet waren, auch Litschau in Niederösterreich. Ein eindrucksvolles Beispiel ist schließlich die Kernstadt von Passau, die zu den beiden reißenden Flüssen hin wohl nie eine Mauer besaß, sondern, seit dem Spätmittelalter, nur die hohen Rückwände der Steinhäuser und einzelne Tore und Rondelle. Abschließend bleibt zu fragen, was eine verteidigungstechnisch günstige Lage für die weitere Entwicklung der Stadt und ihrer Befestigungen eigentlich bedeutet hat. Auch dies ist eine der vielen Fragen, für die es keine Antwort aus den Quellen gibt, sondern nur Rückschlüsse und die Interpretation gewisser wiederkehrender Phänomene. Fraglos bedeutete ein besonderer Schutz durch Abhänge oder Gewässer einen wirtschaftlichen Vorteil, weil man so mit deutlich geringerem Bauaufwand gleiche Sicherheit wie bei einer Stadt ohne solche Lage erzielen konnte. Dennoch kann man in der Realität kaum eine geradlinige Beziehung zwischen Lage und Stärke der Befestigung feststellen, weil es einfach noch andere starke Einflussfaktoren gab – eine durch die Lage gesicherte Stadt kann dennoch stark ausgebaut sein, weil sie reich oder strategisch wichtig war, auch eine ungünstig liegende Stadt kann schwache Befestigungen behalten haben, weil ihre Wirtschaftskraft nun einmal mehr nicht trug. Eine deutlichere Beziehung zwischen Lage und Ausbaustand findet man am ehesten wieder in Nord- und Nordostdeutschland. Dort nämlich sind nicht nur die Städte in sicherer See- und Sumpflage besonders häufig, sondern auch jene, die nach herrschender Ansicht nie befestigt wurden. Es wird zwar zu zeigen sein (vgl. 2.2.1.6.), dass es sich dabei kaum um unbe-
festigte Städte handelte, sondern eher um solche, die das Stadium der Holz-Erde-Befestigung nie überschreiten konnten, aber die natürlich gesicherte Lage könnte durchaus den Verzicht nicht auf künstliche Sicherung schlechthin, aber doch auf die teure Mauer nahegelegt haben. Freilich sind auch hier andere Erklärungsmuster nicht zu übersehen, wie vor allem der Steinmangel in diesen Regionen und die späte Entstehung der Städte, durch die ihre wirtschaftliche Entwicklung mit der allgemeinen Krise des 14. Jahrhunderts kollidierte. 2.2.1.2. Wälle und Gräben Gräben vor den Mauern und diesen wiederum vorgelagerte Wälle waren, oft mehrfach hintereinander gestaffelt, eines der definierenden Elemente der Stadtbefestigungen in ihrer Blütezeit (vgl. 2.2.9.). Zugleich sind Wälle und Gräben aber eine der technisch einfachsten Befestigungsformen – von ungelernten Arbeitern fast überall in begrenzter Zeit herstellbar –, die schon nach gesundem Menschenverstand, aber auch nach manchen Befunden und Quellen sicher die erste Umwehrung von Städten darstellten. Beide Tatsachen zusammen bedeuten ein erhebliches Erkenntnisproblem: Es gibt durchaus eine gewisse
Wahrscheinlichkeit, dass die Gräben und Wälle bei sehr vielen Städten die ältesten Teile der gesamten Befestigung sind, aber die weitgehende Undatierbarkeit solcher technisch einfachen und zudem häufig veränderten Anlagen lässt in aller Regel keine Aussage mehr zu, ob es wirklich so ist. Ein gutes Beispiel ist der Wall, der früher Bardowiek umgab; eine neuere Arbeit kommt zu den Ergebnis, dass er einerseits erst durch die Abbildung bei Georg Braun / Frans Hogenberg 1585 / 88 belegt ist (Abb. 15), andererseits aber schon bei einer erfolglosen Belagerung durch Heinrich den Löwen 1189 existiert haben mag. Man muss also auf Schriftquellen und archäologische Befunde zurückgreifen, um Wälle und Gräben als frühe Befestigungsformen bzw. Vorgänger der späteren Mauern nachzuweisen. Dabei zeigt sich schnell und mit aller Deutlichkeit, dass für die Entwicklung vom Wallgraben zur steinernen Befestigung keine absoluten Zeiträume festgelegt werden können, vielmehr gab es Befestigungen aus Holz- und Erde vom 10. / 11. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit. Lediglich die relative Abfolge tritt immer wieder hervor: Die Mauer folgt auf den Wallgraben. Den Beispielen aus Quellen und Grabungen ist außerdem voranzuschicken, dass Gräben und
Abb. 15 Bardowiek (Niedersachsen), der Stich des 16. Jahrhunderts zeigt als erste verfügbare Quelle eine Umwallung, die dennoch bis ins 12. Jahrhundert zurückgehen könnte (Braun-Hogenberg, Civitates, 1585 / 88). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
43
Wälle in der Regel sicherlich von weiteren, meist hölzernen Bauteilen ergänzt wurden, von denen wir leider nur selten Spuren finden. Insbesondere wird man so gut wie immer mit Palisaden oder Zäunen zu rechnen haben, die den Verteidigern Deckung boten. Anlagen ausschließlich aus Erde kann es kaum gegeben haben, weil sie nicht effektiv zu verteidigen waren, sondern nur kombinierte Holz-Erde-Werke; es spiegelt mehr die Forschung als die historische Realität, wenn beide hier in getrennten Kapiteln dargestellt werden. Gelegentlich anzutreffende Versicherungen von Archäologen, es habe auf den Wällen anfangs nichts weiter gegeben, ist vorsichtig zu begegnen; selbst wenn die Wallkrone vollständig erhalten wäre, was nach Jahrhunderten der Erosion grundsätzlich unwahrscheinlich ist, braucht ein Zaun doch nur alle paar Meter einen Pfosten. Außerdem kann die Mauer eine Palisade an gleiAbb. 16 Landsberg (Hessen), eine Planaufnahme der Stadt, die nur 1226–31 existiert hat; die Befestigung bestand in dieser Anfangsphase nur aus einem doppelten Wallgraben (Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland, 7: Landkreis Kassel).
44 I. Systematischer Teil
cher Stelle ersetzt haben, was deren Spuren vernichtet hätte – beide Befunde aber sind archäologisch leicht zu verfehlen. Eine Anschauung von frühen Wall-GrabenBefestigungen geben heute nur noch wenige Städte, die nach kurzer Existenz wieder aufgegeben wurden, sodass sie das Stadium des Mauerbaues gar nicht mehr erreichten. Genannt sei Landsberg in Nordhessen, um 1226 gegründet, aber schon 1231 zerstört, von dem nur die gemauerten Keller der (zweifellos hölzernen) Häuser blieben und eben der Graben zwischen zwei Wällen, mit Erdbrücken an den Torstellen (Abb. 16); vergleichbar sind Rosenthal bei Peine, das 1223 gegründet, nach nur dreißig Jahren zum Dorf herabsank und noch Wallreste besitzt, oder Freyenstein in Brandenburg, von dessen 1287 verlegter, wenig älterer Erstanlage ebenfalls noch Wall- und Grabenreste erkennbar sind. Der Fall von Ulm liegt etwas anders, ist aber ebenfalls anschaulich, weil hier Grabungsergebnisse und Quellen seltenerweise nebeneinanderstehen. Ulm war im 12. Jahrhundert ein wichtiger Stützpunkt der Staufer und man mochte daher lange nicht glauben, dass es noch im 13. Jahrhundert nur „hölzerne Mauern“ (lignea moenia) besessen haben soll, aber archäologisch ist inzwischen erwiesen, dass der älteste Stadtkern über die Stauferzeit hinaus neben einzelnen Tortürmen nur einen Wallgraben besaß (auf dem man eine Palisade als „hölzerne Mauer“ vermuten muss). Die quellenmäßigen Belege für Wallbefestigungen reichen erwartungsgemäß weit zurück. Köln sicherte 948 die Rheinvorstadt beidseitig mit Wallgräben, 1106 erhielten drei weitere Vorstädte „Wälle und Türme“(!). Konstanz besaß lange nur einen Wall aus „Seekreide“, für den man 1122 Material besorgte. Der Chronist Lambert von Hersfeld erwähnt um 1076, dass das „Bergdorf“, eine Bergarbeitersiedlung als Vorgängerin von Goslar, Wälle und Planken besaß. In Aachen, wo schon 1137 ein fossatum erwähnt ist, entstand ab 1171 eine neue Umwehrung, wohl immer noch ein Wall, der aber vermutlich schon eine Front aus Mauerwerk besaß; weil diese inzwischen mehrfach nachgewiesene Form am Übergang zu echten Mauern steht, wird sie unten gesondert behandelt (vgl. 2.2.3.2). Um 1170 / 80 waren auch wichtige Städte noch mit Wällen gesichert. Neben Aachen bele-
gen dies etwa Hildesheim – es besaß 1167 ein vallum, aber „Hagen“ und „Altstadt“ wurden nach Grabungsbefund sicher wenig später ummauert – und vor allem Köln, wo man ab 1154 über eine weiträumige Sicherung der Vorstädte, Klöster und Stifte nachdachte. 1180 erlaubte dann Friedrich I. die Vollendung eines Wallgrabens „von bewundernswerter Breite und Höhe“, wobei aber schon um 1200 eine Mauer erwähnt wird. Weitere Beispiele für Wälle in der Zeit vor und um 1200 sind Schleswig (mit steinernem „Nordertor“) und wohl auch Stade, das um 1168– 81 durch Heinrich den Löwen „mächtig“ befestigt wurde, ferner Münster (Mauerbau im späten 13. Jahrhundert). Weiter südlich ist Sangerhausen (1204 vallis et aggeribus bene munitum) zu nennen, ferner Creuzburg in Thüringen (vallum 1213), Lichtenfels (Wall um 1200, Palisade 1231) und Altenstadt (frühes 13. Jahrhundert) in Franken, schließlich Rosheim im Elsass (1218 vallum). Vom 13. bis 15. Jahrhundert, wo Wallgräben nur noch den notdürftigen Ersatz (oder die Ergänzung) von Mauern darstellten, werden sie in den Schriftquellen dennoch kaum seltener erwähnt, was fraglos mit der wachsenden Dichte der Überlieferung zu tun hat. Sie waren weiterhin manchmal Erstbefestigungen, weit häufiger und bis in die Zeit um 1600 aber Umwehrung kleiner Städte, besonders im Flachland. Im späteren Wallgräben als Hauptumwehrung im 14. und im 15. Jahrhundert Spätmittelalter legten auch einige größere norddeutsche Städte wieder Umwallungen als weit gedehnten Schutz ihrer Vorstädte an, für die eine Mauer zu kostspielig gewesen wäre. Im westfälischen und niederrheinischen Gebiet besaßen im 13. / 14. Jahrhundert offenbar noch viele kleine Städte (Weichbilder, oppida) Wallgräben, erwähnt etwa in Warendorf 1236 (Wall, Graben), Kamen 1263 (Gräben, Planken), Jülich 1278 (Wall, Graben) oder Euskirchen, das bis zum Mauerbau 1355 umwallt war. Ein gutes Beispiel ist Bochum, das 1345 entfestigt, aber bald neu umwallt wurde, 1428 als „Stadt“ angesprochen wurde, aber nie eine Mauer erhielt. Krempe erhielt 1333 die Erlaubnis, Wall, Graben, Palisaden und vier Tore anzulegen, ähnlich Hattingen 1369 (Mauer erst 16. Jahrhundert). Dölken besaß 1387 nur Wall, Graben und Pali-
saden, Xanten (Stadtrecht 1228) hatte 1389 verfallene Wälle und begann seine Mauern 1444; Waldfeucht wurde 1389 befestigt und hat bis heute nur Wälle. Insgesamt hat man im nördlichen Rheinland zwischen dem frühen 13. und dem späten 14. Jahrhundert vierzehn Holz-ErdeBefestigungen belegen können, die erst zu dieser Zeit entstanden. Im Süden Deutschlands ist die Stadterweiterung „Freyung“ in Landshut von besonderem Interesse; 1338 gegründet, sollte sie binnen drei Jahren durch einen Graben gesichert werden. In Bayern behielten auch viele Märkte bis ins 16. Jahrhundert Holz-Erde-Umwehrungen, lediglich mit hölzernen oder steinernen Toren. Im übrigen Süddeutschland gibt es einzelne Nachrichten über Holz-Erde-Befestigungen bis ins 15. / 16. Jahrhundert. Weißenhorn besaß bis 1470 / 80 Wall, Graben und Zaun, dann wurden zunächst die Tore in Stein ersetzt, die Mauer folgte ab 1504. Wallerstein behielt immer Wall, Graben und Tore, trotz des Ummauerungsrechtes von 1471. Künzelsau schließlich hatte 1495 Wall und Graben und 1525–52 sind Tore belegt – die Mauer folgte erst 1767–86! Einen weitgedehnten, großenteils erhaltenen Erdwall um seine Vorstädte legte Göttingen ab 1362 an; auf ihm wurde ein Geschützrohr der Zeit um 1400 gefunden. Er wurde um 1447–54 ausgebaut, wohl mit Stützmauern, Rondellen und Torzwingern, ein weiteres Mal 1533–77, vermutlich mit Streichwehren. In Erfurt entstand ein ähnlicher Wall ab 1375, in Hildesheim als Zusammenschluss der drei bisher getrennten Städte um 1400, schließlich in Duderstadt, noch wohl erhalten, ab 1498. In Göttingen und Duderstadt zeigen diese Wälle zumindest in ihren Ausbaustufen schon deutlich die Prägung durch Artillerie und einige norddeutsche Umwallungen des 16. Jahrhunderts verdeutlichen noch entschiedener, wie die mittelalterliche Tradition der Erdbefestigungen hier nahtlos in die Rondell- und Bastionärbefestigungen der frühen Neuzeit überging (Krempe 1533–1607, Rendsburg 1536–1694, Wildeshausen ab 1544, Jever 1553–57, Otterndorf um 1580,Winsen, Vechta, Cloppenburg). Die archäologischen Belege für Wallgräben als Vorgänger von Mauern, die in den letzten Jahrzehnten gleichfalls nicht mehr selten sind, bestätigen weit stärker als die Quellen, dass der 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
45
Abb. 17 Duderstadt (Niedersachsen), archäologische Forschungen klärten die Abfolge von Umwallung und Mauer. Die Mauer entstand hinter dem abgeflachten Wall, aber in anderen Fällen wurde die Mauer auch auf den Wall oder vor ihn gesetzt (vgl. Abb. 20; Konze / Röwer-Döhl, Göttinger Jahrbuch, 1994).
Höhepunkt dieser Befestigungsform früh anzusetzen ist, vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. Warum die Grabungen nur selten jüngere Wälle erfasst haben, ist nicht ganz klar; möglicherweise wurde das Interesse der Archäologen manchmal von ihrem historischen Vorwissen gelenkt. Der schon angesprochene Wall von Haithabu, vor 968 angelegt und in Funktion bis Mitte des 11. Jahrhunderts, ist der älteste bisher archäologisch nachgewiesene, aber ein Wallgraben noch des 10. Jahrhunderts ist auch in Duisburg ergraben, ein Graben des 10. / 11. Jahrhunderts wird in Halle vermutet (wo noch 1182 ein vallum civitatis mit einem steinernen Tor erwähnt wird). Der mehrphasige Wall des späten 11. Jahrhunderts in Schaffhausen war 10 m breit, aber nur 2,5 m hoch(?). Braunschweig erhielt wohl um 1100 einen Wallgraben (auf den Mitte des 12. Jahrhunderts ein Fundament in Trockenmauer- / Lehmtechnik gesetzt wurde, dann eine Mörtelmauer mit Dendrodatum 1177 + / –2). In Würzburg ergrub man als erste Befestigung (um 1000 oder eher 11. Jahrhundert?) einen Wallgraben; auf die Verfüllung eines der Gräben wurde dann eine Mauer gesetzt, noch vor einer Stadterweiterung 1195 / 99. Ein Wall des 11. / 12. Jahrhunderts ist schließlich in Echternach ergraben.
Wallgräben als ergrabene Vorgänger von Mauern
46 I. Systematischer Teil
Aus dem 12. Jahrhundert gibt es weit mehr Befunde. In Lüneburg fand man zuunterst einen Wall samt Palisade(!) und Wassergraben, darauf folgte ein dreifacher Wall, beides vor 1147; noch 1254 sind plancae civitatis erwähnt. In Zürich wird ein Wall mit aufgesetzter dünner Mauer spätestens ins mittlere 12. Jahrhundert datiert, in Marburg sicherte wohl zu dieser Zeit ein Graben den ältesten Stadtkern. Halberstadt, wo die Domburg ab dem 8. Jahrhundert Gräben besaß, sicherte sich wohl ebenfalls ab der Mitte des 12. Jahrhunderts durch Wallgräben, die nach der Zerstörung durch Heinrich den Löwen 1179 erneuert und dann durch eine 1199 erwähnte Mauer bekrönt wurde; ein Wall ist unter ihr noch sichtbar. Weitere Umwallungen noch des 12. Jahrhunderts sind um die ältere Talstadt von Rottweil, um den Stadtkern von Winterthur und um jenen von Weißenburg in Franken nachgewiesen. In Niedersachsen mit seiner aktiven Archäologie sind Wallgräben des 12. Jahrhunderts um vier Städte nachgewiesen. Göttingen hatte eine fünfeckige Umwallung der Jahrhundertmitte, mit Holzversteifung, die im Süden schon um 1180 wieder eingeebnet wurde. Der Markt Einbeck besaß Mitte des 12. Jahrhunderts schon einen 15 m breiten Graben, Hannover einen Wallgraben und ebenso die schon im 14. Jahrhundert aufgelassene Stadt Nienover. Ein Wallgrabensystem, auf das schon 1198 die Mauer gefolgt war, ist schließlich in Querfurt ergraben; und sowohl in der „Altstadt“ als auch in der „Neustadt“ von Brandenburg sind Wall und Graben unter den Mauern des 13. Jahrhunderts und später nachgewiesen. Die wenigen archäologischen Befunde aus dem 13. Jahrhundert und später entsprechen im Grundsatz jenen des 11. / 12. Jahrhunderts. Hilpoltstein in Franken erhielt vor 1230(?) eine erste Umwallung, unter dem „Antoniterhaus“ in Memmingen wurde ein Wall der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ergraben, auf den dann, auch noch vor 1250, eine Mauer aus Tuffsteinbrocken gesetzt wurde. Wall und Graben von Duderstadt, das 1247 zuerst belegbar ist, sind vielfach erfasst (Abb. 17), wobei die Mauer schon um 1276 / 79 existierte. In Kolberg war 1289 zumindest eine Vorstadt von einem Erdwall umgeben. Die erste Sicherung des 1292 gegründeten Celle bestand
gleichfalls in einem Wall, und Potsdam erhielt, als einziges wirklich spätes Beispiel, das ergraben ist, um 1520 einen Wall, der aus Schlamm(!) „aufgeschüttet“ wurde. Zum Thema „Wall als Vorgänger der Mauer“ gehört schließlich, jenseits wissenschaftlicher Untersuchung, eine Beobachtung, die man beachtlich oft macht. Viele Stadtmauern, besonders im norddeutschen Flachland, aber durchaus darüber hinaus, stehen nämlich zumindest teilbereichlich auf Wällen, die von kaum merklicher bis zu 3 m Höhe reichen. Dieses eher unauffällige Phänomen, das zweifellos auch oft durch Straßenbau verändert bzw. eingeebnet ist, wurde in der Literatur selten angesprochen und ist daher bis heute fast völlig undiskutiert. Die wohl einzig sinnvolle Erklärung für solche Befunde besteht darin, dass der Wall nichts anderes als die der Mauer vorausgehende Befestigung ist, die man beim Mauerbau unter anderem deswegen weiterbenutzte, weil sie einen zusätzlichen Überhöhungseffekt sicherte. Als anschauliche Beispiele aus verschiedenen Regionen, die leicht vermehrbar wären, seien etwa genannt: Korbach, Werl, Gandersheim, Halberstadt, Frankenhausen und etliche brandenburgische Mauern. 2.2.1.3. Befestigungen aus Holz Neben dem Ausheben von Erdreich und dessen Aufschütten zu Wällen ist die Verwendung von Holz die zweite Möglichkeit, schnell eine provisorische, aber wirksame Befestigung zu errichten. Holz ist noch heute in vielen Regionen massenhaft vorhanden und im Mittelalter, als der Wald weit größere Teile Europas bedeckte, war es noch besser verfügbar. Es ist leicht und schnell zu verarbeiten und erlaubt – im Gegensatz zu reinen Wallgräben, die auch bei beträchtlicher Steilheit nur Reiter aufhalten können – die Errichtung von senkrechten, mehrere Meter hohen Wänden, die auch gegen Angreifer zu Fuß bzw. mit Steighilfen zu verteidigen sind. Ihr Nachteil, der die Mauer grundsätzlich zur besseren Lösung macht, war jedoch die vergleichsweise geringe Haltbarkeit des Materials, das nicht nur gegen Brand anfällig ist, sondern auch gegen die ganz normale Witterung, die es ohne aufwendige Pflege innerhalb weniger Jahrzehnte verrotten lässt. Trotz dieser Nachteile ist vor allem im Gebiet der deutschen Ostkolonisation ein bemerkens-
wert hoher Prozentsatz von Städten konstatiert worden, die nie über Holzbefestigungen hinauskamen; in Schlesien etwa geht man von 30 bis 40 Prozent aus. Wie verbreitet Holzbefestigungen auch sonst in den nördlichen Regionen Europas waren, verdeutlicht besonders griffig das englische Wort „town“, das dem deutschen „Zaun“ entspricht und ursprünglich wohl jene neuen Städte charakterisierte, denen die Steinmauer der römischen Städte (civitas = „city“) fehlte. Auch für die mittelalterlichen Anfänge zahlreicher anderer Bautypen war Holz, wie wir heute wissen, von hoher Bedeutung, etwa für Kirchen, Klöster, Burgen, Bürgerhäuser und Bauernhöfe. Im Einzelfall sind frühe Holzbauten in den Quellen nachweisbar, wobei allerdings in der Regel der Stellenwert der hölzernen Teile innerhalb komplexerer Anlagen offenbleibt; gerade die Kombination mit Gräben und Wällen muss prinzipiell immer erwogen werden, auch wenn diese in den Quellen nicht erwähnt sind. Genaueres zu diesem Punkt können in günstigen Fällen die Grabungsergebnisse bieten, die auch zu dieser Thematik in den letzten Jahrzehnten häufiger geworden sind. Aber auch die Ergänzung der Mauer durch hölzerne Anlagen ist in Einzelfällen belegbar, etwa in Nürnberg und Naumburg, wo Mitte des 14. Jahrhunderts Zäune als Sicherung der Mauerbaustelle belegbar sind, in Nordhausen 1434 um eine Vorstadt oder in Chemnitz, wo Abb. 18 Wien, auf dem Schottenaltar (um 1470) ist im Hintergrund der „Flucht nach Ägypten“ die Umwehrung einer westlichen Vorstadt von Wien dargestellt: ein Zaun und eine Streichwehr aus Flechtwerk (Museum im Schottenstift).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
47
Abb. 19 Frankfurt / Oder (Brandenburg), Rekonstruktionsversuch der Palisade mit Wehrgang, die wohl direkt nach der Stadtgründung 1253 auf einem Wall entstand (Archäologie in Berlin und Brandenburg, 1993 / 94).
1331 die Untertanen des benachbarten Klosters halfen, die Stadt zu „umzäunen“. Im letzteren Falle geht nämlich aus der Quelle hervor, dass der Zaun vor der Mauer steht – die Klosterleute durften im Notfall in den Zwischenraum flüchten –, dass er also einem Zwinger entsprach. Im Prinzip hat es offenbar vier Arten hölzerner Befestigungen gegeben. Der durch Holzaussteifungen verstärkte Erdwall, bei antiken und frühmittelalterlichen Befestigungen durchaus häufig (murus gallicus, Pfostenschlitzmauer und Ähnliches), scheint bei Stadtbefestigungen keine Rolle gespielt zu haben. Die massivste Art der hölzernen Befestigung von Städten war daher die Palisade, die aus senkrecht eingegrabenen, dicht gereihten Baumstämmen besteht. Bestimmte Einzelbefunde belegen, dass Palisaden beachtlich hoch sein und Wehrgänge besitzen konnten; auch Erker (die vermutlich mit propugnaculum gemeint sind) und „berchfrede“ (Türme, Blockhäuser?) sind gelegentlich belegbar. Die Palisade wird gerne als Synonym für hölzerne Befestigungen schlechthin verwendet, aber es gibt etliche Hinweise darauf, dass auch Zäune häufig waren. Wir kennen geflochtene Zäune vornehmlich aus spätmittelalterlichen Abbildungen (Abb. 18), Bretterzäune hingegen erscheinen als „Planken“ vor allem in den Quellen. Zäune waren weniger massiv als Palisaden, aber schneller herzustellen, da man nur alle paar Meter einen Pfosten eingraben musste; für die „Planken“, die man sich horizontal befestigt vorstellen muss, war aber eine Sägemühle die Voraussetzung. Eine noch leichtere Befestigung stellte das Gebück dar, im Prinzip eine kunstvoll verflochtene Dornen48 I. Systematischer Teil
hecke, die meist nur noch durch Straßen- oder Flurnamen nachweisbar ist (vgl. 2.2.9., 2.2.12.). Deswegen ist es meist auch schwierig, zu sagen, ob ein Gebück die Hauptbefestigung darstellte oder nur eine zusätzliche Vorfeldsicherung, etwa auf einem Außenwall; auch eine engere Datierung ist in der Regel nicht möglich. Die Grabungsergebnisse kann man mit Schwäbisch Hall beginnen, wo die Solequelle durch eine kräftige Palisade samt Torbau geschützt war, deren Stümpfe unter dem Wasserspiegel des Kochers erhalten waren; sie waren sicher nicht jünger als das zugehörige spätromanische „Sulfertor“. Die Pfostenlöcher eines hölzernen Torturmes sind auch in Neustadt / Saale ergraben, das 1248 als parvum munitum (wenig befestigt) bezeichnet und erst im späten 14. Jahrhundert ummauert wurde. In Lemgo, dessen Stadtrechte 1245 bestätigt wurden, ist ein 18 m breiter Wassergraben nachgewiesen, dahinter eine schräg eingerammte Palisade und auf der Grabensohle eine Bretterwand („Planken“?); die Mauer wurde dann (um 1265?) auf Pfahlgründung in den Graben gesetzt. Besonders klar sind die Ergebnisse in Einbeck – die „Neustadt“ entstand um 1230 / 40 und erhielt einen 11–20 m breiten, flachen Graben; Torschwellen und Grabenbrücken konnten auf 1244 –6 / +8 und 1250 dendrodatiert werden. Schon 1264 wurde der Zehnte für den Mauerbau verwendet; ein Holztrog für den Mörtel wurde 1271 + / –10 hergestellt. Besonders anschaulich sind Ergebnisse im 1253 gegründeten Frankfurt / Oder. In beackerten Boden (Furchen!) wurde hier eine Palisade
mit schräg abgestütztem Wehrgang gesetzt (Abb. 19) – auch die Lagerfeuer der Arbeiter sind nachgewiesen –, davor ein schwacher Graben angelegt (3 m breit, 1,5 m tief); später wurde auf diesen Graben ein Wall geschüttet, darauf dann die 1312 zuerst erwähnte Mauer gesetzt. Der selten vollständige Befund zeigt, mit welcher Komplexität der Entwicklung man binnen weniger Jahrzehnte rechnen muss. In Wachtendonk konnten Palisaden auf 1257 dendrodatiert werden, auch Reste in Spandau, deutlich hinter der Mauer des mittleren 14. Jahrhunderts, gehören ins 13. Jahrhundert (Abb. 20). Wall, Graben und Palisade wurden in Borken undatiert erfasst und in Liebenwerda ließ sich als Torgauer Tor anhand von vier Pfostenlöchern ein 5 m breiter Bau erweisen; die Brücke davor ist auf 1485 / 87 dendrodatiert. Die Quellen zum Thema beginnen mit den Planken, die das Goslarer „Bergdorf“ schon um 1076 besaß, setzen sich dann aber erst im 13. Jahrhundert fort. Bonn besaß 1244 lignea
propugnacula super fossatum (= Palisaden mit Erkern(?) und Graben), aber bereits neue Steintore (novas portas de lapidibus); die Mauer wurde dann 1291 erwähnt. Trachenberg in Schlesien sagte der adlige Gründer in der Gründungsurkunde 1253 zu, er werde die Stadt auf seine Kosten mit Bretterzaun und Graben umwehren (de nostris sumptibus civitatem blancis et fossatis munire). Unklar ist, was mit den plancas sive murum in Rinteln 1257 gemeint war – ein Bretterzaun, der erst teilweise durch die Mauer ersetzt war oder der es bald werden sollte? Neubrandenburg erhielt 1261, 13 Jahre nach der Gründung, die Bestätigung seines Stadtrechtes nebst der Erlaubnis, Holz ad palisadam im Stadtwald zu schlagen. 1280 akzeptierte Köln die 1275 erfolgte Befestigung von Steinheim in Westfalen, sofern diese befristet bleibe – gewiss kein Hinweis auf eine Mauer! 1276 erlaubte der Markgraf von Meißen der Stadt Naumburg, dass es Gräben, einen Schaufelwurf tief, und Planken mit Wehrerkern anlegen dürfe; die Mauer folgte erst in der Mitte
Abb. 20 (Berlin-)Spandau, archäologisch erfasste Gräben und Palisaden des 13. Jahrhunderts hinter der Stadtmauer des 14. Jahrhunderts (R. Maczijewski, Ausgrabungen in Berlin, 3, 1972; ergänzt). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
49
Abb. 21 Bamberg (Oberfranken), Umwehrung einer Vorstadt aus Blockwerk mit Streichwehren und Bretterzaun 1493 (Hartmann Schedel, Weltchronik; Ausschnitt).
des 14. Jahrhunderts. Treptow (Mecklenburg) erhielt schon bei seiner Gründung 1277 das Recht auf Holzbefestigung; 1299 folgte die Erlaubnis zum Mauerbau. Weitere Nachrichten zu Holzbefestigungen im 13. Jahrhundert seien nur aufgezählt. Helmstedt besaß 1230 eine Holzbefestigung, die man bis 1244 durch eine Mauer ersetzte; Iserlohn wurde 1265 verlegt und erhielt zunächst Palisaden. Bocholt erhielt 1201 Weichbildrecht und 1222 münstersches Stadtrecht, hatte aber noch 1309 plancas; Rheinberg, Stadt seit 1233, hatte noch 1290 plancis et propugnaculis, Ziegel für die Mauer sind dann bis 1311 erwähnt. 1263 besaßen Borken und Kamen „Planken“, 1269 Uelzen fossata et plancas (Mauerbau 1380–87). Beeskow (Brandenburg) hatte 1272 Gräben und Planken, Stralsund (städtische Rechte 1234 / 40) 1278 noch Planken, seine Mauer entstand um 1280–1310; ähnlich besaß Rostock (1218 lübisches Recht, 1252 / 62 drei Städte) noch bis 1286 Planken, obwohl man das backsteinerne Kuhtor schon auf 1262 datiert. Dass Holzbefestigungen in Mecklenburg bis ins 14. Jahrhundert normal waren, zeigt auch Schwerin mit Planken bis zur Mitte des Jahrhunderts. Auch anderswo gibt es Belege für Holz bis weit ins 14. Jahrhundert. 1300 sollte in Zürich ein Maurer die Rückfront seines Hauses „an der swyren statt“ (= anstelle der Palisaden) aufführen – eine typische Nachricht für ein Land fast ohne Mauergassen (vgl. 2.2.3.6.). Stolp (Pommern) wurde 1310 zur Stadt erhoben; man sagte ihr zehn Jahre Steuerfreiheit ab dem Zeitpunkt zu, an dem die Palisaden fertig waren. Hersbruck 50 I. Systematischer Teil
erhielt 1313 und 1329 die Erlaubnis für Zaun und Graben und Namslau (Schlesien) war bis 1348 „alleyne mit blancken und graben befestiget“, dann wurde es durch Karl IV. erworben, der 1350 den Grundstein zur Mauer legte. Weitere Nachrichten betreffen etwa Bocholt (Planken 1309), Kupferberg in Franken („Plancken“ 1327), Dietfurt (Oberpfalz, Holzbefestigungen bis ins 15. Jahrhundert) und die 1378 / 83 befestigte Hamburger Jacobivorstadt, die teils noch um 1400 Palisaden besaß. Im Rheinischen Schiefergebirge wurden die Zäune und Gebücke in der Regel zwischen dem 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch Mauern ersetzt und auch im Ordensland Preußen sind zwischen den 1330er und 1370er Jahren vielfach noch Holzbefestigungen belegt. Im 15. Jahrhundert lassen die Quellenbelege für Holzbefestigungen keineswegs merklich nach. In Fürstenau bei Osnabrück werden 1402 neue Planken geplant und zwei „Bergfrede“ an den Toren wiederaufgebaut; man interpretiert sie als Holztürme, während noch jüngere „Bergfriede“ in Schleswig als Blockhäuser zur Verstärkung des Walles gedeutet werden. In Drossen (Brandenburg) gab es bis 1477 eine „leimerne“ (mit Lehm verstrichene oder gar aus Lehmziegeln bestehende?) Mauer, die erst damals in Stein erneuert wurde. Weitere Beispiele des 15. Jahrhunderts, in der Regel Sicherung längst bestehender Siedlungen, findet man etwa in Tütz (Schlesien; 1409 Plankenzäune, Wall, Graben) oder in Cadolzburg (Mittelfranken), das 1414 „umbgraben und verplanckt“ und 1450 mit „Schrancken“ versehen, dann aber bald ummauert wurde. Die
Wiener Vorstädte erhielten ab 1439 einen Flechtzaun mit steinernen Rondellen (Abb. 18), in Küstrin, das 1397 noch offen auf seiner Insel lag, waren Planken 1446 erst beabsichtigt. Auch in Kindberg (Steiermark) wurden 1479 angesichts der Türkengefahr Zaun und Graben geplant, Bamberg ist noch bei Hartmann Schedel 1493 mit Bretterzäunen dargestellt, die auch hölzerne Streichwehren hatten (Abb. 21); hier waren bischöfliche Mauerverbote ab 1291 der Hintergrund. Für Deutsch Krone in der Neumark sind im 15. Jahrhundert Befestigungen und Burg aus Holz bezeugt, ähnlich in Märkisch Friedland. Im berühmten und umkämpften Geldern sind die Rechnungen für den Ausbau in Holz um 1500 erhalten, und schließlich besaß Rust im Burgenland 1512 noch einen „spöldtenzaun“ (Zaun aus gespaltenen Baumstämmen), dem erst 1614 im Zeichen der Türkengefahr die Mauer folgte. Dass die um 1220 gegründete „Neustadt“ Hildesheim an der Seite gegen die „Altstadt“ noch 1572 nur Zäune besaß, war sicher ein Zeichen der Schwäche gegenüber diesem Nachbarn, mit dem man im Streit lag; denn an den anderen Seiten gab es durchaus Mauern. Auch sonst behielten manche größeren Städte teilbereichlich immer Holzbefestigungen, aber eher an schlecht angreifbaren Seiten wie etwa zum Fluss (zum Beispiel Elbing, das ab dem späten 13. Jahrhundert ummauert war). Obwohl Grabungsergebnisse und Erwähnungen in den Quellen nur ein Schlaglicht auf Gesamtumfang und Charakter des Phänomens „Holzbefestigung“ werfen, reichen sie doch, um zwei Prinzipien anschaulich zu machen. Einerseits gab es Holzbefestigungen bis in den Beginn der Neuzeit; sie sind also sicher als „provisorische“ Vorstufe der Mauer zu verstehen, aber derartige Vorstufen überlebten in manchen Orten bis ins Spätmittelalter, was die Unterschiedlichkeit lokaler Verhältnisse entschieden unterstreicht. Andererseits zeigen einige ausdrückliche Erlaubnisse von Landesherren – oder auch Ermunterungen, Holzbefestigungen möglichst bald zu bauen –, dass Holzbefestigungen keineswegs grundsätzlich als schwach empfunden wurden, sondern als durchaus effektive Anlagen. Der Vorteil der Mauer lag, in der Sicht der Zeitgenossen, vielleicht eher in ihrer größeren Haltbarkeit als in einer entscheidend besseren Verteidigungsfähigkeit.
2.2.1.4. Dauer bis zum Mauerbau Aus der Feststellung der letzten Kapitel, dass der Mauer oft eine Befestigung aus Holz und Erde vorausging, ergibt sich die Frage, wie lange es gedauert hat, bis auf diese erste Umwehrung – bzw. auch auf die Entstehung der Stadt – die Mauer im engeren Sinne folgte, also die Umwehrung in Stein. Im Prinzip ist diese Frage leicht zu beantworten. So wie die relativ schnell und billig herzustellende Sicherung aus Gräben, Wällen und Holzanlagen zur Anfangsphase einer Stadt passte, wo Arbeitskraft und Finanzen für andere Aufgaben höchst angespannt waren, so entsprach der extrem umfangreiche und aufwendige Bau einer Mauer, oft mit vielen Türmen, jener deutlich späteren Phase, in der Wirtschaftskraft und Organisation des Gemeinwesens bereits so stabil waren, dass auch die enormen Kosten einer solchen dauerhafteren Sicherung aufgebracht werden konnten. Die Frage, wie lange es bis zum Bau der Mauer dauerte, kann nur in seltenen Fällen konkret beantwortet werden, deren „statistischer Wert“ natürlich begrenzt bleibt. Nur neun Jahre vergingen in Wartenberg (Ordensland Preußen) zwischen Gründung sowie Holzbefestigung (1364) und Beginn des Mauerbaues (1373–1401). Duderstadt existierte schon 1247, zunächst mit Wall und Graben, die Mauer dann um 1276 / 79, was drei Jahrzehnte ergibt, und diese Spanne findet man auch in Remagen, wo 1357 Karl IV. die Befestigung erlaubte, aber 1387 die im Bau befindlichen Mauern niedergelegt werden mussten, und in Kolberg, wo der 1241 gegründete Markt 1264 Ummauerungsrecht erhielt und der Bau 1272 begann. Extrem anschaulich sind, dank Grabungen und mehreren Dendrodatierungen, die Abläufe in Einbeck. Nachdem um 1230 / 40 die Neustadt entstanden war, sind Torschwellen und Grabenbrücken auf 1244 –6 / +8 und 1250 dendrodatiert; 1264 wird dann der Zehnte für den Mauerbau verwendet und ein Holztrog für Mörtel ist 1271 + / –10 datiert. Der Abstand von Holz- und Mauerbefestigung lag demnach auch hier bei rund 30 Jahren. In Bonn ist 1244 noch die Rede von den lignea propugnacula und neuen Steintoren, von der Mauer erst 1291, was mindestens ein halbes Jahrhundert ergibt, und Kaiserslautern (1253 op2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
51
Abb. 22 Rheinbach (NordrheinWestfalen). Der Plan des frühen 19. Jahrhunderts zeigt eine ausgedehnte Umwallung wohl vorstädtischer Entstehungszeit. Beim Mauerbau des frühen 14. Jahrhunderts wurde das Stadtgebiet erheblich verkleinert (vgl. Abb. 273; Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 4.2, 1898).
pidum) war ab 1276 Reichsstadt, aber die Fundamentpfähle der Mauer wurden erst 1330–33(d) geschlagen, was 54 oder gar 80 Jahre ergibt. Eine ähnliche Frist findet man im ungleich größeren Köln, wo der äußere Befestigungsring ab 1154 diskutiert wurde, 1180 ein Wallgraben im Bau war und die äußere Mauer knapp vor 1200 erwähnt wird. 60 Jahre vergingen zwischen der Gründung (1244) von Friedland (heute Mecklenburg) und der Erlaubnis zum Mauerbau 1304. Ungewöhnlich ist der Fall von Menden (Westfalen), das schon 1276, als es wohl kölnische Stadt wurde, ein befestigtes Dorf war. Nach der Schlacht bei Worringen durch die Gegner des Erzbischofs entfestigt, erhielt es ab 1292 wiederum nur Graben und Palisade; es folgten zwei weitere Entfestigungen (1313, 1344) und erst dann die Ummauerung – mehr als 68 Jahre nach der Stadterhebung und noch länger nach der ersten Umwehrung. Ähnlich hatte Kamen schon 1263 Gräben und Planken, wurde1278 entfestigt, erhielt 1342 Stadtrecht und noch später, also 80 52 I. Systematischer Teil
oder mehr Jahre nach der ersten Umwehrung, endlich die Mauer. Rund 100 Jahre vergingen in Osnabrück bis zum Mauerbau; 1171 privilegierte Friedrich I. die Bürger der Stadt und verlieh ihnen Befestigungsrecht, aber kein erhaltener Teil der Mauer ist vor der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden. Ähnlich lange, eigentlich aber 300 Jahre, benötigte das kleine Themar in Thüringen. Es wurde 1319 Stadt, 1390 wurde die Mauer verboten, 1457 dann erlaubt; erbaut wurde sie erst von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts (Abb. 218). Kompliziert war auch der Ablauf in Dudeldorf (Rheinland-Pfalz); nach dem Stadtrecht 1345 wird dem Stadtrichter noch bei der zweiten Bestätigung dieser Rechte 1384 erlaubt, nach Geld und Hilfe für den Mauerbau zu suchen. Das erhaltene Obertor ist jedoch erst „1453“ datiert. Uelzen, 1269 mit Gräben und Planken versehen, baute 111 Jahre später, 1380– 87 seine Mauer; bei Celle, gegründet 1292 und zunächst umwallt, ist die Mauer 1407 belegbar,
also nach 115 Jahren. In Hattingen wurden 1369 Wall und Graben genehmigt, die Mauer entstand erst im 16. Jahrhundert. Babenhausen erhob ein Ungeld für die Mauer 1441, also 146 Jahre nach dem Stadtrecht von 1295, und noch ein Jahr länger brauchte Ornbau (Mittelfranken), das schon 1317 Befestigungserlaubnis vom Bischof von Eichstätt erhielt, seine Mauern aber offenbar erst errichtete, als diese Erlaubnis 1464 erneuert wurde. Aber mit rund anderthalb Jahrhunderten ist die maximale „Wartezeit“, die wir in den Quellen finden, noch keineswegs erreicht, vielmehr nennen sie uns mindestens sechs Fälle von teils weit über zwei Jahrhunderten. Lauchheim erhielt Befestigungsrecht schon 1397 / 1402, 1431 dann volles Stadtrecht, aber seine Mauer entstand erst um 1600–20; vergleichbar ist Ohrdruf in Thüringen, das 1348 Stadt wurde, ummauert aber erst um 1560–80. Xanten hatte Stadtrecht ab 1228, 1389 wurde erwähnt, das seine Wälle verfallen sind, aber die Mauer wurde erst 1444 begonnen – 216 Jahre nach der Stadtgründung. Kindelbrück in Thüringen entwickelte sich im Sinne einer Berg-und-Tal-Bahn: Obwohl es 1291 Stadtrecht erhielt, wird es 1366 wieder villa genannt, erhält 1372 wieder Stadtrecht, aber erst 1508 wird die Mauer auf strengen landesherrlichen Befehl begonnen, nach 217 Jahren. Dillenburg im Westerwald wird schon 1254 oppidum genannt, erhält 1344 durch Ludwig den Bayern Stadtrecht, aber erst 1588–1618 eine Mauer – 244 Jahre. Künzelsau schließlich – freilich auch ein extrem verspätetes Beispiel – verfügte schon 1495 über Wall und Graben, besaß 1525–52 Tore, aber die Mauer wurde erst 1767–86 erbaut, 272 Jahre nach der Ersterwähnung der Befestigung, und wohl nur noch als Zollmauer. Es gibt auch Fälle, in denen der Mauerbau eine Verkleinerung der Befestigung bedeutet hat; sie sind aus den Schriftquellen allerdings nicht zu erschließen. In der Regel fällt vielmehr auf, dass im Gelände oder auch nur in der Parzellierung eine rundlich ovale Gesamtform erkennbar geblieben ist, aus der die Stadtmauer einen Teil „herausgeschnitten“ hat. Derartiges findet man ganz deutlich etwa in Rheinbach bei Bonn (Abb. 22, Mauer um 1290–1323), (Sooden-)Allendorf (Mauer noch 13. Jahrhundert?), in Xanten (Mauer nach 1444) und – auch im Namen
anschaulich – in Tangermünde, wo der Stadtteil „Hühnerdorf“ zwar noch in der Umwallung lag, beim Mauerbau im 14. / 15. Jahrhundert aber ausgeschlossen wurde. Auch in Ettlingen und Bruchsal gibt es archäologische Belege der Reduzierung. In Rheinbach und Tangermünde gestaltete man die Verkleinerung der Stadt so, dass die Burg in die auch sonst verbreitete Ecklage kam. Hauptgrund solcher Verkleinerungen war aber gewiss der Zwang zur Sparsamkeit, der zur Aufgabe dünn besiedelter oder als minder wichtig eingeschätzter Teile der älteren Stadt oder Siedlung führte. So ist sicherlich auch das eindrucksvollste Beispiel solcher Verkleinerungen zu erklären, nämlich Friesach in Kärnten, wo sogar Reste der älteren Marktummauerung weit außerhalb der Stadtmauer des 13. Jahrhunderts erhalten sind (Abb. 273). Zusammenfassend ist festzustellen, dass die „Wartezeit“ auf die Mauer sehr lang sein konnte, falls die Mauer überhaupt realisiert wurde. Fristen unter 30 Jahren sind Ausnahmen, dafür kommen Spannen von über zwei Jahrhunderten mehrfach vor! Natürlich kann die geringe Anzahl überlieferter Beispiele das reale Bild verschoben haben; man mag sich wirklich kaum vorstellen, dass die Masse der Städte mehr als einige Jahrzehnte bis zum Mauerbau gebraucht haben soll. Eine Bestätigung dieser Annahme darf man vielleicht darin sehen, dass unter den „Wartezeiten“ von nicht mehr als 60 Jahren recht bedeutende Städte sind, während unter jenen, die weitaus länger benötigten, kleine oder abgelegene Städte von fraglos geringer Wirtschaftskraft klar überwiegen. Dennoch bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass von der Stadtgründung bis zum Mauerbau in der Regel mit etlichen Jahrzehnten zu rechnen ist, dass aber auch weit über zwei Jahrhunderte durchaus möglich sind. Jedenfalls erweisen diese Fälle den gerade in der lokalen Literatur nicht seltenen Schluss, dass die Stadtgründung zugleich den Beginn des Mauerbaues markierte, mit jeder wünschenswerten Deutlichkeit als falsch. Und als weitere Komplikation ist zu notieren, dass das Stadtrecht keineswegs zwingende Voraussetzung der Befestigung war; es wurde durchaus auch Orten verliehen, die zumindest schon Holzumwehrungen besaßen (und manchmal auch bereits Mauern). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
53
Freilich gibt es bekanntlich keine Regel ohne Ausnahme. In ganz wenigen Fällen kann schon heute belegt oder wahrscheinlich gemacht werden, dass die Mauer gleich mit der Stadtgründung begonnen wurde. So ist die Mauer von Villingen um 1209 / 10(d) bis um 1241 datierbar, jene von Neuleinigen (Pfalz) entstand nach dem Baubefund in einem Bauvorgang mit der 1238–41 datierbaren Burg, die ihrerseits erst den Beginn der Besiedlung an dieser Stelle bildete, und auch in Dillingen (oppidum 1220) wird man Ähnliches vermuten dürfen, entstand doch die Burg um 1220 und auch ein Stadttor zeigt noch romanische Merkmale. Weitere Verdachtsfälle gibt es sicherlich, vor allem bei Stadtgründungen des Spätmittelalters, aber in der Regel werden vertiefte Untersuchungen nötig sein, um die Gleichzeitigkeit wirklich zu belegen. Hinter solchen Ausnahmefällen standen fraglos Stadtgründer, die besonders hohen Aufwand treiben konnten, um ihrer Unternehmung zum Erfolg zu verhelfen, denn für die Anlockung jener Stadtbewohner, die das Konzept erst mit wirtschaftlichem Leben füllen konnten, war eine von Anfang an vorhandene hohe Sicherheit sicher ein ähnlich geeignetes Mittel wie die allgemein üblichen Privilegierungen. 2.2.1.5. Dauer und Förderung des Mauerbaues Ist schon die „Wartezeit“ bis zum Mauerbau schwierig zu ermitteln, so ist die Frage noch problematischer, wie lange der Bau einer Mauer dauerte. Selbst, wenn die mittelalterlichen Quellen reicher fließen würden, als sie es nun einmal tun, bliebe es erfahrungsgemäß schwierig, vor allem das Ende des Baues exakt zu bestimmen. Denn bei umfangreichen Bauvorhaben – man weiß das von großen Sakralbauten oder von Befestigungen der frühen Neuzeit, bei denen oft eher von einem Erlahmen der Kraft die Rede sein kann, nicht von einer „offiziellen“ Fertigstellung – pflegten die letzten Bauarbeiten mehr oder minder unmerklich in die ersten Instandsetzungen und Modernisierungen überzugehen. Die wenigen Beispiele, bei denen wir etwas von der Länge spätmittelalterlicher Baumaßnahmen erfahren, darf man genauso wenig verallgemeinern wie die „Wartezeiten“, denn selbstverständlich hing die Dauer der Arbeit von den verfügbaren Ressourcen – Geld, Arbeitskraft, Material –, von 54 I. Systematischer Teil
den politischen Umständen und manch anderem ab, konnte also a priori sehr verschieden sein (vgl. 3.1.). Gelegentlichen Meldungen extrem kurzer Bauzeiten – in wenigen Jahren bis hin zu der Behauptung, die Mauer sei in einem einzigen Jahr entstanden – wird man eher mit Misstrauen begegnen. In der Forschung neigte man oft dazu, vor allem auch in der älteren heimatgeschichtlichen Literatur, die Bauleistung zu heroisieren, als frühes Beispiel aktiven Bürgerstolzes. Bei großen, wirtschaftlich blühenden und politisch aktiven Städten war eine funktionierende und moderne Befestigung zweifellos ein Muss, aber ganz zu Anfang waren auch diese Städte erst im Aufbau und strotzten keineswegs vor Wirtschafts- und Finanzkraft. Und erst recht dürfte die Realität bei der weit überwiegenden Anzahl kleiner Städte ganz anders ausgesehen haben. Am deutlichsten wird dies bei jenen Fällen, bei denen Städte über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg von ihrem Stadtherrn immer wieder aufgefordert wurden, die Mauer zu bauen bzw. zu vollenden, wobei sowohl Versprechungen als auch Strafandrohungen Mittel der Wahl waren. Von acht Jahren Bauzeit – freilich nur für eine Verstärkung der Befestigung – spricht eine Inschrifttafel in Schärding / Inn: „der stat zwinger“ und „der stat graben“ seien ab 1429 in acht Jahren angelegt worden. Mindestens 15 Jahre sind in Neuburg / Donau zu konstatieren, denn 1332 gab es dort bereits Mauern, aber noch 1347 wurde für ihren Bau der Zoll erlassen. In Zülpich wurde der begonnene Mauerbau 1279 abgebrochen und dann 1376–93 erst vollendet. Zumindest 34 Jahre dauerte der Mauerbau in Eltville, der 1313 erwähnt wurde und 1347 vollendet war. Waren dies alles kleinere Städte, so baute Regensburg, eine der größten Städte des damaligen Deutschland, letztlich 116 Jahre an seiner äußeren Mauer; nachdem sie chronikalisch 1284 begonnen wurde, bezeugen Bauinschriften Arbeiten an der Hauptmauer bis 1320. Die avzer mauer im graben – was die Contrescarpe oder den Zwinger meint – ist 1330–1400 durch weitere Inschriften belegt. Angeblich 1321–68 war die Mauer von Butzbach im Bau, also 47 Jahre. Sehr genau kennen wir den Ablauf in Namslau (Schlesien), der trotz des Druck ausübenden kaiserlichen Bauherrn
65 Jahre dauerte. Karl IV. legte 1350 den Grundstein und mahnte 1359 den Weiterbau an, 1371 waren die Haupttore fertig, 1388 war das Wassertor im Bau, in den 1390er Jahren Türme und 1415 wurde die Mauer als fertig bezeichnet. Die Mauern von Bischofstein im Ordensland waren 1401 im Bau, aber 1460 / 70 noch nicht fertig. 1294 erteilt Erzbischof Sigfrid von Köln Kempen Stadtrechte und merkt an, die Bürger hätten schon viel Mühe in den Mauerbau gesteckt; er dauerte dennoch bis Ende des 14. Jahrhunderts, also ein rundes Jahrhundert. Und noch länger scheint es in Duderstadt gedauert zu haben, wo die 1276 / 79 erwähnte Mauer wohl Mitte des 13. Jahrhunderts begonnen und bis zum späten 14. Jahrhundert im Bau war. Auch aus der Betrachtung der Bauformen lässt sich gelegentlich eine lange Bauzeit erahnen. Die Problematik hierbei ist allerdings, dass es sich durchaus auch um Erneuerungen verschwundener Teile bzw. mehrere Bauphasen gehandelt haben kann, eventuell auch um einen sehr raschen Wandel der Formen; nur genaue Bauuntersuchungen oder eine sehr gute Quellenlage können in solchen Fällen vielleicht Sicherheit bringen. Relativ sichere Beispiele für solchen Formwandel in langer Bauzeit findet man vor allem im brandenburgischen Backsteingebiet, etwa in Jüterbog oder Zerbst, wo eine Feldsteinmauer des mittleren(?) 13. Jahrhunderts sich bis zu den typischen Wiekhausformen des (späteren?) 14. Jahrhunderts fortentwickelte. Auch Tangermünde, wo die Entwicklung von rechteckigen Wiekhäusern verschiedener Form bis zu Rundschalen (des 15. Jahrhunderts?) führte und in einer Erneuerung der Haupttore um 1440–70 endete, gehört zu diesen Fällen. Zeitlich eher knapp erscheint dagegen Beeskow, wo eine typisch wehrganglose Wiekhausmauer (ab Ende des 14. Jahrhunderts) zunächst mit gezinntem Wehrgang ergänzt und nach 1450 an der Flussseite mit echten Rondellen abgeschlossen wurde. Doch sollte man aus diesen Beispielen – gleich ob aus Quellen oder Baubeobachtung belegt – nicht allzu viel schließen. Es sind zu wenige Fälle und es ist zu unsicher, was die Quellen genau meinen oder in welchen Zeiträumen sich Formen wandelten. Zurückzubehalten ist letztlich wohl nur die Tatsache, dass auch die Realisierung der Mauer, ähnlich wie die „Wartezeit“ auf sie,
sehr verschiedene Zeit benötigen konnte – von ein bis zwei Jahrzehnten bis zu über einem Jahrhundert. Wichtig für den Ablauf des Mauerbaues waren die Einwirkungen der jeweiligen Landesherren, auf die wir schon mehrfach, auch bei den Holzbefestigungen, getroffen waren. Obwohl es gelegentlich Verbote des Mauerbaues oder gar drakonischere Maßnahmen gab – Friedrich I. ordnete in Köln und Mainz sogar Abbrüche an, was nach dem 12. Jahrhundert aber nicht mehr vorkam –, überwiegen bei Weitem fördernde Maßnahmen, das heißt die Erlaubnis des Mauerbaues bis hin zu deren (Mit-)Finanzierung, aber auch die Ermahnung, dieser Erlaubnis bald und konsequent nachzukommen. Auf Beispiele für die direkte Kostenübernahme waren wir schon getroffen, etwa in Trachenberg 1253. Normal war hier aber nicht die modernen Verhältnissen entsprechende Hergabe von Geld, sondern die Abtretung von Material, Rechten oder Einkünften. Genannt sei etwa die Erlaubnis, Holz zu schlagen (Neubrandenburg 1261) oder sich „Sponsoren“ zu suchen (Dudeldorf 1384), auch der Erlass von Steuern, vor allem aber die Abtretung von Einnahmen wie Zöllen und vor allem dem allgegenwärtigen „Ungeld“, einer lukrativen Steuer auf alkoholische Getränke. Dies wird hier nicht vertieft, da dazu ein eigenes Kapitel eingefügt ist (vgl. 3.1.). Auch die Erlaubnis zur Befestigung – zunächst der Holz-Erde-Befestigung, dann der Mauer – war vom 13. bis ins 15. Jahrhundert so häufig, dass die Beispiele hier nicht wiederholt werden müssen. Dass die erlaubten Mauern im Interesse der Landes- bzw. Stadtherren waren, zeigen fast noch deutlicher ihre Mahnungen dort, wo der Mauerbau zu langsam voranging. Das Beispiel von Namslau 1349 war genannt worden, wo Karl IV. neun Jahre nach dem Grundstein den Weiterbau forderte. In Müncheberg (heute Brandenburg) drohte Herzog Wratislaw von Pommern 1319 den Bürgern mit einer jährlichen Strafe, solange die Mauer unvollendet ist; im gleichen Jahre fuhren alle Dörfer im Lande Leubus Steine dafür an. Eher mit Lob versuchte es Erzbischof Sigfrid von Köln 1294, als er Kempen Stadtrecht verlieh und den schon weit vorangetriebenen Mauerbau anerkannte. Noch geschickter war der Herzog von Pommern, der Stolp 1310 zur Stadt erhob und 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
55
eine zehnjährige Steuerbefreiung für den Zeitpunkt versprach, wenn die Palisaden fertiggestellt sein würden. Vor allem in Bayern und Tirol gibt es Diskussionen unter Historikern darüber, ob der Landesherr nicht das Stadtrecht generell erst unter der Bedingung verliehen hat, dass die Mauer fertig war. In beiden Ländern übten die Landesherren ihre Macht überdurchschnittlich konsequent aus, was die Kontroversen verständlich macht. In Bayern ist ab dem späten 14. Jahrhundert oft der Fall festzustellen, dass der Herzog das Markt- und Befestigungsrecht verlieh und zugleich das volle Stadtrecht in Aussicht stellte, sobald die Mauer fertig sei – eine recht konsequente Politik, die aber trotzdem oft keineswegs zur Fertigstellung der Mauer führte! In Tirol gab es wohl eine ähnliche Politik, aber durchaus auch Gegenbeispiele. Imst zum Beispiel erhielt 1312 Stadtrecht und sollte binnen zehn Jahren die Mauer erbauen, schaffte es aber nicht; hingegen wurde Rattenberg schon 1333 / 40 befestigt, erhielt aber keineswegs bald danach, sondern erst 1393 Stadtrecht. 2.2.1.6. Städte ohne Befestigung? Vor allem von historischer Seite wurde früh festgestellt, dass eine nicht geringe Anzahl mittelalterlicher Städte dem Augenschein nach unbefestigt war; H. Stoob hat in seiner Karte der befestigten Städte dafür eine besondere Signatur eingeführt, die vor allem im Osten des deutschen Raumes sehr häufig auftritt; für Sachsen etwa kam man auf 174 „offene“ Städte gegenüber nur 74 mit Befestigung durch Mauern oder Wallgräben. Nachvollziehbar hat sich aus solchen Feststellungen gelegentlich die Diskussion entwickelt, ob die Befestigung wirklich ein definierender Bestandteil der mittelalterlichen Stadt war. Dem ist an dieser Stelle nicht weiter nachzugehen – nicht nur, weil die Frage der Definition von „Stadt“ heute flexibler gesehen wird, sondern einfach, weil es hier vor allem um die Befestigung als Bauwerk geht. Was also ist aus diesem Blickwinkel zur Frage der „Stadt ohne Befestigung“ zu sagen? Aus den letzten Kapiteln ist klar geworden, dass Befestigung keineswegs immer „Mauer“ bedeutet hat, dass vielmehr Anlagen aus Erde und Holz bzw. Gräben sehr häufig waren. Diese aber sind, wie schon der gesunde Menschenverstand 56 I. Systematischer Teil
belegt, höchst anfällig, wenn sie nicht regelmäßig gepflegt werden. Holz verrottet innerhalb weniger Jahrzehnte und muss erneuert werden, Wälle werden allein durch Regen im Laufe der Zeit wieder in die vorgelagerten Gräben hineingespült, diese verlanden auch ohne benachbarten Wall oder werden verfüllt. Dabei ist weiterhin nicht zu vergessen, dass die Bewohner der Stadt nicht nur durch den Verzicht auf Pflegearbeiten zum Verfall beitragen konnten, sondern von allem Anfang an auch aktiv. Denn die Befestigung war ja auch ein Hindernis zwischen der Stadt selbst und den Vorstädten, Mühlen, Äckern, Wiesen usw. vor der Stadt; Abkürzungen zwischen intra und extra muros waren daher ebenso naheliegend wie die Nutzung der Wälle und Gräben selbst, etwa als Weide, Garten oder Fischteich. Abstrakt gesagt: Schon die Alltagsinteressen der Bürger standen in einem grundsätzlichen Konflikt mit ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und bewirkten insofern eine Art Erosion der Befestigungen, vor allem, wenn diese aus wenig dauerhaftem Material bestanden (aber auch Mauern wurden aus den gleichen Gründen geschädigt, etwa durch Einbruch von Pforten und Fenstern). Daraus ergibt sich, dass Holz-Erde-Befestigungen auch früh, also schon im Mittelalter selbst, wieder abgegangen sein können, wenn die Stadt eine allzu lange Zeit nicht die Kraft aufbrachte, sie durch eine Mauer zu ersetzen. In diesem Falle können sie durchaus verschwunden sein, ohne dass eine einzige Quelle beschreibender oder abbildender Art Zeugnis von ihrer Existenz ablegt. Man darf ja nicht vergessen, dass dieser Fall nur kleine Städte von geringer Wirtschaftskraft betroffen haben dürfte, deren frühe Schriftüberlieferung in aller Regel ausgesprochen spärlich ist, genauso wie vor dem 18. / 19. Jahrhundert die Darstellung in Plänen. Gerade im Falle vieler vermeintlich unbefestigter Städte im östlichen Flachland – Brandenburg, Pommern, teils auch Sachsen und Schlesien – liegen mehrere Faktoren auf der Hand, die diesen Ablauf gefördert haben dürften. Späte Gründung – in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts oder noch später – verkehrsferne Lage, Mangel an Baumaterial und geringer Ertrag der eiszeitlichen Böden haben die Entwicklung solcher Städte verzögert, sodass ihr Mauerbau oft bis Mitte des 14. Jahrhun-
derts nicht begonnen war; die dann einsetzende große Wirtschaftskrise, zuletzt das Aufkommen der Feuerwaffen, dürfte ein Übriges getan haben, um den Mauerbau endgültig zu verhindern. In solchen Fällen könnte letztlich bestenfalls die Archäologie klären, ob nicht doch eine Befestigung vorhanden war; Drebkau oder Rhinow in Brandenburg sind etwa Beispiele oder am anderen Ende des deutschen Sprachraumes Lebnitz in der Steiermark, das 1296 Befestigungsrecht erhielt, aber nie eine Mauer. Da die Archäologie aber immer nur Einzelfälle untersuchen kann, während die vermeintliche „Stadt ohne Befestigung“ regional durchaus ein häufiges Phänomen war, ist mit einer wirklichen, das heißt halbwegs flächendeckenden Klärung auch langfristig kaum zu rechnen. Für die Frage, ob Befestigung ein unabdingbares, definierendes Merkmal der mittelalterliche Stadt gewesen sei, bedeutet all dies, dass sie nach wie vor nicht abschließend zu beantworten ist. Jedoch steigt die ohnehin hohe Wahrscheinlichkeit, dass wirklich jede mittelalterliche Stadt befestigt werden sollte – und es gerade zu Anfang fast immer auch wirklich war –, durch diese Feststellungen und Überlegungen nochmals deutlich an. Dafür spricht nicht nur, dass die eindrucksvolle Mehrheit der Städte in Stein befestigt war, und auch nicht nur die weitere Tatsache, dass in einer zunehmenden Anzahl von Fällen außerdem Holz-Erde-Befestigungen nachgewiesen sind. Auch die Erkenntnis, dass sehr wohl Befestigungen verschwunden sein können, ohne dass wir etwas von ihnen wissen, verstärkt die Annahme, dass „Stadt“ und „Befestigung“ im Mittelalter wirklich unabdingbar miteinander verbunden waren.
2.2.2. Stein als Baumaterial Dass das anstehende Gestein die Architektur einer Region in hohem Maße prägte, ist eine grundlegende Erkenntnis der Kunstgeschichte. Der hervorragende Kalkstein etwa der Ile de France leistete der hohen Qualität der sich entwickelnden gotischen Architektur Vorschub, Werkstein aus Caen wurde schon in der Romanik in weite Teile Englands exportiert; die gestalterischen Möglichkeiten guten Buntsandsteins sind allgemein bekannt, etwa am Oberrhein oder
unteren Main. Auch umgekehrt ist man sich bewusst, dass das Fehlen eines anstehenden guten Natursteins Folgen hatte. Der Backstein als Ersatz brachte in Norddeutschland und anderen glazial geprägten Regionen eine verspätete, aber formal eigenständige Blüte der Architektur hervor; nicht ganz so bekannt, aber in seinen Folgen vergleichbar ist der Transport von Werkstein auf geeigneten Flüssen, etwa von Drachenfels-Trachyt oder Mayener Basalt bis zum Niederrhein. Für die Stadtmauern besaß das Baumaterial einen fast noch höheren Stellenwert, denn hier ging es wenig um ornamentale Gestaltung, sondern um pure Masse. Kein anderer mittelalterlicher Bautypus, mit Ausnahme vielleicht einer großen gotischen Kathedrale, umfasste ein vergleichbares Bauvolumen und war folglich in so hohem Maße durch die Beschaffung des Baumaterials wie die Stadtmauern geprägt. Der Wirkungsmechanismus der geologischen Verhältnisse wird im norddeutschen, eiszeitlich geprägten Flachland besonders deutlich. Es beginnt damit, dass die überwiegend sandigen und kiesigen Böden einen deutlich geringeren landwirtschaftlichen Ertrag brachten, was den Zeitpunkt der Besiedlung verzögerte und ihre Dichte begrenzte. Daher entstanden a priori weniger Städte als anderswo und auch ihre Entwicklungsgeschwindigkeit und Wirtschaftskraft blieben meist auf niedrigerem Niveau. Hatte eine solche Stadt dann aber verspätet den Punkt erreicht, an dem der Mauerbau wirtschaftlich tragbar schien, so zeigten sich weitere Probleme. Stein ist in solchen Gegenden ein seltenes Material (Feldstein), er war schlecht zu bearbeiten (Granit und andere sehr harte Gesteine) oder musste mit einer besonderen, erst zu erlernenden Technologie künstlich hergestellt werden (Backstein), was teuer und deshalb oft recht zeitraubend war. Entstanden dann aber doch Mauern – überwiegend im 14. / 15. Jahrhundert, also ein halbes bis ganzes Jahrhundert später als anderswo –, dann war auch ihre „Überlebenschance“ geringer als anderswo. Denn die Seltenheit des Steinmaterials blieb ja auch später bestehen. Sobald die Mauern daher ihre Funktion teilweise oder ganz einbüßten, wurden sie, deutlich konsequenter als in den Natursteingebieten, als „Steinbruch“ ausgebeutet; sie verschwanden daher schneller und vollständiger als in Natursteingebieten. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
57
Abb. 23 Zu Quadern bearbeiteter Feldstein – in der Regel skandinavischer Granit oder ein anderes Urgestein – kommt praktisch nur im eiszeitlich geprägten Norddeutschland vor; Prenzlau (Brandenburg), Seitenwand des Blindower Tores, Unterbau nach 1287.
In den Natursteingebieten, also in den Mittel- und Hochgebirgen, ist das Gegenteil solcher Verhältnisse weniger deutlich zu erkennen, weil die Abläufe selbstverständlicher erscheinen; die vergleichsweise gute Verfügbarkeit des Natursteins führte zu mehr und früher errichteten Mauern, die sich auch besser erhalten haben, weil die Steinbrüche den Nachschub an frischem Material jederzeit sicherten. Im Hochgebirge, das heißt in den Alpen, prägte die Geologie die Verhältnisse allerdings noch anders. Das extreme Verhältnis zwischen einer sehr begrenzten Siedlungs- und Landwirtschaftsfläche einerseits und großen siedlungsfeindlichen Regionen andererseits begrenzte die Anzahl und Größe der Städte entscheidend; nur an den wichtigsten Handelsstraßen gab es eine hinreichende wirtschaftliche Grundlage. Damit gab es dort auch nur wenige und in der Regel eher bescheidene Stadtmauern. 58 I. Systematischer Teil
2.2.2.1. Bruchstein und Feldstein Verständlicherweise ist Stein als Material dann besonders unaufwendig verfügbar, wenn es vor der Verarbeitung gar nicht oder nur minimal bearbeitet wird. Bei einem Bautypus wie Stadtmauern, der grundsätzlich durch ein sehr großes Bauvolumen und daher sehr hohe Kosten gekennzeichnet ist, herrschte diese Form der Steinbearbeitung bzw. des Mauerwerks deshalb vor; alle anderen Formen des Materials, also die stärker bearbeiteten Natursteinquader und die künstlich hergestellten Backsteine, sind demgegenüber Ausnahmen, die meist nur regional auftreten. Das im Prinzip billigste Steinmaterial boten die bereits angesprochenen Feldsteine aus den eiszeitlichen Grundmoränen, zumindest dann, wenn die Natur sie schon in einer verarbeitungsfähigen Größe bereitstellte. Neben dem norddeutschen Flachland, wohin die Eiszeit skandinavisches Material verschleppt hatte, findet man derartiges Material („Moränenkiesel“) naturgemäß auch im gesamten Voralpenland, also vor allem in Ober- und Niederbayern, Oberschwaben und in der nördlichen und westlichen Schweiz. Die schon beschriebenen schlechten Bedingungen, die in diesen Regionen für die Besiedlung im Allgemeinen herrschten, führten jedoch dazu, dass Mauern aus Feldstein – oder zumindest mit Teilen aus Feldstein – insgesamt eher selten sind. Findet man im Voralpenland durchaus gelegentlich Mauern, die völlig oder weitgehend aus Moränenkieseln bestehen, so sind diese im weit größeren norddeutschen Flachland – zwischen Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und dem Ordensland Preußen – seltene Ausnahmen. Dort gehen nur sehr wenige Mauern oder Einzelbauten wie Tore ins 13. Jahrhundert zurück und sind aus reinem Feldstein, der dann auch oft quaderähnlich bearbeitet worden ist (Abb. 23). Im Normalfall erscheint in Norddeutschland im 14. / 15. Jahrhundert Feldstein in Kombination mit Backstein, das heißt, er wurde meist nur im Fundament und dem unteren Teil der Mauer verwendet. Hauptgrund dürfte die hier meist beachtliche Größe der Steine sein, die ein Transportproblem schuf und in Verbindung mit ihren rundlichen Formen nur sehr dicke und gestalterisch unbefriedigende Mauern erlaubt hätte. Weitaus verbreiteter sind Mauern aus Bruchstein, also Mauern, die Bruchstein für die großen
Flächen verwenden, Quader oder zumindest größer zugerichtete Stücke allein für die Eckverbände. Sie entfalten in aller Regel keine besondere Aussagekraft, weil sie nicht nur zahlenmäßig der fast überall auftretende Normalfall sind, sondern auch charakteristisch für die Hauptbauzeit der Stadtmauern vom (mittleren) 13. Jahrhundert bis ins (frühe) 16. Jahrhundert. Eben in diesem Zeitraum herrschte diese sparsame und in einer Phase intensiven Bauens daher besonders verbreitete Technik ganz allgemein bei fast allen Bautypen vor, sodass die Stadtmauern sich unspektakulär ins Gesamtbild einordnen. Oft oder sogar meistens dürfte dieses Mauerwerk unter Verputz gelegen haben, was den äußeren Eindruck deutlich anders gestaltete, als er heute meist anzutreffen ist; wie oft dies der Fall war, können allerdings nur aufwendige Einzeluntersuchungen bestimmen. Das rheinische Schiefergebiet ist der einzige Fall, bei dem das Bruchsteinmauerwerk quasi zum künstlerischen Mittel wurde, denn das besonders klein und plattig brechende Gestein musste mit einem Übermaß an Mörtel verarbeitet und oberflächlich verstrichen werden und wurde so nahezu zum plastisch formbaren Material; es begünstigte eine Architektur, die mit Formen etwa von Türmen oder Erkern stärker als sonst bei Stadtmauern üblich experimentierte. Bruchsteinmauern bieten ungewöhnlich schlechte Möglichkeiten der Datierung und der Feststellung von Bauphasen bzw. Umbauten. Ist der Verputz gut erhalten oder gar erneuert, sind derartige Aussagen völlig unmöglich, aber auch bei freiliegendem Mauerwerk bleibt es schwierig, derartige Feststellungen zu treffen. Die Steinform ist zufällig, eine besonders sorgfältige, zum Beispiel lagerrechte Verarbeitung ist selten angestrebt worden, Mörtel ist nicht absolut, sondern bestenfalls im Vergleich datierbar; und gerade bei geringen Steingrößen konnten Umbauten oft erfolgen, ohne dass man sie sicher erkennen kann. Dennoch gibt es, wenn auch nur in Ausnahmefällen und Randbereichen, Datierungsmöglichkeiten, selbstverständlich nur im Sinne grober Faustformeln; das sei betont, weil die Aussagekraft von Mauerwerk, gerade vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, oft überschätzt wird. Dazu gehört vor allem die sauber lagerrechte Verarbei-
tung von geeignetem Material, die von anderen Bautypen wie Burgen und Kirchen als Merkmal romanischen Mauerwerks bekannt ist. So zeigt etwa ein Mauerstück in Wasserburg / Inn, das man auf etwa 1220 datiert, Flusskiesel in sauberen Schichten. Etwas häufiger findet man Fischgrätmauerwerk (opus spicatum), das bei plattig brechendem Material höhere Schichten ermöglicht, aber stets nur bereichsweise auftritt (Abb. 24). Als Beispiele sind zu nennen Speyer (um 1070–1100) – die älteste erhaltene Mauer im deutschen Raum –, Goslar (um 1100–30?), Fulda (um 1150–65), schließlich Dieburg (1212 / 20 civitas), Wiener Neustadt und andere Mauern des späten 12./frühen 13. Jahrhunderts in Österreich. Auch die Mauern belegen also, dass Fischgrätmauerwerk prinzipiell romanisch ist, dabei aber keineswegs, wie manche Forscher unterstellen, auf wenige Jahrzehnte genau datierbar. Dass schichtenrechtes und Fischgrätmauerwerk bei Stadtmauern seltene Ausnahmen sind, ist natürlich schon darin begründet, dass nur ein kleiner Teil der Mauern noch aus so früher Zeit stammt; dabei ist ferner nicht zu vergessen, dass auch in der Romanik viele Bruchsteinmauern keine besonderen Merkmale aufwiesen. Ein frühes Phänomen, für das es noch keine Vergleiche gibt, ist offenbar die Ausführung des Fundamentes in Trocken- und Lehmmauerwerk, die in Braunschweig festgestellt wurde (Mitte des 12. Jahrhunderts). Im Spätmittelalter, in dem die schnelle und billige Herstellung von Mauerwerk absolut vorherrschte, gab es zumindest eine Grenzform von Bruchsteinmauerwerk, die sich grob zeitlich einordnen lässt. Zahllose Beispiele findet man etwa im nördlichen Hessen, wo der größte Teil der Mauern zwischen etwa 1350 und 1500 entstand; jedoch ist die Form weit darüber hinaus verbreitet, wenn auch wohl eher mit Schwergewicht im 15. Jahrhundert. Diese Form besteht darin, großen Brocken mit grobem Werkzeug (Zweispitz, Hammer) zumindest einen halbwegs glatten Spiegel zu verschaffen und sie dann unter Verwendung kleiner Steine und Splitter zu einer recht sauberen Fläche zu verarbeiten. Die Brocken zeigen dabei in der Regel Zangenlöcher, also Spuren einer aufwendigen Hebetechnik; sie deuten an, dass es sich letztlich um eine sparsame Abwandlung des großflächigen Quader2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
59
einmal durchlaufende Schichten, sondern das Material wurde völlig ungeordnet verarbeitet, wie es gerade in die Hand kam; Verputz ist dabei vorauszusetzen. Ein anschauliches Beispiel bietet Zons am Niederrhein (ab 1373), wo der fehlende Naturstein durch praktisch alles ersetzt wurde, was der Fluss heranbringen konnte, vor allem durch Basalt, Tuff und Backstein.
Abb. 24 Wiener Neustadt (Niederösterreich), Opus spicatum an der Stadtmauer aus dem späten 12. Jahrhundert.
werks handelt, das zur gleichen Zeit auch verwendet wurde (vgl. 2.2.2.2.). Eine letzte grob datierbare Mauerwerksvariante des Spätmittelalters und auch der frühen Neuzeit war extremes Mischmauerwerk, insbesondere unter Verwendung von Backstein oder Backsteinbruchstücken (Abb. 25). Dabei wurden keine geschlossenen Partien angestrebt, oft nicht Abb. 25 Zons (Nordrhein-Westfalen), Mischmauerwerk an der Stadtmauer (spätes 14. Jh.). Unten wurden Basalt und Tuff verwendet, vulkanische Materialien, die auf dem Rhein verschifft wurden, oben vor Ort gebrannter Backstein. Die geplanten Wehrgangbögen blieben unausgeführt.
60 I. Systematischer Teil
2.2.2.2. Quader und hammerrechte Quader Angesichts des enormen Bauvolumens von Stadtmauern und des daraus abzuleitenden Zwanges zu billigen Materialien und Techniken sollten Stadtmauern, bei denen die gesamten Mauerschalen aus aufwendig herzustellenden Quadern bestehen, im Grunde auszuschließen sein. Dennoch gibt es solche Mauern als relativ seltene Ausnahmen, wobei offenbar zwei Faktoren, meist in Kombination, entscheidend waren. Einerseits hat Quadermauerwerk die Anmutung des Soliden, ein Effekt, der aus der Antike herzuleiten ist und im Mittelalter durch Kirchen, Burgen und andere funktional herausragende Bauten weitergeführt wurde. In der späten Romanik gab es daher zumindest vereinzelt Mauern, deren Außenschalen vollständig aus hammerrechtem Quaderwerk bestanden, und ab dem 14. Jahrhundert, vor allem aber im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, wurde echtes Großquaderwerk oft für herausgehobene Einzelbauten, also Tore oder Türme, verwendet. Andererseits wird Quaderwerk durch die Merkmale bestimmter Gesteine erleichtert. Insbesondere die verschiedenen Arten von Sandstein (und Molasse) und Kalkstein (einschließlich Tuff) erlauben die Herstellung von Quadern mit begrenztem Aufwand, vor allem dann, wenn nur „hammerrechte“ Quader – Quader ohne abschließende Feinbearbeitung der Kanten und Spiegel – hergestellt werden. Hilfreich ist auch eine ausgeprägte Schichtung des Gesteins, die die Herstellung von Quadern gleicher Höhe quasi vorgibt. Noch in spätromanischer Zeit, also in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, gibt es vor allem am Oberrhein eine ganze Reihe von Mauern aus sorgfältig geschichtetem hammerrechten Quaderwerk (Abb. 26). Im Elsass sind – neben einzelnen Backsteinmauern – Colmar, Rufach, Neuweiler, Sulz und Weißenburg zu nennen, im Pfälzischen
und Badischen Worms, Neuleiningen, Annweiler, Bergzabern, Landau sowie Heidelberg und Eberbach. Etwas vereinzelt liegt Kaufbeuren (1240 „burc“), dessen später erhöhte Mauer ähnliches Mauerwerk zeigt (Abb. 352). Eine weitere Gruppe, hier durch das Vorkommen von Kalkstein bzw. Muschelkalk definiert, findet man um Mühlhausen in Thüringen; auch die für die Gegend frühen Mauern der Bischofsstädte Halberstadt und Merseburg weisen Quaderwerk auf, darunter, besonders an den Türmen, nicht nur hammerrechte, sondern auch voll bearbeitete echte Quader. In der Zeit zwischen etwa 1250 und 1400 tritt das hammerrechte Werk zurück, ohne dass in jedem Falle eine exakte Datierung möglich wäre, und es gibt einzelne Fälle von Mauern aus echtem Quaderwerk. Dabei fällt auf, dass in den Regionen des Sandsteins, der Molasse und des Kalksteins echte Quader kaum auftreten, sondern neben dem immer klar dominierenden Bruchsteinwerk weit überwiegend Buckelquader (vgl. 2.2.2.3.). Als Gruppe treten hier einige wenige Mauern aus großen Tuffquadern hervor. Tuff ist ein Gestein, das sich in frischem Zustand sägen lässt und daher ökonomischer herstellbar ist als Glattquader aus anderem Material. Man findet solche Mauern in der Nordwestschweiz (Aarberg, Wangen / Aare) und in Bayern (Mühldorf, „Münchener Tor“ (Abb. 358); Tittmoning; Burghausen, erste Mauer; Weilheim). Diese Städte liegen an Flüssen, die aus den Alpen kommen, sodass auch der leichtere Transport die Quaderverwendung erklärt. Als Sonderfall der Quaderverwendung sei der 1357 als „neu“ bezeichnete „Beginenturm“ in Hannover erwähnt, der aus den Quadern einer romanischen Kirche errichtet wurde (Abb. 433). Im 15. / 16. Jahrhundert treten echte Großquader an Einzelbauten praktisch überall auf, wo brauchbares Gestein anstand. Dabei handelt es sich, entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Stadtbefestigungen, stets nur um Einzelbauten und Verstärkungen, also um Tore, Türme sowie artillerietaugliche Bauten wie Rondelle und Streichwehren (Abb. 27). Dass man die weit höheren Kosten des Großquaderwerks nun wieder auf sich nahm – zu denen auch die bei diesen Gewichten unvermeidlichen Hebezeuge (Kräne, Zangen) beitrugen –, war nicht nur in dem begrenzten Umfang solcher Bauten begrün-
Abb. 26 Egisheim (Elsass), die innere Stadtmauer als Beispiel eines spätromanischen Mauerwerks aus hammerrechten, in sauberen Schichten verlegten Quadern.
det, sondern sicherlich auch in der wachsenden Bedeutung der Feuerwaffen. Zweifellos hielt Großquaderwerk den Geschützen kurzfristig besser stand als kleinteiliges Bruchsteinwerk; dass dies bei lang andauerndem Beschuss bedeutungslos wird, erkannte man erst langsam. Die nächste Stufe, den Verzicht auf Mauerwerk zugunsten „unzerstörbarer“ Erdschüttungen, erreicht man erst im Übergang zur Neuzeit (vgl. 2.2.11.7.). 2.2.2.3. Buckelquader Buckelquader kennen wir aus dem deutschen Burgenbau etwa seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, mit einer ausgesprochenen Blütezeit bis Mitte oder Ende des 13. Jahrhunderts und weiteren Vorkommen bis ins Spätmittelalter. Unbestritten ist, dass Buckelquader an Burgen – nach Anfängen, in denen sie wohl Sparform echter Quader waren – schnell eine ornamentale Form wurden, mit der nicht nur fortifikatorische, sondern auch herrschaftliche, das heißt adlige Macht symbolisiert werden sollte; die zeitweise propagierte, aber unbeweisbare Unterstellung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Buckelquader seien ein Symbol allein der staufischen Dynastie gewesen, ist seit Längerem auf dem Rückzug. Technisch gesehen sind Buckelquader entweder echte Quader, bei denen der Spiegel (die sichtbare Seite) nicht glatt gearbeitet wurde, oder es sind grob zugeschlagene Stücke, bei denen zu2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
61
mindest der Spiegel rechteckige Kanten erhalten hat, sodass beim lotrechten Vermauern der Eindruck echten Quaderwerks entsteht. In beiden Fällen liegt der Arbeitsaufwand deutlich höher als bei hammerrechten Quadern, wenn auch die letztere Form einen Teil des Aufwandes, das exakte Ausrichten, auf die Maurer übertrug. Dass man daher ganze Stadtmauern oder zumindest längere Teile davon aus Buckelquadern errichtet hätte, so wie man es von zahlreichen Burgen des süddeutschen Raumes kennt, ist angesichts des enormen Unterschieds im Bauvolumen eigentlich schlecht vorstellbar, aber es gibt durchaus solche Fälle. Aus schon erklärten Gründen liegen sie alle in Kalkstein- und Sandsteinregionen. Abb. 27 Luzern (Schweiz), der Nölliturm von „1513“, ist ein Beispiel für qualitätvolles Großquaderwerk aus der Spätzeit der mittelalterlichen Stadtbefestigung, mit Spiegelquadern am Sockel.
62 I. Systematischer Teil
Interessanterweise ist offenbar kaum eine dieser Buckelquaderstadtmauern noch zur „Stauferzeit“ entstanden; eine Ausnahme ist offenbar (Schwäbisch) Gmünd, wo die Reste der inneren Mauer derzeit noch vor 1250 datiert werden. Aber selbst die betreffenden Mauerteile in Esslingen, einer wichtigen Reichsstadt nahe dem Hohenstaufen, dürften erst nach dem Tod Friedrichs II. erbaut worden sein, ab den 1260er Jahren. Schorndorf erhielt seine Buckelquadermauer sicher erst kurz vor deren Ersterwähnung 1299 und in Weinsberg und Öhringen gibt es zwar erhaltene Buckelquaderteile, aber keine guten Datierungen; auch sie dürften noch ins 13. Jahrhundert gehören. Weiter östlich sind im Kalksteingebiet Dillingen und Oettingen zu nennen. In Dillingen möchte man annehmen, dass die Mauer direkt nach der 1220 ersterwähnten Burg entstand; der Ort ist 1258 „oppidum“, ein Tor zeigt noch romanische Formen. Damit wäre Dillingen neben (Schwäbisch) Gmünd die älteste Buckelquadermauer, die wir bisher kennen, eine gräfliche Anlage aus der späten Stauferzeit. Die Mauer von Oettingen mit beidseitigen Buckelquadern wird 1293 / 94 zuerst genannt und dürfte nicht viel älter sein (Abb. 28). Die größte und besonders geschlossene Gruppe von Buckelquadermauern findet man im Sandsteingebiet Frankens, allerdings erst im 14. / 15. Jahrhundert. Vorläufer war hier Dinkelsbühl, wo der untere Teil des „Wörnitztores“ und ein Mauerteil mit beidseitigen Buckelquadern noch aus dem späten 13. Jahrhundert stammen. Die Ummauerung der „Lorenzerstadt“ von Nürnberg dürfte wohl ab 1305 entstanden sein – die Quellenlage ist umstritten – und zeigt Buckelund Glattquader gemischt. Dass die Mauer von Weismain und Mauerteile in Kulmbach noch in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zurückgehen, wird vermutet. Den Höhepunkt der fränkischen Buckelquadermauern bildet jedenfalls die äußere Mauer von Nürnberg, die 1346–1407 entstand (Abb. 29); trotz ihres Umfanges und des Turmreichtums wurde sie so gut wie vollständig aus Buckelquadern aufgeführt; offenbar erst gegen Ende ging man zu Bruchstein und Backstein über. Nürnberg fand in vielen kleineren Städten Frankens bis ins 15. Jahrhundert hinein eine reiche Nachfolge, vor allem in der Nähe Nürnbergs, aber auch bis etwa Bayreuth. Als besonders späte
Beispiele seien Cadolzburg genannt (nach 1450) und Neunkirchen / Brand, wo die zwei Ortsteile 1479 und gar erst 1502 / 03 in Buckelquadern ummauert wurden. Fasst man zunächst den Erkenntnisstand zusammen, der sich aus der Betrachtung vollständiger Buckelquadermauern ergibt, so zeigt sich, dass Buckelquader an Stadtmauern erst in jener Zeit in Mode kamen, als sie bei Burgen schon im Niedergang waren, das heißt ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, aber – vor allem im Sandsteinland Franken – schwergewichtig erst im 14. / 15. Jahrhundert. Dies erinnert an Frankreich, wo Buckelquader gleichfalls erst im späteren 13. Jahrhundert aufkamen, dort an Stadtmauern und an Burgen. Das Phänomen ist schwer zu erklären, jedoch wird man zwanglos erwägen dürfen, dass der Rückgang im Burgenbau in Deutschland, der spätestens Ende des 13. Jahrhunderts einsetzte, Steinmetzen freisetzte, die die vertraute Formensprache zumindest gelegentlich auf die zahllos entstehenden Stadtmauern übertrugen. Häufiger als ganze Stadtmauern wurden einzelne Bauteile der Mauer mit Buckelquadern verkleidet, und zwar fast immer Tor- und andere Türme; Bachdurchlässe sind das einzige weitere Beispiel (Weißenburg / Elsass vor 1260, Basel um 1300). Die Beschränkung der aufwendigen, aber auch repräsentativen Technik auf die ohnehin hervorstechendsten Teile der Mauer liegt auf der Hand. Die Anfänge liegen auch hier im deutschen Südwesten, wo der Buckelquader in staufischer Zeit den Burgenbau prägte. Das Martinstor im zähringischen Freiburg (Abb. 96), der Mauer sekundär eingefügt, ist mit seiner Dendrodatierung ins Jahr 1200/01 nicht nur der älteste sicher datierte Torturm Deutschlands, sondern auch der erste in Buckelquadern. Auch in Rottweil wurden Türme aus Buckelquadern um 1220–40 einer Bruchsteinmauer hinzugefügt und im nahen Villingen sind zwei Tortürme auf 1232 / 33 und 1267 + / –10 dendrodatiert. In Franken sind der anfangs niedrigere Torturm des „Weißen Turmes“ in Rothenburg (Abb. 371) und in Nürnberg der Torturm des „Laufer Schlagturmes“ sowie der „Wasserturm“ sicher noch in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zu setzen. Esslingen mit dem 1268 zuerst erwähnten „Wolfstor“, das kissenförmige Buckelquader aufweist
Abb. 28 Oettingen (Bayerisch Schwaben), Buckelquaderwerk aus Kalkstein an der östlichen Stadtmauer, Feldseite (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts).
(Abb. 30), und den deutlich jüngeren, aber formal angelehnten Türmen des „Schelztores“ (um 1286–1300) und des „Pliensautores“ (1297 erweitert) schließt die südwestdeutsche Gruppe ab. Als Südausläufer darf man noch Basel nennen, mit dem erwähnten Bauwerk am Birsigeinlauf (erst um 1300), ferner Solothurn, wo das „Bieltor“ und einige Halbrundschalen Buckelquader zeigen, das „Wynigentor“ in Burgdorf (1276d) und früh, aber auf den Sockel begrenzt den Berner „Zytgloggen“ (um 1220 / 30). Danach setzen Buckelquadertürme erst wieder gegen Mitte des 14. Jahrhunderts ein. In Franken gehört die äußere Mauer von Rothenburg (um 1330 / 40–1400) mit ihren Tortürmen und dem „Faulturm“ (Abb. 53) zu den eindrucksvollsten Beispielen. Danach bleibt Franken, das ja vor allem mit der äußeren Mauer von Nürnberg und ihrer Nachfolge das Herzland des Buckelquaders im 14. / 15. Jahrhundert bildet, auch mit zahlreichen weiteren Türmen ein Buckelqua2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
63
derland. Zu nennen sind Tortürme etwa in Altdorf, Forchheim, Höchstadt, Wolframs-Eschenbach und Münnerstadt, Türme neben dem Tor in Lichtenfels, Herzogenaurach oder Gunzenhausen; ein früherer Torturm in Neustadt / Kulm (Oberpfalz) kann als Ausläufer gelten, der Heilbronner „Götzenturm“ (Württembergisch Franken) ist das wohl einzige inschriftlich datierte Beispiel (von „1392“; Abb. 391). Außerhalb Frankens sind etwa das „Koblenzer Tor“ in Andernach, mit Feldseite in Basaltbuckelquadern (vor 1350), der bemerkenswerte „Romäusturm“ von Villingen (1390 / 91d, erhöht 1429 / 39; Abb. 334), schließlich in der Nordschweiz Türme in Zofingen („Pulverturm“, 1361 / 63) und Laufenburg („Schwertlinsturm“) zu nennen.
Abb. 29 Nürnberg, Buckelquaderwerk aus Sandstein an einer Streichwehr des Zwingers (um / nach 1400).
64 I. Systematischer Teil
Dass Buckelquader bis ins 15. / 16. Jahrhundert weiter verwendet werden und irgendwann eher unauffällig in eine italienisch geprägte Rustika übergehen, zeigt vor allem eine kleine Gruppe im Bereich von Hochrhein und Bodensee, zu der neben öffentlichen und Patrizierbauten vor allem drei Stadttore gehören. Das baukörperlich reiche Baseler „Spalentor“ (vor 1398; Abb. 128) zeigte als ältestes Beispiel eine auf Einzelbereiche beschränkte, kissenförmige Rustika, während das Überlinger „Franziskanertor“ (1494; Abb. 346) und das wegen einzelner Renaissanceformen wohl noch jüngere Konstanzer „Schnetztor“ (Abb. 31) als Beispiele frühen toskanischen Einflusses verstanden werden. Auch verstreute Beispiele aus anderen Regionen können das Weiterleben der Form im 15. / 16. Jahrhundert belegen, etwa Schwäbisch Gmünd („Fünfknopfturm“, Dachwerk 1423 / 24d), das Vortor des „Einersheimer Tores“ in Iphofen (Franken), das Rondell „Dicker Turm“ in Bergzabern (Pfalz, um 1500?), ein Ecktürmchen des Aschaffenburger „Herstalltores“ von „1545“ und schließlich die mächtigen Tore und Rondelle von Solothurn mit ihrer großen Spiegelrustika (erste Hälfte des 16. Jahrhunderts; Abb. 234, 314). Auch der allein erhaltene Sockel des „Inntores“ in Innsbruck ist vielleicht dazuzurechnen. Der weitaus häufigste Fall von Buckelquadern an Stadtmauern ist jedoch die Beschränkung auf kleinere Bereiche einzelner Bauteile, eine Aussage, die für andere mittelalterliche Profanbauten ähnlich gemacht werden könnte, etwa für Burgen, Bürgerhäuser und andere städtische Bauten. Allgegenwärtig sind insbesondere Buckelquader an Ecken, wenn auch weniger häufig als Glattquader an gleicher Stelle, gelegentlich gibt es Sockel aus Buckelquadern (zum Beispiel Straßburg, an Mauerteilen des frühen 13.–15. Jahrhunderts); alle anderen Formen sind selten, etwa Strebepfeiler aus Buckelquadern (Worms, frühes 13. Jahrhundert, aber auch Überlingen, „Aufkirchertor“, nach 1450; Abb. 348), Gewände von Öffnungen oder auch einzelne Buckelquader in sonst glatten Flächen (Bautzen, „Lauenturm“, um 1400). Dabei liegt das Schwergewicht der Eckbuckelquader wiederum deutlich in den Gebieten mit gutem Naturstein, also vor allem mit Sand- und Kalkstein. Es seien nur einige besonders frühe und besonders späte Beispiele genannt, zwischen de-
nen zahllose andere, häufig nur ungenau datierte Bauten angeführt werden könnten. Frühe Eckbuckelquader findet man an der schon 1196 im Bau befindlichen Mauer von Worms, aber auch etwa in Wien, Wiener Neustadt und an anderen österreichischen Mauern der Zeit um 1200. Am anderen Ende der Skala rangieren Bauten am Oberrhein und Alpenrand, aus der Mitte und der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, etwa an Tortürmen in Diessenhofen, Laufenburg, Stein am Rhein und am „Churer Tor“ in Feldkirch (wohl von 1591). 2.2.2.4. Backstein Die Verwendung von Backstein hat vor allem in Norddeutschland eine leicht verspätete, aber sehr eigenständige und beeindruckende Formenwelt auch im Stadtmauerbau hervorgebracht. Die Tore etwa in der Mark Brandenburg oder Einzelbauten wie das Lübecker Holstentor genießen einen hohen Bekanntheitsgrad und führen ein wenig zu dem falschen Eindruck, das Phänomen sei auf diesen Raum begrenzt. Es gibt jedoch weitere, wenn auch etwas kleinere mittelalterliche Backsteingebiete in Deutschland, bei denen gleiche Ausgangsbedingungen zum gleichen Material führten. Im Grundsatz sind dies Regionen, wo Fels nicht an die Oberfläche tritt bzw. von Kiesen oder Sanden überdeckt ist; neben den eiszeitlich geprägten Regionen Norddeutschlands und des Voralpenlandes gilt dies auch für breite Flusstäler, beispielsweise am Oberrhein. Backstein ist im Prinzip ein Ersatzmaterial für Naturstein, das dessen Festigkeit und Haltbarkeit dort verfügbar machen sollte, wo Naturstein nicht oder nur in ungeeigneter Art zur Verfügung stand. Ob es im Mittelalter vor Ort aus antiker Tradition bekannt war oder ob die Technologie neu importiert wurde, etwa aus Norditalien – beide Meinungen werden vertreten –, ist hier nicht zu diskutieren, vor allem auch deswegen, weil Backstein in aller Regel zuerst für Sakralbauten verwendet wurde. Die Herstellung von Backsteinen, vor allem in den enormen Mengen, die eine Stadtmauer erforderte, war sehr aufwendig. Um über Jahrzehnte Tonmaterial in entsprechender Menge zu beschaffen, Brennöfen in Betrieb zu halten und den Transport zu organisieren, bedurfte es – noch mehr als schon allgemein für den Mauerbau – einer finanziell kräftigen und
Abb. 30 Esslingen (Baden-Württemberg), „Wolfstor“, „kissenförmiges“ Buckelquaderwerk der Feldseite, aus Sandstein (um 1220 / 40). Abb. 31 Konstanz (Baden-Württemberg), „Schnetztor“, Rustika (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, ab 1976 erneuert).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
65
gut entwickelten Stadt. Dem entspricht die schon behandelte Tatsache (vgl. 2.2.1.6.), dass es in den typischen Backsteinregionen, vor allem Nordund Ostdeutschlands, viele Städte gibt, die es gar nicht bis zum Mauerbau brachten. Die frühesten Stadtbefestigungen mit Backstein findet man im Norden, wo Dänemark für frühe Backsteinverwendung bekannt ist und wo unter anderen Heinrich der Löwe große Backsteinkirchen errichtete oder förderte (Dom Lübeck, Dom Ratzeburg, Jerichow und andere). Dass das Danewerk, eine der wichtigen Landwehren Deutschlands (vgl. 2.2.12.; Abb. 483), schon ab 1158 / 63 eine Backsteinfront erhielt, steht also durchaus in einem Zusammenhang, und ebenso die erste, nur 75 cm dicke und von Strebepfeilern gestützte Backsteinmauer von Lübeck, die auf etwa 1181 datiert wird; ihr folgte ab 1217 die weit längere Backsteinmauer um die gesamte Halbinsel. Auch die verschwundene, vor 1229 errichtete Mauer von Bremen, fraglos von Lübeck abhängig, ist so zu verstehen und ebenso die für 1229 erwähnte, bisher aber nicht archäologisch bestätigte Mauer von Brandenburg überrascht nicht, sie war ein Vorläufer des im späteren 13. Jahrhundert einsetzenden brandenburgischen Backsteinbooms. In einigen wichtigeren Städten am Westufer des Oberrheins, nach heutigen Begriffen in direkter Nähe zu den Natursteinvorkommen der Vogesen, trat Backstein gleichfalls früh auf, wobei hier bei den Bischofsstädten auch römische Anregungen erwogen werden. Die Wormser Mauer (vor 1200 bis um 1230) besaß zumindest einige Backsteinzinnen, das dortige „Martinstor“ war gänzlich aus Backstein. Völlig aus Backstein war auch die lange und mit zahlreichen großen Türmen ausgestattete Mauer von Straßburg, die um 1200–50 entstand (Abb. 64). Das gilt nach Grabungen auch für die verschwundene Mauer von Hagenau und für zumindest einen Torturm in Schlettstadt, die beide noch in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts gehören. Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts umwehrte auch Speyer, dessen erste Mauer noch aus dem 11. Jahrhundert stammte, seinen Hafen in Backstein, später (ab 1325) auch seine verschiedenen Vorstädte. Ein kleiner Rest in Hagenbach (um 1300) zeigt, dass auch kleinere Städte der Gegend Backsteinmauern besaßen. 66 I. Systematischer Teil
Augsburg wies die älteste Backsteinmauer weiter östlich auf, vielleicht noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Erste Backsteinmauern in Schlesien, wo romanische Sakral- und Profanbauten in die erste Jahrhunderthälfte zurückreichen, entstanden vielleicht schon ab den 1260er Jahren, sicher nach 1290. Beschränkten sich die ersten Backsteinmauern im 13. Jahrhundert auf wenige wichtige Städte in ganz verschiedenen Regionen, so sah das 14. Jahrhundert – durchaus analog zur allgemeinen Entwicklung der Stadtbefestigungen – die Ausbreitung des Materials vor allem bei der Masse kleinerer und mittlerer Städte Norddeutschlands und im Voralpenland, also dort, wo großflächig der Naturstein fehlte. Im südlichen Verbreitungsgebiet trifft man Backsteinmauern im Umkreis von Augsburg etwa ab 1300, Ulm begann seine äußere Backsteinmauer wohl 1316. In Nördlingen, wo Naturstein kein Problem war, zeigt die äußere Mauer (1327 bis etwa 1390) teils nur eine Backsteinbrustwehr (Abb. 32), teils ist sie ganz aus diesem Material. In Bayern war offenbar die äußere Mauer von München (ab 1315 / 19) der Startschuss für die Backsteinmauern; die Stadt legte in Bogenhausen eigens Ziegeleien an. Es folgten die Straubinger Mauer ab 1341 und später viele weitere Mauern, darunter so bedeutende wie in Ingolstadt. In Norddeutschland findet man Backstein an niederrheinischen Mauern ab etwa 1310; es bleibt im ganzen 14. und 15. Jahrhundert das normale Material. In Westfalen ist Backstein dagegen erstaunlicherweise eher selten (Borken, Warendorf, Coesfeld, Werne). In dem anderen ganz großen Verbreitungsgebiet des Backsteins – im Kern die Mark Brandenburg mit Randbereichen im heutigen Sachsen-Anhalt (Zerbst), im nördlichen Sachsen (Belgern, Pegau, Delitzsch, Bautzen Lauenturm) und Schlesien, nördlich davon auch das von Lübeck aus stark beeinflusste Mecklenburg – und in Vorpommern beginnt der Boom der Mauern gleichfalls kurz vor 1300; 1311 werden, ein früher Fall, Ziegel zum Mauerbau in Rheinsberg erwähnt. In dieser Region wird im gesamten 14. und 15. Jahrhundert eifrig gebaut, während das Material auch in die Regionen weiter östlich vordrang, nach Hinterpommern, in die Neumark und ins Ordensland.
Abb. 32 Nördlingen (Bayerisch Schwaben), die Brustwehr der äußeren Mauer bestand, im Gegensatz zum Bruchstein der Mauer selbst, von Anfang an aus Backstein (1327 bis um 1390); auch für Reparaturen und die Verkleinerung der Zinnen zu Schießfenstern wurde im 15. / 16. Jahrhundert Backstein verwendet.
Die besonderen Eigenschaften des Backsteins ermöglichten eine aufwendig wirkende, aber relativ leicht herzustellende Ornamentik, die die Backsteinmauern von den Natursteinmauern deutlich unterschied; sie tritt natürlich an anderen Bautypen ähnlich und noch reicher auf, insbesondere im Sakralbau. Ornamente konnten aus Ton leicht in Formen gestrichen und zu Hunderten gebrannt werden; der Aufwand war durch die nur einmalige Herstellung der Form weitaus geringer als bei entsprechender Steinmetzarbeit. Dennoch blieb diese Art Ornamentik (Terrakotta, zum Beispiel Schivelbein / Pommern) an Stadtmauern extrem selten und auch profilierte Steine waren nicht sehr häufig; am ehesten traten noch einfache Formen wie Fasen oder Viertelrundungen auf. Normal und optisch prägend waren dagegen Blendgliederungen bzw. Lisenen und Bänder, die aus normalen Mauersteinen einfach durch Vor- und Zurücksetzen der Mauerfluchten entstanden (Abb. 33); die normierten Maße der Steine – wiederum auf die Herstellung in Formen zurückzuführen – machten dies den Maurern ohne großen Mehraufwand möglich. Selbst das Verputzen und das meist weiße Fassen der Blenden blieben im Aufwand begrenzt, wenn man es mit dem vollflächigen Putzen einer Bruchsteinmauer vergleicht. Die Blendgliederungen waren so normal, dass ein Torturm mit völlig glatten Mauerflächen (Barth, „Dammtor“, um 1475; Abb. 522) als erstaunliche Ausnahme erscheint. Dass
die Gliederungen mit Blenden, Lisenen und Bändern wirklich für das Material typisch sind, nicht für die Schönheitsvorstellungen und Moden einer Region, wird vielleicht dort am deutlichsten, wo wenige Backsteinbauten in einer sonst von Naturstein dominierten Landschaft stehen. So findet man im Oberschwäbischen Einzelbauten des späten 14. und 15. Jahrhunderts, die backsteintypische Lisenen- bzw. Bändergliederungen zeigen (Biberach, Türme des späten 14. Jahrhunderts; Mindelheim 1365–89; Dillingen, „Leitentor“, vor 1498), während diese Form sonst in dieser Gegend unbekannt ist. „Zahnschnitte“ aus übereck gereihten Steinen, die im Backsteingebiet keineswegs etwa romanisch sind, oder (meist horizontale) Bänder aus vorgestreckten Mauersteinen, als Ersatz für profilierte Gesimse, sind weitere Beispiele für backsteintypische, unaufwendige, aber wirkungsvolle Gliederungen. Schmucksysteme der beschriebenen Art erlauben vielfältige Abwandlungen, die sowohl regional als auch zeitlich gebunden sein können. So findet man etwa im Brandenburgischen und darüber hinaus anfangs eine wenig gegliederte Feldseite der Tortürme, während im 14. / 15. Jahrhundert die reiche Blendgliederung der Stadtseite auch hierhin übergriff. In Pommern, wo im 14. Jahrhundert manchmal Blendmaßwerk verwendet wurde, setzte im 15. Jahrhundert eine Tendenz zu besonders schlichten Blendgliederungen ein, zunächst in zwei Reihen, dann, in der zwei2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
67
ten Hälfte des Jahrhunderts, entstanden extrem hohe Felder, die über dem Erdgeschoss beginnen und über die ganze Turmhöhe bis in den Giebel aufsteigen. Im Ordensland Preußen schließlich findet man bei den Tortürmen überwiegend ungegliederte Turmschäfte und eine Verlagerung der reichen Blendgliederung in den obersten Teil bzw. auf die Giebel. Eine allgemeine, das ganze Backsteingebiet übergreifende Tendenz dieser formalen Entwicklung im Stadtmauerbau lässt sich bisher kaum formulieren, es müssten vielmehr genaue regionale Untersuchungen angestellt werden. Bisher liegt dazu lediglich jene von Heinrich Trost von 1959 vor, die im Wesentlichen das Gebiet der ehemaligen DDR umfasst, also Brandenburg, Mecklenburg und Vorpommern. Abb. 33 Preußisch Holland (Ordensland Preußen), die Stadtseite des Torturmes zeigt eine für das Ordensland charakteristische Blendgliederung, die aus normalen (nicht profilierten) Backsteinen hergestellt ist (Chr. Herrmann).
Ein Schmuckelement von backsteintypischer Schlichtheit, dessen Herkunft und Verbreitung exakter einzuschätzen ist, sind Rautenmuster aus den schwarz gebrannten Köpfen normaler bzw. fehlgebrannter Mauersteine (Abb. 34). Dieses Motiv, das im frühen 14. Jahrhundert an Ordensburgen entwickelt wurde, hat erwartungsgemäß sein Schwergewicht im Ordensland, jedoch findet man es, überwiegend im späten 14. Jahrhundert und bis ins frühe 16. Jahrhundert, auch in Schlesien (Namslau, Guhrau, Kreuzburg, Liegnitz), in Pommern (Stargard, Rostock „Zwinger“ am Steintor, 1526–32) und Brandenburg (Beeskow); das westlichste Vorkommen fand ich in Borken in Westfalen („Kuhmturm“, „Diebesturm“). Farbig glasierte Steine wurden dagegen an Stadtmauern kaum verwendet, etwa am „Kröpeliner Tor“ in Rostock und am „Knieper Tor“ in Stralsund; das aufwendigste Beispiel bieten die schwarz glasierten Fensterwimperge am „Bautor“ der pommerschen Bischofsstadt Cammin. Verschiedentlich ist versucht worden – bei Bauten aller Art, nicht nur bei Stadtmauern – aus den Backsteinverbänden Datierungen abzuleiten. Aus den Beobachtungen an Stadtmauern ist festzuhalten, dass die Verbände offenbar eher an Regionen als an Zeiten gebunden waren. In Mecklenburg war schon in romanischer Zeit der „wendische Verband“ (an Kirchen) üblich, der dort, in Brandenburg und auch in Pommern immer vorherrschend blieb. In Schlesien (und Polen) herrscht dagegen der Kreuzverband vor; in Ostpreußen schließlich treten, was man mit der späten Entstehung der dortigen Mauern erklären mag, vielleicht auch mit Maurern verschiedener Herkunft, Block- und wendischer Verband nebeneinander auf. Engere Datierungen wird man daher meines Erachtens aus dem Auftreten bestimmter Verbände in der Regel kaum ableiten können.
2.2.3. Die Hauptmauer Die Mauer selbst – wenn man sie definieren will: der aus Stein aufgemauerte, die gesamte Stadt umziehende Baukörper von mehreren Metern Höhe und relativ geringer Dicke, der durch Türme, Tore, Gräben usw. ergänzt und verstärkt wurde – war der von der Funktion her grundlegende, zugleich aber in der Gestaltung schlich68 I. Systematischer Teil
Abb. 34 Rautenmuster aus Backsteinen mit schwarzen Köpfen kamen im Ordensland auch an Stadtbefestigungen vor. Links ein Eckturm der Stadtbefestigung von Braunsberg („Pfaffenturm“), rechts ein Eckturm („Efeuturm“) im gleichfalls vom Orden befestigten Lauenburg (Pommern), beide wohl zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (Foto Chr. Herrmann; Die Baudenkmäler der Provinz Pommern, 3, 2, 2: Bütow u. Lauenburg,1911).
teste Teil der Stadtbefestigung. Sie wird hier als „Hauptmauer“ bezeichnet, um sie von den davor verlaufenden Zwingermauern (vgl. 2.2.7. und 2.2.8.) zu unterscheiden. Variieren konnten bei der Hauptmauer, wenn man das Baumaterial einmal beiseitelässt (vgl. 2.2.2.), insbesondere die Abmessungen und die der aktiven Verteidigung dienenden Einrichtungen, das heißt der Wehrgang und die Schießscharten. Die Schlichtheit der Hauptmauer – die noch deutlicher wird, wenn man sich verdeutlicht, dass viele Mauern kaum Türme besaßen (vgl. 2.2.4.3.) – ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es heute angesichts der zahllos erhaltenen Stadtbefestigungen erscheint. Bei frühgeschichtlichen und antiken Mauern gab es durchaus komplexere Formen wie die sogenannten Kasemattenmauern, bei denen aus der Mauer selbst und aus hinten an sie angebauten lückenlosen Reihen von Räumen eine Einheit gebildet wurde, indem deren Dächer zugleich den Wehr-
gang bildeten. Solche Kasemattenmauern gab es bei frühmittelalterlichen Befestigungen noch gelegentlich, etwa bei der karolingischen Büraburg nahe Fritzlar, aber bei den Stadtmauern des Hoch- und Spätmittelalters sind sie unbekannt. In ihre Tradition könnte man lediglich jene Fälle stellen, in denen Bürgerhäuser von Anfang an direkt an die Mauer angebaut wurden, sodass ihre Rückwand und die Mauer identisch waren. Diese Fälle, die wegen der zahlreichen typischen Veränderungen städtischer Bebauung nur durch Archäologie bzw. Bauforschung sicher nachgewiesen werden können, mehren sich in den letzten Jahren im süddeutschen Raum, vor allem in der Schweiz (vgl. Bd. II, Topographischer Teil, 4.). Sie sind dennoch etwas grundsätzlich anderes, weil die Häuser in der Regel mehrgeschossig waren und komplexere Innenräume besaßen, sodass der Wehrgang bestenfalls durch sie hindurchgeführt wurde. Eine Ähnlichkeit zur älteren Form der Kasemattenmauer besteht hier 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
69
nur im Prinzip, indem kollektive Verteidigung mit individueller Nutzung der Räume / Häuser (Wohnen, Arbeiten, Lager) baulich gekoppelt wurde. Ob sich vielleicht das eine aus dem anderen entwickelt hat, ob also frühmittelalterliche Kasemattenmauern den Städten als Anregung gedient haben könnten, kann jedenfalls bisher nicht gesagt werden. 2.2.3.1. Maße der Hauptmauer Wie hoch und dick waren Stadtmauern? Darauf gibt es zunächst zwei unbefriedigende Antworten, nämlich einerseits: Das ist sehr unterschiedlich, und andererseits: Das ist zumeist noch gar nicht zuverlässig festgestellt worden. Um zunächst den zweiten Punkt zu erläutern: Es ist keineswegs so einfach, wie es scheint, die Dicke einer Stadtmauer zu messen. Zwar stehen manche Mauerteile noch frei und haben Durchbrüche, die das Messen einfach machen, aber in der Mehrzahl der Fälle sind die Mauern wenn nicht zerstört, dann zumindest eingebaut oder verändert, abgesehen von der Unklarheit, ob sie an jeder Stelle und auf jeder Höhe gleich dick waren. Daher finden sich zwar in Beschreibungen von Mauern oft Maße, aber diese sind häufig Schätzmaße und es bleibt unklar, ob sie für jede Stelle der Mauer galten; sicher kann man meist nur sein, wenn Bauforschung stattgefunden hat. Ein Vergleich von acht Mauern im Schweizer Kanton Aargau (Abb. 35) ergibt beispielsweise, dass die meisten Mauern dort um 0,90 m (= drei Fuß?) dick und einschließlich der Zinnen 8–9 m hoch waren, bei Extremwerten allerdings nur 0,60 m Dicke und 14 m Höhe aufwiesen. In Niederschlesien (Abb. 36) ergibt ein entsprechender Vergleich Dicken zwischen 0,80 m und 2,20 m, wobei die meisten zwischen 1,10 m und 1,60 m und die Höhen zwischen 7,00 m und 9,60 m liegen. In beiden Fällen sind dabei die höchsten Mauern nicht zugleich die dicksten. Dies zeigt bereits, dass die Maße der Mauern von Landschaft zu Landschaft leicht schwankten; die schweizerischen Kleinstädte unterscheiden sich deutlich von den größeren und meist später ummauerten schlesischen Städten. Dennoch ist die Schwankungsbreite nicht wirklich groß, auch wenn man bedenkt, dass die mit Abstand höchste Mauer (Rheinfelden) ausgerechnet im Gebiet der schwachen Mauern steht. 70 I. Systematischer Teil
Auch eine viel umfangreichere Sammlung von Maßen würde daher wohl bei der Erkenntnis enden, dass die weitaus meisten (Haupt-)Mauern zwischen 0,80 m und 1,60 m dick und einschließlich Zinnen 7–9 m hoch waren. Werte unterhalb dieses Mittelfeldes kommen angesichts der hohen Anzahl wenig finanzkräftiger Kleinstädte durchaus vor – etwa in Dürnstein (Wachau): Dicke um 0,50 m am schwer zugänglichen Felshang –, ebenso gelegentlich dickere und höhere Mauern oder zumindest Mauerabschnitte, aber das bleiben Ausnahmen, die das Gesamtbild nicht ändern. Interessanter als eine solche statistische Abschätzung ist aber die Frage, ob in den Maßen der Mauern eine Entwicklung erkennbar wird, etwa von relativ niedrigen und schwachen Mauern zu höheren und stärkeren. Ausgangspunkt für diese Frage kann nicht nur die Tatsache sein, dass der äußerst aufwendige Mauerbau stets eine Versuchung zur Sparsamkeit auch in den Maßen schuf, sondern auch eine konkrete Quelle – ein ausgesprochener Ausnahmefall. In einem viel zitierten (und oft verallgemeinerten) Privileg König Konrads IV. von 1238 für Murten in der Westschweiz wurde nämlich festgelegt, dass eine dort zu errichtende Mauer unten etwa 1,80 m dick sein solle und oben etwa 1,20 m, bei einer Höhe von etwa 3,60 m (Maße aus Fuß umgerechnet). Dabei erscheint die Dicke relativ beachtlich, die Höhe eher gering, selbst dann, wenn man unterstellt, dass zu den 3,60 m noch die Brustwehr gerechnet werden muss. Die Vermutung, dass Stadtmauern anfangs, in romanischer Zeit, noch relativ niedrig waren, lässt sich auch sonst belegen. Die besonders frühe Mauer von Speyer (um 1061–1100) war 1 m dick; ihre Zinnen lagen wohl kaum mehr als 4 m hoch, aber wir kennen das damalige Bodenniveau nicht zuverlässig. In Basel (um 1080– 1100) lagen die Zinnen definitiv nicht höher und es gab keinen Wehrgangabsatz (bei dieser Höhe ist ein auf dem Boden stehender Wehrgang denkbar; vgl. 2.2.3.5.). Auch bei der wohl um 1150–65 entstandenen Mauer von Fulda lagen die Zinnen nur 4,50 m über dem (heutigen) Boden (Abb. 437). In Eisenach, dessen Mauer vielleicht vor 1172 begonnen wurde, aber überwiegend wohl eher ins frühe 13. Jahrhundert gehört, liegt der Wehrgang ebenfalls stellenweise nur 1,70 m
über dem heutigen Gelände; in Lübeck (ab 1181) war die Mauer 0,75 m dick, in Neuss (ab 1180) 0,60 m. Auch in Köln lässt sich schließlich eine niedrigere Mauer wohl der Zeit um 1180–1200 belegen, indem deren Zinnen in den höheren Neubau um 1210–50 integriert sind. Weiterhin sind in den rheinischen Bischofsstädten Worms und Mainz niedrige Mauern erkennbar bzw. belegbar geblieben – in Worms mit Backsteinzinnen –, die wohl in die Zeit um 1200 gehörten und im ersteren Falle recht bald, in Mainz erst im 14. / 15. Jahrhundert erhöht wurden (Abb. 37). Ähnliche Befunde kann man in Kaufbeuren sehen, wo die Mauer aus der Zeit vor 1240(?) wohl noch vor 1300 erhöht wurde; in Straßburg könnte die Mauer der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nach einem mit Zinnen erhaltenen Stück im Süden ähnlich niedrig gewesen sein. Eberbach am Neckar schließlich, dessen Mauer ins zweite Viertel des 13. Jahrhunderts gehört, zeigt einen Wehrgang dicht über dem erhaltenen Mauertor. Um 1200 und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gibt es jedoch auch schon Beispiele für stärker dimensionierte Mauern; sie belegen wieder einmal, dass allzu geradlinige Entwicklungsvorstellungen problematisch sind, weil man von Anfang an mit wirtschaftlich oder anders begründeten Einflussfaktoren bzw. Ausnahmefällen rechnen muss. Die Mauer von Halberstadt war 1,90 m dick, jene der verschwundenen Bergwerkstadt Prinzbach besaß 2,50 m dicke Fundamente; auch die Mauer von Zug, aus dem frühen 13. Jahrhundert, war 1,90 m dick und wurde relativ bald auf 10 m erhöht. In Hainburg und Marchegg, in Niederösterreich, findet man im frühen
Abb. 35 Die variable Dicke und Höhe der Hauptmauern wurde erst in wenigen Landschaften vergleichend dokumentiert, wie hier für den Aargau (Schweiz) (vgl. Abb. 36; Stadt- und Landmauern, Bd. 2).
und mittleren 13. Jahrhundert um die 2,20 m dicke Mauern. Einen gewissen Rekordwert bietet Fritzlar, das 1232 eingenommen worden war, und daraufhin eine Mauer von nicht weniger als 2,75–3,25 m Dicke baute! Auch Freiberg, wie Prinzbach eine reiche, nur weit größere Bergwerkstadt, besaß eine ab 1233 erwähnte, 2,50 m dicke und 9 m hohe Mauer. Weit im Osten sei Jauer in Schlesien erwähnt, mit 2,10 m Dicke. Als Gegenbeispiel einer frühen Mauer, die offenbar alles andere als stark war, sei hier Mühlhausen in Thüringen angeführt, dessen romanische Mauer nach dem Baubefund langsam einstürzte und schon im 14. Jahrhundert neu aufgemauert und erhöht werden musste; ein vergleichbares Problem ist aus Konstanz bekannt.
Abb. 36 Vergleich der Querschnitte niederschlesischer Stadt mauern: 1. Kanth; 2. Ohlau; 3. Strehlen; 4. Neumarkt; 5. Breslau, äußere Mauer; 6. Breslau, innere Mauer (Mury obronne miast dolnego Śląska). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
71
Abb. 37 Gelegentlich lassen vermauerte Zinnenreihen die mehrfache Erhöhung der Mauer erkennen. Links die Ostmauer von Worms, rechts steinrechte Zeichnung eines entsprechenden Befundes aus Oberwesel (beide Rheinland-Pfalz; rechts: Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Stadt Oberwesel, Bd. II; vgl. Abb. 4).
Entsprechend der anfangs begrenzten Höhe vieler Mauern waren nachträgliche Erhöhungen häufig. Sie sind dort deutlich zu erkennen, wo die ersten Zinnen in der Erhöhung erhalten blieben oder wenn sich die Erhöhung zumindest in der Mauertechnik oder im Material unterscheidet. In vielen Fällen allerdings, bei denen nichts davon der Fall war oder spätere Veränderungen oder Verdeckungen aufwendige Forschungsmethoden erfordern würden, müssen wir davon ausgehen, dass die Erhöhung bisher nicht erkennbar ist. So gibt es etwa im Neckarland Mauern des späten 13. Jahrhunderts, die teils erstaunlich hoch sind (Bönnigheim 9 m, Waiblingen bis 12 m), ohne dass eine Erhöhung ablesbar wäre. Beispiele sichtbarer Erhöhungen in der Zeit vor 1250 waren in den rheinischen Bischofsstädten schon genannt worden, Oberwesel wäre dort zu ergänzen (Abb. 37). Für das Spätmittelalter darf man als besonders anschauliches Beispiel einer Kleinstadtmauer Stadtilm in Thüringen nennen, wo die Mauer der Zeit um 1300 nur 3 m hoch war und im 15. Jahrhundert auf fast 8 m erhöht wurde. In der Schweiz sind mehrere Beispiele genauer untersucht worden. Die bis zum späten 15. Jahrhundert dreimal erhöhte Mauer von Murten ist hier ein besonders eindrucksvolles Beispiel (Abb. 209). Im kleinen Lenzburg, wo die 1376 begonnene Mauer zunächst nur 5,1 m hoch war, wurde sie nur wenig später auf 8 m erhöht. Das große Schaffhausen erreichte dagegen nach einer Erhöhung um 1400 nicht weniger als 11,5 m. In Chur schließlich fand die letzte Erhöhung noch 1542 statt, als man anderswo im 72 I. Systematischer Teil
Zeichen der Artillerie schon zu betont niedrigen Bauten und Erdwällen überging. Als prinzipiellen Grund der Entwicklung zu höheren Mauern wird man kaum eine rasante Entwicklung der Belagerungstechnik anzunehmen haben, sondern eher eine wachsende wirtschaftliche Fähigkeit der Städte, sich auf die Bedrohung einzustellen. Eine erhebliche Mauerhöhe war in einem Zeitalter, in dem man die Mauern zu ersteigen versuchte und jeder Meter Höhe auch mehr Überblick über das Vorfeld bedeutete, von Anfang an wünschenswert; die frühen Mauern von größerer Höhe, die angesprochen wurden, belegen dies hinreichend. Wenn man trotzdem oft Mauern errichtete, an deren Zinnen man mit keineswegs extrem langen Leitern gut herankam, sobald man sie über den Graben gebracht hatte, dann bedeutet dies sicherlich vor allem, dass ein höherer Bauaufwand nicht möglich war. So betrachtet, war der Schritt von der frühen Holzbefestigung zur ersten Mauer gar nicht so groß, wie er uns heute erscheint, weil die Erstere stets verschwunden, die Letztere oft erhalten ist. Es handelte sich vielmehr in beiden Fällen noch um Sparformen, die erst durch weiteren Ausbau jenen Zustand erreichten, der uns heute als vollständige Stadtmauer erscheint. 2.2.3.2. Wälle mit Mauerfront Zwischen dem „reinen“ Erdwall, der höchstens auf seiner Krone eine Palisade trägt, und der ebenso „reinen“ Mauer, die beidseitig frei steht, gibt es eine Zwischenform, die man an vielen Beispielen von der Antike bis ins frühe Mittel-
alter belegen kann: den Wall, der feldseitig eine Mauerverkleidung besitzt. Die Vorteile einer solchen Anlage gegenüber den beiden anderen Formen liegen auf der Hand; der reine Wall ist leicht zu ersteigen, die frei stehende Mauer kann ausschließlich als – technologisch anspruchsvolle, daher teure – Mörtelmauer ausgeführt werden, will man sie nicht als Trockenmauer so breit machen, dass sie praktisch schon wieder ein Wall wäre. Solche Wälle mit Mauerfront wurden in der Antike auch zur Umwehrung von Städten angelegt, wie als herausragendes und frühes Beispiel die republikanische, sogenannte „Servianische Mauer“ von Rom (390 v. Chr.) belegt, deren agger (Wall) feldseitig eine aufwendige Quaderverblendung besaß. Dass eine solche Anlage von außen durchaus so solide wirken konnte wie eine frei stehende Mauer, kann heute die wilhelminisch rekonstruierte Umwallung der „Saalburg“ im Taunus veranschaulichen, die hier nur als Einzelbeispiel eines römischen Kastells im späteren Deutschland angeführt sei. Auch bei den vielfältigen frühmittelalterlichen, nichtstädtischen Befestigungen in Deutschland, die hier nicht im Einzelnen auszubreiten sind, war die Form sehr häufig, wobei nicht nur Stein zur Verblendung der Front verwendet wurde, sondern zum Beispiel auch Holz – dann wurde die Steilheit der Front durch Verankerungen im Erdkörper gesichert – oder sogar Grassoden. Dass auch mittelalterliche Städte gelegentlich solche Wälle mit Mauerfront besaßen, blieb lange unbeachtet, obwohl es Hinweise gab; erst jüngere Grabungsergebnisse haben das Thema besser ins Licht gerückt. In den benachbarten, früh entwickelten Städten Basel und Freiburg im Breisgau wurden in den letzten Jahren Umwallungen des späten 11. bzw. der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts festgestellt, die nicht nur eine gemauerte Vorder-, sondern auch eine ebensolche Rückfront besaßen. Der bis 5 m erhöhte und bis 6 m breite Weg auf diesem Wall – die Maße stammen aus Freiburg – (Abb. 38) wurde zuerst in Basel mit dem schweizerischen Begriff des „Rondengangs“ belegt, der die Inhalte der Begriffe „Wehrgang“ und „Mauergasse“ vereint, da die Wächter ihre Rundgänge sowohl auf als auch hinter der Mauer machen konnten. In der Tat vereinte eine breite Wallkrone hinter der
Brustwehr gewissermaßen die Funktionen von Wehrgang und Mauergasse, indem sie nicht nur Standort der Verteidiger sein konnte, sondern – im Gegensatz zum schmalen Wehrgang der frei stehenden Mauer – auch Platz für die Bewegung einer größeren Anzahl von Menschen oder auch für Transportzwecke bot. Erst der Übergang zur frei stehenden Mauer mit schmalem Wehrgang (vgl. 2.2.3.4.) machte die ebenerdige Gasse nötig, um die letzteren Aufgaben zu übernehmen (vgl. 2.2.3.6.). Die hintere Stützmauer, die in Basel und Freiburg erst an kleinen Abschnitten der Mauer festgestellt wurde, kann am ehesten mit bereits vorhandenen und bebauten Grundstücken hinter dem Wall erklärt werden; eine raumfressende Wallböschung hätte sie noch stärker beschnitten, die teurere Mauer ließ mehr von ihnen bestehen. Im oberrheinisch-alemannischen Raum gab es noch mehr Wälle mit Mauerfront, die wohl bis ins 14. Jahrhundert hinein entstanden. Die Mauer von Villingen, nach Dendrodatum 1209 / 10 im Bau, besaß noch die Wallschüttung dahinter, aber auch schon einen hölzernen Wehrgang. In Offenburg, wo die Befestigung 1241 zumindest geplant war, weisen Indizien auf den Wall, auch in Zürich kann man ihn vermuten. Wesentlich jünger und als benachbarte Kleinstädte vermutlich direkt vom Vorbild Freiburg abhängig waren Münster im Breisgau (nach Mitte des 13. Jahrhunderts) und Waldkirch (1341 als Stadt belegt). Weiter nördlich besaßen frühe Städte im niederrheinisch-westfälischen Raum gelegentlich mauerverkleidete Wälle, bei denen aber noch keine systematischen Grabungen vorliegen. Das gilt etwa für Paderborn, wo der vermutlich zwischen 1127 und 1146 entstandene Wall mindestens 3 m hoch war; Dortmund und Geseke waren wohl Nachfolger in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die auf Initiative Friedrichs I. ab 1171 in Aachen entstehende Umwehrung war offenbar ein mauerverkleideter Wall und dasselbe darf man für die kaum später begonnene äußere Umwallung von Köln vermuten, denn dort sind in der nach 1200 begonnenen Mauer Teile einer niedrigeren gezinnten Mauer erkennbar geblieben, die die Wallfront gebildet haben dürfte (Abb. 39). Insgesamt wird man den Wall mit Mauerfront beim gegenwärtigen Forschungsstand als 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
73
eine frühe, schwerpunktmäßig ins 11. / 12. Jahrhundert gehörende Übergangsform betrachten, die noch frühmittelalterlichen, nichtstädtischen Vorbildern folgte, letztlich an den westdeutschrheinischen Raum gebunden blieb und sich bald verlor. Sie wird schon wegen der Seltenheit früher Städte eine Ausnahme gewesen sein, aber weitere Ausgrabungen könnten die bekannten Fälle dennoch deutlich vermehren, weil die Wälle später in der Regel eingeebnet und überbaut worden sein dürften. 2.2.3.3. Fundamentierung Die sorgfältige Planung der Fundamente bzw. der Gründung ist beim heutigen Bauen selbstverständlich. Die Eigenschaften des Untergrundes, die erwartbare Setzung, die frostfreie Gründungstiefe, die Beschaffenheit des Fundamentes selbst, sein Schutz gegen Feuchtigkeit – das alles und mehr hat man heute gut im Griff, so dass Bauschäden aufgrund problematischer Fundamente bei Neubauten kaum noch vorkommen. Grundsätzlich würde man annehmen, dass Befestigungen gerade in jenem Zeitalter, als das Unterminieren die häufigste Zerstörungsmethode war, eher noch solidere Fundamente besaßen, zumindest, wenn sie nicht auf Fels gebaut oder durch hohes Grundwasser geschützt waren. Rein funktionales Denken müsste folglich zu der Annahme führen, dass die Mauern in weiterhin erheblicher Dicke tief ins Erdreich (oder in den Graben) „hinabreichten“, um die Zerstörung durch Unterminierung zu erschweren. Was wir über die Fundamente der Stadtmauern wissen, ist natürlich eng begrenzt, weil
sie nur in wenigen Fällen zugänglich geworden sind, durch Ausgrabungen, manchmal auch durch Erdrutschung oder durch Entfernung von Erde zu anderweitiger Verwendung. Die seltenen Fälle zeigen jedoch mit einiger Deutlichkeit, dass von einer soliden Fundamentierung im heutigen Verständnis kaum die Rede sein konnte. In den meisten Fällen trifft vielmehr das zu, was Walter Haas etwas überrascht, aber sehr anschaulich zur Mauer der „Lorenzer Stadt“ von Nürnberg festgestellt hat, die (spätestens um 1300) auf Sand erbaut wurde: „Jeder leidlich motivierte Dackel hätte sie untergraben können.“ Auch in Duisburg, unter der mindestens ins mittlere 12. Jahrhundert zurückgehenden Mauer, wurde eine sehr flache Fundamentierung festgestellt und in Neuss fanden die Archäologen, dass die (frühestens ab 1180 erbaute) Stadtmauer oder auch nur ihre Fundamentgrube nicht mehr nachweisbar war, obwohl alte Darstellungen ihren Verlauf eindeutig zeigten und in der Neuzeit nur wenige Dezimeter Erdoberfläche abgetragen worden waren. In Konstanz, und ähnlich schon um 1000 an der Hildesheimer Domburg, muss eine erste Mauer so schnell gekippt sein, dass man sie aufgeben musste und umgehend eine neue direkt dahinter bzw. darauf errichtete; dass die nach 1288 erbaute Ziegelmauer von Düsseldorf bald vom Rhein unterspült wurde und umstürzte, ist ebenfalls durch das Fehlen jeglicher Fundamentierung erklärlich. Schließlich wurden bei den fränkischen Stadtmauern von Hof und Rodach aus dem 13. / 14. Jahrhundert archäologisch Fundamenttiefen von nur 15 bzw. 50 cm festgestellt.
Abb. 38 Freiburg im Breisgau, die Rekonstruktionsskizze der Stadtbefestigung im Zustand um 1150 zeigt die Aufschüttung hinter der Mauer, deren sekundäre Abstützung durch eine schräge „Schürze“ (vgl. Abb. 40) und eine gemauerte Contrescarpe (Porsche, Die mittelalterliche Stadtbefestigung von Freiburg / Br., 1994).
74 I. Systematischer Teil
Aussagen über „die“ Fundamentierung der mittelalterlichen Stadtmauer sind bei der geringen Anzahl solcher Ergebnisse natürlich noch nicht möglich. Was wir schon wissen, mahnt aber ein weiteres Mal zu größter Vorsicht gegenüber den vor allem in älteren Werken verbreiteten Rückschlüssen, mittelalterliche Befestigungsbauten müssten so oder so ausgesehen haben, weil „militärische“ Notwendigkeiten das erfordert hätten. Ein kräftiges, auch nur 2 m abgetieftes Fundament hätte allein den Aufwand an Material und Maurerarbeit um ein Drittel oder noch mehr erhöht, wobei Erdarbeiten noch gar nicht angesetzt sind. Angesichts dessen, was wir oben schon zum enormen Umfang der Bauaufgabe bzw. zur Problematik der Materialbeschaffung festgestellt hatten, finden wir hier wohl ein weiteres Indiz dafür, welch zentrale Bedeutung diese Faktoren in der Realität besaßen. Auch die Feststellung bei verschiedenen Grabungen in Brandenburg, dass die Feldsteinfundamente nur selten mit Lehm oder Mörtel gebunden waren, deutet durchaus in dieselbe Richtung. Eine Sonderform der Fundamentierung, die auf den ersten Blick schwer zu verstehen ist, bestätigt diese Erwägungen ebenfalls, allerdings erst auf den zweiten Blick: die Fundamentbögen. Unter „Fundamentbögen“ werden hier Bögen zwischen Pfeilern verstanden, die die Mauer tragen, wobei sie sich aber vollständig unter der Erde befinden. Gelegentlich kann man die Bögen aus der Erde ragen sehen (Abb. 39), selten sind sie bei Grabungen freigelegt worden. Vor allem in Köln und im nördlichen Rheinland war diese
Art der Gründung offenbar normal – Blankenberg / Sieg zeigt den Befund (Abb. 426) besonders deutlich an der Hauptmauer (Mitte des 13. Jahrhunderts) und am Zwinger (14. Jahrhundert?) –, aber manche Einzelfälle deuten an, dass sie auch darüber hinaus oft vorkam. Beispielsweise zeigt Frankenhausen (Thüringen; Mitte des 13. Jahrhunderts) den Befund, ebenso weite Strecken der gut erhaltenen äußeren Mauer von Rothenburg ob der Tauber (Ende des 14. Jahrhunderts; Abb. 39). Was aber war der Zweck dieser Art Gründung? Auf den ersten Blick sind auch die Fundamentbögen fortifikatorischer Unsinn, bieten sie Abb. 39 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), Fundament bogen der äußeren Mauer, der heute (wegen der Abtragung eines vorangegangenen Walles?) aus dem Boden ragt (oben). In Köln wurde ein Punktfundament solcher Bögen beim Abbruch der Mauer dokumentiert (Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
75
doch den Mineuren quasi „unterirdische Tore“ zwischen den Pfeilern. Eine technisch naheliegende Erklärung läge darin, dass die „Punktfundamente“ (Pfeiler) bis auf tragfähigen Boden heruntergeführt sind, weil die oberen Schichten unzuverlässig schienen; jedoch spricht wenig dafür, dass solche Verhältnisse besonders häufig waren; bei eindeutig sumpfigem Grund baute man eher Pfahlroste. Näher liegt die Deutung, dass es sich doch um eine Sicherung gegen Unterminierung handelt. Geht man nämlich von der Verbreitung extrem flach gegründeter Mauern aus, so boten die Fundamentbögen einen Vorteil: Eine solche Mauer konnte punktuell untergraben wer-
Abb. 40 Freiburg im Breisgau, die Mauer des mittleren 12. Jahr hunderts wurde an einen Geländeabfall durch eine schräge „Schürze“ sekundär abgestützt (vgl. Abb. 38; Porsche, Die mittel alterliche Stadtbefestigung von Freiburg / Br., 1994).
76 I. Systematischer Teil
den, ohne sofort einzustürzen; nur die gezielte Zerstörung auch eines Pfeilers konnte hier zum Erfolg führen. Um den Pfeiler zu treffen, musste man die Bögen jedoch von außen sehen, was in der Regel nicht der Fall war. Denn die Bögen lagen meist knapp unter Bodenniveau oder aber wurden an der Außenseite durch eine niedrige Anschüttung nachträglich kaschiert. Für diese Anschüttung kann man etwa schon die Mauer von Soest (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts?) oder auch Helmstedt (um 1230–44) zitieren; jene von Duderstadt (Mitte 13. Jahrhundert bis spätes 14. Jahrhundert?) ist deswegen interessant, weil Ausgrabungen dort an mehreren Stellen zeigen konnten, wie die Gründung pragmatisch auf den Untergrund reagierte – neben außen angeschütteten Fundamentbögen fand man im sumpfigen Bereich auch Pfahlgründungen und weitere Arten der Fundamentierung. Die Maskierung der Bögen durch Anschüttung ist natürlich oft schwer zu erkennen, weil es sich im Prinzip ja auch um Reste eines älteren Walles handeln kann (vgl. 2.2.1.2.); ein Indiz ist aber, wenn dem „halben Wall“ kein zweiter an der Stadtseite entspricht. Was die Herstellung der Fundamentbögen be trifft, wird man davon ausgehen dürfen, dass sie in der Regel anders als normale Bögen erstellt wurden. Man wird sicherlich keine Bretterschalung benutzt haben, für die man erst ein großes Loch hätte ausheben und nach Aufmauerung wieder verfüllen müssen. Vielmehr ist anzunehmen, dass hier der anstehende Boden selbst als Schalung diente, dass man also die Pfeiler ohne Verwendung von Brettern in rechteckige Löcher mauerte und dann das Erdreich dazwischen „abrundete“, um die (Stich-)Bögen direkt darauf mauern zu können. Pfahlgründungen bzw. Balkenroste unter der Mauer dürften bei feuchtem Boden durchaus häufig gewesen sein, sind aber nur durch Grabung festzustellen; Beispiele fanden sich bei vielen Grabungen in Brandenburg, aber auch etwa in Kiel und bei der Vorstadt „Stadelhofen“ von Konstanz, am Bodenseeufer. Ein weiteres, eher unauffälliges Phänomen, das sich erst auf den zweiten Blick als Aspekt einer bestimmten Fundamentierungsart zu erkennen gibt, ist der steile, grabenseitige Anzug des unteren Mauerteiles. Er ist nicht sehr häufig, sondern findet
sich vor allem bei Mauern der Zeit vor 1250 im weiteren Oberrheingebiet (Freiburg im Breisgau, Offenburg, Gengenbach, Rottweil), aber etwa auch in Nürnberg im 14. Jahrhundert. Bei der Mauer von Freiburg im Breisgau aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist archäologisch festgestellt worden, dass dieser schräge Mauerteil („Schürze“), der aus der Grabentiefe aufsteigt und die senkrechte eigentliche Mauer stützt, nachträglich entstanden ist, aber offenbar mit geringer Verzögerung; wahrscheinlich sollte er nach einer Verbreiterung und Vertiefung des Grabens die durch Abrutschung und auch Untergrabung gefährdete Mauer sichern (Abb. 40). Die innere Grabenwand wurde durch ihn effektiv und optisch zum Sockel der Mauer selbst. Die etwas jüngeren Mauern gleicher Form ahmten dies zumindest formal nach; dass die „Schürze“ auch bei ihnen sekundär entstand, scheint aber eher unwahrscheinlich. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass Stadtmauern, von dem letzten Fall einmal abgesehen, sehr wenig gegen Unterminierung geschützt waren, obwohl dies, wenn man von zerstörungsfreien Methoden wie Übersteigen oder Überrumpeln absieht, die übliche Methode des Eindringens in die Befestigung war. Lediglich die Fundamentbögen kann man als eine gewisse Vorsorge gegen Untergrabung verstehen, deren Wirksamkeit aber auch eng begrenzt blieb. Sparsamkeit prägte die Fundamentierung also weit stärker als ein Denken in den Kategorien von Angriff und Verteidigung, für dessen Umsetzung augenscheinlich einfach die Mittel fehlten. 2.2.3.4. Wehrgang und Brustwehr Die Stadtmauer des deutschen Raumes wurde – lässt man Türme, Zwingermauern und andere ergänzende Bauteile weiterhin beiseite – fast nur von der Mauerkrone aus verteidigt. Das ist nicht selbstverständlich, denn bereits in der Antike hatte es komplexere Modelle gegeben, bei denen mehrere Schussebenen übereinanderlagen. Als erhaltene Beispiele seien etwa die Aurelianische Mauer von Rom genannt, die in ihrem Endzustand des späten 3. Jahrhunderts zwei Wehrgänge übereinander besaß (was bei der Ummauerung des Vatikans im 10. Jahrhundert übernommen wurde), auch die „Landmauer“ von Konstantinopel (um 412–422 n. Chr.) oder die unter Justinian
im frühen 6. Jahrhundert errichtete Mauer von Resafa (Syrien). Dass Derartiges auch im Mittelalter anregend wirkte, jedoch nur im Mittelmeerraum, verdeutlicht etwa ein Blick auf den Ausbau des Crac des Chevaliers in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts oder auf die im 16. Jahrhundert neu entstandene Mauer von Jerusalem. Schießscharten im unteren Teil der Mauer – vom Boden aus zugänglich, nie von einem unteren Wehrgang – gab es jedoch in Deutschland nur in zwei Regionen bzw. Epochen, einerseits im nördlichen Rheinland, andererseits gelegentlich in der Spätzeit des Stadtmauerbaues im 15. / 16. Jahrhundert, als schwache Mauern mit Gewehrscharten in Stehhöhe entstanden, ohne Wehrgang auf der Mauerkrone (vgl. 2.2.11.1.). Im Rheinland dürfte die um 1210–50 entstandene aufwendige Mauer von Köln das Thema vorgegeben haben, indem sie je eine Schlitzscharte, vom Boden aus bedienbar, in der Mitte jedes Wehrgangbogens anordnete; dass dabei ein (spät)römisches Vorbild anregend gewirkt hat, wie bei den Doppelturmtoren dieser Mauer, darf man erwägen, kann aber dieses eventuelle Vorbild nicht mehr benennen (Abb. 41). Das Kölner Modell wurde dann bis ins 14. Jahrhundert verschiedentlich rezipiert, etwa in Oberwesel schon um 1240, in Aachen (ab 1257) und Recklinghausen (um 1300?); im 14. Jahrhundert sind Menden (Westfalen, keine Wehrgangbögen), Zülpich (1376–93) und weiter südlich Boppard, Nassau und Oberlahnstein zu nennen; am weitesten von Köln entfernt ist die Vorstadtmauer des mainzischen Miltenberg (um 1346). Späte Beispiele solcher tief liegender Scharten aus dem 15. / 16. Jahrhundert sind schon deswegen selten, weil damals kaum noch Mauern neu entstanden, sondern eher einzelne Abschnitte, etwa als Reparatur oder Umbau. Ein Beispiel wohl des 15. Jahrhunderts ist Landshut in Bayern, in Stargard (Pommern) und in Rostock am erneuerten Steintor gibt es Entsprechendes aus dem 16. Jahrhundert. In Jena wurden nachträglich große Schlüsselscharten in 2 m Höhe in die bestehende Mauer eingefügt. Der Wehrgang und seine Ausgestaltung sind nach dem Gesagten das funktionale Kernstück der Hauptmauer. Bevor wir uns ihm zuwenden, ist aber eine Frage zu behandeln, die man leicht übergehen könnte: Hat eigentlich jede Mauer ei2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
77
nen Wehrgang auf ihrer Krone gehabt oder gab es auch Mauern ohne Wehrgang? Dies ist wieder einmal eine jener Fragen, für die man ob ihrer Grundsätzlichkeit eine einfache und klare Antwort erhofft, die man aber aufgrund der fragmentarischen Erhaltung mittelalterlicher Bauten leider keineswegs erhält. Abb. 41 Köln, die Mauer, die spätestens ab den 1210er Jahren auf einem etwas älteren Wall entstand, besaß als wohl erste im deutschen Raum unter den Wehrgangbögen Scharten, die vom Boden aus benutzbar waren; der im Foto sichtbare Wall mag ursprünglich etwa einen Meter höher gewesen sein, wie auch die Tufffundamentbögen in der Mauer andeuten (Rekonstruktionsversuch bei Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884).
78 I. Systematischer Teil
Fraglos spricht schon die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Wehrgänge der Normalfall waren; das Fehlen von Scharten in unteren Mauerteilen und die verbreitete Turmarmut (vgl. 2.2.4.3.) machten Wehrgänge bei weitaus den meisten Mauern unverzichtbar, weil sie ausschließlich von dort verteidigt werden konnten. Zugleich aber ist unbestreitbar, dass die meisten Mauern zu zerstört sind, um eindeutige Aussagen über den Wehrgang zu machen, und dass gerade frühe Darstellungen des 16. / 17. Jahrhunderts Wehrgänge bzw. Zinnen oft auch dort schematisierend darstellen, wo sie in Wahrheit nachweislich fehlten. Im Einzelfall wird oft nicht mehr geklärt werden können, ob wirklich und in welcher Form Wehrgänge vorhanden waren. Als Beispiele von Mauern, die auf den ersten Blick mit ihren Türmen ganz normal wirken, aber auf den zweiten Blick keine Wehrgänge besaßen, seien etwa Wimpfen im Tal (Württemberg), die Vorstadt „Freiheit“ in Homberg / Efze (Hessen), Borken und Haltern (Westfalen) oder Reichenbach, Münsterberg, Patschkau und Pitschen (Schlesien) genannt; sie zeigen, vom späten 13. Jahrhundert bis um 1500 entstanden, aber in ihren Regionen jeweils vollkommen isoliert, wie verbreitet und zugleich ungewöhnlich Wehrganglosigkeit war. Aber es sind auch zwei wichtige Gruppen von wehrganglosen Mauern fassbar – eine regional definierte, die brandenburgischen „Wiekhausmauern“, und eine zeitlich definierte, die schon berührten Mauern des 15. / 16. Jahrhunderts, die nur Feuerwaffenscharten in Stehhöhe besaßen. Auf die letztere, nur verstreut auftretende Spätform bleibt im Zusammenhang der spezifischen Entwicklungen des Artilleriezeitalters zurückzukommen (vgl. 2.2.11.1.). Das „Wiekhaussystem“ war dagegen eine bemerkenswerte Sonderform der Mauer, der im 13. bis 15. Jahrhundert praktisch alle Mauern im damaligen Brandenburg angehörten (also auch solche im heutigen Mecklenburg-Vorpommern und Polen); Ausläufer der Form finden sich in Sachsen-Anhalt (Zerbst, Schmiedeberg, Kemberg), in Sachsen (Delitzsch), Schlesien (Lüben, Namslau, Neumarkt, Falkenberg, Gleiwitz) und weit im Westen ausnahmsweise in Uelzen. Typisch für das „Wiekhaussystem“ (vgl. die detaillierte Darstellung in Band II: 26. Brandenburg) war die vollständige Verlagerung der Verteidigung in regelmäßig gereihte,
fast immer rechteckige Türme, die „Wiekhäuser“, die mit mehreren Schartengeschossen ausgestattet und nur von der Mauergasse zugänglich waren. Sie beherrschten durch ihre enge Stellung, in Abständen zwischen 20 und 40 m, das Vorfeld ähnlich gut wie die Scharten eines Wehrgangs, auf den deswegen verzichtet werden konnte. Die Abstützung der Mauer durch die Türme machte es zudem möglich, sie nach oben immer schwächer auszubilden; ob das System von den Baumassen her „billiger“ als eine Mauer mit Wehrgang war, ist angesichts der zahlreichen, wenn auch niedrigen Türme aber anzuzweifeln. In Nachbargebieten Brandenburgs gab es im Übrigen Fälle, verstehbar als Kombination mit dem überregional Üblichen, bei denen das Wiekhaussystem mit Wehrgängen kombiniert wurde; wichtigstes Beispiel ist das Deutschordensland Preußen. Als seltener Ausnahmefall sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, dass es auch wehrganglose Mauern gab, bei denen nur kleine Abschnitte der Mauern mit Zinnen versehen waren; das gilt etwa für die um 1500 entstandenen Vorstadtmauern von Worms und Bautzen, und zwar jeweils beidseitig von Toren. Die äußere Mauer von Basel (1361 / 62–98) soll im größten Teil ihres Umfanges zwar Zinnen, aber keine Wehrgänge besessen haben. In allen drei Fällen handelte es sich um ausgedehnte und spätere äußere Mauern, deren Verteidigungsfähigkeit schon aus Mangel an Verteidigern ein Problem war; offenbar verzichtete man deshalb auf die pflegebedürftigen Wehrgangkonstruktionen, täuschte aber durch die Zinnen zumindest eine gewisse Wehrhaftigkeit vor. Die Betrachtung des Wehrganges selbst kann in drei Punkte gegliedert werden: die Gestaltung der Brustwehr, die Frage der Überdachung und schließlich die formal höchst vielfältigen stadtseitigen Abstützungen des Wehrganges, der meist breiter als die Mauer war, die ihn trug. Bis zum Artilleriezeitalter waren nach allen Anzeichen Zinnen, eine im Prinzip seit der Antike bekannte Bauform, die normale Form der Brustwehr – eine nicht überdachte, nicht allzu dicke Mauer von Mannshöhe, mit mindestens mannsbreiten Lücken, durch die die Verteidiger das Vorland beobachten, schießen oder sich hinausbeugen konnten. Die höheren Brustwehrteile
zwischen den Lücken, die „wintberge“, enthielten oft zusätzliche Schlitzscharten, die beim Hinausschießen mit Bogen oder Armbrust eine bessere Deckung boten; manchmal, etwa in Österreich, gab es sie nur in jeder zweiten oder dritten Zinne. Die Zinnen sind in weitaus den meisten Fällen mitsamt der Mauerkrone verschwunden, aber dennoch blieben viele Beispiele erhalten; wo die Mauer nicht bis heute gepflegt wurde und etwa unter einem Dach lag, wurden sie meist durch Erhöhung der Mauer oder zumindest durch Einbau von Scharten im Spätmittelalter geschützt (vgl. 2.2.11.3.). Zinnen bieten wenige Möglichkeiten zur formalen Variation (solange man sich wohlgemerkt mit originalen Zinnen befasst und nicht mit den heute häufigeren Zierzinnen des 19. / 20. Jahrhunderts). Dennoch zeigen die wenigen Fälle, bei denen einmal Zinnen einer Region vermessen und verglichen wurden (Abb. 42), dass kaum zwei Fälle absolut gleich sind – typisch mittelalterlich, es gab nur „Daumenwerte“, keine Normen. Als erhaltene Beispiele ungewöhnlicher Maße seien etwa Kaufbeuren (um 1230?) mit ungewöhnlich breiten Zinnen (Abb. 352) und Kirchberg / Jagst (nach 1373) mit Zinnen von 7–8 m(!) Breite genannt. Schlitzscharten in den Zinnen sieht man etwa noch in Marbach (vor 1282), Leonberg (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts[?], Zinnen 6 m breit mit gemauerten „Giebeln“) in Württemberg, auf der äußeren Mauer von Nördlingen (1327–90; Abb. 32), und auf verschiedenen Mauern des 14. / 15. Jahrhunderts im südlichen Hessen, ebenfalls meist mit gemauertem Giebeldach, zum Beispiel in Eltville; in Österreich sind etwa Drosendorf und Dürnstein von Interesse, regionaltypisch mit gemauertem „Giebeldach“. In Thüringen ist Stadtilm zu nennen (vor 1303), ganz im Norden Stralsund (um 1280–1310). Der Zufall der Erhaltung lässt natürlich keine Schlüsse auf die frühere Verbreitung zu. Dies gilt erst recht für die normalen Zinnen ohne Schlitze. Erhaltene Beispiele bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts findet man unter anderem in Speyer (um 1070–1100; Abb. 409), Duisburg (Mitte des 12. Jahrhunderts; Abb. 420), Fulda (um 1150–65), Konstanz, Heidelberg, Memmingen („Kalchvorstadt“), Wertheim (im Altan der Burg), Worms, Dieburg und Burg bei Magdeburg. Jüngere oder schlecht datierbare Zinnen sind 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
79
noch in Friesach (Kärnten), in der Thuner Neustadt, in Liestal, Bregenz, Wiedlisbach (Schweiz), in Wildberg / Nagold, Herrenberg, Rottenburg (Württemberg) und Krautheim, in Jauer (Schlesien), in Rostock und Wismar zu sehen. Dass Wehrgänge vor dem Zeitalter der Feuerwaffen überdacht waren, ist unwahrscheinlich. Aus der Tatsache, dass bisher keine hölzernen Wehrgangkonstruktionen vor das 15. Jahrhundert datiert werden konnten, lässt sich zwar wenig schließen, denn es handelt sich bisher um viel zu wenige Fälle, und natürlich könnte es ältere Konstruktionen gegeben haben, die damals nur ersetzt wurden. Aber Holzkonstruktionen samt Dachdeckung stellen einen Zusatzaufwand dar, der nicht wirklich erforderlich war, solange man die feuchtigkeitsempfindlichen Feuerwaffen nicht systematisch verwendete; demnach Abb. 42 Verschiedene Zinnenformen und -maße im Kanton Aargau (Schweiz): 1: Lenzburg, Phase 2; 2: Zofingen, Phase 1; 3: Bremgarten, Phase 2; 4: Bremgarten, Phase 1; 5: Lenzburg, Phase 1 (P. Frey in: Stadt- und Landmauern, Bd. 2, 1996).
darf man mit einigem Grund annehmen, dass Wehrgangdächer tatsächlich erst im 15. Jahrhundert üblich wurden. Die wenigen in größerem Umfang erhaltenen Wehrgangdächer – etwa Nördlingen, Murten, teilweise Rothenburg – zeigen als ältesten Bestand in der Regel Konstruktionen, die sehr sparsam mit dünnen Hölzern, weitem Stützenabstand und einem Minimum an Kopfbändern auskommen (Abb. 43). Kaum vor das Spätmittelalter dürften auch jene Fälle zurückgehen, bei denen ein Wehrgang, zumeist als Gang in Fachwerkkonstruktion, durch das Dach eines angelehnten Hauses führte; zumindest ist kein Fall untersucht, bei dem eine solche Konstruktion vor das 15. Jahrhundert zurückginge. Die Zugänge zu den Wehrgängen sind heute nur noch ganz selten zu finden; ein eindrucksvolles Beispiel ist die Mauer von Oberwesel, noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, wo mehrere schmale Steintreppen im älteren Mauerteil erhalten sind (Abb. 44). Unverkennbar sind Wehrgangtreppen aus Stein absolute Ausnahmen gewesen; gelegentlich findet man ihre Reste noch in besonderen Bauteilen wie vor allem Torzwingern, die von keinem anderen Bauteil aus erreichbar waren. Holztreppen waren fraglos weitaus häufiger und man findet sie auch noch gelegentlich; aber keine, die ich näher betrachten konnte, war noch mittelalterlich. Wo Türme vorhanden waren, wird man zwanglos annehmen können, dass ihre Treppen zugleich den Zugang zum Wehrgang vermittelten; ein beachtlich frühes, womöglich aus der Bauzeit des Turmes stammendes Beispiel bietet noch der „Luegisland-Turm“ in Luzern. 2.2.3.5. Abstützung des Wehrgangs Die Wehrgänge, im engeren Sinne die umlaufende schmale Plattform hinter der Brustwehr, wären bei den meisten Stadtmauern zu schmal gewesen, wenn sie einfach nur auf der Mauer selbst gelegen hätten. Geht man von einer Dicke der Brustwehr aus, die bei 0,60–0,80 m lag, so blieb bei durchschnittlicher Dicke der Mauer selbst ungefähr nochmals dieselbe Breite für die Plattform und das reichte keineswegs, um zwei Bewaffnete aneinander vorbeizulassen. Da dies aber fraglos eine Minimalanforderung effektiver Verteidigung war, wurde die Plattform bei einer großen Anzahl von Mauern – dem heutigen Au-
80 I. Systematischer Teil
Abb. 43 Weißenburg in Bayern (Mittelfranken), Wehrgangkonstruktion an der Nordwestecke der älteren Stadtmauer, dendrochronologisch 1450 datiert (D. Burger).
genschein nach bei der eindeutigen Mehrzahl – verbreitert, indem man die Gehbeläge aus Stein oder Holz stadtseitig vorkragen ließ und sie auf verschiedenartige Weise abstützte. Wie vielfältig die Methoden der Verbreiterung selbst an einer einzelnen Mauer waren, kann heute noch die besonders gut erhaltene äußere Mauer von Rothenburg ob der Tauber veranschaulichen – einfach vorkragende Steinplatten, teils durch Kragsteine abgestützt, teils zusätzlich durch Bögen zwischen Kragsteinen, an anderen Stellen durch Strebepfeiler (Abb. 45). Deutlich wird in dieser längst nicht vollständigen Sammlung möglicher Formen vor allem der pragmatische Charakter der Konstruktionen. Neben dem einfachen Absatz auf der hinreichend dicken Mauer war die stadtseitige Vorkragung einer hölzernen Plattform die wohl einfachste Möglichkeit, einen Wehrgang zur Verfügung zu stellen, vor allem bei besonders dünnen Mauern. Entsprechend den geringen Mauerdicken der Frühzeit, sahen so offensichtlich die Wehrgänge etwa in Speyer (um 1070– 1100) und Basel (um 1080–1100) oder auch in Duisburg (um 1120 bis Mitte des 12. Jahrhunderts; Abb. 420) aus. Auch später wurde diese einfache Form noch verwendet, etwa in Franken kann man noch Beispiele finden. Eine weitere Möglichkeit, einen hölzernen Wehrgang zu konstruieren, bestand bei Mauern mäßiger
Höhe darin, die Konstruktion hinter der Mauer auf den Boden zu stellen; bei Wehrgängen, die oft nur 3–4 m über dem Boden lagen, erforderte dies keineswegs besonders lange Stützen. Wie alle Holzkonstruktionen sind auch solche kaum erhalten, sodass die frühere Häufigkeit nicht einzuschätzen ist. In Friedberg bei Augsburg ist ein Rest wohl des späten 14. Jahrhunderts erhalten (Abb. 354), in Neustadt / Donau weist manches auf einen solchen Wehrgang hin; bei den um-
Abb. 44 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), eine gemauerte Wehrgangtreppe an der rheinseitigen Mauer.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
81
fänglichen Grabungen in Duderstadt wurden in der Mauergasse Balkenlöcher gefunden, die auf eine derartige Konstruktion noch im 13. Jahrhundert deuten. Die einfachste Art einer Wehrgangverbreiterung in Stein bestand darin, die Plattform mit Steinplatten zu belegen und diese etwas überkragen zu lassen. Begreiflicherweise war dies vom Steinmaterial abhängig und auch bei gutem Material war die Vorkragung aufgrund der Bruchgefahr begrenzt. Am ehesten findet man diese noch immer schlichte Konstruktion im Sandsteingebiet, zum Beispiel recht häufig in Franken oder in Herrenberg (Württemberg). Wo Schiefer zur Verfügung stand – ein von Natur plattiges Gestein, das aber eher dünne und kleine Platten bildet –, also insbesondere im Rheinischen Schiefergebirge, wurde oft mit viel Mörtel über mehrere Schichten hinweg eine schräge Vorkragung aufgemauert. Wo man die Steinplatten weiter auskragen lassen wollte bzw. ihnen nicht traute, waren Konsolen die einfachste Art der Unterstützung; auch dies ist vor allem im Sandsteingebiet anzutreffen, als frühe Beispiele aus spätromanischer Zeit seien etwa Wertheim oder Rufach im Elsass genannt; im letzteren Falle belegen sogar regelrechte lange „Balken“ die Bruchfestigkeit des Materials. Die Konsolen als solche konnten durch Bögen ergänzt werden, eine wesentlich aufwendigere Form, die offenbar erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufkam und im 15. Jahrhundert im süddeutschen Raum weitverbreitet war. Ein Beispiel von besonderer Komplexität bietet hier die auch sonst sehr aufwendige und vorbildhafte äußere Mauer von Ingolstadt (ab 1363, Abb. 46), bei der gestufte Konsolen Bögen trugen, aus denen wiederum eine äußere Konsolenreihe vorkragt. Solche Komplexität war offenbar die Ausnahme, aber Backstein taucht bei den sonst einfachen Bögen öfter auf, entsprechend der späten Verbreitung dieser Form (zum Beispiel in Hessen in Steinheim, an der äußeren Mauer von Gelnhausen, Babenhausen und Hanau – oder in der Rothenburger Spitalvorstadt). Die bisher behandelten, meist formal anspruchslosen Arten der Wehrgangverbreiterung haben gemeinsam, dass sie sich entweder auf die Mauerkrone beschränkten oder dass ihre (Holz-) Stützen leicht verschwinden konnten. Davon 82 I. Systematischer Teil
unterscheidet sich jene aufwendigere Methode der Wehrgangabstützung, die dem heutigen Eindruck nach die häufigste war: der Wehrgangbogen, also regelmäßig gereihte Strebepfeiler an der Innenseite der Mauer, die oben durch Bögen miteinander verbunden sind und zusammen den inneren Teil des Wehrganges tragen. Der Eindruck, dass diese Methode der Wehrgangverbreiterung häufiger als die bisher beschriebenen war, ist freilich eine optische Täuschung; sie hatte aufgrund ihrer größeren Solidität nur eine weit bessere Chance, erhalten zu bleiben, und auch ihre „architektonische“ Anmutung sicherte ihr allgemein größere Aufmerksamkeit. Verdeutlichen muss man sich auch, dass die aufwendigen Wehrgangbögen – immerhin mussten sie über Schalung gemauert werden und erforderten zusätzliche Eckverbände – bei genauer Betrachtung noch eine andere Funktion hatten, als nur den Wehrgang zu tragen, und dass sie eigentlich auch kein Mehraufwand waren. Denn die Strebepfeiler waren zugleich eine zusätzliche Aussteifung der Mauer, die es erlaubte, den übrigen Mauerkörper dünner zu machen – in modernen Begriffen war eine solche Mauer ein „Skelettbau“, bei dem die Bögen allein für Standfestigkeit sorgten, während die weit größeren Mauerflächen dazwischen auf eine minimale Dicke, durchaus unter 1 m, reduziert werden konnten. Was also konstruktiv und ästhetisch anspruchsvoller war, bedeutete zugleich Materialeinsparung, und diese war bekanntlich eines der dringendsten Ziele beim Stadtmauerbau. Strebepfeiler ohne Bögen darüber würden die Aussteifungsfunktion zwar auch erfüllen, aber wegen ihres großen Abstandes von meist einigen Metern würden sie zusätzliche Abstützungen für die Wehrgangplatten erfordern. Dies sieht man etwa in Rothenburg ob der Tauber (Abb. 45), auch in der „Ulmer Vorstadt“ von Memmingen und in Heidingsfeld bei Würzburg; insgesamt aber sind es seltene Ausnahmen. Wehrgangbögen, in der Regel rund-, manchmal auch spitzbogig, waren dagegen weitverAbb. 45 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die Nordseite der äußeren Mauer nahe dem „Klingentor“ zeigt verschiedene Möglichkeiten, den Wehrgang abzustützen: Kragsteine, Strebepfeiler und Wehrgangbögen.
Abb. 46 Ingolstadt, rekonstruierende Darstellung der äußeren Mauer (1363–90) mit dem über Bögen und Konsolen aus Backstein innen vorgekragten Wehrgang (Kunstdenkmäler Oberbayern, I, 1, 1895).
breitet, mit einem eindeutigen Schwergewicht entlang des Rheines. Bei Stadtmauern – bei Burgen mag es noch ältere Fälle geben – dürfte einmal mehr die äußere Mauer von Köln das früheste Beispiel sein (um 1210–50; Abb. 41). Ihr Konzept mit je einer Schlitzscharte unter jedem Bogen wurde im nördlichen Rheinland bis ins 14. Jahrhundert oft kopiert. Als wichtige und teils erhaltene Beispiele seien Aachen (nach 1257), auch etwa Goch (vor 1366) und Zons (ab 1373; Abb. 25) genannt, wo die Bögen teils unvollendet blieben; interessant sind Duisburg, Neuss und Düren, wo im 13. Jahrhundert die Wehrgangbögen an ältere Mauern angesetzt wurden. Weiter südlich ist Frankfurt am Main (wohl 1223–39; Abb. 439) die früheste Mauer mit Bögen und danach bleiben sie – etwa in Koblenz, Andernach, Mayen (nur an Teilen der Mauer), Limburg, Wetzlar – in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert üblich, wobei aber die „kölnischen“ Scharten unter den Bögen eher Ausnahmen sind. Weitere Beispiele des 14. / 15. Jahrhunderts findet man auch im rheinischen Teil Hessens (zum Beispiel Eltville, Butzbach [ausnahmsweise stichbogig], Hofheim, Homburg, Neudorf, Nidda, Rüdesheim, Büdingen, Darmstadt, Zwingenberg, Rauschenberg). In Fulda wurden die Bögen erst im 15. Jahrhundert an die weit ältere, gleichzeitig erhöhte und unter den Bögen mit Schlüsselscharten versehene Mauer angebaut. 84 I. Systematischer Teil
Am Oberrhein scheinen die Bögen etwas später üblich geworden zu sein. Aus dem späten 13. Jahrhundert findet man sie in Ladenburg und in Speyer, wo sie der älteren Mauer um 1280 in Backstein hinzugefügt wurden. In Worms gehören die Wehrgangbögen erst zur zweiten Erhöhung der Mauer, die ins späte 13. Jahrhundert oder ins 14. Jahrhundert gehört. Auch im 14. / 15. Jahrhundert findet man noch wichtige Beispiele, so zum Beispiel an der äußeren Mauer von Basel (1361 / 62–98) oder der Vorstadtmauer von Miltenberg (um 1346); kleinere Beispiele sind Wachenheim (nach 1341), Neckarbischofsheim (um 1356–78) und Kirchheimbolanden, wo es ausnahmsweise zwei Bogenreihen übereinander gibt (nach 1368; Abb. 411). Im 15. Jahrhundert entstanden Mauern mit Wehrgangbögen etwa in Dalsheim (um / nach 1400), (Idar-)Oberstein (nach 1414) und um 1500 in Pfeddersheim und Jockgrim in der Pfalz, in Groß-Winternheim und Nieder-Ingelheim in Rheinhessen. Auch im süddeutschen Raum sind Wehrgangbögen im Wesentlichen eine Sache des 14. / 15. Jahrhunderts – mit zwei Ausnahmen. Die älteste ergrabene Mauer von Würzburg, sicher vor 1195 / 99 erbaut, hatte eng gereihte, massive Strebepfeiler an der Innenseite, die man mit Bögen ergänzen könnte – es wäre die älteste deutsche Mauer mit Wehrgangbögen! Noch vor 1300 (schon 1219–28?) entstand auch die Mauer der reichen Salinenstadt Reichenhall. In Fran-
ken sind sonst nur Nürnberg (1346–1407) und eventuell Bayreuth zu erwähnen. Im Alpenvorland kann man Landsberg / Lech nennen (nach 1315[?], teils unvollendete Bögen), ferner die Stadterweiterung von Memmingen (ab 1329[?]); in Donauwörth wurden die Wehrgangbögen ab 1420 der Mauer hinzugefügt, ähnlich in Augsburg der erhöhten Mauer der Kernstadt. In (Alt-) Bayern datieren die wenigen Beispiele noch später – Schrobenhausen (1389–1419, stichbogig), Landshut (15. Jahrhundert) besitzt besonders hohe Wehrgangbögen mit Scharten darunter aus dem 15. Jahrhundert, ferner Dingolfing – und in ganz Österreich konnte ich nur in Stein / Donau und Friesach kurze Mauerabschnitte mit Wehrgangbögen finden. Insgesamt spiegelt also der süddeutsche Raum offensichtlich wider, wie das System der Bögen langsam vom Rhein aus nach Osten vordrang.
Im norddeutschen Raum ist im Grundsatz Entsprechendes festzustellen. In Göttingen findet man rheinisch beeinflusste Wehrgangbögen aus dem mittleren 13. Jahrhundert, ähnlich frühe auch in Gotha und vielleicht Frankenhausen. In Sachsen-Anhalt sind Reste in Halle, Zerbst, Kalbe / Saale und Freyburg / Unstrut erhalten; sie sind nicht näher datierbar (14. Jahrhundert?), nur im letzten Falle wurde als Sonderfall ein Mauerteil um 1540 errichtet. Auch in den südwestlichen, ehemals magdeburgischen Teilen Brandenburgs findet man in Görzke und Jüterbog Mauerteile mit Wehrgangbögen, wohl noch des 13. Jahrhunderts, auf die bald der Weiterbau im Wiekhaussystem folgte. In Sachsen stellte ich Beispiele nur noch in Döbeln (14. Jahrhundert?) und, extrem spät, an der 1541–56 errichteten Mauer von Marienberg fest, wo die tragenden Pfeiler ausnahmsweise trapezoiden Grundriss
Abb. 47 Die Mauergasse verläuft direkt an der Mauer entlang, aber stellenweise lehnen sich auch kleine Bauten an die Mauer. Links: Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die Mauergasse hinter der äußeren Mauer des 14. Jahrhunderts, vom Turm des „Rödertores“; rechts: Templin (Brandenburg).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
85
zeigen. Noch weiter östlich findet man Wehrgangbögen nur an drei Mauern des Ordenslandes, in Kulm (um 1267) und wohl erst im 14. Jahrhundert in Elbing und Marienburg, offenbar in allen Fällen nur an Teilen der Mauer. 2.2.3.6. Mauergasse Eine stadtseitig direkt an der Mauer entlangführende Straße, die Mauergasse (Abb. 47), gilt insbesondere in Norddeutschland als selbstverständlicher Bestandteil jeder Stadtbefestigung, während es weiter südlich, vor allem in der Schweiz, als ebenso normal gilt, dass Grundstücke und Bebauung direkt an die Mauer stoßen (Abb. 48). Beide Auffassungen erweisen sich bei einer übergreifenden Betrachtung der mittelalterlichen Städte als richtig bzw. regional begründet, bedürfen aber der Differenzierung und ohnehin der Erklärung. Einerseits reicht die Region ohne Mauergassen weit über die Schweiz und den alemannischen Raum hinaus und umfasst im Prinzip das gesamte Süddeutschland. Andererseits gibt es auch in Süddeutschland Städte mit Mauergasse und in Norddeutschland solche ohne, nur dass es sich jeweils um den Ausnahmefall handelt. Die Abgrenzung der beiden Gebiete ist keine klare Linie, es gibt eher eine Durchdringungszone, die im Westen ziemlich genau mit der Nordgrenze des Schiefergebirges zusammenfällt, während sie im Osten bis nach Franken und in die Oberpfalz hinunterreicht; eine Übersicht folgt am Ende des Kapitels. Kleine Städte zeigen auch im Norden eine leichte Tendenz zum Verzicht auf die Mauergasse; andererseits besaßen große Städte auch in Süddeutschland oft Mauergassen. Ist schon dies ein Hinweis darauf, dass Vorhandensein oder Fehlen der Mauergasse etwas mit dem internen Funktionieren der Städte zu hatte, so kann man die Tatsache, dass Mauergassen vor allem bei späten Städten und Mauern ab Ende des 13. Jahrhunderts und vor allem im 14. / 15. Jahrhundert üblich sind, in gleicher Richtung ausdeuten. Zum Beleg solcher Interpretationsansätze muss man sich zunächst die Vor- und Nachteile des Konzepts „Mauergasse“ verdeutlichen. Eine durchlaufende Straße direkt an der Mauer bietet im Angriffsfalle vor allem die Möglichkeit, Truppen und Material schnell und in einiger Menge 86 I. Systematischer Teil
an eine angegriffene Stelle zu bringen; dies ist die Hauptfunktion der Mauergasse, die weit in die Antike zurückzuverfolgen ist und bei römischen Städten der Normalfall war (via sagularis, auch bei vielen Kastellen; im Mittelalter findet man unter den ganz seltenen Erwähnungen des Phänomens in Langensalza den Begriff retro murum). Allein für solche raumgreifenden Aktionen benötigte man wirkliche Straßen; ein einzelner Wächter hätte genauso gut und zudem mit Überblick über Graben und Vorland auf dem Wehrgang (falls vorhanden) patrouillieren können. Wenn die Mauergasse in der Schweiz „Rondengang“ heißt, so steckt dahinter eine komplexere Organisation der Wache – die an bestimmten Stellen der Mauer fest postierten Wachen wurden zusätzlich durch übergeordnete Amtsträger kontrolliert, die für ihre Runden („Ronden“), meist zu Pferde, die Mauergasse nutzten. Aber die Mauergasse hatte noch einen weiteren Vorteil, indem sie die Mauer auch in Friedenszeiten zugänglich hielt. Denn es war keineswegs so, dass die normalen Bürger ihre Mauer aus Einsicht in deren Funktion konsequent instand hielten. Es gab vielmehr auch Individualinteressen, die sie schädigten und vor allem dann wirksam wurden, wenn private Grundstücke oder gar Häuser gegen die Mauer stießen. Ein privater Ausgang zu den Feldern, ein Aborterker zum Graben, ein zusätzliches Fenster oder auch nur die außen unsichtbare Aushöhlung der Mauer, um einen Raum zu vergrößern – all dies lag nahe und geschah oft und konnte einem Angreifer in die Hände spielen. Die Mauergasse verhinderte das, erlaubte die jederzeitige Kontrolle der Mauer auch von innen und erleichterte den Zugang bei Bauarbeiten entscheidend. Aus diesen Feststellungen ergibt sich eine Aussage, die auch in den Quellen gelegentlich bestätigt wird, obwohl Details der Befestigungen dort selten angesprochen werden: Anlage und Instandhaltung einer Mauergasse waren grundsätzlich im Interesse der Obrigkeit, die die Bedeutung der Stadtbefestigung, ihrer Funktionalität und Erhaltung hoch einschätzte – höher als viele Stadtbewohner, denen man in diesem Punkte nicht recht trauen konnte. Schriftliche Belege aus dem 14. Jahrhundert gibt es dafür in München, wo Ludwig der Bayer 1315 explizit die Mauergasse hinter der geplanten „äuzzere[n] …
Abb. 48 Vergleich einer norddeutschen Stadt mit Mauergasse (Königsberg in der Neumark, Polen, Umzeichnung eines Plans von 1724) mit einer süddeutschen ohne Mauergasse (Frauenfeld, Schweiz, Gemälde um 1762), wo die Mauer im 18. Jahrhundert bereits weitgehend in Häuserfassaden aufgegangen ist (E. J. Siedler, Märkischer Städtebau im Mittelalter, 1914; Stadt- und Landmauern, I, 1995).
Rinchmauer“ forderte, und in Regensburg, wo es der Rat war. Im Umkehrschluss kann man aus solchen Feststellungen auch die nirgends schriftlich festgehaltenen Motive ermitteln, die zum Verzicht auf Mauergassen führten. Weit wichtiger als die erwähnte Versuchung, die Mauer zu durchbrechen, um dem einzelnen Grundstücksbesitzer Vorteile zu verschaffen, waren zweifellos der Wert des Bodens, der für die Mauergasse benötigt wurde, und die Besitzverhältnisse an diesem Boden. Wo die Befestigung um eine schon vorhandene Siedlung entstand, musste sie oft oder
fast immer über Grundstücke geführt werden, etwa über die Gärten und Felder, die an bäuerliche Höfe anschlossen; in Köslin (Pommern) ist als große Ausnahme der Vertrag von 1288 erhalten, in dem sich das städtische Nonnenkloster mit dem Rat über die Anlage der Mauergasse auf seinem Grund einigte. Waren solche rechtlichen Klärungen in Zeiten robuster Herrschaftsverhältnisse – keineswegs alle Stadtbewohner oder Bauern waren im heutigen Sinne Eigentümer ihrer Höfe – natürlich einfacher durchsetzbar als heute, wo Planungen durch Einsprüche um viele Jahre verzögert werden können, so konnten 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
87
doch Anordnungen unterlaufen werden, indem man eine anfangs festgelegte Mauergasse unauffällig wieder in Privatnutzung übernahm, oder konnte auch ein Stadtgründer bzw. Stadtherr zu der Überlegung gelangen, den landwirtschaftlich wertvollen Boden nicht durch eine „unnötige“ Mauergasse weiter zu reduzieren. Deswegen war die Anlage einer Mauergasse wohl nicht allein eine Frage einer durchsetzungsfähigen Obrigkeit, sondern auch von deren zunehmender Erfahrung – anschaulich gesagt: Eine neue Mauer machte zunächst immer einen guten Eindruck, ob ohne oder mit Mauergasse, erst die folgenden Jahrzehnte dürften jene Probleme mit Verteidigung, Überwachung und Instandhaltung gezeigt haben, für die allein die Mauergasse eine konsequente Lösung darstellte. In dem ergrabenen, frühen Fall von Basel, das im Bischof einen zum Durchgreifen fähigen Herrn
Abb. 49 Basel, die Entwicklung der inneren Mauer in schematischer Darstellung, nach Untersuchungen am Leonhardsgraben 47. Oben einfache Mauer um 1100, in der Mitte Anfügung eines Turmes im späten 12. Jahrhundert, unten neue äußere Mauer mit „Rondengang“ dahinter, 13. Jahrhundert (Zeichnung S. Tramèr in R. D’Aujourd’hui, in: Unsere Kunstdenkmäler, 41, 1990 / 2).
88 I. Systematischer Teil
hatte, wird eine solche Entwicklung dadurch belegt, dass die wallartig überhöhte Mauergasse erst nachträglich vor einer schon vorhandenen Mauer entstand (Abb. 49); das nahe gelegene und früh damit verglichene Freiburg im Breisgau belegt dagegen, dass man auch ganz neu angelegte Befestigungen über bereits bebaute Grundstücke herüberführte – beides sind Beispiele dafür, wie obrigkeitlicher Wille sich über schon vorhandene Eigentums- und Bebauungsstrukturen hinwegsetzte, in Basel aber eben erst nachträglich. Dass Derartiges vielleicht öfter geschah, als das heute noch bekannt ist, kann etwa das kleine, mainzische Obernburg in Unterfranken andeuten, wo die Mauer ab 1344 entstand, während erst ein Jahrhundert später auf kurfürstlichen Befehl „alle Scheuern, Stallungen und Gärten von der Ringmauer abgerückt“ werden mussten, um eine Mauergasse zu schaffen. Die These der wachsenden Erfahrung mit den Nachteilen der gassenlosen Mauer passt auch gut zu der Feststellung, dass Mauergassen erst bei späten Mauern des 14. / 15. Jahrhunderts typisch werden. Im süddeutschen Raum findet man die Mauergasse vorzugsweise in den Stadterweiterungen, im norddeutschen und vor allem nordostdeutschen Raum, wo sie der Normalfall war, sind Mauern der Zeit vor 1300 ohnehin selten. Im Zusammenhang des langsamen Aufkommens der Mauergassen wird man auch die in manchen Regionen (Oberpfalz, Franken, Elsass) verbreiteten Mauern sehen, wo nur einzelne Abschnitte der Mauer von einer Gasse begleitet waren; wahrscheinlich hat man hier pragmatisch die Mauergasse angelegt, wo dies noch möglich war – etwa auf Feldern oder wenig genutztem Land –, und darauf verzichtet, wo Bebauung oder Nutzung schon dichter waren. Eine recht verbreitete Vorstellung zur gassenlosen Mauer lässt sich bisher weder aus den Quellen noch aus archäologischen Befunden bestätigen – dass nämlich Mauerabschnitte von jenen Bürgern verteidigt wurden, deren Grundstück direkt an sie grenzte. Zwar ist dies eine naheliegende Idee, wenn man bedenkt, wie schwer eine gassenlose Mauer über die Grundstücke hinweg und durch die Bebauung hindurch mit Verteidigern besetzt werden konnte, aber soweit das Thema bisher untersucht wurde, konnte nirgends eine entsprechende städtische Verfassung
nachgewiesen werden. Alle bekannten Modelle bestehen vielmehr darin, dass entweder Angehörige bestimmter Zünfte oder Bewohner bestimmter Viertel gewisse Teile der Mauer verteidigten, ganz unabhängig von der Beziehung einzelner Grundstücke zur Mauer (vgl. 3.2.). Auch Fälle, wo die Mauer quasi „grundstücksweise“ erbaut wurde, sind bisher kaum bekannt (Basel?, Schaffhausen?); die meisten Mauern mit anstoßenden Grundstücken, die in der Schweiz schon näher untersucht wurden, sind in einem Zuge errichtet worden, mit nachträglich angebauten Häusern, was wieder auf eine obrigkeitlich gelenkte und einheitlich geplante Baumaßnahme schließen lässt. Und bestimmte frühe Inschriften (vgl. 3.2.) deuten analog darauf hin, dass zum Beispiel Bewohner benachbarter Siedlungen auch jeweils für bestimmte größere Mauerabschnitte zuständig waren. Dennoch soll hier nicht ausgeschlossen werden, dass das Modell „Grundstückseigentümer verteidigt die Mauer hinter seinem Haus“ existiert hat; es müsste freilich ein sehr frühes, quasi vorstädtisches Modell gewesen sein, das in den späteren Zeiten größerer Quellendichte schon wieder verschwunden war. Die Breite von Mauergassen lag selten unter 4 m – nur in Hessen mit seinen meist späten Mauern des 14. / 15. Jahrhunderts waren die dort nicht allzu häufigen Mauergassen offenbar schmaler und wurden häufig später überbaut –, oft aber lag sie auch deutlich darüber, bis zu über 8 m. Diese auffällige Breite, die in mittelalterlichen Städten sonst nur von Hauptstraßen erreicht oder übertroffen wurde, führte später in vielen Fällen dazu, dass man bescheidene, aber immerhin bis zu 3–4 m tiefe Häuser an die Mauer anbauen konnte (Abb. 50) – in der Regel für die Stadtarmut und eben deswegen auf städtischem Grund –, wobei dennoch eine nutzbare Straßenbreite übrig blieb. Warum gab es dermaßen breite Mauergassen? Eine einfache Erklärung ist, dass hier Raum für Lager- oder Abstellzwecke bereitgehalten wurde, zum Beispiel für Baumaterial oder Flüchtlinge in Kriegszeiten, damit wäre die Mauergasse Ergebnis bewusster Planung. Eine interessante Erwägung ist andererseits, dass die breite Mauergasse zumindest in manchen Fällen auf einen Wall zurückgehen könnte, der mehrere Meter tief war, während die ihn später ersetzende Mauer nur 1–2 m be-
nötigte. Die normale Gasse wäre dann einfach der später eingeebnete Wall, die besondere Breite hätte sich aus der Gasse hinter dem Wall und dessen eigener Breite ergeben. Da selbst bei heute noch sichtbaren Wällen ohne Grabung nicht zu klären ist, ob die Wälle wirklich älter als die darauf stehende Mauer sind, können allerdings nur besonders glückliche Grabungsergebnisse zumindest in Einzelfällen zeigen, ob es eine solche Abfolge von Wall und Mauergasse gegeben hat. Ein Beispiel bietet bisher etwa Lemgo, wo die Mauer vor die ältere Palisade in den Graben hineingebaut wurde, sodass eine 20 m(!) breite Mauergasse entstand; ähnliche Abläufe – die Mauer wird vor die ältere Umwehrung gebaut, sodass deren Einebnung die Stadt vergrößert – sind auch in Frankfurt / Oder und Spandau (Abb. 20) nachgewiesen. Abschließend soll eine knappe Übersicht über die Verbreitung der Mauergassen die dargestellte regionale Verbreitung belegen. In der Schweiz besaßen schon die berühmten Zähringerstädte keine Mauergassen und dies blieb auch bei den späteren Städten allgemein üblich; dass Häuser von Anfang an direkt an die Mauer gebaut wurden, ist durch Mauergassen, regionaler Archäologie und Bauforschung Überblick schon für das 12. Jahrhundert belegt (Basel, Freiburg im Üechtland), weit häufiger für das 13. / 14. Jahrhundert (Diessenhofen, Zug, Stein am Rhein, Burgdorf, Wiedlisbach, Unterseen (Abb. 304), Wil, Willisau, Aarberg, Werdenberg). Ähnlich sah es in Tirol und im übrigen Alpenraum aus, wo entsprechend intensive Untersuchungen bisher aber fast völlig fehlen. In Bayern sind Mauergassen zunächst unüblich, mit der Ausnahme wohl des noch spätromanischen Wasserburg am Inn und der schon erwähnten äußeren Mauer von München (1315); erst im späten 14. und 15. Jahrhundert kamen die Mauergassen stärker auf (Ingolstadt, Deggendorf, Pfaffenhofen, Schrobenhausen, Beilngries; teilweise in Abensberg, Kelheim, Neustadt). Ähnlich ist das Bild im bayerischen Schwaben und in Oberschwaben: In einer Landschaft, die generell auf die Gasse verzichtete, war Augsburg eine frühe Ausnahme noch des 13. Jahrhunderts, im 14. / 15. Jahrhundert folgten weitere Beispiele (die Erweiterung des 14. Jahrhunderts in Ulm, Nördlingen und Memmin2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
89
besitzen recht häufig Mauergassen zumindest hinter Teilabschnitten der Mauer. Ganz ähnlich ist Franken zu beschreiben, wobei schon die Lorenzerstadt in Nürnberg, dann aber vor allem die dortige äußere Mauer und ebenso jene von Rothenburg und Dinkelsbühl systematisch Mauergassen aufweisen; sie stammen alle aus dem 14. Jahrhundert, wobei die älteren Stadtkerne durchweg keine Mauergassen hatten. Auch in Hessen waren Mauergassen eher Ausnahmen; im 12. / 13. Jahrhundert besaß nur Fritzlar weitgehend eine Gasse, in Limburg ist sie schon 1276 belegbar; im 14. / 15. Jahrhundert konnte ich fünfzehn sichere Beispiele von Mauergassen zählen, die weitgehend oder total umlaufen. Bei der Fülle kleiner Städte vor allem in Oberhessen heißt dies, dass die Mehrheit ohne Mauergasse auskam. Im Oberrheinischen findet man im Prinzip die gleichen Phänomene wie weiter östlich. Über Freiburg im Breisgau war schon gesprochen worden, daneben findet man Mauergassen in den jüngeren Teilen von Heidelberg und teils in Pforzheim – sonst fehlen sie fast völlig (Ausnahmen des 15. Jahrhunderts in Zell / Harmersbach und Lahr). Auf der anderen Rheinseite, im Elsass und in der Pfalz sah es ganz ähnlich aus; Abb. 50 Butzbach (Hessen), in die Wehrgangbögen der Mauer die Mauern des 13. Jahrhunderts in Straßburg, (um 1321–68) wurden ab dem 15. Jahrhundert Fachwerkbauten Colmar und Rufach besaßen teilweise Mauergaseingebaut, zunächst als Lager. Obwohl die Innenräume nur etwa 1,5 m tief sind, wurden sie später für lange Zeit bewohnt. sen, selbst bei den Bischofsstädten Straßburg, Worms, Speyer und Mainz traten sie nur in den Vorstädten auf, bei den jüngeren Städten fehlen gen / Süderweiterung, Gundelfingen, Lauingen, sie fast völlig. Im Rheinischen Schiefergebirge Höchstadt, Mindelheim, Weißenhorn, Dillingen / treten die Gassen gleichfalls nur bei größeren Ostvorstadt, Isny, Ravensburg). Weiter westlich Städten auf, bei kleinen gibt es sie charakteristisind das Neckarland und Württembergisch Fran- scherweise nur ganz im Norden (Ahrweiler, Reken weitgehend mauergassenlos; Esslingen be- magen, Sinzig). sitzt teilweise, Reutlingen, Heilbronn und WeinsWeiter nördlich, in der norddeutschen Tiefberg haben generell Mauergassen, alle noch im ebene, kehrt sich das Verhältnis exakt um, hier ist 13. Jahrhundert; ab dem späten 14. Jahrhundert die Mauergasse absolut normal. Das gilt für den treten sie im Neckarland gelegentlich auch bei nördlichen Teil des Rheinlandes und für Westfakleineren Städten auf, im abgelegeneren Würt- len, wo das Phänomen wohl von der bedeutentembergisch Franken aber weiterhin kaum (Mer- den, ab den 1220er Jahren errichteten Mauer von gentheim). Köln ausging; nur sehr kleine Städte verzichteten Als Mischgebiete erscheinen die Oberpfalz, hier ausnahmsweise auf die Mauergasse. Über Franken und Hessen. Die äußere Mauer von das eher städtearme Flachland des heutigen NieRegensburg besitzt eine (vom Rat angeordnete) dersachsen zieht sich die Erscheinungsform bis Mauergasse, auch die größeren Städte Amberg, in das gebirgige, südliche Niedersachsen und Neumarkt und Weiden und wenige späte Klein- nach Sachsen-Anhalt hinüber, wo die Mauerstädte; so weit entspricht dies den Regionen wei- gasse jedenfalls im 14. / 15. Jahrhundert normal ter südlich, aber die oberpfälzischen Kleinstädte war, wohl auch schon im 13. Jahrhundert, wo 90 I. Systematischer Teil
aber unsere Kenntnis allzu beschränkt ist; noch stärker gilt dies für Sachsen mit seinen enormen Substanzverlusten, wo kaum noch Aussagen möglich sind. Schlesien gehörte ebenfalls zu den Gebieten, in denen die Mauergasse üblich war. Den Höhepunkt der Mauergassenregion stellen jedoch Brandenburg und die Länder an der Ostsee dar, bis nach Ostpreußen hinauf; hier sind die wenigen, meist sehr kleinen Städte ohne Mauergasse auffällige Ausnahmen. Vor allem für das große Brandenburg muss man sich verdeutlichen, dass Mauergassen hier unverzichtbar waren, weil das um 1300 entwickelte und dann fast ausnahmslos angewandte „Wiekhaussystem“ ohne Wehrgänge auskam, sodass ohne Mauergassen überhaupt keine schnelle Besetzung der Wiekhäuser und kein Umrunden der Mauer möglich gewesen wäre. In Elbing im Ordensland ist die Mauergasse schon 1238 erwähnt, hier war sie also von allem Anfang an selbstverständlich.
2.2.4. Die Türme Obwohl das Wort „Mauer“ vom Mittelalter bis heute als weitaus häufigstes Synonym für die mittelalterliche Stadtbefestigung verwendet wird, war und ist es in Wahrheit nicht die umlaufende, gestalterisch eher reizlose Mauer, die in dieser langen Zeit das Bild der Stadtbefestigungen prägte und im Bewusstsein verankerte. Wer sich eine Stadtmauer vorstellt – und alles spricht dafür, dass dasselbe schon im Mittelalter galt –, der hat vor allem einen Ring von Türmen vor seinem inneren Auge, der die Peripherie der Stadt markiert, rhythmisiert und quasi einen Sockel bildet, über den sich die Türme der Kirchen, des Rathauses und anderer Bauten innerhalb der Stadt nochmals als Einzelakzente erheben (Abb. 51). Jedoch ist dieses Bild keineswegs so typisch mittelalterlich, wie meist unterstellt wird. Denn die zentrale Bedeutung der Mauertürme für die Verteidigung und ästhetische Wirkung der Städte bildete sich einerseits nicht erst im Mittelalter heraus, sondern es gab sie bereits in der Antike. Zudem zeigt eine nähere Betrachtung der Stadtbefestigungen, dass die Türme auch im Mittelalter nicht so fest zum Bauprogramm der Mauern gehörten, wie man heute unterstellt, weil man sich verständlicherweise vor allem be-
sonders eindrucksvolle, das heißt vor allem turmreiche Stadtmauern vorstellt. Es gab vielmehr zahlreiche turmlose und turmarme Mauern, vor allem in der Frühzeit und bei kleinen Städten. Ist damit eine große Variationsbreite in der Gestaltung der Mauern markiert, so zeigt eine genauere Betrachtung, dass der Variantenreichtum auch bei dem funktional und formal eher schlichten Bautypus der Stadtmauer genauso hoch war, wie wir es im Grunde bei allen mittelalterlichen Bautypen kennen. Die vorindustrielle Epoche war eben eine Zeit handwerklicher Produktion, als das Gestaltungsbedürfnis der Menschen über oft sehr lange Bauzeiten hinweg wirken und immer wieder Abwandlungen der Form schaffen konnte, selbst dann, wenn sich die funktionalen Ansprüche nicht gewandelt hatten. Durch die Häufigkeit der Türme, ihre Verteilung im Mauerverlauf, ihr bauliches Verhältnis zur Mauer und schließlich ihre Form und Detailgestaltung als Einzelbau oder Turmart konnten ganz verschiedene Gesamteindrücke entstehen, sowohl infolge einer einheitlichen Planung als auch im Laufe der Zeit durch Umbau und Ergänzung. Erweckt diese Einleitung zum Thema der Türme zunächst den Eindruck, diese seien von überwiegend ästhetischer Bedeutung gewesen, so wird dies im folgenden Abschnitt korrigiert, indem zunächst die Funktionen der Türme dargestellt werden. Dabei werden aus eben diesen funktionalen Gründen die Tortürme ausgespart (vgl. 2.2.5.), und ebenso die Türme bzw. besser: Streichwehren der Zwingermauern (vgl. 2.2.8.3.). 2.2.4.1. Defensive Funktionen der Türme Türme sind ein so selbstverständlicher Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, dass die Frage nach ihrer genauen Funktion selten gestellt worden ist. Der tiefere Grund für dieses Versäumnis liegt, hier wie so oft, in den Quellen, die in der Bauzeit der meisten Türme, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, kein Wort über das Thema verlieren; erst ab dem Spätmittelalter lassen sie in Einzelfällen Nutzungen erkennen, die aber in aller Regel nachträglich entstanden waren. Diese Sekundärnutzungen sind auch der Grund, warum die wenigsten Türme noch in ihrer Urgestalt erhalten sind; sie wurden, falls überhaupt in voller Höhe erhalten, in der Regel verbaut, meist zu Wohnzwecken, oder restauriert. Auch insoweit 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
91
Abb. 51 Rothenburg ob der Tauber bietet in der nur wenig überhöhenden Darstellung Matthäus Merians ein Beispiel, wie stark die Mauertürme das Bild einer Stadt prägten; nur die Türme der Pfarrkirche und des Rathauses ragen noch höher auf (M. Merian, Topographia Franconiae, 1656?).
kann man also nur noch bei einem Bruchteil der erhaltenen Türme unmittelbare und leicht verständliche Hinweise auf die Art der ursprünglichen Nutzung finden. Es ist keine Frage, dass die Türme primär der Verteidigung dienten. Ein Vergleich mit den Bergfrieden der Burgen, die ähnlich weit verbreitet waren, zeigt zudem, dass sie es in noch höherem Maße als diese waren. Der Bergfried konnte im Angriffsfalle, so zumindest ist die herrschende Meinung, als letzter, wenn auch fraglos wenig bequemer Rückzugsort der Verteidiger dienen; Städte hatten dafür zu viele Bewohner und zudem konnten zahlreiche Türme, die Schalentürme nämlich (vgl. 2.2.4.8.), stadtseitig gar nicht verteidigt werden. Der Bergfried konnte ferner, durch geschickte Positionierung an der Angriffsseite, die Burg gegen Wurfgeschosse decken, was bei den weit größeren Städten natürlich unmöglich war. Dehnt man den Vergleich auf die Wohntürme der Burgen aus, so wird die funktionale Beschränkung der Mauertürme noch deutlicher, 92 I. Systematischer Teil
denn Stadtmauertürme waren anfangs, mit äußerst seltenen Ausnahmen einzelner Räume, eindeutig unbewohnbar. Wenn die Türme also nicht nur primär, sondern fast ausschließlich der Verteidigung dienten, wie erfüllten sie diese Aufgabe? Gedeckte Standplätze für Schützen bot auch die Mauer selbst – zumindest bei jener Mehrzahl aller Mauern, die Wehrgänge aufwiesen – und die Schießscharten, die auch die Türme meist besaßen, boten insoweit keine entscheidenden Vorteile. Lediglich Scharten, die in der Seitenwand des Turmes angeordnet sind, wo sie vor die Mauer vorspringt, konnten einen zusätzlichen Vorteil bringen: die Möglichkeit, den Angreifer seitlich, aus der Deckung heraus effektiver zu beschießen. Diese Möglichkeit, die „Flankierung“, spielte in der Neuzeit, beim „bastionären“ System des 16.–19. Jahrhunderts, die entscheidende Rolle, als der gesamte Grundriss der Befestigungen konsequent so gestaltet wurde, dass der „flankierende Schuss“ wirklich alle Außenmau-
ern erreichen konnte. Die Idee der recht tief angeordneten, flankierenden Scharte in der Seite eines vorspringenden Bauteiles ist aber weitaus älter, findet sich vor allem schon bei spätrömischen und byzantinischen Befestigungen. Umso erstaunlicher ist es daher, dass die flankierende Scharte bei den mittelalterlichen Stadtmauertürmen ziemlich selten war. Eine wichtigere Rolle spielte sie vor allem bei zwei exakt abgrenzbaren Baugruppen: den (halb) runden Türmen des 13. Jahrhunderts im nördlichen Rheinland – die in Köln wohl römisch, später auch französisch beeinflusst waren – und den ebenfalls meist runden Türmen, die im Zeichen der Feuerwaffen ab dem 15. Jahrhundert häufig wurden, besonders auch als „Streichwehren“ an den Zwingern („bestreichen“ ist im Wesentlichen ein Synonym für „flankieren“). Der normale Mauerturm des deutschen Raumes im 13. / 14. Jahrhundert besaß zwar oft Scharten, meistens einfache Schlitzscharten, aber diese waren überwiegend frontal angeordnet, und wenn sie doch in den Turmseiten lagen, dann blieb ihre Wirkung fast immer beschränkt, weil sie in den oberen Geschossen angeordnet waren und auch die Türme oft zu wenig vorsprangen, sodass der Mauerfuß aus ihnen nicht einsehbar war. Es ist in Deutschland kaum möglich, eine Regel dafür zu erkennen, wie weit die Türme vor die Mauer vorsprangen. Im Normalfall treffen die Kurtinen etwa in der Mitte auf die Seitenwand des Turmes – wobei „Mitte“ als die mittleren beiden Viertel der Wandlänge definiert sei –, aber die Variationsbreite umfasste durchaus auch die beiden Extreme, also einerseits den Turm, dessen Front ohne Vorsprung im Mauerverlauf liegt, als auch andererseits jenen, der in ganzer Tiefe außen vorspringt. Nur eben ist der letztere Fall, der für systematische Anwendung der Flankierung an sich die besten Voraussetzungen bot, recht selten, tritt durchaus nicht konsequent in Verbindung mit flankierenden Scharten auf und ist außerdem so verstreut, dass eine besondere Absicht im Auftreten weit vorspringender Türme nicht zu erkennen ist. Man kommt vielmehr an dem Eindruck nicht vorbei, dass das Vorspringen der Türme von Stadt zu Stadt und manchmal sogar von Turm zu Turm neu entschieden wurde und dass man dabei keinen allgemeinen Regeln folgte, schon gar nicht der Zielvorstellung konsequenter
Flankierung. Einen Extremwert bieten hier jene ganz wenigen Beispiele von Stadtmauertürmen, die vollständig hinter der Mauer standen, sie gar nicht oder höchstens leicht berührend (Lindenfels, Ortenberg, Gelnhausen, alle in Hessen; Wertheim, Crailsheim, Neudenau in Württembergisch Franken; Abb. 52). Obwohl diese meist runden Türme – das Beispiel des quadratischen Rothenburger „Markusturms“ (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist die Ausnahme – am ehesten an die Bergfriede bestimmter Burgen erinnern, stammen sie Vorsprung vor die Mauer, fast alle erst aus dem 15. JahrFlankierung hundert, also eben aus der Zeit, in der im Zeichen der Feuerwaffen das Gegenteil dieser Turmstellung aufkam, nämlich das weit vorspringende, besonders bewusst platzierte Rondell. Als anschauliches Beispiel seien auch die „Wiekhäuser“ bzw. Schalentürme des brandenburgischen Raumes angesprochen, bei denen eine optimierte Wehrhaftigkeit schon deswegen wünschenswert war, weil sie in Abwesenheit von Wehrgängen die einzigen Standorte der Verteidiger waren und die Kurtinen mit verteidigen mussten. Trotzdem springen die Wiekhäuser meist nur wenige Dezimeter, maximal in ihrer halben Tiefe vor und verzichteten so gut wie völlig auf seitliche Scharten; vor allem das Erdgeschoss, wo sie am effektivsten gewesen wären, ist grundsätzlich schartenlos. Deutlicher könnte nicht demonstriert werden, dass der Wert flankierender Scharten nicht begriffen wurde, auch wenn es Weiterentwicklungen gab, wie etwa in Ostpreußen, wo nicht nur Wehrgänge existierten, sondern auch mehr seitliche Scharten, bis zu mächtig vorspringenden, schartenreichen Bollwerken wie etwa in Lauenburg. Auch der Abstand der Türme voneinander zeigt, dass fortifikatorische Überlegungen nicht allzu konsequent verfolgt wurden, zumindest nicht vor dem Zeitalter der Feuerwaffen. Zwar findet man in der lokalen Literatur manchmal die Überlegung oder gar Behauptung, die Turmabstände seien von der Schussweite von Bogen oder Armbrust abgeleitet. Aber solche Annahmen kollidieren nicht nur mit der allzu geringen Rolle flankierender Scharten, sondern noch mehr mit der Tatsache, dass die Turmabstände sehr unterschiedlich waren, sowohl im Vergleich 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
93
der Städte untereinander als auch oft genug von Turm zu Turm an derselben Mauer. Auch hier lag der bestimmende Faktor gewiss in den verfügbaren Mitteln – reiche Städte haben die Türme sogar dichter gestellt, als die recht erhebliche Schussweite der Armbrust es erforderte, weniger finanzkräftige konnten überhaupt kaum Türme erbauen (vgl. 2.2.4.3.). Nach alledem ergibt sich, dass die Höhe der Türme neben ihrer puren Festigkeit nicht nur ihre wichtigste, sondern ihre praktisch allein entscheidende Eigenschaft war. In einer Zeit, in der Fernwaffen zwar existierten, aber entweder in der Reichweite beschränkt – wie Pfeil und Bogen – oder aber aufwendig und daher selten waren – wie größere Wurfmaschinen bzw. Bliden –, war eine höhere Position der Schützen ein entscheidender Wert. Sie verbreiterte jenen Streifen vor der Mauer, in dem der Angreifer gesehen, beschossen oder beworfen und in seinen Aktivitäten behindert werden konnte, und mehr war mit den Mitteln des Zeitalters nicht zu erreichen. Erst die enorm vergrößerte Schussweite und Durch-
schlagskraft der Feuerwaffen, die im 15. Jahrhundert allmählich wirksam wurden, änderte das. Die Bedeutung der Turmhöhe wird besonders dort erkennbar, wo einzelne Türme extrem hoch aufgeführt wurden, um einen bestimmten Überblick zu sichern, der von einem normalen Turm aus nicht möglich gewesen wäre. Damit sind einerseits jene Türme gemeint, mit denen man eine nahe gelegene Burg kontrollieren wollte, die eine Bedrohung im Sinne stadtherrlicher Ansprüche darstellte (vgl. 2.2.10.1.). Interessanter für das Thema des Überblicks über das Vorfeld sind aber andererseits jene Türme, die „nur“ das Land überblicken sollten und die in der Regel deswegen so hoch aufgeführt wurden, weil Hügel oder Bodenwellen sonst den Ausblick eng begrenzt hätten. Ihre Funktion wurde dort am deutlichsten, wo sie den Namen „Luginsland“ trugen; solche Fälle sind aus München, Marktredwitz und Memmingen bekannt, in diesen Fällen wohl aus dem 14. Jahrhundert, und vor allem aus Augsburg, wo 1515 ein Turm von höchst komplexer Form und 60 m(!) Höhe errichtet wurde, dessen Abb. 52 Lindenfels (Hessen), der Rundturm (Mitte / 2. H. 14. Jh.) steht hinter der Ecke der Hauptmauer; heutiger Zustand und Darstellung bei Matthäus Merian (Topographia Palatinatus Rheni, 1645).
94 I. Systematischer Teil
Standfestigkeit gerade für 17 Jahre ausreichte (Abb. 349). Auch die anderen „Luginslande“ sind leider nur in Resten erhalten. Wohlerhaltene Beispiele für besondere, das Vorfeld beherrschende Turmhöhe bieten dagegen noch Aachen, („Langer Turm”), Rothenburg („Faulturm”; Abb. 53), Dinkelsbühl („Grüner Turm“) und Iphofen („Faulturm“), durchweg aus dem 14. Jahrhundert; in Aachen und Dinkelsbühl sind die Türme gegen überragende Berge platziert. In Iphofen ist die Funktion in einer Wachordnung anschaulich beschrieben: „So der Türmer ein gerenn im Felde und sonst was feindschaft betrifft ersieht“, so soll er das mit einem Trompetenstoß anzeigen. Die Türme hatten natürlich Innenräume und die Idee liegt nahe, dass auch sie dem defensiven Zweck nutzbar gemacht wurden, etwa, indem sie von Verteidigern bewohnt wurden (vgl. 2.2.4.2.), oder zumindest zur Aufbewahrung von Waffen. Für die Aufbewahrung von Waffen fehlen jedoch alle Befunde. Schon die Häufigkeit von Schalentürmen deutet darauf hin, dass man die Innenräume der Türme eher wenig benötigte, denn bei ihnen fehlte zumindest oft der schützende bzw. in Mauerwerk ausgeführte Abschluss gegen die Witterung. Zudem waren gerade wertvollere Waffen (Schusswaffen, Blankwaffen) in der Frühzeit der Städte meist Eigentum der Bürger bzw. Verteidiger, die sie schon aus Gründen der Pflege fraglos zu Hause verwahrten. Für die AufbewahHöhe der Türme rung in den Türmen kam daher ohnehin nur „billiges“ Verbrauchsmaterial wie etwa Pfeile oder Steine zum Werfen infrage. Dies jedoch forderte kaum wandfeste Einrichtungen in den Türmen, die bis heute hätten überleben können. Erst im spätesten Mittelalter und der frühen Neuzeit dürfte sich daran etwas geändert haben, weil zunehmend auch Söldner für die Städte kämpften und weil mit den Feuerwaffen neuartiges Gerät aufkam, das nicht mehr leicht transportabel war. Erst jetzt wurde es sinnvoller, ein gewisses Maß von Waffen im städtischen Besitz – also unter der Obhut des Rates – bereitzuhalten, und dabei kamen neben den neuen Zeughäusern für das Großgerät wohl auch die Türme für Handfeuerwaffen und Blankwaffen infrage. Eine Anschauung dessen gibt noch in besonders wertvoller Weise die Waffenkam-
mer im „Wiener Tor“ in Hainburg (Niederösterreich); auch in einem 1875 abgebrochenen Turm in Klausen / Tirol wurden angeblich noch Waffen gefunden, nachdem der Turm lange nicht mehr betreten worden war. Das bei Weitem bekannteste Beispiel für derartige nachträgliche Nutzungen der Türme in der Neuzeit sind jedoch die Pulvertürme, ein weitverbreitetes, bis heute oft noch im Namen überliefertes Phänomen. Mit der Verbreitung der Geschütze und Handfeuerwaffen musste Pulver auf Vorrat gehalten werden, nicht nur bei festungsmäßig ausgebauten Städten, sondern bei jeder noch unterhaltenen Befestigung. Die Mauertürme waren, wenn man sie mit guten Türen versah, dafür ideal, nicht nur, weil sie selbst Bestandteil der Mauer waren, sondern auch wegen der Stadtrandlage, die im Falle einer Explosion den Schaden begrenzte. Abb. 53 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), der Faulturm der äußeren Mauer (spätes 14. Jahrhundert) ist ein Beispiel für einen besonders hohen Stadtmauerturm, der eine bessere Kontrolle eines problematischen Vorgeländes ermöglichte.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
95
Ein wichtiger Aspekt der Wehrfähigkeit der Türme war ihre Verbindung mit den anderen Teilen der Befestigungen und der Stadt. Um mit dem Zweiten zu beginnen, so ist es keinesfalls gesichert, dass der Normalturm immer einen Zugang auf Straßenniveau besaß; zwar ist das heute fast immer so, aber die Fälle, bei denen die Pforte definitiv aus der ersten Bauzeit stammt, sind seltene Ausnahmen. Anzunehmen ist daher, dass es neben dem von der Stadt direkt zugänglichen Turmtypus auch jenen gab, der unter einem Zugang ins Obergeschoss ein nur von oben zugängliches „Verlies“ besaß, vergleichbar mit den Bergfrieden der Burgen. Eine sichere Aussage, wie häufig diese letztere Art Turm war, ist aber schwer möglich. Ein gewisser Hinweis kann aus der Art der oberen Eingänge gezogen werden (vgl. unten), denn vor allem der Normalfall des Turmes mit durchgeführtem Wehrgang war nicht mehr in der Art eines Bergfrieds zu isolieren. Und nimmt man die große Häufigkeit der Schalentürme hinzu, die von vornherein auf jede Abschließbarkeit verzichteten, so darf wohl gesagt werden, dass der bergfriedartig isolierte Turm bei Stadtmauern die Ausnahme war; als seltenes Beispiel seien wieder der „Markusturm“ in Rothenburg ob der Tauber und der „Lachnersturm“ in Waldenburg / Hohenlohe genannt, beides Türme noch aus dem 13. Jahrhundert mit isolierten Hocheinstiegen (Abb. 146, 389). Vieles spricht dafür, dass die Türme im Normalfall auch die Aufstiege auf den Wehrgang enthielten, dass also ihre Innentreppen zugleich diesen Zweck erfüllten. Allerdings ist auch hier der gesunde Menschenverstand das entscheidende Argument – warum hätte man gesonderte Aufstiege zum Wehrgang bauen sollen, wenn ein Turm wenige Meter weiter dasselbe bot? –, während der Befund uns weitgehend im Stich lässt. Denn die Treppen, gleich ob in den Türmen oder direkt zu den Wehrgängen, waren in aller Regel aus Holz und daher ist kaum je eine original erhalten; um über die Gesamtorganisation der Aufgänge etwas auszusagen, wäre eine Mauer mit umfassend erhaltenen mittelalterlichen Holzteilen nötig, eine völlig unrealistische Anforderung. Steinerne Treppen existierten zwar auch, aber nur als Ausnahmen; an den Mauern bzw. Kurtinen gibt es kaum erhaltene Treppen (etwa in Oberwesel / Mittelrhein; Abb. 44), in 96 I. Systematischer Teil
Türmen (und Tortürmen) schon einige mehr. Die steinernen Treppen gehörten zum Beispiel zur Normalausstattung eines Haupttypus der brandenburgischen Wiekhäuser, die, da nicht durch Wehrgänge verbunden, jeweils eigenständiger und schneller Zugänglichkeit bedurften. Die sehr steilen, überwölbten und verschließbaren Treppen von der Mauergasse zum Obergeschoss lagen hier in der Seitenwand des Turmes, die selten erhaltenen Läufe zu weiteren Geschossen darüber (Abb. 494). Diese Anordnung der Mauertreppe ist gut nachvollziehbar; in der Turmfront wäre die Mauer geschwächt worden, an der Stadtseite fehlte bei Schalentürmen die Mauer, anderenfalls wäre hier meist der Eingang zum Erdgeschoss im Weg gewesen. Aus diesem Grunde liegen auch sonst steinerne Treppen praktisch immer in der Seitenwand. Sie treten als Sonderfälle quasi im gesamten deutschen Raum auf, aber ohne erkennbares System oder auffällige regionale Verdichtung. Die Frage, ob die Treppe nur bis ins erste Obergeschoss oder noch weiter hinaufführte, würde fast immer genauere Untersuchung des Einzelbaues erfordern. Beim Verhältnis des Turmes zum Wehrgang der Mauer gab es prinzipiell zwei Formen: dass der Wehrgang durch den Turm hindurch oder dass er Verhältnis zwischen Turm und stadtseitig um ihn herum Wehrgang führte. Zwei weitere theoretische Möglichkeiten fehlen in der Praxis: die feldseitige Herumführung des Wehrganges und seine Unterbrechung durch den Turm, was zeigt, dass das Durchlaufen des Wehrganges möglichst um die gesamte Stadt herum und auch die direkte Einwirkung des Turmes auf das Vorfeld entscheidende Werte waren. Der Normalfall war die Hindurchführung des Wehrganges durch ein Obergeschoss des Turmes, in der Regel durch das erste; dazu ist das Wesentliche bereits gesagt worden, nämlich, dass es die Turmräume in das System der Wehrgänge integrierte. Bei der Herumführung des Wehrganges war es dagegen möglich, den Turminnenraum ohne Unterbrechung des Wehrganges zu isolieren (sofern der Turm auch im Erdgeschoss keine Pforte besaß). Dennoch gewinnt man nicht den Eindruck, dass in dieser Isolierung der Innenräume der Hauptgrund der Wehrgangführung lag, sondern eher in Dimen-
sion und Grundrissform der Türme. Denn das Verschließen der Türme war natürlich gerade im Verteidigungsfalle sinnwidrig, wenn man auch die Türme besetzen musste; zudem war ein Abschluss der Turmräume auch bei Hindurchführung des Wehrganges möglich, nämlich durch eine Innenwand. Es fällt zudem auf, dass die Herumführung des Wehrganges weit öfter bei kleinen und bei runden Türmen zu beobachten ist, was leicht nachvollziehbare konstruktive Gründe hat. Denn die Schwächung des Mauerwerks durch gleich zwei Pforten fällt bei einem rechteckigen Turm mit Seitenlängen von 6 bis 8 m wenig ins Gewicht, bei einem mit 4 bis 6 m schon deutlich mehr, und bei einem kleinen Rundturm verschärft sich das Problem wegen der fehlenden Ecken nochmals, am meisten, wenn der Durchgang nicht radial, sondern eher tangential durch den Turm geführt wird. Dies ist die beste Erklärung dafür, dass man etwa in Hessen, wo relativ späte und schlanke Rundtürme dominieren, zumeist jenen charakteristischen Kranz von vorkragenden Konsolen an der Stadtseite findet, der die Steinplatten oder Bretter des Wehrganges trug und über dem dann auch die Pforte liegt (Abb. 54). Mit der Beobachtung, dass die stadtseitige Herumführung vor allem bei kleinen Türmen zu beobachten ist, passt es gut zusammen, dass das Phänomen recht eindeutig erst im 14. / 15. Jahrhundert auftrat. Denn erst in dieser Zeit entstanden die Mauern der zahlreichen kleinen Städte, deren Türme ihrem bescheidenen Etat entsprachen. Ein weiterer Erklärungsansatz dürfte darin liegen, dass vorkragende Konstruktionen im 13. Jahrhundert wohl noch überwiegend in Holz ausgeführt wurden. Man vergleiche etwa die herumgeführten Wehrgänge an den Toren in Münstereifel oder die Balkenlöcher der Hurden an den Mauertürmen in Oberwesel, beide aus dem mittleren 13. Jahrhundert, wobei die meisten Beispiele heute nicht mehr leicht kenntlich sein dürften, weil die Balken verrottet sind und ihre Löcher oft zugemauert wurden. Als gut erhaltene Beispiele für stadtseitig herumgeführte Wehrgänge auf Konsolen seien von Norden nach Süden aufgeführt: ein Rundturm in Ingelfingen (Württembergisch Franken), der „Pfeifferturm“ in Eppingen, Türme in Kaub und Münstermaifeld im Rheinischen Schiefer-
gebirge, ein Rundturm in Einbeck (15. Jahrhundert), mehrere Türme in Hameln (1401–66) und der „Schnabelturm“ im schlesischen Striegau von 1378. Wehrgänge, die über unten dickere Mauern (und teils zusätzliche Konsolen) geführt sind, kann man noch in Bacharach und Oberlahnstein am Mittelrhein sehen, am „Balkenturm“ in Borgentreich (Westfalen) sowie an einem Rundturm in (Bad) Hersfeld. Auf Rundbögen um den Turm geführt sind schließlich Wehrgänge in Steinheim am Main und Reinheim im Odenwald. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um kleine Städte und Türme, die vom 14. Jahrhundert bis zum mittleren 15. Jahrhundert entstanden. Zusammenfassend darf also zum „normalen“ Mauerturm in Deutschland gesagt werden, dass er außer seiner Funktion in der Verteidigung kaum weitere Aufgaben zu erfüllen hatte und dass er dieser Hauptaufgabe fast immer in eher Abb. 54 Witzenhausen (Hessen), der Diebesturm (1413) ist ein typisches Beispiel, wie der Wehrgang stadtseitig auf Konsolen um den Turm herumgeführt wurde; die Holzteile sind selbstverständlich modern.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
97
schlichter Weise entsprach – er setzte auf Höhe und meist auch auf Schießscharten, aber kaum auf Flankierung. Lediglich auf seine Einbindung ins System der gesamten Mauer und ihrer Wehrgänge wurde konsequent geachtet. Der „anonyme“ Charakter der Türme spiegelte sich im Übrigen auch in ihren Bezeichnungen. Wir kennen sie erst aus spätmittelalterlichen Quellen, als viele Türme schon seit Längerem existierten und auch ihre Bezeichnungen Zeit gehabt hatten, sich herauszubilden. Diese „Namen“ sind im Allgemeinen – und bei den Tornamen wird Ähnliches festzustellen sein – von pragmatischer Art, das heißt, sie wurden beispielsweise nach den Farben ihrer Dächer oder des Putzes, anderen Auffälligkeiten des Äußeren („Storchenturm“), meist aber nach angrenzenden Bauten, deren Funktionen oder Besitzern genannt. Dabei ist auch oft festzustellen, was die Forschung nicht eben erleichtert, dass die Bezeichnungen wechselten oder verschiedene gleichzeitig in Gebrauch waren. Die Türme als Einzelbauten waren auch nach diesen Indizien in den Augen der Zeitgenossen offenbar eher Gebrauchsgegenstände als Symbole. 2.2.4.2. Nichtdefensive Nutzungen der Türme Warum Mauertürme im Mittelalter kaum zum Wohnen genutzt wurden, obwohl dies bei der Enge vieler Städte, der Armut mancher Bewohner und dem ungenutzten Volumen der Türme auf den ersten Blick nahezuliegen scheint, war schon bei den Ausführungen über die Mauergasse (vgl. 2.2.3.6.) begründet worden. Die Standund Bewegungsflächen der Verteidiger, also Wehrgänge und Turmräume, mussten frei gehalten werden, und mit unabgestimmten Aktionen der Stadtbewohner, die dies behindert hätten, musste grundsätzlich immer gerechnet werden. Nebennutzungen der Türme wurden daher sicherlich aus dem gleichen Grunde vermieden, wie Mauergassen geschaffen wurden, nämlich, um die Verteidigungsfähigkeit nicht einzuschränken. Aber waren die Türme anfangs wirklich nie bewohnt? Nachdem ein hoher Prozentsatz der Stadtmauertürme in der Neuzeit, nach Aufgabe der Verteidigungsfunktion, zum Wohnen und anderen Zwecken umgebaut worden ist, ist zunächst zu fragen, an welchen Merkmalen eine 98 I. Systematischer Teil
auch ursprüngliche Bewohnbarkeit der Türme denn heute noch erkennbar wäre. Aborterker sind an den Türmen recht häufig, in der Regel auf der Höhe der anschließenden Wehrgänge oder im obersten Geschoss, und zwar verständlicherweise an der Grabenseite. Bewohnbarkeit beweisen sie nicht, denn auch die Wachen und Verteidiger benötigten solche Einrichtungen. Überhaupt ist der Aufenthalt der Verteidiger in den geräumigeren und besser vor der Witterung geschützten Türmen etwas, womit man zu rechnen hat und was auch weitere Merkmale der Türme erklären könnte, die man sonst einer Wohnfunktion zurechnen würde. Insbesondere gilt dies für die Durchfensterung, denn natürlich benötigten die Innenräume der (Voll-)Türme ein Minimum an Licht, auch dann, wenn sie nicht bewohnt waren, und sei es nur, um das Benutzen der Treppen zu erleichtern. Bei Weitem die meisten originalen Fenster an Stadtmauertürmen erfüllen nicht mehr als diesen Anspruch, das heißt, sie sind in der Regel klein und rechteckig und verzichten auch fast immer auf Profilierung und weiteren Schmuck. Dass man ihnen kaum technische oder gestalterische Aufmerksamkeit zuwandte, wird deutlich etwa auch im Rheinischen Schiefergebirge, wo Fenstergewände aus Basalt oder Sandstein besonders wichtig gewesen wären, weil das örtliche mörtelreiche Schiefermauerwerk besonders zum Zerbröckeln neigt. Man findet trotzdem fast nur gemauerte Gewände aus Schiefer, die stets witterungsgefährdet waren, oder bestenfalls Blockzargen aus Holz; aus größerer Entfernung zu beschaffende Werksteine galten für Mauertürme offenbar als zu teuer. Nur ganz selten zeigen Mauertürme Fenster, die, etwa als Doppel- oder Kreuzstockfenster, einen höheren formalen Anspruch erheben und damit an zeitgenössische Bürgerhäuser oder Burgen erinnern. Derartiges fand man etwa – nur als Auswahl – am achteckigen Eckturm in Hainburg / Donau, am rechteckigen „Ketzerturm“ in Zürich und auch am „Langen Turm“ in Aachen, beide aus dem 13. Jahrhundert. Aus dem 14. Jahrhundert kann man entsprechend etwa den „Straubinger Turm“ in Cham (Oberpfalz) zitieren und nach 1337(?) erbaute Schalentürme in Quedlinburg, wo die spitzbogigen Doppelfenster genast sind und damit schon fast schmuckreich wirken; der
große „Graue Turm“ in Fritzlar zeigt ein Kreuzstockfenster zum Graben hin (Abb. 55). Sind nun solche seltenen Fenster Belege für bewohnbare Räume im Turm? Wohl nicht zwingend, denn ihre Funktion kann auch ornamental gewesen sein, ein Versuch, den allzu kahlen Turmkörper etwas zu akzentuieren. Insbesondere kommt man auf diese Idee, weil die Fenster überwiegend an der Feldseite der Türme angebracht sind, wo sie die Außenwirkung der Stadt bereichern und notfalls als Schießscharten dienen konnten, wo sie aber zugleich den Schüssen der Angreifer im direktesten Sinne „offen standen“, während eine Verlegung an die Stadtseite dies ohne Nachteile verhindert hätte. Einen wirklich bewohnbaren Raum in Stadtmauertürmen wird man nach alledem nur dann erkennen können, wenn eine Mehrheit von Merkmalen – Abort, Fenster, Kamin und andere – die Wohnfunktion belegt. Ein solcher Turm muss entweder gut erhalten und zugänglich sein oder seine Merkmale müssen durch Bauforschung eindeutig nachgewiesen sein. Beide Fälle sind recht selten und daher kann bisher nur eine sehr geringe Anzahl von Türmen genannt werden, in denen sich Menschen von Anfang an dauerhaft und halbwegs bequem aufhalten konnten. Der deutlichste Fall ist der inschriftlich und dendrodatierte „Kaiserturm” in Villingen (1370–72), in dem eine Stube mit Kachelofen lag, die feldseitig ein Gruppenfenster mit Kreuzblumenbekrönung besitzt (Abb. 56). Der runde „Dicke Turm“ in Euskirchen (nach 1355) hat einen Gewölberaum mit Fenstern und Kaminen; in beiden Fällen wird man nicht eigentlich einen Wohnraum vermuten, sondern eher einen Raum für das Kommando im Belagerungsfall, vielleicht noch eher eine Stube für Feste und Gelage, etwa des Rates oder einer Zunft. In Gundelsheim am Neckar besitzt ein Rundturm gegen den Neckar über der Wehrplatte noch ein weiteres Geschoss mit Rechteckfenstern und einem Erker; die Nähe zur Burg, die über ein kurzes Wehrgangstück erreichbar war, deutet hier auf eine Art „Belvedere“, das eigentlich auf die Burg zu beziehen ist. Am Mittelrhein findet man etwa in Sankt Goarshausen, gleich zweimal in Kaub, in Bacharach und Rhens quadratische oder runde Ecktürme am Rhein, mit mehreren beheizbaren, gut durchfensterten, über einen Treppenturm
Abb. 55 Fritzlar (Hessen), „Grauer Turm“. Aufwendigere Fenster formen, die in ihrer Formgebung über Lichtschlitze und kleine Rechteckfenster hinausgehen, sind an Stadtmauertürmen selten; hier ein Kreuzstockfenster an der Feldseite des „Grauen Turms“
zugänglichen und teils gewölbten Geschossen (Abb. 405). Hier darf man nun sicherlich an den Sitz von Amtsträgern denken, am verkehrsreichen Mittelrhein vor allem an den eines Zolleinnehmers; in Monheim steht neben dem landseitigen Haupttor ein gut erhaltener Wohnturm der Zeit um 1420, der wohl analog zu deuten ist. Auch die monumentalen „Wahrzeichentürme“ an den Ecken mehrerer rheinischer Städte (Oberwesel, Andernach, Köln; vgl. 2.2.4.10.) mögen sich aus solchen Funktionen entwickelt haben, betonten aber primär die Symbolwirkung. Im Ordensland Preußen schließlich findet man mehrfach neben der Pfarrkirche rechteckige Ecktürme mit ungewöhnlichem, die anderen Türme deutlich übertreffendem Volumen. Sollten es die 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
99
Wohnungen der Pfarrer gewesen sein, die bei der recht einheitlichen Entstehung der dortigen Gründungsstädte mitgeplant und mitausgeführt wurden? Abb. 56 Villingen (Baden-Württemberg), die Feldseite des „Kaiserturms“ (1370–72) mit dem Gruppenfenster einer beheiz baren Stube im Geschoss unter der Wehrplatte – seltenes Beispiel eines besser nutzbaren Raumes in einem Stadtmauerturm (B. Jenisch, Villingen, 1999).
100 I. Systematischer Teil
Insgesamt unterstreichen diese wenigen Bauten, für die es eine wahrhaft erdrückende Anzahl von Gegenbeispielen gibt, die oben schon getroffene Feststellung, dass Stadtmauertürme im deutschen Raum in der Regel einfach ausgestattete, nur defensiven Zwecken dienende Bauten waren. Die Ausnahmen scheinen jeweils Sonderlösungen, keineswegs Beispiele eines Typus. Zwar werden genauere Untersuchungen erhaltener und umgebauter Türme die Anzahl der Fälle sicherlich vermehren, aber angesichts des schon jetzt erkennbaren extremen Zahlenverhältnisses dürfte sich schwerlich etwas an der Kernaussage ändern, dass bewohnbare Türme Ausnahmen waren. Anders steht es mit einer weiteren Funktion der Türme, die ebenfalls mit dem „dauernden Aufenthalt von Menschen“ zu tun hat, wenn auch unter recht anderen Türme als Gefängnis Vorzeichen: Sie dienten als Gefängnisse. Neben der Bezeichnung „Pulverturm“ sind jene Namen, die auf die Gefängnisfunktion der Türme hinweisen, wohl die häufigsten: „Bürgerturm“, „Diebsturm“, „Hexenturm“, „Fronfeste“, „Faulturm“, „Stock(haus)turm“, „Schuldturm“ und „Arrestturm“ (Schlesien), „Folterturm“ und „Malefizturm“ (Schwäbisch Hall), „Bürgergehorsam“ und andere mehr. Die Anfänge auch dieser Funktion lagen wahrscheinlich im Mittelalter, als die leeren, aber mauerstarken und ohnehin von Wachen kontrollierten Türme sich dafür geradezu anboten. Reste aus so früher Zeit gibt es aber kaum, erklärlich aus der Primitivität der damaligen „Ausstattung“, außer festen Türblättern oder Bodenklappen und Ringen zum Anschließen der Ketten ist hier wenig zu erwarten. Immerhin gehört der älteste Fall, als ein Turm nachweislich als Gefängnis umgebaut wurde, noch ins Mittelalter, ein „1431” bezeichneter Eckturm in Forchtenberg (Württembergisch Franken); ob ein von vornherein mit Abschlusswand errichtetes Wiekhaus in Rössel im Ordensland wirklich von Anfang an, also im 14. Jahrhundert, ein Gefängnis gewesen ist, wäre zu prüfen. 1548 jedenfalls war der Turm am „Eckstädter Tor“ in Freyburg / Unstrut schon ein Gefängnis und der 1556 erbaute „Spittelturm“ in Bremgarten, der bis Anfang des 19. Jahrhunderts als Gefängnis diente, bewahrt eine Fülle von Inschriften und Graffiti. Die enorme Mehrzahl der erhaltenen Gefängnistürme – oft sind es die ein-
zigen, die aufgrund ihrer Funktion die Zerstörung der Mauer überlebten – verdankt ihre überlieferte Form aber erst dem 18. / 19. Jahrhundert, wobei Reste älterer Ausstattungen verschwanden. Auch die Quellen zu den Gefängnissen sind weit überwiegend erst neuzeitlich. Die Art der Ausbauten ist prinzipiell immer ähnlich und kann etwa am untersuchten Turm des „Marientores“ in Naumburg belegt werden (Abb. 57). Es entstand ein neues Treppenhaus, die Zellen wurden durch Querwände abgetrennt; größere, vergitterte Fenster und von außen heizbare Öfen belegen verbesserte Einsichten in menschliche Minimalbedürfnisse. Die typischen, rechteckigen und axial geordneten Gitterfenster sind das Merkmal, das solche Umbauten bis heute auch von außen kenntlich macht. Eine Wächterwohnung wurde nun gern in der Nähe untergebracht, weshalb Toranlagen besonders geeignet waren (Abb. 498), auch mehrere kleinere Zellen pro Geschoss waren denkbar. Das Ende dieses räumlich allzu beschränkten Gefängnistypus kam im 19. Jahrhundert, als mit dem rapiden Anstieg der Bevölkerungszahlen viel größere Gefängnisse neuen Typs erbaut wurden. Ein Turm, der durch einen Anbau im Volumen lediglich verdoppelt wurde, wie die Günzburger „Fronfeste“ war nun eine Ausnahme. Eine eher seltene, aber optisch wirkungsvolle Nebenfunktion von Stadtmauertürmen war die als Windmühle. Der Mühlentypus des „Holländers“ verfügt über ein drehbares Oberteil auf einem hohen, festen Unterbau, wofür sich ein Mauerturm geradezu anbot; die Mühle war natürlich in Kriegszeiten sehr gefährdet, aber im Frieden profitierte sie von der Höhe des Turmes. Bei besonderer Höhe musste das drehbare Oberteil von einer umlaufenden Galerie aus bewegt werden („Galerieholländer“). Eine solche Galerie in noch gotischen Formen findet man bei einem ehemaligen Tor in Köln (vor 1446; Abb. 199); dort gab es früher mehrere der Art. In Kempen ist eine Mühle auf 1581 datiert, die anderen, auch am Niederrhein, sind in der Regel noch jünger; auch die Mühlen auf den Türmen stellten also eine weitgehend erst nachmittelalterliche Nutzung der Stadtmauertürme dar. Schließlich sei der „Zytturm“ in Luzern erwähnt, der schon mit seiner Errichtung 1403 eine große, aus der ganzen Stadt sichtbare Uhr
Abb. 57 Naumburg (Sachsen-Anhalt), „Marientor“, Turmgeschosse mit Gefängniszellen wohl des frühen 19. Jahrhunderts. Die Zellen waren durch Öfen beheizt, die durch den Wärter von der gleichzeitig eingebauten Treppe aus bedient wurden (vgl. Abb. 147; Th. Biller in: Forschungen zu Burgen und Schlössern, Bd. 5).
erhielt – als öffentliche Uhr zeittypisch, während aber sonst eher Rathaus- und Kirchtürme diese Funktion übernahmen. 2.2.4.3. Turmlose und turmarme Mauern Türme gehören zwar unabdingbar zur heutigen Vorstellung einer mittelalterlichen Stadtbefestigung, in der Realität jedoch waren Mauern, die keine oder fast keine Türme besaßen, ausgesprochen häufig. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn man ausschließlich die Mauertürme betrachtet, also die Tortürme mit ihrer anderen Funktion beiseitelässt. Wenn eine Mauer außer an den Toren keine Türme besitzt, wird sie im Folgenden als „turmlos“ bezeichnet und als „turmarm“, wenn sie nur einen Mauerturm aufweist. Die Betrachtung wird zeigen, dass turmlose und turmarme Mauern einerseits in der Frühzeit der Stadtmauern auftraten – oft wohl auch ohne Tortürme, also wirklich vollkommen turmlos (vgl. 2.2.6.1.) –, andererseits aber auch noch bei den späten Mauern kleinerer Städte. Der Nachweis, dass eine Mauer wirklich keine Türme besaß, ist dabei nicht einfach zu erbrin2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
101
gen, denn ihr pures Fehlen stellt ja noch keinen Beweis dar; sie könnten schließlich später abgebrochen sein. Streng genommen, bedarf es also einer vollständig erhaltenen Mauer, um sagen zu können, dass Türme effektiv nie vorhanden waren, und Derartiges gibt es bekanntlich nur noch sehr selten. In der Praxis kann man anfänglich turmlose oder turmarme Mauern aber auch dann wahrscheinlich machen, wenn Türme eindeutig sekundäre Anbauten sind, und zwar mehrere Türme und nicht solche untergeordneter Art, sondern Haupttürme an wichtigen Stellen der Mauer, etwa an Ecken. Besonders, wenn dieses Phänomen bei bedeutenden und früh ummauerten Städten auftritt, wird man an eine anfangs turmlose Mauer denken dürfen. Selbstverständlich – und das sei bei so diffiziler Problemstellung nochmals besonders unterstrichen – können Grabungen, Bauuntersuchungen und eventuell Quellen auch in solchen Fällen gelegentlich Türme „zum Vorschein bringen“, die unbekannt waren; Beispiele bieten etwa die frühen Mauern von Basel und Worms. Dass aber gleich mehrere Türme entdeckt werden, sodass eine turmarme komplett zu einer „turmreichen“ Mauer umdeklariert werden müsste, ist doch eher unwahrscheinlich. Die frühen turmlosen und turmarmen Mauern, entstanden bis Mitte des 13. Jahrhunderts, findet man vor allem entlang der Rheinschiene und in der Nordschweiz, was zwanglos damit zusammenhängt, dass hier ohnehin die frühesten Mauern entstanden. Speyer, die um 1070–1100 entstandene, offenbar älteste mittelalterliche Mauer Deutschlands, zeigt keiTurmlose Mauern nerlei Hinweise auf Tor- oder bis Mitte des Mauertürme; diese wurden 13. Jahrhunderts offenbar erst ab dem mittleren 13. Jahrhundert ergänzt. In Basel („Burkhardsmauer“, um 1080–1100) ist neuerdings ein ursprünglicher Eckturm erwiesen; mindestens ein Rechteckturm wurde außerdem relativ bald vorgesetzt (Abb. 99; für den Eckturm mag es ein nur noch indirekt belegbares Pendant in Worms gegeben haben). Befestigungen des 12. Jahrhunderts, die erst im 13. Jahrhundert Türme oder zumindest Tortürme erhielten, findet man auch in Duisburg (um / nach 1120 / 25) und in den Zähringerstädten, von denen der mauerbekleidete Wall von Freiburg im Breisgau 102 I. Systematischer Teil
(um 1120–50, Tortürme ab der Zeit um 1200) das älteste Beispiel bietet. Das andere Freiburg erhielt bald nach 1157(?) eine Mauer an der Angriffsseite, ähnlich Bern (um 1200?), wobei Tortürme nicht vor etwa 1230 belegbar sind. Beide Städte befestigten noch im 13. Jahrhundert Vorstädte und auch dort verzichtete man noch auf Mauertürme. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gab es am Oberrhein erste Tortürme, etwa in Freiburg, und beispielsweise in Worms oder Straßburg wurden auch schon Mauern errichtet, die ausgesprochen turmreich waren. Dennoch entstanden in spätstaufischer Zeit weitere turmlose Mauern, teils in Reichs- und anderen wichtigen Städten; in dieser Phase gibt es auch erste Beispiele weiter östlich. Das pfalzgräfliche Heidelberg erhielt eine 1225 erwähnte Mauer mit abgerundeten Ecken (Abb. 330), deren Türme und Tortürme nach allen Indizien erst im 14. / 15. Jahrhundert ergänzt wurden. Das nach 1227 ummauerte, kleinere Eberbach / Neckar ist ein wertvoller Fall, weil alle vier Ecktürme erhalten und eindeutig sekundär sind und weil sogar eines der romanischen, turmlosen Tore erhalten ist (Abb. 104) – ein besseres Bild einer turmlosen romanischen Mauer gewinnt man heute nirgends mehr. Weiter neckaraufwärts war die Mauer von Heilbronn wohl 1241 schon fertig, aber ihre erhaltenen Ecktürme entstanden erst im 14. Jahrhundert; ähnlich kann man Marbach beschreiben. Auch die Reichsstädte Esslingen und Reutlingen besaßen schon gegen Mitte des 13. Jahrhunderts Mauern; die Buckelquadermauer in Esslingen besaß Tortürme, aber offenbar keine weiteren Türme, in Reutlingen wurde der Wehrgang sekundär verbreitert und das Tübinger Tor ist wenige Jahrzehnte jünger. In Villingen schließlich, wo zahlreiche Dendrodaten vorliegen, entstand die Mauer im frühen 13. Jahrhundert, die Tortürme um 1230–70 und die sonstigen Türme erst Ende des 14. Jahrhunderts. Außerhalb des südwestdeutschen Raumes sind die erkennbaren Beispiele früher turmarmer Mauern selten. Oberwesel am Mittelrhein besaß anfangs einen einzigen Halbrundturm zur Bergseite, 1241 / 42 dendrodatiert und fraglos von der turmreichen Kölner Mauer angeregt. Das münzenbergische Dieburg hatte eine turmlose Mauer mit abgerundeten Ecken, was an Heidel-
berg erinnert; die bis zum 14. / 15. Jahrhundert turmlose Mauer von Münzenberg selbst dürfte Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Weiter östlich, wo ohnehin nur wenige Mauern vor 1250 entstanden, sind die Beispiele der turmarmen Mauer noch seltener. Schongau im Voralpenland, sicher noch 1225 / 40 befestigt, besitzt eine voll erhaltene Mauer, deren Tor- und Mauertürme alle erst ins 15. Jahrhundert gehören. In Wertheim am Main fehlen alle Hinweise auf ursprüngliche Türme der spätromanischen Mauer und in Mühlhausen / Thüringen steht es ähnlich, wobei turmlose Ecken gut erhalten sind. Für das nahe Gotha (Mitte des 13. Jahrhunderts) ist Turmlosigkeit aus alten Abbildungen belegbar. Bis Mitte des 13. Jahrhunderts – also grob bis zum Ende der Romanik – könnte man turmlose oder turmarme Mauern auch in dem Sinne interpretieren, dass Türme noch nicht „in Mode“ waren; Turmlose Mauern ab Ende des 13. Jahr dementsprechend müsste hunderts sich diese Art Mauer ab dem späten 13. Jahrhundert verlieren. Das war jedoch nicht der Fall, vielmehr finden sich ganze Landschaften, in denen weiterhin turmlose und turmarme Mauern vorherrschten, und auch dort, wo das nicht der Fall war, kamen einzelne turmarme Kleinstadtmauern zumindest vor. Da es sich nun, in der „Boomphase“ des Stadtmauerbaues, meist um kleinere Städte handelte, bestätigt dies letztlich den Aspekt der Finanzschwäche, der zum vorläufigen oder auch endgültigen Turmverzicht führte. Turmlosigkeit – immer mit Ausnahme der Tortürme – war in dieser Phase praktisch für den gesamten Alpenraum typisch, also für die österreichischen Alpenländer, Tirol und die deutschsprachige Schweiz, auch für das Voralpenland in Österreich, Bayern, Oberschwaben und schließlich das Oberrheingebiet. Vor dem 15. Jahrhundert war hier ein einziger Mauerturm pro Mauer schon eine seltene Ausnahme. Im Elsass setzte sich die Tradition der turmlosen Kleinstadtmauer aus romanischer Zeit (Maursmünster, Neuweiler, Egisheim, Rosheim, Rufach) bis ins mittlere 14. Jahrhundert fort und auch in Baden waren Mauertürme bis 1300 Ausnahmen (Freiburg / Neuburg, Waldkirch, Lichtenau) und blieben es zumindest im Südteil des Landes bis zum 15. Jahrhundert. In der Schweiz bietet das
ergrabene, 1292 ersterwähnte und nach der Ermordung König Albrechts 1309 zerstörte (Alt-) Eschenbach eine schöne „Momentaufnahme“ einer turmlosen Kleinstadtmauer; sie war noch unvollendet, sollte aber eine gemauerte Contrescarpe erhalten (Abb. 58). Im bayerischen Schwaben ist die 2,7 km lange äußere Mauer von Nördlingen (um 1327–90) erwähnenswert, denn ihr hervorragender Zustand lässt die Aussage zu, dass alle Türme erst nachträglich angefügt wurden. Das Rheinland stellte unter jenen überwiegend westlichen Landschaften, die schon im 13. Jahrhundert zahlreiche Mauern entstehen sahen, die Ausnahme dar. Hier hatte schon Köln vor 1250 und dann ein deutlicher französischer Einfluss zur frühen Verbreitung von Mauern mit eng gereihten Rundtürmen geführt (vgl. 2.2.4.6.). Dennoch gibt es auch hier turmarme Einzelfälle, etwa die ab 1257 entstehende äußere Mauer von Aachen, die anfangs kaum Türme besaß. Schon direkt östlich, in Hessen, sah die Lage ganz anders aus, weil der Höhepunkt des Mauerbaues erst später einsetzte. Gibt es am hessischen Oberrhein um / nach 1300 zumindest einzelne turmlose Kleinstadtmauern (Steinau, Lindenfels, vielleicht Neckarsteinach, Zwingenberg), die an den badischen Raum anschließen, so findet man im nördlichen (Ober-)Hessen gleichzeitig nur unklare Verdachtsfälle turmloser Befestigungen (Grebenstein, Eschwege, Lauterbach, Gudensberg, Melsungen, etwas deutlicher Allendorf), während der Höhepunkt des Mauerbaues erst um 1350–1500 lag, mit nahezu genormten Rundtürmen (vgl. 2.2.4.6.). Überhaupt war es Merkmal der östlicheren Gebiete, dass die meisten Mauern erst im 14. / 15. Jahrhundert entstanden, wobei dann schon ein gewisser Turmreichtum üblich war, aber daneben immer noch turmarme Mauern vorkamen. So scheinen in der Oberpfalz die dort frühen Mauern von Cham (vor 1266) und Nabburg anfangs turmlos gewesen zu sein. In Franken einschließlich Württembergisch Franken war die turmlose oder turmarme Kleinstadtmauer im späteren 14. und frühen 15. Jahrhundert durchaus noch normal, obwohl gerade hier bei den mittleren und großen Städten Turmreichtum üblich war, mit berühmten Beispielen wie Rothenburg oder Dinkelsbühl, von Nürnberg 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
103
Abb. 58 Alt-Eschenbach (Schweiz), eine wohl im 13. Jahrhundert gegründete und 1309 schon wieder zerstörte Zwergstadt im Kanton Luzern, im Anschluss an eine ältere Burg, wurde 1944 / 45 ergraben. Sie war von einer turmlosen Mauer umgeben (W. Drack in: Innerschweizerisches Jahrbuch für Heimatkunde 19 / 20, 1959 / 60).
zu schweigen. Auch Thüringen kann ähnlich beschrieben werden; nach einer romanischen turmarmen Mauer wie Mühlhausen und neben jüngeren, durchaus turmreichen Mauern gab es noch im 15. Jahrhundert Kleinstadtmauern ohne Türme wie etwa Kölleda oder Clingen; aussagekräftig ist auch ein Fall wie Freyburg / Unstrut, dessen turmlose Mauer, wohl aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, erst Mitte des 15. Jahrhunderts mit 14(!) Rundtürmen verstärkt wurde. Das angrenzende Sachsen bleibt wegen der fast völligen Zerstörung seiner Mauern auch hier eine Erkenntnislücke. Eine bemerkenswerte Ausnahme war dagegen Schlesien, dessen Mauerbau im 13. Jahrhundert mit einer bemerkenswerten Vielfalt von turmreichen Mauerformen begann und erst ab Mitte des 14. Jahrhunderts zu sparsameren Mauern überging(!), bei denen Türme fast nur noch neben den Toren standen (vgl. Brandenburg, Sachsen-Anhalt); vor Mitte des 14. Jahrhunderts scheint diese Form kaum nachweisbar (Habelschwerdt, Groß-Strehlitz, Pitschen, Sagan?). Die weitgehend erhaltene Mauer von Neumarkt bei Breslau zeigt das Ende dieser Entwicklung: Im 14. Jahrhundert turmlos begonnen, fügte man bald (brandenburgisch beeinflusste?) Wiekhäuser und Wehrerker hinzu; im 15. Jahrhundert wurden schließlich die ältesten Teile mit vorgesetzten Halbrundschalen verstärkt. Im norddeutschen Flachland, das eher mauerarm war und wo wenig erhalten ist, kann man 104 I. Systematischer Teil
nur näher untersuchte Einzelbeispiele turmloser Mauern nennen. So fehlen Belege für Türme der ins 12. Jahrhundert zurückgehenden Braunschweiger Mauer und auch an die um 1230–44 erbaute Mauer von Helmstedt wurden die Türme erst im 14. / 15. Jahrhundert angebaut; in (Hannoversch) Münden ist die ab 1247(?) erbaute Mauer archäologisch erwiesen (Abb. 430), ihre erhaltenen Halbrundtürme gehören aber alle erst in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erbaute schwache Backsteinmauer von Buxtehude erhielt erst nachträglich (Eck-)Türme. Im Bereich der Magdeburger Börde gibt es schließlich eine ganze Gruppe kleinststädtischer Mauern des 15. Jahrhunderts, wo Türme nur neben den Toren standen, manchmal erkennbar erst nachträglich hinter die Mauer gesetzt (Aken, Burgtor; Hettstedt, Turm 1434). Die Wiekhausmauern Brandenburgs schließlich, um 1300 entwickelt und das gesamte 14. Jahrhundert beherrschend, waren eines der eindrucksvollsten Beispiele von turmreichen Mauern im deutschen Raum. Dennoch gab es auch hier in der Frühzeit vor 1300 Einzelbeispiele von Mauern, die zumindest turmarm waren (Brandenburg, Stendal, Berlin, Zerbst in Sachsen-Anhalt); Zielenzig, 1519 im Bau, ist mit seinen lediglich zwei Türmen ein ganz isoliertes Beispiel einer sehr späten turmarmen Mauer in Brandenburg. Die beachtliche Anzahl von turmlosen und turmarmen Mauern, die über das gesamte Mit-
telalter hin zu beobachten ist – angesichts der Schwierigkeit, den Befund sicher nachzuweisen, hat man zudem eine hohe Dunkelziffer anzunehmen –, bedeutet offenbar, dass die Errichtung einer Mauer zunächst ohne Türme ein verbreitetes Verfahren war, und zwar nicht nur in den Anfängen des Mauerbaues, sondern auch bei den weit zahlreicheren Mauern des Spätmittelalters. Ist diese Tatsache bisher höchstens hier und dort angedeutet worden, so ist sie doch relativ gut erklärlich. Die Mauer stellte auch ohne Türme durchaus schon einen Schutz dar, der den von einem Wall oder einer Palisade gebotenen deutlich übertraf; insoweit war es bei begrenzten Mitteln durchaus sinnvoll, ihren Ring zunächst zu schließen und die Errichtung der Türme auf später zu verschieben. Dies dürfte etwa in Fritzlar so gewesen sein, wo das Franziskanerkloster 1237 Baugelände „vom Tor bis zum nächsten Turm“ erhielt, wobei aber die Mauer im 13. Jahrhundert an dieser Seite noch turmlos war und der betreffende Turm ein Bau erst des 14. / 15. Jahrhunderts ist; dennoch war er 1237 offenbar schon geplant! 2.2.4.4. Anordnung und Gruppierung Die turmlose oder turmarme Mauer war, obwohl häufiger als meist angenommen, insgesamt doch eindeutig die Ausnahme bei den deutschen Stadtbefestigungen. Normal war vielmehr jene Art von Mauer, die in halbwegs regelmäßigen Abständen mit Türmen verstärkt war, sodass nicht die vergleichsweise niedrige und unakzentuierte Mauer allein die Außenwirkung der befestigten Stadt bestimmte, sondern eben der „Kranz“ der Türme. Dieses Bild war und ist noch immer so suggestiv, dass es in der Regel nicht nur für das häufiger auftretende Phänomen, sondern für das Bild der Stadtmauer schlechthin gehalten wird. Unter formalen Gesichtspunkten gibt es im Prinzip zwei Typen der turmreichen Mauer, mit ganz unterschiedlicher Wirkung. Die Turmreihung kann betont regelmäßig gestaltet sein, das heißt, die Türme sind von gleicher oder fast gleicher Form, Dimension und Detailgestaltung und sind zudem in gleichbleibenden Abständen angeordnet. Dies ergibt ein Bild von betontem Gleichmaß, wie man es in der gleichzeitigen Architektur sonst nur im Sakralbau findet, in der Pfeiler- und Fensterreihung der Kirchenschiffe,
Kreuzgänge oder Strebewerke. Der andere Fall besteht darin, dass zwar viele Türme mit der Mauer verbunden sind, dass ihre Abstände aber keineswegs gleich sind und dass vor allem die Türme selbst mehr oder minder unterschiedlich aussehen. Die Wirkung einer solchen Stadtmauer ist weit abwechslungsreicher oder „malerischer“, obwohl die zusammenfassende Wirkung des Turmkranzes grundsätzlich dieselbe ist. Bevor die Begründung und Verbreitung dieser beiden unterschiedlichen Fälle untersucht werden, sei ein seltener Sonderfall der Turmgruppierung angesprochen, der im Grunde zu den schon angesprochenen Fällen turmarmer Mauern gehört, aber durch die besondere Anordnung des einzigen Mauerturmes bestimmte entwicklungsgeschichtliche Aspekte berührt. Bei einer geringen Anzahl südwestdeutscher Stadtbefestigungen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden Türme nämlich in einer Weise eingesetzt, die unmittelbar aus dem gleichzeitigen, in dieser Region hoch entwickelten Burgenbau abgeleitet scheint. Am deutlichsten tritt dies in (Schwäbisch) Hall entgegen, das quasi auf einem Sporn liegt und seine entsprechend ausgeprägte Angriffsseite durch die Anordnung eines Rechteckturmes in ihrer Mitte sicherte; da Mauertürme fehlten und die Tortürme tiefer standen, ergibt sich das Bild einer ungewöhnlich ausgedehnten Burg mit „Frontturm“ (Abb. 59). Noch eindrucksvoller ist der Rottweiler „Hochturm“ (Abb. 78), der nachträglich auf den die Stadt überragenden Berg gesetzt und mit ihr durch Schenkelmauern verbunden wurde; er ist nicht nur augenscheinlich der früheste Mauerturm, der in Baden-Württemberg erhalten ist, sondern er spielte auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Schalentürme (vgl. 2.2.4.8.). Verwandte Fronttürme in Städten findet man in Waldenburg („Lachnersturm“; Abb. 389), rechteckig wie in Hall, und in Waiblingen. Esslingen schließlich schützte sich in einer ersten, an Rottweil erinnernden Erweiterung nicht durch einen Turm auf dem überragenden Berg, sondern durch eine breite Schildmauer. Dass derartig burgähnliche Lösungen für Stadtbefestigungen so selten geblieben sind, dürfte seinen Hauptgrund darin haben, dass die durchschnittliche Größe mittelalterlicher Städte in aller Regel einen Bauplatz mit nur einer An2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
105
Abb. 59 Schwäbisch Hall (Württembergisch Franken), Rekonstruktionsversuch der Stadtmauer in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Türme 8 und 9 und der Zwinger am „Schiedgraben“ sind aber fraglos jünger. 14 ist der bergfriedartige „Folterturm“. (E. Krüger, Die Stadtbefestigung von Schwäbisch Hall, 1966).
griffsseite ausschloss. Sobald aber lange Partien der Mauer in gleichem Maße angreifbar und durch mehrere Türme geschützt waren, konnte von einer Ähnlichkeit mit den weit kleineren und zumeist eintürmigen Burgen keine Rede mehr sein. Unter den beiden oben definierten Fällen der vieltürmigen Mauer war in Deutschland der „malerische“ Fall mit verschiedenartigen, etwas unregelmäßig verteilten Türmen eindeutig häufiger, wobei das Schwergewicht dieser Art Mauer erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert lag. Eine der einfachsten Erklärungen für diese Feststellung liegt darin, dass bis zu dieser Spätzeit schon recht viele Mauern verstärkt worden waren und dass diese Verstärkungen meist in Türmen bestanden, die mehr oder minder pragmatisch gestaltet wurden und damit das unregelmäßige Erscheinungsbild der Mauer verstärkten. Die erhebliche Anzahl anfangs turmloser oder turmarmer Mauern (vgl. 2.2.4.3.) war ein wichtiger Grund für die sekundäre Anfügung von Türmen, aber ein anderer dürfte auch in einem Wandel der ästhetischen Vorstellungen gelegen haben. Denn in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte es durchaus schon Mauern mit recht regelmäßig gereihten und gleichförmigen Türmen gegeben und auch im 14. / 15. Jahrhundert gab es wichtige Beispiele dafür, von spätrömischen Vorbildern und solchen außerhalb Deutschlands ganz abgesehen. Auch beim Anbau einzelner Türme hätte 106 I. Systematischer Teil
man diesem Ideal der Regelmäßigkeit schließlich nacheifern können. Das ästhetische Ideal der Spätgotik, das zum Abwechslungsreichen und Komplexen tendierte, im Extremfall sogar zum Krausen und Skurrilen, dürfte also bei der Gestaltung der Mauern ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts durchaus eine Rolle gespielt haben (s. 2.2.11.1.). Im 13. Jahrhundert war die formale Variationsbreite noch ebenso eng begrenzt wie die Anzahl der Fälle. Ein noch romanisches Beispiel bietet etwa Hainburg bei Wien, wo manche von den regelmäßig angeordneten quadratischen Türmen übereck stehen und ein Eckturm achteckig ist; um 45 Grad gedrehte Türme, vor allem an den Ecken, findet man auch sonst an relativ frühen Mauern Österreichs, gelegentlich sogar Fünfecktürme (Wiener Neustadt, Laa / Thaya, Leoben, Bruck / Mur). Auch etwa im Neckarland herrschte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts der rechteckige Turm vor, wobei die seltenen Türme aber nur an wichtigen Stellen und daher ziemlich unregelmäßig stehen. Unter jenen Mauern, die ab den 1330er Jahren den Höhepunkt der „malerischen“ Turmgruppierung bildeten, zeigen aus naheliegenden Gründen die ausgedehnteren das Phänomen besonders anschaulich, „Malerische“ Gruppierung in der Regel äußere Mauern um einen Kranz herangewachsener Vorstädte. Ein berühmtes Beispiel ist Rothenburg ob der Tauber, wo man um 1330 / 40 im Süden und
Osten mit runden und quadratischen Türmen begann, aber gegen 1400 im Norden mit Rundschalen abschloss (Abb. 60); noch vielförmiger ist das nahe Dinkelsbühl (äußere Mauer, 1372 bis um 1420). Halbrunde und rechteckige Schalen zeigt die äußere Mauer von Schwäbisch Gmünd (1399–1424) und ausgesprochen abwechslungsreich war auch die leider fast völlig verschwundene äußere Mauer von Frankfurt am Main (ab 1333). In Breslau mischte die schon etwa 1290– 1330 erbaute äußere Mauer rechteckige und halbrunde Türme, was deswegen besonders interessant ist, weil in Schlesien sonst zwischen den 1260er Jahren und der Mitte des 14. Jahrhunderts betont regelmäßige Turmreihungen vorherrschten, nämlich Rechtecktürme in Niederschlesien und Rundtürme in Oberschlesien. Schlesien verdeutlicht damit in besonderer Weise, was man in den anderen Fällen ausgedehnter Mauern bzw. großer Städte schon vermuten konnte: dass nämlich die besondere Länge einer Mauer ein Grund sein konnte, die Turmformen bewusst zu variieren, um Monotonie zu vermeiden. Allerdings wird gleich zu zeigen sein, dass zur gleichen Zeit andere, ähnlich umfangreiche Mauern wichtiger Städte durchaus das Gegenteil an-
strebten, nämlich eine betonte Regelmäßigkeit. Und in die gleiche argumentative Richtung weist die Beobachtung, dass auch bei Mauern von sehr begrenztem Umfang, bei denen also nur Bedarf und Raum für wenige Türme war, Wert auf formale Abwechslung gelegt wurde. Um wieder im süddeutschen Raum zu beginnen: Mindelheim und Kaufbeuren (um 1360–1420) mischen runde und rechteckige Türme, ebenso das fränkische Seßlach (1335–65); die Vorstadt von Öhringen in Hohenlohe (um 1334–57) ergänzte ihre Rundtürme durch zwei rechteckige, während das nahe Ingelfingen vier Rechteckschalen durch einen Rundturm ergänzt. Das besonders späte, schon in die Feuerwaffenzeit gehörende Waldkirchen (1451–79) im Bayerischen Wald besitzt neben rechteckigen und runden auch polygonale Türme. Eben dieser erhöhte Variantenreichtum, nochmals bereichert durch Wehrerker, prägte schon im 14. Jahrhundert zahlreiche Mauern des Rheinischen Schiefergebirges; als Beispiel unter vielen ist Dausenau an der Lahn zu nennen, das neben zwei rechteckigen fünf weitere Türme in jeweils anderer Form aufweist! (Ober-)Hessen ist mit seinen fast normiert wirkenden Rundturm-
Abb. 60 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), verschiedene Turmformen der äußeren Mauer des 14. Jahrhunderts. Vorn der „Weiberturm“, ein kleiner Rundturm, dann der rechteckige „Thomasturm“ – vor beiden Streichwehren des Zwingers – und der Turm des „Würzburger Tores“; ganz hinten der wieder rechteckige Turm „Kummereck“.
mauern des 14. / 15. Jahrhunderts das ebenso klare wie nahe Gegenbeispiel; eine Abwechslung der Turmformen zeigen hier – neben dem sekundär turmverstärkten Fritzlar – nur wenige kleine Städte. Weiter östlich wiederum findet man in Thüringen Beispiele betonter Abwechslung, etwa bei der langen und großenteils erhaltenen Mauer von (Langen-)Salza (ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts), das zwar neben zwei halbrunden Türmen und mauerhohen Rundschalen überwiegend quadratische Türme aufweist, diese aber im Detail unterschiedlich ausgestaltet. Noch größere Vielfalt findet man im spät ummauerten Tennstedt (1448–89) und in Heldburg (erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts), wo man einen polygonalen Turm, einen vollrunden und einen innen abgeflachten Rundturm findet, schließlich eine Rundschale. Ähnlich kann man die Reste in Wittenburg in Mecklenburg beschreiben (um 1400), wo drei quadratische Türme, eine Rechteckschale und ein Rundturm in reichen Schmuckformen erhalten sind – nach heutigem Eindruck ein Ausnahmefall in der Region. Lag das Gemeinsame der Mauern mit betont abwechslungsreichen Turmformen vor allem in ihrer späten Entstehung ab dem 14. Jahrhundert, wobei sie aber mehr Gleichmäßige oder minder dicht über den Reihung der Türme gesamten deutschen Raum verteilt waren, so fällt es bei dem alternativen Gestaltungsprinzip wesentlich leichter, überschaubare Gruppen zu benennen. Mauern mit gleichmäßiger Reihung prinzipiell gleich geformter Türme waren einerseits – neben den turmlosen und turmarmen Mauern – überregional typisch für die Mauern größerer Städte des 13. Jahrhunderts, andererseits gab es im 14. / 15. Jahrhundert klar erkennbare Gruppen derartiger Mauern. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts besaßen etliche wichtige und früh ummauerte Städte des deutschen Raumes Mauern mit regelmäßig angeordneten quadratischen oder rechteckigen Türmen, meist von stattlichen Ausmaßen. Am Oberrhein kann man in Straßburg und Worms noch nachvollziehen, wie so etwas aussah, in Basel wurden zumindest einige solche Türme sekundär vorgesetzt. Zürich und die Luzerner „Kleinstadt“ waren etwas jüngere Beispiele weiter im Süden, Landau, Münstereifel und Nide108 I. Systematischer Teil
ggen weiter nördlich. Im Neckarland war wohl die Pliensauvorstadt von Esslingen (ab 1286) das erste Beispiel einer solchen Mauer. Interessanterweise sind Mauern mit gereihten Rechtecktürmen aber auch sehr viel weiter östlich schon früh belegbar, so vor allem in Erfurt – womöglich schon vor 1200, mangels Resten schwer datierbar –, in Magdeburg und auch in Halberstadt. In der reichen Bergwerksstadt Freiberg, deren (dennoch bisher spät datierte) Mauer 1233 erwähnt wird, stand alle 100 m ein vorspringender quadratischer Turm, der über dem Wehrgang die Form einer Schale mit Schlitzscharten annahm. In Bautzen und Görlitz schließlich wird die Reihung rechteckiger bzw. quadratischer Türme erst ins frühe 14. Jahrhundert datiert – die Bautzener Mauer existierte schon 1282 –, wobei in beiden Fällen eine frühere Datierung nicht auszuschließen ist. In Schlesien schließlich, zu dem Görlitz schon gehörte, herrschten zwischen etwa den 1260er Jahren und der Mitte des 14. Jahrhunderts regelmäßig gereihte, gleiche Türme völlig vor, in Niederschlesien rechteckige Türme, in Oberschlesien Rundtürme und Rundschalen, die vielleicht auf böhmische Vorbilder zurückgehen. Die Reihung runder Türme, überwiegend von Rundschalen, gab es ab dem früheren 13. Jahrhundert noch in zwei anderen Regionen Deutschlands. Einerseits war die bedeutende Mauer von Köln (um 1210–50) der Ausgangspunkt einer solchen Gruppe (Abb. 66). Die Kölner Formen wurden früh etwa in Bonn, Neuss, Siegburg, Andernach, Duisburg und anderen rheinischen Städten übernommen und weiterentwickelt; später mischten sie sich mit französischen Einflüssen und schufen eine der besonders geschlossenen Stadtmauerlandschaften Deutschlands. Die andere Gruppe, vermutlich vom Rheinland inspiriert, hatte ihren Ausgangspunkt offensichtlich in Lübeck, wo ab 1217 eine Backsteinmauer mit teilweise eng gereihten Rundschalen entstand (Abb. 61). Von Lübeck abhängig war einerseits offenbar Bremen, andererseits eine ganze Gruppe von Backsteinmauern in Mecklenburg, deren Verbreitung sich ziemlich gut mit der Verbreitung des lübischen Rechtes in den Ostseeraum hinein deckt. Das wichtigste Beispiel der regelmäßigen Reihung gleicher Türme im 14. Jahrhundert
Abb. 61 Lübeck, die Stadtmauer am „Burgtor“ um 1450, Rekonstruktionsversuch. Der Unterbau des Tores gehört noch zu der um 1180 in Backstein erneuerten Burg (vgl. Abb. 67, 186), die Rundschalen zur Mauer des frühen 13. Jahrhunderts (vgl. Abb. 67) (Bruns / Rathgens, Bauund Kunstdenkmäler ... Lübeck, I, 1, 1939).
war zweifellos das brandenburgische Wiekhaussystem, eine Schöpfung der Zeit um 1300, die über ein Jahrhundert lang in einem sehr großen Gebiet verbindlich blieb; es reichte von Brandenburg über Pommern bis ins Ordensland Preußen (vgl. Bd. II, Topographischer Teil, 26.). Typisch Regelmäßige Reihung im 14. Jahrwar die fast immer regelhundert mäßige, dichte Reihung von rechteckigen Schalentürmen (Wiekhäusern) genormter Form, die einzeln zugänglich waren, weil die Mauern (außer im Ordensland) keine Wehrgänge besaßen. Einzelne höhere, vollrunde Türme akzentuierten die allzu gleichmäßige Reihung und stellten zugleich verschließbare Räume zur Verfügung. Die Reihung gleicher Türme, gelegentlich durch solche anderer Form rhythmisiert, findet man im späteren 14. Jahrhundert ähnlich eindrucksvoll im herzoglich bayerischen Ingolstadt (Abb. 62); sie brachte bis ins frühe 15. Jahrhundert eine Reihe deutlich erkennbarer Nachfolger in der Region hervor. Die weit gedehnte Ingolstädter Mauer (ab 1361) reihte über siebzig normierte Rundschalen, höher und schmuckreicher als die brandenburgischen Wiekhäuser und durch einen aufwendig abgestützten Wehrgang verbunden; die gelegentlichen höheren Türme sind hier rechteckig oder fünfeckig. Die Gestaltung ist im Detail also gänzlich anders als in Brandenburg, aber das Prinzip ist dasselbe. Die typischen hohen Halbrundschalen der Ingolstädter Art findet man außerdem, manchmal nur an
Partien der Mauer, in Wemding (Mauer nach 1343 begonnen, zunächst wohl mit rechteckigen Türmen!), Abenberg (1348 Ummauerungserlaubnis), Schrobenhausen (Mauer 1389–1419, neben Rundschalen auch vollrunde, quadratische und polygonale Türme), Friedberg bei Augsburg (ummauert ab 1409 von Ludwig dem Gebarteten von Bayern-Ingolstadt), Aichach (nur ein Turm dieser Form, aber eine Inschrift belegt Ludwigs Arbeiten 1418) und schließlich undatiert in einzelnen Mauerabschnitten von Donauwörth, Giengen und Pappenheim. Auch die umfangreich erhaltene äußere Mauer von Landsberg am Lech (um 1420 / 25) dürfte letztlich in diesen Zusammenhang gehören. Wenn die brandenburgischen Wiekhausmauern und die „Ingolstädter Gruppe“ zwar durch dasselbe gestalterische Grundprinzip verbunden, aber dennoch im Detail ganz unterschiedlich sind, so gibt es eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen ihnen, die einiges erklärt, nämlich das Baumaterial. Backstein ist ein in seinen Maßen normiertes Material, das quasi eine logische Aufforderung enthält, mit immer wieder gleichen Mauermaßen und Formen zu planen (vgl. 2.2.2.4.). Die gesamte Backsteingotik ist durch dieses Prinzip geprägt, auch wenn die kleinteiligere Gliederung etwa der Giebel, Fenster oder Blenden auf den ersten Blick abwechslungsreicher und rhythmischer als eine turmreiche Stadtmauer erscheint. Backstein macht eine einmal gefundene Lösung besonders leicht wiederholbar, und es scheint, dass die daraus resul2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
109
tierende Ästhetik schnell akzeptiert wurde. Dies war in Bayern übrigens auch schon vor Ingolstadt der Fall gewesen, nämlich bei der 1315 / 19 begonnenen äußeren Mauer von München, die als erste des Landes Türme regelmäßig reihte, hier aber wiederum rechteckige. Noch deutlicher wird der Einfluss des Backsteins, wenn man zu den beiden großen Backsteingebieten Deutschlands – der norddeutschen Tiefebene und dem Alpenvorland – das nächste im Süden heranzieht, das hier allerdings nicht zum Thema gehört. In der Poebene findet man, etwa im Herrschaftsgebiet der Scaliger, in Venetien und vor allem auch im Herzogtum Mailand, ab dem 14. Jahrhundert Backsteinmauern mit regelmäßiger Turmreihung, zumeist mit Rechtecktürmen; als höchst sehenswertes Beispiel sei hier nur die um 1360 / 62 erbaute Mauer der paduanischen Stadt Montagnana genannt. Allerdings blieb die regelmäßige Turmreihung im 14. Jahrhundert keineswegs auf die Backsteingebiete beschränkt. Man findet etwa auch in den Natursteingebieten Franken, Hessen und Thüringen einzelne Beispiele derartiger Ge-
staltung, allerdings wohl nicht in der Häufigkeit und formalen Vollendung wie in den Backsteinregionen. So kann man im Fränkischen – an sich einer Hochburg „malerischer“ Turmabwechslung – durchaus Mauern mit sehr regelmäßig gereihten quadratischen oder rechteckigen Türmen finden, darunter etwa Mergentheim (um 1335–61), dessen querrechteckige, nicht vor die Mauer springende Türme weit älter wirken, vor allem aber die äußere Mauer von Nürnberg (1346–1407), eine der wichtigsten deutschen Mauern überhaupt, bei der die quadratischen Volltürme und Schalen nur durch ganz wenige halbrunde und polygonale Türme ergänzt sind; die Süderweiterung von Weißenburg (begonnen 1372 / 76; Abb. 377) perfektioniert diese Regelmäßigkeit noch. Bei den die Region völlig dominierenden „Rundturmmauern“ Hessens beruht der gleichmäßige Eindruck vor allem auf der sehr konsequent durchgehaltenen Grundrissform; genauere Betrachtung zeigt aber, dass Dicke und Höhe durchaus etwas variieren können, ebenso die Verteilung bei recht großen Abständen, von der nicht seltenen Verwendung runder Schalen
Abb. 62 Ingolstadt, an der äußeren, in Backstein ausgeführten Mauer (1361–1434) reihten sich halbrunde Türme (rechts, restauriert), zwischen die gelegentlich ein stärkerer Fünfeckturm gesetzt war (links, unrestauriert und mit sekundärem Durchbruch).
110 I. Systematischer Teil
Abb. 63 Lauenburg (Polen), eine Gründung des Deutschen Ordens im späteren Hinterpommern, ist als nahezu quadratisches Kastell eine Ausnahme im mittelalterlichen Städtebau, wobei aber die Rechtecktendenz vieler Gründungsstädte gute Voraussetzungen bot (Die Baudenkmäler der Provinz Pommern, 3, 2, 2: Bütow und Lauenburg, 1911).
ganz abgesehen. Eben solche Rundschalen, recht eng gesetzt, trifft man auch bei einer Gruppe thüringischer Mauern, die ab etwa 1320 entstanden (Eisfeld, Hildburghausen, Saalburg, Heringen), aber im Gesamtzusammenhang der thüringischen Mauern ähnlich isoliert waren, wie dies schon in Franken konstatiert wurde. Bei kleineren Befestigungsformen – spätrömischen Kastellen und mittelalterlichen Burgen – war das Kastell eine der überzeugendsten Möglichkeiten der regelmäßigen Turmanordnung. Die Ecken eines Quadrates oder Rechteckes wurden dabei mit Türmen gleicher Form besetzt, die Kurtinen mit weiteren Türmen regelmäßig unterteilt – sicherlich eine der wirkungsvollsten Befestigungsformen der Architekturgeschichte, die Spitzenprodukte wie etwa die süditalienischen Kastelle Friedrichs II. oder bereits früher die umayyadischen Kastellförmige Städte Paläste des Vorderen Orients ermöglichte. Für Städte scheint das Kastell auf den ersten Blick eine weniger geeignete Form; zwar gibt es nicht wenige rechteckige Gründungsstädte, aber allein
ihre vergleichsweise großen Dimensionen scheinen ein architektonisches Gesamtkonzept wie das Kastell zur Wirkungslosigkeit zu verdammen. Dennoch gibt es Beispiele kastellförmiger Städte, und zwar hauptsächlich im 14. Jahrhundert. Man muss sich dabei verdeutlichen, dass die Mehrzahl mittelalterlicher Städte recht klein war und dass gerade „auf dem Reißbrett“ geplante Städte anfangs wirklich wie ein Einzelbauwerk in einer wenig bebauten Umgebung standen, abgesehen davon, dass mancher Entwurf auf dem Papier weit besser als in der Realität wirkt. Am stärksten waren solche Formen im Deutschordensland Preußen verbreitet, wo die Tendenz zur Rechteckanlage allgemein stark war und kräftige Ecktürme eine große Rolle spielten; als Höhepunkt sei hier Lauenburg genannt, ein perfektes Quadrat mit achteckigen Ecktürmen und acht sehr großen Wiekhäusern pro Seite (wohl drittes Viertel des 14. Jahrhunderts; Abb. 63). Die ordensländischen Anlagen strahlten offensichtlich auch nach Pommern und Brandenburg aus, wo sie aber nur (späte) Ausnahmen in einer Region bildeten, für die sonst die rund2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
111
liche, eckturmlose Mauer typisch war; in Pommern sind Greifswald, Dramburg, Greifenberg und Stettin als mehr oder minder kastellartige Städte zu nennen, in der Neumark Arnswalde, in der Altmark schließlich Tangermünde mit quadratischen Ecktürmen zur Wasserseite und runden zum Land. Einzelne kastellartige Ummauerungen findet man auch in Thüringen (Pößneck, Neustadt / Orla, Jena) wie in Sachsen (Marienberg, eine Idealstadt mit Ummauerung von 1541–56) und in diesem Zusammenhang darf man letztendlich wohl auch einige rheinische Städte nennen, die – obwohl nicht rechteckig – allein die Ecken mit Rundtürmen betonten, während sie sonst Rechtecktürme besaßen (Münstereifel, Nideggen, Bacharach). Dies sind aber nach Gesamtform und auch topographischer Lage bereits Grenzfälle, die zwar Turmformen für eine gewisse Akzentuierung nutzten, aber keine wirklichen Kastelle mehr waren. Insgesamt unterstreichen sie nochmals, dass das Streben nach der regelmäßigen, optisch unmittelbar wirksamen Gesamtform bei Stadtmauern die Ausnahme war. Die bewusst abwechslungsreiche Anordnung von Türmen, so darf man zusammenfassen, ist ein Phänomen, das im deutschen Stadtmauerbau erst im 14. Jahrhundert aufkommt, nachdem bis dahin neben der turmarmen Mauer durchaus die regelmäßige Turmreihung der Normalfall war, freilich bei einer insgesamt noch weit geringeren Anzahl von Stadtmauern. Im 14. Jahrhundert aber prägte das Prinzip der abwechslungsreichen Turmanordnung die Mehrzahl der Mauern, wobei jene Mauern eine wichtige Rolle spielten, die erst durch das pragmatische Anbauen einzelner Türme im Endeffekt diese Gestalt gewannen. Daneben existierte aber weiterhin das Gestaltungsprinzip der Reihung gleicher Türme, sodass hier zwar eine gewisse Entwicklung der ästhetischen Vorstellungen greifbar wird – von regelmäßiger Strenge zu malerischer Abwechslung –, die aber die grundsätzliche Wahlfreiheit der Planer nie völlig beseitigte. 2.2.4.5. Quadratische und rechteckige Türme Obwohl es im Prinzip eine beträchtliche Anzahl denkbarer Grundrissformen bei Stadtmauertürmen gibt, sind in der Realität nur zwei Formen wirklich häufig, neben denen alle weiteren seltene Ausnahmen bleiben: der quadratische oder an112 I. Systematischer Teil
nähernd quadratische Turm und der runde oder zumindest feldseitig runde Turm. Während der Letztere, bei aller Häufigkeit, doch zu bestimmten Zeiten weitgehend fehlte und zu anderen auffällig stark in den Vordergrund trat (vgl. 2.2.4.6.), ist der quadratische oder rechteckige Turm praktisch zu allen Zeiten und nahezu überall gebaut worden, höchstens mit einer geringeren Häufigkeit in bestimmten Regionen und Zeiten. Gerade diese Häufigkeit des quadratischen Turmes beschränkt seine Aussagekraft sowohl für ästhetische als auch für Datierungsfragen; er war einfach „nichts Besonderes“. Im Folgenden sollen daher nur einige Notizen zu seinem frühesten Auftreten und zu jenen Regionen zusammengetragen werden, in denen die Häufigkeit später etwas schwankte. Zur Variationsbreite des Grundrisses kann im Grunde nur gesagt werden, dass ein zentimetergenaues Quadrat hier wohl genauso selten war wie ein betontes Rechteck, ein Rechteck also, bei dem die Seitenlängen so stark voneinander abweichen, dass es nicht nur im Grundriss auffällt, sondern auch in der Realität. Unübersehbar war der quadratische Turm das Ideal, dem man sich in der Praxis mehr oder minder perfekt annäherte, während das Rechteck nur als große Ausnahme gewählt wurde. Warum das so war, ist kaum zu sagen. Der quadratische Turm, der von allen Seiten gleich aussieht, vertritt schon ein ästhetisches Ideal, während man sich bei den rechteckigen Türmen durchaus auch fortifikatorische Überlegungen vorstellen könnte. Denn die Rechtecktürme – romanische Beispiele gab es etwa in Basel, (Schwäbisch) Hall und vor allem Worms, für solche des 14. Jahrhunderts sei Mergentheim genannt – standen stets mit der breiteren Seite frontal zum Feld, was etwas mehr Standplätze für Verteidiger bedeutete und etwas mehr Deckung für die dahinterliegende Stadt, während die geringere Tiefe des Baukörpers einen Mehraufwand an Material und Mauerarbeit vermied. Der Vorteil scheint aber nur gering, wozu die Seltenheit der Turmform durchaus passt. Bis Mitte des 13. Jahrhunderts waren die damals noch seltenen Türme fast immer quadratisch; Ausnahmen bildeten ab etwa 1220 lediglich Köln und Lübeck, beide Ausgangspunkt einer ganzen Gruppe von Mauern und vielleicht miteinander zusammenhängend (vgl. 2.2.4.6.).
Abb. 64 Straßburg, die vier Türme am Einlauf der Ill – „gedeckte Brücken“, weil sie durch überdachte Holzbrücken miteinander verbunden waren – gehörten zur Ummauerung der Stadt in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Zwei heute allerdings wenig beeindruckende Beispiele kann man als Beleg anführen, dass es schon um 1100 oder gar früher quadratische Mauertürme gab. Reste des einen, mit der „Burkhardsmauer“ von Basel um 1100 als Eckturm in markanter Lage entstanden, wurde erst vor wenigen JahRechtecktürme im 12. / 13. Jahrhundert ren unter jüngerer Überbauung festgestellt. Sein Gegenbeispiel in Worms, gleichfalls ein Eckturm und nur noch auf älteren Plänen belegbar, könnte nach ersten Überlegungen sogar in die Zeit um 1000 zurückgehen. Beide nehmen bisher jedenfalls in unserem Kenntnisstand eine isolierte Position ein. Hingegen waren ab der Zeit um 1200 – noch immer wurden nur wenige und in der Regel größere Städte ummauert – quadratische Türme bereits weitverbreitet. Im österreichischen Raum sind eine ganze Reihe vor allem von Gründungsstädten zu nennen, darunter etwa Wiener Neustadt, Hainburg, Friesach, wobei die Turmform bis mindestens Mitte des 14. Jahrhunderts vorherrschte. In der Schweiz können bis Ende des 13. Jahrhunderts vor allem Zürich und Luzern angeführt werden, wobei Türme dort sonst bis 1300 Ausnahmefälle, aber gegebenenfalls auch quadratisch waren. Im Oberrheingebiet waren mit Basel und Worms schon zwei Beispiele romanischer Rechtecktürme genannt worden, wobei vor allem Worms mit ehemals 26 ab
spätestens 1196 erbauten Türmen ein eindrucksvolles Beispiel war. Ihm kann man durchaus gleichberechtigt Straßburg gegenüberstellen, mit ähnlich zahlreichen und großen, aber quadratischen Backsteintürmen, die bereits konsequent mit Scharten ausgestattet waren (Abb. 64); vom Straßburger Vorbild wurden auch etliche kleinere Städte der Umgebung angeregt, deren Mauern aber erst gegen 1300 entstanden. Speyer, mit seiner weitaus älteren Mauer, passte man gegen Mitte des 13. Jahrhunderts durch neue Tortürme und Türme dem Standard der anderen Bischofsstädte an. Auch bei kleineren Städten des pfälzischen und badischen Raumes mag es schon im mittleren 13. Jahrhundert quadratische Türme gegeben haben (etwa Weißenburg / Elsass, Annweiler, Offenburg). In Luxemburg / Stadt wird die mit quadratischen Türmen besetzte Mauer neuerdings um 1170–90 datiert. Weiter östlich wird der Bestand früher quadratischer Türme schon geringer; vor allen ist hier die konsequente Reihung weit seltener anzutreffen. Der deutlichste Fall im Alpenvorland ist noch Reichenhall – angeblich von 1219–28, aber erst 1275 erwähnt – mit einigen recht schlanken Türmen, während ein einzelner, außenfluchtender Turm der Backsteinmauer von Augsburg in der Datierung unsicher ist, ähnlich ein Eckturm der „Kalchvorstadt“ von Memmingen und Türme in Kempten, wobei für die erste Mauer von Nördlingen im Gegenteil gerade die Existenz der 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
113
Türme belegbar ist. Im Fränkischen waren die bergfriedartigen, rechteckigen Türme von Hall, Rottweil und Waldenburg schon erwähnt worden und von mehreren quadratischen Türmen der ersten sicher belegten Mauer von Nürnberg (um 1240?) ist auch nur der „Wasserturm“ erhalten. Im Nordosten treten dagegen im 13. Jahrhundert wieder gereihte Rechtecktürme auf, so, als habe es einen Einfluss vom Oberrhein gegeben, der Süddeutschland aussparte, aber über Thüringen letztlich auch Sachsen und Schlesien erreichte. Sicher noch in die erste Hälfte des Jahrhunderts gehörten Eisenach – vielleicht auch Erfurt –, Halberstadt, Magdeburg und Merseburg (um 1215–65), wobei zumindest in Eisenach und Halberstadt auch Schalentürme anzutreffen sind, die aber leider kaum enger datierbar sind (vgl. Bd. II, Topographischer Teil, 21. und 22.). In Sachsen ist Freiberg mit seiner 1233 erwähnten Mauer ein frühes Beispiel, als Bergwerkszentrum mit dem noch früheren Goslar vergleichbar (Abb. 65), und in Bautzen besaß die 1282 erwähnte Befestigung entweder von Anfang an Rechtecktürme, oder diese wurden erst im 14. Jahrhundert angebaut. Ähnlich stellt sich die Frage im nahen Görlitz und damit ist Niederschlesien erreicht, das ab etwa 1260 einige Mauern mit Rechtecktürmen erhielt (Löwenberg, Goldberg, um und nach 1300, dann Bunzlau, Glogau und die äußere Mauer von Liegnitz, nach Abb. 65 Freiberg (Sachsen), ein Rechteckturm der Mauer, Stadtseite. Die sehr regelmäßig mit solchen Türmen versehene Mauer wird lokal erst ins 14. Jahrhundert datiert, ist aber schon 1233 erwähnt.
114 I. Systematischer Teil
1338 begonnen). Selbst im Ordensland Preußen, wo kaum Mauern vor dem 14. Jahrhundert entstanden, lassen sich in den frühesten Mauern, jenen von Thorn / Altstadt (um 1250–62) und Kulm (um 1267), Rechteckschalen feststellen (in Kulm aber auch einige halbrunde). Im 14. und 15. Jahrhundert verliert sich die Vorherrschaft der quadratischen Türme nahezu überall, das heißt, Rundtürme treten nun auch dort neben sie, wo diese im 13. Jahrhundert noch gefehlt hatten. Dabei fällt es, vor allem wegen der Datierungsprobleme im Einzelfall, meist schwer, den Mischung der Turmformen im Zeitraum der Veränderung 14. / 15. Jahrhundert zu bestimmen; es können nur wenige etwas klarere Beispiele genannt werden. So wurde etwa die äußere Mauer von Amberg in der Oberpfalz um 1326 begonnen, und zwar im Westteil zunächst mit kleinen, quadratischen Schalentürmen mit geschlossenem Erdgeschoss, später ging man dann zu runden und halbrunden Türmen über, ergänzt durch einen turmlosen Zwinger; der Zeitpunkt des Formwechsels ist offen, denn noch 1435, 110 Jahre später, war die Mauer im Bau. Auch allgemein besaßen die Oberpfälzer Mauern bis gegen Mitte des 14. Jahrhunderts nur wenige, dann aber quadratische Türme, danach wurden ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Rundtürme und -schalen üblich. Halbwegs erkennbar ist die Abfolge auch in Thüringen, wo auf die Rechtecktürme des 13. Jahrhunderts (Eisenach, eventuell Erfurt) zunächst ab den 1320er Jahren eine deutliche Tendenz zu Rundturmmauern folgte, dann aber ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wieder rechteckige Türme dominieren. Ähnlich wie in Schlesien mit seinen klar nebeneinanderstehenden Gruppen ganz verschieden gestalteter Mauern wird man hier einander abwechselnde Einflüsse anderer Regionen vermuten dürfen, etwa des Rheinlandes oder des benachbarten Hessen bei den Rundtürmen des 14. Jahrhunderts. Anderswo mag es durchaus ähnliche Abläufe und Einflüsse gegeben haben, nur dass eine weniger glückliche Überlieferung uns das nicht mehr erkennen lässt. Wesentlich klarer als in diesen „Mischgebieten“ des 14. / 15. Jahrhunderts sind naturgemäß die Räume zu erfassen, in denen die Rechtecktürme ganz entschieden in den Hintergrund tra-
ten oder – gerade im Gegenteil – weiterhin dominierten. Das Erstere fällt bemerkenswerterweise besonders in Gebieten auf, die sich weiträumig um den Mittel- und Niederrhein gruppieren, also eben dort, wo schon ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ausgehend von Köln, der quadratische Turm völlig hinter den runden zurückgetreten war. Das bleibt am Niederrhein und auch im kölnisch dominierten Westfalen letztlich bis ins 15. Jahrhundert so, auch Hessen wird man in diesem Zusammenhang sehen müssen (vgl. 2.2.4.6.). Noch interessanter ist allerdings die Formenvielfalt, die sich im 14. / 15. Jahrhundert im Rheinischen Schiefergebirge entwickelt, wo es im 13. Jahrhundert noch kaum Mauern gegeben hatte. Gerade die beiden größten Städte zwischen Bingen und Koblenz, Oberwesel und Bacharach, gehen hier zwar konsequent zu quadratischen Türmen über – als nördlichste Vorposten des mainzischen Bereichs –, aber die vielen Kleinstadtmauern des späteren 14. und 15. Jahrhunderts vermeiden letztlich jede einfache Form, das heißt, sowohl Rundtürme als auch Rechtecktürme kommen zwar als Einzelfälle vor, aber das Grundprinzip ist hier vielmehr die extreme Abwechslung der Turmform, bei der möglichst keine Grundform mehr als ein- oder zweimal pro Mauer vorkommen sollte, auch wenn dies zu ganz ungewöhnlichen oder gar unfunktionalen Turmformen führte. Es war schon gesagt worden, dass es das mörtelreiche Schiefermauerwerk war, das diese Variationsbreite ermöglichte und förderte (vgl. 2.2.2.1.). Aber hinter diesem technischen Aspekt dürfte besonders deutlich eben das Grundprinzip sichtbar werden, das ganz allgemein ab dem späteren 14. Jahrhundert die Stadtmauern prägte – Abwechslung wurde nun meist der strengen Reihung gleicher Formen vorgezogen. Selten sind die Regionen, bei denen man nach dem 13. Jahrhundert noch von eindeutiger Vorherrschaft der quadratischen bzw. rechteckigen Türme sprechen kann. Im Bereich des Spessarts kann man gut ablesen, wie westlich, im mainzischen Territorium bzw. am nördlichen Oberrhein, Rechtecktürme vorherrschten, östlich davon, im Würzburgischen, aber runde; eine ähnliche Grenze war schon am Mittelrhein nördlich von Bacharach und Oberwesel beobachtet worden. Auch im Kerngebiet des heutigen Sach-
sen-Anhalt, soweit es nicht zum Backsteingebiet gehörte, blieben quadratische Türme, wie sie früh schon in Magdeburg und Halberstadt auftraten, bis ins 15. Jahrhundert die Normalform (Quedlinburg, Blankenburg, Aschersleben, Staßfurt). Als aufwendige Beispiele von späten Mauern mit ausschließlichen Rechtecktürmen, und zwar in sonst eher turmarmen Gegenden, seien die Luzerner „Museggmauer“ (vollendet 1408) und die Salzburger „Bürgerwehr“ (1487 / 88 mit älteren Teilen) genannt – und auch das Kuriosum einer „1700“ datierten Rechteckschale in Laupen (Kanton Bern). Das eindrucksvollste Beispiel der Vorherrschaft rechteckiger Türme im Spätmittelalter war jedoch das Wiekhaussystem, das sowohl funktional wie optisch von der engen Reihung rechteckiger Schalentürme beherrscht war. Es wurde um 1300 zweifellos in Brandenburg entwickelt, ohne dass die Vorbilder oder Vorstufen eindeutig erkennbar wären (vgl. Bd. II, Topographischer Teil, 26.), und beherrschte die Region bis hinüber nach Pommern und Ostpreußen bis ins späte 15. Jahrhundert. Auch im Wiekhaussystem gab es allerdings einzelne Rundtürme, kaum mehr als zwei oder drei pro Mauer, die vielleicht auch erst in einer etwas jüngeren Entwicklungsphase aufkamen. 2.2.4.6. Runde und halbrunde Türme Während der quadratische oder rechteckige Turm im 13. Jahrhundert fast überall vorherrschte und danach auf nicht allzu klar fassbare Weise seltener wurde bzw. in Konkurrenz mit anderen Formen trat, sind die Verbreitungsgebiete und -zeiten der runden Türme klarer definiert. Einerseits gab es bereits ab dem frühen 13. Jahrhundert Gebiete, in denen die Vorherrschaft des quadratischen Turmes nicht galt. Die meisten von ihnen liegen am Westrand des deutschen Sprachgebietes und lassen sich daher recht überzeugend mit französischen Vorbildern erklären; jedoch gibt es auch andere Gebiete und in Einzelfällen andere Erklärungsansätze. Andererseits wurden Rundtürme ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts häufiger. Nun kamen weitere Regionen hinzu – meist solche, in denen es bis dahin kaum Mauern gegeben hatte –, die von Rundtürmen klar dominiert werden, und gleichzeitig waren Rundtürme ein wichtiger Teil jener 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
115
Abb. 66 Köln, ein Schalenturm. Links Innenansicht und Grundrisse 1883, vor dem Abriss, mit Umbauten des 19. Jahrhunderts (Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884). Rechts oben Rekonstruktionsversuch des Urzustandes (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts), Schnitt (Th. Biller), unten Ausschnitt des Stiches von Mercator, 1571.
Entwicklung, die bei den quadratischen Türmen schon angesprochen worden war: Immer mehr Mauern suchten eine ästhetische Wirkung, die in der Abwechslung der Turmformen liegt. Die früheste Mauer im deutschen Raum, die konsequent runde Mauertürme und auch Tore mit feldseitig runden Türmen verwendete, war die äußere Mauer von Köln, die um 1210–50 entstand. Ihre halbrunden Schalen, in Abständen von 75 bis 95 m, waren über dem mit Schlitzscharten versehenen Erdgeschoss halbkuppelgewölbt und besaßen im Obergeschoss Rundbogenfenster (Abb. 66). Vor allem die Doppelturmtore, deren Türme aus demselben Modell entwickelt waren, haben in Köln früh Rundtürme und zu der Überlegung geführt, -schalen des dass es sich hier um eine ei13. Jahrhunderts in genständige Fortentwicklung Köln und Lübeck jener spätrömischen Befestigungsformen handelte, deren Reste es im Rheinland verschiedentlich gibt, vor allem auch in Köln selbst und dem gegenüberliegenden Kastell Deutz. Zwischenstufen zwischen den spätrömischen Befestigungen selbst kann man in den älteren, schlecht dokumentierten Stadterweiterungen von Köln selbst suchen, oder auch in Neuss, wo an der Ummauerung des 116 I. Systematischer Teil
12. Jahrhunderts, auch an jener des Damenstiftes, Rundtürme belegt sind. Das Kölner Vorbild wirkte nicht nur im Rheinland selbst – gut erhaltene oder dokumentierte Beispiele noch des 13. Jahrhunderts bieten etwa Bonn, Andernach und Ahrweiler –, sondern auch östlich davon, im kölnisch dominierten Westfalen und darüber hinaus. Noch als Bauten der ersten Hälfte bis Mitte des 13. Jahrhunderts kann man etwa die Mauern bzw. sekundär eingefügten Türme in Rüthen, Attendorn, Siegen, Hamm, Blankenberg / Sieg, Osnabrück und Soest interpretieren, um nur einige sichere Beispiele zu nennen. Wenn man den Betrachtungszeitraum bis Ende des 13. Jahrhunderts erweitert, so treten selbst einzelne Türme in Münster, Göttingen und Goslar ins Blickfeld, die diesem Einfluss zuzurechnen sind, und letztlich dürfte etwa noch die ab 1355 entstandene Mauer von Euskirchen oder auch jene von Xanten (ab 1389) in derselben Tradition stehen. Freilich ist dabei nicht zu vergessen, dass die romanischen, spätrömisch angeregten Formen, die man in reiner Form vor allem in Köln und Bonn traf, auch im rheinländischen Flachland selbst ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einem Wandel unterlagen, den man auf
französische Einflüsse zurückführen kann, der zugleich aber auch die gewandelten Formvorstellungen der Gotik spiegelt. An die Stelle der breit gelagerten, niedrigen Schalen von Köln, die man – da anfangs offenbar kaum höher als die Mauer selbst – mit einer vor allem bei Archäologen verbreiteten Begrifflichkeit auch als „Bastionen“ bezeichnen könnte, traten bald vollrunde, deutlich höhere Türme, die die Mauer stärker akzentuierten, dabei aber nicht mehr so regelmäßig gereiht wurden. Diese Turmform beherrschte im 14. / 15. Jahrhundert fast den ganzen Westen und Nordwesten Deutschlands sowie – als Einzelakzent von Wiekhausmauern – auch den Nordosten. Bevor der französische Einfluss im Westen Deutschlands näher behandelt wird, ist aber eine zweite frühe Gruppe von Rundturmmauern anzusprechen. Ihr Ausgangspunkt ist Lübeck, wo ab 1217 eine Backsteinmauer mit halbrunden Schalen entstand, die Schlitzscharten und Rundbogenfenster besaßen (Abb. 67). Das frühe Datum dieser Mauer, der mit Abstand ältesten an der gesamten deutschen Küste, erklärt sich fraglos einerseits aus der herausragenden Bedeutung Lübecks als Handelszentrum, von dem aus der gesamte Ostseeraum erschlossen wurde. Andererseits war hier die frühe Verwendung des Backsteins sowohl durch die dänischen Könige wie durch Heinrich den Löwen als Stadtgründer sicher wichtig. Vorbild für die Form der Türme dürfte jedoch Köln gewesen sein, nicht allein wegen der Ähnlichkeit der Turmform, sondern fast mehr noch wegen des Fehlens anderer oder besserer Vorbilder zu so früher Zeit. So, wie das Vorbild der Kölner Mauer seine Wirkung vor allem im kölnisch beherrschten Rheinland und in Westfalen entfalten konnte, durchaus aber auch darüber hinaus, so prägte Lübecks Mauer ein weites Gebiet entlang der Ostseeküste und weit ins Hinterland hinein, etwa dasselbe Gebiet, in dem auch die Übernahme des lübischen Stadtrechtes der Normalfall war. Lübisch beeinflusst war etwa, um nur wichtige und halbwegs datierte Beispiele zu nennen, die Mauer von Rostock (um 1260–90), jene von Greifswald (1264 Ummauerungsrecht), die hervorragend erhaltene von Templin (um 1300? Abb. 68) und jene von Parchim (1310 im Bau).
Das brandenburgische Friedland (Mauererlaubnis 1304) baute zunächst „lübische“ Rundschalen und ging dann, noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, zum Wiekhaussystem über. Das Aufkommen von Burgen in Kastellform mit Rundtürmen und entsprechenden Stadtmauern in Frankreich unter der Regierung von König Philippe II. Auguste (1180–1224), daher „forti Französisch beeinflusste Rundtürme im fication philipienne“ (Jean 13. Jahrhundert Mesqui), gehört zu jenen Entwicklungen im europäischen Befestigungswesen, die in den letzten Jahrzehnten besondere Beachtung gefunden haben, insbesondere natürlich in der französischen Abb. 67 Lübeck, die besterhaltene Rundschale der Mauer, an der Ostseite der Stadt. Die ab 1217 entstandene Mauer mit solchen Türmen war die früheste an der deutschen Ostseeküste (vgl. Abb. 61).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
117
Forschung. Aber auch in Deutschland bzw. im elsässisch-pfälzischen Oberrheingebiet ist der Einfluss von französischen Befestigungen des späten 12. Jahrhunderts – wie etwa des Louvre, der Ummauerung von Paris und weiterer königlicher Burgen – seit einiger Zeit konstatiert worden (Cord Meckseper, Robert Will, Stefan Ulrich). Tatsächlich ist der Einfluss der formal so charakteristischen Bauten im Königreich Frankreich auch im deutschen Stadtmauerbau deutlich zu fassen, und zwar verständlicherweise vor allem entlang der Westgrenze des Sprachraumes – der hier von Süden nach Norden gefolgt wird –, aber auch weiter östlich. Der Westteil der deutschsprachigen Schweiz grenzte an die Grafschaft Savoyen, in der es eine bedeutende Gruppe von französisch beeinflussten Kastellburgen gab, aber auch nicht kastellförmige Burgen mit gerundeten Flankentürmen (Chillon). Es wundert daher nicht, dass auch im angrenzenden deutschen Gebiet Mauern mit Abb. 68 Templin (Brandenburg), eine Rundschale aus Feldstein mit Scharten aus Backstein. Die wohl um 1300 entstandene Mauer von Templin, die fast ausnahmslos mit solchen „Türmen“ ausgestattet ist, gehörte zu vielen vergleichbaren des lübeckischen Einflussgebietes.
118 I. Systematischer Teil
Rundtürmen des 13. Jahrhunderts auftreten. Zu nennen wäre Murten, dessen Befestigung 1238 privilegiert wurde und wo drei kleine Rundtürme zum Originalbestand gehören. In Kaiserstuhl gab es neben quadratischen Türmen am Rhein auch zwei auf 1260 dendrodatierte Halbrundtürme; der erhaltene besitzt eine Schlitzscharte. In der Unterstadt von Burgdorf wurde eine Halbrundschale auf 1276 dendrodatiert, in Schaffhausen zwei Rundtürme auf 1283 und 1296. Auch in Solothurn gibt es Halbrundtürme in Buckelquadern, ebenso in Basel an der inneren Mauer, die man in die zweite Hälfte bzw. an das Ende des 13. Jahrhunderts datiert; in Basel hatten sie Nachfolger an der äußeren Mauer (1361 / 62–98), wo sie aber zeittypisch mit anderen Formen gemischt wurden. Im Oberrheingebiet, Elsass und Baden, blieben die Mauern im ganzen 13. Jahrhundert turmarm, aber in Einzelfällen wurden gegen Ende des Jahrhunderts die Ecken in auffälliger Weise durch Rundtürme mit Schlitzscharten betont (Zellenberg, Rappoltsweiler, Ladenburg). Den Höhepunkt im Badischen bildete die Reihung von Halbrundschalen, die wohl schon um 1250–80 die Bergseite der Vorstadt „Neuburg“ von Freiburg im Breisgau bildeten (Abb. 328); sie fanden allerdings bis weit ins 14. Jahrhundert hinein kaum Nachfolge. Das Herzogtum Lothringen griff selbst über die Sprachgrenze hinweg; es kann nicht verwundern, dass es hier schon früh ausgesprochen „französische“ Mauern gab, mit langen Schlitzscharten und Schrägsockeln an den Türmen, die genauso gut in der Ile de France stehen könnten. Genannt seien vor allem Metz (um 1225) und Saarburg (Stadtrecht 1226; Abb. 69), auch in Diedenhofen / Thionville, Saargemünd / Sarreguemines und St. Avold gab es Derartiges. Neuleiningen in der Pfalz – vor allem die Burg (um 1238–41), aber auch die Stadtmauer – kann als östlichster Ausläufer dieser Gruppe verstanden werden; sonst treten Rundtürme in der westrheinischen Pfalz erst im 14. Jahrhundert auf, etwa in der ab 1325 entstandenen Gilgenvorstadt von Speyer, aber auch an diversen Kleinstadtmauern (St. Johann, Kusel, Meisenheim, St. Wendel und andere). Zu den französischen bzw. lothringischen Einflussgebieten gehören auch der kurtrierische
Abb. 69 Saarburg / Sarrebourg (Lothringen), Reste der Mauer, die den Prinzipien der im Königreich Frankreich entwickelten fortification philipienne entsprach (um 1213–40). Typisch sind die in regelmäßigen Abständen vorspringenden Rundtürme mit steilem Schrägsockel und hohen (hier nicht erkennbaren) Schlitzscharten.
Raum und die wiederum rittlings auf der Sprachgrenze sitzende Grafschaft Luxemburg. Die nicht genau datierte Mauer, die Trier selbst im (frühen?) 13. Jahrhundert erhielt, zeigt bescheidene Rundtürme mit Schlitzscharten; die 1276–91 erbaute Mauer von Koblenz war ein noch bedeutenderes Beispiel, nicht nur durch die erhaltenen Baurechnungen, ist aber leider fast restlos verschwunden. Kleinere, aber formal aufwendige Mauern verschiedener Territorien findet oder fand man außerdem in Hillesheim (vor 1306, luxemburgisch), Welschbillig (nach 1291, Reich) und Monreal (nach 1291[?], virneburgisch). Eine „französische“ Rundturmmauer besaßen aber auch Echternach (vor 1239) und die bescheideneren Städtchen Vianden, Grevenmacher und Larochette (13. / 14. Jahrhundert). Nördlich an den trierischen und luxemburgischen Raum schloss das kölnische Gebiet an, dessen besonders frühe und anfangs wohl auch noch nicht französisch bestimmte Entwicklung schon dargestellt wurde, vor allem im Laufe des späteren 13. Jahrhunderts glichen die dortigen, nun relativ schlanken und hohen Rundtürme aber den im Süden und auch im Osten davon üblichen. Hessen – im Sinne von Oberhessen; der im Mittelalter zu anderen Territorien gehörende Teil am Rhein folgte anderen Gesetzmäßigkeiten – war im 14. / 15. Jahrhundert das vielleicht ausgeprägteste Rundturmgebiet Deutschlands. Wegen seiner zentralen Lage zwischen dem Rheinland einerseits und den mittel- und ostdeutschen Regionen späteren Mauerbaues andererseits ist die Frage nach der Entstehung der hessischen Turmformen natürlich besonders interessant. Eine
zentrale Rolle spielte hier offensichtlich Marburg, wo die erste Mauer (um 1180 / 90) schon vor ihrer Erweiterung durch einen runden Turm verstärkt wurde; die Erweiterung (um 1235–50) besaß runde Tourellen, die auch ein Doppelturmtor bildeten, sowie eine größere Rundschale. Die Tourellen waren im Rheinland im 13. Jahrhundert noch nicht üblich – in Aschaffenburg wurde, wohl auch im 13. Jahrhundert, eine Mauer mit Tourellen um den Stiftsbereich gezogen –, wohl aber im Burgenbau des Grenzraumes weiter westlich und in Frankreich selbst. Man wird die Vorbilder daher eher direkt in Ostfrankreich als im benachbarten Rheinland suchen müssen. Die Marburger Rundtürme fanden im Hessen des 13. Jahrhunderts zunächst kaum Nachfolge – Fritzlar besaß an der nach 1232 erbauten Mauer nur zwei Halbrundtürme, Korbach (Mauer 1265 erweitert) drei, und erst an der 1322 erwähnten Mauer von Zierenberg erscheint eine Reihung von Türmen, die zumindest bis in Mauerhöhe massiv waren, wohl nach Marburger Vorbild. Frühe Rundtürme findet man östlich von Hessen heute nur noch in Oberschlesien, wobei es in Thüringen und vor allem in Sachsen mit seinen weitgehend verschwundenen Mauern unerkannte Einzelfälle geben mag. Schlesien gilt nicht ohne Grund als Region, die ihre Bauformen auf vielfältigen Wegen importierte, und in der Region südlich und südöstlich von Breslau könnten diese Einflüsse über Böhmen aus Frankreich gekommen sein. So besitzt die 1282 erwähnte Mauer des vor 1224 von Ottokar I. von Böhmen gegründeten Leobschütz Stümpfe von halbrunden Türmen und von solchen mit vorgelegter Spitze (Abb. 473); die bereits 1333 reparierte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
119
Mauer von Reichenbach zeigt Halbrundschalen (Abb. 474), kaum höher als die Mauer, die keinen Wehrgang besaß(!); Ähnliches findet man in Münsterberg, dessen Mauer 1336 existierte, und im schwer datierbaren Patschkau (Abb. 475), schließlich ähnlich in Bolkenhain, Lauban, Glatz und Sprottau. Die Häufigkeit runder Türme im 15. Jahrhundert ist schon der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufgefallen und, da man damals noch stark militärisch funktional dachte und die Schriftquellen noch kaum ausgewertet waren, brachte man das vermeintliche Rundtürme im Aufkommen runder Türme mit 14. und 15. Jahr- der Entwicklung der Feuerwafhundert fen in Verbindung. Richtig daran ist so viel, dass der für Feuerwaffen ausgebaute Rundturm bzw. das „Rondell“ in der frühen Feuerwaffenzeit des 15. / 16. Jahrhunderts eine beherrschende Rolle spielte, weil die Rundform sowohl das Schussfeld als auch die Widerstandsfähigkeit erhöhte (vgl. 2.2.11.5.). Ebenso richtig ist aber, dass die Blütezeit des Rundturmes nach den Anfängen im 13. Jahrhundert bereits im 14. Jahrhundert lag, als von einer wirklichen Verbreitung der Feuerwaffen noch keine Rede sein konnte und als auch die Türme selbst noch keinerlei Einrichtung für diese Waffen zeigten. Im Laufe des 14. Jahrhunderts wurden Rundtürme in etlichen Regionen üblich, die weit über die Verbreitungsgebiete des 13. Jahrhunderts hinausgehen. Teils knüpften sie unmittelbar an diese Regionen an bzw. können als Weiterentwicklung weniger früher Rundturmmauern im Gebiet selbst gelten – vor allem am Mittelrhein, in Hessen und Westfalen –, teils traten sie nun in anderen Regionen weiter südlich und vor allem östlich auf, die aber insgesamt auch ein relativ geschlossenes Verbreitungsgebiet ergaben, das nämlich vom alemannischen Raum über Bayern, die Oberpfalz und Franken bis nach Thüringen reichte. Die Rundturmmauern des 13. Jahrhunderts im Kölnischen und Trierischen bewirkten in beiden Gebieten bis zum Ende des Mittelalters ein Vorherrschen der Rundtürme, nun weniger in Form von Schalen, sondern mehr als hohe Volltürme, von denen die meisten Kleinstadtmauern nur jeweils wenige besaßen. Genauso sind die 120 I. Systematischer Teil
normalen Mauern des 14. / 15. Jahrhunderts in Westfalen zu beschreiben, das auch schon früh zum kölnischen Einflussraum gehört hatte, und schließlich in der Pfalz, im Sinne des südlich ans Schiefergebirge anschließenden rheinischen Raumes. Im Schiefergebirge selbst bildete sich aufgrund der besonderen Eigenschaften des Baumaterials eine der formenreichsten Stadtmauerlandschaften Deutschlands heraus, in der keine Turmform beherrschend war, sondern die bewusste Variation. Dass Oberhessen die wohl eindrucksvollste und reichste Rundturmlandschaft Deutschlands wurde (Abb. 70), kann nicht überraschen, wenn man die Vorläufer des 13. Jahrhunderts seit Marburg und die Tatsache in Betracht zieht, dass es im 14. / 15. Jahrhundert fast allseitig von Regionen umgeben war, in denen gleichfalls der Rundturm herrschte. Dass man gerade die frühen hessischen Rundturmmauern, bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als Vermittler der Form in die Regionen weiter östlich verdächtigen darf, also nach Franken, Thüringen und vielleicht Schlesien, war schon angesprochen worden. Neben der ausschließlich mit runden Volltürmen ausgestatteten Mauer gab es in Hessen auch Mauern mit Rundschalen und lediglich einzelnen Volltürmen; die Abstände waren gleichmäßig, aber relativ groß. Bei sehr wechselnden Maßen – die Durchmesser reichten von nur 3 m(!) bis über 9 m, die meisten lagen bei 5–6 m – wurden stets hohe, „gotische“ Proportionen angestrebt. Der Einstieg führte meist ins erste Obergeschoss, über einem kuppelgewölbten Untergeschoss, wobei der Wehrgang auf dieser Höhe auf Konsolen um den Turm herumgeführt wurde; im obersten Geschoss lag oft eine Wachstube mit Rechteckfenstern, darüber vermutlich recht häufig ein gemauertes Spitzdach. Insgesamt sind das Formen, die sich bei späten Rundtürmen auch außerhalb Hessens oft ähnlich finden. Als eindrucksvoller Sonderfall sei der „Graue Turm“ in Fritzlar berührt, ein monumental dimensionierter Halbrundturm des späten 13. Jahrhunderts, der 1541 nochmals umgebaut wurde. Der späteste datierte Rundturm in Oberhessen findet sich in Eschwege (1531), im später hinzugekommenen rheinischen Teil des Landes kann man dem Türme in Zwingenberg („1532“) und Flörsheim (1547 / 48) gegenüberstellen.
Auch in der Pfalz – etwa in Ingelheim oder Pfeddersheim – und in Baden waren Rundtürme gegen und nach 1400 normal; ein eindrucksvolles Beispiel war die Vorstadt von Heidelberg (um 1392–1600), ein stärker ausgeschmücktes Beispiel bietet noch der „Simmelturm“ in Bretten (um 1450?). Mehrere große Stadterweiterungen des 14. Jahrhunderts in der Schweiz setzten vollständig oder überwiegend auf Rundtürme, so die um 1344–46 begonnene zweite Westerweiterung von Bern, die äußere Mauer von Basel (1361 / 62– 98) und die letzte Erweiterung von Freiburg im Üechtland (um 1370–1416); auch in kleineren Städten gibt es einzelne noch spätere Rundtürme (Bremgarten 1407–15; Murten 1470–1514). In Bayern gewinnt die Mauer mit regelmäßig gereihten Schalen mit der schon behandelten äußeren Mauer der Herzogsresidenz Ingolstadt (ab 1361; Abb. 62) eindrucksvolle Vorbildwirkung für einen weiten Umkreis, der nach heutigen Begriffen nicht nur Niederbayern umfasst, sondern auch Randgebiete von Schwaben, Franken und der Oberpfalz. In der Oberpfalz, wo die
1326 begonnene Mauer von Amberg nach einiger Zeit zu runden Turmformen überging und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Rundtürme bzw. -schalen der Normalfall wurden, wird man sich ohnehin fragen müssen, ob nicht die Ingolstädter Gruppe auch hierfür der Anreger war. Freilich kommt für diese Rolle auch der fränkische Raum infrage, wo man das Aufkommen runder Turmformen schon etwas früher beobachten kann, etwa ab den 1330er Jahren – sicher nicht zufällig liegt das Gebiet mit den früheren Rundtürmen zugleich näher an der Rheinachse. Anschaulich für Franken als Mischgebiet mit runden und rechteckigen Turmformen ist etwa (Schwäbisch) Hall, wo zwei ab 1320 / 30 ummauerte Vorstädte ganz unterschiedlich ausgestattet wurden, die eine nur mit rechteckigen Türmen, die andere mit Rundschalen (Abb. 392). Die Mischung der Turmformen findet man auch sonst in Württembergisch Franken und in Mittelfranken im Prinzip während des ganzen 14. / 15. Jahrhunderts; als weitere frühe Beispiele seien AbenAbb. 70 Für Hessen sind runde Mauertürme des 14. / 15. Jahrhunderts charakteristisch, wie hier etwa in Fritzlar. Links der „Rosenturm“ der Altstadtmauer (auf hufeisenförmigem Sockel der Zeit vor 1232?), rechts die Rundtürme an der Westseite der Neustadt.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
121
berg (1333–47) und Seßlach (1335–65) genannt, als Beispiel geringen Einflusses die großartige äußere Mauer Nürnbergs, die fast völlig auf quadratische Türme setzte. Die äußere Mauer von Rothenburg, ebenfalls noch um 1330 / 40 begonnen, mischte anfangs im Süden und Osten runde und quadratische Türme, aber die um 1400 erbaute Nordfront setzte dann völlig auf runde Schalen. Das anschließende Thüringen, dessen heutiger Südteil („Henneberger Land“) im Grunde zu Franken gehörte, durchlief bezüglich der Rundtürme eine parallele Entwicklung. Ab den 1320er Jahren und bis nach 1350 wurden etliche Mauern mit Rundschalen errichtet (Eisfeld, Hildburghausen, beide ab 1323; Pößneck, Neustadt / Orla, Jena, Saalburg, Heringen, Sondershausen, Saalfeld; schwer datierbar ferner Heiligenstadt, Nordhausen, Remda, Wiehe?). Wernigerode nördlich des Harzes kann als besonders entfernter, aber undatierter Ausläufer dieser Gruppe gelten. Gegen 1400 nahm die Verbreitung der Rundtürme in Franken nochmals deutlich zu. Nun sind nicht nur in Unterfranken Rundtürme absolut üblich – bis hin zu den Mauern von Zeil und Aub, zur Vorstadt von Kitzingen (ab etwa 1470) und schließlich zu den Ummauerungen Julius Echters von Mespelbrunn gegen 1600 –, sondern auch in Mittelfranken ist mehrfach der Übergang von Rechteck- zu Rundtürmen zu beobachten. So war es etwa in Neustadt / Aisch, wo um die Vorstädte zunächst eine „nürnbergische“ Mauer mit Rechtecktürmen begonnen wurde, dann ging man zu einer Bruchsteinmauer mit hohen Rundtürmen über. Ähnliches und noch sehr eindrucksvoll findet man in Merkendorf (1398 bis um 1430) und in Hersbruck (Mitte des 15. Jahrhunderts), hier schon mit Maulscharten für Feuerwaffen. Das heutige Sachsen-Anhalt – soweit es nicht zum Flachland bzw. Backsteingebiet gehört – ist eine weitere Region, in der im 15. Jahrhundert Rundtürme absolut üblich waren. Neben den Gegenden, wo Rundtürme ab dem 14. Jahrhundert dominant waren – oder zumindest entschieden häufiger als in Franken –, stehen jene, die bis zum Ende des Mittelalters die Vorherrschaft turmarmer Mauern oder von Rechtecktürmen bewahrten. Auch dort traten Rundtürme auf, aber nur als Ausnahmen und in 122 I. Systematischer Teil
der Regel auch sehr spät, kaum vor etwa 1400. Zu ihnen sind die meisten Gebiete im Südwesten zu zählen – Tirol, Österreich, Oberschwaben und Bayerisch Schwaben, das Neckarland; in Schlesien entstanden im 15. /16. Jahrhundert einige große, besonders repräsentative Rundtürme, oft auf quadratischem Sockel, die die Tore älterer Mauern sicherten. Im brandenburgischen Wiekhausgebiet, auch in Pommern, waren Rundtürme ebenfalls Ausnahmen, gehörten aber dennoch – wenn auch wohl nicht ganz von den Anfängen des Wiekhaussystems an – zur Normalausstattung der Mauern, nämlich in dem Sinne, dass fast jede Wiekhausmauer über zwei oder drei hohe Rundtürme verfügte, die einzigen Volltürme neben den Toren. Offenbar erst im 15. Jahrhundert kamen auch „runde Wiekhäuser“ auf, also runde Schalentürme, die wie die Wiekhäuser eng gereiht waren und die Mauer nur wenig überragten, allerdings eher selten an ganzen Mauern (Wittstock, Tangermünde, Pritzwalk, Werben), sondern eher als Ausnahme an sonst „normalen“ Wiekhausmauern. Falls sie als wehrtechnischer Fortschritt zu verstehen wären, dann offenbar als einer, der sich nicht wirklich gegen die Tradition der rechteckigen Wiekhäuser durchsetzen konnte. 2.2.4.7. Weitere Turmformen Neben rechteckigen oder quadratischen Türmen einerseits, runden oder zumindest feldseitig gerundeten andererseits gab es noch weitere Turmformen. Der Grundriss konnte entweder in voller Höhe eine andere Form aufweisen – von gleichzeitigen Burgen kennt man etwa achteckige Türme oder solche, denen angriffsseitig eine Spitze vorgelegt war – oder er konnte im oberen Turmteil wechseln. Schließlich gab es Tourellen – schlanke Türme ohne Innenräume zumindest im unteren Teil – und die variantenreiche Sonderform des Erkerturmes oder Wehrerkers. Alle diese Varianten kamen prinzipiell auch bei Stadtmauertürmen vor, aber sie waren große Ausnahmen, gemessen an der enormen Anzahl der rechteckigen und gerundeten Türme. Zudem gehörten sie weit überwiegend in die Spätzeit der mittelalterlichen Stadtmauern ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie ästhetisch irrelevant gewesen wären, denn gerade die ungewöhnlichen oder in
der Höhe variierten Grundrisse waren Mittel zur Akzentuierung der Mauern, etwa an einer Ecke oder an einer sonst besonders exponierten Stelle. Der achteckige Turm ist eine der besonders naheliegenden Abwandlungen des quadratischen Turmes und erzielt in seiner Mischung aus Komplexität und Regelmäßigkeit eine beachtliche ästhetische Wirkung, weswegen er auch im romanischen und Achtecktürme gotischen Sakralbau häufig vorkam. Bei den Stadtmauern geht allein ein donauseitiger Eckturm von Hainburg in die späte Romanik zurück; vergleichbar scheint eine ergrabene polygonale Eckschale in Duisburg („Koblenzer Turm“, um 1200?), die im 14. Jahrhundert in Backstein sechseckig erneuert wurde (Abb. 420). Aus dem späten 14. Jahrhundert kann als weiterer Eckturm am Fluss der Kölner „Bayenturm“ genannt werden, dessen schmuckreicher Oberbau auf einen romanischen quadratischen Sockel aufgesetzt wurde. Älter und weithin sichtbar ist der „Wasserturm“ in Luzern, dessen Holzaufsatz auf 1339 datiert ist, was für den ganzen Turm gelten dürfte (Abb. 71). Weiter östlich werden die Achtecktürme im 14. Jahrhundert etwas häufiger, entsprechend der späteren Entstehungszeit der meisten Mauern. Erwähnenswert sind etwa der „Rabenturm“ in Mühlhausen (Thüringen; Abb. 452), der stadtseitig geöffnet ist; in Schlesien sind die beiden Türme am „Striegauer Tor“ in Jauer und am „Niedertor“ in Neustadt zu nennen, ferner ein sekundär eingefügter Mauerturm in Striegau. Noch etwas häufiger waren Achtecktürme im Backsteingebiet. Das beginnt mit den gut gestalteten Türmen des „Mühltores“ in Brandenburg (1411; Abb. 268) und des „Hühnerdorfer Tores“ in Tangermünde (Abb. 500), bleibt in Pommern eher bescheiden (Wollgast, Erkerturm in Gollnow) und erreicht seinen Höhepunkt im Ordensland. Dort waren Achtecktürme vor allem an Ecken üblich, häufig mit quadratischem Sockel (Elbing, Lauenburg (Abb. 34), Konitz, Strasburg, Preußisch Stargard), aber auch manchmal als normale Mauertürme (Danzig, Thorn). Polygonale Türme von weniger regelmäßiger Form als das Achteck sind eher noch seltener. Einen Höhepunkt bildet hier der Raum des Rheinischen Schiefergebirges, wo im 14. / 15. Jahrhundert die Variation der Grundrissform ins Extrem
getrieben wurde. Neben rechteckigen Türmen findet man fünf- und sechseckige, trapezförmige, einen „Fächerturm“ spätrömischer Art (Engers) und noch unregelmäßigere, kaum in Kürze beschreibbare Formen. Relativ regelmäßig sind noch Rechtecktürme, bei denen die feldseitigen Ecken abgeschrägt sind – fünf Seiten des Achtecks wie bei den Chorbauten gotischer Kirchen. Man findet sie gelegentlich im Ordensland und auch im Rheinischen – erwähnenswert sind zwei Türme in Hameln und der „Fillerturm“ im na- Unregelmäßig polygonale Türme und Türme mit hen Alfeld (Abb. 434), angriffsseitiger Spitze beide wohl aus der Zeit um 1400 oder noch jünger –, aber insgesamt bleiben sie seltene Ausnahmen, obwohl es außerhalb des deutschen Raumes berühmte und gut erhaltene Beispiele gibt (Visby / Gotland, Montagnana / Venetien). Abb. 71 Luzern (Schweiz), der „Wasserturm“, der den Ausfluss der Reuss aus dem Vierwaldstätter See kontrolliert, ist eines der Beispiele eines achteckigen Turmes im Rahmen einer Stadtbefestigung; der Holzaufsatz ist 1339 dendrodatiert.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
123
Türme mit angriffsseitig vorgelegter Spitze, eine gelegentlich im Burgenbau nicht nur Deutschlands auftretende Form, beabsichtigten wohl vor allem, anfliegende Wurfgeschosse seitlich abzulenken. Dies konnte eigentlich nur funktionieren, wenn die Angriffsseite schmal und der Aufstellungsort der Wurfmaschine daher festgelegt war, was bei einer Stadt kaum so sein konnte. Deswegen blieben solche Türme dort Ausnahmen. In Hainburg an der Donau findet man neben „normal“ in die Mauer eingebundenen quadratischen Türmen auch solche, die um 45 Grad über Eck gedreht waren, ein Experiment ohne Nachfolge. Wenig jünger sind wohl die zugespitzten Rundtürme im oberschlesischen Leobschütz, das vor 1224 von Ottokar I. von Böhmen gegründet wurde und dessen Mauer 1282 schon existierte (Abb. 473). Alle weiteren Beispiele stammen erst aus der Spätzeit um und
Abb. 72 Neckarbischofsheim (Baden–Württemberg), der in schriftlich „1448“ datierte fünfeckige Turm ist zeitweise als ein Vorläufer der echten Bastionen angesprochen worden, ist aber nur ein Beispiel für die Experimentierfreude der frühen Feuerwaffenzeit. (Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden, 8,1: Amtsbezirke Sinsheim, Eppingen und Wiesloch, 1909).
124 I. Systematischer Teil
nach 1400, so wohl ein Eckturm in Reichenweier / Oberelsass, ferner das rhomboide, übereck gestellte „Dreikönigstürmchen“ in Dinkelsbühl oder der runde, zugespitzte „Diebsturm“ in Grünberg / Hessen, der bergfriedartig an der Angriffsseite steht. Sind diese Bauten noch echte Türme, so sind andere schon typische Experimente der Feuerwaffenzeit, etwa ein Fünfeckturm in Mühlhausen, bei dem nur die Spitze vor die Mauer ragt, der fünfeckige Turm in Neckarbischofsheim von „1448“ (Abb. 72), der Solothurner „Krummturm“ (1462 / 63), ein Turm in Weißenburg / Mittelfranken von 1469 oder schließlich der nur unten zugespitzte, runde „Wollenweberturm“ im hessischen Korbach (1505). Der Wechsel der Grundrissform mit zunehmender Turmhöhe ist eine Form, die erst in der Spätzeit aufkam und dann nur für einzelne Türme an exponierter Stelle verwendet wurde. Die einfachste Variante war hier ein quadratischer Sockel, auf den ein runder oder auch achteckiger Oberbau aufgesetzt war. Die Häufigkeit derartiger Achtecktürme in Ostpreußen war schon angesprochen worden, in Schlesien wurde mehrfach die Rundturmvariante verwen- Wechselnder Grundriss auf verschiedenen Höhen det, und zwar bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein (Patschkau; Löwenberg, „Bunzlauer“ und „Laubaner Tor“; Abb. 73), womit man die Tortürme von Nördlingen vergleichen kann. Ein runder Turm auf quadratischem Sockel, der innen achteckig ist, ist auch der „Diebesturm“ im westfälischen Borken (um 1500). Die Seltenheit der Beispiele und die weite Entfernung zwischen ihnen verdeutlicht, dass es sich um eine Ausnahmeerscheinung handelte. Gerade als solche wurden derartige Türme allerdings auch zum Ausgangspunkt eines der eindrucksvollsten Phänomene im gesamten deutschen Stadtmauerbau – großer und auch ornamental besonders ausgestatteter „Wahrzeichentürme“, die meist an Mauerecken und an Flussufern stehen und unten im Zusammenhang anderer Entwicklungen noch besonders behandelt werden (vgl. 2.2.4.10.). Ausnahmeerscheinungen bei den Türmen waren auch Tourellen – schlanke, meist runde Türme ohne Innenraum oder mit einen Innenraum erst zuoberst, selten höher als die Mauer
(etwa Augsburg, Nordvorstadt; Limburg, „Katzenturm“; Wimpfen im Tal). Marburg / Lahn hatte, noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, so ziemlich die einzige Mauer, die diese Form mehrfach und ausnahmslos anwendete. Wenn man MarTourellen, Mauer- versprünge burg in einem erweiterten und „Scheintürme“ Sinne zum rheinischen Einflussgebiet rechnet, so ist aber die Region benannt, in der solche Formen noch am ehesten auftraten, und zwar eher noch häufiger im Burgenbau; offenbar handelte es sich um eine Sparform der weit häufigeren halbrunden Türme und Schalen. Noch sparsamer als selbst der kleinste Turm war es, einfach die Mauer selbst um ein kurzes Stück – meist 2–3 m – verspringen zu lassen. Zwar fehlte dabei die Überhöhung, aber der Versprung erlaubte den Blick und den Schuss auf die anschließende Mauerpartie, sei es vom Wehrgang aus, sei es aus tiefer sitzenden Scharten. Dass von dieser Möglichkeit so gut wie kein Gebrauch gemacht wurde, belegt ein weiteres Mal, was schon bei der Funktion der Türme selbst festgestellt worden war, dass nämlich die Idee des „flankierenden“ Beschusses in der Zeit vor den Feuerwaffen noch keine nennenswerte Rolle spielte, nicht einmal in dem Sinne, dass von den Wehrgängen und Wehrplatten aus seitlich geschossen wurde. Das eindrucksvollste, weil besonders systematische Beispiel solcher Versprünge bot die flussseitige Mauer des niederbayerischen Landshut (Abb. 74) und Ähnliches gab es in Schwäbisch Gmünd. Beide stammten erst aus der Zeit um 1400 und dem 15. Jahrhundert und das gilt auch für einen sekundär eingebauten Versprung in Marbach / Neckar, sodass man diese Fälle schon fast in die Feuerwaffenzeit einordnen kann, die ohnehin stark mit Flankierung experimentierte. Das einzige wesentlich frühere Beispiel fand ich an der Mauer von Türkheim im Elsass, die ab 1311 entstand. Als letztes, ebenfalls seltenes Phänomen, das aber die Vielfalt der formalen und ästhetischen Möglichkeiten nochmals unterstreicht, sind die „Scheintürme“ anzuführen: Bauten, die frontal von der Feldseite den Eindruck eines Turmes mit Zinnen oder Wehrgang vermitteln, während eine genaue Betrachtung zeigt, dass es sich nur um Mauerstücke handelt, die – in der gleichen Stärke
Abb. 73 Löwenberg (Schlesien), der „Bunzlauer Turm“ ist ein Beispiel eines Rundturmes mit quadratischem Sockel, wie er in Schlesien häufiger war; hier könnte der Sockel noch ins 13. Jahrhundert zurückgehen (Chr. Herrmann).
wie die Mauer selbst oder geringfügig stärker – turmartig hochgeführt sind. Sie erinnern damit an die Schildmauern der Burgen, deren Funktion sie aber nicht erfüllen konnten, weil eine vergleichsweise schmale Burg so halbwegs geschützt werden konnte, aber nicht ein Flächenphänomen wie eine Stadt (das einzige mir bekannte Beispiel einer „echten“ Schildmauer, die eine Stadt schützte, ist Esslingen, wo die Schildmauer vor 1268 der Mauer hinzugefügt wurde). Derartige Türme auf der Ecke einer Mauer – wie bei den benachbarten und verwandten Mauern von Lindenfels und Eberbach im Odenwald – könnte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
125
man noch als eine Art reduzierte Schalentürme verstehen, zumal die geknickte Grundrissform Standfestigkeit sicherte. In Stadtilm (Thüringen) oder Maienfeld (Graubünden) gibt es aber solche gezinnten Mauerstücke auch über geradem Grundriss im Mauerverlauf, die wirklich nichts anderes als ein (statisch labiler) Versuch sein können, einen Turm vorzutäuschen. Maienfeld wird dabei der nördlichste Ausläufer eines italienischen Phänomens sein, denn etwa in Venetien oder der Lombardei gab es Derartiges häufiger. Um den Verteidigern einen etwas geräumigeren und wettergeschützten Aufenthalt zu verschaffen, benötigte man nicht unbedingt einen Turm mit seinem erheblichen Bauaufwand. Man konnte vielmehr auch ein „Häuschen“ auf die Mauer selbst setzen und damit jedenfalls die Turmmauern in etlichen Metern Höhe „einsparen“. Natürlich war die Ersparnis Wehrerker umso größer, je kleiner man das Häuschen auf der Mauer machte, und dies hatte Grenzen. Insbesondere ergab die normale, deutlich unter 2 m liegende Dicke der Mauer keinen brauchbaren Innenraum mehr, wenn man nicht beide Seiten des Hauses auskragte. Diese Merkmale ergaben einen kleinen Bau von 3–5 m Länge, parallel zur Mauer gemessen, und einer Innenraumbreite von etwa 2–2,5 m, meist mit Abb. 74 Der seltene Fall einer Mauer in „Sägezahn“-Anordnung ist in Landshut (Niederbayern) in alten Darstellungen dokumentiert; rechts das Sandtner-Modell von 1571, links der Merianstich von 1657 (von Reitzenstein, Die alte bairische Stadt, 1967; Merian, Topographia Bavariae, 2. Aufl. 1657).
126 I. Systematischer Teil
einem Satteldach, dessen First gleichfalls parallel zur Mauer verlief. Steinerne Erker dieser Art kamen als vereinzelte Bauten hier und dort vor, treten aber in einer gewissen Dichte vor allem in zwei Regionen auf, die sicher nicht zufällig auch spätmittelalterliche Höhepunkte schmuckreicher Mauerarchitektur bilden, in beiden Fällen ausgehend von einem kleinteiligen Baumaterial. Einerseits findet man Wehrerker im rheinischen Schiefergebiet, mit Ausläufern am Niederrhein und im benachbarten Hessen. Sie kommen hier kaum vor 1400 auf – Zons (nach 1373; Abb. 424) dürfte ein eher frühes Beispiel sein – und reichen bis in die Feuerwaffenzeit hinüber, etwa am „Zollhof“ in Bacharach, wo sie Schlüsselscharten besaßen. Charakteristisch war im Rheinland die Vorkragung auf Konsolen oder auf Maßwerkfriesen aus Werkstein, wobei neben rechteckigen (Oberwesel) auch runde oder polygonale Erker auftraten (Boppard, Bacharach, Cochem, Ediger, ehemals Mainz, dort als „Letzen“ bezeichnet). Typisch war ferner, dass die Erker die Mauertürme nicht ersetzten, sondern nur ergänzten; gut erkennbar ist das zum Beispiel noch in Sonnenberg bei Wiesbaden oder in Ober-Ingelheim. Dies und die Tatsache, dass die Mauern der Region stets Wehrgänge besaßen, geben den Wehrerkern des Rheinlandes einen eher gestalterischen Akzent,
während sie wehrtechnisch nicht wirklich notwendig erscheinen. Als Ausnahme, wo tatsächlich ein Mauertor von einem Wehrerker überhöht wird, sodass gleichsam ein Torturm vorgetäuscht wird, ist das „Balduinstor“ in Cochem (Mitte des 14. Jahrhunderts) zu nennen. Das andere Gebiet mit etwas höherer Dichte von Wehrerkern ist die Backsteinregion, in der sie mit den Mauern als Ganzes gleichfalls fast immer ins 14. / 15. Jahrhundert gehören. Da in Brandenburg und darüber hinaus wehrganglose Mauern verbreitet waren, muss man die Erker hier, wo sie gleichfalls fast immer mittig zwischen den Türmen bzw. Wiekhäusern saßen, in höherem Maße funktional verstehen: Sie vermehrten die Standplätze der Verteidiger. Typisch sind hier hohe, aus Backstein aufgemauerte Konsolen bzw. regelrechte schmale Stützpfeiler. Wohlerhaltene Beispiele findet man noch in Neumarkt und Bernstadt (Schlesien), in Brandenburg in Beeskow, Friedeberg, Prenzlau und Königsberg (Neumark), schließlich in Pyritz / Pommern, wo sie außen aus dem Anzug senkrecht aufsteigen und damit geradezu an flache Wiekhäuser erinnern, während sie stadtseitig auf 3,5 m hohen Backsteinkonsolen ruhen (Abb. 75). Eine naheliegende Annahme ist im Übrigen, dass derartige Erker weitaus häufiger waren, als wir es noch feststellen können, und zwar als Holzkonstruktionen, von denen wegen des witterungsbedingten Verfalls vor allem der Mauerkronen alle Spuren verschwunden sind. Die erhaltenen oder belegbaren Erker aus Mauerwerk wären dann lediglich die besonders aufwendige Spätform eines weit häufigeren Phänomens. Nur besonders frühe Abbildungen wie etwa in den „Schweizer Chroniken“ der Zeit um 1500 können derartige Konstruktionen noch belegen. Eine Mischung aus einem echten Turm und einem Erker ist jene Form, bei der ein schlanker Turm auf Strebepfeilern ruht, die einseitig oder beidseitig aus der Mauer vorspringen. Die Strebepfeiler geben dabei bessere Stabilität – wichtig vor allem, wenn ein Erkertürme höherer, turmartiger Aufbau darauf sitzt (Abb. 76) –, während zugleich gegenüber einem normalen Turm Mauerwerk eingespart wird. Alle mir bekannt gewordenen „Türme“ dieser Art gehören erst in die Zeit um 1400 und
Abb. 75 Beeskow (Brandenburg), Wehrerker, hier wohl aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Wehrerker sind, verglichen mit Türmen, eine Sparform, die nur noch selten erhalten ist, aber oft verschwunden sein dürfte. Abb. 76 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), Feldseite eines Rundturmes, der beidseitig auf Strebepfeiler aufgesetzt ist, an der Westseite der äußeren Mauer (spätes 14. Jahrhundert).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
127
danach. Auch sie sind nur in wenigen Gebieten etwas häufiger, vor allem in Franken. Dort sind mehrere schlanke Rundtürme an der Mauer von Rothenburg die wohl berühmtesten Bauten dieser Art, insbesondere der „Große“ und der „Kleine Stern“ in der Spitalvorstadt (um 1410–15). Weitere weniger beachtete Beispiele gibt es aber in Feuchtwangen (um 1388 / 95), dessen elf runde oder eckige Türme alle auf Strebepfeilern balancierten; andere Fälle findet man in Ansbach, Langenzenn, Fladungen, Neustadt, Heidingsfeld, Homburg, Zeil und in Württembergisch Franken in Niedernhall, Laufen, Grünsfeld, Freudenberg, Wimpfen im Tal und Marbach. Am Niederrhein bietet wiederum Zons neben den Erkerhäuschen auch einen Achteckturm auf Strebepfeilerfuß, während in Mayen und Rhens als Sonderfall regionaltypische Halbrundtürme vorkommen, die ausnahmsweise nicht in die Mauergasse vorspringen, sondern nur über sie auskragen. Im Backsteingebiet ist schließlich wieder Beeskow zu nennen, zudem zwei Türme in Hinterpommern, ein achteckiger in Gollnow, ein rechteckiger in Lassan. Erker auf Strebepfeilern – also keine mehrgeschossigen Aufbauten, sondern nur kleine, brustwehrgeschützte Plattformen – waren dagegen selten; dies überrascht nicht, denn für das geringe Gewicht war der Strebepfeiler im Grunde überflüssig. Ein schönes Beispiel ist in Mühlhausen / Thüringen erhalten; der rechteckige Erker besitzt je eine Zinnenlücke pro Seite und einen umlaufenden Wasserschlag (Abb. 453). Auch die verschwundene äußere Mauer von Erfurt (um 1410–83) besaß mehrere Runderker auf Strebepfeilern. 2.2.4.8. Entwicklung des Schalenturms Der Schalenturm – ein Turm, der nur zum Feld hin dreiseitig geschlossen ist, während die stadtseitige Wand fehlt – ist bei den Stadtmauern des deutschsprachigen Raumes ein sehr häufiges Phänomen; vermutlich waren Schalentürme sogar häufiger als (allseitig geschlossene) Volltürme. Eine statistisch gesicherte Aussage ist in diesem Punkt nicht möglich, einerseits, weil ein hoher Prozentsatz der ehemals vorhandenen Türme undokumentiert verschwunden ist, andererseits, weil selbst bei einem erhaltenen Turm nicht immer einfach zu erkennen ist, ob 128 I. Systematischer Teil
er ursprünglich ein Schalenturm war. Denn viele Schalentürme sind nachträglich auch an der Stadtseite geschlossen worden und dort, wo dies in Mauerwerk geschah oder gar verputzt wurde, ist der ursprüngliche Charakter des Schalenturmes meist nicht mehr abzulesen. Nur Rissbildungen machen diese Entwicklung gelegentlich erkennbar und ganz klar wird die Sache fast immer anhand eines Grundrisses, der die deutlich dünnere Wand zur Stadt zeigt; nur fehlt ein solcher Grundriss bisher in den meisten Fällen. Neben gemauerten Rückwänden, die nach Fenster- und anderen Formen durchaus noch manchmal ins 14. / 15. Jahrhundert gehören dürften, gibt es bei ursprünglichen Schalentürmen auch verschiedentlich Rückwände in Fachwerk (Abb. 77), die in ihrem heutigen Zustand so gut wie nie ins Mittelalter zurückgehen. Bei der Witterungsanfälligkeit von Holzkonstruktionen, insbesondere bei hoch aufragenden, dem Regen besonders ausgesetzten Bauten, die zudem seit dem 17. Jahrhundert meist kaum noch gepflegt wurden, bedeutet dies allerdings nicht viel; die ab dem Spätmittelalter zu beobachtende Tendenz, die unangreifbare Seite des Schalenturmes mit einer dünneren, aus Holz gebauten Wand zwar nicht vor Angriffen, wohl aber gegen die Witterung zu schützen, kann dennoch weit zurückreichen, ohne dass wir dies noch belegen könnten. In diesem Licht sind auch die Gründe für die Schalenform als solche zu reflektieren; Schriftquellen dazu fehlen, wie praktisch immer zu solch rein funktionalen Aspekten. Im 19. Jahrhundert, in dem man betont militärisch dachte, wurde gelegentlich erwogen, die offene Rückseite habe dem leichteren Transport von Kriegsmaterial in die Turmgeschosse gedient. Das ist kein unsinniger Gedanke, jedoch hätten große Luken wie etwa in Speichern dasselbe ermöglicht, ohne das eingelagerte Material der Witterung auszusetzen. Deswegen wird man auch bei den Schalentürmen an den wirtschaftlichen Aspekt denken müssen, der schon bei Material und Bautechnik, auch bei der Form der turmarmen Mauer, berührt worden war. Die Rückwand wegzulassen oder sie in billigerer Technik auszuführen, bedeutete eine erhebliche Einsparung an Material, Steinbruchund Maurerarbeit, ohne dass ein statischer oder wehrtechnischer Nachteil damit verbunden war,
Abb. 77 Die Rückseite von Schalentürmen ist heute nur noch selten offen (links: Oberwesel, Rheinland-Pfalz, der restaurierte „Stein gassenturm“ von 1243). Die Türme wurden meist – und wohl auch schon früh – mit einer leichten (Fachwerk-)Wand geschlossen, um die Geschosse nutzen zu können, rechts Reichenweier im Elsass, Obertor („Dolder“, um 1300, Fachwerk spätes 16. Jh.).
denn der Angreifer konnte den Turm von hinten erst angreifen, wenn er bereits in der Stadt und damit ohnehin alles verloren war. Schon ab der Mitte des 13. Jahrhunderts macht es keinen Sinn mehr, die Entwicklung und Verbreitung des Schalenturmes zu untersuchen, denn ab dieser Zeit war die Form enorm weit verbreitet. Sucht man nach den Anfängen, so ist zunächst einmal festzustellen, dass Schalentürme in der Antike, Anfänge im 13. Jahrhundert insbesondere in spätrömischer Zeit, offenbar unbekannt waren, archäologisch nicht ganz sichere Einzelfälle beiseitegelassen. Sie waren demnach zumindest in Europa eine mittelalterliche „Erfindung“ und als solche sind sie schon recht bald nach 1200 nachzuweisen, und zwar sowohl bei Mauertürmen als auch bei Tortürmen. In Duisburg wird die ergrabene polygonale Schale, die später als „Koblenzer Turm“ neu errichtet wurde, schon auf um 1200 datiert (Abb.
420). Dass ein so früher Schalenturm denkbar ist, zeigen die zahlreichen Halbrundschalen der ab etwa 1210 errichteten äußeren Mauer von Köln (Abb. 66), deren Erdgeschoss in der Halbkuppel überwölbt war, und auch die vielleicht von Köln beeinflussten, ab 1217 entstandenen halbrunden Backsteinschalen von Lübeck (Abb. 67). Ob es Vergleichbares auch in Österreich dermaßen früh gab, etwa in Bruck / Leitha, müsste dagegen noch genauer erforscht werden. Im deutschen Südwesten, wo die Mauertürme ohnehin erst weit später aufkommen, ist der bergfriedartig allein stehende Rottweiler „Hochturm“ (Abb. 78) trotz dieser Isolierung ein wichtiger Vorläufer der Schalentürme, denn schon der Erstbau öffnete sich in jedem Geschoss in zwei Rundbögen zur Stadt und die bald folgende Erhöhung, noch gegen 1240, wiederholte dies mit Spitzbögen. Dass unter den sekundär an die Mauer gesetzten Schalen in Oberwesel der „Rheingassenturm“ (Abb. 77) auf 1243 dendrodatiert wer2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
129
den konnte, ist damit schon keiner der ältesten Fälle mehr. Und dass die Form schon bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts auch die Gebiete ganz im Osten erreicht hatte, können die ordensländischen Mauern von Thorn / Altstadt (um 1250–62) und Kulm (um 1267) belegen, die schon rechteckige Schalen aufweisen, in Kulm auch einige halbrunde. Frühe Tortürme, die sich zumindest im Obergeschoss zur Stadt öffneten, waren etwa das Eisenacher „Nicolaitor“ (wohl um 1200) und der „Zeitglocken / Zytgloggen“, das erste Westtor von Bern (um 1220 / 30); beide wurden später geschlossen und erhöht. Aus wenig späterer, noch romanischer Zeit stammten beispielsweise der verschwundene „Spalenschwibbogen“ in Basel und der Nürnberger „Laufer Schlagturm“, die beide anfangs Schalen waren. Später war der Typus des Torturmes weitverbreitet, der nur das Erdgeschoss stadtseitig „schloss“, also ein Tor mit
Abb. 78 Rottweil (Baden-Württemberg), der „Hochturm“ von der Stadtseite mit den drei eine Art Schalenturm bildenden großen Öffnungen (zwei Bauphasen bis um 1240) sowie dem Aufsatz von 1579 (C. Meckseper).
130 I. Systematischer Teil
Gewände einbaute, darüber aber den Turm völlig öffnete. Dass die Rückseite von Türmen sich nicht gänzlich, sondern nur geschossweise in Bögen öffnete – die manchmal ein dahinterliegendes Gewölbe spiegeln, öfter aber nur gewöhnliche Balkendecken maskieren –, ist ohnehin mehrfach zu beobachten. Am Oberrhein findet man etwa schon bei den noch romanisch wirkenden Rechtecktürmen von Worms (um 1200 bis mindestens 1230) geschossweise Doppelbögen, ähnlich, fast maßwerkartig, am eng verwandten „Altpörtel“ in Speyer (Abb. 79). Bei den Toren ist außerdem auf das noch romanische, 1228 erwähnte „Rheintor“ in Andernach zu verweisen, das in beiden Geschossen jeweils als tonnengewölbter Raum geöffnet war. Dass diese Form aber auch später nicht ausstarb, zeigen etwa – als im weitesten Sinne rheinische Beispiele – der „Tylenturm“ in Korbach, mehrere Türme in Soest mit Doppelöffnungen (um 1250), der ganz ähnliche „Bocksturm“ in Osnabrück, der das Motiv viergeschossig aufweist, und noch später der entsprechende Heidelberger „Hexenturm“. Selten waren dagegen stadtseitig geschlossene Türme, die sich nur erdgeschossig im Bogen öffneten (Münstereifel, Göttingen, beide Mitte des 13. Jahrhunderts). Die Verbreitung früher Schalen, die sich zur Stadt nicht einfach in voller Höhe und Breite öffneten – wie es ab dem späten 13. Jahrhundert normal war –, sondern vielmehr geschossweise als Bogen oder Doppelbogen, könnte man als Indiz verstehen, dass der Schalenturm damals erst aus Volltürmen entwickelt wurde, wie sie an frühen Stadtmauern, noch mehr aber auf Burgen auftraten. Man hätte dann zunächst nicht gewagt, die bei einer Stadt besser geschützte Rückwand einfach total wegzulassen, sondern zunächst nur geschossweise Öffnungen vorgesehen, aus den schon diskutierten Gründen der Sparsamkeit und des Materialtransports. Zugleich blieb dem Turm dabei auch noch halbwegs jene Optik der Geschlossenheit und Solidität, die man in der Romanik offenbar für unabdingbar hielt. Erst nach dem Übergang zur Gotik, die ihre Konstruktion allgemein offener zeigte, und mit der Entstehung nun zahlloser Mauertürme hätte man im Sinne dieser These die Hemmungen verloren, das Mauerwerk einer Turmseite vollständig wegzulassen
Abb. 79 Speyer, das Altpörtel (Unterteil bis unter die große Uhr um 1230–50), Ansichten der Feld- und Stadtseite. Die Ausbildung der Stadtseite kann als reichere Variante eines Schalenturmes verstanden werden (J. Behles, Das Altpörtel zu Speyer, 1978).
und damit entweder sein Inneres oder eine weitaus „billigere“ Wand zu zeigen. 2.2.4.9. Öffnungen und Ornamentik Angesichts der Tatsache, dass die Mauertürme so gut wie ausschließlich Wehrfunktionen erfüllten, und dass sie insbesondere kaum je bewohnbare Räume enthielten (vgl. 2.2.4.1. und 2.), kann es nicht überraschen, dass „Schmuck“ im weitesten Sinne an den Türmen fast völlig fehlte. Die Strenge des Baukörpers, die Qualität der Mauertechnik und auch die gesamthafte Wirkung der Türme einer Stadt, der „Turmkranz“ des 19. Jahrhunderts, waren die ästhetischen Mittel, die hier zur Anwendung kamen, vergleichbar mit der Ästhetik von Burgen, aber noch reduzierter als dort, wo es neben Mauern und Türmen auch Wohn-, Repräsentations- und Sakralbauten gab. Insbesondere galt diese Beschränkung der Gestaltungsmittel für die Zeit bis etwa Mitte des 14. Jahrhunderts; danach traten im Zeichen der Spätgotik einige zusätzliche Gliederungs-
elemente auf, die in aller Zurückhaltung die Strenge der Bauten etwas milderten. Auch dann allerdings blieb es eine seltene Ausnahme, dass mehrere Schmuckelemente gemeinsam einen Bau aufwerteten (vgl. 2.2.4.10.). Einen Sonderfall bildete in dieser Zeit jedoch das Backsteingebiet, wo sich – begünstigt durch die Normierung des Baumaterials und die leichte Herstellbarkeit von Profilen, Friesen usw. – ein ganz eigenes, ausnahmsweise nicht auf die Stadtmauern beschränktes System spezifischer Schmuckformen herausbildete. Im Inneren normaler Mauertürme – also nicht bei den seltenen Ausnahmefällen, die doch Zusatzfunktionen übernahmen, und auch nicht bei Tortürmen – fehlte praktisch jeder Schmuck. Zwar haben neuzeitliche Umbauten, vor allem zu Wohnzwecken oder als Gefängnisse, viele Türme verändert und viele weitere sind bisher nie untersucht oder auch nur im Detail beschrieben worden, aber es kann kein Zufall sein, dass die doch umfangreiche Literatur und die nicht 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
131
wenigen Besichtigungen, die ich selbst vornahm, nirgends Reste von mittelalterlichen Wandmalereien, profilierten Pforten und Nischen oder gar von Reliefs oder Skulpturen festgestellt haben; offenbar gab es sie nicht. Auch die gelegentlich auftretenden Gewölbe – am ehesten über dem Erdgeschoss oder unter der Wehrplatte – waren offenbar rein funktionaler Natur, das heißt, sie schützten gegen Brand oder schufen eine tragfähigere Decke als die weitaus üblicheren Balkendecken. Dementsprechend waren es in der Regel einfache Tonnen oder höchstens Kreuzgratgewölbe. Entsprechend dem rein funktionalen Charak ter der Innenräume, waren auch die Pforten – von der Stadt in den Turm, ganz selten als bergfriedartige Hocheinstiege oder als Verbindung zu den anschließenden Wehrgängen – in der Regel von einfachster Art. Zwar gab es neben Rechteckpforten durchaus auch den Spitz- oder Rundbogen, aber schon eine einfache Fase des Gewändes war eine Ausnahme. Noch reichere Profilierungen kommen kaum vor und sind dann Hinweise auf eine Sonderfunktion des Turmes. Als Beispiel sei das gestäbte Gewände zum Obergeschoss des Rundturmes an einer Ecke von Balingen genannt (wohl um 1430) – der Turm gehörte zwar zum Zwinger der Stadtmauer, war aber mit der Stadtburg verbunden und wurde von den Burgherren mitgenutzt, eine absolute Ausnahme – und ohnehin keine Schmuckform war die Zugbrücke am Hocheinstieg des Turmes, der neben dem „Neustädter Tor“ in Zülz (Schlesien) stand (Abb. 477). Fenster waren an Mauertürmen a priori eher selten, denn zur Feldseite waren sie nicht sinnvoll, zur Stadtseite besaß ein großer Teil der Türme ohnehin keine Wand. Nur wenn man die Innenräume eines Vollturmes etFensterformen was besser belichten wollte, als es durch die Scharten möglich war, wurden wenige Fenster eingebaut, am ehesten an der Stadtseite oder in den oberen Teilen; gerade im Geschoss unter der Wehrplatte kommt dies vor, das wahrscheinlich oft als zwar primitiver, aber wettergeschützter Aufenthalt der Wächter diente. Der größte Teil der originalen Fenster an Mauertürmen – auch hier stammt der Großteil heute vorhandener Fenster erst von nachmittelalterli132 I. Systematischer Teil
chen Umbauten – ist von einfachster Form, in der Regel klein, rechteckig und mit unprofiliertem Gewände. Extreme Beispiele, dass hier das Billigste gerade gut genug war, findet man im Rheinischen Schiefergebirge – das Schiefermauerwerk ist sehr witterungsgefährdet und muss zur Vermeidung von schnellem Verfall sorgfältig unter Putz gehalten werden; die Einfassung von Öffnungen mit Werkstein (Basalt, Sandstein) oder zumindest Holz war hier eigentlich geboten. Da aber solches Material Zusatzkosten bei Transport und Bearbeitung verursacht hätte, sparte man es dennoch fast immer ein. Bis ins mittlere 14. Jahrhundert blieben etwas reichere Fensterformen seltene Ausnahmen. So fand man etwa an einem der Türme in Zürich (Mitte / zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) ein spitzbogiges Doppelfenster und ein ähnliches ist am „Straubinger Turm“ in Cham (Oberpfalz) erhalten. Beide zeigen zum Feld, ein Kreuzstockfenster im „Langen Turm“ in Aachen jedoch zur Stadt, ähnlich wie am „Grauen Turm“ in Fritzlar (Abb. 55). Etwas jüngere, spitzbogig genaste Doppelfenster findet man an mehreren großen Rechteckschalen in Quedlinburg, die wohl nach 1337 entstanden. Ab dem späteren 14. Jahrhundert wurden die Formen der Fenster an den Mauertürmen ein wenig „reicher“, was aber im Grunde nur heißt, dass sie der allgemeinen Entwicklung einfacher Fensterformen in der Spätgotik folgten, ohne sich den weit aufwendigeren Formen des repräsentativen Profan- oder gar des Sakralbaues ernsthaft zu nähern. Noch immer war die weit überwiegende Anzahl der Fenster klein und rechteckig, aber nun traten – zumindest im Westen und Süden des deutschen Raumes – manchmal einfache Profilierungen wie Fase oder Kehlung auf, auch schlichteste Formen des Anlaufes. Als Gegenbeispiel kann etwa das Ordensland Preußen dienen, wo ich im gesamten erhaltenen Bestand nur noch ein einziges profiliertes Fenster notieren konnte (Braunsberg, „Pfaffenturm“). In Westfalen und dem südlichen Niedersachsen findet man im 15. Jahrhundert gelegentlich kleine „Gesimse“ aus einfachen Steinplatten über Rechteckfenstern (Stadthagen, Bodenwerder, Einbeck). Echte, etwas aufwendigere Schmuckformen an Rechteckfenstern sind erst im 16. Jahrhundert zu finden, in dem sie schon deswegen extrem selten
bleiben, weil kaum noch Neubauten an den Mauern entstanden; genannt sei etwa ein Eckturm der Mauer von Flörsheim (Rheinhessen, 1547 / 48) mit typischen großen Renaissancefenstern. Mehrlichtige Fenster blieben auch im späten 14. Jahrhundert und danach eine extreme Ausnahme. Ab etwa 1370 treten im nördlichen Rheinland an manchen Mauertürmen Kreuzstockfenster und Rechteckfenster mit einem Kämpfer auf, größer als die sonst üblichen Fenster und mit Werksteingewänden; Zierfriese aus Werkstein begleiten sie häufig. Weiter östlich trifft man Derartiges nur selten; die zweilichtigen Rechteckfenster der Türme in Langensalza (Thüringen; ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) seien als Beispiel genannt, oder zwei Türme in Aken (Sachsen-Anhalt). Ebenso selten waren Fenster, die den Spitzbogen verwendeten oder gar auf Maßwerkformen anspielten. Das nach heutigem Kenntnisstand einzigartige Gruppenfenster des „Kaiserturmes“ in Villingen (1390 / 91; Abb. 56) war schon angesprochen worden. Der Einfluss von Maßwerkformen beschränkt sich auf seltene genaste Spitzbogen fenster wie etwa am „Beginnenturm“ in Hanno ver (vor 1357) oder an mehreren Türmen der äußeren Mauer von Dinkelsbühl (um 1372– 1420), die in Wahrheit doch nur kleine Rechteckfenster mit Blendmaßwerk auf dem Sturz sind (Abb. 80). Echte Maßwerkfenster findet man dann erst in der letzten Phase der Spätgotik, etwa am „Leipziger Turm“ in Halle (vor 1478), der das zweite Vortor des „Galgtores“ sicherte (Abb. 228). Als absoluten Einzelfall kann man ein geohrtes Fenster, wohl des mittleren 16. Jahrhunderts, in Heldburg (Thüringen) an den Abschluss dieser Auflistung setzen. Der Schaft der Türme bzw. die große Mauerfläche, die er bot, wurde kaum je durch angefügte oder vorspringende Bauteile gegliedert oder bereichert. Erker kamen zwar vor, waren aber rein funktionale Bauteile, nämlich Aborte oder Wurferker. Dabei sind Aborterker offenbar weit häufiger gewesen; sie lagen meist in den Geschossen, durch die der Wehrgang führte – hier waren sie auch für alle Verteidiger schnell zu erreichen und lagen meist geschützt in der Ecke zur Mauer –, oder in dem Geschoss direkt unter der Wehrplatte, das man in solchen Fällen für eine Wächterstube halten darf. Wehrerker –
Abb. 80 Dinkelsbühl (Mittelfranken), „Krugsturm“ (nach 1372). Fenster mit Schmuckformen, hier mit Blendmaßwerk, waren an einfachen Mauertürmen ausgesprochene Ausnahmen.
ein Element, das durchaus ästhetisch eingesetzt werden kann, wie man außerhalb des deutschen Raumes bzw. im Burgenbau verschiedentlich sehen kann – sind bei den deutschen Mauertürmen gleichfalls die große Ausnahme. Zwar mögen Holzerker bzw. Hurden häufiger gewesen sein, als wir das heute feststellen können – die ungewöhnlich gut erhaltenen Türme in Oberwesel waren als Beispiel Das Äußere der Mauertürme für Hurden schon genannt worden –, aber steinerne Erker waren selten. Gelegentlich findet man sie bei den späten Rundtürmen in Hessen (14. / 15. Jahrhundert), besonders eindrucksvoll etwa in Grebenstein (um 1400; Abb. 89); auch ein Turm in Borgentreich (Westfalen) ist zu nennen. Wie wenig die zusätzliche Gliederung des Baukörpers von Interesse war, zeigt auch das Fehlen von Strebepfeilern, die im gleichzeitigen gotischen Sakralbau ein ungemein verbreitetes Gliederungselement waren und auch in den Burgenbau, etwa der Backsteinregionen, wenigstens gelegentlich Eingang gefunden hatten. Natürlich waren Strebepfeiler primär ein konstruktives Element, das durch Gewölbe erforderlich wurde und damit bei den fast immer gewölbelosen und zudem dickwandigen Stadtmauertürmen ent2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
133
behrlich war. Dennoch kamen sie vor, und zwar als Abstützung gegen den vorgelagerten Graben, jedoch nur bei Tortürmen (Worms, Ladenburg, Ulm). Bei einfachen Mauertürmen habe ich im gesamten deutschen Sprachraum nur ein einziges Beispiel gefunden, einen unauffälligen kleinen Turm des 14. / 15. Jahrhunderts in dem brandenburgischen Städtchen Triebel. Nach den bisherigen Ausführungen über Pforten- und Fensterformen sowie die Einfachheit des Baukörpers ergibt sich schon logisch, dass die im Sakral- und im anspruchsvolleren Profanbau der Romanik und Gotik wichtigsten Schmuckarten und -formen bei Stadtmauertürmen keine Rolle spielten. Den Türmen fehlten – im Gegensatz zu den Toren (vgl. 2.2.5. und 2.2.6.) – Inhalt und „Bedeutung“, die sich auf dieser Ebene hätten spiegeln können, und die Mauer war ohnehin teuer genug, sodass offensichtlich jeder nicht unbedingt nötige Kostenfaktor unterdrückt wurde. Die einzige Ausnahme von dieser Regel hatte charakteristischerweise eine große, an den Burgen bis ins 12. Jahrhundert zurückgehende Tradition: das Buckelquaderwerk (vgl. 2.2.2.3.). Viele Buckelquadertürme an derselben Mauer oder gar eine ganze Mauer aus Buckelquadern waren zwar seltene Ausnahmen; hier ist vor allem an die äußere Mauer von Nürnberg und an ihre Nachfolger im Franken des 14. Jahrhunderts zu erinnern. Aber einzelne Türme mit Buckelquaderwänden kamen auch sonst vor, vor allem im süddeutschen Raum, und zwar ebenfalls vom 13. bis ins frühe 15. Jahrhundert. Nur ein Gestaltungselement spielte unter diesen Voraussetzungen ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine etwas wichtigere Rolle, nämlich die Gliederung der Mauerflächen durch einfache Horizontalbetonungen wie Absätze, Gesimse und Friese. Die Unterteilung des hoch aufragenden Turmkörpers in geschossähnliche Abschnitte, im Sinne eines besseren Gleichgewichts zwischen vertikalen und horizontalen Kräften, war eine naheliegende Maßnahme, sofern man einfache Türme überhaupt als ObHorizontal- jekt bewusster Gestaltung ansah. gliederungen Aber auch bei der Mauer selbst trat gleichzeitig die optische Abgrenzung des Wehrganges mit gleichen Mitteln auf (vgl. 2.2.3.4.), also die gestalterische Betonung eines funktionalen Unterschiedes. 134 I. Systematischer Teil
Als Beispiele eher einfacher Gliederungen, die aber systematisch und in großem Maßstab angewendet wurden, seien aus dieser Phase die äußeren Mauern von Nürnberg und Ingolstadt genannt; in Nürnberg – und Nachfolgern wie Altdorf und Lauf – waren der Wehrgang und manchmal auch die Wehrplatten von Türmen durch Unterschrägung abgesetzt, in Ingolstadt sind es die Wehrplatten der zahlreichen Schalentürme. Diese Betonung der Wehrplatten durch vorspringende Schrägen unter der Brustwehr war ohnehin recht häufig; zum Beispiel zeigen dies etliche Türme in Langensalza (Thüringen). Im 15. Jahrhundert wird es geradezu normal, etwa an zahlreichen Rundtürmen des fränkischen und auch schwäbischen Raumes, hier oft als Wasserschläge. Auch in Hessen war die Absetzung der Wehrplatte im 14. / 15. Jahrhundert häufig, in einfacher Weise durch ein vorgestrecktes Steinband oder das Vorspringen der gesamten Brustwehr, etwas aufwendiger als schräge oder unterkehlte Vorkragung, manchmal über Rund- oder Spitzbogenfriesen, die, sicherlich nach rheinischen Vorbildern, in Nordhessen vorkamen. Fast verbindlich waren einfache Absätze oder unterkehlte Gesimse, unter dem Wehrgang oder auch zwischen Geschossen, an den Rondellen und Streichwehren des 15. / 16. Jahrhunderts, wie etwa vielfach in Vellberg (1466–99). Als späte Beispiele seien die Wasserschläge und Cordongesimse der Rondelle im thüringischen Themar angeführt, erst aus dem 16. / 17. Jahrhundert. Im preußischen Ordensland war der Wehrgang dagegen oft durch zwei Backsteinreihen abgesetzt, zwischen denen ein horizontales Band geputzt und wohl auch farbig gefasst war – technisch ein typisches Mittel der Backsteinregion. Wasserschläge in mehreren Höhen eines Turmes blieben dagegen auf größere bzw. besonders wichtige Türme beschränkt, und dies waren überwiegend die Tortürme. Ein gutes Beispiel ist die äußere Mauer von Dinkelsbühl mit vielfältigen Turmformen, unter denen nur Tor- und die größten Rechtecktürme diese Gesimse zeigen (Abb. 81). Ein Einzelbeispiel ist ein mächtiger, rechteckiger Schalenturm in Lich (Hessen, um 1400), der charakteristischerweise im 15. / 16. Jahrhundert zum Kirchturm aufgerüstet wurde. Weitaus verbreiteter, obwohl zugleich aufwendiger, waren im 14. / 15. Jahrhundert Friese,
insbesondere Bogenfriese. Sie kamen praktisch nur unter der Wehrplatte bzw. den Brustwehren vor und verwendeten fast immer Rundbögen; die seltenen Spitzbögen machten optisch wenig Unterschied (Bretten, „Simmelturm“ mit Reliefzier, um 1450?). Hier gab es ein eindeutiges Hauptverbreitungsgebiet, in dem die Beispiele dermaßen häufig sind, dass einzelne Städte nicht genannt werden müssen; es umfasste Wehrbauten aller Art, also neben Stadt- und Dorfmauern vor allem auch Burgen. Dieses Gebiet umfasste den Mittelrhein, im Sinne des Schiefergebirges, aber auch des nördlichen Oberrheins, sodass die Territorien von Mainz – die spätmittelalterliche Mauererhöhung von Mainz besaß Rundbogenfriese – und der Pfalzgrafen als Zentrum erscheinen müssen. Dass die Rundbogenfriese insoweit eine politische Bedeutung besaßen, scheint aber angesichts ihrer Verbreitung über viele, auch kleine Herrschaften kaum belegbar. Neben den Städten und befestigten Dörfern am Mittelrhein, in Rheinhessen, am Pfälzerwald und in den südlichen Teilen des heutigen Hessen bis zum Odenwald – eines geographisch recht geschlossenen Bereiches – fällt besonders das weite Ausgreifen nach Osten auf. Das Gebiet vor dem Spessart gehörte noch zu Mainz, aber die Rundbogenfriese sogar im Bereich des Neckars und seiner Nebenflüsse sind dennoch häufig; genannt sei hier Möckmühl (vor 1373), wo nicht nur die Rundtürme, sondern auch der Wehrgang Rundbogenfriese besitzen, die farbig gefasst waren (Abb. 82). Als Ausläufer besonders weit im Norden und Osten seien Borken in Westfalen (Diebesturm 1504) und Schmalkalden in Thüringen („Pulverturm“, 15. Jahrhundert) genannt. Maßwerkfriese, ein weit aufwendigerer Schmuck, der auch besseres Steinmaterial erforderte, scheinen erst im 15. Jahrhundert aufgekommen zu sein, meist ebenfalls in rundbogiger Form. Auch hier lag das Hauptverbreitungsgebiet an Burgen, Stadtmauern und anderen städtischen Bauten am Rhein, vor allem am Niederrhein, wo der Eifelbasalt verwendet werden konnte. Als Beispiel in ganz anderer Region sei die Traufe des „Weißen Turms“ (1476–84) in Biberach in Oberschwaben angeführt (Abb. 231). Mit den Bogenfriesen, die sich ja in aller Regel im obersten Teil der Türme befanden – unter der Brustwehr oder sogar direkt unter der Traufe –,
Abb. 81 Dinkelsbühl (Mittelfranken), der „Dönersturm“ ist eines der seltenen Beispiele für die Verwendung von Stockwerkgesimsen an einem Stadtmauerturm; sie sind hier allerdings auf die Ecken beschränkt.
war schon jene Zone der Türme berührt worden, die ab dem späten 14. Jahrhundert am stärksten durchgestaltet wurde, nämlich der obere Abschluss und das Dach. Jedoch bleiben noch einige ornamentale Möglichkeiten anzusprechen, die Abb. 82 Möckmühl (Württembergisch Franken), Mauer und Turm (vor 1373) an der Ostseite der Stadt mit Rundbogenfriesen, die ursprünglich farbig gefasst waren.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
135
sich auf den Turmschaft bzw. die Wandflächen beziehen und, über Fenster und Wappen, Reliefs, Friese hinaus, überhaupt erst Bemalung den Bereich der Ornamentik im eigentlichen Sinne berühren; dementsprechend ist hier die Rede von extrem seltenen Erscheinungen. Das Wappen der Stadtherrschaft bzw. der Stadt selbst war im Spätmittelalter das wichtigste Herrschaftszeichen, das daher gerne auch an der Mauern gezeigt wurde. Ebenso begreiflich ist allerdings, dass es vor allem dort angebracht wurde, wo es der Ankömmling gut sehen konnte, also an den Toren (vgl. 2.3.5.8; Abb. 83). Wappen an Mauertürmen sind selten; am ehesten treten sie noch an jenen Türmen auf, die an besonders angreifbarer oder zumindest sichtbarer Stelle angeordnet und daher ohnehin voluminöser und aufwendiger ausgestattet waren. Als Beispiele seien hier der „Dönersturm“ in der um 1372–1420 errichteten Mauer von Dinkelsbühl (Abb. 81) genannt, ferner der „Kattenturm“ (noch 14. Jahrhundert?) in Wolfhagen (Hessen), schließlich der „Romäusturm“ in Villingen (an der Erhöhung von 1429 / 39); das Wappen der Stadt und jenes des Reiches am „Dicken Zwinger“ in Goslar (1517) ist ein Beispiel, dass Artillerietürme auch insoweit Nachfolger der Mauertürme waren. Abb. 83 Dinkelsbühl (Mittelfranken), Wappen am „Rothenburger Tor“, rechts die drei Ähren des Stadtwappens, links der Reichsadler; die Farbfassung ist modern. Im Vordergrund sieht man die Schießscharten des Vortores.
136 I. Systematischer Teil
Entsprechend selten waren Reliefs oder gar Skulpturen anderen Inhalts an Mauertürmen. Wenn am „Zollturm“ in Zons ein „1388“ datiertes Relief den Stadtgründer mit St. Petrus in einer Maßwerknische zeigt, so ist dies ein Höhepunkt der Gestaltung; freilich war dies als Wohnturm einer Zollstelle ein Sonderbau, der zudem Rechte eines Erzbistums sicherte. Vergleichbar war die Statue des namengebenden Heiligen am Basler „Thomasturm“ (um 1400), die das flussab liegende Mauereck am Rhein akzentuierte und sich an die Schiffer wandte. Bescheidener wirkt der wappenhaltende Engel am Traufgesims des Vaihinger „Pulverturmes“, der 1493 als Stiftung zweier Familien entstand (Abb. 84), und auch die Renaissancemaske am Meininger „Wasserturm“ ist ein Sonderfall, da der Turm zu einem vornehmen Wohnhaus gehörte. Alle diese Beispiele von Wappen und Reliefs sind außerdem nicht nur seltene Ausnahmen, sondern sie gehören auch in die Spätphase des Mauerbaues ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Ein weiterer Aspekt der Außengestaltung von Mauertürmen ist uns heute praktisch nicht mehr greifbar, dürfte aber eine wichtige Rolle gespielt haben – die Bemalung. Bei Stadtmauern und ihren Türmen spielte zu allen Zeiten das billige Bruchsteinmauerwerk eine wichtige Rolle, damit auch der Verputz, und man kann sich daher gut vorstellen, dass zumindest exponierte Türme gelegentlich farbig gestaltet waren. Da es sich dabei um nichts unbedingt Nötiges handelte und die Mauern ohnehin teure Instandhaltung forderten, da zudem spätestens im 17. Jahrhundert eine lange Phase der Vernachlässigung einsetzte, ist davon kaum je etwas erhalten. Auch sind die modernen Methoden restauratorischer Untersuchung, die auch geringe Reste von Farben feststellen können, auf Stadtmauern offenbar kaum je angewendet worden – vielleicht, weil man zu Recht kaum mit Befunden rechnete. Das einzige Beispiel, das ich auf meinen Reisen im gesamten deutschen Sprachraum fand, bei dem sich die Farbfassung eines Mauerturmes hat feststellen und restaurieren lassen, ist der „Gemalte Turm“ in Ravensburg (um 1400 / 1418; Abb. 85). Auch im Rheinland findet man heute wieder etliche farbig gefasste Stadtmauertürme – in der Regel weiß mit rot abgesetzten Gliederungen –, jedoch ist dies eine ab den 1960er Jahren entstandene
Restaurierungsmode, deren Beleg im Einzelfall oft zweifelhaft ist; auf weitere Einzelbeispiele erhaltener Bemalungen bleibt bei den Toren zurückzukommen (vgl. 2.2.5.8.). Dass schlichte Horizontalgliederungen das wohl wichtigste „Schmuck“-Element jüngerer Stadtmauertürme waren und dass diese besonders gerne unter der Wehrplatte bzw. ihren Zinnen oder auch an der Dachtraufe angewendet wurden, war bereits vermerkt worden. Schon mit diesen meist einfachen, höchstens in Bogenreihungen besteWehrplatte und Dachform henden Mitteln wurde also der obere Abschluss des Turmes besonders hervorgehoben, der ja in der Tat die naheliegende Stelle für solchen Aufwand war, weil er weit in die Landschaft hinaus wirkte. Deswegen wurden, wieder erst im 14. / 15. Jahrhundert, auch noch andere Bauteile in diesem Bereich besonders ausgestaltet: die Zinnen der Wehrplatte und vor allem das Dach. Die Zinnen bzw. – wie sie im Mittelalter gelegentlich genannt wurden – die „wintberge“ sind zunächst eine funktionale Form. Sie sollten Verteidiger gegen Beschuss decken und boten dabei im Grunde nur zwei Möglichkeiten der Verzierung: Die feldseitige Ansicht konnte mit aufgelegten Gliederungen versehen werden und der obere Abschluss eine besondere Form erhalten. Die einfachste Art, die Ansicht zu bereichern, war die Herumführung eines Gesimses, etwa eines Wasserschlages um Zinnenlücke und Zinne herum; hier gibt es vereinzelte Beispiele, kaum vor 1400, etwa im Rheinland und in Hessen (Kassel „Druselturm“; Butzbach, „Hexenturm“; Lich). Etwas aufwendiger war schon die Gestaltung der Zinne als Blende, was etwa in Ingolstadt (1363–1430) zu den wichtigen Gestaltungsmerkmalen gehört; auch hier bietet das Rheinland im 15. Jahrhundert besonders viel (Andernach, „Runder Turm“; Oberwesel, „Zennerturm“ und andere), auch in der Variante, dass die Seiten eines achteckigen Turmgeschosses als solche mit Blenden versehen wurden (Seligenstadt, 1461– 63). Den Höhepunkt findet man jedoch – wie eigentlich allgemein, wenn es um Schmuckreichtum geht – im 15. Jahrhundert in der vor allem brandenburgischen und auch pommerschen Backsteinregion. Hier, wo der Backstein die einfache Herstellung auch komplexer Formen er-
Abb. 84 Vaihingen an der Enz (Baden-Württemberg), wappenhaltende Skulptur eines Engels am Eckrondell („Pulverturm“) des Zwingers; die beiden Wappen links sind jene der Familien, die den Turm finanzierten, daneben das Erbauungsjahr „1492“. Abb.85 Ravensburg (Baden-Württemberg), der wahrzeichenhafte „Gemalte Turm“ (um 1400 / 1418) an der Ecke der Unterstadt ist ein seltenes Beispiel dafür, dass eine spätmittelalterliche, wohl italienisch beeinflusste Farbfassung wiederhergestellt werden konnte.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
137
möglichte, wurden die Blenden mit Bogen- und vereinfachten Maßwerkformen bereichert, die in Verbindung mit der übrigen Gestaltung solch später Türme und Tore ein besonders reiches Bild ergaben (Abb. 86). Beim oberen Zinnenabschluss war, gesamteuropäisch gesehen, zweifellos der Schwalbenschwanz die meistverbreitete Schmuckform; entstanden im 13. Jahrhundert in Oberitalien und dort im Spätmittelalter weitverbreitet, fand sie im übrigen Europa mit der Renaissance eine teils erhebliche Verbreitung. Im Spätmittelalter war sie im deutschen Raum aber noch selten, man findet sie etwa an einem niedrigen Rundturm einer Vorstadt in Memmingen (1445–71) oder in Pfeddersheim (Rheinpfalz, um 1500). Als Westausläufer einer in Polen und weiter östlich verbreiteten Form der Renaissance sind die runden Zinnen der „Alten Wasserkunst“ in Bautzen zu verstehen (1558). Auch andere Schmuckformen waren offenbar selten, etwa die getreppten Zinnen am „Roten Turm“ in Friedberg (Hessen) und an einigen Türmen in Bautzen (um 1500) oder die fialenartigen Aufsätze in Ingolstadt; für beides findet man Vergleiche in Wales und Irland, aber ein Zusammenhang scheint kaum erkennbar. Bei den Formen des Turmdaches ist natürlich zunächst einmal zu betonen, dass dessen originale Holzkonstruktion natürlich in der großen Mehrzahl aller Fälle verschwunden ist, auch wenn der Turm als solcher überlebt hat. Dennoch ergibt eine beachtliche Anzahl erhaltener Dächer zusammen mit alten Darstellungen ein recht gutes Bild der ehemaligen formalen Vielfalt. Die große Mehrzahl der Türme besaß ein hölzernes Dachwerk in Zelt-, Kegel- oder verwandter Form, bei den kompakten Grundrissen der Türme, dem horizontalen Abschluss der Brustwehren und der guten Verfügbarkeit von Holz und Zimmerleuten war dies die naheliegende Lösung. Jedoch gab es, als Ausnahme, auch andere Formen. Die dachlose Plattform dürfte schon deswegen kaum vorgekommen sein, weil die extreme Mehrzahl der Türme nur Balkendecken Abb. 86 Tangermünde, das „Neustädter Tor“ (um 1440–70), das die für das Backsteingebiet charakteristische Ornamentik zu einem seiner Höhepunkte führt, besitzt u. a. Zinnen, die mit einer Art Maßwerkblenden geschmückt sind.
Abb. 87 Bernau (Brandenburg), Blick in das gemauerte Spitzdach. Solche Dächer, hier in Backstein, kamen in einigen Gegenden des deutschen Sprachraumes nicht nur auf Stadtmauertürmen vor, etwa in Österreich, Sachsen-Anhalt, Hessen und Brandenburg (vgl. auch Abb. 89, 147).
besaß, die durch Undichtigkeiten sehr gefährdet worden wären. Zudem wäre diese Form bei der vielfachen Erneuerung gerade des Dachbereiches und dem üblichen, relativ anfälligen (Bruchstein-)Mauerwerk der Brustwehren heute kaum noch nachweisbar. Vor allem im Rheinland mit seinem Schiefermauerwerk findet man oft gemauerte, dachförmige Zinnen, die – wenn nicht allzu verfälschend restauriert – sicher unter freiem Himmel lagen. Hier wird man mit Dächern rechnen dürfen, die hinter Zinnen und Wehrgang nur den Innenraum des Turmes schützten, wobei der Wehrgang durch Wasserspeier entwässert wurde (figürliche Beispiele etwa in Grebenstein [Abb. 89], Züschen, beide in Hessen); der äußere Eindruck kam dabei einer Plattform zumindest nahe. Weit häufiger waren, zumindest in bestimmten Regionen, gemauerte Spitzdächer, die eben dieser Form mit umlaufen2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
139
dem, offenem Wehrgang entsprachen. Sie sind häufig an Burg- und Stadtmauertürmen in Sachsen-Anhalt – gut erhaltene Beispiele findet man etwa in Naumburg, Jena oder Staßfurt –, weiter östlich in Brandenburg (Abb. 87) und Schlesien; auch in Österreich war das Steindach verbreitet, ist aber auf Stadtmauertürmen kaum erhalten. Die Form des Satteldaches zwischen Giebeln bietet sich bei Türmen wenig an, weil sie eher für längliche Grundrisse taugt. Dennoch trat die Form gelegentlich auf, in bestimmten Regionen sogar häufiger. Das brandenburgische Wiekhaus des 14. / 15. Jahrhunderts war mit seiner querrechteckigen Form für ein Satteldach geeignet und man darf davon ausgehen, dass diese Form mit Traufen zur Stadt- und Feldseite hier normal war; jedoch sind nur in vier(!) Fällen von vielen Hunderten noch Giebelreste erhalten (Abb. 88). Einzelne Fälle von gegiebelten Türmen gibt es noch im fränkischen Raum (Dinkelsbühl, Greding), in Oberschwaben und in der Schweiz wa-
ren sie etwas häufiger, oft als Treppengiebel, von etwa 1350 bis ins frühe 16. Jahrhundert. In diesem südwestdeutschen Raum, in dem die Giebel auch an Tortürmen auftraten, dienten sie eindeutig als Würdeform, offenbar als Zitat der Giebel von Patrizierhäusern. Eine noch aufwendigere Verwendung als Schmuckform blieb dagegen seltene Ausnahme, etwa in Langensalza (Thüringen), wo es Giebel über allen vier Turmseiten und darüber ein steiles Spitzdach gab. Die bisher angesprochenen Varianten der Wehrplatten und Turmdächer bestanden in der formalen Variation funktionaler Notwendigkeiten – der Wehreinrichtungen und des Daches als Witterungsschutz –, nicht eigentlich in Schmuck, das heißt in der Hinzufügung von „Überflüssigkeiten“ zwecks rein ästhetischer Wirkung. Aber auch dieses Phänomen gab es durchaus, und zwar in Form von Ziererkern bzw. „Eckwarten“. Ausgangspunkt der Entwicklung waren dabei sicherlich echte Wehrerker, die vor allem an Ecken aus der Brustwehr vorsprangen und ein verbes-
Abb. 88 Nur sehr wenige Wiekhäuser haben Reste ihrer Dächer bzw. Giebel bewahrt: links Königsberg, rechts Bärwalde, beide in der ehemaligen Neumark (Polen).
140 I. Systematischer Teil
noch eine runde Eckschale, deren Wehrplatte über einem Rundbogenfries mit Erkern versehen ist. Dass solche Formen vor den Veränderungen der Neuzeit gerade im mittelrheinischen und hessischen Gebiet häufig waren – auch an Burgen und Patrizierhäusern, etwa in Frankfurt – kann recht gut die weitgehend verschwundene äußere Mauer von Frankfurt am Main verdeutlichen. Neben dem „Eschenheimer Torturm“, einem der schönsten Bauwerke an deutschen Stadtmauern, der unter anderen Schmuckelementen auch Erker an der Wehrplatte besitzt (Abb. 131), zeigt hier der „Rententurm“ (1455 / 56 von Eberhard Friedberger) polygonale, schieferverkleidete DacherAbb. 90 Schwäbisch Gmünd (Württemberg), der „Fünfknopfturm“ spiegelt schon in seinem Namen seine formale Besonderheit, nämlich die Bekrönung mit fünf Erkern, die fortifikatorisch nur bedingt effektiv waren (vgl. Abb. 213; T. Radt).
Abb. 89 Grebenstein (Hessen). Selten wurden Mauertürme so stark verziert wie hier: fortifikatorisch nutzlose „Balkone“ bzw. offene Erker nach vier Seiten, figurale Wasserspeier und eine Kreuzblume auf dem gemauerten Kegeldach.
sertes Schussfeld boten (und in Ausnahmefällen auch Wurflöcher). Ein gutes Beispiel sind die quadratischen Türme der äußeren Mauer von Nürnberg (1346–1407): Fast jeder von ihnen besaß, nur an der Feldseite, runde Eckerker, in Buckelquaderwerk wie die Türme selbst. Ein schönes, aber in seiner Region vereinzeltes Beispiel bietet der „Fillerturm“ in Alfeld (Niedersachsen) mit Runderkern an der Wehrplatte, die gestalterisch aufwendig über Halbkegeln auskragen (Abb. 434). In anderen Fällen wird noch deutlicher, dass die Erker zugleich der Verteidigung und dem Schmuck dienten, etwa in Grebenstein (Hessen), dessen Rundtürme (um 1400) jeweils gleich drei Erker am obersten Geschoss besitzen, aber auch eine vorgekragte Brustwehr, figürliche Wasserspeier – vergleiche das nahe Züschen – und eine Kreuzblume auf der Dachspitze (Abb. 89). In Steinheim am Main steht 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
141
ker, vor allem aber dokumentieren alte Ansichten eine Fülle derartiger Gestaltungen an heute verschwundenen Türmen. Dass solche reinen, wehrtechnisch zumindest überflüssigen Formen selbst im Artilleriezeitalter überlebten, mag als gut erhaltener Fall die fast 50 m lange, wohl 1486 begonnene Streichwehr verdeutlichen, die den Einfluss der Ohle in Breslau deckte und deren bewusst flache, schartenreiche Mauern trotzdem eine Mehrzahl von Erkertürmchen trugen (Abb. 178). Mit dem Frankfurter „Rententurm“ war bereits eine Form berührt worden, die wahrscheinlich weitaus verbreiteter als die steinernen Erkertürmchen im Bereich der Brustwehr war – nämlich hölzerne Erkertürmchen, die als Teil des Dachwerkes erst über der Traufe saßen; auch dies war eine Form, die in der Spätgotik keineswegs nur an Stadtmauertürmen auftrat, sondern auch an Burgen und städtischen Profanbauten. Solche Erkertürmchen, in der Regel mit extrem spitzen Dächern wie auch ihre steinernen Vorbilder, waren von diesen in ihrer Wirkung kaum zu unterscheiden; das gilt auch für alte Darstellungen, etwa Matthäus Merian, die Derartiges in enormer Anzahl wiedergeben. Sie waren aber aufgrund des leichter zu bearbeitenden Materials weit billiger herzustellen und dürften daher die große Mehrzahl derartiger Bauteile gebildet haben. Dass die Besonderheit ihrer Gestaltung die Bürger durchaus beeindruckte, belegen drei noch gut erhaltene Beispiele, bei denen die Erkertürmchen den Namen des Turmes hervorbrachten. In Kaufbeuren (um 1400 / 1420) und in Schwäbisch Gmünd (Dachwerk 1423 / 24) gibt es je einen „Fünfknopfturm“ (Abb. 90), in Augsburg einen „Fünfgratturm“ (Mitte des 15. Jahrhunderts).
2.2.4.10. „Wahrzeichentürme“ Die stärkere formale Ausgestaltung von Stadtmauertürmen im Spätmittelalter – warum diese Formulierung den Sachverhalt besser als Begriffe wie „Schmuck“ oder „Ornamentik“ trifft, wurde schon begründet – fand ihren Höhepunkt in einer Art von Türmen, bei denen die Symbolwirkung wichtiger als die Befestigungsfunktion geworden war. Sie sind seltene Ausnahmen, da solche Aufgaben sonst – wenn man nicht überhaupt auf dergleichen verzichtete – den Toren 142 I. Systematischer Teil
überlassen blieben (vgl. 2.2.5.). Für diese Art von Türmen gibt es bisher keine Bezeichnung, was durch ihre geringe Anzahl erklärlich ist, aber angesichts ihrer besonderen Bedeutung nicht befriedigt. Da sie meist der einzige Turm ihrer Art in der betreffenden Stadt sind und in der Regel an einer Stelle erbaut wurden, die ein Maximum an Wirkung garantierte, wäre es durchaus begründet, sie als „Stadttürme“ zu bezeichnen. Jedoch ist dieser Begriff schon besetzt: Er meint Türme, die in der Regel in irgendeiner Weise dem Rathaus zugeordnet sind – ein durchaus verwandtes Phänomen, aber eben im Inneren der Stadt, am Sitz der Selbstverwaltung bzw. am Markt als wirtschaftlichem Zentrum. Ich bezeichne die beschriebene Art von Stadtmauertürmen daher als „Wahrzeichentürme“. Der bekannteste Fall der Wahrzeichentürme sind jene Türme des späteren 14. bis mittleren 15. Jahrhunderts, die in mehreren mittelrheinischen Städten direkt am Flussufer stehen, wo sie den Schiffen weithin sichtbar die Stadt ankündigten und eher nebenbei die Schiffslände vor Angriffen und manchmal auch Eisgang schützten (Oberwesel, „Ochsenturm“, 1356d [Abb. 91]; Köln „Bayenturm“, Aufstockung um 1400; Andernach „Runder Turm“, vor 1452; Rüdesheim, „Adlerturm“, 15. Jahrhundert mit älterem Kern). Charakteristisch ist neben der markanten Standortwahl dieser Türme ihre weit überdurchschnittliche Höhe, in der Regel mit einem schlankeren, runden oder polygonalen Aufsatz, und die Ausstattung mit dem reichen Schmuckapparat der Zeit, also Simsen, Schmuckzinnen, Ziergiebeln, Steindächern mit Krabben usw.; interessanterweise besitzen sie gelegentlich sogar aufwendig eingewölbte Räume, obwohl deren Nutzung durchaus unklar bleibt. Vermutliches Vorbild dieser Turmform waren die im 15. Jahrhundert ergänzten Türme einer Anzahl rheinischer Burgen, der Grafen von Katzenelnbogen und anderer Bauherren, die aber von den städtischen Türmen vor allem in der Detailgestaltung weit übertroffen wurden. Als weiteren, bescheideneren Ausgangspunkt der Form kann man jene ebenfalls rheinseitigen Ecktürme mancher Städte im Schiefergebirge ansehen, die vielleicht stadtherrlichen Amtsträgern wie Zollkontrolleuren zur Wohnung dienten (Kaub, Sankt Goarshausen [Abb. 405], Bacharach, Rhens, Zons).
Abb. 91 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), der „Ochsenturm“ ist mit seiner Höhe und reichen Gliederung – dem schlankeren Aufsatz, den über Bogenfriesen vorkragenden Zinnen – eines der besterhaltenen Beispiele von „Wahrzeichentürmen“ in den Mittelrheinstädten (Die Kunstdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Tl. 9, Bd. 2, 2: Stadt Oberwesel, 1997).
Ausläufer der mittelrheinischen „Wahrzeichentürme“ findet man auch in anderen Regionen. Zu nennen ist etwa der verschwundene „Neuturm“ (um 1500) an der Ecke einer Vorstadt von Worms und, eindrucksvoll erhalten, der „Spitze Turm“ in Wertheim, der die Taubermündung in den Main markiert (wohl Mitte des 15. Jahrhunderts). Er geht vom Rund ins Achteck über, dann folgt über einem Maßwerkfries die Wehrplatte mit Runderkern an allen acht Ecken, die man sich früher wohl mit Spitzdächern vorstellen muss – ein extrem reiches Bild! Ein weiter entferntes Beispiel ist der bereits wegen seiner Farbgestaltung erwähnte „Gemalte Turm“ (1400– 1417; Abb. 85) in Ravensburg, ein vom Rhein weit entfernter Vertreter der Türme mit schlankerem Oberbau. Dass bei derartigen Wahrzeichentürmen die Funktion im engeren Sinne nicht wichtig war, sondern vielmehr die Wirkung in die Landschaft hinein, zeigt sich schon dort, wo der betreffende Turm, weitab vom ältesten Stadtkern, von Rat-
haus und Patriziersitzen, die Ecke einer sozial eher nachrangigen Vorstadt einnahm (Oberwesel, Worms, Ravensburg); noch deutlicher wird es in Randfällen, bei denen es sich gar nicht um Mauertürme handelt. So eignete sich etwa in Miltenberg der Torturm der jüngsten Vorstadt zum Wahrzeichen, weil er flussnah steht und sich das Tal hier weit öffnet, sodass der „Spitze Turm“ mit seiner reich gestalteten Wehrplatte viel weiter sichtbar als die anderen Teile der Stadtbefestigung war (Abb. 382). Noch deutlicher ist der Fall des Westturmes der Kirche St. Martin in Oberwesel (1435d; Abb. 92). Die Kirche steht erhöht und daher vom Rhein gut sichtbar hinter der Mauer einer Vorstadt; die übereinandergestaffelten Zinnen des Turmes mögen durchaus genutzt worden sein, aber wichtiger war fraglos das dem Rhein zugewandte Bild, zusammen mit dem älteren „Ochsenturm“ – insgesamt eines der reichsten unter den deutschen Stadtmauern. Dass es auf die Wirkung ankam, nicht auf die eigentliche Funktion des Turmes, zeigen schließ2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
143
lich einzelne Sonderfälle von Tortürmen, die im 15. / 16. Jahrhundert eindeutig nicht mehr zu Verteidigungszwecken erbaut wurden, weil sie nämlich aufgrund von vorherigen Stadterweiterungen gar nicht mehr die Stadtgrenze bildeten, sondern bereits im Stadtinneren standen. Diese Entwicklung war angesichts der Häufigkeit von Stadterweiterungen keineswegs selten und man kann sich ohne Weiteres denken, dass Tore der älteren Mauer bei solchen Entwicklungen nicht immer abgerissen wurden – zweifellos der Normalfall –, sondern erhalten blieben, weil sie inzwischen als Ausdruck städtischer Identität empfunden wurden. Das wird in den meisten Fällen Vermutung bleiben müssen, aber es ist dort unverkennbar, wo der nutzlos gewordene Torturm sogar ganz neu gebaut wurde. Das beste Beispiel bot hier München; der „Schöne Turm“ wurde 1479 anstelle eines Torturmes der ältesten Mauer aus der zweiten Hälfte des 13. Jahr-
hunderts errichtet, der schon seit der Erbauung der äußeren Mauer ab 1315 / 19 im Stadtinneren lag (Abb. 93). Der aufwendig bemalte Neubau entsprach seinem Namen, er besaß polygonale Ecktürme mit Blendengliederung, Stockwerkgesimse und innen Kreuzrippengewölbe in allen sechs Geschossen. An einen anderen Torturm derselben Ummauerung, das „Talburgtor“, wurde später das gotische Rathaus angebaut – die Baugruppe entstand 1971 / 72 neu – und durch diese Doppelfunktion wird besonders anschaulich, wie eng verwandt die zu den Rathäusern gehörigen „Stadttürme“ etwa des niederländisch-flandrischen oder auch des norditalienischen Raumes mit solchen „Wahrzeichentürmen“ waren. Als weitere Beispiele von Tortürmen, die bereits im Inneren der Stadt wahrzeichenhaft neu gestaltet wurden, seien mehrere verschwundene Türme in Augsburg, das Überlinger „Franziskanertor“ (1494 mit baldigem Umbau) und der
Abb. 92 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), der Turm der Pfarrkirche St. Martin (1435d) stand direkt hinter einer gefährdeten Partie der Stadtmauer und ist symbolhaft mit Wehrbauelementen ausgestattet (vgl. Abb. 194).
Abb. 93 München, der „Schöne Turm“ entstand 1479 als Nachfolger eines Tores der inneren Stadtmauer. Längst im Stadtinneren stehend, war er kein Wehrbau, sondern städtisches Symbol, wie u. a. die reiche Bemalung unterstrich. Die Spitzdächer waren auf diesem Stich (1805) schon entfernt; der Turm wurde zwei Jahre später abgerissen.
144 I. Systematischer Teil
„Siegelturm“ im schweizerischen Diessenhofen (1545 / 46) genannt; der „Zwölferturm“ in Sterzing war immer noch der brennerseitige Torturm, als er 1468 sehr hoch mit Maßwerkfenstern und Treppengiebel zum nicht mehr wehrhaften Symbol der Stadt verändert wurde (Abb. 299). Es ist vielleicht kein Zufall, dass all diese Beispiele aus dem Süden des deutschen Sprachgebietes stammen, also aus der Nähe Italiens. Die späteren Beispiele dieser Entwicklung, aus nachmittelalterlicher Zeit, werden unten noch besonders angesprochen (vgl. 2.2.5.10) Am entgegengesetzten Ende des deutschen Raumes, aus Pommern und der angrenzenden Neumark, sind ähnlich aufwendig gestaltete Mauertürme aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert bekannt, insbesondere solche von besonderer Höhe, bei denen ein schlanker, runder oder polygonaler Aufsatz auf einen gleichfalls schon recht hohen quadratischen oder rechteckigen Sockel aufgesetzt ist, von Schmuck durch Formsteine, Blenden usw. ganz abgesehen (Pasewalk, Stargard, Pyritz, Cammin, Gartz, Friedeberg; Abb. 516, 517). Diese Türme wirken jedoch weitaus weniger wahrzeichenhaft als bei den schon genannten Beispielen, und zwar nicht nur deswegen, weil sie nicht an breiten Flüssen und nicht einmal an besonders exponierten Stellen stehen. Vielmehr besaßen zumindest größere Städte der Region auch Tortürme vergleichbarer Formgebung, wodurch die Wirkung der Mauertürme relativiert wurde. Die besonderen Turmformen waren in dieser Zeit und Region also Varianten einer besonders reichen, backsteingotischen Gestaltung, die nicht nur mehrere Türme und Tore in einer Stadt, sondern darüber hinaus auch etwa Kirchen, Rathäuser und Patrizierhäuser erfasste. „Wahrzeichen“ städtischen Reichtums und Stolzes war hier eher das Stadtbild in seiner Gesamtheit, nicht ein einzelner Turm.
2.2.5. Der Torturm In Bezug auf die Türme war bereits festgestellt worden, dass die äußere Erscheinung der mittelalterlichen Stadt weniger durch die Mauer im engeren Sinne, sondern weitaus mehr durch den Ring der Mauertürme geprägt wurde. Dies galt für den noch etwas entfernten Betrachter, der die Stadt insgesamt oder zumindest größere Teil ihrer Pe-
ripherie überblicken konnte. Die Aufmerksamkeit des Besuchers, der sich der Stadt näherte und sie schließlich betrat, beanspruchte jedoch ein Einzelbauwerk noch weit stärker, nämlich das Tor. Die mittelalterliche Stadt hatte zwar in einer Welt häufiger gewaltsamer Konflikte allen Grund, ihre Wehrhaftigkeit zu erhalten und zu betonen, aber sie lebte nun einmal von Produktion und Handel, auch auf ganz direkte Weise von ihrem Umland, also von ihren Außenbeziehungen. Das Tor als Nahtstelle zwischen Stadt und übriger Welt ermöglichte und veranschaulichte beides: Öffnung für die Verkehrsströme und wehrhafte Abschließung; damit war es das wohl beste denkbare Symbol für das Wesen der mittelalterlichen Stadt. Dass es immer wieder auf Wappen und Siegeln erschien – in Sachsen etwa galt dies für über die Hälfte der mittelalterlichen Städte –, lag folglich ausgesprochen nahe. Geeignet war das Tor für diesen besonderen Zweck natürlich nur unter der Voraussetzung, dass es selbst repräsentative Architektur war, und das heißt vor allem, dass es ein Turm war oder Türme besaß, denn repräsentative, aber im Prinzip ohne Türme auskommende Torfassaden, wie sie in der Antike und dann wieder ab der Renaissance verbreitet waren, fehlten im Mittelalter fast völlig. Dass das Stadttor jener Teil der Stadtmauer war, der als einziger in höherem Maße formal ausgestaltet wurde, hat auch die themenbezogene Forschung geprägt. Die beiden einzigen deutschen Bücher wissenschaftlichen Charakters, die nicht nur einzelne Stadtmauern beschreiben, sondern die Ebene des regionalen Vergleichs betreten, befassen sich mit Toren und lassen den Rest der Befestigung unbehandelt. Und es ist bezeichnend, dass beide Werke von Kunsthistorikern stammen und Regionen behandeln, in denen die Tore außergewöhnlich anspruchsvolle Gestaltungen aufweisen; Heinrich Trost behandelte 1959 die besonders schmuckreichen Tore der mitteldeutschen Backsteinregion, Udo Mainzer 1973 vor allem die kölnisch-rheinischen Doppelturmtore. Aus diesen beiden wichtigen Arbeiten auf die Tore des gesamten deutschen Raumes zu schließen, müsste allerdings in die Irre führen. Denn im deutschen Raum herrschte die Form des relativ schlicht gestalteten Torturmes – im Sinne eines Turmes, der in seinem Erdgeschoss 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
145
die Durchfahrt enthielt – so entschieden vor, dass Nichtspezialisten ohne Weiteres meinen könnten, es hätte gar keine anderen Formen gegeben (vgl. 2.2.5.). Das antikisch inspirierte Doppelturmtor trat in Deutschland regional und zeitlich nur als Ausnahme auf (vgl. 2.2.6.4.) und ebenso begrenzt war eine Form, die sich bei oberflächlicher Betrachtung vom Torturm wenig unterscheidet – der Turm ohne Durchfahrt, der unmittelbar neben dem Tor stand (vgl. 2.2.6.3.). Weitere Formen, Mauertore, Torbauten, Ausfalltore usw., treten schon wegen ihrer formalen Bescheidenheit weit weniger hervor. Dass in Deutschland auch die Tore in aller Regel Türme waren, widersprach im Grunde ihrer besonderen symbolhaften Funktion, denn damit waren die Tore im Rahmen der gesamten Befestigung nicht einzigartig, vielmehr waren sie auf diese Weise Türme unter anderen, die nur noch durch Besonderheiten in Dimension und Gestaltung hervorgehoben werden konnten. Dementsprechend wird sich im Folgenden zeigen, dass viele Merkmale zumindest der größeren Mauertürme, die im letzten Kapitel dargestellt wurden, bei den Tortürmen ähnlich anzutreffen sind; besonders zu betonen bleiben daher jene Merkmale, die die Tortürme trotz allem hervorheben. War bei den Mauertürmen (vgl. 2.2.4.) festgestellt worden, dass sie im Mittelalter offenbar keine Namen, sondern höchstens utilitäre Bezeichnungen trugen, die zudem häufig erst ab dem Nachmittelalter belegbar sind, so wird man bei den Toren anderes vermuten, Namengebung weil sie funktionsgemäß viel stärder Tore ker wahrgenommen und auch symbolhaft empfunden wurden. Und in der Tat trugen die Tore – die Tortürme und alle anderen Formen, mit Ausnahme ausgesprochener Nebentore und Pforten – praktisch immer Namen, die zumeist bis heute im Bewusstsein verankert sind, oft sogar dann, wenn das Tor als Bau längst verschwunden ist und nur eine Örtlichkeit noch daran erinnert. Genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass diese Bezeichnungen der Tore auch kaum jemals Folge eines bewussten Aktes der Bauherren waren, also keine „Namen“ in einem ideellen Sinne. Absolut vorherrschender Fall war vielmehr die Benennung des Tores nach der Siedlung, die man auf der hinausführenden Straße erreichte. 146 I. Systematischer Teil
Streng genommen, ist in diesen Fällen der vermeintliche Torname gar kein Name, sondern nur eine Richtungsangabe, eher etwas wie ein Wegweiser bzw. der übernommene, ebenfalls praktisch zu verstehende Name der Straße. Dennoch mag gelegentlich selbst in solchen Bezeichnungen ein gewisser „politischer“ Bedeutungsgehalt mitschwingen, wenn nämlich nicht einfach ein wenige Kilometer vor der Stadt liegendes Dorf den Tornamen hergab, was durchaus üblich war, sondern eine weiter entfernte, aber wichtigere Stadt; dann nämlich gab die Stadt, aus der das Tor hinausführte, mit dem Tornamen quasi zu verstehen, dass sie „in einer höheren Liga“ als die kleineren Siedlungen ihres Umlandes spielte. Als besonders eindrückliches Beispiel sei das kleine Waldenburg in Hohenlohe genannt, das ein „Mainzer Tor“ besaß, obwohl Mainz keineswegs die nächste große Stadt war, sondern fast 200 km entfernt liegt. Hier wollten sich die Grafen von Hohenlohe, die Burg und Stadt um 1250 offenbar als neuen Hauptsitz gründeten, als gleichrangig mit dem ungleich mächtigeren Erzbistum in Szene setzen – und es war wohl auch eher das Territorium von Mainz, das hier angesprochen wurde, nicht die Stadt; die Nennung eines Territoriums oder einer Landschaft vor dem Tor kommt auch sonst manchmal vor (Freiburg im Breisgau, „Schwabentor“; Landsberg am Lech, „Bayertor“; Oppenheim, „Gautor“). Und eine weitere Variante desselben variablen Prinzips war die Nennung nach vorgelagerten Wasserläufen („Elbtor“, „Rheintor“, „Isartor“) oder auch bedeutenden Verkehrsbauten („Brückentor“). Andere Benennungen waren noch pragmatischer, so vor allem die in kleinen Städten weitverbreiteten nach der Lage in der Stadt bzw. im Gelände („Obertor“, „Untertor“ / „Niedertor“) oder, seltener, nach der Himmelsrichtung (Schleswig, „Nordertor“; Regensburg, „Ostentor“). Ausgesprochen alltagsbezogen sind schließlich Namen, meist an nicht ganz so wichtigen Toren größerer Städte, die von bestimmten Nutzungen bzw. Nutzergruppen hergeleitet wurden, etwa „Kornpforte“ von Getreidetransporten, „Fischerpforte“ gegen die Anlegestellen, oder verschiedene Namensformen, die mit Viehhaltung in der Stadt und den außerhalb liegenden Weiden zu tun hatten („Viehtor“, „Kuhtor“, „Tränktor“, „Trifttor“
und Ähnliches). Den pragmatisch bzw. ungewollt entstandenen Namen darf man schließlich die seltenen, aber aussagekräftigen Bezeichnungen zuordnen, die etwas mit der Entwicklung der Befestigung zu tun haben dürften. So dürfte etwa das verschiedentlich anzutreffende „Steintor“ an eine Holz-Erde-Befestigung erinnern, in der ein Tor aus Mauerwerk eine Ausnahme war; und das Speyerer „Altpörtel“ war offenbar unter mehreren Toren das älteste. Nur zwei Arten von Tornamen – beide weitaus seltener als die Namen nach nahen Siedlungen oder die anderen pragmatischen Benennungen – könnten zumindest auf den ersten Blick als bewusste, bedeutungsgeladene Schöpfungen verstanden werden. Einerseits sind dies die Farbnamen, andererseits die Personen- bzw. Heiligennamen. Im Falle der seltenen Farbnamen – sie bleiben auch dann selten, wenn man die entsprechend benannten Mauertürme hinzunimmt – wird man in der Regel an die Farbe eines längst verschwundenen Anstriches („Weißer Turm“ in Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber, „Rotes Tor“ in Augsburg) oder auch an die erst im Laufe der Jahrhunderte eingetretenen Färbung eines Steinmaterials (Rottweil, „Schwarzer Turm“) denken dürfen. Obwohl hinter dem Anstrich immerhin bewusste Gestaltung gesteckt hat, rezipierte der Name in solchen Fällen jedenfalls nur das banale Erscheinungsbild und keine tiefere Bedeutung. Und dasselbe ergibt sich letztendlich bei der Verknüpfung von Toren mit Heiligennamen. Denn in aller Regel bezogen sich solche Namen – „Martinstor“, „Petritor“, „Nicolaitor“, „Marientor“ / “Frauentor“ – nicht auf Funktionen oder Räume des Tores selbst, sondern auf Kirchen oder Kapellen, die dem Tor benachbart waren; besonders anschaulich kann man das heute noch beim Eisenacher „Nicolaitor“ nachvollziehen. Letztlich handelt es sich also auch hier wieder um eher praktische Bezeichnungen, die nicht etwa einen Weihegehalt vermitteln, sondern eher pragmatisch eine Lage bezeichnen, ähnlich dem gelegentlich auftretenden Namen „Burgtor“ (etwa Lübeck, Rothenburg, Nürnberg „Vestnertor“). Dass eine Torkapelle, wie sie in Klöstern, Domburgen, Burgen oder eben auch gelegentlich frühen Städten bestanden, den Tornamen auslieh, ist die absolute Ausnahme. Genannt sei die Goslarer „Klauskapelle“, die als romanische Kapelle direkt neben
dem Tor erhalten ist – aber ebenfalls in Goslar konnte die Kapelle im „Breiten Tor“ dessen beschreibenden Namen nie vertreiben. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Stadttore zwar in aller Regel Namen besaßen, anders als die Masse der Mauertürme, dass diese Namen aber kaum je bewusst verliehen worden waren. Die absolute Regel waren vielmehr pragmatisch entstandene Bezeichnungen, die sich auf Wegziele, Lage, Funktion oder äußere Merkmale bezogen. 2.2.5.1. Der Baukörper Dass gerade der Torturm zur entschieden bevorzugten Torform in Deutschland wurde, ist nicht schwer zu verstehen. Die Turmform besitzt die Vorteile, die bei den Mauertürmen bereits genannt wurden, er überblickt und beherrscht das Vorfeld besser als die Mauer selbst bzw. ein niedrigerer Bau. Zugleich wirkt er, und das ist für ein Tor wichtig, symbolhaft und repräsentativ. Dabei bleiben sein Volumen und damit seine Kosten begrenzt bzw. gestaltbar, indem zumindest die Höhe variiert werden konnte. Bei der Grundrissform gab es da enge Grenzen, denn eine gewisse Durchfahrtsbreite konnte genauso wenig wie eine statisch notwendige Mauerdicke unterschritten werden; in der Regel ist ein Torturm daher ungefähr quadratisch mit Seitenlängen um 7–10 m. In der geringen formalen Variationsmöglichkeit liegt dabei zugleich der Hauptnachteil der Bauform; die Tortürme gleichen sich recht weitgehend, eher selten gelang eine individuelle Gestaltung, die das Tor unverwechselbar werden ließ. Was die Höhe betrifft, so ist zunächst eine frühe Form aus der ersten Hälfte bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts festzustellen, die nur ein, Frühe Tortürme bis Mitte des 13. Jahrhunderts höchsten zwei Obergeschosse aufwies und damit eher block- als turmförmig wirkte; die Charakterisierung als „romanisch“ drängt sich auf, wenngleich kaum jemals Einzelformen einen „Stil“ im engeren Sinne erkennen lassen. Die nicht allzu häufigen Beispiele dieses frühen Typus – meist erhöht und verändert und daher heute nicht mehr direkt erkennbar – sind fast im gesamten deutschen Sprachraum verstreut. Das Lübecker „Burgtor“ (1180er Jahre) war of2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
147
fenbar in dieser Frühform noch Tor der Burg, nicht der Stadt, aber das „Nordertor“ in Schleswig war wohl nicht allzu viel jünger und auch die vergleichbaren Rostocker Tore („Kuhtor“ [Abb. 489], „Petritor“, „Kröpeliner Tor“) entstanden wohl um 1260. Ähnlich wird man die noch romanischen Unterbauten des „Tangermünder“ und des „Uenglinger Tores“ in Stendal datieren (Abb. 94), während die nach 1287 erbauten Tore in Prenzlau („Blindower Tor“ [Abb. 490], „Steintor“ mit Turm neben dem Tor) und etwa gleichaltrige Tore in Zerbst (Abb. 459), im Süden des Backsteingebietes, zeigen, dass diese Form im Osten Deutschlands bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts angewendet wurde. Weiter südlich, im Mittelgebirgsraum, ist der Unterbau des Eisenacher „Nicolaitors“ auf um 1200 (oder gar, einer Sage entsprechend, schon vor 1172?) zu datieren und sogar mit einer Biforie
zur Feldseite ausgestattet (Abb. 119). Schließlich scheint im Süden Deutschlands die „Blockform“ in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts aufzukommen, das zeigen etwa der ebenfalls später erhöhte „Weiße Turm“ in Rothenburg ob der Tauber (um / nach 1200; Abb. 371) und der entsprechende Fall des Schlettstädter „Niedertors“ (zweites Viertel des 13. Jahrhunderts; Abb. 319), Bern („Zytgloggen“ um 1220–30; Abb. 303) und Rottweil (Schwarzer Turm, 1242 + / – 2d) (Abb. 95); das „Münchener Tor“ in Mühldorf am Inn, als einziges Beispiel in Altbayern, dürfte auch noch ins 13. Jahrhundert gehören. Neben derart „blockförmigen“, nur bedingt turmartigen Toren gab es allerdings von Anfang an auch solche von größerer Höhe, die – bei einer gewissen Gedrungenheit – eindeutiger die Bezeichnung als „Turm“ verdienten. Wichtigstes Beispiel ist hier das Freiburger Martinstor, das
Abb. 94 Stendal (Sachsen-Anhalt), das „Tangermünder Tor“ war ursprünglich, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ein niedrigerer Bau aus Granitquadern, der dann um 1440 erhöht wurde.
Abb. 95 Rottweil (Baden), der „Schwarze Turm“ (das Obere Tor), dendrochronologisch datiert 1242 + / – 2, ist ein süddeutsches Beispiel für einen der niedrigen Tortürme noch spätstaufischer Zeit. Grundriss und Rekonstruktion der Stadtseite im Zustand von 1564, nach der Darstellung auf der „Pürschgerichtskarte“ (C. Meckseper).
148 I. Systematischer Teil
mit einem Dendrodatum von 1200 / 1201 der früheste sicher datierte Torturm Deutschlands ist; es besaß zwei Geschosse über der Torfahrt (Abb. 96). Noch in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts gehören weitere süddeutsche Tortürme, von denen hier nur einige gut erhaltene Beispiele zur Veranschaulichung angeführt seien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Als eine Art Übergangstypus kann man das Mainzer „Eisentor“ betrachten, das mit seinem reich profilierten, säulen- und löwengeschmückten Torgewände zu den aufwendigsten Toren Deutschlands gehört (Abb. 97); offen ist aber bisher, ob es ursprünglich ein oder zwei Obergeschosse besaß. Eindeutig höhere Tortürme der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Oberrheingebiet sind aber wohlerhalten die Wormser „Fischerpforte“ und das anfangs dreigeschossige, später erhöhte „Altpörtel“ in Speyer (Abb. 79). Weiter östlich entstanden noch vor der Jahrhundertmitte das Esslinger „Wolfstor“ (Abb. 337) und der „Laufer Schlagturm“ in Nürnberg. Einzelbeispiele für die baukörperliche Gestaltung von Tortürmen ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis um 1500 zu nennen, erübrigt sich. Denn ausgehend von den „normal hohen“ Tortürmen bereits der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, etablierte sich in dieser langen Zeit eine in unzähligen Beispielen und fast im ganzen deutschen Raum vertretene Form des mehrEntwicklung ab der zweiten Hälfte geschossigen Torturmes, dedes 13. Jahrhunderts ren Variationsbreite gering blieb. Zwei bis drei, maximal vier Obergeschosse, deren Höhe erheblich variieren konnte, über der Durchfahrt, dann die Wehrplatte, das ergab einen Turm von ausgewogener Proportion, vergleichbar etwa mit der Mehrzahl der Bergfriede vor allem des 13. Jahrhunderts. Dass viele dieser Türme Schalen waren, wie eine Großzahl der gleichzeitigen Mauertürme, änderte ihr Erscheinungsbild zumindest an der Feldseite nicht wesentlich. Besonders niedrige Tortürme, erinnernd an die Blockform des 13. Jahrhunderts, aber betont breit und flach, kamen später nur noch als regionale Sonderform vor. Man findet Derartiges gelegentlich im süddeutschen Raum, etwa in Luzern, an der zweiten Erweiterung von Bern und der äußeren Mauer von München, aber auch in
Abb. 96 Freiburg im Breisgau, das „Martinstor“, hier in seinem Zustand vor der Aufstockung des späten 19. Jahrhunderts, um 1880, ist mit der Dendrodatierung 1200 / 01 der derzeit älteste exakt datierte Torturm Deutschlands.
Abb. 97 Mainz, das spätromanische „Eisentor“ (um 1200–1240) entstand als prunkvoller Empfangsbau an der Rheinlände. Ursprünglich wohl nur zweigeschossig, wurde es später zum Torturm erhöht.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
149
Bietigheim, Schwäbisch Hall und als besonders späte Bauten in kleineren Städten Württembergisch Frankens; im Westen sind mehrere Tore in Luxemburg zu nennen. In mehreren Städten Pommerns entstanden im späteren 15. Jahrhundert blockhaft niedrige Torbauten, die wohl bereits eine Reaktion auf die Artillerie darstellten (Stargard [Abb. 520], Stralsund, Stolp, Usedom, Belgard). Andererseits blieben betont hohe Tortürme ebenfalls Ausnahmen und traten kaum vor dem späten 14. Jahrhundert auf. Neben dem Aspekt des besseren Überblicks über das Vorfeld betonten sie besonders wichtige Stadteingänge. Als regional gestreute Beispiele, alle aus der Zeit um 1400, seien etwa das „Bayertor“ in Landsberg am Lech (Abb. 121), das „Würzburger“ und „Rödertor“ in Rothenburg ob der Tauber und das „Kröpeliner Tor“ in Rostock (Abb. 124) genannt. Ganz gelegentlich wurde der Baukörper des Torturmes feldseitig durch Strebepfeiler bereichert, die fraglos in erster Linie eine bessere Abstützung gegen den vorgelagerten Graben bewirken sollten, aber natürlich auch die architektonische Wirkung bereicherten. Frühe Beispiele sind in Worms und dem davon abhängigen Ladenburg erhalten, ferner das „Tübinger Tor“ in Reutlingen aus der ersten bzw. zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ein weiteres ist in Ulm ergraben. Erst in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts gehören etwa das „Johannistor“ in Aschersleben, das Bernauer „Steintor“ (Abb. 498) und ein Türmchen neben dem Tor in Triebel (Brandenburg). In all diesen Fällen blieben die Strebepfeiler in ihrer Höhe beschränkt und daher in ihrer praktischen Funktion noch klar erkennbar. Theoretisch, wenn man von Formen des gotischen Kirchenbaues ausgeht, wären auch Strebepfeiler möglich gewesen, die die Ecken des Turmes in voller Höhe akzentuieren oder sogar als „Ecktürmchen“ dessen Traufe überragen; etwa im französischenglischen Raum gehörte diese Form zu den wichtigen formalen Möglichkeiten, vor allem im Burgenbau. Deutsche Tortürme dieser Form waren jedoch totale Ausnahmen und kamen nur in der schmuckreichen Spätzeit vor. Genannt seien das „Äußere Sülztor“ in Lüneburg (1440) mit vier runden Ecktürmen und der Münchener „Schöne Turm“ mit vollständig hochgeführten Eckstrebepfeilern, der 1479 als „Wahrzeichenturm“ einen 150 I. Systematischer Teil
älteren Turm innerhalb der Stadtmauer ersetzte (vgl. 2.2.4.10. [Abb. 93]). Das „Neubrandenburger Tor“ in Friedland (Brandenburg), wohl auch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist das einzig erhaltene Tor dieser Art, mit achteckigen Ecktürmen (Abb. 507). Die Schalenform trat bei den Tortürmen ebenso früh auf wie bei den Mauertürmen (vgl. 2.2.4.8.), nämlich bald nach 1200, und war in den folgenden Jahrhunderten ähnlich häufig wie bei diesen, wohl sogar häufiger als Volltürme. Anfänge der Schalenform bei den Toren Eindeutig feststellbar ist die effektive Verbreitung genauso wenig wie bei den Mauertürmen, denn bei der großen Mehrzahl der Türme wurde die Stadtseite später mit Mauern oder verputzten Fachwerkwänden geschlossen, sodass die Schalenform heute selbst bei voll erhaltenen Tortürmen nicht mehr direkt zu erkennen ist. Die frühesten Fälle aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zeigen in der Gestaltung der Stadtseite eine Variationsbreite, die verdeutlicht, dass man anfangs noch mit Formen experimentierte; auch dies erinnert an die gleichzeitigen Mauertürme. Bereits das Eisenacher „Nicolaitor“, eines der frühen, noch „blockförmigen“ Tore, war im einzigen Obergeschoss stadtseitig offen; dieses schlichteste aller Modelle tritt auch schon beim ebenfalls blockförmigen Berner „Zytgloggen“ auf (um 1220 / 30) und das sicher wenig jüngere Esslinger „Wolfstor“ ist ein früher Vertreter eines höheren Schalenturmes dieser einfachen Art, ebenso wie der „Laufer Schlagturm“ in Nürnberg. Neben diesem einfachsten aller Modelle – bei dem über der Torfahrt einfach die Wand aller weiteren Geschosse fehlt und erst das Dachwerk den Abschluss bildet – steht die „Kornpforte“ in Andernach (um 1220?) als stabilere, aber auch aufwendigere Lösung, bei der sich zwei Rundbogentonnen übereinander zur Stadt öffnen; ein ähnliches Bild bot bei den Mauertürmen der gleichzeitige „Hochturm“ in Rottweil (Abb. 78). Einzigartig ist auch die Stadtseite des Altpörtels in Speyer (gegen Mitte des 13. Jahrhunderts; Abb. 79), drei Geschosse hoch aufgelöst in doppelte Spitzbogenöffnungen, die wiederum in drei hohen Rundbogenblenden zusammengefasst sind, offenbar eine reichere Variation der in Speyer
und auch anderswo üblichen Mauertürme, die sich zur Stadt in Doppelbögen öffneten. Derartige Gestaltungen waren jedoch offenbar zu aufwendig, um eine Nachfolge zu finden. Die Zukunft gehörte – und auch dies entspricht wieder ganz der Entwicklung bei den Mauertürmen – neben dem Vollturm der einfachsten Form des Schalenturmes, deren Anfänge schon beschrieben worden sind. Bei den Tortürmen bedeutete das in aller Regel, dass die Torfahrt stadtseitig im Bogen geschlossen war – hinter dem aber kaum je ein Gewölbe, sondern fast immer nur eine Balkendecke lag – und dass sich darüber der gesamte Turmschaft als durchlaufender „Schlitz“ in der Höhe aller Turmgeschosse öffnete. Gelegentlich schloss die mehrgeschossige Öffnung oben mit einen zweiten (Spitz-)Bogen, was den Anblick etwas weniger nüchtern gestaltete, aber wohl nur einer besseren Aussteifung der Seitenwände und einem solideren Auflager des Daches diente. Als gut erhaltenes Beispiel für diese Form, die bei Mauertürmen auch und ähnlich selten auftrat, sei der „Klingentorturm“ in Rothenburg genannt (Abb. 98). Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war der schalenförmige Torturm in der beschriebenen schlichten Form so weit verbreitet, dass sich ein weiteres Mal die Anhäufung von Beispielen nicht lohnt. Ein besonders schöner Fall ist die „Oberpforte“ in Ortenberg (Wetterau), nach ihren Knospenkapitellen wohl aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts (Abb. 125), die auch in ihrer beachtlichen Höhe schon ein voll entwickelter Vertreter des „gotischen“ Typus ist. Als Region mit einer ganzen Reihe von derartigen Tortürmen noch aus der Zeit vor 1300 wäre etwa das Neckarland zu nennen. In streng funktionaler Sicht war bei einem Torturm der quadratische oder rechteckige Grundriss nur im Erdgeschoss notwendig, wo er durch die Breite des durchgeführten Weges mehr oder minTortürme mit der erzwungen war; runde runden oder polygo- nalen Aufsätzen Formen hätten hier eine unverhältnismäßige Vergrößerung und komplizierte Formen der Torgewände gefordert. In den oberen Geschossen fehlte dieser funktionale Zwang, daher war hier im Prinzip ein Übergang zu einer anderen, schlankeren Grundrissform möglich, insbeson-
dere zu einer polygonalen oder runden. Dass derartige Turmformen vorkommen, war schon im Zusammenhang der Mauertürme (vgl. 2.2.4.7.) angesprochen worden, und vor allem bei den „Wahrzeichentürmen“ (vgl. 2.2.4.10.) war schon deutlich, dass solche Türme, die in aller Regel Abb. 98 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die Stadtseite des „Klingentorturms“. Der Ende des 14. Jahrhunderts entstandene Turm war über der Durchfahrt anfangs ein Schalenturm, wurde aber später geschlossen und erhöht.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
151
Abb. 99 Köln, das in seiner baukörperlichen Gestaltung ungewöhnliche (zweiphasige?) „Severinstor“, hier die Feldseite im Zustand von 1883 (Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884). Abb. 100 Königsberg in der Neumark (Polen), das „Schwedter Tor“ (um 1420 / 30) gehört zu den baukörperlich reichsten Tortürmen des deutschen Raumes.
152 I. Systematischer Teil
auch stark ornamentiert sind, in gewisser Weise den formalen Höhepunkt mittelalterlicher Stadtmauern in Deutschland bilden. Bei den Toren, die quasi von Natur aus im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, war die Form mit schlankerem Aufsatz deutlich stärker als bei den Mauertürmen verbreitet. Ihr Höhepunkt lag auch hier im späteren 14. und im 15. Jahrhundert, also in der Spätgotik, und sie spielten eine entscheidende Rolle in jenen Regionen, die damals erst eine verspätete Blütezeit des Stadtmauerbaues erlebten, während es sonst bei Einzelbauten blieb. Als frühe, ungewöhnliche, aber wohl anregende Beispiele können allerdings schon das Kölner „Severinstor“ (Abb. 99) und das sicherlich davon abhängige „Grimmelstor“ in Siegburg genannt werden, beide noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Vor allem im Backsteingebiet des nordöstlichen Brandenburg, wo die Tore oft jünger als die Mauern selbst sind, findet man eine reiche Variationsbreite von Tortürmen dieser Form, die teilweise zum Besten der deutschen Stadtmauer architektur gehören; dabei gab es hier auch vergleichbare Kirchtürme. Zu nennen sind kleinere Tortürme bzw. Türme neben dem Tor etwa in Lenzen (Mecklenburg), der vom Achteck zur Rundform übergeht, in Reetz und in Cottbus. Einen Höhepunkt bildeten die um 1420–40 entstandenen Tortürme von Königsberg in der Neumark mit achteckigem Aufsatz, zwei Zinnenkränzen und gemauerten Spitzdächern (Abb. 100); sie dienten mindestens den Toren der nahen Städte Lippehne und Schönfließ zum direkten Vorbild. In Prenzlau kann noch die Entwicklung einer besonders reichen Ausprägung nachvollzogen werden. Hier wurde das bestehende, im Grundriss quadratische „Blindower Tor“ in runder Form erhöht, wobei die problematische Übergangszone durch einen vorgekragten Holzwehrgang kaschiert wurde (Abb. 490). Dieses aus der Not geborene Motiv setzte dann um 1470 der Neubau des Turmes neben dem „Mitteltor“ in Mauerwerk um, wobei der im Grundriss achteckige Wehrgang mit Rundscharten über Konsolen und Stichbögen eine unverwechselbare Form ergab (Abb. 115). Den künstlerischen Höhepunkt erreichte die Entwicklung zweifellos mit den Tortürmen
Steffen Boxthudes in Stendal und Werben sowie mit dem Turm neben dem „Neustädter Tor“ in Tangermünde. Die reich mit Blenden, Zierzinnen und dem sonstigen Apparat der späten Backsteingotik versehenen Türme beeindrucken durch ihre kräftigeren Proportionen, die dem herkömmlichen Begriff von Gotik Hohn sprechen. Insbesondere beim „Elbtor“ in Werben (um 1460 / 70; Abb. 101) handelt es sich im Grunde schon um ein typisches Rondell, dem auch der Aufsatz keine Turmform mehr geben kann. Letzter Ausläufer dieser bereits durch die Artillerie geprägten Form ist der „Zwinger“ am Rostocker „Steintor“ (1526–32), ein Kanonenrondell mit 6,5 m dicken Mauern, der den schlankeren Aufsatz nur noch äußerlich andeutet. Und ein Spätling entgegengesetzten Charakters ist das „Rostocker Tor“ im mecklenburgischen Ribnitz, dessen breiter quadratischer Block mit niedrigem Achteckaufsatz auf jede Wehrhaftigkeit verzichtet und völlig auf allseitig gleiche Blendgliederungen setzt; das geradezu an Zentralbauten der Renaissance gemahnende Tor ist leider undatiert (Abb. 506). Außerhalb des Backsteingebietes waren derar tige Torturmformen nur verstreute Ausnahmen, wobei es sich allerdings fast immer um bemerkenswerte Bauten handelt. Um ausnahmsweise im Osten zu beginnen, kann man etwa in Schlesien Türme in Bautzen und Görlitz („Reichenbacher Turm“, Abb. 466) und im Fränkischen solche in Münnerstadt („Dicker Turm“) und Gunzenhausen nennen. In Ingolstadt ist das 1385 begonnene „Kreuztor“ ein Höhepunkt dieser Form nicht nur in Bayern; die Art, wie der Übergang vom quadratischen Unterbau zum Achteckaufsatz durch Erkertürmchen bereichert wird, erinnert direkt an Tore des östlichen Brandenburg und lässt hier Zusammenhänge erahnen (Abb. 102). Mit dem „Jacobertor“ in Augsburg (1445) schließlich wird eine Region berührt – etwa das heute bayerische Schwaben mit dem weiteren Kristallisationspunkt Nördlingen –, in der eine weitere Gruppe von Tortürmen mit schlankerem Aufsatz beheimatet war. Sie hatte ihren Schwerpunkt jedoch in nachmittelalterlicher Zeit und wird daher als gesondertes Phänomen noch behandelt (vgl. 2.2.5.10.).
Abb. 101 Werben (Sachsen-Anhalt), das „Elbtor“ (Steffen Boxthude, 1464–70), hier von der Feldseite, zeigt noch die Formen später Backsteingotik, wird aber von einem Rondell flankiert, bei dem die Turmform nur noch durch den Aufsatz angedeutet ist (T. Radt).
Abb. 102 Ingolstadt, das „Kreuztor“, inschriftlich datiert 1385, ist eines der schönsten Backsteintore Deutschlands. Die Bleistiftzeichnung um 1850 zeigt es noch vor der Verfüllung des Grabens (Stadtarchiv Ingolstadt, Nr. 4518).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
153
2.2.5.2. Das Torgewände Das Tor im engsten Sinne, also die Toröffnung mit ihrem Gewände, war jener Teil des Torturmes – und auch der übrigen Bauformen von Toren –, der sich für ornamentale Gestaltung am stärksten anbot. Es war nicht nur dem Ankömmling zugewendet, sondern konnte von ihm auch aus nächster Nähe betrachtet werden, weniger als die oberen Teile des Turmes und völlig im Gegensatz zur gesamten übrigen Stadtmauer, die man nur über einen breiten Graben hinweg sehen konnte. Die Annahme, dass die Torgewände dementsprechend aufwendig gearbeitet waren, wird aber in der Realität nicht wirklich bestätigt. Zwar findet man zumeist Werksteingewände, und einfachste Gestaltungen wie etwa Stufung oder Fasung waren nicht selten, aber gemessen an dem, was im romanischen und gotischen Sakralbau, aber auch an anspruchsvolleren Profanbauten wie etwa Burgen zu finden ist, blieben die Gewände der Stadttore fast immer ausAbb. 103 Blankenberg / Sieg (Nordrhein-Westfalen), Gewände und Scharten des „Katharinentors“ (Mitte des 13. Jahrhunderts). Der Scheitelwulst, eine typische Form rheinischer Spätromanik tritt hier noch spät auf; die differenzierte Schartenform ist auch im Rheinland eher selten.
154 I. Systematischer Teil
gesprochen schlicht. Darin darf man durchaus einen bewussten Gestaltungswillen sehen, denn an kaum einer Stelle der Stadtmauern wären die Fähigkeiten der Steinmetzen so wirkungsvoll und zugleich sparsam einsetzbar gewesen – ein Gewände war ohnehin nötig, der Umfang möglichen Mehraufwandes für Ornamentik eng begrenzt, die Nahwirkung maximal. Wenn man also dennoch bei einfachen, aber durchaus kraftvollen Gestaltungen blieb, so sollte damit offenbar ausgedrückt werden, dass Wehrhaftigkeit der Geist dieser Bauten war, nicht etwa religiöse Bedeutung, und stadtherrliches oder bürgerliches Selbstverständnis eben nur insoweit, als es wehrhaft war. Diese Art von Toröffnung fügte sich gut in eine Architektur ein, die auch sonst fast vollständig auf der Anordnung von Baukörpern und kaum auf Detailgestaltung beruhte, also eine spezifische Wehrbauarchitektur, wie wir sie ähnlich auch bei Burgen finden. Die Grundform der Toröffnung war in der großen Mehrzahl der Fälle der Spitzbogen, was keiner Diskussion bedarf, da ja die Blütezeit der Stadtmauern vom 13. bis zum 15. Jahrhundert lag, also der Gotik entsprach. Die zweithäufigste Gestaltung war der Rundbogen, der natürlich bei den spätromanischen Bauten bis Mitte des 13. Jahrhunderts und ebenso selbstverständlich bei den Spätformen im 16. Jahrhundert vorkam, nicht erst in der Renaissance, sondern bereits in der Spätgotik; auch in der Zwischenzeit war der Rundbogen aber keineswegs völlig tabu. Alle anderen Bogenformen (Stichbogen, Korbbogen) waren ausgesprochen selten und am ehesten im Zusammenhang späterer Veränderungen zu finden, die wegen der fortdauernden Verkehrsbedeutung der Durchfahrten natürlich recht häufig vorkamen. Dass Stürze bzw. gerade überdeckte Öffnungen fehlen, kann nicht überraschen; die erforderliche Breite der Öffnung, kaum je unter 2,50 m, hätte die Tragfähigkeit sowohl von Stein als auch von Holz überfordert. Die einfachste denkbare „Profilierung“, nämlich das im Querschnitt rechteckige Gewände, war ausgesprochen häufig, nicht nur dort, wo schlechtes Steinmaterial mit reicher Mörtelverwendung dies nahelegte – etwa im Rheinischen Schiefergebirge –, sondern durchaus auch bei Verwendung guten Werksteins, der detailliertere Bearbeitung zugelassen hätte. Die Fasung – mit
Abb. 104 Eberbach (Baden-Württemberg), das südöstliche Stadttor der spätstaufischen Stadtmauer (nach 1227 / 31) ist ein seltenes (heute leider stark zugewachsenes) Beispiel eines noch romanischen Mauertores (ältere Ansichtskarte).
Abb. 105 Andernach (Rheinland-Pfalz), das Gewände des „Koblenzer Tores“. Der voluminöse Torbau dürfte nach einer Schriftquelle etwa im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden sein.
oder ohne schlichtem Anlauf – als zweiteinfachste Gestaltung ist ähnlich weit verbreitet; in beiden Fällen würde die Nennung von Einzelbeispielen daher nur ein falsches Bild ergeben. Eine regional gebundene Ausnahme war auch das Auftreten eines „Scheitelwulstes“ im Spitzbogen, typisch für die rheinische Spätromanik, etwa am „Katharinentor“ in Blankenberg / Sieg noch Mitte des 13. Jahrhunderts zu finden (Abb. 103). Etwas häufiger, aber immer noch selten, war die Stufung des Gewändes, wobei die in der Regel nur zwei Stufen höchstens gefast oder leicht gekehlt wurden, um die kraftvolle Wirkung nicht zu schädigen. Diese Form dürfte unter ersten gotischen Einflüssen gegen Mitte des 13. Jahrhunderts aufgekommen sein, zumindest stammen die frühesten datierbaren Beispiele, den Rhein entlang, aus dieser Zeit; genannt seien etwa Neuleiningen, wiederum Blankenberg / Sieg („Katharinentor“, Abb. 103) und Siegburg („Grimmels-
tor“, „Mühlentor“). Aber das Brückentor in Limburg (um 1315–65) zeigt, dass die Form auch im 14. Jahrhundert aufgegriffen werden konnte, und in Franken ist eine Streuung zu beobachten, die bis zum 15. Jahrhundert reichte (etwa Weißenburg, Leutershausen, Wassertrüdingen, Wolframs-Eschenbach, im letzten, jüngsten Falle zusätzlich profiliert). Auch diese etwas aufwendigere Form bietet also keinen Anhalt für engere Datierungen, sie ist im Grunde in der gesamten Gotik und Spätgotik denkbar und ebenfalls den Sonderformen der Wehrbauarchitektur zuzuordnen. Geschrägte oder profilierte Kämpfer, eine ebenfalls recht schlichte Form der Bereicherung, sind vor allem bei den seltenen spätromanischen Toren zu finden. Genannt seien etwa – um die breite geographische Streuung anzudeuten – Mühldorf / Inn, Eberbach am Neckar (Abb. 104) oder Marburg / Lahn. Das erwähnte Brückentor 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
155
in Limburg, spätestens aus dem mittleren 14. Jahrhundert, scheint für die Kämpfer schon ein spätes Beispiel zu sein. Offenbar zog man in der Spätgotik das schlichtere, nicht durch ein Horizontalglied unterbrochene Gewände vor; man fühlt sich entfernt an den in derselben Epoche aufkommenden Brauch erinnert, bei Stützen im Kirchenbau auf Kapitelle und Kämpfer zu verzichten, zugunsten einer durchlaufenden Linie von Dienst und Rippe. Das Auftreten reicherer, mehrteiliger und durch tiefere Ausarbeitung schattenwerfender Profilierungen wäre nach der allgemeinen Stilentwicklung auch bei Stadttoren spätestens ab dem mittleren 14. Jahrhundert zu erwarten. Ein Fall wie das „Koblenzer Tor“ von Andernach, wohl nicht allzu lange vor 1350 entstanden, macht immerhin klar, dass Derartiges sogar in höchst wuchtigen Formen möglich war (Abb. 105), ebenso wie das offenbar gleichzeitige Vortor Abb. 106 Reutlingen, das „Tübinger Tor“, Feldseite. Der im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts entstandene Torturm ist mit seiner Portalgestaltung und den Strebepfeilern, die auf die städtische Pfarrkirche verweisen, ein seltenes Beispiel aufwendiger Detail gestaltung (vgl. Abb. 342; Stadtarchiv Reutlingen).
156 I. Systematischer Teil
der dortigen „Kornpforte“, aber daneben gab es im Rheinland nur in Lechenich bescheidene Profilierungen. Und etwa in Franken, ebenfalls einer reichen Stadtmauerlandschaft mit zahlreichen erhaltenen Toren, findet man nach dem romanischen Gewände des „Weißen Turmes“ in Rothenburg (Abb. 371) gerade einmal in Lauf an der Pegnitz, am Untertor Karls IV., eine mehrteilige Profilierung, dann, schon um 1400, Ähnliches an den Tortürmen von Wolframs-Eschenbach – mehr aber nicht. Diese extreme gestalterische Zurückhaltung lässt Fälle wie das Mainzer „Eisentor“ oder das „Tübinger Tor“ in Reutlingen schon fast als Kuriositäten erscheinen, deren besonders reicher Schmuck auch durch herausragende Sonderfunktionen – die in beiden Fällen unbelegbar bleiben – nicht erklärbar würde. Das romanische „Eisentor“ in Mainz war ein zwei- oder dreigeschossiger Torturm, dessen breite Toröffnung eingestellte Säulen, eine reich profilierte Archivolte und – im deutschen Stadtmauerbau nach gegenwärtigem Kenntnisstand einzigartig – sogar Portallöwen besitzt (Abb. 97)! Das Tor ist sicher als Hauptzugang der Stadt von der Schiffslände am Rhein zu verstehen, und man mag erwägen, es mit dem wichtigen Selbstverwaltungsprivileg in Verbindung zu bringen, das die Stadt 1244 erhielt – aber gesichert ist dies nicht. Die reiche Ausgestaltung des „Tübinger Tores“ in Reutlingen, aus der beginnenden Gotik und schon insoweit etwas ganz anderes als das „Eisentor“, ist funktional noch schwerer zu erklären (Abb. 106). Ein kräftiger Torturm, mehrfach durch Wasserschläge gegliedert, besitzt ein dreifach(!) gestuftes Gewände, das eng mit einem Portal der dortigen Marienkirche verwandt ist. Ist schon dies ungewöhnlich aufwendig, so ist der Wimperg mit Krabben und Kreuzblume über dem Gewände absolut einzigartig; die Ausstattung wirkt ausgesprochen sakral und dies wird durch einen Dreipass mit gemalter Kreuzigung auf dem Wimperg und zusätzlich durch die diagonal angesetzten, nur erdgeschosshohen Eckstrebepfeiler mit weiteren Kreuzblumen noch gesteigert. Man würde in diesem Tor eine Kapelle vermuten und die ebenfalls bisher einzigartigen Ausmalungsreste des 14. Jahrhunderts im Inneren mögen auch in diese Richtung weisen; aber die Schalenform gibt insoweit zu
Abb. 107 Köln, das „Hahnentor“. Rechts sind noch die bei der Restaurierung 1888 entstandenen Rundbogenfenster erhalten, links hat man sie bei der Wiederherstellung nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg weggelassen (vgl. Abb. 149).
denken und ebenso das Fehlen aller Quellen in dieser Richtung. Das Fehlen von Analogien für die beiden Einzelfälle Mainz und Reutlingen, die einige Jahrzehnte auseinanderliegen, mag teils mit dem Verschwinden vieler Tore zusammenhängen, aber die grundlegendere Erklärung möchte ich nach wie vor in einer spezifischen Wehrbauarchitektur sehen, deren Formenrepertoire grundsätzlich eher schlichtere Mittel umfasste. Das sei an einem letzten Beispiel belegt, das hier wegen seines durchaus zeittypischen Torgewändes und seiner anderen Grundform nicht besonders erwähnt werden musste, nämlich dem spätromanischen Kölner „Hahnentor“ (Abb. 107). Es öffnete sich auf die Straße nach Aachen, deren besondere Bedeutung in der dort stattfindenden Königskrönung durch den Kölner Erzbischof und dem folgenden Einzug in Köln lag. Das Tor ist demnach durchaus monumental betont, aber eben nicht durch „Schmuck“, sondern durch die imposantere Form des breit gelagerten Doppelturmtores, das hier, zur Unterscheidung von seinen Kölner Geschwistern, durch Doppelfenster im Mittelteil und (restaurierte) Rundbogenfenster in den Türmen besonders würdig ausgestaltet wurde. Äußerst selten sind Torflügel höheren Alters erhalten geblieben; ihr Holz war der Witterung
und erheblicher Abnutzung unterworfen und überlebte daher kaum je die anderthalb Jahrhunderte, seitdem die Tore nicht mehr nachts geschlossen wurden, geschweige denn das halbe Jahrtausend seit dem Ende des Mittelalters. Das älteste erhaltene Beispiel dürfte das Vorstadttor von Berching in der Oberpfalz sein, das wohl erst nach 1500 erbaut wurde; die Torflügel werden noch aus dieser Zeit stammen. Sie enthalten eine spitzbogige Schlupfpforte und – was sicher erst eine späte Entwicklung war – dreieckige Gewehrscharten. Beachtlich alt sind auch die Flügel des „Untertores“ in Dambach (Unterelsass), die „1645“ bezeichnet waren, und zwar interessanterweise direkt neben dem selbst „1323“ bezeichneten Gewände (Abb. 5). 2.2.5.3. Die Durchfahrt Der beidseitig geöffnete Raum im Erdgeschoss eines Torturmes, die Durchfahrt oder Torkammer, eignete sich im Prinzip ebenso wie die feldseitige Front zu repräsentativer Gestaltung, man hätte ihn als vornehmen Empfangsraum interpretieren und ausstatten können. In der Praxis sind derartige Ansätze jedoch sehr selten, was sich wiederum ins Bild einer funktionsbetonten, ihre Wirkung fast nur im Baukörper suchenden Architektur fügt. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
157
Abb. 108 Augsburg, „Vogeltor“ (1445), der hängende Schlussstein im Gewölbe der Durchfahrt ist im deutschen Raum einzigartig.
Der praktische Charakter der Durchfahrt zeigt sich allein schon darin, dass es in aller Regel zur Stadt hin kein zweites verschließbares Tor gab. Der Raum öffnete sich in der Regel im Bogen – meist Spitz- oder Rundbogen – zur Stadt, aber dieser Bogen besaß kein Gewände im Sinne eines Anschlages für die Torflügel, sondern er entsprach einfach der Tiefe der Mauer, die er zu tragen hatte. Das gilt interessanterweise selbst dann, wenn der Turm gar keine stadtseitige Wand besaß, sondern sich oberhalb der Durchfahrt als Schalenturm öffnete; theoretisch hätte in solchen Fällen auch die Torfahrt keines gemauerten Abschlusses bedurft, aber dies fand sich höchstens bei sehr einfachen Toren kleiner Städte. Der Bogen wurde also aus ästhetischen oder auch konstruktiven Gründen für wichtig erachtet, aber er hatte nichts mit Torflügeln zu tun. Die Offenheit der Durchfahrt zur Stadt ist ein erster wichtiger Hinweis, dass diesem Raum auch keine Verteidigungsfunktion zugewiesen war. Theoretisch hätte man die Durchfahrt ja wie eine Art überdeckten Torzwinger nützen können; der Feind, der das feldseitige Tor zerstört hat, wäre durch ein zweites, inneres Tor aufgehalten worden, sodass man ihn von oben hätte bekämpfen können. Die Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – auch und vor allem über Burgen – liebte solche Ideen, aber die Realität widerlegt sie komplett. Sicherlich sind viele Balkendecken über den Durchfahrten von 158 I. Systematischer Teil
Tortürmen später erneuert worden, aber es wirkt doch sehr unwahrscheinlich, dass dabei wirklich alle Spuren von Wurflöchern oder Ähnlichem verschwunden sein sollen. Außer gelegentlichen Luken, die zum Lastenaufziehen gedient haben dürften, und den Öffnungen über Treppen, findet man aber keinerlei Öffnungen mehr, geschweige denn solche von eindeutig wehrhaftem Charakter. Damit wird bestätigt, was schon das Fehlen stadtseitiger Torflügel recht eindeutig belegt: Die Tortürme besaßen nur einen einzigen Torverschluss; wer diesen zerstört hatte, befand sich de facto in der Stadt. Als Ausstattungen der Durchfahrt, die über die nackten Wände und Flachdecken hinausgingen, sind nach alledem im Grunde nur drei Punkte anzusprechen; Sitznischen, Treppen zu den Obergeschossen und Gewölbe. Die Sitznischen befanden sich nicht selten, aber doch in der Minderzahl der Fälle, in den seitlichen Wänden der Torfahrt, und zwar fast immer beidseitig. Sie waren in der Regel mehrere Meter breit, boten so Platz für mehrere Personen und waren in schmuckloser Weise überwölbt, kaum je mit Quadern oder gar Profilierung; als aufwendige Ausnahme sei in Nürnberg der „Weiße Turm“ genannt, bei dem die Nischen im Kleeblattbogen schließen. Für wen die Sitze vorgesehen waren, ist – soweit ich finden konnte – nicht aus Schriftquellen bestimmbar. Ganz gewiss dienten sie der Bequemlichkeit der Torwächter, vielleicht auch jener von Personen, die kontrolliert wurden. Man darf bezweifeln, dass anderen der Aufenthalt an so neuralgischer Stelle erlaubt war. Die Einwölbung der Torfahrt war ebenfalls eine Ausnahme, vor allem, wenn man von den völlig schmucklosen Tonnenwölbungen absieht. Beispiele von anspruchsvoll gestalteten Wölbungen der Torfahrt sind fast nur aus der Spätgotik bekannt. Als frühe Fälle, gegen und um 1300, können die Tore von Gengenbach in Baden und das Regensburger „Ostentor“ genannt werden, die Kreuzrippengewölbe mit kräftigen Rechteckrippen aufweisen, aus dem späteren 14. Jahrhundert stammt das Kreuzgratgewölbe in der Torfahrt des Jenaer „Johannistores“; wenig jünger ist der Helmstedter „Hausmannsturm“ mit Kreuzrippenwölbung und Rose auf dem Schlussstein. Etwas häufiger werden solche Gestaltungsansätze aber erst im 15. Jahrhundert
und dann bis in die Renaissance hinein. Im westund süddeutschen Raum kann das „Martinstor“ in Eltville (um 1400), noch mit Kreuzrippenwölbung, genannt werden, dann, mit Variationen von Stern- und Netzgewölben, das Augsburger „Vogeltor“ (1445, mit hängendem Schlussstein! Abb. 108), das zeitnahe Breisacher „Specktor“ und das „Obertor“ in Weißenhorn (um 1470 / 80). Diesen süddeutschen Beispielen schließen sich ziemlich nahtlos Bauten in Renaissanceformen an, auf die noch zu kommen ist (vgl. 2.2.5.10.). Dass Gewölbe in der Durchfahrt auch im Backsteingebiet mit seinem reichen Schmuckapparat des 14. / 15. Jahrhunderts auftraten, kann nicht überraschen, und auch nicht, dass die Entwicklung hier wieder etwas zeitversetzt erst im 15. Jahrhundert lag. Für diese Region früh ist das unvollendete Sterngewölbe im „Treptower Tor“ in Neubrandenburg (um 1400), das Werbener „Elbtor“ (um 1460 / 70) besitzt ein Kreuzrippengewölbe. Dem Neubau des Bernauer Steintores (1485) – hier ist nicht nur die Durchfahrt kreuzrippengewölbt, sondern auch alle Geschosse darüber sind es – kann man das etwa gleichaltrige „Altperwer Tor“ in Salzwedel zur Seite stellen, und ein sehr spätes Beispiel (1553) ist das Vortor des „Salzwedeler Tors“ in Gardelegen, bei dem die Durchfahrt mit ihrem Sterngewölbe zwischen zwei wuchtigen Rondellen eingespannt ist. Dass Schmuckgewölbe in der Torfahrt einen ungewöhnlich hohen Aufwand darstellten, bestätigt schließlich auf eine ganz andere Weise das Deutschordensland Preußen. Hier sind beachtlich viele Fälle festzustellen, bei denen Schmuckwölbungen beim Bau der Tore zwar angelegt wurden – durch Konsolen bzw. Gewölbeansätze an den Wänden –, deren Ausführung aber stets unterblieb. 2.2.5.4. Das Fallgatter Fallgatter und Zugbrücke gehören zu den schier unverzichtbaren Zutaten eines allzu populären Mittelalterbildes; ein Filmarchitekt, der uns ein Burg- oder Stadttor ohne diese Zutaten zu präsentieren wagte, müsste den Beruf wechseln. Also hatte jedes Stadttor ein Fallgatter und eine Zugbrücke – oder etwa nicht? Was die Zugbrücke betrifft, liegen die Verhältnis durchaus etwas komplexer; worauf jedoch erst später einzugehen bleibt (vgl. 2.2.7.2.). Das
Fallgatter jedoch – ein hölzernes, massives Gitter, das vor oder in der Toröffnung herabgelassen werden konnte – war tatsächlich sehr verbreitet, und zwar im Grunde seit den Anfängen der steinernen Stadtbefestigungen. Allerdings sah sein Gebrauch wesentlich prosaischer aus, als uns die Fabel suggerieren will. Beim Freiherrn von Münchhausen findet sich das Motiv des vom Fallgatter halbierten Pferdes, charakteristischerweise erst im 18. Jahrhundert; nach solch dramatisierender Vorstellung ließ man das Fallgatter erst heruntersausen, wenn sich der Angreifer bereits darunter befand – er wäre also nicht nur einfach am Eindringen gehindert, sondern regelrecht zerschmettert worden! Schon ein wenig gesunder Menschenverstand führt solche Ideen ad absurdum. Die Führungen und Aufhängungen der Gatter waren keineswegs so exakt, dass sie ein Niedersausen innerhalb eines bestimmten Sekundenbruchteils sichern konnten, schon gar nicht, nachdem dies jahre- oder jahrzehntelang nicht vorgekommen war. Solche Vorstellungen gehören ins Industriezeitalter mit seinen metallenen, gut geölten und regelmäßig gepflegten Maschinen. Die Idee, man könne einen galoppierenden Reiter oder rennenden Fußkämpfer mit dem Fallgatter exakt treffen, ist also fern der Realität – und ein missglückter Versuch wäre höchst gefährlich gewesen, denn ein in die Stadt durchdringender Angreifer hätte dort ein Blutbad anrichten können. Die Funktion des Fallgatters war also wesentlich undramatischer. Die Torflügel waren die größte Schwachstelle jeder Stadtmauer, weil sie nicht aus Stein waren. Zwar konnte man dickes und hartes Holz verwenden und die Außenseite mit Eisen beschlagen, aber der Dicke des Holzes waren durch die notwendige Beweglichkeit Grenzen gesetzt. Der Rammbock, ein einfaches und daher sicher oft verwendetes Werkzeug, konnte hier also relativ schnell Erfolge erzielen und dagegen war das Fallgatter ein gutes Mittel. Seine dicken Balken vermehrten den Widerstand des Tores erheblich, zumal es sich durch sein Gewicht mit eisernen Spitzen in den Boden rammte; und das konnte notfalls schnell geschehen. Jeder meint heute zu wissen, wie ein Fallgatter aussah; dafür sind vor allem zahlreiche Rekonstruktionen des 19. Jahrhunderts verantwortlich, aber auch die Tatsache, dass Fallgatter noch nor2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
159
Abb. 109 Basel, das „Spalentor“ besitzt neben dem Fallgatter eine hintere Sperre aus einzeln absenkbaren Balken, die sekundär in das nach 1356 erbaute Tor eingefügt wurde. Links Ansicht im ersten Obergeschoss, rechts Fotos beider Sperren in heruntergelassenem Zustand (1920, Foto im Tor).
male Bestandteile von Festungen dieser Epoche waren. Die Feststellung, dass in Deutschland kaum mittelalterliche Fallgatter in situ erhalten sind, wird vor diesem Hintergrund vielleicht überraschen; wenn man jedoch überlegt, dass das Gatter lebensgefährlich wurde, wenn seine Aufhängung verrottete oder verrostete, und dass seine Entfernung daher spätestens im 19. Jahrhundert der sparsamste Weg der Verkehrssicherung war (falls nicht gleich das ganze Tor abgerissen wurde), dann wird verständlich, dass erhaltene mittelalterliche Fallgatter wertvolle Seltenheiten sind. Gut erhalten ist etwa das doppelte Fallgatter am Basler „Spalentor“ (Abb. 109), das wahrscheinlich in die Zeit vor 1400 zurückgeht. Dass die Gatter ein Gitterwerk bildeten, wie das äußere am „Spalentor“, belegen auch mittelalterliche Abbildungen, etwa auf Siegelbildern oder in den Schweizer Bilderchroniken des 15. Jahrhunderts. Was heute noch von den Fallgattern zeugt, sind in der Regel also nur die schlitzartigen Führungen bzw. „Rillen“, in denen es herabglitt. Wegen des Gewichts bzw. der hohen Kräfte, die auftreten konnten, wenn sich das Gatter etwa verkantete, waren diese Führungen so gut wie immer aus Werkstein (wiewohl man Holzkonstruktionen als nicht mehr nachweisbare Billiglösung nicht völlig ausschließen kann); Vincent Mayr belegte an internationalen Beispielen, dass 160 I. Systematischer Teil
die Führungsschlitze zwischen elf und 23 cm breit waren. Bei den Führungen gab es verschiedene Varianten; prinzipiell ist zwischen der Aufhängung des Gatters im Inneren des Turmes und jener an der Außenseite zu unterscheiden. Wenn das Fallgatter im Inneren des Turmes aufgehängt war, was es natürlich weit besser vor der Witterung schützte, war seine Führung in das Gewände des Tores eingebaut, wobei nur die Spitzen im Bogen sichtbar blieben. Diese Lösung war aufwendig, denn für den Schlitz im Gewände, der maßhaltig bis zum Obergeschoss hinaufgeführt werden musste, bedurfte es sorgfältiger Steinmetz- und Maurerarbeit. Es ist daher aussagekräftig, dass diese haltbarere und teurere Lösung praktisch seit den Anfängen der steinernen Stadttore in zahlreichen Beispielen nachweisbar ist. Das eindrucksvollste Beispiel bieten wieder einmal die ab 1220 entstandenen Kölner Tore, die insoweit für das gesamte nördliche Rheinland bis ins 14. Jahrhundert vorbildhaft blieben. Um die Verbreitung der Form in dieser Zeit anzudeuten, als der Boom der Mauern erst begann, genügt es außerdem ein Beispiel vom Oberrhein zu nennen, das „Mauertor“ in Neuleiningen (um 1238–41), und eines aus Brandenburg, das noch romanische „Tangermünder Tor“ in Stendal (Abb. 94).
Die einfachere Alternative, das feldseitig vor die Wand gehängte Fallgatter, trat in mehreren Variationen auf. Die aufwendigste Form bestand darin, eine flache, im Stich-, Spitz- oder Rundbogen abschließende Nische einzubauen, in deren Seiten die Führungsrinnen eingearbeitet waren. In dieser Nische, die mindestens die doppelte Höhe des Torgewändes besaß und daher die Architektur des Turmes mitprägte, hing das Gatter noch etwas geschützt, war aber im Prinzip dem Wetter ausgesetzt; man kommt daher zu der Idee, es handele sich bei dieser Lösung eher um einen gestalterischen, weniger um einen funktionalen Ansatz, quasi um eine Überhöhung und Tiefenstaffelung des eigentlichen Torgewändes. Auch diese Lösung geht noch in die Zeit vor und um die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück, frühe Beispiele findet man etwa in Speyer („Altpörtel“; Abb. 79), Worms („Fischerpforte“) und im nahen und eng verwandten Ladenburg („Martinstor“; Abb. 110); im Neckarraum gibt es wenig jüngere Beispiele (Esslingen, „Pliensautor“, vor 1297; Bönnigheim, „Köllesturm“, nach 1286). Man könnte daher die Deutung erwägen, diese Form, die später in Einzelbeispielen weitverbreitet war, sei noch vor 1250 am Oberrhein entwickelt worden und habe sich von dort her verbreitet. Die nächsteinfachere Form – auch sie hat in Baden und im Elsass ein besonders geschlossenes Verbreitungsgebiet – waren relativ breite Lisenen, die beidseitig vom Tor der Turmwand vorgelegt waren und in deren Seiten die oft gerundete Führung eingearbeitet war. Es scheint so, als ob auch diese schlichte, aber konstruktiv stabile Form weit ins 13. Jahrhundert zurückgegangen sei; zumindest dürfte der nur in Abbildungen überlieferte „St.-Johann-Schwibbogen“, ein Baseler Torturm, schon um 1220 diese Art Fallgatterführung besessen haben. Immer noch recht früh, aber auch wegen seiner aufwendigen Gestaltung erwähnenswert ist der Torturm der „Oberpforte“ in Ortenberg / Wetterau, wohl aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts; die Lisenen des Fallgatters sind dort an den Kanten mit schlanken Rundstäben geziert, die ein Knospenkapitell(!) tragen (Abb. 125). Die einfachste Art, ein Fallgatter vor die Turmwand zu hängen, bestand darin, eine Reihe von „Klauensteinen“ anzubringen, also von hakenförmigen Werksteinen, die in Abständen von etwa
1–2 m einzeln in der Turmwand saßen und die senkrechten Randhölzer des aufgezogenen Gatters hakenförmig umfassten (Abb. 111). Es ist klar, dass dies den Aufwand an Steinmetzarbeit minimierte, aber zugleich das Risiko vergrößerte, dass das herabrutschende Gatter sich verkantete. Die Lösung war aber so weit verbreitet, dass man dieses Problem offenbar durch hinreichend dichte Anordnung der Steine im Griff hatte. Gingen die drei bisher beschriebenen Formen – Gatter im Gewände, Gatternische, Lisenen – alle in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück, so war die Sparform der Klauensteine vor allem im 14. / 15. Jahrhundert üblich, und zwar in großen Teilen des deutschen Raumes; eine Fülle von Beispielen kann man etwa noch in Franken besichAbb. 110 Ladenburg (Baden-Württemberg), das „Martinstor“ besitzt eine typische Stichbogennische für das hochgezogene Fallgatter.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
161
tigen. Das früheste Vorkommen ist wohl in Tirol zu notieren, wo etliche Tortürme mit Klauensteinen noch ins späte 13. und frühe 14. Jahrhundert gehören. Als einzigartiger Fall – zumindest heute, anderswo mögen Rost und Instandsetzungen ihr Werk getan haben – ist der unsicher datierte Turm des „Hachtores“ (13. oder 14. Jahrhundert) in Rüthen / Westfalen zu nennen, bei dem das Gatter zwar in einer Rundbogennische hing, aber nicht durch steinerne „Schienen“ oder Klauensteine gehalten wurde, sondern durch beidseitig je drei eingemauerte Eisenstifte. Ein erwähnenswerter Einzelfall ist auch das äußere „Frauentor“ in Mühlhausen (Thüringen; 15. Jahrhundert), bei dem das vor der Wand hängende Gatter durch ein giebelförmiges Gesims zumindest gegen direkt herablaufendes Wasser geschützt wurde, Abb. 111 Glurns (Südtirol), eine Reihe von Klauensteinen am „Malser Tor“ (nach 1507) war die sparsamste Art der Befestigung und Bewegung des Fallgatters.
162 I. Systematischer Teil
wobei aber der gestalterische Aspekt wohl wichtiger war. Und eben dies gilt natürlich auch für das „Obertor“ in Nabburg (1565), den heute einzigen Fall, bei dem die Klauensteine ornamental gestaltet waren. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert traten alle beschriebenen Formen nebeneinander auf, mit einem gewissen Zurücktreten des Schlitzes im Torgewände und besonderer Häufigkeit der Klauensteine. Als späte Beispiele für die im Gewände geführten Gatter kann man etwa die aufwendigen Reutlinger Tortürme (um 1260 / 1270), das Limburger „Brückentor“ (um 1315–65) oder den „1401“ datierten Torturm des sehr kleinen hessischen Staufenberg nennen. Aussagekräftiger für die Unentschiedenheit, die man den Formen entgegenbrachte, wobei neben den vier Hauptformen durchaus auch das Tor ohne Gatter zu nennen bleibt, sind solche Regionen oder gar einzelne Städte, wo sie nebeneinander auftraten. So fand man in Pommern noch im 15. Jahrhundert neben der besonders verbreiteten Gatternische auch die Variante mit den Lisenen und Tortürme völlig ohne Fallgatter. In Saalfeld in Thüringen gab es neben der spitzbogigen Gatterblende auch die Lösung mit den Lisenen und schließlich Klauensteine, wobei es solche Fälle weit häufiger gegeben haben mag, wir dies aber nicht mehr wissen, weil letztlich nur wenige Städte mehrere Tore in so gutem Zustand bewahrt haben, dass solche Vergleiche möglich wären. Zwei Kuriosa sind abschließend zu erwähnen, nämlich Tortürme, bei denen das Fallgatter ausnahmsweise an der Stadtseite des Turmes angebracht war (Zülpich, „Weiertor“, nach 1291; Altdorf, „Oberes Tor“, zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts). In Anbetracht der schon behandelten Tatsache, dass die Durchfahrten der Tortürme gemeinhin zur Stadt nicht einmal Torflügel besaßen (vgl. 2.2.5.3.), handelt es sich hier um ganz isolierte Versuche, die Torfahrt quasi als eine Art Zwinger mit zwei hintereinander gestaffelten Verschlüssen umzudeuten. Die Frage, wie eigentlich das Fallgatter herabgelassen und wieder aufgezogen wurde, ist nur noch anhand minimaler Befunde ansatzweise zu erklären. Das außen vor die Wand gehängte Gatter benötigte zumindest ein Loch für das Seil oder die Kette, an der es aufgehängt war; man darf voraussetzen, dass es immer nur eines war,
um ein Verkanten durch ungleichen Zug zu verhindern. Dieses Loch war naturgemäß klein und ist daher so gut wie immer später vermauert worden bzw. unter Putz verschwunden. Am ehesten hat es bei den Gatterblenden überlebt, im Scheitel des Bogens, wo es vor Regen gut geschützt ist. Oft hat man den Eindruck, dass Seil oder Kette einfach durch das untere Ende einer Schlitzscharte geführt waren. Jedenfalls fehlten offenbar grundsätzlich Laufrollen oder andere besonders durchdachte Einrichtungen zur Führung des Seiles; da das Gatter nur in seltenen Notfällen bewegt wurde, war das Seil eher durch die Witterung als durch Abrieb gefährdet. Auch die Winde, die man vor allem zum Hochziehen des Gatters benötigte, ist meiner Kenntnis nach nur in Basel (Abb. 109) erhalten; jedoch könnte im Inneren heute schwer zugänglicher Bauten noch die eine oder andere Überraschung warten. Das Herablassen des Gatters erfolgte sicher nicht vorsichtig mit der Winde, sondern durch „Fallenlassen“, damit sich die Spitzen in den Boden bohrten. 2.2.5.5. Maueranschluss, Zugänge und Treppen Der beidseitige Anschluss der Mauer an den Torturm war in der Regel von schlichtester Art. Die naheliegende Vermutung, es sei auf Flankierung geachtet worden, wird durch die Realität widerlegt, die bei den Tortürmen durchaus nicht anders als bei den Mauertürmen (vgl. 2.2.4.1.) aussieht. Die Türme springen keineswegs besonders weit vor die Mauer vor, um damit Flankierung zu ermöglichen, und insbesondere Scharten in der Torfahrt, die die beste Wirkung geboten hätten, weil sie auf der Höhe des Angreifers lägen, waren ausgesprochene Ausnahmen; erst im Artilleriezeitalter kommen sie gelegentlich vor, also im 15. / 16. Jahrhundert. Die oberen Turmteile enthalten zwar auch bei Tortürmen öfter seitliche Scharten, aber das Anstoßen der Mauer im mittleren Teil der Turmseitenwände führte dennoch oft zu „toten Winkeln“ vor der Mauer. Andererseits war es im Prinzip natürlich möglich, den Maueranschluss so zu gestalten, dass der Platz direkt vor dem Tor von der Mauer aus flankierbar war. Dafür musste der Turm nur einige Meter hinter der Mauerflucht gebaut und die Mauer entsprechend rechtwinklig abgeknickt
werden; so entstand eine kurze Torgasse, die beidseitig von den Wehrgängen der Mauer beherrscht wurde. Diese Lösung ist gelegentlich anzutreffen, allerdings so selten gegenüber dem direkten Maueranschluss an die Turmseiten, dass gerade dies ein weiteres Mal die weitgehende Missachtung effek- Kurze Torgassen tiver Flankierung zeigt. Und auch im Falle solcher Torgassen zeigt das grundsätzliche Fehlen von tief liegenden Scharten, dass nicht in der Kategorie der Flankierung gedacht wurde. Es gab solche Torgassen sehr früh, wie vor allem das Baseler „Albanstor“ schon um 1100 zeigt. Da Torgassen bei frühmittelalterlichen Befestigungen häufig waren – Wälle mit ihrer viel größeren Tiefe legten solche Formen nahe, aber auch bei frei stehenden Mauern kamen sie gelegentlich vor –, darf man hier sicherlich ein Nachwirken solch älterer Formen annehmen. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, am Oberrhein und in Südwestdeutschland, gab es an den damals noch eher seltenen Mauern weitere, teils verschwundene Tore etwa in Straßburg, Oppenheim („Gautor“, mit trapezoider Torgasse) und Villingen (um 1230–70); der Sonderfall der Aachener Tore um 1300 ist etwas anders zu deuten, denn dort ging es bei unterschiedlicher Grundrissform der Tore jedenfalls um die Anordnung aufwendiger Wurfvorrichtungen über und vor dem Tor, die fraglos auf französisch-englischen Einfluss zurückzuführen sind. Auch Tortürme, die hinter einer älteren Mauer erbaut wurden, etwa in Freiburg im Breisgau („Predigertor“, 13. Jahrhundert) oder Konstanz („Schnetztor“, 15. Jahrhundert), sind sicherlich Sonderfälle; hier ging es wohl eher um den Schutz der Baustelle durch die erst nachträglich entfernte Mauer vor dem Turm. Die Form starb mit diesen frühen Beispielen nicht aus, blieb aber später ebenso selten. Ein berühmtes Beispiel bieten mehrere Tortürme der äußeren Mauer von Rothenburg, die Ende des 14. Jahrhunderts entstanden (Abb. 112); nicht allzu weit davon findet man in Langenburg in Hohenlohe wieder eine trapezoide Torgasse, die aber mit ihren Schlüsselscharten fraglos erst im 15. Jahrhundert entstand. Damit sind wir in der Zeit, in der auch das Doppelturmtor seine zweite Blüte erlebte, das zwischen den beiden Rund2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
163
türmen ebenfalls eine torgassenartige, durch Scharten beherrschbare, zugleich aber architektonisch weit anspruchsvollere Situation bildete (vgl. 2.2.6.4.). Als absoluter Ausnahmefall sind abschließend die ab 1291 erbauten Tortürme von Zülpich zu erwähnen, die mit parallel geführten Mauern ein Stück vor die Mauer vorgeschoben wurden, das Gegenteil einer Torgasse. An sich ist dies eine naheliegende Idee, der starke Turm konnte so ein viel größeres Umfeld vor dem Tor beherrschen und man hatte einen besseren Blick auf die Au-
Abb. 112 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), „Würzburger Tor“. Vor dem Tor bildete die Mauer eine kurze Torgasse; Rekonstruktion des Zustandes vor dem Bau von Vortor und Zwinger.
164 I. Systematischer Teil
ßenseite der Mauer und in die Gräben. Später begriff man die Vorteile solch vorgeschobener Bauten, wie die Barbakanen und manche Rondelle und Streichwehren des 15. / 16. Jahrhunderts zeigen (vgl. 2.2.11.4. und 2.2.11.5.); aber auch schon im 12. / 13. Jahrhundert gab es außerhalb des deutschen Raumes weit vor die Mauer gestellte Türme, etwa die Form der torre albarrana in Spanien, die isoliert steht und nur durch eine gewölbte Brücke mit dem Wehrgang der Mauer verbunden ist. Ein derartiges Bemühen um noch bessere Beherrschung und Flankierung des Vorfeldes war dem deutschen Raum vor der Feuerwaffenzeit eindeutig fremd. Was die Zugänge zu den Innenräumen der oberen Geschosse betrifft, unterschieden sich Tortürme nicht prinzipiell von Mauertürmen vergleichbarer Größe. In seltenen Ausnahmefällen sind ihre Zugänge wie an den Bergfrieden von Burgen gestaltet, das heißt als isolierte Hochein- Zugänge zu den oberen Turmräumen stiege, sodass man den Turm durch Entfernen der hölzernen Treppe oder Leiter isolieren konnte. Ein früher Fall ist das Freiburger „Martinstor“ (1200 / 1201), mit stadtseitigem, rundbogigem Hocheinstieg, und damit vergleichen kann man etwa den „Weißen Turm“ in Rothenburg mit seiner hoch gelegenen Konsolsturzpforte (Abb. 113) und das „Sulfertor“ in (Schwäbisch) Hall, beide noch vor 1250 entstanden. Ein isoliertes, spätes Gegenbeispiel ist der Turm neben dem „Neustädter Tor“ in Zülz (Schlesien), dessen Hocheinstieg sogar eine Zugbrücke besaß (gegen 1400; Abb. 477); er war ein Vertreter einer Turmart, die man sonst in Österreich, Böhmen und angrenzenden Regionen eher auf Burgen findet. In diesen seltenen Fällen des Hocheinstiegs wären allerdings stets zusätzliche Untersuchungen nötig, um zu erweisen, dass es nicht von Anfang an zusätzliche Ausgänge auf den Wehrgang gab, die die Isolierung des oberen Turmteiles aufgehoben hätten. Der „normale“, in vielen Hunderten von Exemplaren erhaltene und belegbare Torturm des deutschen Raumes war jedenfalls auf eine unspektakuläre Weise mit der Außenwelt verbunden, die ihn gerade nicht als isoliert verteidigungsfähiges Werk kennzeichnet. Das Grundproblem des Zuganges zu den Obergeschossen
Abb. 113 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), der „Weiße Turm“, Stadtseite. Der um / nach 1200 entstandene Turm der inneren Stadtmauer besaß anfangs nur ein Obergeschoss mit Hocheinstieg; der Zinnenkranz darüber ist auf Höhe des Fensters noch ablesbar.
Abb. 114 Villingen (Baden-Württemberg), „Riettor“, der Zugang zu den Obergeschossen des Turmes ist als vorgekragte, pragmatisch geführte Steintreppe an der Seitenwand entlanggeführt.
lag hier natürlich darin, dass die Durchfahrt den Einbau einer normalen Treppe im Erdgeschoss verhinderte; sie wäre einfach im Weg gewesen. Die einfachste Lösung lag darin, die Treppe parallel zur hindurchführenden Straße an eine Seitenwand zu verlegen, was noch gelegentlich anzutreffen ist, aber wegen der geringen Haltbarkeit des Holzes keine Aussagen zum mittelalterlichen Zustand mehr ermöglicht. Was jedoch noch in vielen Fällen erhalten ist, ist die in Mauerwerk ausgeführte Variante dieser einfachsten Umgehung der Torhalle – eine Treppe, die in der Seitenwand des Torturmes oder auch eines andersartigen Torbaues eingebaut ist. Diese Lösung findet man etwa schon in den Kölner Torbauten der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und bei vielen davon abhängigen Toren des nördlichen Rheinlandes. Auch in den späten Toren Brandenburgs und des weiteren Backsteingebietes
ist diese solidere Lösung weitverbreitet, wie übrigens auch im Wiekhaustypus der Region; sie führte dort beachtlicherweise meist zu einer Asymmetrie der sonst sehr regelmäßigen und schmuckreichen Tore, weil die Wand mit der Treppe deutlich dicker sein musste. Eine pragmatische, nicht in der Seitenwand, sondern an ihr entlanggeführte Variante bietet das „Riettor“ in Villingen (Abb. 114). Man wird annehmen müssen, dass viele Tortürme Holztreppen dieser Art ins erste Obergeschoss besessen haben, die aber nicht erhalten sind. Dabei muss man sich außerdem klarmachen, dass kein zwingender Grund bestand, die Treppe innerhalb der Torfahrt anzuordnen. Außen an der Seitenwand des Turmes war ein ebenso gut nutzbarer Platz, denn dort konnte man zum Wehrgang aufsteigen und durch die Wehrgangpforte auf kaum längerem Weg in 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
165
den Turm treten; ein Dach gegen Nässe war hier zusätzlich nötig, die Anordnung der Treppe war aber weniger störend für den Verkehr. Da die Verbindung des ersten Turmobergeschosses mit den Wehrgängen die Regel war – ebenso wie bei der großen Mehrzahl der Mauertürme und wie dort ohne besondere Merkmale an den Pforten –, kann man letztlich nicht einmal ausschließen, dass manche oder viele Tortürme völlig auf direkte Treppen zu ihren Obergeschossen verzichteten. Denn bei nur geringfügiger Nutzung der Obergeschosse, die durchaus üblich war, mag es genügt haben, diese über die Wehrgänge zu erreichen. In späterer Zeit, vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, führte die schlechte Zugänglichkeit der oberen Turmteile gelegentlich zum Anbau eines Treppenturmes, der aber charakteristischerweise meist nur die „Problemzone“ bis zum ersten oder zweiten Obergeschoss überbrückte und kaum je die Gesamthöhe des Turmes erreichte; als Beispiel sei das „Klever Tor“ in Xanten genannt. Er dürfte in der Regel ein Hinweis auf eine fortbestehende oder neue Nutzung der Obergeschosse sein, etwa als Wohnung oder Archiv, ohne dass dies bisher untersucht wäre. In den oberen Turmgeschossen darf man davon ausgehen, dass geradläufige Holztreppen jeweils von Geschoss zu Geschoss der Normalfall waren, ebenso wie in den Mauertürmen. Diese Lösung kann man in vielen erhaltenen und zugänglichen Türmen noch sehen, ohne dass ich je den Eindruck hatte, eine noch mittelalterliche Treppe vor mir zu haben. Steinerne Treppen, also geradläufige Treppen oder Wendeltreppen in der Mauerdicke, waren bei Tortürmen extrem selten; Beispiele für Wendeltreppen habe ich insbesondere im Rheinischen Schiefergebirge gefunden (Linz, Mayen, Rhens; Dudeldorf 1453; Oberwesel, „Koblenzer Tor“), wo es auch in Mauertürmen einzelne Vergleichsfälle gibt. Hintergrund der aufwendigeren Treppe dürfte auch hier die Bewohnbarkeit dieser im späten 14. und im 15. Jahrhundert entstandenen Bauten gewesen sein. 2.2.5.6. Funktionen der Obergeschosse Bei den Mauertürmen war festzustellen, dass ihre Räume in aller Regel ungenutzt blieben bzw. ausschließlich der Verteidigung dienten; be166 I. Systematischer Teil
wohnbare Türme waren seltene Ausnahmen, die in der Regel offenbar auf zusätzliche Funktionen zurückgingen (vgl. 2.2.4.2.). Im Grundsatz stellt sich auch hier heraus, wie unter vielen anderen Aspekten, dass Tortürme eigentlich nicht als eigenständiger Bautypus gelten können, sondern, dass sie im Grunde nur funktionsbedingte Variationen der Mauertürme waren, bei denen zwar Einzelaspekte stärker ausgearbeitet wurden, wirklich originelle Merkmale aber fast immer fehlten. Man muss sich grundsätzlich fragen, warum die Tortürme so bescheiden blieben. Denn eigentlich war das Stadttor, im Gegensatz zur Randlage normaler Mauertürme, ein durchaus besonderer Ort im baulichen Gefüge der Stadt. Es Verzicht auf repräsentative Nutzungen besaß überdurchschnittliche ästhetische Wirkungsmöglichkeit nach innen wie nach außen und enthielt außerdem Räume, die sich theoretisch durchaus für die Aufnahme städtischer Funktionen anboten. Natürlich gibt es zumindest zwei naheliegende Erklärungen, warum die Räume des Tores wenig genutzt wurden: die exponierte Lage im Falle eines Angriffs und die unbequeme Erschließung der übereinanderliegenden Räume. Beide Gründe sind aber nicht wirklich stichhaltig. Wenn man etwa die Torhäuser der Burgen Edwards I. in Wales betrachtet – große, in den Obergeschossen mit Hallen und Wohnräumen ausgestattete, über Wendeltreppen zugängliche Doppelturmtore des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts –, so wird deutlich, dass ein Tor in dieser Epoche sehr wohl repräsentative Räume aufnehmen und gleichzeitig ein Kernpunkt der Verteidigung sein konnte; Varianten der edwardianischen Torhäuser in englischen Städten unterstreichen dies. Wenn man daher in Deutschland fast immer bei der für solche Nutzungen wenig geeigneten Form des Torturmes blieb, so ist dies also fraglos Beleg für einen mangelnden Willen dazu. Die Stadt bzw. ihr Rat als das Gremium, das die Unterbringung öffentlicher oder repräsentativer Funktionen in den Toren hätte beschließen können, legte offenbar keinen Wert auf eine Selbstdarstellung als Verteidiger der Stadt, sondern verstand die gesamte Befestigung inklusive
der Tore primär als funktionale Notwendigkeit, vielleicht außerdem als Ausdruck städtischen Selbstbewusstseins am Stadteingang. Ein machtbewusster und kämpferischer Angehöriger des Hochadels, wie zum Beispiel Edward I. von England, mochte das ganz anders sehen und sich symbolisch in vorderster Linie postieren. Der Rat und das Patriziat aber empfanden offensichtlich eher das Rathaus und andere städtische Bauten – Kaufhaus, Metzig, Gildehäuser und dergleichen – als Ausdruck ihrer Rolle, deren Lage um den Markt etwas anderes betonte. Handel und Reichtum waren die Grundlage „bürgerlich“patrizischen Selbstverständnisses, weit mehr als militärische Kampfbereitschaft. Diese war zwar notwendig und wurde auch in gewissem Maße zur Außendarstellung der Stadt genutzt, aber sie blieb peripheres Mittel zum Zweck und konnte daher Bauformen verwenden, die keine repräsentativen Innenräume umfassten. Lediglich eine nichtdefensive Sonderfunktion von Tortürmen bleibt zu reflektieren, für die das Basler „Spalentor“ das wichtigste Beispiel ist. Das Tor ist der Spalenvorstadt zugeordnet, in der es spätestens um / nach 1300 – also weit vor der Errichtung des bestehenden Tores (Abb. 128) – eine „Vorstadtgesellschaft“ gab, eine Art Ausschuss der dort wohnenden Bürger, der in Vertretung des Rates öffentlich-rechtliche Funktionen innerhalb der Vorstadt versah, bis hin zur niederen Gerichtsbarkeit (und der bis heute existiert, wenn auch der früheren Funktionen weitgehend entkleidet). Die „Vorgesetzten“ dieser Gesellschaft tagen bis heute im Torturm, der dementsprechend stadtseitig gut durchfenstert ist. Ob es Derartiges auch anderswo gab, bliebe von historischer Seite zu prüfen, soweit die Quellen es hergeben. Der „normale“ deutsche Torturm jedoch unterschied sich in seiner Ausstattung wenig von den Mauertürmen. Seine Obergeschosse – mindestens eines bei den blockförmigen Toren des früheren 13. Jahrhunderts, bis zu sieben bei besonders hohen Türmen der Zeit um 1400, zum Beispiel in Ausstattung rein defensiver Tortürme Rothenburg ob der Tauber – blieben offenbar im Normalfall bis auf die Treppen und, wohl im zweiten Obergeschoss, die Winde für das Fallgatter leer. Die Decken waren in aller Regel Balkendecken, nur über der Durchfahrt (vgl. 2.2.5.3.) gab es öfter
Abb. 115 Prenzlau (Brandenburg), das „Mitteltor“ – der Name ergibt sich aus der Stadterweiterung davor – ist eines der gestalterisch aufwendigsten Tore in Brandenburg. Der vorgekragte Wehrgang setzt hölzerne Wehrgänge an den älteren Stadttoren in Stein um.
einfache Tonnenwölbungen, ähnlich manchmal unter der Wehrplatte. Sie dürften unten vor allem mit Feuersicherheit zu tun gehabt haben, oben mit besserer Tragfähigkeit für Kriegsmaschinen oder später Feuerwaffen. Die Einwölbung weiterer Geschosse, insbesondere des ersten Obergeschosses direkt über dem Tor oder auch aller Geschosse des Turmes, war die große Ausnahme. Auch die Ausstattung der meisten Tortürme mit Einrichtungen zur Verteidigung – Scharten, Wurferkern, Zinnen – hat sich nicht sehr von jener eines größeren Mauerturmes unterschieden. Einfache Schlitzscharten, zwar innen erweitert, aber meistens ohne Schartennische, sind häufig, ihre Verteilung entbehrt aber wie bei den Mauertürmen fast immer aller defensiven Raffinesse. Zwar werden sie aus offensichtlich ästhetischen Gründen oft an der Front mittig angeordnet, sodass je eine Scharte pro Geschoss mit der Toröffnung eine axiale Mittenbetonung ergibt; wehrtechnisch ist das aber bedeutungslos. Ebenso entfalten Schlitzscharten in den Seiten der Türme oft eine gewisse flankierende Wirkung, weil man von dort vor die Mauer oder zumindest 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
167
schräg über sie hinweg in den Graben schießen konnte; aber auch hier fehlte offensichtlich fast immer die letzte Effektivität, denn die Scharten sind kaum je vollständig vor die Mauerflucht gerichtet bzw. die Türme springen nicht genug vor, um dies zu ermöglichen. Erst das Feuerwaffenzeitalter, als jedoch nur noch wenige Tortürme völlig neu entstanden, brachte hier etwas mehr Konsequenz, die aber das Gesamtbild nur noch marginal prägen konnte. Auch vorkragende Wurfeinrichtungen bzw. -erker waren bei Mauertürmen nur als Ausnahme festzustellen gewesen, mit dem Vorbehalt, dass Holzkonstruktionen verschwunden sein können. Das gilt ein weiteres Mal analog für die Tortürme, mit seltenen Ausnahmen in der Spätzeit um und nach 1400. Am auffallendsten ist eine Gruppe von besonders hohen Türmen in Mecklenburg und Pommern, die auf etwa halber Höhe einen allseitig umlaufenden, vorkragenden Holzwehrgang besaßen; der bedeutendste Fall ist das „Kröpeliner Tor“ in Rostock, dem pommersche Vergleichsbeispiele in Demmin, Altentreptow und Anklam zur Seite gestellt werden können. Das reich durchgestaltete Prenzlauer „Mitteltor“ (Abb. 115) kann als späte Umsetzung des Prinzips in Stein verstanden werden, nachdem dieses am dortigen „Blindower Tor“ vielleicht sogar entstanden war, indem nämlich der umlaufende Holzwehrgang die Stelle kaschierte, an der die Aufstockung des frühen 15. Jahrhunderts auf den Erstbau des 13. Jahrhunderts aufsetzte. Eine weitere Variante von Wurfeinrichtungen, die im Backsteingebiet vor allem im 15. Jahrhundert öfter auftrat, sind „Brücken“, die hoch über dem Torweg zwischen Strebepfeiler gespannt waren (Abb. 541, 542, 566). Dagegen war der einfache Wurferker, den man gerade über der Toröffnung häufig erwarten würde, in Wahrheit eher selten; als Beispiel, dass er eigentlich mehr als Schmuckelement eingesetzt wurde, sei der „Rangenturm“ in Ziegenhain (Hessen) genannt, der den Erker mit Blenden und Wappen versieht und auch sonst Scharten und Fenster bewusst schmückend einsetzt. Späte Tortürme waren auch in bestimmten Regionen gelegentlich mit Maschikuli an der Wehrplatte versehen; sie werden unten noch im Zusammenhang der Gestaltung des oberen Abschlusses der Türme behandelt, da auch sie in 168 I. Systematischer Teil
aller Regel ein starkes ästhetisches Moment beinhalteten. Grundsätzlich anders sah es übrigens bei den in Deutschland seltenen Doppelturmtoren aus – etwa in Aachen oder Hainburg / Niederösterreich (vgl. 2.2.6.4.) –, deren englische Vertreter oben schon als Beispiel bemüht wurden, dass das Torinnere ganz anders als in deutschen Tortürmen genutzt wurde. Auch in den hier weit stärker entwickelten Wurfeinrichtungen über dem Tor zeigt sich die grundsätzliche Andersartigkeit dieser westeuropäischen Bauform. Dass Mauertürme nur in Ausnahmefällen bewohnbar waren, wurde bereits betont (vgl. 2.2.4.2.) und auch, dass es hier natürlich große Wissenslücken gibt, die sich aus den umfangreichen Abbrüchen, Umnutzungen und Umbauten ergeben, Bewohnbare Räume in Tortürmen auch aus der schweren Zugänglichkeit vieler Türme heutzutage. Dass bei den Tortürmen letztlich dasselbe Bild entsteht, obwohl man aus guten Gründen hier anderes annehmen könnte, war oben schon erörtert und auf einer grundsätzlichen Ebene zu erklären versucht worden. Wie bei den Mauertürmen gibt es aber auch hier Einzelfälle, die doch auf Bewohnbarkeit zumindest einzelner Räume hindeuten. Bevor Beispiele genannt werden, sei nach der Quellenlage gefragt, die solche Einzelphänomene erklären könnte. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Eine solche Quellenlage existiert nicht. Zwar muss man auch hier wieder damit rechnen, dass manche Quellenbestände nicht hinreichend erschlossen oder nur ungenau interpretiert sind, aber dies könnte letztlich doch nur eine dünne Quellenlage erklären, nicht aber das vollständige Fehlen jedes schriftlichen Hinweises in einer immerhin umfangreichen Literatur, in der sich auch einige von Historikern intensiv durchgearbeitete Fälle finden. Es bedarf also einer anderen Erklärung und diese liegt auch auf der Hand: Die bewohnbaren Räume wurden auf einer sozialen Ebene genutzt, die für die städtischen Quellen des 13. / 14. Jahrhunderts einfach „unter der Sichtlinie“ lag, also nicht vom Rat oder den ratsfähigen Geschlechtern, wohl nicht einmal von Bürgern, sondern von städtischen Bediensteten, für die man hier sozusagen „Dienstwohnungen“ schuf. In den Tortürmen sind natürlich Wohnungen von Torwächtern besonders naheliegend,
vergleichbar den manchmal bis heute genutzten Wohnungen der Feuerwächter auf hohen Kirchtürmen, bei denen die Nähe zur Aufgabe ja auch höher als ein bequemer Zugang zur Wohnung bewertet wurde. Auch diese Deutung liegt aber lediglich nahe und ist keineswegs völlig sicher. Denn belegbar ist im Grunde nur, dass es manchmal Räume in den Türmen gab, in der Regel direkt über der Durchfahrt, die neben Fenstern und einem Aborterker auch einen Kamin enthielten. Als frühes Beispiel sei hier die „Fischerpforte“ in Worms genannt, ein rechteckiger Torturm der schon um 1200 im Bau befindlichen Mauer, der nach seinen Schmuckformen selbst aber wohl erst um / nach 1230 entstand. Im ersten Obergeschoss (Abb. 116) findet man hier vierseitig Spitzbogenfenster – dabei typischerweise die einzige Biforie mittig gegen die Feldseite –, in einer stadtseitigen Ecke einen großen Kamin und in der anderen Reste eines Aborts. Da der Raum zudem gegen den stadtseitig herumgeführten Wehrgang abschließbar war und sich entschieden gegen die höheren, nur mit Scharten ausgestatteten Geschosse absetzt, wird man hier mit aller Vorsicht eine abgeschlossene „Wohnung“ vermuten, nicht nur einen Raum zum Aufwärmen für Wächter, die woanders wohnten. Eine ähnlich komplexe Argumentation führt beim „Steintor“ in Bernau (Brandenburg) zu der Annahme, hier sei eine Wohnung für einen Wächter geschaffen worden, der nicht nur das Tor, sondern auch das städtische Gefängnis beaufsichtigte. Als der Torturm nach einem Brand 1485 in wuchtigen Proportionen wieder aufgebaut wurde, erhielt er im ersten Obergeschoss einen Raum mit Kamin und Abort, der zudem über einen gemauerten, auf Bögen ruhenden Laufgang mit einem Rundturm verbunden wurde, der als Gefängnis diente (Abb. 498). Als weit späteres Beispiel einer vermutlichen Wächterwohnung mit Wendeltreppen, Kamin und Abort in gewölbtem Raum ist das „Osthofentor“ in Soest (1523–26) von Interesse, allerdings verdeutlicht es in seiner Ausstattung zugleich die Interpretationsfragen, mit denen man es bei grundsätzlichem Quellenmangel stets zu tun hat. Das „Osthofentor“ ist mit seinen symmetrischen, polygonalen Eckerkern aus Maßwerk eines der schönsten spätgotischen Tore Deutschlands und
diese Erker gehören räumlich zur vermutlichen Wächterstube (Abb. 126). Selbstverständlich aber dienten sie nicht der Steigerung des Wohnkomforts – und auch nicht der Wehrhaftigkeit –, sondern allein der architektonischen Außenwirkung des Tores. Dies führt zu der grundsätzlichen, schon bei den Mauertürmen berührten Frage, ob und was man aus Schmuckelementen des Turmäußeren, insbesondere aus formal anspruchsvollen Fenstern, für die Nutzung der Innenräume eigentlich schließen darf; auf die Frage wird gleich noch einzugehen sein. Weitere Beispiele von Tortürmen, deren Ausstattung auf „Dienstwohnungen“ deuten dürfte, findet man im späteren 14. und im 15. JahrhunAbb. 116 Worms, „Fischerpforte“, Grundrisse von Erdgeschoss / Durchfahrt und erstem Obergeschoss (Aufmaß Th. Biller). Mit Doppelfenster und Kamin ausgestattete Wächterstuben oder -wohnungen in Tortürmen sind nur selten noch unverändert fassbar.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
169
dert vor allem im Rheinland, etwa beim „Koblenzer Tor“ in Oberwesel, in Linz, Mayen, Rhens und Dudeldorf. Letztlich aber bedarf es unbedingt weiterer Bauuntersuchungen, um in diesen und vor allem auch in weiteren, bisher nicht erkennbaren Fällen jene baulichen Ausstattungen zu dokumentieren, aus denen man auf solche Wohnnutzungen der Tortürme schließen kann. Ist man für die Zeit bis etwa 1400 für die Fragestellung bewohnbarer Tortürme allein auf derartige Baubefunde angewiesen, weil Schriftquellen fehlen, so sieht es im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit gelegentlich besser aus. Nun gibt es hier oder dort Hinweise „Rathäuser“ in auf Nutzungen in Tortürmen – Tortürmen und Torbauten anderer Art –, die mit der Verteidigung nichts zu tun hatten. Beachtlicherweise ist dabei der häuAbb. 117 Marktbreit (Unterfranken), der älteste Teil des Rathauses (1579–1600) bildet den Oberbau des „Maintores“. Rathäuser in Stadttoren sind im deutschen Raum nur selten belegbar, keines ist in mittelalterlicher Form erhalten.
170 I. Systematischer Teil
figste Fall jener des „Rathauses“, allerdings ist die absolute Anzahl immer noch gering und die betreffenden Städte waren in der Regel von minderer Bedeutung, sodass man davon ausgehen kann, dass die Ratsstube im Torturm eher eine Notlösung in solchen Fällen war, bei denen ein repräsentatives Rathaus am Markt nicht finanzierbar war oder einfach nicht lohnte. Dass es sich dabei auch um eine frühe Lösung gehandelt haben kann, die später durch ein „richtiges“ Rathaus ersetzt wurde, deutet vielleicht der Fall von Oberwesel an, wo ein Torturm der ältesten Mauer den Namen „Altes Rathaus“ trug; ihn ergänzte offenbar ein benachbarter Fachwerkbau, aber auch schon im 17. Jahrhundert ein weiteres Rathaus. Auch in anderen Fällen muss man vermuten, dass ein bescheidener Versammlungsraum im Torturm am Anfang der Entwicklung stand, aus dem dann durch Um- und Anbauten vor allem im späteren 15. und im 16. Jahrhundert „richtige“ Rathäuser entstanden, wenn auch an ungewöhnlicher Stelle. Dass Lage am Markt und neben dem Tor auch in einer wichtigen Stadt ausnahmsweise vereinbar waren, zeigt heute noch – als Rekonstruktion – München, aber nicht nur original, sondern auch typischer ist das kleine Erlach (Bern), wo sich das Rathaus ab dem mittleren 15. Jahrhundert aus dem Tor entwickelte, mit einem kleinen Saalbau aus dem 16. Jahrhundert; in der Schweiz vergleichbar war das 1478 über dem „Obertor“ von Werdenberg (St. Gallen) erbaute, nicht erhaltene Rathaus. Aufwendige Ausbauten der Renaissance gibt es etwa noch in Marktbreit (über dem Tor, um 1600; Abb. 117), Erbach im Odenwald (Anbau an das einzige Tor des „Städtels“) und vielleicht in Maissau (Niederösterreich), wo die Fassade erst im Barock entstand, wie etwa auch in Königstein im Taunus. Charakteristisch für diese Beispiele – man mag als Sonderfall die Marktschreiberei im hausförmigen „Mittertor“ in Rosenheim anfügen – ist, dass es sich um unbedeutende Städte handelte, fraglos auch Spätentwickler, was städtische Freiheit und Ratsverfassung betraf. Die kleinen Rathäuser im und am Stadttor waren keine echte Alternative zu dem eigentlichen mittelalterlichen Rathaustypus am Markt und mit großem Saal, sondern sie waren nur manchmal die pragmatische Lösung für die kleine, spät entwickelte Stadt.
2.2.5.7. Fenster Fenster waren wie bei Mauertürmen auch bei Tortürmen eher selten und, soweit sie doch vorhanden sind und nicht von späteren Umbauten stammen – durchweg unverändert etwa am Jenaer „Johannistor“ –, weit überwiegend von bescheidener Art, das heißt fast immer klein und rechteckig. Es gibt jedoch Ausnahmen – und zwar bei den Tortürmen deutlich häufiger als bei den Mauertürmen –, bei denen wesentlich aufwendigere Fensterformen erscheinen und dann auch meist die wichtigsten Elemente der äußeren Gestalt sind. In Weiterführung der Frage nach eventuellen Raumnutzungen in den Tortürmen ist hier zu fragen, ob solche Fenster vielleicht die bisher vermissten Hinweise auf besonders genutzte Innenräume sein könnten? Es scheint jedoch nicht so, als ob man derartige Fenster von den Innenräumen her erklären könnte. Vielmehr fällt auf, dass aufwendigere Fensterformen in der Regel eben dort zu finden sind, wo der gesamte Turm stärker geschmückt ist, wo also auch beim Torgewände mehr Aufwand getrieben wurde, wo Gesimse, Friese, Wappen usw. erscheinen. Zwar ist a priori nicht auszuschließen, dass reichere Fensterformen in manchen Fällen etwas über besondere Räume im Turm aussagen, aber es bedürfte weiterer Indizien in den Räumen selbst, um dies hinreichend wahrscheinlich zu machen. Als Beispiel bietet sich das „Rothenburger Tor“ in Dinkelsbühl an, das stadtseitig nicht nur im – innen unauffälligen – obersten Geschoss ein Maßwerkfenster zeigt, sondern auch im ersten Obergeschoss eine symmetrische Gruppe von Öffnungen aus einem Kreuzstockfenster und zwei Rechteckfenstern (Abb. 118). Welche Funktion hatte der kreuzgratgewölbte Raum dahinter? War er nur Wohnung eines Gefängniswärters, weil im Geschoss darüber eine Zelle von „1555“ eingebaut ist, oder doch mehr? Wir wissen es nicht – und kaum an einer anderen Einzelthematik der deutschen Stadtbefestigungen wird so deutlich, wie nötig Bauforschung zur Klärung jener Fragen bleibt, bei denen uns die spärlichen Schriftquellen des Mittelalters im Stich lassen. In der Regel waren die Fenster der Tortürme, auch wenn es sich um einfache kleine Öffnungen oder gar nur um Schlitzscharten handelte, an den beiden wichtigen Seiten gegen das Feld und ge-
Abb. 118 Dinkelsbühl (Mittelfranken), die Stadtseite des „Rothenburger Tores“. Reichere Fensterformen wie hier das im 1. Obergeschoss und das Maßwerkfenster im obersten Geschoss unter dem Renaissancegiebel sind auch an Tortürmen selten.
gen die Stadt in Achsen angeordnet und schufen schon mit diesem einfachen Mittel ein Minimum an architektonischer Gestaltung. Freilich drängte sich diese Anordnung schon wegen der Schlankheit des Baukörpers auf und war daher kein allzu überraschendes Konzept auch in einer Zeit, die im Profanbau erst selten „Fassaden“ gestaltete. Größere bzw. mindestens zweilichtige romanische Fenster kommen an Stadtmauern selten vor, weil nur wenige Mauern vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind (vgl. 2.2.10.3.). Vereinzelt sind Fenster in den Mauern selbst erhal- Gekuppelte romanische Fenster an Tortürmen ten – Belege für direkt angebaute Häuser, die es vor allem im Süden des deutschen Sprachraumes gab; in Mauertürmen fehlen Beispiele, sie besaßen in dieser frühen Zeit nur Schlitzscharten. Schießfenster, an Wehrgängen des späten Mittelalters als überwölbte Abwandlung von Zinnen durchaus verbreitet, fehlen im Mittelalter so gut wie völlig, soweit sie sich nämlich in der Mauerfläche bzw. in einem der Stockwerke öffneten. Bei den Kölner Toren der ersten Hälfte des 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
171
13. Jahrhunderts, besonders beim „Hahnentor“, treten sie als (restaurierte) Rundbogenfenster ausnahmsweise und die Architektur durchaus bestimmend auf, wohl nach dem Vorbild des römischen Tores des Kastells Deutz; an einem ähnlich alten Mauerturm in Lübeck (Abb. 67) ist Vergleichbares nicht so direkt erklärbar, vielleicht wirkte hier Köln als Vorbild. An Tortürmen gibt es immerhin vereinzelte Beispiele solcher frühen Fenster, aber auch hier kommt die große Mehrzahl mit Schlitzen oder kleinen Rechteckfenstern aus und betont die geschlossene Mauerfläche. Das wohl älteste Beispiel, entstanden um 1200, befindet sich am Eisenacher „Nicolaitor“, eine zweisäulige Biforie mit Rundbogenblende im ursprünglich einzigen Obergeschoss, mittig an der Feldseite (Abb. 119). Abb. 119 Eisenach (Thüringen), die Feldseite des „Nikolaitores“. Die unteren beiden Geschosse des später erhöhten Turmes entstanden wohl um 1200, wobei das Geschoss über der Torfahrt anfangs stadtseitig offen war; die Fenster sind erneuert.
172 I. Systematischer Teil
Schon das nächstjüngere Beispiel, wohl aus dem frühen 13. Jahrhundert, ist aber ein Sonderfall, nämlich der Torturm in Sarralbe in Lothringen; sein dreigekuppeltes Rechteckfenster mit Säulen ist außerhalb Lothringens so nicht vorstellbar und bleibt daher innerhalb des deutschen Raumes eine Randerscheinung. Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts zeigt dann der „Laufer Schlagturm“ in Nürnberg eine Biforie im ersten Obergeschoss, also – bei höherem Turm – ganz ähnlich angeordnet wie in Eisenach; erhalten ist davon allerdings nur die mit einem Rundstab profilierte Rundbogenblende, das Fenstergewände ist spätgotisch erneuert (Abb. 372). Bereits spitzbogig, aber wohl etwas älter als Nürnberg ist das Doppelfenster im ersten Obergeschoss der Wormser „Fischerpforte“ (Abb. 116). Damit sind die erhaltenen Beispiele schon erfasst. Trotz ihrer sehr geringen Anzahl verdeutlichen schon diese frühesten echten Fenster in Tortürmen, alle im Geschoss direkt über der Durchfahrt, die Ambivalenz ihrer Aussage. Denn allein in Worms belichtete das Fenster zweifelsfrei einen bewohnbaren Raum, während in Eisenach und Nürnberg nicht nur alle Hinweise auf bewohnbare Räume fehlen, also vor allem Kamine und Aborte, sondern sogar die stadtseitige Wand; es handelte sich in beiden Fällen um frühe Beispiele von Schalentürmen. Auch wenn man, ohne es beweisen zu können, unterstellen wollte, es habe hier zumindest hölzerne Abschlüsse gegeben, so besteht doch zwischen durchaus reichen Fenster zur Angriffsseite und dem Verzicht auf eine steinerne Wand zur Stadt ein ganz erheblicher Widerspruch. Er zeigt bereits hier, schon ganz am Anfang der Entwicklung, dass gerade aufwendigere Fensterformen auch reiner Schmuck der feldseitigen Front sein konnten und keineswegs zwingend auf eine entsprechend vornehme Nutzung von Turmräumen schließen lassen. In der Gotik bestand die einfachste Art, die für Stadtmauern typischen kleinen, oft schlitzartigen Fenster etwas ansprechender zu gestalten, zunächst einmal darin, ihren oberen Abschluss als Spitzbogen auszubilden, oder ausnahmsweise auch Gotische Fensterformen an Tortürmen einmal dreieckig, wie es im Backsteingebiet anzutreffen ist, weil man es aus normalen Backsteinen her-
stellen kann; ganz selten findet man im 15. / 16. Jahrhundert auch einmal kielbogige Abschlüsse (Mindelheim, „Oberes Tor“, vor 1469?). Der Aufwand hierfür war begrenzt; immerhin erfordert dies ein Gewände aus Werkstein, was bei Stadtmauern ja keineswegs selbstverständlich war. Allerdings war auch die Wirkung solch seltener, klein dimensionierter Bögen gering, da man sie nur aus nächster Nähe überhaupt erkennen konnte. Als gestalterische Besonderheit, die eine nennenswerte Wirkung entfaltete, sind auch in der Gotik nur die mehrlichtigen Fenster zu nennen, unter denen die Maßwerkfenster als einzige etwas häufiger auftreten. Noch ins 13. Jahrhundert gehören die Maßwerkfenster an den Rundtürmen neben den Toren von Marchegg (Niederösterreich; Abb. 285), das 1268 von König Otakar I. Přemysl gegründet wurde – ein Beispiel für die besondere Rolle dieses Königs bei der Gotikrezeption in Österreich und Böhmen. Ein Sonderfall anderer Art ist das Regensburger „Ostentor“, mit der Mauer zwischen 1284 und 1320 entstanden, schon baukörperlich eine kreative Kombination von Torturm und Doppelturmtor; es besitzt als wohl einziger Torturm Deutschlands stadtseitig eine Achse von Maßwerkfenstern über alle Obergeschosse (Abb. 120). Und ein dritter, früher Einzelfall macht noch deutlicher, wie individuell der Umgang mit dem Thema „Maßwerk an Tortürmen“ im 13. Jahrhundert war. Die Stadtseite des Speyerer „Altpörtels“ (Abb. 79), in seiner ersten Form noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden, ist durch eine Art „Maßwerkgitter“ aus Quadern geschlossen, ein Grenzfall von Durchfensterung und Schalenturm. Im 14. / 15. Jahrhundert kommen Maßwerkfenster ähnlich verstreut wie in der frühen Phase der Gotik vor. Der Turm des „Rothenburger Tores“ (um 1372–90) in Dinkelsbühl ist schon erwähnt worden; die äußere Mauer, zu der er gehört, besitzt Blendmaßwerk auch über etlichen kleinen Fenstern der Mauertürme (Abb. 80). Als Beispiele für meist bescheidene, spätgotische Maßwerkoder Blendmaßwerkfenster des 14. / 15. Jahrhunderts an Tortürmen seien genannt: der „Hausmannsturm“ in Helmstedt (Abb. 435), das äußere „Frauentor“ in Mühlhausen (Thüringen), das „Johannistor“ in Aschersleben, das „Vilstor“ in Amberg (Abb. 367) und das „Franziskanertor“ in
Abb. 120 Regensburg, das „Ostentor“ (um 1300) ist mit mehreren Maßwerkfenstern an der Stadtseite ein Ausnahmefall.
Überlingen. Als besonders spätes Beispiel, schon des Artilleriezeitalters, kann der 1478 erwähnte „Leipziger Turm“ am Hallenser „Galgtor“ gelten, ein hoher Rundturm als Teil eines barbakanenähnlichen Vortores (Abb. 228). In der Regel trifft man Maßwerkfenster an solchen Tortürmen, die auch mit anderen Mitteln stärker gestaltet sind. Das galt schon in sehr origineller Form für das Regensburger „Ostentor“ und es galt dann ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einem relativ normierten Sinne, indem Gesimse, Wappen und reicher ausgearbeitete Dachformen in Kombination mit den Fenstern erschienen. Alle anderen Formen mehrlichtiger Fenster sind noch seltener, sodass hier nur Beispiele pauschal aufgezählt seien. So zeigte etwa der verschwundene Brückentorturm in Kitzingen am Main ein spitzbogiges Doppelfenster, eine typische Form im Profanbau des mittleren und späten 13. Jahrhunderts, das auch hier so datiert werden muss. Der 1366 als „neu“ erwähnte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
173
Mainzer „Holzturm“, ein rheinseitiges Tor, besitzt ausnahmsweise zwei Achsen spitzbogiger Doppelfenster – eine selten aufwendige Gestaltung, die aber der Bedeutung der Stadt sowie der Höhe des Turmes und seiner Dachgestaltung mit Erkern entspricht. Auch zweilichtige Rechteckfenster, eigentlich eine der häufigsten profanen Fensterformen ab der Spätgotik, kommen bei Stadttoren vor der Renaissance höchstens ganz vereinzelt vor, kaum einmal in größerer Anzahl am gleichen Torturm. Erwähnt sei das „Mitteltor“ (nach 1392) im kleinen Hirschhorn am Neckar, mit zwei- und dreifach gekoppelten Rechteckfenstern, oder – wohl nach 1339 – der sehr regelmäßige, achteckige „Wasserturm“ in Luzern, mit betont engen, die Mittelachsen betonenden Doppelfenstern (Abb. 71); das Gruppenfenster im Dinkelsbühler „Rothenburger Tor“ war schon erwähnt worden. Auch die aufwendigere Variante des gekuppelten Rechteckfensters, das Kreuzstockfenster, tritt im 15. Jahrhundert gelegentlich auf, etwa in den kleinen Türmen neben dem Tor in Aken (Sachsen-Anhalt) oder im Turm neben dem „Münsterberger Tor“ in Neiße (Schlesien), dort als fensterförmige Blende, womit man den „Hexenturm“ in Friedeberg / Neumark vergleichen mag. Zusammenfassend muss es bei der Aussage bleiben, dass reichere, mehrlichtige Fensterformen bei deutschen Tortürmen der späten Romanik und vor allem der Gotik zwar gelegentlich vorkommen, aber so selten und zugleich so unterschiedlich in Form und Anordnung, dass man keinerlei Regelmäßigkeit oder Entwicklung feststellen kann. Unverkennbar handelte es sich eben nicht um ein für Stadtmauern „normales“ Gestaltungsmittel, sondern um ganz sporadische Entschlüsse von Bauherren oder Baumeistern, wenn sie doch einmal einem eigentlich schlichten Bauwerk ein gewisses Maß an Gestaltung verleihen wollten. Sie griffen dann auf zeit- und regionaltypische Fensterformen aus anderen Bereichen des sakralen und „zivilen“ Bauens zurück, weil ein wehrbautypisches Repertoire nicht zur Verfügung stand. Es mag sein, dass wir ein nicht nur reicheres, sondern auch ein klarer geordnetes Bild erhielten, wenn gerade die wichtigen Tore der Städte öfter erhalten wären, aber das bleibt Vermutung.
174 I. Systematischer Teil
2.2.5.8 Schmuck am Turmschaft Neben den Fenstern und dem Torgewände selbst findet man an den Tortürmen – weiterhin in direkter Analogie zu den Mauertürmen – noch andere schmückende Elemente, die man in drei Gruppen gliedern kann: neben eine Strukturierung und Gestaltung der Wandfläche selbst treten gelegentlich weitere Schmuckelemente auf, und schließlich kann die Dachform im weiteren Sinne variiert werden. Die Strukturierung der Wandfläche konnte einmal über das Material der Mauer selbst erfolgen. Dieses Thema ist schon behandelt worden (vgl. 2.2.2.) und muss daher für die Tortürme nicht nochmals angesprochen werden. Es genügt wohl die Erinnerung, dass Bruchsteinmauerwerk schon aus Kostengründen die üblichste Technik war, sodass geputzte oder zumindest glatte Oberflächen, gelegentlich auch aus hammerrechten oder echten Glattquadern, das Gesamtbild entschieden ge- Strukturierung und Gestaltung der prägt haben dürften, auch bei Wandfläche den Türmen und Tortürmen. Es sei ferner erinnert, dass der Buckelquader – die auffälligste Form der strukturierten Wandfläche im hohen und späten Mittelalter – an Stadtmauern selten war, aber gerade an Tortürmen am ehesten auftrat, zuerst im 13. Jahrhundert im deutschen Südwesten, dann ab dem mittleren 14. Jahrhundert in Franken und darüber hinaus, schließlich unter italienischem Einfluss, als „Rustika“ ab der Zeit um 1500 wieder im Südwesten; Beispiele wichtiger Buckelquadertortürme wurden in 2.2.2.3. schon genannt. Bei den weit häufigeren Toren mit glatten Wandflächen kann man im Grundsatz drei Möglichkeiten der Gliederung unterscheiden: mit dem Mittel der Farbe, die horizontale Gliederung durch Gesimse, Friese und dergleichen sowie schließlich die Verwendung von Blenden und Blendsystemen. Muster aus regelmäßig angeordneten Steinen anderer Farbe waren bei Stadttoren und allgemein Stadtmauern große Ausnahmen. Obwohl das Motiv auch an Burgen des Deutschen Ordens verbreitet war und dort wohl sogar entwickelt wurde, kam der Einsatz von Backsteinen mit schwarzen Köpfen in „roten“ Backsteinflächen bei Stadttoren fast gar nicht vor; der quadratische Turm neben dem „Haynauer Tor“ in Liegnitz (Schlesien) ist das einzige
und zudem recht späte Beispiel (um 1400), das ich notieren konnte. Weitaus häufiger und vermutlich sogar die häufigste Gestaltung dürfte die farbige Fassung geputzter Flächen gewesen sein, einfach deswegen, weil geputztes Bruchsteinwerk die billigste Art von Mauerwerk bei Stadtmauern war und weil Bemalung weiterhin die kostengünstigste Art war, derartige Oberflächen ansprechender zu gestalten. Leider muss dies aber eine letztlich unbeweisbare Behauptung bleiben, weil nämlich aus Gründen, die genauso auf der Hand liegen, kaum etwas von der vermuteten Bemalung belegbar geblieben ist. Putz bedarf regelmäßiger Erneuerung in Abständen von einigen Jahrzehnten, Bemalung ist noch empfindlicher, deswegen müssen extrem günstige Umstände vorliegen, damit Farbfassungen wenigstens in erkennbaren Resten das letzte halbe Jahrtausend überstanden haben. In ihrer früheren Wirkung erlebbar sind solche Gestaltungen daher heute meist nur noch, wenn sie aufwendig untersucht, gesichert und restaurierend ergänzt worden sind – und das ist äußerst selten. Gern abgebildet und wohl wirklich das gegenwärtig schönste Beispiel ist das „Bayertor“ in Landsberg am Lech (1422 / 25), ein hoher Torturm mit Vortoren, der mit gemalter Eckquaderung und entsprechenden Fensterrahmungen, einem Fries unter den Zinnen, ferner mit Wappen, einem Kreuzigungsrelief und zugehörigen Engeln in Maßwerknischen einerseits ein gutes Beispiel gibt, wie viele Tortürme früher ausgesehen haben mögen, während er andererseits in seinem Aufwand wohl schon über das Übliche hinausgeht (Abb. 121). Sehenswert sind auch noch die Stadtseiten zweier Tore im kleinen Vöcklabruck (Oberösterreich), auf denen (1502 / 03) Kaiser Maximilian, der Doppeladler, die Wappen der Burgundischen und Österreichischen Erblande und das Stadtwappen in verschiedener Anordnung erscheinen (Abb. 122). „Obertor“ und „Einlasstor“ in Mindelheim, erbaut wohl vor 1469, zeigen noch eine Fassung, die von der Spätgotik bis in den Barock entstand, und machen damit deutlich, dass solche Bemalung am ehesten dort „überleben“ konnte, wo die Bemalung über Jahrhunderte hinweg traditionell erneuert und dabei auch „modernisiert“ wurde. Kleinere Fresken, vielleicht als Teile ehemals größerer Konzepte, haben öfter überlebt, etwa in Nischen, die ihnen
Abb. 121 Landsberg am Lech (Oberbayern), das inschriftlich „1425“ datierte „Bayertor“ ist mit der restaurierten Bemalung seiner Feldseite das wohl eindrucksvollste Beispiel dieses Schmucks, das in Deutschland erhalten blieb.
Abb. 122 Vöcklabruck (Oberösterreich), Feldseite des „Oberen Tores“ mit der restaurierten Bemalung der Zeit um 1502, die Wappen der Besitzungen Kaiser Maximilians I. und zwei in die Stadt reitende Ritter zeigt. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
175
Schutz boten. Neben Wappen waren dies am ehesten religiöse Symbole, wie etwa das Kreuzigungsfresko am „Wassertor“ in Horb am Neckar (um 1500). Aufgemalte Wappen gab es als Zeichen der Stadtherrschaft zweifellos äußerst häufig, als sparsamere Variante des Wappenreliefs, auf das noch zu kommen ist. Besonders erwähnenswert ist die im Backsteingebiet, das heißt im 14. / 15. Jahrhundert anzutreffende Sonderform der Reihung schräg gestellter Wappen als ausgemalte Putzblenden, die friesartig am oberen Turmteil angeordnet wurde, unter der Traufe oder auf den Zinnen. Genannt seien das Prenzlauer „Steintor“, das „Kröpeliner Tor“ in Rostock (Abb. 124), das „Nonnentor“ in Thorn und beide Tortürme in Marienburg (Abb. 529) – durchweg Tore von erhöhter Bedeutung, meist auch in großen oder territorial bedeutenden Städten. Was die Wappen im Einzelnen vermitteln konnten, zeigt das genauer untersuchte „Rathenower Tor“ in Brandenburg / Altstadt – neben dem Wappen
Abb. 123 Patschkau (Schlesien), der Turm neben dem ehemaligen „Breslauer Tor“, wohl aus dem 15. Jahrhundert, zeigt verschiedene Horizontalgliede rungen: Sockel schräge, Wasserschlag sowie Friese und Blenden am oberen Teil aus Backstein (Chr. Herrmann).
176 I. Systematischer Teil
des Reiches sind dort Bayern, Sachsen-Anhalt, Böhmen und Brandenburg dargestellt, also quasi ein Querschnitt durch die märkische Geschichte des 13.–15. Jahrhunderts (Abb. 499). Die Unterteilung von Turmschäften in geschossartig wirkende Abschnitte – durch Rücksprünge, Gesimse und Friese – war im Sakralbau der Gotik ein übliches Mittel, wobei dieses allerdings in der Regel mit vertikal wirkenden Elementen wie hohen Fenstern oder Maßwerkblenden so Horizontalgliederung – Sockel, Simse, zusammenwirkte, dass die Friese, Vorkragung horizontalen Elemente eher als unauffällige „Grundgliederung“ zurücktraten. Bei Tortürmen etwa ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – und weit seltener auch bei Mauertürmen (vgl. 2.2.4.9.) – treffen wir diese horizontalen Gliederungen ebenfalls an, aber in aller Regel ohne das „Gegengewicht“ vertikaler Gliederungselemente; es mag allerdings sein, dass hier das heutige Bild täuscht, weil die übrigen Elemente oft nur gemalt waren und verschwunden sind (vgl. Abb. 121). Einfache Sockel, oft schräg abschließend, waren so häufig, dass sich die Nennung von Einzelbeispielen erübrigt; im Backsteingebiet waren sie oft durch Feldsteinverwendung zusätzlich betont, wobei aber Profilierungen extrem selten blieben. Gesimse oder Gesimsstücke auf mehreren Höhen, in der Regel Wasserschläge, findet man etwa in Franken noch in vielen Beispielen, etwa an manchen Türmen in Dinkelsbühl, an den beiden erhaltenen Toren in Weißenburg und den um 1399–1424 entstandenen Tortürmen in Schwäbisch Gmünd, um nur Städte mit mehreren Beispielen zu nennen. Weiter östlich darf man nach demselben Kriterium etwa Aschersleben („Johannistor“, wohl nach 1462), in Schlesien Liegnitz („Glogauer“ und „Haynauer Tor“, um 1400, auch mit Sockeln aus Formsteinen) oder den Turm am „Breslauer Tor“ in Patschkau (Abb. 123) anführen, der neben dem Sockelprofil und Wasserschlägen auch eine vorkragende Wehrplatte und damit fast das ganze Repertoire solch einfacher Horizontalgliederungen besitzt. Die über Schräge oder Kehle vorkragende Wehrplatte war quasi das natürliche Gegenstück zum betonten Sockel, aber im Gegensatz zu diesem war sie ein nur für den Wehrbau typisches Element. Denn die Betonung des Zinnenkranzes
bzw. der Wehrplatte, des wichtigsten Trägers der Verteidigung, lag hier aus inhaltlichen Gründen nahe, während sakrale Turmbauten eher die Öffnung der Glockenstube akzentuierten und den Turmhelm darüber als eine Art Ausklang in den Himmel hinein gestalteten; Beispiele zu nennen, ist ob der großen Verbreitung wiederum fast überflüssig. Auch hier wären fränkische Türme vor allem des 15. Jahrhunderts zu nennen oder – um an Liegnitz und Patschkau anzuschließen – zwei Türme neben Toren in Jauer und Neustadt in Schlesien, aus der Zeit vor und um 1400. Die aufwendigere Variante der vorkragenden Brustwehr waren vorkragende Friese, insbesondere Bogenfriese. Das Kerngebiet war hier der Mittelrhein, die Territorien von Köln, Trier und besonders Mainz, südlich auch das später hessische Gebiet, die Pfalz und angrenzende Herrschaften. Hier war der Rundbogenfries unter der Brustwehr, in Werkstein oder (Schiefer-) Bruchstein ausgeführt, im 14. / 15. Jahrhundert praktisch der Normalfall, der Spitzbogenfries dagegen – obwohl wir uns mitten in der Gotik befinden – kam kaum vor. Im Zusammenhang des allgemeinen Schmuckreichtums der Spätgotik findet man ab etwa 1370 gelegentlich aufwendigere Maßwerkfriese, meist aus (Mayener) Basalt und daher eher nördlich der Moselmündung; erhaltene Beispiele findet man etwa in Andernach, Ahrweiler, Münstereifel, Zülpich, Linz, Neuss oder Zons. Die Streuung der einfachen Rundbogenfriese reichte dabei weit in die anschließenden Regionen hinein, im Norden nach Westfalen (Coesfeld, Dülmen mit Spitzbogenfries; Soest, „Osthofentor“, 1523–26, mit Maßwerkfries), im Süden an den Oberrhein und weit ins Fränkische (etwa Adelsheim, durchweg erst 15. Jahrhundert, Miltenberg, Neubrunn, Hirschhorn, Öhringen, Niederstetten). Darf man insoweit sicherlich von einer recht geschlossenen Einflusszone sprechen, deren Anfänge aber offenbleiben, so wissen wir nicht, ob Vorkommen im süddeutschen Raum und an der Ostseeküste auch als mittelrheinischer „Einfluss“ zu verstehen sind. In Süddeutschland sind ein Mauerturm mit Spitzbogenfriesen in Landsberg am Lech (nach 1315?), das Baseler „Spalentor“ (vor 1398; Abb. 128), Tortürme der äußeren Mauer von Schwäbisch Gmünd (1399–1424) und etliche Vortore des 15. Jahrhunderts in Bayerisch Schwaben zu
Abb. 124 Rostock, das „Kröpeliner Tor“ – der obere Teil entstand um 1400 – zeigt auf zwei Höhen Friese aus Terrakottaplatten bzw. einfachem Blendmaßwerk (vgl. Abb. 504).
nennen. In Rostock finden wir dabei zeitlich weit auseinanderliegende Beispiele: am „Petritor“ der Zeit um 1260 einen Rundbogenfries, an der Aufstockung des „Kröpeliner Tores“ um 1400 einen glasierten Maßwerkfries (Abb. 124). Die Tatsache, dass zwei weit vom Rheinland entfernte, eher vereinzelte Bauten – in Rostock um 1260, in Landsberg am Lech nach 1315 – die ältesten Bogenfriese an Stadtmauern besitzen, die wir enger datieren können, mahnt zur Vorsicht gegenüber der Idee, das Motiv müsse im Rheinland entstanden sein. Immerhin waren Rundbogenfriese schon im romanischen Sakralbau in ganz Europa verbreitet und zudem ist sicherlich der weitaus größte Teil der Friese mit den Turmabschlüssen zerstört worden, sodass wir die wirkliche Verbreitung gar nicht mehr kennen. Blendsysteme zur Gestaltung der Wandfläche waren fast ausschließlich für das Backsteingebiet typisch, oder genauer gesagt: für die verschiedenen Backsteinge- Blendgliederung biete, denn sie treten weit auffäl2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
177
liger auch einmal in den kleinen Backsteingebieten auf, die es außerhalb des deutschen Nordens und Ostens gab, beispielsweise im bayerisch-schwäbischen Raum (Memmingen, Mindel heim, Weißenhorn, durchweg zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts). Dagegen bleibt das Prinzip in den Natursteingebieten die ganz große Ausnahme (Eltville, „Martinstor“, um 1400). Dieses offensichtlich zwingende Band zwischen Material und Wandgliederung ist leicht erklärlich; die in den Maßen normierten Backsteine ließen die Blenden einfach durch Maurerarbeit aus dem ohnehin verwendeten Material entstehen, im Natursteingebiet fehlte entsprechendes Material und Blenden wurden gewöhnlich nur in hoch qualifizierter, also kostspieliger Steinmetzarbeit hergestellt. Die Entwicklung der Blendsysteme im Hauptgebiet des Backsteins – Brandenburg, Mecklenburg, Pommern, dem Deutschordensland, mit Randbereichen in Sachsen und Schlesien – ist ein Thema für sich. Beispiele aus der Zeit vor 1300 fehlen leider; wenn die verschwundenen Rechtecktürme der Lübecker Mauer so alt waren – und dafür spricht manches –, so hätten sie gut gezeigt, wie am Anfang Biforiengruppen standen, die man noch gut vom Werksteinbau des deutschen Westens und Südens herleiten konnte. Für die Stadttore zwischen der Ostsee und Brandenburg hat Heinrich Trost die Entwicklung ab dem 14. Jahrhundert analysiert. Demnach hat man in Brandenburg, Mecklenburg und Pommern anfangs mit Gliederungssystemen zu rechnen, die sich streng an die Geschosse hielten; erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts traten auch vertikale Blenden auf, die sich über mehrere Geschosse zogen, auch bis in die Giebel hinein, wo sie ohne betonten Abschluss endeten. Diese Betonung des Vertikalen sei dann im mittleren 15. Jahrhundert wieder einer Tendenz zur geschossweisen Gliederung gewichen, bis Ende des Jahrhunderts die „oben offenen“ Gliederungssysteme wieder zurückkehrten. Diese hier verkürzt zitierte Entwicklungsvorstellung stellt sich bei Betrachtung aus der Nähe allerdings komplexer dar, weil es noch weit mehr Gliederungsmöglichkeiten gab. Das Auftreten von ungegliederten Geschossen, die unterschiedliche Gestaltung von Stadt- und Feldseite, die Zusammenfassung von zwei Geschossen zu einem Gliederungselement, Strebe178 I. Systematischer Teil
pfeiler und vorkragende Wehrgänge, schließlich Verfeinerungen wie Blendmaßwerk – all dies waren Variationen, deren ästhetische Möglichkeiten man ebenfalls hoch einschätzen muss und die in der fast unendlichen Fülle der Kombinationsmöglichkeiten auch zu einer anderen Entwicklungsvorstellung führen können. Insbesondere kann man kaum ausschließen, dass die wesentlichen Gestaltungsmöglichkeiten bis Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelt waren und dann mehr oder minder frei immer neu kombiniert wurden. Unterstützt wird diese weniger stringente Vorstellung durch die Tatsache, dass schließlich nur ein eher geringer Teil der Tore unabhängig datiert ist, was auch zu erheblichen Abwandlungen der von Trost postulierten zeitlichen Abfolge führen kann. Im Sinne einer solch vorsichtigeren Deutung wären dann Tore mit besonders aufwendigem Schmuck – etwa das „Kröpeliner Tor“ in Rostock (Aufstockung um 1400; Abb. 124), das „Treptower Tor“ (um 1400; Abb. 133) in Neubrandenburg oder das Lübecker „Burgtor“ (Aufstockung ab 1444; Abb. 61) – nicht so sehr Marksteine einer bestimmten Formentwicklung, sondern vielmehr Ausdruck von Reichtum und Bedeutung dieser Städte, in der Regel an Straßen zu ebenfalls besonders wichtigen Nachbarstädten. Dass etwa im Falle von Lübeck das „Burgtor“ von demselben Baumeister neu gestaltet wurde, der auch am Rathaus arbeitete, dass in Neubrandenburg direkte Formbezüge zwischen den Giebeln der Tore und jenem der Pfarrkirche festzustellen sind, bestätigt die These zusätzlich – Ziel war die Erhebung der besonders wichtigen Tore auf den Entwicklungsstand der allgemeinen Repräsentationsarchitektur der Zeit, während die typenbezogene Entwicklung der Tore als solche wohl weniger wichtig war. In den anderen deutschen Regionen, in denen Backstein in größerem Umfang an Stadtmauern erschien, spielten die Blendsysteme offensichtlich eine geringere Rolle, und es sind auch relativ wenige Tortürme erhalten. In Sachsen und Schlesien, in Bayern und Schwaben deuten die wenigen erhaltenen Beispiele darauf hin, dass hier das Überspinnen des gesamten Turmschaftes mit Blendsystemen weniger üblich war, sondern eher eine Beschränkung nur auf Ziergiebel oder einzelne Geschosse. Die überwiegend oder voll-
Abb. 125 Ortenberg in der Wetterau (Hessen), „Oberpforte“. Dass die Führungen des Fallgatters mit regelrechten Säulen bzw. Knospenkapitellen geschmückt wurden, ist eine ausgesprochene Ausnahme.
ständig glatten Turmschäfte, die etwa in Schwaben wahrscheinlich von Anfang an verputzt waren, wurden durch die sparsamer eingesetzten Blendsysteme nur kontrastiert, was eine strengere Architektur ergab, die letztlich den Zweck der Befestigung vielleicht angemessener als die Verspieltheit vieler nordostdeutscher Bauten widerspiegelte. Nachdem Blendsysteme zur Gliederung des Turmschaftes vor allem regional eine Rolle spielten und die Gliederung durch Gesimse letztlich genau so viel freie Wandfläche wirken ließ wie ein völlig ungegliederter Turmschaft, der zu allen Zeiten die üblichste LöSkulpturen und Reliefs sung blieb, waren einzelne Schmuckelemente, an besonders auffälliger Stelle angebracht, die im Endergebnis wohl häufigste Art, einen im Charakter eher nüchternen Bautypus wie den Torturm etwas repräsentativer
Abb. 126 Soest (Westfalen), die Architektur des „Osthofentores“ (1523–26) betont vor allem mit seinen stark durchbrochenen Erkern den spätgotischen Schmuckreichtum, der hier in völligem Gegensatz zur Wehrfunktion steht.
zu gestalten. Schon die Fenster waren dafür ein gutes Beispiel (vgl. 2.2.5.7.). Säulen fehlen an deutschen Stadttoren fast völlig – die Fenster waren dafür in der Regel zu schlicht, die Rundstäbe mit Knospenkapitellen am Fallgatter der „Oberpforte“ in Ortenberg (Hessen) sind ein Einzelfall (Abb. 125). Und die Möglichkeit, andere, kleinere Bauteile stärker auszugestalten, wurde kaum je genutzt. Dass beispielsweise Erker, die sich hierfür geeignet hätten, zu Zierelementen umgedeutet wurden, ist kaum je festzustellen, zumal Erker neben der verbreiteten Abortfunktion auch als Wurferker selten waren. Reich durchbrochene Maßwerkerker wie an den Ecken des Soester „Osthofentors“ (1523–26; Abb. 126) waren eine, für die Spätgotik typische Ausnahme; ob der mit Blendmaßwerk gezierte Balkon des Jenaer „Johannistores“ (2. Hälfte des 14. Jahrhunderts) original ist, wäre zu prüfen. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
179
Abb. 127 Trier, erhaltene Teile des Tympanons vom „Neutor“, wohl von 1146, zeigen Christus mit Petrus und dem ersten Bischof, dem heiligen Eucharius, der das Stadt modell trägt. (Abguss im Städtischen Museum Simeonsstift, Original im Rathaus).
Reliefs oder kleinere Skulpturen an der Feldseite von Tortürmen waren die häufigste Art, einen Torturm oder auch eine andere Form von Tor mit einem ornamentalen Akzent zu versehen. Wie fast alle anderen hier dargestellten Arten von „Schmuck“, mit Ausnahme der Blendsysteme des nordostdeutschen Backsteingebietes, gehorchten sie dem Prinzip, primär den Baukörper und die Wandfläche wirken zu lassen und sich diesem Mittel durch geringe Dimensionen und Seltenheit unterzuordnen. Sie waren ferner streng ortsgebunden, denn die meisten dieser Reliefs sind Wappen der Stadtherrschaft – der Stadt selbst, eines adligen Stadtherrn oder der Adler des Reiches –, das heißt, sie sind gar kein Schmuck im engeren Sinne, sondern handwerklich sauber oder gar schmuckvoll ausgestaltete Informationsträger, die den Ankömmling oder auch Angreifer informierten, wessen Machtbereich er betrat. Die andere Hauptgruppe von Skulpturen oder Reliefs an Stadttoren waren religiöse Symbole wie Kruzifixe oder Heiligendarstellungen, deren „Funktionalität“ in einem weiteren Sinne verständlich ist. Auch hier ging es also um einen „Machtbereich“, aber nicht im weltlichen Sinne, obwohl auch dies der Fall sein konnte, wenn die Stadt etwa zu einer geistlichen Herrschaft gehörte oder etwa eine Stadt sich und ihre Herrschaft durch die Darstellung ihres Patrons symbolisierte. Reliefs und Skulpturen sind heute an den Toren häufiger als Bemalungen zu finden, die ja im 180 I. Systematischer Teil
Prinzip dasselbe darstellen bzw. dieselbe Funktion erfüllen konnten. Man muss jedoch davon ausgehen, dass sich hier die früheren Verhältnisse aus Gründen der Erhaltung in ihr Gegenteil verkehrt haben; fraglos war die Bemalung der weitaus häufigere Fall, ist aber im Laufe der Jahrhunderte fast völlig verschwunden, während die widerstandsfähigere Variante aus Stein überlebt hat. Zweifellos waren die Reliefs und Skulpturen die besonders anspruchsvollen Höhepunkte dieser Art Darstellung. Obwohl spätromanische Stadtmauern bzw. Tore selten sind, weil die Blütezeit der Mauern damals erst langsam einsetzte, sind durchaus noch Skulpturen bzw. figürliche Reliefs dieser Entstehungszeit erhalten oder zumindest nachweisbar. Das, soweit ich sehe, älteste ist ein als Spolie erhaltenes großes Tympanon des Trierer „Neutores“, das mit der Mauer um 1140–43 entstand und zweifellos über der Hauptdurchfahrt saß; es zeigt Christus zwischen Petrus und Eucharius (Abb. 127). Man erinnert sich hier an die Tatsache, dass auch in anderen Bischofsstädten, etwa Köln oder Hildesheim, aber auch bei frühen Mauern anderer Städte (Soest, Goslar), die kaum je erhaltenen Torbauten Kapellen enthielten und damit sakral betont waren; dies waren im Bewusstsein der Zeit wohl noch keine „bürgerlichen“ Städte, sondern eher so etwas wie erweiterte Domburgen, die der Bischof entsprechend akzentuierte. Aber schon knapp nach 1200 gab es auch Monumente des Bürgerstolzes – der
verschwundene mittlere Turm der „Steinernen Brücke“ in Regensburg trug unter anderem eine erhaltene romanische Sitzfigur Philipps von Schwaben, der die Stadt 1207 privilegierte. In etlichen weiteren Fällen sind die romanischen Skulpturen zwar erhalten, aber nicht mehr identifizierbar. Das gilt etwa für das Andernacher „Rheintor“ des frühen 13. Jahrhunderts mit zwei vollplastischen, wohl erst sekundär hier angebrachten Männerfiguren oder für das Baseler „Kunostor“ mit dem Relief eines stehenden Mannes auf einem Löwen, den man als „Restbestand“ des romanischen Münsterbaues anspricht; in Sarralbe (Lothringen) trägt der Torturm unidentifizierbare Skulpturen auf den Eckquadern. Spätromanische Löwen wiederum, liegend auf Konsolen, findet man an der aufwendigen Durchfahrt des Mainzer „Eisentores“ (Abb. 97) und – wohl nicht lange vor 1268 – am Esslinger „Wolfstor“ (Abb. 337); am ergrabenen Ulmer „Löwentor“ aus noch staufischer Entstehungszeit sollen sie erst im 14. / 15. Jahrhundert entstanden sein. Die relative Häufigkeit der Löwen, in ganz verschiedenen Regionen und unter ganz verschiedener Herrschaft, lässt in ihnen ein Symbol von allgemeiner Art vermuten, wahrscheinlich stellten sie die Wachsamkeit dar, die zu einem Stadttor gut passt. Nach der staufischen Epoche und letztlich bis ins 16. Jahrhundert hinein spiegeln die erhaltenen Beispiele von Skulpturen an Toren offenbar einen Tendenzwandel zum Religiösen, wobei die Auswahl des Erhaltenen fraglos zufällig ist; nur besonders eindrucksvolle und gut untersuchte Beispiele seien hier genannt. Noch vor 1300 entstand die qualitätsvolle Reiterstatue des heiligen Martin an dem nach ihm genannten Tor in Ladenburg am Neckar (Abb. 110). Zwei Ritterfiguren am Hainburger „Wienertor“ sind in ihrer Bedeutung ungeklärt – Symbole der Stärke und Abwehr oder heilige Könige? Beispiele des 14. Jahrhunderts von eindeutig religiöser Bedeutung bilden etwa das Kruzifixrelief am Regensburger „Ostentor“ (um 1300), die Madonnennischen an etlichen Toren des nördlichen Rheinlandes (Aachen, Nideggen, Zons) oder die Statue des namengebenden Heiligen am auch sonst schmuckarmen Jenaer „Johannistor“. Ein echter Höhepunkt dieser Epoche war jedoch das Basler „Spalentor“ (1398); über der Durchfahrt
steht über dem Stadtwappen eine Madonna mit dem Kind, von beachtlicher Qualität, flankiert von zwei Propheten, jeweils auf figürlichen Konsolen und unter reichen Baldachinen; sie wurden wohl um 1420 dem Tor hinzugefügt (Abb. 128). Dass auch eher bescheidene Tortürme an der Wende zum 15. Jahrhundert relativ reichen skulpturalen Schmuck erhalten konnten, zeigt etwa der Helmstedter „Hausmannsturm“, der stadtseitig eine Marienkrönung in maßwerkbekrönter Nische zeigt, mit Fialen und Rose; noch bescheidener wirkt das Südtor des Marktes Neubrunn (Unterfranken, 1439–59; Abb. 384), an dessen Wehrplatte zwei Hunde(?) den Angreifer bedrohen. Abb. 128 Basel, das „Spalentor“ entstand nach dem Erdbeben 1356, wohl erst im späten 14. Jahrhundert. Die repräsentative und schmuckreiche Gestaltung seiner Feldseite mit dem jüngeren Vortor betont die Bedeutung des Tores, das sich auf die wichtige Straße aus Burgund und dem Elsass bezog.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
181
Das spätgotische 15. Jahrhundert und das frühe 16. Jahrhundert setzten solchen Schmuck konsequent fort, genannt seien die Kaiserdarstellungen am „Breiten Tor“ und an mehreren Rondellen in Goslar (um 1443 bis um 1500), eine hölzerne Madonna am „Unteren Tor“ in Mindelheim, ehemals gerahmt von den Tafelbildern zweier Heiliger, und die Maria Magdalena an der Barbakane des Naumburger „Marientors“ (1456 / 58), die erst nachträglich durch Anfügung eines hölzernen Jesusknaben zur Gottesmutter wurde. In Glogau (Schlesien) sind vom längst verschwundenen „Odertor“ drei Statuen von 1505 erhalten: die Madonna mit dem Kind, die heilige Katharina und der heilige Nikolaus, ehemals auf Konsolen mit „wilden Männern“ und unter Baldachinen, was eine Gruppe ähnlich der älteren in Basel erschließen lässt. Ähnliches lassen auch die leeren Nischen am Soester Osthofentor (1523–26; Abb. 126) vermuten, einem der reichsten spätgotischen Tortürme Deutschlands. Abb. 129 Lauchheim (Baden-Württemberg), das „Untertor“ von 1621 zeigt eine reiche Wappentafel, die damalige Würdenträger des Deutschen Ordens repräsentiert.
182 I. Systematischer Teil
Wappen waren, wie schon beim Thema Bemalung angesprochen wurde, eine dermaßen häufige Darstellung an allen Arten von Toren, dass sich Einzelbeispiele fast erübrigen. Das gilt primär für aufgemalte Wappen, bei denen die Tradition im Grunde bis heute nicht abgerissen ist, aber selbst die weit aufwendigere Form des Wappenreliefs, das man sich in der Regel auch farbig gefasst denken muss, war ausgesprochen häufig. Soweit man es anhand datierter Beispiele prüfen kann – bei gemalten Wappen verhindert das die vielfache Restaurierung –, gehen solche Wappen kaum vor das 14. Jahrhundert zurück. Das älteste Beispiel, das ich feststellen konnte, ist wohl das um 1300 entstandene(?) Wappen am Esslinger „Pliensautor“, das von einem Wasserschlag und symbolisch vom Relief eines Engels geschützt wird. Aussagekräftig für eine Entwicklung, bei der die Wappen erst langsam in Mode kamen, scheinen auch die vollständig erhaltenen Tortürme des äußeren Ringes von Rothenburg; das um 1330 / 40 entstandene „Sieberstor“(Abb. 374) verzichtet noch auf Wappen, die bis gegen Ende des Jahrhunderts folgenden Tore, die auch höher und schlanker sind, zeigen die schlichten Wappen von Reich und Stadt als Paar. Erwähnenswert ist die mehrteilige, im 15. / frühen 16. Jahrhundert entstandene Wappengruppe am Vortor des „Ellinger Tores“ in Weißenburg (Mittelfranken; Abb. 162); über der Durchfahrt prangt der Reichsadler, von Christus behütet und von reicher Maßwerknische umrahmt, beidseitig an den Erkertürmen von zwei Varianten des Stadtwappens flankiert. Reichere Wappengruppierungen dieser Art gipfelten lange nach dem Mittelalter in extrem reichen Gestaltungen, wie man sie am Lauchheimer „Untertor“ (1621) oder in Ellingen (um 1625–63) findet, beide vom Deutschen Orden errichtet; in Lauchheim (Abb. 129) führte die Darstellung der Wappen zahlreicher aktueller Würdenträger des Ordens zu einer großflächigen, klein unterteilten Tafel, die man eher gemalt in einem Innenraum erwarten würde. Wenn man aus dem heute noch vorhandenen Bestand an Skulpturen, Reliefs und Wappen an den Tortürmen – und den seltenen anderen Türmen, die mit Derartigem versehen sind oder waren – überhaupt Schlüsse ziehen will, so wird man am ehesten festhalten, dass sakrale Inhalte seit der Romanik auftraten, aber ihre weitaus
größere, in Einzelfällen auch künstlerisch bedeutende Verbreitung in der Gotik, vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, erlebten. Darstellungen, die man am ehesten als allgemeine Beschwörungen von Kraft und Abwehr deuten möchte – etwa Löwen oder „Trutzköpfe“ –, scheinen nach der Romanik seltener geworden zu sein und wurden mehr oder minder konsequent durch konkrete Herrschaftssymbole ersetzt, nämlich durch die Wappen, die im 14. Jahrhundert zunehmende Verbreitung fanden und dann bis ins Nachmittelalter quasi zum Pflichtprogramm gehörten – in verschiedenen Formen, die vom einfachen, gemalten oder als Relief gearbeiteten Wappen bis zu reichen Gruppierungen, auch in Verbindung mit Skulpturen, reichten. 2.2.5.9 Die Dachform Die Dachzone war in der Gotik und Spätgotik ganz allgemein ein wesentliches Gestaltungsmittel, wobei in unserem Zusammenhang weniger an die reichen Steinhelme und Fialen der Kirchen als vielmehr an die Giebel und Dacherker der Bürgerhäuser, Rathäuser, Wohnbauten in Burgen und auch einzelner Mauertürme an Stadtbefestigungen (vgl. 2.2.4.9.–2.2.4.10) zu denken ist. Angesichts der besonderen städtebaulichen und symbolischen Bedeutung der Stadttore überrascht es daher nicht, dass auch bei ihnen eine reichere Gestaltung der Dachzone zu den wichtigen Gestaltungsmitteln gehört hat, in aller Regel über die übrigen Mauertürme hinausgehend. Vom Grundsatz her ist es dabei möglich, solche Formen zu unterscheiden, die vom Wehrbau inspiriert sind, und solche, die von „zivilen“ Wohn- und Repräsentationsbauten entlehnt sind. Zur ersten Gruppe wird man Erkertürmchen an der Wehrplatte oder im Dach selbst und besonders geschmückte Zinnen zählen, zur zweiten insbesondere das Auftreten von mehr oder minder schmuckreich gestalteten Giebeln. Erkertürmchen an der Wehrplatte – aus Stein mit hölzernen Spitzdächern – oder als Teil des Dachstuhls selbst – als Holzkonstruktion, ausgefacht oder mit Dachdeckungsmaterial verkleidet – waren sehr häufig, wie insbesondere alte Darstellungen des 16. / 17. Jahrhunderts zeigen. Wenn man zudem bedenkt, dass inzwischen von den anfälligen Holzkonstruktionen fraglos der größte Teil verschwunden ist, dass aber auch die
Abb. 130 Mainz, der „Holzturm“ (vor 1366) zeigt steinerne Eckwarten bzw. Erker am Dachansatz, die im 14. / 15. Jahrhundert für den Mittelrhein und den nördlichen Oberrhein charakteristisch waren.
dünnen Brustwehren samt Erkertürmchen recht anfällig waren, dann ist die nicht geringe Anzahl erhaltener Beispiele, auch an vereinzelten Mauertürmen, ein Indiz für die große Verbreitung; hier werden nur besonders gut erhaltene Beispiele angeführt. Relativ sicher datierte und frühe Beispiele in Stein findet man etwa in Meisenheim (nach 1315) Erkertürmchen und Zierzinnen und Neu-Bamberg (nach 1320) in der Nordpfalz oder am weit größeren, wohl 1366 zuerst erwähnten Mainzer „Holzturm“ (Abb. 130), auch die Runderker auf den feldseitigen Ecken der Mauertürme in Nürnberg sind etwa gleich alt (Abb. 375). Das Rheinland des späteren 14. Jahrhunderts war ohnehin eines der Hauptverbreitungsgebiete solcher Eckerker, oft kombiniert mit Rundbogen- oder Maßwerkfriesen (Zülpich, „Münstertor“, 1376– 93; Xanten, „Klever Tor“, 1389–93 [Abb. 425]; 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
183
Kempen, „Kuhtor“; Mayen, Bacharach und Kaub bei Merian); als östliche Ausläufer seien die Vorstadttore in Miltenberg (um 1403 / 05; Abb. 411) und der Turm am „Sacktor“ in Warburg (Westfalen; 1443) genannt. Der „Eschenheimer Turm“ in Frankfurt am Main (1426–28, oberer Teil von Madern Gerthener; Abb. 131) ist auch in der Verwendung der Erkertürme ein herausragendes Beispiel architektonischer Gestaltung – sie erscheinen gleich zweimal, nämlich polygonal, feldseitig am Übergang vom (älteren) Rechteckteil zum runden Oberbau, und rund als Akzentuierung der ebenfalls runden, gezinnten Wehrplatte. Weiter östlich findet man Beispiele in Franken (Nürnberg, Rothenburg, Herzogenaurach und andere), in Schwaben (Biberach, „Ulmer Tor“) oder besonders spät in Eschwege, wo der Turm am „Dünzebacher Tor“ (1531) auf der Traufe sitzende Fachwerktürmchen besitzt. Auch im Gebiet der Ostkolonisation und des Backsteins
Abb. 131 Frankfurt am Main, der „Eschenheimer Torturm“, im Wesentlichen 1400–28 von Madern Gertener erbaut, ist einer der gestalterisch besten Tortürme, die in Deutschland erhalten sind.
184 I. Systematischer Teil
tritt das Motiv auf, wohl nicht zufällig ebenfalls recht spät; so etwa in Pommern (Stargard, „Pyritzer Tor“, 1439; Barth, „Dammtor“, um 1475; Abb. 522) oder in Schlesien (Patschkau, Turm neben dem „Breslauer Tor“, 15. Jahrhundert). Zinnen, die durch Blenden oder umlaufende Bänder bzw. Simse besonders geschmückt waren, waren an Tortürmen in denselben Regionen üblich, wie es schon für die Mauertürme behandelt worden ist (vgl. 2.2.4.9.), und müssen daher hier nicht nochmals belegt werden. Sie treten ebenfalls ab dem späteren 14. Jahrhundert und im 15. Jahrhundert auf, und zwar in vereinzelten Beispielen in fast allen deutschen Regionen; im Rheinland waren sie besonders häufig, in den Backsteinregionen der Normalfall. Der insbesondere mit Fialen und Blendmaßwerk verzierte Giebel ist ebenfalls ein formales Element, das vor allem im 14. / 15. Jahrhundert im Backsteingebiet auftritt; sein repräsentativer Charakter zeigt sich auch darin, dass der Giebel in der Regel beid- Ziergiebel im Backsteingebiet seitig eingesetzt wurde, also auch gegen das Innere der Stadt. Die Bindung an das Material bzw. die Möglichkeit, sehr einfach Formsteine herstellen zu können, verdeutlicht sich besonders dort, wo das Motiv weit außerhalb des bekannteren norddeutschen Backsteingebietes auftritt; als Beispiel seien Ingolstadt (1361–1434) genannt und die davon abhängigen Tore des 15. Jahrhunderts in Vohburg und Erding, die im ebenfalls steinarmen niederbayerischen Grundmoränengebiet liegen. Im Gebiet von Mecklenburg, Pommern, Brandenburg und dem Ordensland bestand die Variationsbreite der Giebelform vor allem darin, wie die Gliederung des Giebels mit jener des Turmschaftes verbunden wurde. Die einfachste, aber vielleicht auch wirkungsvollste Form findet sich im Ordensland, wo der Ziergiebel stets auf einem glatten Schaft saß (Abb. 132). Dagegen war in Brandenburg und in bescheidenerem Maße in Mecklenburg und Pommern die Verzierung auch des Schaftes mit Blendsystemen üblich und dies ergab formale Variationsmöglichkeiten, vor allem jene, die Fialen weit über den Turmschaft herunterzuziehen und so eine betonte Vertikalgliederung zu schaffen. Der nochmals zunehmende Gestaltungsreichtum der Spätzeit in Brandenburg und Pommern – mit Tortürmen, die vor allem runde oder polygonale
Abb. 132 Preußisch Holland (links) und Allenstein, zwei typische Tortürme im Land des Deutschen Ordens. Über den glatten Turmwänden folgt ein stärker gegliederter Giebel (Chr. Herrmann).
Aufsätze besaßen – führte um und nach 1400 sogar dazu, dass Giebel auf quadratischen Tortürmen nun die bescheidenste Form waren, die nur noch bei kleineren Städten auftrat. Als seltene Art, wie auch ein Ziergiebel auf einem quadratischen Turm in seiner Wirkung gesteigert werden kann, ist auf das „Kröpeliner Tor“ in Rostock hinzuweisen, das um 1400 auf sieben Geschosse erhöht und an allen vier(!) Seiten mit Giebeln vor gekreuzten Satteldächern versehen wurde (Abb. 124). Die gleiche Form wies auch das dortige „Kreuztor“ auf. Der enge Zusammenhang der Ziergiebel mit der übrigen Architektur im Backsteingebiet liegt vom Gesamteindruck her auf der Hand, wird aber durch Einzelfälle besonders veranschaulicht. So leitet man den Giebel des Parchimer „Kreuztores“ (um 1300; Abb. 502) aus gutem Grund vom berühmten Westgiebel der Zisterzienserkirche in Chorin her, einem der herausragenden Beispiele früher Gotik in Brandenburg (ab 1266). Dass die direkte Übernahme der For-
men von Kirchen auch noch weit später vorkam, zeigt ferner das „Treptower Tor“ in Neubrandenburg (um 1400), das Anklänge sowohl an die örtliche Marienkirche als auch an jene in Stralsund aufweist (Abb. 133). Detaillierte Vergleiche mit den Giebeln von Bürgerhäusern, von denen ja durchaus der „bürgerliche“ Charakter der Stadtmauerformen abgeleitet sein könnte, sind dagegen bis heute nicht angestellt worden. Der Treppengiebel ist im Mittelalter die wohl schlichteste Art eines Ziergiebels, die auch in Bruchstein und Putz herstellbar ist, ohne Formsteine und sonstigen Aufwand. Obwohl Treppengiebel im 14. / 15. Jahrhundert im städtischen und adligen Profan- Treppengiebel, Steindächer bau weitverbreitet waren, sind sie bei Tortürmen desselben Zeitraumes nicht allzu häufig und traten vor allem im (ober)schwäbisch-alemannischen und in Teilen des fränkischen Raumes auf. Dabei sind hier die Fälle mit Werksteinzier in Form von Fialen Ausnahmen (Memmingen, „Kemptertor“; Tore der 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
185
„Ulmer Vorstadt“). Zudem zieht sich die Form ins 16. / 17. Jahrhundert hinüber und erweist an den nicht mehr wehrhaften Türmen jener Spätphase endgültig ihre rein repräsentative Funktion (vgl. 2.2.5.10.). Als ungewöhnliche Überhöhung dieser Form, analog zum schon erwähnten „Kröpeliner Tor“ in Rostock, ist die vierseitige Verwendung von Treppengiebeln anzusprechen, die man auch bei den besonders späten Toren in Weißenhorn (um 1470 / 80) findet. Eine letzte Sonderform des Daches auf Tortürmen ist das gemauerte Kegeldach, das allerdings nicht auf Tortürme beschränkt und vor allem auch keine Schmuckform war, sondern einfach eine andere Konstruktionsart des Daches. Statt eines hölzernen Dachwerkes wurde in diesen Fällen ein spitzes Dach über rundem oder polygonalem Grundriss aufgemauert, das allein durch die Wölbwirkung dieser Form hielt. Der handwerkliche Anspruch war dabei eher höher als bei einem hölzernen Dachwerk, der die DeAbb. 133 Neubrandenburg, die reich gegliederte Feldseite des „Treptower Torturmes“ (um 1400) übertrifft die älteren Tortürme der Stadt deutlich.
ckung ersetzende Putz musste laufend instand gehalten werden. Trotz dieser Nachteile besaß diese technische Form, die auch an anderen Türmen, an Burgen und Kirchen auftrat, ein recht großes Verbreitungsgebiet, das allerdings – eben wegen der Anfälligkeit dieser Dächer – nur noch durch einzelne Beispiele markiert wird. Es zieht sich von Hessen (etwa „Eschenheimer Turm“ in Frankfurt) über Thüringen (Jena, „Johannistor“; Naumburg „Marientor“; Langensalza, „Storchennest“; Mühlhausen) bis nach Schlesien hinüber (etwa Patschkau, „Breslauer Tor“). Auch in Brandenburg waren Steindächer sicher recht verbreitet, weil Backstein mit seinen exakten, gleichförmigen Formen hierfür besonders geeignet war (Abb. 87). Schließlich findet man in (Ober- und Nieder-)Österreich noch etliche Beispiele, wenn auch nicht an Stadtbefestigungen. Man muss vermuten, dass das wirkliche Verbreitungsgebiet viel größer war – dass etwa Sachsen dazugehörte, liegt nahe, nur ist dort allgemein wenig erhalten –, dass wir dies aber nicht mehr erkennen können, weil die große Mehrzahl der Dächer irgendwann verfiel und durch pflegeleichtere Holzkonstruktionen ersetzt wurde. Die erhaltenen Beispiele gehen nicht vor das 14. Jahrhundert zurück. 2.2.5.10. Tortürme des 16. / 17. Jahrhunderts Die defensive Funktion von Tortürmen fand ihr Ende, wie die der Türme überhaupt, durch die zunehmende Verbreitung der Feuerwaffen. Die überhöhende Wirkungsmöglichkeit verlor ihre Bedeutung angesichts von Geschützen, die noch aus Hunderten von Metern Entfernung Mauerwerk zerstören konnten; dadurch wurde der Turm selbst zur Gefahr für die Verteidiger und ihre Stadt, wenn er durch Beschuss zum Einsturz gebracht wurde. Nur niedrigere und in ihrer (Stein- oder Erd-)Konstruktion besonders widerstandsfähige Bauten konnten nun noch sinnvoll sein und in diesem Sinne stellt sich die gesamte Entwicklung der Stadtbefestigungen ab dem 15. Jahrhundert immer deutlicher dar, in dem die entscheidenden Entwicklungsschritte der Artillerie stattfanden (vgl. 2.2.11.). Angesichts so klarer Tatsachen sollte man eigentlich annehmen, dass nach dem 15. Jahrhundert keine Tortürme mehr erbaut bzw. die vorhandenen entweder geschütztauglich umge-
186 I. Systematischer Teil
staltet oder aber vernachlässigt wurden. In der Regel trifft das auch zu, aber dennoch gibt es noch in der Renaissance und gar bis in den Barock etliche Bauten und Umbauten, die deutlich machen, dass die repräsentative und symbolische Wirkung einzelner Tortürme das Ende ihrer defensiven Funktion noch für lange Zeit überlebte, ja dass diese Wirkung sogar noch höher als zuvor bewertet wurde. Dass eine Stadt mehrere Tor- und andere Türme in Renaissanceformen umgestaltete oder gar neu erbaute, war eine seltene Ausnahme. Neben Nördlingen, das mit dem „Deininger Tor“ (1517 / 19) und dem „Löpsinger Tor“ (1592; Abb. 357) eine eher ästhetisch gemeinte Torform, mit dem „Berger Tor“ (1574 / 75; Abb. 134) ein artillerietaugliches Modell erprobte, ist hier vor allem Augsburg hervorzuheben, wo Elias Holl mit dem „Wertachbrucker Tor“ (1605), dem „Roten Tor“ (1622; Abb. 350) und den Wassertürmen am „Roten Tor“ und in der „Jacobervorstadt“ die schönsten Bauten dieser Spätphase in Deutschland schuf, in kräftiger, „wehrhafter“ Formensprache der späten Renaissance (Abb. 135). Holls Bauten waren keineswegs die frühesten ihrer Art im süddeutsch-schwäbischen Raum – neben Nördlingen gingen ihnen zum Beispiel noch das „Obere Tor“ in Günzburg (Umbau 1582?) und das „Königstor“ in Oettingen (1594) voran –, aber sie hatten eine beachtliche Nachwirkung. Zu nennen sind, entstanden zwischen 1614 und 1697, Torund andere Türme in Wangen, Ulm, Ehingen, Günzburg, Lauingen, Memmingen, Aichach und Landsberg am Lech; erwähnenswert ist, dass der „Blockhausturm“ in Burgau (1614) und der Vilshofener „Stadtturm“ (1643–47) von italienischen Architekten nach hollschem Vorbild erbaut wurden. Grundsätzlich gab es bei so späten Torneubauten zwei verschiedene Fälle. Einerseits konnten normale Tore neu erbaut werden, das heißt solche, die weiterhin einen Stadteingang bildeten und Verteidigungsfunktion besaßen; fast immer handelt es sich dabei nur um einen einzelnen Turm, in der Regel am wichtigsten Tor. Bei solchen Tortürmen kann man manchmal durchaus feststellen, dass besonders moderne Formen verwendet wurden, aber ähnlich häufig findet man auch Türme, die geradezu entschieden versuchen, „zeitlos“ zu wirken bzw. so auszusehen, als
Abb. 134 Nördlingen (Bayerisch Schwaben), das „Berger Tor“ erhielt seine heutige Form mit zwei Kanonenplattformen 1574 / 75, wobei der Torturm von 1435 / 36 erheblich verkürzt wurde. Abb. 135 Augsburg, das „Wertachbrucker Tor“ (1605) von Elias Holl mit Unterbau des Torturmes aus dem 14. Jahrhundert. Holl gestaltete mehrere Türme in Augsburg neu (vgl. Abb. 350).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
187
seien sie noch mittelalterlich – hier ging es offenbar um die bruchlose Fortsetzung der Tradition und gerade nicht um das demonstrativ Neue. Ein anderer Fall tritt erst in der Spätzeit auf, nämlich die Ausgestaltung eines Torturmes zu einer Art „Stadtturm“, der einen fehlenden oder bescheideneren Rathausturm ersetzte oder ergänzte. Typisch für solche nur symbolhaft gemeinten Türme ist es in der Regel, dass sie gar nicht mehr zum äußeren aktiven Mauerring gehörten, sondern Relikt eines älteren Mauerringes waren, der längst im Stadtinneren aufgegangen war; häufig führte die Enge des älteren Mauerringes dabei auch dazu, dass der Turm durchaus einen Sichtbezug zum Marktplatz bzw. zum Stadtzentrum aufnehmen konnte und damit mehr in die Stadt als nach außen wirkte. Das Anbringen einer Uhr am Turm, in Verbindung Abb. 136 Bern, der „Zytglogge“ (Zeitglocke = Uhr) war der wichtigste Torturm der ersten Stadtmauer, wurde aber durch die Entstehung einer Vorstadt ins Stadtinnere gerückt und noch später, barock überformt, zum symbolhaften Stadtturm; vgl. Abb. 303.
188 I. Systematischer Teil
mit einer Glocke, die das Dach bekrönte und die Stunde schlug, unterstrich die andersartige Aufgabe solcher Türme. Als klassisches Beispiel sei der Berner „Zytgloggen“ (= Zeitglocke) genannt, das Haupttor der ersten Mauer aus dem früheren 13. Jahrhundert, der die Uhr im 15. Jahrhundert und seine barocke Gestalt 1770 / 71 erhielt (Abb. 136). Aussagekräftig ist auch München, wo gleich zwei Tore der ersten Mauer des mittleren 13. Jahrhunderts im Stadtinneren erhalten blieben bzw. sogar neu erbaut wurden; der Turm des „Talburgtores“ wurde zum Bestandteil des Rathauses, der 1479 erbaute „Schöne Turm“ ersetzte das Westtor in betont ansprechenden Formen: polygonale, unten blendengegliederte Ecktürme mit Spitzhelmen, Stockwerkgesimse, reiche Bemalung und Kreuzrippenwölbung in allen sechs Geschossen (Abb. 93). Im Alpenvorland und im Gebirge selbst sind weitere variantenreiche Beispiele der Zeit um 1500 zu nennen, neben verschwundenen Toren in Augsburg etwa der „Bruckturm“ in Wasserburg am Inn, der wie ein breites, wenn auch zinnenbekröntes Wohnhaus mit bemalter Fassade wirkt, oder das „Franziskanertor“ in Überlingen (1494; Abb 346), wieder im Inneren der Stadt, dessen Rustika wohl auf toskanische Einflüsse zurückgeht; Leoben (Steiermark) besitzt Tortürme, die zwischen 1512 und 1616 entstanden, das winzige und entlegene Ilanz (Graubünden) solche mit Baudaten von 1513 bis 1717. Auch sonst bleibt der Schwerpunkt des Baugeschehens im bayerischen, fränkischen und alemannischen Raum. Nach 1523 errichtete Neustadt / Aisch ungewöhnlicherweise einen bequemeren Torbau neben dem bis heute erhaltenen älteren Turm des „Nürnberger Tores“; 1531 entstand ein neuer Torturm im benachbarten, kleinen Arberg. In den 1530er und 1540er Jahren entstanden Tortürme in der Oberpfalz: 1542 das „Untere Tor“ in Neumarkt, wohl gleichzeitig das oben ins Achteck übergehende „Obere Tor“ von Vilsbiburg, schließlich 1532 und 1565 die beiden Tortürme von Nabburg, die beide auf ältere Mauertore gesetzt wurden, beim „Obertor“, wieder mit oktogonalem Oberbau. Im alemannischen Bereich in der Schweiz ist als frühester Turmbau dieser Phase der „Siegelturm“ in Diessenhofen zu erwähnen, 1545 / 46 durch Martin Heunsler aus Stein am Rhein bereits im Stadtinneren erbaut
(Abb. 313); auch in Stein selbst entstand das nur in Details der Renaissance angehörende „Untertor“ 1552. Weiter im Norden sind bis Mitte des 16. Jahrhunderts nur wenige neue Tortürme zu verzeichnen. Wichtig ist, wieder im Stadtinneren, die Erhöhung des Speyerer „Altpörtels“ (1514) mit reichem Maßwerkgeländer eines umlaufenden Balkons (Abb. 79). Um 1520 / 30 entstand das „Niederntor“ im westfälischen Blomberg, ein recht kleiner Torturm mit riesigen Schlüsselscharten, dessen kugelbesetzter und wappengezierter Giebel aber zu den frühen Renaissancezeugnissen der Region gehört. Konnte man, was die Detailformen betraf, bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts noch von Türmen sprechen, die allgemein spätgotische Merkmale besaßen – ein Beispiel ist das „Untertor“ im thüringischen Heldburg, um 1550 / 60 entstanden, das aber durchaus ein Jahrhundert älter sein könnte – und höchstens im Detail moderne Formen verwendeten, so herrschten in der zweiten Jahrhunderthälfte und darüber hinaus nun eindeutige Renaissanceformen vor. Dies erlaubte es auch, vorhandenen Türmen ein „modernes Kleid“ zu geben, indem nur wenige Schmuckformen erneuert wurden. Als Beispiel seien jene zahlreichen fränkischen Tortürme genannt, die nun durch Giebel und neue Dachwerke zu Renaissancebauten umgestaltet wurden, oder jene typischen Attiken in Schlesien, die aus italienisierenden Schwalbenschwanzzinnen entwickelt und mit Pilastern und Blendbögen geziert waren; diese Formen findet man auch an anderen Profan- und Sakralbauten in Polen und noch weiter östlich. In der Schweiz waren immer noch Giebel üblich, jedoch fast immer schlichte Treppengiebel, nur ganz selten solche mit Schmuckformen der Renaissance (Feldkirch, Lenzburg). In dieser Zeit entstanden auch noch vereinzelt ganze Mauern neu, etwa in Ellingen (Mittelfranken) um 1590 bis 1660, wo neben Türmen in durchaus zeittypischen Formen und einem einfachen Torbau das betont malerisch gruppierte „Pleinfelder Tor“ entstand; der Turm mit achteckigem Oberbau, einem der häufigsten Merkmale der Epoche, wurde durch zwei Flankentürme und vor allem durch eine der reichsten Wappengruppen Deutschlands bereichert (Abb. 137). Die Erneuerung der Tortürme in Nördlingen oder auch deren konsequente Neugestaltung
Abb. 137 Ellingen (Mittelfranken), das „Pleinfelder Tor“, hier die Feldseite, stammt in seiner heutigen Form erst von 1660, was in seiner reichen baukörperlichen Gliederung und den Wappen zum Ausdruck kommt. Wie Lauchheim (Abb. 129) gehörte die Stadt dem Deutschen Orden (H.-H. Häffner).
um 1600 in Wangen (Allgäu) können mit Ellingen halbwegs verglichen werden. Üblich bleiben aber auch jetzt ganz vereinzelte Torneubauten, die über den ganzen deutschen Raum verstreut sind. In der Schweiz sind formal unauffällige Türme in Bremgarten („Obertor“, 1556 / 59) und in Neunkirch („Obertor“, 1574) zu nennen, in Österreich zwei Tore von 1573 und 1613 in Steyr, wobei das jüngere die traditionellere Form zeigt, und die „Wasserkunst“ in Wels (1577–79) mit bemalter Fassade. Am Oberrhein stammt der Turm des „Königsschaffhauser Tores“ in Endingen erst aus dem Jahr „1581“ (Abb. 336), entspricht aber voll den Toren des 14. / 15. Jahrhunderts vor allem im Elsass; im Gegensatz dazu erhielt der „Niggelturm“, ein älterer Eckturm von Gengenbach, 1582 eine Bekrönung in reichen Renaissanceformen. Das Hechinger „Untertor“ (1579) gehört wieder zu dem verbreiteten Typus mit achteckigem Oberteil, während das „Obertor“ in Markgröningen (um 1550), das seinen Neubau wohl der Einbeziehung ins benachbarte Schloss verdankte, und das „Schwaikheimer Tor“ in Winnenden (wohl um 1600) wieder recht traditionell bzw. „undatierbar“ gestaltet sind. Dagegen ent2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
189
standen in Amberg 1564–81 mehrere Vortore in betont zeitgemäßen Formen neu, nämlich in Rustika, wobei einmal ungewöhnlicherweise ein Turm auf das Vortor gesetzt wurde (Abb. 138); auch der Oberbau des Torturmes am „Ziegeltor“ wurde entsprechend erneuert. Die Torfassade (1582) in Neunkirchen am Brand (Mittelfranken) ist das nördlichste Beispiel in Süddeutschland, dann folgen in Thüringen und Schlesien nur vereinzelte Beispiele von Toren aus der Spätzeit (Tennstedt / Thüringen, „Osthöfer Tor“ mit oktogonalem Oberbau, 1579; Glatz / Schlesien, „Böhmisches Tor“, 1568). Erst in Ostseenähe gibt es wieder einige aufwendigere Beispiele, unter denen das Rostocker „Steintor“ (1574–77), das sich vor allem durch sein komplex geformtes, hohes Dach auszeichnet, der einzige komplette Neubau zu sein scheint; es schloss nach der Zerstörung des älteren, zeitweise zur Festung umgebauten Tores die Lücke. Auf ältere Tore aufgesetzte Renaissancegiebel findet man etwa in Stargard („Walltor“, um 1580) und in Tribsees und Greifenberg, alle in Pommern. Ein aussagekräftiger Sonderfall ist schließlich das Nordertor in Flensburg (1595); es entstand als unbefestigter Bau, nachdem die Mauer schon zwei Jahrhunderte vorher abgetragen worden war. Dass die schönsten dieser späten Tore erst nach 1600 durch Elias Holl in Augsburg entAbb. 138 Amberg, das „Wingershofer Tor“, ein Neubau der Renaissance (inschriftlich 1579 / 80), ist dadurch ungewöhnlich, dass der Turm auf die Front des Torzwingers gesetzt wurde.
190 I. Systematischer Teil
standen, wurde bereits erwähnt. Aber auch sonst hörte die Entwicklung im 17. Jahrhundert keineswegs auf, wobei jene Türme, die ganz bewusst mittelalterliche Formen andeuteten, dann allerdings verschwanden; das Hersbrucker „Wassertor“ von 1601 / 02, das sich sorgfältig den anderen, 150 Jahre älteren Türmen der Stadt anpasste, ist hier wohl das letzte Beispiel. Sonst aber waren nun „moderne“ Formen üblich, vor allem weiterhin der achteckige oder runde Oberbau (Gunzenhausen / Mittelfranken, „Blasturm“, 1603; Löwenberg / Schlesien, „Bunzlauer Tor“, um 1616 / 20, und „Laubaner Tor“, 1616–20 [Abb. 480]; Lauchheim, 1621). Ein besonderer Fall ist das höchst repräsentative „Steinheimer Tor“ in Seligenstadt (1603–05), für das man Georg Ridinger als Architekten vermutet hat; der große Torturm zeigt, dem Aschaffenburger Schloss vergleichbar, Stockwerkgesimse, reiche Durchfensterung und eine sehr komplexe Dachform, es fehlen ihm jedoch schon alle Befestigungsmerkmale, mit Ausnahme eines Fallgatters. Bescheidenere Beispiele für ähnlichen Einsatz der Gestaltungsmittel, vor allem die Renaissancegiebel, findet man in Württembergisch Franken etwa in Forchtenberg (1604) und Ilshofen („Haller Tor“, 1609; Abb. 217). Die letzten Nachklänge reichen bis in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg bzw. in den Barock. Die wenigen Beispiele waren nun wieder schlichte quadratische Türme, wenn auch teils von beachtlicher Größe, die nur in den Details den Zeitstil erkennen lassen. Sie dienen der Ergänzung von immer noch genutzten Mauern – so etwa in Mühlhausen / Thüringen, wo das „Innere Frauentor“ 1655 neu entstand, oder in Sursee (Schweiz, „Untertor“, 1674). Der Torturm in Neuenstadt am Kocher – wieder in dem offenbar recht traditionsbewussten Württembergisch Franken – entstand 1701–03 direkt neben dem Schloss, zu dem er architektonisch zweifellos in Beziehung zu setzen ist (Abb. 395). Der eingangs erwähnte Berner „Zytgloggen“ dagegen ist mit seiner reichen Fassade von 1770 / 71 wirklich kein Torturm mehr, sondern eindeutig ein symbolhafter Uhr- und Glockenturm.
2.2.6. Andere Torformen 2.2.6.1. Das Mauertor Das Mauertor, in Süddeutschland auch als „Durchlasstor“ bezeichnet, ist die einfachste denkbare Torform – eine Öffnung in der Mauer ohne jeden ergänzenden Raum oder Baukörper. Es liegt auf der Hand, dass das Mauertor überall dort weitverbreitet war, wo man den baulichen Aufwand eng begrenzen wollte oder musste, also insbesondere bei frühen Mauern und später bei Kleinstädten, aber auch bei untergeordneten Toren ganz normaler, sonst mit Tortürmen oder anderen aufwendigeren Torformen ausgestatteten Mauern. In der Literatur wurde das wenig spektakuläre Thema der Mauertore bisher kaum berührt oder gar vertieft; allein in Heinrich Trosts Buch über die Stadtbefestigungen des Backsteingebietes findet man die theoretische Überlegung, es habe sich wohl um die früheste Torform gehandelt, aber die „späte“ Mauerregion, die er behandelt, ist dabei ganz ungeeignet für die Benennung realer Beispiele. Das Mauertor als Nebentor in bedeutenden, torreichen Städten ist ein Phänomen, das sich heute kaum noch anhand erhaltener Beispiele veranschaulichen lässt. Typischerweise findet man es vor allem an der flussseitigen Front, deren Schiffslände durch zahlreiche Mauertore er-
Abb. 139 Köln, ein Ausschnitt aus dem Holzschnitt von Anton Woensam (1531) zeigt die Stadtmauer an der Rheinlände mit mehreren Mauertoren und vielfältigen Überbauungen.
reichbar war; hier galt es, einen umfangreichen Warenverkehr zu bewältigen, während ein Überraschungsangriff nicht zu befürchten stand. Wegen der fortlaufenden Wirtschaftsbedeutung solcher Hafenzonen sind derartige Nebentore aber kaum je erhalten geblieben; ein berühmtes und anschauliches Beispiel bietet etwa Anton Woensams berühmte Rheinansicht von Köln (1531),
Abb. 140 Dausenau an der Lahn (Rheinland-Pfalz) bietet ein seltenes Beispiel einer Mauer zur Schiffslände, die samt ihren Mauertoren und Pforten weitgehend erhalten ist. Die Türme ganz links und ganz rechts gehörten zu den Toren der Uferstraße, der große Fachwerkbau auf der Mauer ist das Rathaus von 1434.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
191
bei der man 34 Tore und Pforten zählen kann, darunter 20 Mauertore, die höchstens durch einen Erker oder einen benachbarten Turm gesichert wurden (Abb. 139). Mit einer solchen, zweifellos pragmatisch über Jahrhunderte hinweg entstandenen Vielfalt kann sich keine erhaltene Mauer mehr messen, wenn auch eine Kleinstadt wie Dausenau an der Lahn noch ausnahmsweise eine Anschauung gibt (Abb. 140), ebenso zwei Tore in Steinheim am Main. Wesentlich aussagekräftiger für die Entwicklung der Stadtmauerformen sind jedoch die frühen, in die Romanik zurückreichenden Mauertore, die keine Nebeneinlässe waren, sondern durchaus Haupttore. Auch bei sehr guter Kenntnis des erhaltenen Bestandes an Stadtmauern glaubt man zunächst lange, dass derartige Tore ausnahmslos verschwunden sind und man sie daher nur noch indirekt erFrühe Mauertore, schließen kann. Recht häufig 12. / 13. Jahrhundert stellt man immerhin fest, dass ein Torturm deutlich jünger ist als die Mauer, zu der er gehört, und in sehr wenigen Fällen ist dabei noch erkennbar, wie der Torturm nachträglich an das Mauertor angebaut bzw. darauf aufgesetzt wurde. Beispiele bieten etwa die zwei Haupttore von Nabburg (Oberpfalz; Abb. 366) oder das Neusser „Obertor“ (Abb. 421), das allerdings von Anfang an(?) auch einen flachen Oberbau besaß; im Befund sehr
deutlich ist auch der „Hospitalturm“ in Oberwesel, wo der Schalenturm wohl schon im mittleren 13. Jahrhundert hinter ein Rundbogentor der wenig älteren Mauer gesetzt wurde. Weitaus häufiger aber wurde das ältere Tor beim Neubau des Turmes vollständig abgerissen. In solchen Fällen darf man getrost unterstellen, dass der Torturm nicht etwa einen älteren Turm ersetzt hat – dann hätte man ihn sicherlich eher aufgestockt –, sondern eine deutlich einfachere Torform, deren Beseitigung nicht allzu unökonomisch war. Und als solche Form kommt im Grunde nur das Mauertor infrage. Dabei ist dieser Vorgang nicht nur bei besonders frühen Mauern erkennbar – etwa in Speyer oder Freiburg im Breisgau, beide mit Mauern des 11. und frühen 12. Jahrhunderts und Tortürmen der Zeit um / nach 1200 –, sondern durchaus auch bei späteren Mauern kleinerer Städte; beispielsweise stammen die Tortürme im südlichen Hessen fast durchweg aus dem 15. Jahrhundert, obwohl die dortigen Mauern durchaus ins 13. / 14. Jahrhundert zurückgehen. Jedoch sind wir entgegen dem ersten Anschein doch nicht nur auf solch indirekte und letztlich hypothetische Belege für die Existenz früher Mauertore angewiesen, sondern es gibt durchaus noch einzelne und daher besonders wertvolle Fälle erhaltener romanischer Mauertore. Dass sie als solche bisher kaum benannt worden sind,
Abb. 141 Thun (Schweiz), das „Burgitor“ ist das seltene Beispiel eines Mauer- oder Durchlasstores aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert. Der flache Risalit mit tonnengewölbter Nische kann keinen Turm, sondern nur eine Plattform getragen haben. (Archäologischer Dienst des Kantons Bern).
192 I. Systematischer Teil
liegt zweifellos in ihrer Unauffälligkeit und auch in der bisher fehlenden Gesamtschau und Entwicklungsvorstellung begründet, durch die der Stellenwert so schlichter Phänomene überhaupt erst begriffen werden kann. Es ist sicher kein Zufall, dass eine ganze Reihe früher Mauertore in der Schweiz erhalten ist, wo es einerseits viele Gebirgsstädtchen gibt, die sich später nur wenig vergrößerten, und wo andererseits eine recht intensive Forschung schon systematisch zusammengefasst worden ist. Noch ins späte 12. Jahrhundert wird ein Rundbogentor in einem verstärkten Mauerabschnitt gesetzt, das unter der Burg Thun erhalten ist („Burgitor“; Abb. 141), ebenfalls um 1200 entstand ein ergrabenes Mauertor im zähringischen Burgdorf. In Zug wurde ein Torturm im späten 13. Jahrhundert vor ein bestehendes Mauertor gesetzt, Ähnliches findet man in Rheinfelden, wohl aus der Zeit nach 1225 mit Tortürmen des 14. Jahrhunderts, und schließlich in Feldkirch (Vorarlberg). In Walenstadt (Graubünden) ist ein Mauertor unverändert erhalten (Abb. 142), in Werdenberg zumindest Gewändereste; weitere Grabungsergebnisse liegen aus Wiedlisbach und Erlach vor. Weiter nördlich ist das Osttor von Eberbach / Neckar, wohl direkt nach 1227 entstanden, mit seinen schlichten Schmuckformen ein besonders wertvolles, weil kaum verändertes spätromanisches Mauertor (Abb. 104); ihm kann man
das Westtor von Neuleiningen (um 1238–41) zur Seite stellen. Sonst aber sind nördlich der Alpen kaum frühe Beispiele der Art erhalten. In Pappenheim kann man das „Obertor“ im Verdacht haben, in Wertheim / Main das „Hirschtor“, in Siegburg könnte das „Holztor“ noch ins 12. Jahrhundert zurückgehen und wurde nachträglich durch zwei Tourellen ergänzt. Die beiden spät modernisierten Mauertore von Nabburg (Oberpfalz; zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts?) waren schon angesprochen worden. Die Feststellung einer allzu begrenzten Ausbeute gilt eher noch mehr für die große Zeit der Stadtmauern zwischen dem späteren 13. und dem frühen 16. Jahrhundert – nun befestigten sich auch kleine Städte nach einem Standard, der mehr oder minder bescheidene Tortürme oder zumindest Torbauten (vgl. 2.2.6.2.) als Selbstverständlichkeit umfasste, und Mauertore waren seltene, schwer erklärliche Ausnahmen. Erwähnt seien als erhaltene, meist umgebaute Beispiele Grebenstein in Hessen („Burgtor“, um 1310–56), Münnerstadt in Unterfranken (zwei Tortürme Späte Mauertore in Kleinstädten vor Rundbogentoren), Wassertrüdingen in Mittelfranken („Obertor“, wohl nach 1388, mit barockem Umbau) und Freistadt in Oberösterreich, wo vor das Mauertor (nach 1363) wohl erst 1482–85 ein Torturm gesetzt wurde. In Österreich, ins-
Abb. 142 Walenstadt (Schweiz), in der nördlichen Stadtmauer (wohl Mitte / zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist ein Mauertor erhalten, von außen vermauert, aber sonst unverändert. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
193
besondere im alpinen Teil, gibt es noch einige späte Mauertore (St. Andrä, Schladming, Neumarkt) und im Voralpenland fällt zumindest das Überwiegen von Tortürmen des 15. und frühen 16. Jahrhunderts auf, was wieder den indirekten Schluss auf langes Überleben einfacherer Torformen zulässt. Auch in Oberschwaben und vielleicht weiteren Bereichen Süddeutschlands überwiegen späte Tortürme in auffälliger Weise und lenken die Überlegungen daher in dieselbe Richtung.
Abb. 143 Köln, von den Toren der 1106 begonnenen Stadterweite rung blieben drei bis ins 19. Jahrhundert verbaut erhalten. Zumindest zwei von ihnen besaßen, wohl nach römischem Vorbild, zwei Durchfahrten. Oben das „Ehrentor“, unten Grundriss (19. Jahrhundert) der „Würfelpforte“ (Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2, IV., 1930).
194 I. Systematischer Teil
2.2.6.2. Der Torbau Der Torbau, wie er in diesem Kapitel behandelt wird, ist im Grunde negativ zu definieren. Gemeint ist nämlich jedes Gebäude, durch das der Weg in die Stadt hindurchführt, das aber nicht eine jener Formen aufweist, für die es aufgrund ihrer Häufigkeit bzw. optischen Prägnanz feststehende Ausdrücke gibt – also jedes Gebäude mit Durchfahrt, das weder ein Torturm (vgl. 2.2.5.) noch ein Doppelturmtor (vgl. 2.2.6.4.) ist. In der Praxis handelt es sich in aller Regel um Gebäude mit nur einem Obergeschoss – schon bei zwei Obergeschossen muss man von einem Torturm sprechen –, das folglich die anschließende Mauer kaum überragte und daher ähnlich bescheiden wirkte wie ein Mauertor. In dieser optischen Bescheidenheit liegt auch zweifellos der Hauptgrund dafür, dass Torbauten ähnlich selten waren und sind wie Mauertore. Sie treten ebenfalls eher in Kleinstädten (und Dörfern), an Nebentoren größerer Städte und, freilich selten und schwer nachweisbar, als frühe Torform romanischer Mauern auf. Auch sie wurden aufgrund ihres Mangels an Repräsentativität später sehr oft abgebrochen. Dabei muss man sich zudem vor Augen halten, dass die Grenze zwischen Mauertor und Torbau in der Praxis unscharf ist. Wenn etwa hinter das Mauertor ein Gebäude aus Fachwerk gesetzt war oder wenn über dem Mauertor eine Wächterkammer beidseitig vorkragte: Wäre das dann schon als Torbau zu bezeichnen? Und würden wir es, wenn es zerstört oder nur in Resten erhalten ist, überhaupt sicher erkennen? Eine weitere Sonderform des Torbaues bestand darin, dass dieser an einen Turm angelehnt war, der direkt neben dem Tor stand, aber mangels Durchfahrt kein echter Torturm war; diese Form war so
häufig, sodass sie hier gesondert behandelt wird (vgl. 2.2.6.3.). Im 12. Jahrhundert sind einige wenige städtische Torbauten belegbar – leider aber nicht erhalten – , die in ihrem Obergeschoss offensichtlich Kapellen enthielten. Sie erinnerten in diesem Punkt an noch ältere Klostertore und Tore von Domburgen, bei denen ein besonderer sakraler Bedeutungsgehalt leicht erklärbar ist; genannt seien die Tore der DomRomanische Torbauten burg von Hildesheim (um 1000) und vor allem als besonders anschaulicher Fall die dortige Kirche „Heiligkreuz“, die vor 1079 durch Umbau eines großen, dreischiffigen Torbaues entstand, der wohl in eine Erweiterung der Domburg führte (Abb. 10). In einer Bischofsstadt wie Köln kann es nicht wundern, wenn die Tore früher Stadterweiterungen – die älteste Mauer war hier die römische – ebenfalls Kapellen enthielten; aus der Sicht des geistlichen Stadtherrn wird die Stadt damals eher eine räumlich und funktional erweiterte Domburg gewesen sein. Von den kölnischen Toren bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts besaß das „Alte Rheingassentor“ eine Kapelle im Obergeschoss, bei der Würfelpforte sind dort zumindest Biforien überliefert (Abb. 143). Diese frühen Torbauten Kölns besaßen mehrfach Doppeldurchfahrten, was auf Ableitung von den römischen Toren der Stadt verweist. Eine Widerspiegelung der kubischen, manchmal dreiräumigen Form dieser älteren Tore stellt im äußeren Mauerring der Stadt offenbar noch der Sockel des „Severinstores“ dar (1180er Jahre [Abb. 99]), auf den erst gegen Mitte des 13. Jahrhunderts der ungewöhnliche Torturm gesetzt wurde. Von gleicher Art waren wohl die Tore des inneren Ringes (ab 1171) im nahen Aachen und am dortigen Außenring stellt das blockartige „Ponttor“ (um 1300 [Abb. 422]) einen erhaltenen Spätling dieser Entwicklung dar. Ebenfalls von Kölner Formen abhängig war zweifellos Soest, das seinen weiten Mauerring in der Mitte / zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts unter erzbischöflich kölnischer Herrschaft erhielt; das „Jacobitor“ enthielt im Obergeschoss sogar eine dreischiffige Kapelle, die an das ältere Tor in Heiligkreuz in Hildesheim erinnert (Abb. 427). Auch in Fulda, dem wohl wichtigsten Benediktinerkloster Deutschlands, entstanden im
mittleren 12. Jahrhundert hausförmige Torbauten, von denen ein geringer Rest des „Heertores“ erhalten ist, wohl mit offenem Torbogen zur Stadt, aber nicht unbedingt mit einer Kapelle darin. Im Zusammenhang bischöflicher Städte sei auch an das skulpierte Tympanon mit Christus und zwei Heiligen erinnert, das vom Trierer „Neutor“ erhalten blieb (Abb. 127), ohne dass wir allerdings die Form dieser Tore und die Lage einer eventuellen Kapelle näher kennen. Unter den Städten nichtkirchlicher Bauherren fällt Goslar, als wichtiger Reichsbesitz nahe dem Silberbergwerk, als ein Ort mit Kapellen in frühen Torbauten auf. Auch von ihnen, wohl um 1100–1130 entstanden, ist nach Erneuerung der Tore im 15. Jahrhundert nichts mehr erhalten; nur die damals nötige bischöfliche Erlaubnis, die Kapellen zu zerstören, hat sie uns überliefert. Interessant ist in Goslar allerdings auch, dass die erhaltenen Kapellen an zwei der frühen Tore nicht in den (zerstörten) Toren selbst lagen, sondern in deren Nähe, als separate Bauten an die Mauer gelehnt. Kann man in den Torbauten mit Kapellen, die in Städten kirchlicher Herren hier und dort noch erkennbar sind, einen freilich raren Bautypus erkennen, so sind weitere romanische Torbauten nur noch selten zu finden. Eine interessante Form des Übergangs stellt das Andernacher „Rheintor“ aus dem frühen 13. Jahrhundert dar, das nur zwei Geschosse besitzt, die sich beide zur Stadt als Tonnengewölbe öffnen – als Vorstufe oder Frühform sowohl eines Torturmes als auch eines Schalenturmes (vgl. 2.2.4.8.) verstehbar (Abb. 397). Dass die Form auch einem Mauertor noch nahesteht, verdeutlicht dabei ein Vergleich mit dem Neusser „Obertor“ in seiner ursprünglichen Form (Abb. 421) – auch dort nämlich gab es stadtseitig offene „Geschosse“, allerdings im Grundriss so flach, dass man eigentlich weder von einem Torturm noch auch nur von einem Torbau sprechen mag. Dass es noch mehr Bauten dieser Art gegeben haben mag, die nur bisher nicht erkannt wurden, mag ein Torbau in Salzkotten (Westfalen) verdeutlichen, der gleichfalls in beiden Geschossen als Rundbogentonne zur Stadt geöffnet ist, dessen Entstehungszeit aber ganz offen ist. Gelegentlich wurden frühe Torbauten nur archäologisch festgestellt – etwa in Marburg 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
195
aus dem späten 12. Jahrhundert oder in Lemgo aus der Zeit um 1265 –, wobei aber in der Regel unklar bleiben muss, ob es sich um Torbauten oder doch schon um Tortürme gehandelt hat. Denn allein aus den Fundamenten ist schwer festzustellen, wie hoch die aufgehenden Mauern einmal waren; gemeinhin sind die Außenmauern schon aus wehrtechnischen Gründen so dick, dass auch mehrere Obergeschosse vorstellbar sind (es sei daran erinnert, dass dafür schon wenig mehr als ein halber Meter ausreicht). Die Archäologie hat deswegen früh den Begriff des „Kammertores“ geprägt; er besagt allerdings nur, dass die Durchfahrt einen Raum bildete, während offenbleibt, ob es Obergeschosse gab. Aus architekturgeschichtlicher Sicht interes siert natürlich die Frage, ob die Torbauten des 12. Jahrhunderts Vorläufer der um 1200 auftretenden echten Tortürme gewesen sein mögen, was von der Sache her naheliegt, denn die Weiterentwicklung eines niedrigen Torbaus zum Turm bot bei begrenztem Aufwand sowohl wehrtechnische als auch repräsentative Vorteile. Für diese Vorstellung spricht in der Tat die Feststellung eines frühen Typs von Torturm, der die Bezeichnung als Turm eher durch monumentale Geschlossenheit als durch besondere Höhe verdiente (vgl. 2.2.5.1.). Diese selten und weiträumig anzutreffenden „blockhaften“ Tortürme der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Abb. 94, 95) stellten wohl wirklich einen Schritt auf dem Weg
vom einfachen Mauertor über Torbauten zu jener deutlich höheren Normalform des Torturmes dar, die heute unsere Vorstellung des mittelalterlichen Stadttores beherrscht. Für die Torbauten aus der Blütezeit der steinernen Stadtbefestigung gilt im Grundsatz dasselbe wie für die Mauertore Torbauten vom späten jener Zeit – sie waren Aus13. bis 18. Jahrhundert nahmen und sind noch seltener erhalten, sie blieben ferner auf sehr kleine Städte oder andere befestigte Siedlungen sowie auf Nebentore größerer Städte beschränkt. Dass auch im nachromanischen 13. Jahrhundert noch gelegentlich Torbauten entstanden, als Nachklang der eben erwähnten Übergangsform, können etwa das (verschwundene) „Mitteltor“ der ersten Mauer von Dreieichenhain oder auch zwei nach 1291 entstandene Torbauten in Mayen (Eifel), die erst ein Jahrhundert später zu hohen Tortürmen mit Erkertürmchen aufgestockt wurden, belegen; im Alpenraum ist das „Friesacher Tor“ in Murau (Steiermark) wohl bald nach 1300 entstanden, zu nennen; das „Pancrazitor“ in Gmünd („1488“) und ein Tor in Rottenmann sind jüngere Beispiele der Region. Für das Spätmittelalter bietet Franken, insbesondere Unterfranken, interessante Beispiele, weil dort zahlreiche kleinere Siedlungen bis ins 16. und frühe 17. Jahrhundert hinein ummauert wurden. Bei den Städten von gewisser Größe
Abb. 144 Ickelheim (Mittelfranken), ein gut erhaltenes Beispiel eines dörflichen Fachwerktorbaues, von 1713, wie er in Franken nur noch selten erhalten ist, aber fraglos weit häufiger war. Solche Tore dienten zwar, zusammen mit dem Etter oder Dorfgraben, der nächtlichen Abschließung des Dorfes, waren aber nicht verteidigungsfähig.
196 I. Systematischer Teil
und mit Mittelpunktfunktionen stehen dabei hohe Tortürme (Haßfurt, Karlstadt, Aub) neben Torbauten, manchmal in derselben Stadt. Vor allem aber findet man hier und in den angrenzenden (Weinbau-)Regionen Frankens und des heutigen Südhessens noch zahlreiche hausförmige Dorftore, deren Entstehungszeit in der Regel im 16. bis 18. Jahrhundert liegt (Abb. 144). Der Großteil dieser Bauten ist zweifellos verschwunden, unter den wenigen erhaltenen sind die Steinbauten überrepräsentiert (Abb. 385); Fachwerk, kombiniert mit Zäunen oder Hecken, war hier früher zweifellos der Normalfall. Üblich war die Querstellung des Hauses zur Straße, so dass neben der Durchfahrt noch ein Raum blieb, der eher zu Lagerzwecken als für eine Wache geeignet war. Bewohnt war sicherlich das Obergeschoss, vermutlich von einem Bediensteten des Dorfherrn, der so nachts auch die Wache versehen konnte. Nichts an diesen nachmittelalterlichen Dorftoren deutet jedoch auf Verteidigungszwecke hin, es gibt keine Zinnen oder Schießscharten; Sicherung meint hier nur noch Verschließbarkeit der Siedlung gegen wenig oder gar nicht bewaffnete Eindringlinge. Auch außerhalb Frankens findet man noch gelegentlich derartige Torbauten, stets in sehr kleinen Städten. Genannt seien in Thüringen Bürgel und Kölleda, in Sachsen Adorf und Belgern; in Aken (Sachsen-Anhalt) ist noch erkennbar, wie neben einen ursprünglichen Torbau – die Stadt war 1335 schon befestigt – erst nachträglich, wohl im 15. Jahrhundert, ein Turm gesetzt wurde. In der Spätzeit entwickelte sich also die von Anfang an schwache Form des Torbaues – so wird man interpretieren müssen – wieder zum unbefestigten Abschluss zurück, der eine Grenze mehr markierte als verteidigte. Diese Entwicklung weg vom Fortifikatorischen fällt bei der Form des Torbaues eher noch stärker als bei dem ähnlichen schwachen Mauertor auf, denn im Gegensatz zu diesem konnte der Torbau noch andere Funktionen aufnehmen als jene des Durchlasses, und eben das mag ihm ein längeres und häufigeres Überleben ermöglicht haben. Deutlich wird eben diese Besonderheit auch bei den Torbauten an einer Hafenfront, die bei den Mauertoren schon als Alternative zu diesen angesprochen wurden (vgl. 2.2.6.1.) – Durchlässe an einer verkehrsreichen, aber nicht besonders
Abb. 145 Glurns (Südtirol), das gegen 1510 erbaute „Brückentor“, hier die Flussseite von der modernen Brücke, war allseitig von einem Graben umgeben und besaß eine Zugbrücke auch zur Stadt, war also eine Art kleine Stadtburg.
gefährdeten Stelle. Solche Tore sind gleichfalls selten erhalten, aber im Ordensland Preußen gibt es noch Beispiele, in Thorn („Paulinertor“) wohl noch aus dem 13. Jahrhundert, in Danzig und Schwetz aus dem späten 14. Jahrhundert. Vor allem in Danzig werden die Nebenfunktionen als Lagerhäuser und für andere hafenbezogene Zwecke anschaulich, besonders auch in dem berühmten „Krantor“, das seinen Zweck im Namen trägt und äußerlich ein Doppelturmtor zitiert, aber innenräumlich ein einfaches mehrgeschossiges Haus ist (Abb. 527). Eine letzte Art von Torbauten – die nicht als Gruppe anzusprechen ist, weil sie zu weit verstreut ist – verdankt ihre Form wohl dem Vordringen der Feuerwaffen. Dabei handelt es sich um Torbauten des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts, die keineswegs Nebentore sind und auch nicht zu unbedeutenden Städten gehören. Als Haupttore durchaus wichtiger Städte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
197
kann man sie nicht als Fortsetzung einer Tradition erklären, sondern sie sind neuartig und bedürfen daher einer gesonderten Erklärung. Dass diese Erklärung eben die aufkommende Artillerie ist, für die hohe Türme ein allzu gutes Ziel boten, liegt bei manchen dieser Tore auf der Hand, dort nämlich, wo sie selbst mit Geschützscharten versehen sind; als Beispiele seien das (burgartig von einem Graben umgebene) „Brückentor“ in Glurns (1499–1510; Abb. 145) genannt oder das wenig ältere „Mühlentor“ in Feldkirch (Vorarlberg). Im weit entfernten Pommern findet man Vergleichbares in Stargard („Pyritzer Tor“, wohl 1439 [Abb. 520]; „Walltor“), Stralsund („Kütertor“, 1446; „Kniepertor“), auch in Stolp, Usedom und Belgard („Hohes Tor“, das trotz des Namens wohl nur ein Obergeschoss hatte). Spät erbaut ist das „Zschopauer Tor“ der Gründungsstadt Marienberg im Erzgebirge (1541–56, mit Rundscharten [Abb. 469]), das trotz seiner beiden Obergeschosse würfelförmig wirkt. Von einem solchen Bau ist es nicht mehr weit zu den gleichzeitig in Deutschland auftretenden Toren italienisch geprägter Bastionärfestungen, die durch ihre Renaissanceformen und die Einbindung in Erdwälle anders wirken, aber aus denselben Gründen stets niedrig sind. Als Ausnahme von der Regel kann man hier das „Kapftor“ und das „Specktor“ in Breisach (Baden) erwähnen, Torbauten des mittleren 15. Jahrhunderts mit aufwendigen Wurferkern und beim Letzteren mit gewölbter Durchfahrt; über dem Steilhang zum Rhein und hinter einer Vorstadt waren beide gut gesichert und setzten als seltene Ausnahme offenbar die niedrige Bauform einmal repräsentativ ein. Neben all diesen Torbauten der Spätzeit entstanden aber immer noch Tortürme als die weit üblichere Bauform, nur eben in dieser Epoche ähnlich vereinzelt wie die Torbauten. 2.2.6.3. Der Turm neben dem Tor Ist der Torturm die formal eindrucksvollste Möglichkeit, dem Stadttor den Schutz eines Turmes zukommen zu lassen, so besteht eine naheliegende Alternative darin, das Tor nicht im Erdgeschoss des Turmes selbst anzuordnen, sondern direkt daneben in der Mauer oder in einem Torbau; der Turm bleibt dabei auch im Erdgeschoss geschlossen, entspricht also einem normalen Mauerturm. 198 I. Systematischer Teil
Was die wesentlichen Vorteile der Turmstellung neben dem Tor waren, ist schwer auszumachen. Auf einer theoretischen Ebene könnte man annehmen, dass es sich lediglich um die Weiterentwicklung einer Befestigung mit einfachen Mauertoren und Türmen handelt; man hätte lediglich das Tor an einen normalen Mauerturm herangerückt, um es besser zu schützen. Diese Überlegung ist aber praxisfern, denn in der Realität kommen derartige Mauern nicht vor, vor allem nicht als frühe Entwicklungsstufe – Tortürme treten generell früher als Mauertürme auf oder spätestens zusammen mit ihnen, turmreiche Mauern mit Mauertoren gibt es nicht. Auch die Idee, ein Turm neben dem Tor könne dieses besser flankieren, überzeugt nicht, da derartige Türme genauso selten über flankierende Scharten verfügen wie die Mauertürme in Deutschland allgemein. Die Gründe für die Form des Turmes neben dem Tor liegen wohl eher darin, dass der Turm im Erdgeschoss geschlossen bleiben kann. Er war so einerseits besser zu verteidigen, in der Art eines Bergfriedes (Abb. 146) – bei einem Torturm befand sich der Angreifer nach Zerstörung der Torflügel bereits im Erdgeschoss und konnte von dort aus den Turm ausbrennen. Weiterhin erfordert bei einem Torturm die Breite der Durchfahrt gewisse Minimalmaße des Grundrisses (kaum unter 8 m Seitenlänge, meist darüber), während ein Turm ohne Durchfahrt wesentlich schlanker sein konnte. Da diese Torform erst im 14. / 15. Jahrhundert ihre Hauptverbreitung fand, und zwar eher bei Kleinstädten, dürfte Sparsamkeit bzw. der Bau eines besonders schlanken Turmes durchaus ein Grund für ihre Wahl gewesen sein. Eine weitere Überlegung – auch sie ist aus Mangel an erhaltenen Beispielen in ihrer realen Bedeutung nicht mehr einzuschätzen – kann man an den Fall von Aken (Sachsen-Anhalt) anknüpfen. Dort wurde der Turm nachträglich an den Torbau angebaut, was jedenfalls den Vorteil hatte, dass man ein recht schwaches Tor verstärken konnte, ohne das vorhandene Tor zerstören und den Verkehr unterbrechen zu müssen. Ein Hauptproblem bei der Betrachtung dieses Tortypus besteht heute darin, dass fast ausnahmslos nur der Turm erhalten ist, nicht aber das Tor. Denn anders als im Falle des Torturmes musste man hier nicht ein hohes, mauerstarkes
Bauwerk abreißen, sondern nur einen relativ kleinen Torbau oder Durchgang, und das erleichterte die Entfernung der Tore, als sie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert als „Verkehrshindernisse“ betrachtet wurden (vgl. 2.3.2.). Bei der Form des Turmes neben dem Tor stand der Turm dagegen von vornherein neben der Straße, störte daher weniger und hatte eine weit bessere Überlebenschance. Die Frage, ob die Tore bei dieser Form einfache Mauertore oder aber kleine Torbauten waren, kann wegen des Fehlens der eigentlichen Tore grundsätzlich nicht beantwortet werden. Immerhin ist es bemerkenswert, dass in den wenigen besser erhaltenen oder näher untersuchten Fällen stets kein reines Mauertor vorliegt, sondern durchaus ein bescheidener Torbau mit zumindest einem Obergeschoss; so ist es etwa heute noch in Naumburg („Marientor“, um 1340–80, mit später umgebautem Torbau; Abb. 147) oder in Monheim am Niederrhein (um 1420, der Turm ist hier bewohnbar). In Schlesien, einem der wichtigen Verbreitungsgebiete dieser Torform, findet man manchmal wenigstens noch die Spuren der verschwundenen Torbauten an der Seite des erhaltenen Turmes (Liegnitz, Lüben, Habelschwerdt); sie besaßen hier zwei oder gar drei Obergeschosse. Über die Gestalt und Ausstattung der Türme neben den Toren kann generell nur gesagt werden, dass sie sich nicht wesentlich von den weitaus häufigeren Tortürmen unterschieden. Sie wurden in ähnlichem, meist bescheidenem Maße ornamental betont bzw. baukörperlich wie die Tortürme der jeweiligen Region durchgestaltet. Lediglich die erwähnte Tendenz zur Schlankheit begrenzte diese Tendenz noch stärker als bei den Tortürmen, ebenso wie die Möglichkeit, etwa Wappen nicht am Turm, sondern am Torbau anzubringen, also direkt über der Durchfahrt. Das Tor mit dem danebenstehenden Turm war zwar einerseits eine eher seltene Form, trat aber andererseits im gesamten deutschen Sprachgebiet auf. Dabei handelt es sich in Süd- und Westdeutschland – also den deutschen Altsiedelgebieten mit Mauern schon des 11.–13. Jahrhunderts – Verbreitungsgebiete eher um Einzelfälle, während das Hauptverbreitungsgebiet der Form in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schlesien sowie in
Abb. 146 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), der „Markusturm“ stand neben dem inneren „Rödertor“ – das später durch den breiteren Bogen ersetzt wurde – hinter der älteren Stadtmauer aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts; die Datierung passt auch zu den Formen des Turmes. Abb. 147 Naumburg (Sachsen-Anhalt), das „Marientor“ (um 1340-80) ist das gut erhaltene Beispiel eines Torbaues neben dem Turm. Das Obergeschoss des Torbaues und der Giebel rechts gehören zu den Modernisierungen des 15. Jahrhunderts. Die Turmfenster entstanden erst bei der Umnutzung zum Gefängnis (vgl. Abb. 57).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
199
den Backsteingebieten des Nordostens lag, also in den Regionen, in denen die Mauern im Wesentlichen ab dem 13., vor allem aber im 14. / 15. Jahrhundert entstanden. Die auffälligste und beachtlich frühe Gruppe von Vertretern dieses Tortypus im Süden des deutschen Raumes findet man in (Nieder-)Österreich, mit Ausläufern in die Steiermark. Noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, aus spätromanischer Zeit, stamm(t)en derartige Tore mit quadratischen Türmen in Wien, Bruck / Leitha, Hainburg („Ungartor“; Abb. 282) und Enns; die mit gotischen Maßwerkfenstern versehenen Rundtürme neben den Toren von Marchegg (nach 1268; Abb. 285) waren Nachkömmlinge und Ausnahmen, was auch für die Beispiele in der Steiermark gilt (Graz, 1265 / 67; Murau, „Gießübeltor“, um 1311–33). Von dieser recht klaren und frühen Gruppe sticht die Seltenheit solcher Tore im gesamten bayerischen und auch Abb. 148 Goldberg (Schlesien), der „Schmiedeturm“ (wohl aus dem 15. Jahrhundert) stand neben dem ehemaligen Obertor direkt hinter der Mauer (Chr. Herrmann).
200 I. Systematischer Teil
alemannischen Raum deutlich ab; bescheidene Beispiele findet man etwa in Neuweiler (Elsass, vor 1260?), Tengen / Hegau (Schalenturm, nach 1291) und Wemding (Regierungsbezirk Schwaben, wohl nach 1343). Etwas häufiger waren sie in Franken, wo allerdings auch der erhaltene Bestand an Stadtmauern besonders umfangreich ist. Dort ist der Rothenburger „Markusturm“ (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts; Abb. 146) neben den österreichischen Beispielen wohl das älteste Beispiel dieser Art von Torschutz, und kaum jünger ist der bergfriedartige „Lachnersturm“ in Waldenburg (Hohenlohe; Abb. 389). Im 14. und 15. Jahrhundert sind weitere Einzelfälle zu nennen, meist aber in eher bescheidener Form: Quadratische Türme neben dem Tor findet man etwa in Weismain, Lichtenfels, Herzogenaurach, Eppingen („Pfeifferturm“, frühes 14. Jahrhundert) und Lohr („Niedertor“, vollendet 1385), Rundtürme in Gunzenhausen, Leutershausen und Langenburg in Hohenlohe. Mit Franken vergleichbar ist die Häufigkeit der Form in Westdeutschland, vor allem im Rheinland. Zwar findet man in Hessen mit seiner Fülle später Mauern keine solchen Tore – Ausnahme ist Grebenstein mit sekundär hinter die Tore gesetzten Rundtürmen –, aber im rheinischen Schiefergebirge gibt es etliche Beispiele aus dem 14. Jahrhundert, die durch die regionaltypische Variabilität der Turmgrundrisse auffallen. Am Niederrhein sind späte Beispiele in Xanten (Rundturm am „Scharntor“, 1389–93) und Monheim (um 1420) erhalten, weiter östlich, im Westfälischen, wenige bescheidene des 14. / 15. Jahrhunderts (Warburg, „Sacktor“(Abb. 429); Bodenwerder, „Mühlentor; Stadtoldendorf, „Hagentor“). In Mittel- und Ostdeutschland war das Hauptverbreitungsgebiet der Torform mit danebenstehendem Turm insbesondere in Sachsen-Anhalt, Schlesien und Brandenburg – was ein geschlossenes Gebiet ergäbe, wenn man auch Sachsen dazu rechnen könnte; in der Tat spricht einiges dafür, dass dies wirklich so war, aber der reduzierte Bestand in Sachsen lässt keine endgültige Sicherheit mehr zu. In Sachsen-Anhalt herrschte der Tortypus eindeutig vor, auch wenn es daneben Tortürme gab – die Umkehrung der sonst in Deutschland herrschenden
Verhältnisse. Soweit erkennbar, gehören die Tore hier in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und ins 15. Jahrhundert; als besser datierte bzw. untersuchte Beispiele seien hier nochmals das Naumburger „Marientor“ genannt, das um 1340–80 entstand (Abb. 147), und der 1385 erwähnte Turm neben dem „Eckstädter Tor“ in Freyburg / Unstrut (Abb. 461). Eine besondere Gruppe bilden die Mauern etlicher Kleinstädte in der Magdeburger Börde, wo die schlanken, quadratischen Türme neben den Toren, mit bergfriedartigen Hocheinstiegen, in der Regel die einzigen Türme der Befestigungen gewesen sein dürften; sie stammen meist erst aus dem 15. Jahrhundert. Dass die Form zur selben Zeit auch in Sachsen üblich war, belegen erhaltene Türme in Delitzsch (querrechteckige Backsteintürme am „Halleschen“ und „Eilenburger Tor“, Letzterer 1397; Abb. 467), in Bischofswerda und Pulsnitz; weitere sind zerstört, aber noch belegbar (Borna, Großenhain, Leisnig, Stolpen, Torgau). Auch in Schlesien war das Tor mit danebenstehendem Turm von den Anfängen des Stadtmauerbaues an die häufigste Form. Als frühes Beispiel, mit der Mauer ab den 1260er Jahren entstanden, ist das „Breslauer Tor“ in Löwenberg zu nennen, aber die meisten erhaltenen Beispiele gehören auch hier, wie in Sachsen-Anhalt, erst ins spätere 14. oder ins frühe 15. Jahrhundert. Von den oft eindrucksvollen Beispielen mit zumeist quadratischen Türmen seien genannt: Namslau („Krakauer Tor“, vor 1371), Neiße („Breslauer“ und „Münsterberger Tor“, spätes 14. Jahrhundert), Guhrau („Dohlenturm“, nach 1375), Liegnitz („Glogauer“ und „Haynauer Tor“, um 1400; Abb. 476), Lüben („Glogauer Tor“) und Goldberg („Obertor“; Abb. 148). Der mächtige „Lauenturm“ in Bautzen war 1400–03 im Bau, die anderen Türme neben den Bautzener Toren erhielten ihre heutige Form erst um 1480–1520, dürften aber auf älteren Sockeln stehen. In Görlitz entstanden die massiven Rundtürme am „Nicolai-“ und „Frauentor“ wohl 1421–28 und ähnlich alt wird das „Glatzer Tor“ in Habelschwerdt sein. Auch in Brandenburg waren die Türme neben den Toren häufiger als die echten Tortürme, wobei jedoch die Anfänge vor dem 14. Jahrhundert gänzlich unklar bleiben, weil viele der Türme nicht näher datierbar sind; die zeitlich exakter fassbaren Beispiele stammen hier erst aus
dem 15. Jahrhundert. Neben Toren in Jüterbog, Burg, Salzwedel und Beeskow sind einige der schönsten Tore des Backsteingebietes zu nennen, etwa der „Mühltorturm“ in Brandenburg / Neustadt („1411“; Abb. 268) oder der eng verwandte Turm am „Hühnerdorfer Tor“ in Tangermünde (Abb. 500), wo auch das „Neustädter Tor“ im 15. Jahrhundert mit einem besonders schmuckreichen Turm versehen wurde. Die Form lief hier bruchlos bis in die beginnende Feuerwaffenzeit weiter, wie etwa das noch immer sehr schmuckreiche, aber schon rondellartige „Elbtor“ in Werben (um 1460 / 70; Abb. 101) belegt, oder auch der etwa gleichaltrige, schartenreiche „Steintorturm“ wieder in Brandenburg / Neustadt. Die scharfe Abgrenzung des Hauptverbreitungsgebietes des Turmes neben dem Tor wird am deutlichsten, wenn man bei einem kurzen Blick auf unmittelbare Nachbargebiete feststellt, dass dieselbe Form dort nur ganz selten auftritt. Das gilt etwa für Thüringen (Beispiele in Langensalza, „Jahrmarkter Tor“, und Römhild, „Untertor“), aber auch für die Backsteinregion außerhalb Brandenburgs. So findet man in Mecklenburg heute nur noch einen Turm neben einem Tor (Lenzen, „Bergtor“) und in Pommern entsprechend das „Bautor“ in Cammin, jeweils neben Tortürmen als Normalfall. Fasst man zusammen, so fällt auf, dass die Hauptverbreitungsgebiete der Torform mit danebenstehendem Turm alle im Osten des deutschen Sprachraumes liegen. Will man es wagen, trotz der durchaus lückenhaften Befunde und Datierungen eine Entwicklungshypothese vorzuschlagen, so könnte man den Ursprung der Form im Österreich des frühen 13. Jahrhunderts suchen. Von dort wäre sie dann nach Norden gewandert, um wesentlich später in Sachsen, Schlesien und Brandenburg eine große Verbreitung zu finden, während westlich davon nur ganz vereinzelte Tore dieser anderen Art im Torturmgebiet festzustellen sind, am ehesten in Franken. Die Idee dieser Verbreitung könnte allerdings nur dann überzeugen, wenn die Form auch in Böhmen weitverbreitet gewesen wäre, denn es liegt zentral zwischen den genannten Hauptverbreitungsgebieten. Leider gibt es noch keine zusammenfassende Literatur zu den böhmischen Stadtmauern; vereinzelte Darstellungen einzelner Mauern ergeben kein hinreichendes Gesamt2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
201
bild. Auch wenn die These von Österreich als Ursprung der Form besser belegbar wäre, bliebe noch immer ganz offen, warum man gerade hier diese Torform bevorzugte, nicht den sonst schon so früh dominierenden Torturm. 2.2.6.4. Das Doppelturmtor Das Doppelturmtor mit zumindest feldseitig runden Türmen ist wohl, auch im gesamteuropäischen Rahmen, die eindrucksvollste Form des mittelalterlichen Tores, die, ungeachtet der klaren Dominanz des Torturmes im deutschsprachigen Raum, von weniger informierten Betrachtern oft als „das“ Stadttor schlechthin angesehen wird (nicht zu verwechseln ist es mit dem gelegentlich zu findenden Begriff „Doppeltor“, der zwei Tore hintereinander meint). Grund für diese hohe symbolische Bedeutung des Doppelturmtores ist, neben der Prominenz des Lübecker „Holstentores“, fraglos eine große Anzahl städtischer Wappen, die stilisierte Tore zwischen zwei Türmen in mannigfacher Variation zeigen, unabhängig davon, ob die Stadt wirklich Tore dieser Form besaß. Der tiefere Grund für die besondere Wirkung dieser Torform liegt aber fraglos in ihAbb. 149 Köln, das „Hahnentor“ 1883, vor seiner Restaurierung, Außenansicht und Grundriss des Erdgeschosses. Die originalen Öffnungen sind unbekannt, da die Kanonenscharten erst in der Neuzeit entstanden (vgl. Abb. 107; Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884).
202 I. Systematischer Teil
rer bis in die Antike zurückreichenden Tradition, die auch für die Verbreitung im Wappenbild von Bedeutung war. Es ist hier nicht der Ort, die Anfänge dieser Torform aufzusuchen, die weit vor der griechischrömischen Antike lagen; nur als Schlaglicht sei erwähnt, dass bereits das berühmte „Ischtartor“ von Babylon (Nebukadnezar II., 6. Jahrhundert v. Chr.) ein Doppelturmtor war. An den Kastellen und Stadtmauern der spätrömischen Zeit waren vorspringende Türme mit gerundeten Fronten und in diesem Zusammenhang auch Doppelturmtore weitverbreitet. Von ihnen aus sind prinzipiell zwei Verbindungslinien zu den mittelalterlichen Vertretern des Typus vorstellbar. Einerseits könnten erhaltene Bauten im ehemals römischen Teil Deutschlands direkt als Vorbilder gewirkt haben (Abb. 364); andererseits könnten andere Regionen der im weiteren Sinne europäischen Welt des Mittelalters die antiken Vorbilder aufgegriffen und adaptiert haben, um dann selbst zur Anregung für das deutsche Baugeschehen zu werden. Neben Frankreich und England kommt für diese zweite, indirekte Anregung auch der Vordere Orient infrage, mit dem Europa über die Kreuzzüge in intensive Berührung kam, und wo es, im christlichen Armenien wie in den muslimischen Staaten, wahrscheinlich eine Weiterentwicklung spätantiker Befestigungsformen bis ins Hochmittelalter gegeben hat. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung – die Fragestellung wurde bisher keineswegs besonders intensiv und schon gar nicht überregional und systematisch behandelt – wird man davon ausgehen dürfen, dass das Königreich Frankreich unter König Philippe II. Auguste (1180–1224) eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der hochmittelalterlichen Mauern mit gerundeten Flankierungstürmen (vgl. 2.2.4.6.) und damit auch der Doppelturmtore gespielt hat. Frankreich konnte – in einer Phase, in der das Land sich konsolidierte und auch militärisch erstarkte – sowohl an römische Stadtmauern und Kastelle auf eigenem Boden als auch an Erfahrungen in den Kreuzfahrerstaaten anknüpfen. Mit der Vorreiterrolle von Frankreich scheint es auf den ersten Blick gut vereinbar, dass die erste regionale Blüte des Doppelturmtores in dem dem französischen Raum benachbarten Rheinland festzustellen ist. Ausgangspunkt der
Entwicklung waren dort fraglos die Tore von Köln, die ab dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstanden und Anregung für zahlreiche rheinische Tore des 13. und 14. Jahrhunderts lieferten. Die Kölner Tore einfach als Ausläufer der Entwicklung im „philippinischen“ Frankreich zu verstehen, stößt jedoch auf gewisse Probleme. Zunächst einmal ist in Frankreich im Grunde nur die Mauer von Paris ein wenig älter als die Kölner Tore, und ihre Tore sahen durchaus anders aus. In Frankreich kennt man nicht jene Kombination Köln und das Rheinland zweier überwölbter Halbrundschalen mit einem gleich hohen oder gar höheren Torbau, die für Köln typisch war; dort handelte es sich vielmehr um echte, relativ schlanke Türme. In Köln hat man es daher eher mit einer lokalen Neuschöpfung zu tun, bei der ein schlichter Torbau mit dem neuen Turmtypus der Mauer kombiniert wurde, wobei eine Vorstufe oder zumindest Sonderform des Doppelturmtores entstand. Das „Hahnentor“ als Ziel des Krönungsweges von Aachen erinnert dabei mit seinen feldseitigen Rundbogenfenstern in zwei Geschossen so frappant an die spätantiken Tore von Rom, dass man ein bewusstes Zitat für möglich halten darf (Abb. 149). Die Bischofsstadt wollte hier vielleicht jene Stadt spiegeln, der das „Heilige Römische Reich“ seinen Ursprung und Namen verdankte – falls die Fenster nicht in ihrer Gänze erst der Restaurierung des späten 19. Jahrhunderts zuzuordnen sind. Die römischen Tore von Köln selbst oder anderer rheinischer Städte lassen sich dagegen als Vorbilder kaum dingfest machen, denn sie sahen mit ihren säulengezierten und meist rechteckigen Türmen entscheidend anders aus. Allenfalls ein in Neuss ergrabenes Tor des 12. Jahrhunderts mag sich im Grundriss daran orientiert haben. Als besonders frühes Beispiel eines Doppelturmtores kann man ferner ein Tor der 1171 in Aachen begonnenen Mauer diskutieren, das nach alten Darstellungen zwei Tourellen besaß – aber besaß es sie von Anfang an? Die Kölner Mauer des 13. Jahrhunderts stellte also offensichtlich eine Initialzündung dar, die den Typus des Doppelturmtores im Rheinland mit einem Schlag und ohne allzu direkte Vorbilder etablierte. Das heißt aber sicherlich nicht, dass die jüngeren Doppelturmtore im Westen
Abb. 150 Aachen, das „Marschiertor“, hier die Feldseite, ist eines der schönsten französisch geprägten Doppelturmtore in Deutschland (nach 1257 bis um 1300).
Deutschlands alle direkte Ableitungen des Kölner Modells gewesen seien; vielmehr zeigt sich weiterhin eine gewisse Variationsbreite in der Einzeldurchbildung, die Udo Mainzer in seiner Dissertation von 1973 als formale Modelle in Begriffe zu fassen suchte („Schalen“, „Flankenhäuser“, „Röhren“ usw.). In dieser Verschiedenartigkeit zeigen sich offenbar mehrere Faktoren, unter denen der etwas verspätet wirkende Einfluss der französischen Entwicklung – etwa in Metz („Deutsches Tor“, um 1225; Abb. 414), Trier („Kastilport“, Abb. 396) oder Luxemburg („Altpforte“, Ausbau um 1224 / 44?) – ebenso wie der Einfluss der Gotik zu nennen ist, der die Türme verschlankte, aber eben auch ein weiterwirkender Wille zur individuellen Gestaltung. Ein direkter Nachfolger Kölns war zweifellos die Bonner Mauer (ab 1244), weitere Fälle recht direkter Abhängigkeit sind Ahrweiler (1259 im Bau) und Münstereifel. In Neuss („Obertor“, Abb. 421) und Siegburg („Holztor“) wirkte das Vorbild der echten Doppelturmtore noch im 13. Jahrhundert in der Weise, dass vorhandene Tore um Rundtürme bzw. Tourellen ergänzt 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
203
wurden. Ende des 13. und im beginnenden 14. Jahrhundert werden Doppelturmtore dann am Niederrhein so häufig, dass auf Namenslisten verzichtet werden darf. Bemerkenswert ist dabei, dass oft nur ein Stadteingang diese Form erhielt, während andere Tore als Tortürme gestaltet wurden, so schon früh in Münstereifel, Ahrweiler, Mayen, Koblenz und später mit abnehmender Häufigkeit der Doppelturmtore. Offensichtlich also versuchte man, zu sparen, und beschränkte die aufwendigere, aber repräsentative Form auf den jeweils wichtigsten Zugang zur Stadt. Zu dieser Einschätzung passt auch die Tatsache, dass das Doppelturmtor weiter südlich, im armen Schiefergebirge, so gut wie völlig fehlte (Gerolstein, nach 1336?). Höhepunkte des Typus waren um 1300 die Tore in Jülich („Rurtor“) und Nideggen („Dürener Tor“) – bei gleichem Bauherrn engstens verwandt –, vor allem aber die Aachener Tore: das Abb. 151 Hainburg (Niederösterreich), das „Wienertor“ ist das einzige Doppelturmtor mit Rundtürmen in Niederösterreich (um 1225–65, später aufgestockt); als nächste Verwandte sind die Türme in Aigues Mortes (Languedoc-Roussillon, nach 1248) anzusprechen (R. Woldron).
204 I. Systematischer Teil
verschwundene „Kölntor“ und das wohlerhaltene, eindrucksvolle „Marschiertor“ (Abb. 150). In der baukörperlichen Vereinheitlichung des aufragenden Baues, in seinen perfektionierten Wurfeinrichtungen, die man vor allem bei deutschen Tortürmen weitgehend vermisst, und vielen Schlitzscharten sowie in den mehrfachen Wendeltreppen muss man wohl am Rande des französischen Sprachraumes einen erneuerten westeuropäischen Einfluss sehen, denn gerade im späten 13. Jahrhundert hatte sich besonders im England Edwards I. – besonders bei seinen walisischen Burgen –, aber auch in Frankreich (etwa Aigues Mortes, Carcassonne) eine entsprechend monumentale, teils sogar Säle enthaltende Variante des Doppelturmtors entwickelt. Außerhalb des Rheinlandes blieb das Doppelturmtor bis ins 15. Jahrhundert hinein ein seltenes Phänomen, das zudem in erstaunlicher Variationsbreite der Formen auftritt. Jenes Tor, dass sich formal an direkten französischen Vorbildern wie vor allem Aigues Mortes orientiert, findet man ausgerechnet am anderen Ende des deutschen Sprachraumes, nahe Ungarn. Die Entstehungszeit des „Wienertores“ in Hainburg ist nicht völlig geklärt, bisher wird der Zeitraum 1225–65 erwogen (Abb. 151). Das zweite österreichische Doppelturmtor, das wohl kaum ältere „Horner Tor“ in Drosendorf am Kamp, sieht mit seinen beiden quadratischen Türmen gänzlich anders aus (Abb. 13). Wieder in einer völlig anderen Ecke des deutschen Raumes, in Brandenburg, finden wir in Fürstenwerder und Reetz je ein Tor, das von zwei Wiekhäusern bzw. Rundschalen flankiert wird, das also die gängige Doppelturmtore des 13. / 14. Jahrhunderts außerTurmform der Region halb des Rheinlandes verwendet, jedoch in ganz außergewöhnlicher Zuordnung zum Tor. Und kehren wir schließlich wieder in einige Nähe zum Rheinland zurück, so gab es an der etwa 1235–50 entstandenen Mauer von Marburg / Lahn zwei Doppelturmtore („Kalbstor“, „Mainzer Pforte“; Abb. 438), die relativ schlanke Tourellen verwenden, entsprechend den gleichzeitigen Mauertürmen der Stadt – also eine Form, die man mit französischen Vorbildern zwar in Verbindung bringen kann, die aber mit ihrem Verzicht auf Innenräume doch einen weiteren Sonderfall darstellt.
Diese wenigen, über den gesamten deutschen Raum verstreuten Beispiele von Doppelturmtoren haben in den Details also nichts gemein, was über die allgemeine Formel „Tor zwischen zwei gleichartigen Türmen“ hinausgegangen wäre. Dieser Variantenreichtum macht deutlich, dass es sich bei diesen Bauten kaum um Ergebnisse eines einheitlichen „Einflusses“ handelte, sondern wirklich nur um eine Grundidee mit Vorteilen vor allem repräsentativer Art, die als solche zwar gelegentlich aufgenommen, dann aber in jeweils ortsüblichen Formen realisiert wurde. Dass dabei den Bauherren und Baumeistern die Form grundsätzlich etwas fremd blieb, zeigt eine Art von Toren, die man als Kompromiss zwischen dem gewohnten Torturm und dem Doppelturmtor verstehen muss. Auch diese Tore liegen räumlich und zeitlich weit auseinander, aber gerade das zeigt, dass der Ausgleich zwischen dem Gewohnten und dem Außergewöhnlichen sich aufdrängte. Das früheste dieser Tore ist das zwischen 1284 und 1320 entstandene Regensburger „Ostentor“, bei dem dem qualitätvoll gestalteten Torturm direkt zwei flankierende Türmchen vorgesetzt sind, die originell vom quadratischen Sockel ins Achteck übergehen (Abb. 152). Dominiert hier eindeutig der Torturm, so verlief die Entwicklung beim „Anklamer Tor“ in Friedland (Mecklenburg) eher umgekehrt: ein Torbau sollte hier anfangs – nach 1304 – von zwei (nicht vorspringenden) überhöhenden Rundtürmen flankiert werden, aber bis Mitte des 14. Jahrhunderts entschloss man sich zu einem feldseitigen Vorbau und starker Überhöhung des Mittelbaues, sodass doch wieder ein Torturm entstand, nur über ungewöhnlich dreiteiligem Grundriss (Abb. 503). Drei weitere Beispiele ähnlicher Torformen gehören bereits in die Zeit um 1400, als im Zeichen der Spätgotik ohnehin reichere Gruppierungen in Mode waren. Das vor 1398 erbaute Baseler „Spalentor“ (Abb. 128) nutzt zur Gestaltung seiner reichen Silhouette in erster Linie zwei runde, oben polygonale Ecktürmchen, die dem Torturm feldseitig vorgesetzt sind. Das „Ziegeltor“ in Amberg (nach 1400) variiert das Thema, indem es zwei normale Mauertürme so eng an den Torturm rückt, dass sie trotz fortbestehender Trennung als Gruppe wirken. Als Höhepunkt der Form ist schließlich der „Eschenheimer Turm“ in Frankfurt am Main (1426–28; Abb. 131) anzufüh-
Abb. 152 Regensburg, das „Ostentor“ (um 1300) entstand als entwurflich wirkungsvolle Kombination eines „typisch deutschen“ Torturmes mit einem Doppelturmtor.
ren, ein Werk von Madern Gerthener, einem der bedeutenden Meister der rheinischen Spätgotik. Auch hier sind verschiedenartigste Mittel angewandt, um zu einer reichen Silhouette zu kommen: ein Wechsel der Grundrissform, vorspringende Zinnenkränze, ein gemauertes Spitzdach usw. Zu ihnen gehören auch zwei polygonale Erkertürmchen, die den (älteren) quadratischen Turmsockel feldseitig bereichern und an einen Torzwinger erinnern, aber eben nicht zu einem solchen gehören. Fand man im 13. / 14. Jahrhundert Doppelturmtore in Deutschland fast nur im nördlichen Rheinland, mit seltenen Ausläufern und Mischformen im übrigen Deutschland, so erlebte diese Torform ab dem mittleren 15. Jahrhundert und bis weit ins 16. Jahrhundert hinein eine zweite Die Doppelturmtore des 15. / 16. Jahrhunderts Blüte, die nun den gesamten deutschen Raum umfasste. Vor allem die bedeutenden Beispiele im Raum von Nord- und Ostsee weisen in dieser 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
205
Entwicklungsphase darauf hin, dass die Niederlande Ausgangspunkt der Entwicklung gewesen sind, sodass man hier wieder die Vorbildhaftigkeit westeuropäischer Formen erkennen kann; in der Tat blieb das Doppelturmtor in Frankreich und England auch im gesamten Spätmittelalter die wichtigste Torform. Aber diese Erklärung reicht allein sicher nicht aus, lässt sie doch offen, warum die ab etwa 1200 in Westeuropa verbreitete Form erst mit zweieinhalb Jahrhunderten Verspätung auf so breiter Ebene übernommen wurde. Wahrscheinlich lag ein weiterer und entscheidender Grund in der Wirkung der Feuerwaffen. Sie erforderten eine bessere Verteidigung des Vorfeldes und diese versuchte man anfangs vor allem durch die Verstärkung der Tore zu ermöglichen. Ein Rondell an der Feldseite des Torzwingers, vor dem Graben, neben dem äußeren Tor, war hier ein naheliegendes Mittel; und von dieser funktionalen Erwägung aus war es nur noch ein Schritt zur symmetrischen Verdoppelung des Rondells, die das Außentor zugleich zu einem repräsentativen Stadteingang machte. Das Lübecker „Holstentor“ (Abb. 153) war für diese Anordnung ein perfektes Beispiel, aber auch viele andere Doppelturmtore des 15. / 16. Jahrhunderts waren in Wahrheit vorgeschobene Zwingertore. Sie hatten Vorläufer auch in jenen Torzwingen und Vortoren gehabt, die ihre feldseitigen Ecken durch Erkertürmchen oder auch kleine Tourellen besetzten und damit zwar noch keineswegs Aufstellungsplätze für Ge-
schütze, wohl aber mit weit bescheideneren Mitteln eine symmetrische Betonung der äußeren Front des Tores geschaffen hatten (vgl. 2.2.7.1.). Eine gesonderte Darstellung der Doppelturmtore im Raum der heutigen Niederlande und Belgiens liegt meines Wissens noch nicht vor; Hermann Janse und Thomas van Straalen zeigen in ihrem Buch „Mittelalterliche Stadtmauern und Stadttore in den Niederlanden“ (Middeleeuwse Stadswallen en Stadspoorten in de lage landen, 1975) Varianten dieser Torform in Amersfoort, Amsterdam, Bergen op Zoom, Brügge, Delft, Haarlem, Harderwijk, Heusden, Hulst, Kampen, Maastricht, Utrecht, Zierikzee und Zwolle; dabei handelt es sich fraglos nur um eine kleine Auswahl, vor allem nach dem Kriterium der guten Erhaltung. Das nördliche Rheinland und Westfalen erscheinen daher als Ostausläufer dieses niederländischen Verbreitungsgebietes, wie man etwa an vorgeschobenen Toren in Aachen („Ponttor“; Abb. 442), Xanten (Abb. 425), Zons oder Zülpich („Weiertor“) verdeutlichen kann. In Westfalen ist das „Lüdinghauser Tor“ in Dülmen zu nennen; von weiteren Vortoren auf Außenwällen, die Doppelturmtore waren, ist leider nichts erhalten geblieben. Im Spätmittelalter waren die Niederlande bereits eine ökonomische Erfolgsregion ersten Ranges, deren Ausstrahlung entlang ihrer Handelswege hoch einzuschätzen ist; diese Wirkung ist bei den Doppelturmtoren vor allem im Ostseeraum zu erkennen. Der berühmteste und auch
Abb. 153 Lübeck, das „Holstentor“ (= Tor gegen Holstein) als wohl bekanntestes deutsches Stadttor ist gleichfalls ein Doppelturmtor, 1478 als vorgeschobenes Zwingertor jenseits der Trave erbaut. Es enthält zahlreiche Scharten für kleinere Geschütze, seine reiche Fassadengliederung diente aber vor allem der städtischen Selbstdarstellung.
formal besonders gelungene Vertreter ist hier das 1464–78 entstandene Lübecker „Holstentor“, das den Zugang zur mächtigen Reichsstadt aus Richtung Holstein bzw. vom Königreich Dänemark her betonte (Abb. 153). Zur mehrgeschossigen Aufstellung von kleineren Geschützen vorgesehen, wirkt es feldseitig insbesondere durch seine guten Proportionen, zeigt aber stadtseitig – als Vortor stand es weit vor dem eigentlichen Tor – eine sogar noch reichere Gestaltung, die die Schaufassade des Rathauses zitiert. Östlich von Lübeck folgen in Pommern einige Beispiele dieser Torform, unter denen das „Mühlentor“ in Stargard, dessen schlanke Achtecktürme einen Flussdurchlass markieren, wohl das älteste ist (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts; Abb. 521). Auch Köslin, Pyritz, Kolberg und Stettin wiesen um und nach 1500 Vortore auf, die Doppelturmtore waren. Größere Doppelturmtore folgen dann wieder im Ordensland Preußen. Das Danziger „Krantor“ (nach 1440), ein wohl von Anfang an als Kran genutztes Hafentor, versteckt Rechteckräume in den Rundtürmen (Abb. 527); ähnlich muss das ehemalige „Heilige-Leichnams-Tor“ (nach 1466) ausgesehen haben, während das „Milchkannentor“ (um 1517?) aus zwei ungleichen Türmen besteht. Das verschwundene Elbinger „Markttor“ (1437) und das „Hohe Tor“ im bischöflich ermländischen Heilsberg (Abb. 528) waren Vorwerke vor dem Graben; außerhalb der Stadtbefestigungen ist das Doppelturmtor der Dombefestigung in Frauenburg zu nennen. Südlich der Ostseeküste, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, bleibt das Phänomen der Doppelturmtore auch im 15. / 16. Jahrhundert ausgesprochen selten. In Schwedt/ Oder gab es ein Tor zwischen polygonalen Türmen mit hohen Maßwerkfenstern, vor dem wohl im 16. Jahrhundert ein Vortor mit zwei Rondellen entstand. Ähnlich wie ein ebenfalls verschwundenes Pendant in Wittstock / Dosse darf man hier wohl Südausläufer der Entwicklung im Ostseeraum vermuten. Sonst nämlich findet man in Brandenburg höchstens bescheidene Erkertürmchen an der Front von Vortoren (Jüterbog, Mittenwald). Das Vortor (1553) des „Salzwedeler Tors“ in Gardelegen, in der Altmark, mit zwei kräftigen Kanonenrondellen, Zierzinnen und Sterngewölben in der Durchfahrt ist ein später Ausnahme-
Abb. 154 Büdingen (Hessen), das „Untertor“ oder „Jerusalemer Tor“ von 1503 von der Feldseite. Die beiden Rondelle dienen der Geschützverteidigung, aber die Schmuckelemente des nachträglich eingebauten, dreieckigen „Pförtnererkers“ und der Brüstung mit Blendmaßwerk bilden ein repräsentatives Gegengewicht.
fall; in ganz Brandenburg mitsamt der Altmark gab es lediglich in Gardelegen drei solcher Tore. Und noch dünner waren sie offenbar in Thüringen gesät, wo ich nur in Nordhausen ein heute verschwundenes Vortor (am „Siechentor“, wohl von 1563) finden konnte; das sonst ganz isolierte (osthessische) Tann in der Rhön von „1557“, in Renaissanceformen, darf hier ergänzt werden (Abb. 448). Begibt man sich jedoch auf die Rheinschiene und dann quer durch Süddeutschland bis hinüber nach Bayern und Österreich, so trifft man wieder mehr Beispiele der Torform. Dass die hier gewählte Bewegungsrichtung zugleich die Richtung der Ausbreitung war, ist dabei nicht zu beweisen, scheint aber nahezuliegen. In Büdingen steht mit dem „Untertor“ (oder „Jerusalemer Tor“, 1503) eines der bekanntesten Beispiele des Typs, mit kanonentauglichen Rondellen, aber auch einem wappengeziertem Erker und durchbrochener dreieckiger „Pförtnerloge“ sowie einer Blendmaßwerkattika und „zuckerhutförmigen“ Steindächern (Abb. 154). Am nördlichen Oberrhein ist das „Eiserne Tor“ in Freinsheim von „1514“ sicher eines der bedeutenden Beispiele (Abb. 413), aber es gibt auch bescheidenere Fälle wie an der Dorfbefestigung von Ober-Ingelheim oder in Jockgrim. Eine Vorstadt von Worms besaß ein Doppelturmtor in Form der „Speyererpforte“ (um 1500), zu umlau2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
207
fenden oder Torzwingern gehörten Doppelturmtore etwa in Steinheim / Main, in Darmstadt und Groß-Umstadt. Etwas weiter südlich dürfte das barockisierte Brückentor in Heidelberg mit seinen hohen Türmen wohl ins (frühere?) 15. Jahrhundert gehören. Weiter im Westen sind in Lothringen zwei eher wieder rondellartige Beispiele erhalten: die „Porte de Sierck“ in Rodemachern (um 1483) und ein Tor in Finstingen. Im eigentlich städtereichen Elsass mit seinen vielen Mauerresten ist dagegen kein einziges Doppelturmtor bekannt. Erst südlich davon fand man in Schaffhausen zwei Vortore dieser Form von 1592 und 1607 / 08 und ein so herausragendes Beispiel wie das Solothurner „Baseltor“ (1502–06; Abb. 314), das einen herkömmlichen Torturm mit zwei vorgesetzten Rondellen kombiniert, und zwar in wuchtiger, durch die gerundeten Brustwehren wirkungsvoll ergänzter Rustika. Weiter östlich, in Schwaben, Franken und der Oberpfalz, gab es eher verstreute Einzelbeispiele später Doppelturmtore. So besaß die Esslinger Vorstadt in Stuttgart zwei derartige Tore aus dem frühen 16. Jahrhundert, in Weißenhorn ist ein Vortor erhalten und in Kempten besaß das „Klostertor“ diese Form; das „Riedertor“ in Donauwörth (1428?) ist in umgebauter Form (1810) erhalten. Im fränkischen Bereich sind das Zwingertor am „Hirschtor“ in Wertheim (um 1500) und als sehr späte Fälle ein Vorstadttor in Prichsenstadt (um 1550–90) sowie schließlich das „Pleinfelder Tor“ in Ellingen (um 1625–63; Abb. 137) zu nennen, das wieder einmal Torturm und Doppelturmtor kombiniert, wie es seit dem Regensburger „Ostentor“ gelegentlich auftrat. In der Oberpfalz findet sich die Form ähnlich sporadisch: Das „Nabburger Tor“ in Amberg (um 1435; Abb. 368) erinnert mit seinen schlanken Türmen entfernt an das Heidelberger „Brückentor“, in Regensburg und Cham („Biertor“) gab es Zwingertore des 15. Jahrhunderts mit doppelten Türmen. Eine letzte, etwas geschlossener wirkende Gruppe später Doppelturmtore findet sich schließlich um Passau. Dort besaß ein Vortor der Innvorstadt diese Form, besser datierbar sind die Tore vor dem „Linzer Tor“ in Schärding (1429– 37) und ein Tor in Waldkirchen (ab 1451); das „Landshuter Tor“ von Neuötting ist leider kriegszerstört und nur noch ein Neubau. Weit östlich davon findet man schließlich in Niederösterreich 208 I. Systematischer Teil
ein Vortor in Krems (1480) und ein Doppelturmtor in Traismauer (Abb. 280), das als Erneuerung eines spätrömischen Tores quasi im großen Bogen zu den antiken Ursprüngen des Typus zurückführt. Zusammenfassend ergibt sich, dass das Doppelturmtor im 15. und 16. Jahrhundert – teils sogar noch im 17. Jahrhundert – in weiten Teilen des deutschen Sprachraumes wieder in Mode kam, wenn auch nicht in jeder Landschaft und auch nicht in allzu großer Dichte, sondern eher in Form kleiner Regionalgruppen. Bedenkt man jedoch, dass die Stadtbefestigungen in dieser Spätzeit ohnehin nur noch ergänzt und modernisiert wurden und dass es sich um eine durch das Aufkommen der Artillerie bedingte Übergangszeit handelte, so ist das Phänomen als solches bemerkenswert genug. 2.2.6.5. Weitere Torformen, Ausfallpforten und Wasserdurchlässe Vor dem Hintergrund der absoluten Dominanz des Torturmes im deutschen Raum ist bereits das Doppelturmtor, trotz seiner anspruchsvollen Form und seiner zeitweise weiten Verbreitung, eine Ausnahme. Es war weiterhin zu zeigen, dass auch das Mauertor und der Torbau nicht nur bescheidene, sondern auch eher seltene Formen waren – ebenso wie schließlich die Variante des Turmes nicht über, sondern neben dem Tor. Immerhin traten all diese Formen ein wenig häufiger auf, auch wenn sie mit der Verbreitung des Torturmes keineswegs mithalten konnten. Neben ihnen gab es schließlich noch weitere Formen, die hier nicht übergangen werden sollen, auch wenn es sich um Einzelfälle handelt. Das „Untertor“ (oder „Nürnberger Tor“; Abb. 155) in Lauf an der Pegnitz ist ein auffällig breiter, aber in der Relation wenig tiefer und zugleich turmartig hoher Torbau, gewissermaßen eine frei stehende Fassade. Ich konnte belegen, dass es sich dabei um einen kleineren Verwandten jener Tore handelt, die Karl IV. ab 1348 in der damals von ihm gegründeten Prager „Neustadt“ errichten ließ und die letztlich wohl auf italienische Vorbilder zurückgingen; auch Lauf wurde 1355 von Karl zur Stadt erhoben und mit einer kaiserlichen Burg ausgestattet. Vergleichbar war wohl auch das „Trierer Tor“ der Luxemburger „Wenzelsmauer“, die dem Sohn
Abb. 155 Lauf an der Pegnitz (Mittelfranken), die ungewöhnliche Form des „Untertores“ oder „Nürnberger Tores“ erinnert an Torbauten Kaiser Karls IV. in Prag; Lauf gehörte zu seinen Territorien. Der mittlere Vorbau mit dem Giebel wurde dem Tor inschriftlich erst „1526“ hinzugefügt.
Abb. 156 Tangermünde (Sachsen-Anhalt), das „Neustädter Tor“ entstand als besonders schmuckreicher Neubau mit langem Torzwinger im mittleren 15. Jahrhundert, bezog dabei aber ein Wiekhaus (rechts) der älteren Mauer mit ein.
Karls IV. zuzuschreiben ist; das ebenfalls ähnliche „Kaisertor“ in Lübeck wird nur legendär mit Karl IV. in Beziehung gesetzt. Weitere, ganz vereinzelte Beispiele ähnlich breiter Torformen, die im 14. Jahrhundert auftreten, sind offenbar nicht mit der luxemburgischen Dynastie in Verbindung zu bringen, etwa das „Spitteltor“ in Glogau (Schlesien, um 1300; Abb. 472) oder Hafentore in Thorn und Danzig. Auch das „Koblenzer Tor“ in Andernach, 1350 als neu erwähnt, war ein isolierter Versuch mit einer betont breiten, nur zwei Geschosse hohen Torform, die aber mit ganz anderen, regionaltypischen Mitteln arbeitete als die Bauten Karls IV. (Abb. 105). Das reich profilierte Spitzbogentor sitzt hier nämlich in einer Front aus Buckelquadern, die von einer Brustwehr über einem Bogenfries bekrönt wird; verwandte Bauten fehlen bisher. Tore, die von zwei ungleichen Türmen flankiert werden, könnte man als nicht ganz geglückte Vorstufen „echter“ Doppelturmtore interpretieren. Die geradezu entgegengesetzte ästhetische Wirkung – nämlich eben die Betonung der Unregelmäßigkeit, nicht der Symmetrie – spricht aber
gegen diese Sehweise und auch die Tatsache, dass solche seltenen Tore woanders als die Doppelturmtore auftreten, bestätigt, dass es sich um ein anderes Prinzip handelt. Das wichtigste Beispiel ist das „Neustädter Tor“ im altmärkischen Tangermünde (Abb. 156), das ursprünglich besonders einfach gestaltet war, nämlich als Durchlass bzw. Mauertor, das von einem blendengeschmückten Wiekhaus flankiert wurde. Eben diese Einfachheit gefiel offenbar im mittleren 15. Jahrhundert nicht mehr, weswegen man einen Torbau errichtete und ihn auf der anderen Seite durch einen reich geschmückten Rundturm mit schmalerem Aufsatz (und ein Vortor) ergänzte. Das Endergebnis beeindruckt durch „malerische“ Vielfalt und reiche Ornamentik, keineswegs durch die Klarheit und Symmetrie eines einheitlich geplanten Doppelturmtores; entfernt vergleichbar war das „Zinnaer Tor“ im nahen Jüterbog. Neben den Haupttoren besaßen Stadtmauern kleine Pforten, die im Sinne der allzu militärischen Denkweise des 19. Jahrhunderts bis heute meist als „Ausfallpforten“ bezeichnet werden: Man interpretierte sie als Versuche, die Möglichkeiten der Belagerten zu Gegenangriffen („Aus2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
209
fällen“) zu verbessern, wobei die Unauffälligkeit solcher Durchlässe als Voraussetzung des Überraschungsmomentes verstanden wurde. Dabei blieb allerdings unreflektiert, dass die Kleinheit der Pforten ja zugleich ein erhebliches Problem für eine größere Anzahl von Verteidigern darstellte. Es sei hier nicht bestritten, dass der unerwartete Ausfall eine der Aufgaben solcher Pforten war und dass es weitere militärische Zwecke gab, wie etwa die Möglichkeit, durch eine wirklich dem Feind verborgen gebliebene „heimliche“ Pforte Boten hinein- oder herauszulassen oder etwa Lebensmittellieferungen zu empfangen. Übersehen wurde bei solchen Interpretationen allerdings ihre zivile Funktion: den Bürgern und anderen Bewohnern einen direkteren und unkontrollierten Weg aus der Stadt und in sie hinein zu eröffnen. Der Weg durch ein Stadttor zu einem Feld oder Garten vor der Mauer oder zu anderen zur Stadt gehörenden Anlagen extra Abb. 157 Kaufbeuren (Bayerisch Schwaben), eine Ausfallpforte wurde im Dreißigjährigen Krieg samt dem Türblatt mit allen Beschlägen und Schlössern vermauert und erst vor einigen Jahrzehnten wieder freigelegt. Dadurch blieb ein Befund erhalten, der überall sonst dem Moder und Rost zum Opfer gefallen ist.
210 I. Systematischer Teil
muros konnte ein erheblicher Umweg sein, ganz abgesehen davon, dass die Tore nachts verschlossen waren. Die Versuchung für die innerhalb der Mauer Wohnenden, von vornherein zusätzliche Durchgänge einzubauen oder sie nachträglich in die bestehende Mauer einzubrechen, war also erheblich. Ein frühes Beispiel ist eine Pforte in der (römischen) Mauer von Köln, durch die 1074 Erzbischof Anno vor aufgebrachten Bürgern floh; sie war kurz zuvor von einem Domherrn eingebrochen worden. Dass Mauergassen unter anderem ein Mittel waren, solche „Privatausgänge“ zu verhindern, war schon angesprochen worden (vgl. 2.2.3.5.). Ein anderes Mittel waren rechtliche Sanktionen: In Meran wurde zum Beispiel im Stadtrecht von 1317 festgehalten, dass derjenige, der „den Rinchmouer […] durchprichet wenig oder vil“, 50 Pfund zu zahlen und den Schaden wieder zu beseitigen habe. Als Gegenbeispiel gleichartiger rechtlicher Bindung sei Leoben (Steiermark) erwähnt, wo den Johannitern 1282 ausdrücklich gestattet wurde, zwei Pforten in die Mauer zu brechen. Als Beispiele weitgehend erhaltener Mauern, bei denen noch mehrere Pforten festzustellen sind, kann man Neuleiningen (Pfalz) und Murten (Schweiz) nennen. Besonders wertvoll ist eine Pforte neben dem „Blasiusturm“ in Kaufbeuren, die im 17. Jahrhundert vermauert wurde; als man sie anlässlich einer Restaurierung wieder aufbrach, fand man – ein wohl einzigartiger Fall – das alte Türblatt mit allen Beschlägen, Riegeln und Schlössern (Abb. 157). Über die bauliche Form – und ebenso über die geographische Verbreitung – von Mauerpforten ist wenig zu sagen; ihre Einfachheit ließ kaum Variationen zu und hat auch spätere Zeiten kaum je motiviert, sie zu erhalten, ganz im Gegensatz zu den repräsentativen Haupttoren. An bestimmten Stellen haben sie sich gehäuft, etwa dort, wo Hafenanlagen vor der Mauer lagen (Abb. 139); dort wird auch der „zivile“ bzw. wirtschaftliche Hintergrund der Durchlässe besonders deutlich. Sonst ist – auch bei den genannten erhaltenen Beispielen – die Lage neben Türmen typisch, die einen Angriff behindern sollte. Eine weitere Sonderform des Durchlasses waren die Anlagen am Ein- und Auslauf von Bächen oder kleineren Flüssen. Die Lage von Siedlungen an Gewässern entsprach grundsätzlich dem Wasserbedarf von Mensch und Tier und war daher
Abb. 158 Münstereifel (Nordrhein-Westfalen), links der Einlauf, rechts der Auslauf der Erft. Beide sind erhalten, sehen aber aufgrund der unterschiedlichen Breite des Flusses unterschiedlich aus (Berichte … der Provinzialkommission für die Denkmalpflege der Rheinprovinz, XV, 1910).
ganz normal, im Falle von Städten kam die Funktion der Flüsse als Handelswege hinzu. Die Wasserwege waren aber zugleich eine Möglichkeit für Angreifer, in Schiffen, Booten oder schwimmend in die Stadt einzudringen. Bei breiten Flüssen und kleineren Städten bestand die einfachste Möglichkeit darin, dass die Stadt nur einseitig am Wasser lag, sodass es zwar eine Wasserfront der Mauer gab – mit der angesprochenen Vielzahl an Durchlässen für den Hafenbetrieb –, aber keine Hindurchführung des Gewässers durch die Stadt selbst. Erstreckte sich die Stadt jedoch beidseitig eines (nicht allzu breiten) Flusses, so blieb nichts anderes übrig als Einlass und Auslass zu sperren, also eine Art Tor anzulegen. In vielen Städten findet man Nachrichten über Ketten, die angeblich bei Bedrohungen über den Fluss gezogen wurden; soweit ich feststellen konnte, ist aber nirgends etwas von einer solchen Kette erhalten oder auch nur eine genauere Beschreibung der Konstruktion überliefert. Man wird davon ausgehen müssen, dass eine solche Sperrkette von zahlreichen Schwimmern getragen wurde, da sie sonst unter die Wasseroberfläche gesunken und nutzlos geworden wäre. Eine andere Konstruktion, die bei breiteren, aber relativ flachen Flüsschen denkbar war, ist in Luzern und an anderen Stellen des Vierwaldstätter Sees und der Urschweiz archäologisch dokumentiert worden. Sogenannte Schwirren, das heißt Pfähle,
sicherten wohl schon ab dem 13. Jahrhundert den breiten Einlauf der Reuss in die Stadt. Der berühmte achteckige Wasserturm von 1339(d) diente zur Verstärkung (Abb. 71) und vor 1367 führte man einen hölzernen Wehrgang, wiederum auf Pfählen, am Turm vorbei – die berühmte „Kapellbrücke“, die die beidseitigen Stadtmauern verband und am Ausfluss durch eine zweite kürzere Brücke ergänzt wurde. Eine erhaltene Holzkonstruktion dieser Art ist begreiflicherweise eine seltene Ausnahme, denn Wasser und Brand gefährdeten etwas Derartiges allzu sehr, auch die „Kapellbrücke“ als älteste Holzbrücke Europas fiel ja 1993 einem Brand zum Opfer. Flüsse von geringerer Breite versuchte man verständlicherweise in dauerhafterer Form zu sperren, das heißt, indem man die Mauer als gewölbte Brücke herüberführte. Auch solche relativ kühnen Konstruktionen waren durch Gründungsprobleme, Feuchtigkeit, Eisgang usw. gefährdet und sind daher nicht allzu oft erhalten geblieben, aber einige durchaus spektakuläre Beispiele sind heute noch zu sehen. Das wohl älteste Beispiel ist in Weißenburg im Elsass erhalten, als Teil der 1260 als neu erwähnten Mauer aus sorgfältigen Quadern. Die Brücke ist dreibogig über den Ausfluss der Lauter geführt, wobei Nuten in den Buckelquaderpfeilern auf Fallgatter hinweisen, die in den Fluss abgesenkt werden konnten. Auch die wenig 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
211
Abb. 159 Beispiele aufwendig befestigter Wasserdurchlässe. Links der Pegnitzauslauf in Nürnberg, mit zwei Bögen und drei Türmen, rechts der massive „Schlayerturm“ über dem Ausfluss der Eger in Nördlingen (Bayerisch Schwaben).
jüngere obere Erftüberführung in Münstereifel (Abb. 158) ist zweibogig und mit Fallgatterschlitz versehen, während die untere ein regelrechter kleiner Torbau über nur einem Bogen ist. Im 14. Jahrhundert findet man dann bei wichtigen Städten oft höheren Aufwand, indem einerseits die Ein- und Ausläufe der Flüsse durch Türme flankiert wurden und andererseits die Wehrgänge durch Wurferker ergänzt wurden. Nürnberg bietet mehrere Beispiele verschiedener Zeitstellung. Die älteste Verbindungsmauer der zwei anfangs selbstständigen Städte überbrückte Abb. 160 Freiburg im Üechtland / Fribourg, der Wassereinlass im Galterntal (um / nach 1400).
212 I. Systematischer Teil
die Pegnitz am Einlauf schon mit Bögen, denen die drei Türme, einer „1323“ datiert, als Widerlager dienten; der Auslauf war wohl nur durch einen hölzernen Wehrgang gesichert, den heutigen „Henkersteg“ beim „Wasserturm“. In der äußeren Mauer ist der eindrucksvoll dimensionierte Auslauf erhalten, dessen zwei weitgespannte Bögen sich auf den 1420–22 auf einer Insel erbauten „Schlayerturm“ stützen (Abb. 159). Über einem Bogen ist der originale Wehrgang erhalten, der andere wurde wohl im frühen 16. Jahrhundert durch eine tiefe Kanonenplattform mit Wurferkern ersetzt; um 1532 wurden auch alle drei Auflager der Überbrückung außen durch gerundete Basteien geschützt. Sehenswert ist die wohl aus dem späten 14. Jahrhundert stammende Sperre des Galterntales, eines Baches zwischen steilen Felswänden, in Freiburg im Üechtland. Türme waren hier unnötig, aber die schartenreichen Wurferker, die auch ein Tor sichern, ergeben ein malerisches Bild (Abb. 160). Als weiteres und besonders eindrückliches Beispiel sei das erst im 15. Jahrhundert entstandene „Mühlentor“ in Stargard in Hinterpommern genannt (Abb. 521). Schon die falsche Bezeichnung deutet hier die besondere Architektur an: Es handelt sich keineswegs um ein Tor, sondern vielmehr um den Auslass des Flüsschens Ihna, aber die Architektur ist die eines Doppelturmtores. Aus einem rechteckigen Unterbau mit dem
Durchlass wachsen nämlich zwei Achtecktürme, deren Zinnen über Stichbögen vorkragen und die in gemauerten Spitzdächern enden: ein hervorragendes Beispiel für die Zierfreude der Backsteinarchitektur. Schon in die Feuerwaffenzeit gehört ein Bau von 1471 in Osnabrück. An einer Ecke der Stadt, beim „Barenturm“, verläuft das Flüsschen Hase als innerer Graben vor der Mauer. Eine Brücke, die den Turm mit einem Rondell des vorgelagerten Walles verband, ist hier gleichzeitig als Streichwehr mit beidseitigen Scharten ausgebildet. Bescheidenere, vor allem turmlose Beispiele von Bach- oder Mühlkanaldurchlässen haben sich auch noch gelegentlich erhalten. Genannt seien Meisenheim (Pfalz) mit dem ehemals erkergesicherten Auslass des Mühlbaches (nach 1315), die ein- bzw. zweibogigen Durchlässe des Mühlkanals in Namslau (Schlesien; 1388), der „Ulmer Vorstadt“ von Memmingen (um 1445– 71) und der äußeren Mauer von Langensalza (Thüringen; 1464). Eine besonders kleine Anlage findet man schließlich in Wimpfen am Berg: Die Abwässer der am Hang liegenden Stadt wurden in einer Rinne gesammelt (um 1300) und durch einen kleinen Bogen in ein zum Neckar hinabführendes Tälchen entlassen.
2.2.7. Torzwinger Dass zwei Tore hintereinander mehr Schutz als eines bieten, liegt dermaßen nahe, dass die Form des Torzwingers im Grunde keiner weiteren Erklärung bedarf – es war selbstverständlich aufwendiger, zwei Tore nacheinander zu zerstören, und es bot damit den Verteidigern deutlich bessere Möglichkeiten der Abwehr. Bei frühmittelalterlichen Befestigungen waren mehrfach hintereinander gestaffelte Wälle und damit oft auch Tore durchaus häufig, bei römischen Mauern, etwa der Aurelianischen Mauer in Rom selbst, gab es schon Torzwinger im eigentlichen Sinne. Im Spätmittelalter waren die Vorteile des Prinzips also längst bekannt, und man muss sich daher fragen, wieso bei frühen Stadttoren, mindestens im gesamten 13. Jahrhundert, grundsätzlich auf Torzwinger verzichtet wurde. Ein Torzwinger verursacht natürlich Zusatzkosten und offensichtlich schätzte man anfangs und für erhebliche Zeit die Gefährdung der Tore
nicht so hoch ein, dass man diese Kosten für unumgänglich hielt. Daraus ergibt sich die Frage, welcher Fortschritt der Angriffstechnik zum Auf-kommen und der beachtlichen Verbreitung von Torzwingern im Spätmittelalter geführt haben mag. Eine naheliegende Antwort ist hier wie so häufig der Verweis auf das Auftreten der Feuerwaffen und, wenn man von deren ersten spektakulären Einsätzen im mittleren 14. Jahrhundert ausgeht, dann passt dies durchaus zu dem etwas späteren Aufkommen der Torzwinger (vgl. 2.2.7.1.); genau kann man den Zeitpunkt dieses Aufkommens nicht fixieren, weil exakt datierte Torzwinger selten sind. Unterstellt man jedoch die Richtigkeit dieses Zusammenhanges, dann käme es hierbei nicht auf das Aufkommen der Pulvergeschütze, sondern – deutlich einfacher – auf die Sprengwirkung von Pulverladungen an. Bedeutete zuvor das Einrammen, Aufbrechen oder Verbrennen der massiven und oft eisenbeschlagenen Torflügel einen hohen Aufwand, was zudem nur unter ständiger Bedrohung durch die Verteidiger möglich war, so konnte nunmehr eine Sprengladung mit etwas Glück und etwa im Schutz der Nacht in einer schnellen Aktion an das Tor gebracht werden und zerstörte dieses im wahrsten Sinne des Wortes auf einen Schlag. Diese Gefahr war von völlig neuer Art und erzwang es geradezu, hinter dem für Zerstörung anfälligen ersten Tor ein zweites anzuordnen, um das Eindringen des Angreifers in die Stadt unmittelbar nach der Sprengung zu verhindern. Diese These zur Entstehung und schnellen Verbreitung von Torzwingern ist nicht quellenmäßig zu belegen; selbst wenn eine historische Untersuchung zum Thema je angestellt worden wäre, müsste doch bezweifelt werden, dass die Quellen hinreichend viele und hinreichend exakte Angaben zu Belagerungen und Eroberungen des 14. Jahrhunderts bereitstellen. Wir kommen daher nicht über eine These hinaus, die sich aus funktionalen Erwägungen und der ungefähren Gleichzeitigkeit zweier Phänomene ableitet. Der Schutz durch ein inneres Tor, im Falle der Zerstörung des äußeren, beschreibt jedenfalls die Funktion von Torzwingern realitätsgerechter als die Vorstellung vom „Fanghof“, die in der älteren Literatur verbreitet war und gelegentlich in der regionalen Literatur überlebt hat. Nach dieser 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
213
Abb. 161 Wolframs-Eschenbach (Mittelfranken), das Vortor des „Oberen Tores“ ist wenig verändert erhalten; nur die Zugbrücke und die Dächer der Wehrgänge fehlen.
Abb. 162 Weißenburg (Mittelfranken), die Zierformen auf dem Vortor (um 1510) des „Ellinger Tores“, in denen sich spätestgotische und Renaissanceformen mischen, gehören zu den reichsten Gestaltungen an derartiger Stelle; die Wappen der Stadt und des Reiches sind weit üblicher (H.-H. Häffner).
Idee hätten sich die Angreifer nach Aufbrechen des äußeren Tores unerwartet im Zwinger gefangen gefunden und wären von den Mauern herab, die sie nun allseitig umgaben, von den Verteidigern beschossen und getötet worden. Das ist jedoch eine in mehreren Punkten widersinnige Vorstellung. Zunächst einmal dürften die Angreifer in der Regel von der Existenz des inneren Tores gewusst haben, denn sein Vorhandensein entsprach allgemeiner Erfahrung; dass ein massenhafter Sturm durch das zerstörte Außentor nur ins Chaos führen konnte, war also vorhersehbar. Hätte man es trotzdem versucht, wäre der Rückzug durch das zerstörte Außentor ja dennoch möglich gewesen, wenn auch unter Verlusten. Noch eindeutiger gegen die „Fanghof“-These spricht jedoch die bauliche Gestaltung der Wehrgänge im Zwinger. Die Brustwehren sind nämlich in so gut wie allen erhaltenen Fällen – und das sind durchaus nicht wenige – ausschließlich zur Feldseite gerichtet, nicht gegen das Innere des Zwingers. Damit ist klar, dass Torzwinger nicht mehr zu verteidigen waren, sobald der Angreifer einmal in sie eingedrungen war; auf Ausnahmen von dieser Regel, die eher als vereinzelte Experimente erscheinen, bleibt zu kommen (vgl. 2.2.7.3.). 2.2.7.1. Das Vortor Als „Vortor“ bezeichne ich die in Deutschland häufigste und kleinste Form des Torzwingers, nämlich einen rechteckigen Hof, der innen kaum breiter als der Torturm war, und auch kaum tiefer, der sich also im Grundriss einem Quadrat näherte (Abb. 161). Sein Tor lag etwa axial vor dem inneren Tor – also nicht seitlich versetzt oder gar im rechten Winkel dazu –, die drei Mauern waren meist niedriger als die Stadtmauer, an die sie beidseitig anschlossen, und trugen Wehrgänge; seitliche Pforten zum anschließenden Zwinger vor der Stadtmauer waren häufig. Typischer Bestandteil des Vortores war auch die Zugbrücke und es ist durchaus zu erwägen, ob die Unterbringung dieser Art von Brücke nicht ein Faktor war, der die Bauform des Vortores überhaupt erst hervorgebracht hat; diese Frage wird noch gesondert behandelt (vgl. 2.2.7.2.). In der ortsbezogenen Literatur wird oft der Begriff „Doppeltor“ verwendet, womit jede Form gemeint ist, bei der zwei verschließbare Tore hintereinanderlagen,
also meist ein Tor mit Vortor, aber auch aufwendigere Torzwinger oder Barbakanen. Vortore waren eher unaufwendige Bauten und es verwundert daher nicht, dass sie relativ häufig waren. Lediglich bei sehr kleinen Städten blieben sie offensichtlich selten, wohl, weil diese im Spätmittelalter ganz allgemein kaum noch die Mittel für Modernisierungen hatten. Bei größeren und mittleren Städten spiegelte sich ein Unterschied in der wirtschaftlichen Potenz nicht so sehr im Vorhandensein oder Fehlen der Vortore selbst, sondern eher darin, ob diese Teile eines umlaufenden, mit Streichwehren versehenen Zwingers waren oder ob sie vor den Toren einer sonst zwingerlosen Mauer standen; ein umlaufender Zwinger erforderte nun einmal den vielfachen Bauaufwand von zwei oder drei Vortoren. In Bayern beispielsweise finden wir Vortore als Bestandteile umlaufender Zwinger in den wichtigeren, meist landesherrlichen Städten München, Landsberg am Lech, Landshut, Straubing, Passau und Eichstätt; isolierte Vortore findet man dagegen in zweitrangigen Städten wie Mühldorf, Schrobenhausen, Traunstein und Vohburg. Allein das bedeutende landesherrliche Ingolstadt besaß keinen umlaufenden Zwinger und fiel damit aus der Reihe. Obwohl die Anlage von Vortoren natürlich in erster Linie defensiv begründet war, kam ihnen unvermeidlich auch eine repräsentative Funktion zu, weil sie nun einmal der erste Bauteil waren, den jeder Ankömmling sah. Es drängte sich folglich auf, sie mit einer Art Fassade zu versehen, und dies ist tatsächlich recht häufig geschehen, wenn auch mit bescheidenen Mitteln. Vortore besaßen durch die mittige Anordnung des Tores – oder von Tor und Fußgängerpforte – von vornherein eine Tendenz zur Symmetrie, die durch den dahinterstehenden, alles überragenden Torturm noch verstärkt wurde. Es lag nahe, diese Symmetrie fortzuentwickeln, und dafür bot sich, neben der Anordnung von Schießscharten und reiner Ornamentik, vor allem die Betonung der beiden feldseitigen Ecken an, entweder durch Erker am Wehrgang oder durch kleine „Ecktürme“. Dabei war der Übergang zwischen beiden Formen fließend, denn die Eckerker konnten auf Strebepfeilern aufsitzen und dann türmchenartig wirken und die echten Ecktürme blieben in der Regel recht klein.
Abb. 163 Ingolstadt, das „Kreuztor“ von 1385, die Feldseite im heutigen Zustand (vgl. Abb. 102).
Auch die gelegentlich anzutreffende symmetrische Anordnung frontaler Schießscharten war keine Ornamentik im eigentlichen Sinne und ebenso wenig die Anordnung von Wappen, die primär Herrschaftszeichen waren. Reiner Schmuck beschränkte sich letztlich auf Bogenfriese in regional üblichen Formen – rundbogig im Rheinland, kielbogig etwa in Memmingen und bei anderen Vortoren Bayerisch Schwabens. Wenn man einmal, wie zum Beispiel am Zwinger des „Fürther Tores“ in Lindenfels im Odenwald (um 1500; Abb. 444), neben dem gekehlten Torgewände und dem Wappen einen Wurferker mit Fratzenkonsolen oder gar maßwerkartige Verzierungen wie am „Ellinger Tor“ in Weißenburg (Abb. 162) findet, so waren dies seltene Ausnahmen. Vortore waren generell im süddeutschen Raum verbreitet, kaum im Norden, und dies gilt auch für die Beispiele mit Eckerkern. 1385 entstand 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
215
das Vortor des besonders gelungenen Ingolstädter „Kreuztores“, das runde Erkertürmchen auf Maßwerkfriesen besitzt (Abb. 163). Noch älter dürfte – auf die Datierung ist zurückzukommen – das Vortor des „Weißen Turms“ in Nürnberg sein, wie überhaupt Franken mit seinen vielen gut erhaltenen Mauern etliche erhaltene Beispiele mit eckigen wie runden Erkern aufweist. In Rothenburg und Dinkelsbühl findet man mehrere Bauten der Art, erwähnenswert sind auch die beiden Haupttore in dem kleinen Wolframs-Eschenbach (Abb. 161) und das „Einersheimer Tor“ in Iphofen (Abb. 383). Ein später Höhepunkt, mit komplexer Form der Erker und nachträglicher Renaissanceornamentik, ist das erwähnte „Ellinger Tor“ in Weißenburg (Abb. 162). Als spätes Beispiel noch weiter südlich – einzelne Fälle gibt es auch in Bayerisch Schwaben – sei der 1865 zerstörte „Christoffel“ in Bern genannt, dessen ungewöhnlich großes, mit zwei Wehrgängen und Achteckerkern versehenes Vortor 1487 / 88 entstand. Die Vortore mit echten Türmen lassen dasselbe Schwergewicht in Bayern und im alemannischen Raum erkennen. Eindrucksvolle Beispiele von geräumigen Vortoren, die wie breit gelagerte Doppelturmtore wirken, fand man in München, wo sie mit dem umlaufenden Zwinger 1435–65 entstanden; die Türme waren hier rechteckig, rund oder achteckig, stets aber symmetrisch zur Toröffnung (Abb. 164). Auch das innere Vortor Abb. 164 München, das „Isartor“ ist als einziges Münchener Tor noch weitgehend erhalten, wenn auch in der Umgestaltung durch Friedrich von Gärtner, bei der die fünf Tore entstanden (1833). Der Tortum gehört zur 1315 begonnenen Mauer, die achteckigen Türme zum Zwinger (etwa 1435–65).
216 I. Systematischer Teil
des „Bayertores“ im nahen Landsberg am Lech (Abb. 121) orientierte sich offenbar am Münchner Vorbild. Sonst wirken die bayerischen und schwäbischen Beispiele turmverstärkter Vortore wie isolierte Einzelfälle ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Zu erwähnen sind – von Osten nach Westen – das „Untere Tor“ in Straubing mit Rundtürmen, das „Obere Tor“ in Neuburg an der Donau sowie zwei besser datierte Beispiele: das reich ornamentierte „Obertor“ in Weißenhorn (1486 / 92; Abb. 355) und das gleichnamige Tor in Pfullendorf („1505“; Abb. 347); ein entsprechender Bau in Schrobenhausen ist abgegangen. Das einfache Vortor ohne Ecktürme oder -erker war die sparsamste Form und damit begreiflicherweise die am stärksten verbreitete. In der Schweiz ist als besonders schönes Beispiel jenes am Basler „Spalentor“ mit Zierzinnen über Maßwerkfries zu nennen (1473, Architekt Jakob Sarbach; Abb. 128). In Chur hat es offenbar ein „1538“ datiertes gegeben, ein weiteres steht noch in Mellingen, jedoch sind die meisten Beispiele nur noch indirekt belegt. Ähnlich sieht es im südwestdeutschen Raum aus, wo zahlreiche Beispiele in Bayerisch Schwaben, Oberschwaben, in Neckarland und in Baden belegbar sind, aber nur wenige erhalten; im Elsass fehlten sie offenbar gänzlich. Als erhaltene Beispiele sind zu nennen: das „Einlasstor“ in Mindelheim (wohl vor 1469), „Ulmer Tor“ und „Einlass“ (1475) in Memmingen, das „Kalkweiler Tor“ in Rottenburg und das (umgebaute) „Baldinger Tor“ in Nördlingen (1406). Auch in Altbayern waren Vortore recht häufig, wie schon aus den angeführten Listen der Vortore hervorgeht, die mit umlaufenden Zwingern verbunden waren oder eben nicht. Neben den hier nicht seltenen, oben schon erwähnten Vortoren mit Ecktürmen oder -erkern sind auch einige Beispiele der turm- und erkerlosen Art in Traunstein, Passau („Severinstor“), Landshut („Burghauser Tor“), Straubing („Spitaltor“, in der Gestalt des 17. Jahrhunderts) und Vohburg („Auentor“) erhalten. (Mittel-)Franken bietet allein schon in Rothenburg und Dinkelsbühl eine schöne Auswahl erhaltener Vortore, die allerdings regionaltypisch fast alle mit Eckerkern versehen sind. Einfachere Vortore sind etwa in Nürnberg („Weißer Turm“) erhalten, auch in Wolframs-Eschenbach („Obertor“) oder Weißenburg („Ellinger Tor“; Abb. 162,
379), Spalt (zwischen 1464 und 1496) und Greding (zwei Vortore von 1490 und 1496). In Unterfranken ist vor allem das „Einersheimer Tor“ in Iphofen mit seiner Buckelquaderfront und runden Eckerkern erwähnenswert (Abb. 383), in Württembergisch Franken gibt es Vortore nur noch in Schwäbisch Hall („Langenfelder Tor“, „Weilertor“) und in den sehr kleinen Städten Krautheim und Langenburg. Außerhalb des süddeutschen Raumes waren Vortore nach dem heutigen Befund ausgesprochen selten. Im Rheinischen Schiefergebirge konnte ich nur zwei Beispiele in Andernach und Wittlich feststellen, weiter nördlich eines in Zülpich. Im hessischen Raum ist ein Rest mit rundem Eckerker in Münzenberg zu erwähnen, in Lindenfels der etwas unregelmäßige Zwinger vor dem inneren „Fürther Tor“ (Abb. 444), sonst fehlte der Typus offenbar völlig. In Sachsen, von dessen Befestigungen nur wenig erhalten ist, scheint es vereinzelt Vortore gegeben zu haben, jedoch standen hier die Barbakanen als wesentlich größere Anlagen im Vordergrund. Und ganz im Nordosten des deutschen Raumes, im Ordensland, konnte ich lediglich ein einziges kleines Vortor in Strasburg feststellen, während Torzwinger, gleich welcher Größe, dort sonst völlig gefehlt zu haben scheinen. Soweit dieser kleine Überblick es erkennen lässt – vertiefende Forschung mag das Bild hier oder dort durchaus ändern –, waren Vortore also ganz unterschiedlich verbreitet, mit Schwergewicht im Süden des deutschen Raumes. Ein Hauptgrund für die Seltenheit dieser sparsamsten Torzwingerform im Norden Deutschlands mag darin gelegen haben, dass die Stadtbefestigungen im Flachland generell anders strukturiert waren. Das galt nicht für die Mauer selbst und für die Tore, wohl aber für die vorgelagerten Gräben, die hier, bei meist sandigen Böden, in der Regel mehrfach hintereinandergestaffelt waren. Diese Tiefe der Annäherungshindernisse legte es zumindest nahe, auch dem Torzwinger eine lang gestreckte Form in voller Tiefe des Grabensystems zu verleihen (vgl. 2.2.7.3.). Dadurch wurde einerseits das äußere Tor weit vor das Haupttor herausgerückt und hielt den Angreifer weit von der Mauer entfernt, andererseits konnten die langen, in der Regel schartenreichen Seitenmauern des Torzwingers die
Abb. 165 Greding (Mittelfranken), auf das Vortor (wohl 15. Jahrhundert) des „Eichstätter Tores“ wurde später ein Wohngeschoss gesetzt.
Gräben und Wälle effektiv flankieren. Diese funktionalen Überlegungen sind nicht wirklich zwingend, hätte man doch sehr wohl ein kleines Vortor direkt vor dem Torturm und dann noch einen zweiten, langen Zwinger davor anordnen können. Aber es liegt doch nahe, dass sich die lange Zwingerform aus den Gegebenheiten des tief gestaffelten Grabensystems entwickelte, sodass die Form des kurzen Vortores in der betreffenden Region als unnötig angesehen und nicht rezipiert wurde. Als gewisse Bestätigung solcher Gedanken darf man das Elsass anführen, die offenbar einzige „süddeutsche“ Region, in der man keine Vortore findet; die meisten elsässischen Städte liegen nämlich in der flachen Oberrheinebene und besitzen typischerweise keine Zwinger, sondern Außenwälle und entsprechend doppelte Gräben. Die Entstehungszeit der Vortore ist natürlich in vielen Fällen nicht sicher feststellbar, aber da 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
217
wir uns mit diesem Bauteil im Spätmittelalter befinden, gibt es doch etliche Beispiele, die durch Schriftquellen oder Bauinschriften datiert sind und damit einen Orientierungsrahmen bieten; viele wurden schon genannt. Das Vortor am Nürnberger „Weißen Turm“ kann nicht allzu lange nach 1346 entstanden sein, denn in diesem Jahre wurde die äußere Stadtmauer begonnen, die eine Verstärkung des zur inneren Mauer gehörenden „Weißen Turmes“ obsolet machte. Mit dem besonders gut gestalteten Vortor des Ingolstädter „Kreuztores“ (Abb. 163), das zusammen mit dem Torturm 1385 entstand, sind die datierten Bauten der Zeit vor 1400 schon genannt. Die große Zeit der Vortore war fraglos erst das 15. Jahrhundert, aus dem ich 15 sicher datierte Beispiele fand, beginnend mit dem Vorstadttor in Miltenberg (1403 / 05), dem Nördlinger „Baldinger Tor“ (1406) und dem inneren Vortor des „Bayertores“ in Landsberg am Lech (1422–25; Abb. 121) und endend mit dem „Obertor“ von Weißenhorn (1486 / 92; Abb. 355), dem Berner „Christoffel“ (1487 / 88) und den Vortoren in Greding (1490 und 1496). Dazwischen lagen unter anderem so bedeutende Beispiele wie die monumentalen Vortore der äußeren Mauer von München (1435–65), das immer wieder abgebildete „Rödelseer Tor“ in Iphofen mit seinem malerischen Fachwerkausbau von 1455 / 66 (Abb. 170) oder das schmuckreiche Basler „Spalentor“ (1473; Abb. 128). Und auch im 16. Jahrhundert setzen die Beispiele keineswegs aus: das „Fürther Tor“ in Lindenfels (um 1500; Abb. 444) ist etwa zu nennen, das „Ellinger Tor“ in Weißenburg in Mittelfranken (1510; Abb. 162) oder das „Obere Tor“ in Neuburg an der Donau, ein regelrechtes Doppelturmtor (vor 1546). Wenn das Vortor des einzigen Stadttores in Langenburg in Hohenlohe wirklich 1612 entstanden sein sollte, wie es scheint, so bildet es den Schlusspunkt des Themas. Man muss also zusammenfassen, dass Vortore eine Bauform waren, die sich – vor 1400 noch kaum nachweisbar – vor allem im 15. Jahrhundert verbreitet hat und die mit dem Aufkommen der Renaissance im Wesentlichen auslief. Ab dem 16. Jahrhundert wurde es in den dicht bebauten Städten üblich, die Wehrgänge zu entfernen und auf das in seiner Größe gut dafür geeignete Vortor ein durchgehendes Obergeschoss aufzusetzen, oft wohl anfangs als Wohnung 218 I. Systematischer Teil
des Torwärters. Das Vortor gewann dadurch ein hausartiges Aussehen und ist heute oft gar nicht mehr als verteidigungsfähiger Bau zu erkennen. Mehrere anschauliche und gut datierte Beispiele dieses sehr typischen Umbaues findet man etwa in dem kleinen und malerischen Greding nahe der Altmühl (Abb. 165); dort entstanden die Vortore in den 1490er Jahren, die aufgesetzten „Häuschen“ schon um 1560–90, wie das Wappen des eichstättischen Bischofs Martin von Schaumberg bezeugt. 2.2.7.2. Die Zugbrücke Zugbrücken – im Normalfalle ihrer Zerstörung heute meist noch erkennbar an der flachen Rechteckblende um das Tor – sind entgegen gewissen Klischeevorstellungen an Tortürmen bisher nur als Ausnahmefall nachweisbar; nur bei wenigen Tortürmen des 15. Jahrhunderts, die bereits durch Feuerwaffen geprägt sind, findet man sie gelegentlich (Abb. 145). Wie ist dieses Fehlen an dem häufigsten Tortypus des deutschsprachigen Raumes zu erklären? Zugbrücken des 12. bis frühen 14. Jahrhunderts mögen anfangs Bestandteile der Brücken vor den Toren gewesen und später mit diesen witterungsanfälligen Holzkonstruktionen verschwunden sein. Dass Zugbrücken im deutschen Raum schon im 12. Jahrhundert bekannt waren, ist etwa durch die um 1170–90 entstandene Eneide des Heinrich von Veldeke belegt, wo eine Brücke „uf gizogen“ wird; und die Slawenchronik des Helmold von Bosau erwähnt schon 1159 / 60 eine Torbrücke, die mittels einer Kette gehoben wurde. An Bauten freilich – auch an Burgen, denn das „Löwentor“ der Hohkönigsburg, das man um 1900 für „frühromanisch“ hielt, ist längst als Werk des 15. Jahrhunderts erkannt – sind romanische Zugbrücken bisher unbelegt. Die ältesten Zugbrücken im deutschen Raum, die baulich belegt sind, konnten durch Jens Christian Holst am Torhaus der Burgen in Burg Stargard und in Wredenhagen (beide Mecklenburg) festgestellt werden; beide entstanden wohl knapp vor 1300. Nimmt man dazu das „Anklamer Tor“ in Friedland, das in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts – wohl bald nach 1300 – mit einem flachen Vorbau für die Zugbrücke versehen wurde, so möchte man die Frage stellen, ob nicht die Verbreitung der Zugbrücke primär von
diesem norddeutschen Raum ausging. Denn er hatte aus slawischer Zeit, die ja erst im 12. Jahrhundert durch die deutsche Kolonisation zu Ende ging, eine starke Tradition des Holzbaues, aus der eine Konstruktion wie die Zugbrücke gut hervorgegangen sein könnte. Aber dies kann nur eine erste Überlegung sein, die zudem nur zum kleineren Teil mit einer Stadtbefestigung zu tun hat. Generell liegen bisher an Stadtbefestigungen kaum gesicherte Daten für das Aufkommen der Zugbrücken vor; sie sind praktisch immer nachträgliche Ergänzungen bestehender Bauten gewesen und solche Ergänzungen wurden in den Schriftquellen kaum je mit der erforderlichen Eindeutigkeit erfasst. Erhalten sind in der Regel lediglich die typischen flachen Rechteckblenden um die Toröffnung, oft auch die Löcher in deren oberen Ecken, durch die die Seile oder Ketten geführt waren, oder die Schlitze in der Mauer über dem Tor, in denen sich die Wippbalken / Schwungruten der entsprechenden Zugbrückenart bewegten. Die Holzteile der eigentlichen Brücke fehlen so gut wie immer – gut erklärlich, denn diese stark belasteten und der Witterung ausgesetzten Bauteile wurden häufig repariert und erneuert und schließlich fast immer beseitigt, um nach dem Funktionsverlust der Befestigungen den Verkehr einfacher und sicherer zu machen; wenn man heute das Gefühl hat, dass Zugbrücken vielfach erhalten seien, so ist das nur zu einem kleinen Teil durch Originale in neuzeitlichen Festungen begründet, vor allem aber durch Rekonstruktionen aus der Zeit des Historismus. Immerhin gibt es Einzelfälle wie die ergrabenen Brückenreste vor der „Porte de Lausanne“ in Freiburg im Üechtland, deren Holzteile in die lange Zeit von 1290 bis 1515 datiert werden konnten. Dies belegt jedoch kaum die Existenz der Brücke bereits im Jahre 1290, sondern eher die Verwendung von Holzmaterial verschiedenster Herkunft bei der laufenden Instandhaltung. Selbst an sich geringe Überreste der hölzernen Konstruktion wie etwa die kleinen Holzrollen zur Führung der Zugseile, die am „Oberen Tor“ in Leutershausen in Franken erhalten blieben, sind heute seltene und wertvolle Ausnahmefälle (Abb. 166). Die archäologische Feststellung von hölzernen Brückenresten, wie sie etwa in Brandenburg häufiger gelang, hilft für die Frage der
Abb. 166 Leutershausen (Mittelfranken). Die hölzernen Rollen für die Seile oder Ketten der Zugbrücke sind nur noch sehr selten erhalten, wie hier am Vortor des „Oberen Tores“.
Zugbrücken generell wenig, denn den Pfahlresten kann man kaum ansehen, ob sie eine feste oder eine aufziehbare Brücke trugen. Eine Überlegung, die im Zuge künftiger Forschung noch vertieft werden sollte, weil sie sowohl das funktionale Verständnis spätmittelalterlicher Befestigungen verbessern als auch bei der Datierung der Zugbrücken weiterhelfen kann, betrifft den Zusammenhang der Vortore und der Zugbrücken. Die ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, vor allem aber im 15. Jahrhundert, häufigen Vortore, die im vorigen Abschnitt behandelt wurden, waren geradezu standardmäßig mit Zugbrücken versehen, ganz im Gegensatz zu den Tortürmen selbst. Man muss sich daher fragen, ob nicht eben die Aufnahme der Zugbrücke eine weitere, wenn nicht geradezu die Hauptaufgabe der Vortore gewesen ist! Wir hatten oben argumentiert, dass ein zweites Tor vor dem Haupttor primär der Verhinde2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
219
rung feindlicher Annäherung an das Haupttor diente und dass diese Annäherung weitaus gefährlicher wurde, als Schießpulver für Sprengungen zur Verfügung stand. Eben diese Argumentation spricht aber nun auch für Zugbrücken, und zwar in fast noch überzeugenderer Weise. Denn Zugbrücken verbinden die Notwendigkeiten eines ständigen Verkehrsflusses in idealer Weise mit der Möglichkeit, das Haupttor notfalls binnen Sekunden unerreichbar zu machen. Vor diesem argumentativen Hintergrund darf man wohl die These wagen, dass die so ungemein häufige Form des Vortores nicht nur als Minimalform eines Zwingers zu verstehen ist, sondern zugleich und von allem Anfang an eben auch als solide und dauerhafte Konstruktion zur Anbringung einer Zugbrücke! Die ungefähre Gleichzeitigkeit der drei Innovationen – Schießpulver, Vortor, Zugbrücke – passt jedenfalls bruchlos zu dieser Überlegung. Dass es verschiedene Konstruktionsformen der Zugbrücke gab, ist hinreichend oft beschrieben worden; ein Blick in Pipers Burgenkunde reicht aus. Als konstruktiv einfachste Form erscheint jene, bei der Seile oder Ketten über Rollen ins Innere der Anlage geführt wurden, wo sie wahrscheinlich in Gegengewichten, kaum in handbetriebenen Winden endeten. Mindestens ähnlich häufig war wohl die Form mit Wippbalken: In Schlitzen oberhalb des Tores ruhten Balken, deren vorderes Ende durch mehr oder minder senkrechte Ketten mit dem äußeren Ende der Zugbrücke verbunden war, während das hintere Ende Gegengewichte trug; solange man die Gegengewichte oder das vordere Brückenende fixierte, war die Brücke nutzbar, nach Lösung der Fixierung konnte man die Brücke mit geringem Kraftaufwand hochziehen. Bei der dritten Konstruktion waren die Gegengewichte direkt am hinteren Ende einer Brücke befestigt, die hinter der Toröffnung bzw. der Achsenlagerung genauso lang war wie davor. Diese Form erforderte eine tiefe Grube hinter dem Tor, die heute in der Regel verfüllt ist. Im Spät- und vor allem Nachmittelalter, das heißt im Festungsbau, war meinem Eindruck nach die Form mit Wippbalken besonders verbreitet, was im Grundsatz verständlich ist. Diese Form kommt ohne allzu feine Teile wie kleine Holzrollen aus, die verklemmen oder verschlei220 I. Systematischer Teil
ßen können, aber auch ohne Gruben, die sauber gehalten werden mussten. Wie allerdings die Entwicklung im Spätmittelalter verlief, ob die Formen etwa nacheinander entstanden, gegebenenfalls in welcher Reihenfolge und wann genau, ist bisher mangels datierter Fälle nicht einmal ansatzweise zu beantworten; und angesichts des wenigen originalen Holzes, dass von älteren Zugbrücken erhalten ist, wird es dabei wohl auch bleiben. 2.2.7.3. Größere Torzwinger Neben dem Vortor als Minimalform eines Torzwingers gab es vor Stadttoren durchaus auch geräumigere Zwinger. Ihre Entstehungszeit ist generell ebenso schwer zu fassen wie jene der Vortore, lag aber offenbar ungefähr parallel zu ihr; erste Beispiele gehören ins späte 14. Jahrhundert, die Blütezeit lag klar im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Auch die genaue Funktion solch größerer Torzwinger ist a priori schwieriger als jene der baulich viel stärker vereinheitlichten Vortore zu bestimmen. Der größere Innenraum konnte durchaus verschiedenartige Funktionen aufnehmen, sodass der Begriff „größere Torzwinger“ nicht eigentlich einen Typus erfasst, sondern nur eine Sammelbezeichnung für formal und funktional recht verschiedene Anlagen darstellt. Dass die Verdoppelung der Tore einen direkten Angriff auf das Haupttor verhindern sollte, galt schon für die kleinen Vortore, es erklärt aber eben nicht, warum manchmal zwischen beiden Toren mehr Raum gelassen wurde. Eine beliebte Erklärung der älteren, noch stark von militärischem Denken bestimmten Literatur bestand darin, man habe im Zwinger eine Ausfalltruppe versammeln wollen, die dann über den Belagerer herfallen konnte, ohne dass man das Risiko eingehen musste, das Haupttor zu öffnen. Inwieweit so etwas stichhaltig ist, muss den Militärhistorikern bzw. den Aussagen der Quellen überlassen bleiben; man hat zumindest Probleme, sich einen so raschen Gegenstoß der überraschten Belagerer vorzustellen, dass ein Schließen des (Haupt-)Tores nicht mehr möglich gewesen sein sollte. Näher liegt meines Erachtens daher die Idee, auch in größeren Zwingeranlagen vor allem eine Folge des Aufkommens der Feuerwaffen zu sehen. Ein ausgedehnter Zwinger schob die Position der Verteidiger weit gegen den Angrei-
fer vor, unabhängig davon, ob er nun feldseitig nur von einem Torbau oder doch von stärkeren Bauten für Artillerie abgeschlossen wurde, etwa einem Rondell. Insbesondere verbesserte der Zwinger dann die Position der Belagerten, wenn er die vorgelagerte Grabenzone überschritt, also in gewisser Weise einen „Bruckenkopf“ schuf. Nicht wenige scheinbare Torzwinger erweisen sich auch bei genauer Betrachtung als etwas durchaus anderes, indem sie nämlich nicht nur den Weg zum (inneren) Stadttor sicherten, sondern eine eigenständige Funktion aufnahmen; sie seien hier angesprochen, weil sie im Folgenden nicht mehr erwähnt werden. So besaßen etwa ummauerte Zollstellen in aller Regel ein Tor zum Fluss und eines in der Stadtmauer, sodass sie rein grundrisslich als großer Torzwinger erscheinen konnten; aber in Wahrheit waren solche Zollstellen ein eigener Bereich, der nur bedingt einem Durchgangsverkehr diente, sich aber vor allem auch gegen die Stadt abschloss (gut erhaltene Beispiele etwa in Höchst am Main und Bacharach am Rhein; vgl. 2.2.10.3.). Auch andere Bauten oder Anlagen, die direkt vor der Stadt lagen, konnten in Sonderbefestigungen einbezogen werden, die den Eindruck eines sehr großen Torzwingers erweckten, sofern eine Ausfallstraße der Stadt hindurchführte. So umfasste etwa der heute verschwundene Zwinger vor dem „Schweidnitzer Tor“ in Breslau die Kreuzherrenkommende und eine Gruppe von Kirchen und Kapellen. Und dass man es hier schon fast mit einer Übergangsform zur Vorstadt zu tun hat, kann der „Kappenzipfel“ in Rothenburg ob der Tauber zeigen, wo die Befestigung vor allem den Spital galt, das aber einige Hundert Meter vor der Stadt lag, sodass in der neuen Mauer, an der Ausfallstraße entlang, die „Spitalvorstadt“ entstehen konnte. Versucht man nun einen Überblick über „echte“ größere Torzwinger, so ist es sinnvoll, zwischen Mittelgebirge und Flachland zu trennen, denn unter den beiden landschaftlichen Voraussetzungen haben sich prinzipiell verschiedene Formen entwickelt. Begonnen wird, entgegen der Üblichkeit in diesem Buch, mit dem Flachland, wo sich eine wesentlich einheitlichere Form entwickelt hat. Die Stadtmauern waren im Flachland kaum durch Abhänge geschützt, sodass Gräben und Wälle eine besondere Bedeutung erhielten,
als Trocken- wie als Wassergräben (vgl. 2.2.9.). Häufig waren sie mehrfach hintereinandergestaffelt – ob nun von Anfang an oder erst im Zeichen der Artillerie – und dies hatte seine Vorund Nachteile. Im Sinne der passiven Verteidigung waren solche gestaffelten Grabensysteme vorteilhaft, denn sie erschwerten dem Angreifer die Annäherung ganz erheblich. Aus der Sicht einer aktiven Verteidigung waren sie weniger vorteilhaft, denn von der Hauptmauer und ihren Türmen aus konnte man über die Wallgräben hinweg kaum auf die Angreifer einwirken, anders gesagt: Die tief gestaffelten Gräben und Wälle schützten im Grunde nicht nur die Stadt, sondern genauso die Angreifer vor den Verteidigern. Um dies im Sinne einer aktiveren Verteidigung ändern zu können, war es nötig, zumindest an einzelnen Stellen Bauten auf die Außenseite der Wallgräben vorzuschieben, und es lag nahe, dies dort zu tun, wo ohnehin schon ein Weg über das Grabensystem führte, also an den Toren. Dieses einfache Prinzip nahm unter den Bedingungen der mehrfachen Gräben und Wälle im Flachland eine bestimmte, weitverbreitete Form an, nämlich die einer langen Gasse, die seitlich von nur schwachen, kaum übermannshohen Mauern eingefasst wurde und auf der Außenkante des äußeren Grabens mit einem Torbau endete. Diese Abb. 167 Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern), „Friedländer Tor“. Lange Torzwinger, die ein gestaffeltes Grabensystem überbrückten, waren im norddeutschen Flachland häufig. Jener am „Friedländer Tor“ war feldseitig durch ein Vortor abgeschlossen, vor das später noch ein Halbrondell gesetzt wurde.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
221
lange, gassenartige Form des Torzwingers diente, da sie über zwei oder drei Gräben hinwegführte, zugleich als steinerne Brücke – ergraben etwa am „Ratiborer Tor“ in Neiße (Schlesien) – und sie erlaubte den flankierenden Beschuss der Grabenzone, indem die seitlichen Mauern in der Regel mit vielen Scharten für Hakenbüchsen oder noch kleineren Feuerwaffen versehen waren. Es bietet sich an, die Tore von Neubranden burg als Beispiele dieses flachländischen Tor zwingertypus zu wählen, weil hier gleich drei Beispiele erhalten sind, die jenseits ihrer hohen gestalterischen Qualität auch zahlreiche technische Details bewahrt haben (Abb. 167); sonst sind solche Tore zwar massenhaft auf älteren Darstellungen belegt, etwa bei Matthäus Merian oder in den frühen preußischen Katastern des 18. Jahrhunderts, aber da sie im 19. Jahrhundert doch dem Verkehr erheblich im Wege standen, sind nur selten Reste erhalten. Am „Treptower Tor“ von Neubrandenburg gibt es Spuren, die belegen, dass der Zwinger anfangs nur bis zum innersten Wall reichte – der einzige derartige Fall, an den man die Frage knüpfen kann, ob damals vielleicht nur der innere Wall existierte. In ihrer Endphase besitzen alle drei Tore der Stadt riegelartige, nur zweigeschossige Torbauten als feldseitigen Abschluss, die auf dem äußeren Wall standen; der offenbar älteste am „Friedländer Tor“ (frühes 15. Jahrhundert) ist noch relativ schlicht, Abb. 168 Königsberg (Polen, ehemals Neumark) besaß vor dem „Schwedter Tor“ ein mit zwei polygonalen, maßwerkgezierten Türmen außergewöhnlich aufwendiges Außentor, vor dem noch ein drittes Tor mit zwei Rondellen lag; erhalten ist nur der Torturm (vgl. Abb. 100) (Merian, Topographia Electoratus Brandenburgici, 1652).
222 I. Systematischer Teil
aber die wenig jüngeren Außentore am „Stargarder“ und „Treptower Tor“ gehören mit ihren extrem reichen Blendgliederungen und Ziergiebeln zu den aufwendigsten Bauwerken an deutschen Stadtmauern. Als Vorbilder wurden mit gutem Grund die Schauwände der Rathäuser von Stralsund und Lübeck genannt, also die am höchsten entwickelten profanen Architekturformen, die man in zwei der reichsten norddeutschen Städte in der Spätgotik fand (das verschwundene Außentor am Lübecker „Burgtor“ könnte ein Mittler oder gar der Ursprung solcher Formen gewesen sein). Erhaltene Beispiele sind sonst in Mecklenburg, Pommern und Brandenburg selten geworden; am ehesten haben noch die Außentore überlebt, während die Seitenmauern der langen Zwinger in der Regel der veränderten Verkehrsführung geopfert wurden. Zu nennen sind Malchin, Bernau, Tangermünde, Fürstenwerder und besonders Jüterbog mit dem „Neumarkter“ und dem „Dammtor“. Hier, und ähnlich in Mittenwalde, wird das Außentor durch zwei Erkertürmchen bereichert; einen Höhepunkt dieser Torform bildete, wenn man Matthäus Merian hier glauben darf, ein Außentor in Königsberg (Neumark), dessen zwei polygonale Türme mit hohen Maßwerkfenstern (oder doch eher -blenden?) geziert waren (Abb. 168). Ein anderer erwähnenswerter Ausnahmefall, zu dem es nur in Tangermünde vielleicht eine Analogie gab, war ein Außentor mit zwei Durchlässen in Templin; ob man hier nun gleich an antike Vorbilder denken soll (Trost), scheint angesichts der Isolierung doch eher fraglich. Ähnlich ornamentale, aber im Grunde unbefestigte Vortore gab es außerhalb des Raumes von Brandenburg, Mecklenburg und Pommern nirgends. Am ehesten sind noch einige Tore am Niederrhein zu nennen – erhaltene gibt es noch in Aachen („Ponttor“; Abb. 422), Xanten (Abb. 425), Zons und Zülpich („Weiertor“) –, aber dort war das zwar repräsentativ gestaltete Außentor oft ein Doppelturmtor oder besaß zumindest zwei Eckerker, sodass der Wehrcharakter doch wesentlich deutlicher als bei den reinen Schaufassaden südlich der Ostsee hervortrat. Deutlich wird der Sondercharakter der Torzwinger in Brandenburg und seinen Nachbarländern, wenn man etwa einen Blick ins preußische Ordensland
wirft, das, ebenfalls in der Backsteinregion, Pommern direkt benachbart ist. Der mächtige „Gefängnisturm“ in Danzig ist Rest eines Torzwingers, in Thorn gab es ebenfalls große Torzwinger mit Rondellen, die zum Teil auf um 1449 / 50 datiert werden können. Solche Reste erinnern viel stärker an die im Mittelgebirgsraum üblichen, klar an den Bedürfnissen der Artillerie orientierten Formen großer Torzwinger. Und dass diese deutlich wehrhafteren Formen bis in die direkte Nähe von Pommern und Brandenburg vorkamen, zeigen ja letztlich auch so herausragende Bauten des Backsteingebietes wie das Lübecker „Holstentor“ (Abb. 153) und das „Elbtor“ in Werben (Abb. 101). Beide stehen heute isoliert, waren aber äußerer Abschluss von langen Zwingern; und beide vereinen den Schmuckreichtum der östlich benachbarten Regionen mit eindeutiger Artillerietauglichkeit, die sich in den dicken Mauern und zahlreichen Scharten ihrer Rundtürme ausdrückt. Diese Anpassung an die Artillerie findet man ja letztlich auch in Neubrandenburg, wo vor das Außentor des „Friedländer Tores“ um 1500 ein u-förmiges Kanonenrondell gesetzt wurde (Abb. 167). In der Mittelgebirgsregion findet man im Prinzip zwei Formen größerer Torzwinger, die aber beide deutlich vielgestaltiger als die gassenartig lange Form des Flachlandes sind. Im Prinzip kann man solche, die durch Rondelle oder andere Bauten für die Artillerie verstärkt wurden, von solchen unterscheiden, die auf Derartiges und meist sogar auf eigene Torbauten verzichteten. Dass es sich bei diesem Unterschied einfach um einen zeitlichen handelt, da die rondellbewehrten Formen erst gegen 1500 auftreten, die anderen aber deutlich weiter ins 15. Jahrhundert zurückgehen, kann hier und dort durch Datierungen belegt werden, bleibt aber insgesamt eher eine These. In den Alpen mit ihren bescheidenen Stadtgrößen fehlten Torzwinger völlig, aber im Alpenvorland gibt es einzelne Beispiele der einfacheren Art. In Kaiserstuhl sicherte ein großer Zwinger das bergseitige, das heißt besonders bedrohte Tor; er diente später auch als Tanzplatz(!). Ähnlich ist der verschwundene Zwinger des „Murtentores“ in Laupen zu beschreiben, ebenso ein wohlerhaltener in Schongau. In Wangen an der Aare und Lindau lag der Zwinger zwischen dem
Abb. 169 Nürnberg, der große heute verschwundene Torzwinger vor dem „Laufertor“ (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts), rekonstruierender Grundriss (von Essenwein, Handbuch d. Architektur, 2. Teil, 4. Band, 1. Heft: Die Kriegsbaukunst).
Brückentor und der Brücke selbst, deren Schutz er also erheblich verbesserte; in Lindau gibt es das Datum 1409, aber keine Reste mehr. In Baden dürfte es einige größere Torzwinger gegeben haben, aber es ist nichts erhalten; und im Elsass fehlte die Form offenbar völlig, wie ja auch die Form des umlaufenden Zwingers dort offenbar kaum vorkam (vgl. 2.2.11.6.). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
223
Abb. 170 Iphofen (Unterfranken), das Vortor des „Rödelseer Tores“ von der Stadtseite. Das Tor ist, von außen gesehen, ein schlichtes Torhaus mit Rundturm (1455 / 56); berühmt ist es jedoch wegen der stadtseitigen Fachwerkbauteile, die aus dem 15.–18. Jahrhundert stammen.
Franken mit seinem eindrucksvollen Bestand erhaltener Mauern besitzt auch eine Anzahl größerer Torzwinger, die die Entwicklung im Laufe des 15. Jahrhunderts gut veranschaulichen. In der äußeren Mauer von Nürnberg sind die großen Zwinger am „Frauentor“ und am „Spittlertor“ noch relativ gut erhalten (Abb. 169); sie entstanden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und waren dementsprechend noch nicht wirklich artillerietauglich, sondern wirken mit Abb. 171 Goslar, der geräumige, mit mehreren großen Rondellen befestigte Torzwinger am „Breiten Tor“ (1443), rekonstruierter Grundriss (vgl. Abb. 436; Kunstdenkmäler Hannover, Stadt Goslar).
224 I. Systematischer Teil
ihren Rechtecktürmen eher als abgegrenzte Sonderbereiche des umlaufenden Zwingers, die einen Angreifer zu einem Seitenschwenk zwangen. Auch bieten sie ein seltenes, als Experiment erklärliches Beispiel dafür, dass die Wehrgänge auch innen Scharten besaßen, um einen schon eingedrungenen Angreifer zu bekämpfen. Ein bescheideneres und undatiertes, aber interessantes Beispiel bietet das wohlerhaltene „Kobolzeller Tor“ in Rothenburg, wo das typische kleine Vortor nachträglich durch einen großen Torzwinger ergänzt wurde (Abb. 380); der Grund ist unklar, denn das Tor war über steilem Anstieg ohnehin schwer anzugreifen. Das besonders „romantische“ und oft abgebildete, weil stadtseitig in Fachwerk geschlossene „Rödelseer Tor“ in Iphofen (großenteils von 1455 / 66; Abb. 170) schloss als Außentor einen Torzwinger ab; drei weitere gut erhaltene Torzwinger der flach liegenden Stadt erinnern in ihrer Schmalheit fast an das brandenburgische Modell, besitzen aber hohe Mauern mit Wehrgängen. Der rechteckige Zwinger des „Oberen Tores“ von Ornbau („1477“) ist mit seinen wuchtigen Mauern und Schlüsselscharten für die Grabenbestreichung ein originelles Zwischending von Torzwinger, Kanonenbollwerk und Barbakane – typisches Produkt einer experimentierenden Epoche, die die funktional beste Form noch suchte. Waldenburg dagegen, in Württembergisch Franken, sicherte seine einzige Angriffsseite durch einen großen Zwinger mit zwei Rondellen, durch den auch das Haupttor führte; wohl um 1500 entstanden, erinnert dies schon eher an ein Außenwerk, wie es dann im Bastionärzeitalter üblich wurde. Ein erwähnenswerter Sonderfall war der „Kreuztorzwinger“ in Speyer (um 1475), weil er, länglich parallel vor der Mauer der Gilgenvorstadt gelegen, die Verteidigung von gleich zwei Stadttoren übernahm bzw. eine Weggabelung enthielt. In Hessen und Thüringen gibt es heute keine Reste von großen Torzwingern, aber alte Pläne und Darstellungen zeigen, dass es sie durchaus gab, zum Beispiel mehrhöfig in Wildungen und Amöneburg, auch in Weilburg am bergseitigen Tor und gegen die Lahnbrücke; in Thüringen wären Hildburghausen und – schon mit Rondellen – Beispiele in Mühlhausen („Pfortentor“), Erfurt („Johannestor“) und Nordhausen („Rautentor“, 1453) zu erwähnen. Wieder
aussagekräftiger sind zwei ergrabene Torzwinger in Einbeck; jener am „Altendorfer Tor“ (Abb. 431), der durch einen Torturm abgeschlossen wurde, konnte auf 1414 dendrodatiert werden, ein zweiter am „Benser Tor“ ist leider undatiert. Bielefeld, überwiegend im Flachen liegend und mit Vortoren auf einem Wall versehen, besaß am „Nebelstor“ einen einzigen echten Torzwinger, typischerweise am Bergfuß, wo der doppelte Wallgraben fehlte; auch in Soest gab es diverse späte, aber durchweg zerstörte Beispiele. Fast völlig erhalten und insgesamt eines der schönsten Beispiele, das wir in Deutschland noch haben, ist das 1494–1505 entstandene „Breite Tor“ in Goslar (Abb. 171). Sein großer dreieckiger Hof mit zwei kräftigen Rondellen an den äußeren Ecken und einem dritten neben dem Torturm in der Hauptmauer war Teil einer um 1500 stattgefundenen Neubefestigung der Reichsstadt, deren Hauptmittel ein hoher Außenwall und riesige Rondelle auf diesem waren. Diese Rondelle, die ähnlich zu schlechter erhaltenen Zwingern am „Rosentor“, „Vititor“ und „Klaustor“ gehörten, waren wehrtechnisch eher schlicht, legten aber mit Gesimsen, Bogenfriesen, aufwendigen Wappenreliefs und hohen Spitzdächern viel Wert auf Wirkung. Ein stark umgebautes Vergleichsbeispiel bietet weiterhin noch die „Rotunde“ in Hannoversch Münden. Auch in Schlesien schließlich fand man recht häufig große Torzwinger mit rondellbewehrter Front; als Sonderfall ist die Antoniuskapelle in Striegau zu erwähnen, die um 1500 als Teil eine Torzwingers entstand, wobei der Chor als Rondell neben dessen Tor vorsprang und über dem Kirchenraum eine Wehrplatte angeordnet ist (Abb. 482). Ähnlich der größeren Barbakane des „Klingentors“ in Rothenburg ob der Tauber, das die Wolfgangskapelle (1475–92) ganz vergleichbar einbezieht (Abb. 195), wird man hier von einer älteren Kapelle vor dem Tor ausgehen dürfen, die beim Ausbau des Zwingers erneuert wurde. Letztlich erweist diese in Flachland und Mittelgebirgsregion untergliederte Beispielsammlung recht deutlich, dass die Formulierung „größere Torzwinger“ kein einheitliches Phänomen erfasst, sondern nur ein pragmatischer Sammelbegriff ist. Die langen, gassenartig schmalen, seitlich zu den Wallgräben nur leicht befestig-
ten Torzwinger des Flachlandes kann man noch als Typus beschreiben, ähnlich wie die Vortore (vgl. 2.2.7.1.). Wo man dagegen in der gebirgigeren Zone hier oder dort größere Formen von Torzwingern antrifft – ohnehin sind voll erhaltene Beispiele selten –, da sind sie ganz verschieden, unverkennbar in Anpassung an jeweils unterschiedliche Situationen. Eine Rolle bei dieser großen Variationsbreite spielte sicherlich auch die Tatsache, dass die weit überwiegende Anzahl der größeren Torzwingeranlagen erst in einer Zeit entstand, als die rapide wachsende Bedeutung der Artillerie ohnehin viele formale Experimente hervorbrachte, weil man sich eben noch nicht sicher war, welche Anordnung welcher baulichen Elemente die höchste Effektivität bezüglich der neuen Waffentechnik bieten würde.
2.2.8. Umlaufende Zwinger In der „Burgenkunde“, das heißt der älteren, mehr sammelnden und beschreibenden als analytischen Befassung mit Burgen als Bauwerken, hat sich eine Begrifflichkeit etabliert, die den Vorzug der Einfachheit und Anschaulichkeit besitzt, dabei aber etwas ungenau ist. Ihr zufolge ist „Zwinger“ ein Oberbegriff, der alle Fälle umfasst, bei denen zwei Verteidigungsmauern hintereinanderstehen, nämlich eine höhere Hauptmauer und davor, mehr oder minder nahe, eine niedrigere „Zwingermauer“. Wenn diese Situation allein im Bereich des Tores vorkommt, in dem also der Ankömmling ein äußeres Tor, einen Zwingerhof und das Haupttor nacheinander zu durchschreiten hat, wird der Sonderbegriff des Torzwingers verwendet (vgl. 2.2.7.). Für die andere Variante des Zwingers, bei der die äußere Mauer auf mehr oder minder lange Strecken die Hauptmauer begleitet, ohne Zusammenhang mit einem Tor, gibt es bisher keinen eigenen Begriff, was den Nachteil hat, dass man bei der Verwendung des Wortes „Zwinger“ nicht sicher sein kann, ob nur diese zweite Variante oder aber alle vorkommenden Formen einschließlich der Torzwinger gemeint sind. Um diese Unklarheit zu vermeiden, wird hier für die zweite Variante des Zwingers der Begriff des „umlaufenden Zwingers“ vorgeschlagen. Zur geographischen Verbreitung des umlaufenden Zwingers ist einleitend festzustellen, dass 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
225
er vor allem in den Mittelgebirgsregionen verbreitet war, während er im Flachland ebenso wie im Hochgebirge weitgehend fehlte. Um dieses Phänomen zu verstehen, muss man sich verdeutlichen, dass ein umlaufender Zwinger einen erheblichen baulichen Aufwand bedeutete, nicht so sehr, was die Komplexität der Aufgabenstellung betraf, sondern vor allem im Volumen; ein zweiter Mauerring grenzte, wenn er lückenlos umlief, an eine Verdoppelung des Volumens der Hauptmauer! Zwar waren viele Zwinger auf besonders gefährdete Bereiche beschränkt, sie waren ferner oft turmärmer als die Hauptmauern, auch waren die Türme oder Streichwehren meist niedriger, aber die Zwingermauer als solche war so lang und so hoch wie die Hauptmauer und enthielt zudem mit der Stützmauerfunktion ein konstruktives Problem, dass bei der Letzteren fehlte; außerdem war mit dem Zwingerbau fraglos oft eine Verbreiterung des Grabens verbunden. Dies vorausgesetzt, erklärt sich das Fehlen von umlaufenden Zwingern im Hochgebirge und im glazial geprägten Flachland. Im Hochgebirge war es ein weiteres Mal die geringe Wirtschaftskraft der wenigen und kleinen Städte, die für eine Ergänzung der Mauer durch ein zweites, kaum weniger aufwendiges Element nicht ausreichte. Und im Flachland, besonders anschaulich etwa im mauerreichen Brandenburg, war die Sparsamkeit lediglich anders akzentuiert. Hier waren zwar manche Städte sicherlich reich genug, um einen zweiten Mauerring zu finanzieren – man denke etwa an Lübeck, Köln oder Braunschweig –, aber hier fehlte das Steinmaterial, gleich, ob man an mühsam zu sammelnden und schwer zu verarbeitenden Feldstein denkt oder an den gut zu verarbeitenden, aber von der Rohstoffversorgung her problematischen Backstein (vgl. 2.2.2.4.). Im letzteren Falle wurden die Zwinger durch tief gestaffelte Wallgrabensysteme ersetzt, zumindest in Teilen ihrer Funktion. Sie waren mit örtlich verfügbarem Material – Sand und Wasser – vergleichsweise leicht herzustellen und hielten den Gegner auf Abstand, ihm zugleich den Blick auf die unteren Teile der Mauer verwehrend; als Artillerieplattform waren sie freilich schlechter als umlaufende Zwinger verwendbar (vgl. 2.2.9.).
226 I. Systematischer Teil
2.2.8.1. Begriffsprobleme Die Verstärkung der Hauptmauer durch eine vorgelagerte niedrigere Mauer, die eine direkte Annäherung an den Fuß der Hauptmauer verhinderte und zugleich eine zweite Stellung für Schützen bot, war keineswegs eine Erfindung des Mittelalters. Schon bei antiken Befestigungen in Mesopotamien oder Ägypten findet man dasselbe Prinzip – man denke etwa an die Mauern von Babylon, die Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr.) erbaute. Im antiken und frühmittelalterlichen Europa spielte es spätestens bei griechischen und byzantinischen Befestigungen eine wichtige Rolle (proteichisma = Vormauer). Eine Vorbildwirkung derartiger Bauten für die mittelalterlichen Formen liegt durchaus nahe, wenn man etwa an die berühmte „Landmauer“ von Konstantinopel denkt (um 412– 422), die nicht erst ab 1204 berühmt war, als sie von einem Kreuzfahrerheer bezwungen wurde (Abb. 172). Dennoch ist es innerhalb einer Baugeschichte der mittelalterlichen deutschen Stadtbefestigungen eine der schwierigsten Aufgaben, die Anfänge und die Ausbreitung der umlaufenden Zwinger zu erhellen. Theoretisch kann man die Fragestellung zwar von zwei Seiten angehen, nämlich von den Schriftquellen her einerseits, von den Baubefunden andererseits; leider aber treffen beide Ansätze auf ganz erhebliche Schwierigkeiten. Nur auf den ersten Blick nämlich scheint zwischen der Bauform und ihrer Bezeichnung eine einfache Beziehung zu bestehen: Zwei in geringem Abstand parallel laufende Mauern „zwängen“ den dazwischenliegenden Raum ein, wie in einer Schraub-„Zwinge“. Wir haben es also mit einer die bauliche Realität beschreibenden Anwendung des Wortstammes „twing(en)“ (= einzwängen, eng begrenzen) zu tun. Wenn dies bereits die vollständige Wahrheit wäre, so gäbe es begrifflich kein Problem – aber leider trifft man in der Realität verschiedentlich auf Fälle, die ganz anders liegen. Gemeint sind Städte, in denen wir noch heute Straßennamen wie „Zwinger“ (Oberriexingen), „Zwingerstraße“ (Heidelberg, Babenhausen), „Zwingergasse“ (Weil der Stadt), „Zingelstraße“ (Gartz), „Am Zwinger“ (Greußen) oder „Am Zingel“ (Dillenburg) finden, während jedoch je-
der Hinweis auf einen ehemals vorhandenen Zwinger fehlt. In diesen Fällen unterstreicht eine weitere Beobachtung, dass wir es nicht mit einem Zwinger im Sinne einer „Vormauer“ zu tun haben können: Die so genannten Straßen liegen nämlich durchweg nicht etwa feldseitig vor der Hauptmauer – wo sie theoretisch vor oder auf einem ehemaligen Zwinger gelegen haben könnten –, sondern vielmehr stets innerhalb der Hauptmauer, entweder als Mauergasse direkt hinter ihr oder sogar durch eine Grundstücksreihe von der Mauer getrennt (Weil der Stadt, Babenhausen, Gartz). Von dort, wo diese „Zwingerstraßen“ verlaufen, hätte man also den außerhalb der hohen Hauptmauer liegenden Zwinger nicht einmal dann sehen können, wenn es ihn entgegen unserer Erkenntnis doch gegeben hätte! Hier bleibt im Grunde also nur eine einzige Erklärung: Das Wort „Zwinger“ oder „Zingel“ muss früher noch etwas anderes als Vormauer bedeutet haben. Und dies ist in der Tat der Fall, wie von der Germanistik schon früh dargelegt, aber von der architekturgeschichtlichen Forschung in seiner Bedeutung bisher kaum verstanden wurde. Das ab 1854 erschienene Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm belegt nämlich, dass sich schon im Mittelalter zwei Wortstämme vermischt haben, die uns hier angehen. „Zingel“, abgeleitet vom Altfranzösischen „cengle“ bzw. letztlich vom lateinischen „cingulum“ (= Gürtel), meinte anfangs die Stadtmauer als solche, aber auch eine Umwehrung des Raumes vor dem Stadttor oder gar noch weiterer Gebiete. „Zwinger“, oder alemannisch-schweizerisch „Zwingolf“, hingegen, abgeleitet aus dem germanischen Stamm „zwingen“ (auch „twinger“ oder gar „schwinger“), meint – nachdem anfangs vielleicht nur ein rechtlicher Zwang so genannt wurde, nämlich ein Bauverbot für das Vorfeld der Befestigung – spätestens seit der Zeit um 1400 einen zwischen Mauern „eingezwängten“ Raum. Der für den Architekturhistoriker bedeutsame Unterschied zwischen beiden Begriffen – im ersteren Falle ist nur ein Mauerzug oder „umgürtendes“ Element belegt, im letzteren aber zwei Mauern eng hintereinander – fiel schon im 15. Jahrhundert der Verwechslung der beiden Worte zum Opfer, wie das grimmsche Wörterbuch an vielen Beispielen demonstriert.
Im späten 19. Jahrhundert jedoch, als man zunehmend um exakte Terminologie bemüht war, wurde „Zwinger“ im bisherigen Sinne definiert, während „Zingel“ weitgehend in Vergessenheit geriet. Das hatte zur Folge, dass der gelegentlich auftretende Straßenname „Am Zingel“ oft zum „Zwinger“ verschlimmbessert wurde – mit der weiteren Folge, dass nun scheinbare Hinweise auf ehemalige Zwinger auch dort entstanden, wo es in Wahrheit nie welche gegeben hat, sondern lediglich eine einfache Stadtmauer, eben einen „Zingel“. Noch komplizierter wird die Lage durch die Erkenntnis, dass das oben bewusst abstrakt formulierte „umgürtende Element“, eben der „Zingel“, offenbar nicht unbedingt eine Mauer gewesen sein muss. Im norddeutschen Raum, wo Wälle und Wasser eine erheblich größere Rolle in der
Abb. 172 Konstantinopel, die Landmauer der byzantinischen Hauptstadt – hier in schematischer Darstellung – entstand in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts und wurde wegen ihres aufwendigen Systems mit zwei umlaufenden Zwingern bis ins Spätmittelalter als kaum überwindlich und vorbildhaft angesehen (W. Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls, 1977).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
227
Befestigung spielten und vielfach gar keine Mauern vorhanden waren, kann „Zingel“ auch etwas grundsätzlich anderes als eine Mauer gemeint haben, insbesondere einen (Wasser-)Graben. In diese Richtung wird man etwa denken müssen, wenn in Altentreptow 1360 der Raum „tuschen der Zyngel und der Muren“ erwähnt wird; will man sich hier unter „Zingel“ nicht eine Palisade oder Ähnliches vorstellen, dann wird der „Zingel“ wohl den Wassergraben gemeint haben. Auch etwa in Wilster, Meldorf und Itzehoe, alles kleineren Städten der norddeutschen Tiefebene, werden, meist noch im 14. Jahrhundert, „Zingel“ erwähnt, ohne dass wir genau wüssten, was gemeint ist. Auch hier sind Ringgräben die überzeugendste Antwort, aber letztlich tut man gut daran, das Wort einfach mit „Umwehrung“ oder „Befestigungslinie“ zu übersetzen. Und da, wie gesagt, das 19. Jahrhundert vielfach aus „Zingeln“ „Zwinger“ gemacht hat, kann man letztlich nur festhalten, dass auch der Wortbestandteil „Zwinger“ in Straßennamen allein keinen Beweis dafür darstellt, dass es einen solchen im baulichen Sinne gegeben hat. Ein weiterer Verwirrungseffekt sprachlicher Art besteht darin, dass auch das Wort „Zwinger“ im Spätmittelalter nicht immer das bedeutet hat, was wir seit dem späten 19. Jahrhundert darunter verstehen. Die Verwechslung mit einem befestigten Außenwall – etwa in Schmalkalden (1429–64) – ist dabei noch begreiflich, denn von der Feldseite her konnte man einen inneren Graben leicht übersehen und damit den Außenwall für einen breiten Zwinger halten. Aber im norddeutschen Raum findet man außerdem gelegentlich das Phänomen, dass Rondelle als „Zwinger“ bezeichnet wurden (Goslar 1517 „Dicker Zwinger“; Buxtehude 1539 „Zwinger“ am Marschtor; Rostock 1526–32; Münster; Emden hatte zehn „Zwinger“). Hier wurde die Bezeichnung offenbar metaphorisch verwendet, sie sollten den Angreifer durch die Kraft ihrer Geschütze und ihre imposante Gestalt „bezwingen“. Und ein weiterer Begriff für einen Zwinger, der vor allem von den „preußischen“ Ordensburgen bekannt ist, ist jener des „Parchams“; das Wort ist letztlich offenbar persischen Ursprungs, „Barbakane“ eine Variante davon. In der Literatur über Stadtmauern konnte ich das Wort „Parchen“ nur 1471 / 88 in Nams228 I. Systematischer Teil
lau (Schlesien) finden; dort erwägt man eine slawische Variation des deutschen „Pferch“. Nach diesen sicherlich verwirrenden, aber unvermeidlichen Ausführungen drängt sich natürlich die Frage auf, ob denn „Zwinger“ im Mittelalter überhaupt in dem Sinne verwendet wurde, den wir seit den definitorischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts kennen? Soweit man dies aus der bisher vorliegenden Literatur erfahren kann – künftige Untersuchungen des Quellenmaterials mögen mehr zutage fördern –, war dies nur selten der Fall. Neben Erwähnungen von Zwingern in Naumburg 1449, in Dillingen 1498 und Freiberg 1507 / 1514 („quinger“) scheint dabei ein Zitat aus einer würzburgischen Chronik (Lorenz Fries) besonders wertvoll, das sich auf das 15. Jahrhundert bezieht: „Derselben Zeiten hat man in unseren Landen angefangen, die Zwinger mit den Thürnen aus den Gräben zu führen, das vor[mals] nit gar so gemein war.“ Das Interessante an der Aussage ist dabei, dass sie sich, wie zu zeigen sein wird, recht exakt mit dem deckt, was auch der Baubefund belegt (vgl. 2.2.8.3.) – nämlich, dass Zwinger mit Türmen bis zum 15. Jahrhundert unüblich waren. Die Erwähnung der Türme ist dabei ein wichtiger Punkt, denn in der Tat muss man auch unter baulichen Gesichtspunkten unterscheiden zwischen den eindrucksvollen Zwingern mit regelmäßig vorspringenden Streichwehren einerseits und Zwingermauern ohne Streichwehren, deren Datierung schwerer fällt, andererseits. Warum Zwinger in den Quellen so selten als gesonderte Bauteile erkennbar sind, können wir kaum klären. Grundsätzlich darf man nicht vergessen, dass die Schriftüberlieferung ausgesprochen lückenhaft ist und dass ein Großteil selbst der erhaltenen Ratsbeschlüsse, Rechnungsbücher und dergleichen auf eindeutige Begriffe wenig Wert legte; es ging dort eher um Fuhrwerke, Handwerkerstunden, Mauerwerksvolumina und ähnliche quantitative Angaben bzw. Kosten. Man darf ferner erwägen, dass der große Umfang und die erhebliche Dauer der Arbeiten die Entstehung eines Zwingers vielleicht nicht als einheitliche Baumaßnahme ins Bewusstsein dringen ließ; aber dies sind eher Vermutungen. In manchen Fällen, zumeist in Bayern, ist aus dem Gesamtzusammenhang heraus erkennbar, dass die Quellen von Arbeiten am Graben sprechen, wenn in
Wahrheit der Zwinger gemeint ist. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn der Bau einer Zwingermauer ging in der Regel mit einer aufwendigen Neugestaltung des vorgelagerten Grabens einher – er wurde mindestens verbreitert und vertieft sowie in der Regel mit einer gemauerten Contrescarpe versehen. Sicherlich bedeutete das in der Praxis oft, dass ein bestehender Graben teilweise oder ganz unter dem Zwinger verschwand und ein neuer Graben weiter außen ausgehoben werden musste. Der dazu nötige Aufwand vor allem an Erdarbeiten war fraglos so hoch, dass er den Auftraggebern, dem Rat der Stadt, womöglich wirklich als Arbeit am Graben erscheinen konnte – die Zwingermauer wäre in dieser Sicht quasi als die andere, stadtseitige Stützmauer des neuen Grabens verstanden worden. 2.2.8.2. Anfänge Nachdem umlaufende Zwinger in den Schriftquellen also kaum je sicher zu identifizieren sind, kann man Erkenntnisse zu ihrer Entstehungszeit und insbesondere zu ihren Anfängen a priori fast nur vom Baulichen erwarten, also von erhaltenen Resten, archäologischen Befunden und gegebenenfalls der indirekten Dokumentation verschwundener Bauten, also vor allem älteren Plänen und Darstellungen. Auch auf diesem scheinbar so viel eindeutigeren Feld muss man jedoch einen Hinweis auf verbreitete Irrtümer an den Anfang stellen. Keineswegs alles nämlich, was in der beschreibenden und archäologischen Literatur als Zwinger angesprochen wird, war tatsächlich ein Zwinger! Der Grund für recht häufige Über- und Fehlinterpretationen liegt letztlich in der Einfachheit der baulichen Form: Zwei parallel laufende Mauern sind ein häufiges, geradezu banales Phänomen. Dass es sich dabei um einen umlaufenden Zwinger und um nichts anderes handelte, kann letztlich nur aus Details und weiteren Umständen abgeleitet werden: aus der Länge der Mauerzüge, aus dem Vorhandensein von Wehrgängen und Streichwehren, aus der Höhe beider Mauern, aus dem vorgelagerten Graben usw. All dies ist aber in den meisten Fällen nicht unverändert erhalten, und so kam es öfter zu Fehlinterpretationen, gefördert durch die Tatsache, dass die Forscher fast immer nur „ihre“ Stadt untersuchten und keine vergleichende Forschung betrieben.
Einer der häufigsten Irrtümer, der auf diesem Gebiet vorkommt, war die Fehldeutung von Gräben. Wenn ein heute nicht mehr bestehender Graben eine gemauerte Contrescarpe besaß, kann man die Darstellung dieser Contrescarpe etwa auf Festungsplänen des 16.–18. Jahrhunderts durchaus mit der Darstellung eines Zwingers verwechseln; zwar sollte es eigentlich irritieren, dass im Fall dieser Interpretation der Graben fehlt, aber das kann von Anfängern übersehen werden. Auch die Ansprache der Mauergasse als „Zwinger“ kommt bei der Interpretation älterer Pläne vor, und sogar das Missverständnis, eine Reihe von Parzellen an der Innenseite der Mauer sei ein Zwinger gewesen. Am verblüffendsten freilich waren für mich jene seltenen Fälle, bei denen ein örtlicher Forscher einen gefütterten Graben zum Zwinger erklärte, obwohl er voll erhalten und begehbar ist! Hier genügte offenbar die allzu technisch verstandene Definition zweier paralleler Mauern und es wurde völlig übersehen, dass der Raum zwischen beiden weit unter dem Geländeniveau liegt und dass die feldseitige der beiden Mauern daher keine Wehrfunktion übernehmen konnte. Den Anfängen des Zwingers am nächsten könnten uns nach alledem einige Grabungsergebnisse jüngerer Zeit bringen, die zu belegen scheinen, dass deutsche Stadtmauern ab dem 13. Jahrhundert, womöglich schon ab dessen Mitte, Zwinger besaßen. So wurde insbesondere ein in Ravensburg am Hang des Burgberges ergrabener doppelter Mauerzug vom Ausgräber in die Mitte des 13. Jahrhunderts datiert; aber angesichts des problematischen, steil ansteigenden Geländes kann man meines Erachtens nicht sicher ausschließen, dass es sich bei dem äußeren Mauerzug um die Contrescarpe des Grabens gehandelt hat. Auch in Neuss, wo ein Mauerzug vor der Hauptmauer als Zwinger angesehen und mit archäologischen Mitteln noch ins 13. Jahrhundert datiert wird, fehlt letztlich der Beweis, dass diese zweite Mauer wirklich verteidigungsfähig war, also Wehrgang und / oder Scharten besaß; es könnte sich auch um eine innere Stützmauer des Grabens gehandelt haben, die die innere Grabenkante nicht überragte. Und ähnlich vorsichtig wird man auch den Befund in Biberach (Oberschwaben) betrachten, wo eine ebenfalls noch ins 13. Jahrhundert datierte Mauer 3,50 m vor 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
229
der ersten Mauer der Altstadt ergraben wurde; hier muss man zusätzlich erwägen, ob diese Mauer nicht auch eine Sicherung gegen Unterspülung durch einen knapp davor verlaufenden Bach dargestellt haben kann. Diese Beispiele – alle durch Grabungen mit moderner Methodik gewonnen – belegen also ein weiteres Mal die besondere Problematik, umlaufende Zwinger zu datieren. Die Datierung mit archäologischen Methoden kann zwar in der wegen des Quellenmangels schwierigen Lage ein wenig weiterhelfen, aber auch sie – ohnehin nur selten zu gewinnen, weil aufwendig – führt in der Regel nur zu recht groben Datierungen, die die Archäologen dann gerne durch Heranziehung historischer Daten zu konkretisieren versuchen, was aber keine wirkliche Verbesserung ist. Denn es bleibt zu betonen, dass eigentlich eine sehr weitgehend erhaltene Situation nötig ist, um sicher sagen zu können, dass zwei parallele Mauern ein Zwinger waren und nichts anderes; aber gerade diese weitgehend, insbesondere auch oberirdisch erhaltene Situation liegt im Falle archäologischer Ergebnisse typischerweise kaum je vor. Dieses in seinen Aussagen eher beschränkte Kapitel sei jedoch mit zwei Schriftquellen abgeschlossen, die zumindest interessante Schlaglichter werfen. Jiří Kuthan machte in seinem aus dem Tschechischen übersetzten Buch über Ottokar II. (1253–78 König von Böhmen, zeitweise auch Herrscher in Teilen des heutigen Österreich) darauf aufmerksam, dass dieser in einer wohl nach 1261 entstandenen Urkunde für die Stadt Kolín eine Ummauerung anordnete, die auch einen 20 Ellen (mindestens 10 m!) hohen „barchanus“ umfassen sollte; die Beschreibung lässt keinen Zweifel, dass dieser Begriff – vgl. den „parcham“ des Deutschordensstates – einen (turmlosen) Zwinger meinte, und weitere Urkunden zeigen, dass unter diesem Herrscher auch weitere Städte in ähnlichen Formen ummauert wurden. Damit haben wir einen recht frühen Beleg für umlaufende, turmlose Zwinger aus einem zwar nicht deutschsprachigen, aber immerhin zum Heiligen Römischen Reich gehörenden und dessen Politik und Kultur durchaus beeinflussenden Gebiet. Dass eine derartige frühe Quelle aber keineswegs zu dem Schluss verleiten darf, dass die Entwicklung anderswo ähnlich früh stattfand, zeigt 230 I. Systematischer Teil
eine zweite, rund 70 Jahre jüngere Quelle aus Görlitz, das sehr nahe der böhmischen Grenze liegt. 1331 nämlich halfen die Untertanen eines dortigen Klosters, die Stadt zu „umzäunen“; dafür durften sie künftig im Kriegsfalle, falls in der Stadt selbst kein Platz mehr wäre, „zwischen der stadtmaure unnd demselben Zewne“ Zuflucht suchen. Der Zaun umzog folglich in einigem Abstand die Stadtmauer – wie ein Zwinger, nur aus anderem Material. Dass er Vorläufer eines Zwingers war, nicht nur in Görlitz, sondern ganz allgemein in vielen Fällen, ist daher eine naheliegende Vermutung. Das leichter zu beschaffende und zu verarbeitende Material Holz hat im Befestigungswesen immer eine wichtige Rolle gespielt, und es war ja auch ein verbreiteter Vorläufer der (Haupt-)Mauern selbst gewesen (vgl. 2.2.1.3.). Dass es auch gerne im Sinne einer zusätzlichen, weniger aufwendigen Sicherung des Vorfeldes verwendet wurde, ist folglich recht wahrscheinlich, auch wenn wir es im Einzelfalle aus den für das Material typischen Gründen kaum je nachweisen können. Holz verrottet rasch und ein archäologischer Nachweis ist nur unter besonders glücklichen Voraussetzungen möglich; insbesondere ist er dann im Prinzip unmöglich, wenn Zaun oder Palisade später durch eine Zwingermauer ersetzt wurden. 2.2.8.2. Turmlose Zwinger Die Ausführungen über Begrifflichkeiten, Schriftquellen und archäologische Befunde haben wohl hinreichend verdeutlicht, wie wenig Sicheres wir bisher über Aufkommen und Entwicklung des umlaufenden Zwingers bei deutschen Stadtbefestigungen sagen können. Wir verfügen über gewisse archäologische Indizien, dass erste Anlagen dieser Art schon vor 1300 existiert haben mögen, und eine vereinzelte Schriftquelle (Lorenz Fries) unterstreicht den noch näher darzulegenden Eindruck aus dem Baubestand, dass die Zwingerform mit Türmen bzw. Streichwehren erst im 15. Jahrhundert aufkam. Es bietet sich daher an, die erhaltenen bzw. erforschten Beispiele pragmatisch nach dem Fehlen oder Vorhandensein von Streichwehren aufzuteilen, ausgehend von der Annahme, dass sich unter den turmlosen Zwingern besonders alte Beispiele befinden dürften, die unsere Einschätzung der Anfänge verbessern können.
In der Schweiz besaßen jüngere Mauerringe von Bern und Freiburg im Üechtland (1255–65 bzw. 1277–80) innere Grabenstützmauern, die mehrere Meter vor der Hauptmauer lagen; sie verweisen ein weiteres Mal auf die Fragestellung, ob solche Befunde nur unbefestigte Stützmauern belegen oder doch echte Zwinger. Dass wir hier doch den ersten Fall zu vermuten haben, darauf weist die Beobachtung, dass Zwinger sonst bei den Schweizer Städten ausgesprochen selten und gegebenenfalls bescheiden waren. Nennenswert sind etwa ein ganz kurzes Zwingerstück vor der äußersten Mauer von Freiburg und späte Anlagen in Diessenhofen und Erlach. In Zofingen und Aarau ist interessanterweise durch Grabung erwiesen, dass innere Grabenstützmauern erst nachträglich zu Zwingern ausgebaut wurden. In Österreich besaßen durchaus einige frühe und wichtige Stadtmauern wie Wien, Hainburg, Wiener Neustadt oder Bruck an der Leitha turmlose Zwinger, aber ihr genaues Alter kann hier wie in weiteren Fällen bisher nur aus der Art des Mauerwerks abgeleitet werden (Abb. 173). Friesach, dessen wohlerhaltene Mauer erst nach 1300 entstand, besitzt noch Reste eines turmlosen Zwingers mit Zinnen und belegt damit, dass diese Minimalform durchaus nicht ins 13. Jahrhundert zurückgehen muss (Abb. 174). Ein archäologisch erfasster turmloser Zwinger vor der Ostseite von Innsbruck dürfte nach den bisherigen Indizien immerhin in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückgehen. Auch im Elsass und in Baden sind nur wenige und in aller Regel schlecht datierte turmlose Zwinger belegbar. Erwähnenswert sind etwa der vermutlich um 1300 entstandene in Rappoltsweiler und der frühestens um 1400 entstandene in Westhofen (Elsass); die meisten der Region dürften frühestens ins 14., eher noch ins 15. Jahrhundert gehören. Im fränkischen und bayrischen Raum sind einige besser datierbare Beispiele turmloser Zwinger zu nennen, die aber ebenfalls nicht vor das 14. Jahrhundert zurückgehen. In Schwäbisch Hall muss der Zwinger der Altstadt eigentlich vor 1323 entstanden sein, weil damals bereits davor liegende Vorstädte ummauert wurden, und ähnliche Zusammenhänge sind in Rothenburg und Weißenburg zu beobachten. In Rothenburg ob der Tauber muss der Zwinger vor der (um 1330–40 begonnenen) äußeren
Abb. 173 Hainburg (Niederösterreich), die romanische Stadtmauer (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) wurde offenbar von Anfang an von einer (turmlosen?) Zwingermauer begleitet, von der allerdings nur wenig erhalten ist (R. Woldron, ungedrucktes Gutachten).
Abb. 174 Friesach (Kärnten), die Hauptmauer (gegen 1300) und die vorgelagerte Zwingermauer mit (restaurierten) Zinnen (14. Jahrhundert?) an der Südseite der Stadt. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
231
Mauer jedenfalls vor 1376 entstanden sein, weil in diesem Jahr bereits die Ummauerung der davor liegenden Spitalvorstadt erwähnt wird; der Zwingerteil in dieser Vorstadt ist ohne Hinweise auf Streichwehren, der weiterhin dem freien Feld zugewandte erhielt diese offensichtlich im 15. Jahrhundert. Auch in Weißenburg ist ein turmloser Zwinger vor der Südmauer der Altstadt belegbar bzw. erhalten, vor der dann 1372 / 76 eine Stadterweiterung ummauert wurde. 1390 ist in Ochsenfurt die Rede vom Bau eines Zwingers; von der ungewöhnlichen Anlage an der Bergseite, bis zu 10 m hoch, mit überwölbtem Wehrgang und hohen Erkertürmen, ist Wesentliches erhalten. In Nördlingen war der Zwinger 1401 im Bau, aber zunächst ohne Streichwehren. Schließlich ist der Nordzwinger des oberbayrischen Tittmoning wohl um 1420, spätestens um 1470 zu datieren, und auch im oberpfälzischen Amberg entstand der turmlose Zwinger wohl ab dem frühen 15. Jahrhundert. In der Pfalz gibt es nur wenige und in der Regel undatierbare turmlose Zwinger; etwa in Neuleiningen sind Reste des 15. Jahrhunderts erhalten, in Speyer bleibt letztlich unklar, ob ein Zwinger vorhanden war. Und weiter nördlich im Bereich des Rheinischen Schiefergebirges sieht es keineswegs besser aus, wenn man Koblenz ausnimmt, wo vor der Mauer der Stadterweiterung vor 1276 einer der frühen turmlosen Zwinger des deutschen Raumes belegbar ist. Sonst verzichteten die in der Regel kleinen Städte der Region so gut wie völlig auf Zwinger; Wittlich und Beilstein boten höchst bescheidene Ausnahmen, in Trarbach handelte es sich eher um eine kleine Stadterweiterung. Sobernheim erhielt 1403 Fristverlängerung für den Bau eines Zwingers, aber es bleibt unklar, ob dieser letztlich ausgeführt wurde. Der archäologisch erfasste, aber in seiner Deutung zweifelhafte Fall Neuss ist schon diskutiert worden; zu ergänzen bleibt, dass die vorgelagerte Mauer im 14. Jahrhundert rechteckige Streichwehren erhielt – ein seltener Fall im Flachland – und spätestens damit unzweifelhaft zum Zwinger wurde. Im nord- und ostdeutschen Raum sind Zwinger generell selten und besonders turmlose Zwinger sind kaum zu nennen. In Hessen war das zwingerartige Vorwerk um einen Brunnen 232 I. Systematischer Teil
in Ortenberg ein seltener Sonderfall, in Thüringen sind unerforschte Zwinger von Erfurt und Arnstadt zu nennen, schließlich eine Anlage in Reichenbach in Schlesien (Abb. 474), die nicht vor dem 14. Jahrhundert entstanden sein kann. Eine bemerkenswerte Ausnahme – sowohl auf den Osten des mittelalterlichen deutschen Raumes bezogen als auch im Flachland – stellte das Ordensland Preußen dar. Hier findet man nicht nur einen erstaunlich frühen Sonderfall wie Thorn, wo der turmlose Zwinger schon 1293 als „kleinere Mauer“ der Altstadt erwähnt wird, sondern es gibt auch sonst Reste turmloser Zwinger (Allenstein, Braunsberg, Graudenz, Rastenburg) oder Fälle ohne Reste, bei denen diese aber noch indirekt belegbar sind (Danzig, Elbing, Mewe, Neidenburg, Preußisch Holland). Bedenkt man, dass der Deutsche Orden auch bei seinen ausgesprochen innovativen Burgen von Anfang an, also schon vor und um 1300, turmlose Zwinger baute und dass er für diese Anlagen das aus dem Persischen stammende Wort „parcham“ verwendete, so drängt sich hier wirklich eine „orientalische“ Erklärung auf – der Orden dürfte Zwinger wirklich in der Region seiner Entstehung, im Vorderen Orient, kennengelernt haben, sodass er in der Lage war, sie auch in Mitteleuropa früher und konsequenter als andere Bauherren zu verwenden. Zusammenfassend kann man zu den turmlosen Zwingern also festhalten, dass sicher vor 1300 entstandene Beispiele bisher ausgesprochen selten sind (Hainburg, Wiener Neustadt, Koblenz, Thorn; Neuss?). Die Mehrzahl der noch identifizierbaren, ohnehin nicht allzu zahlreichen Fälle waren bescheidene Anlagen kleiner Städte, die ins 14. oder eher erst ins 15. Jahrhundert gehören. Der Normalfall des turmlosen Zwingers war also sicherlich nicht Ausdruck früher Entstehungszeit, als man sich noch auf das Nötigste beschränkte, sondern vielmehr eine Folge begrenzter Mittel von Städten, die im Zeitalter schon weitverbreiteter Zwinger zwar nicht völlig auf einen solchen verzichten wollten, die aber eine konsequent mit Streichwehren ausgestattete Anlage nicht finanzieren konnten. Einen Ausnahmefall finden wir lediglich in den Städten und Burgen des Deutschen Ordens, der hier offenbar wirklich ein aus dem Orient stammendes Sonderwissen einsetzte.
Abb. 175 Streichwehren verschiedener Art und Größe an Zwingern: links Nördlingen (Bayerisch Schwaben), der 1644 / 45 ausgebaute „Reißturm“, turmartig groß mit „Hals“, rechts Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), Streichwehr in Erkerform.
2.2.8.3. Zwinger mit Streichwehren Wie zu Beginn des vorigen Kapitels erklärt, werden die umlaufenden Zwinger hier im Rahmen einer rein formalen Gliederung vorgestellt – zuerst die einfache, dann die komplexere Form, also zunächst Zwinger ohne Streichwehren, dann jene mit Streichwehren. Dieses ahistorische Prinzip wurde deswegen gewählt, weil wir über keine Kriterien verfügen, die uns einen bestimmten Gang der Entwicklung nahelegen würden. Immerhin haben wir den schon zitierten Hinweis der Chronik des Lorenz Fries, nach der Zwinger mit „Türmen“ vor dem 15. Jahrhundert unüblich gewesen seien – einen Hinweis also, den wir angesichts seiner Vereinzelung und räumlichen Begrenztheit nicht überschätzen sollten, der aber doch immerhin belegt, dass auch manche Zeitgenossen schon das Fehlen oder Vorhandensein von Streichwehren für ein zentrales Merkmal von Zwingeranlagen hielten. Zunächst sei der Begriff der „Streichwehr“ erläutert, der ja aus dem neuzeitlichen Festungsbau stammt und hier für das Spätmittelalter quasi rückwirkend verwendet wird. Die in ge-
wissen, halbwegs regelmäßigen Abständen vor die Zwingermauer vorspringenden Bauten mit Schießscharten (Abb. 175) werden vom Betrachter in erster Linie analog zu den Türmen der Hauptmauer wahrgenommen, weil sie wie diese eigenständige Baukörper mit deutlich größerer Höhe als Breite sind; in der Tat besaßen sie meist zwei bis drei Geschosse, oft mit Wölbungen, von denen in der Regel aber alle bis auf das oberste unter dem Niveau des Zwingers lagen. Dies zeigt, dass ihre Funktion bei aller formalen Ähnlichkeit eine ganz andere als die der Türme war, denn in völligem Gegensatz zu diesen überragten sie das natürliche Niveau des (Vor-) Geländes nicht oder kaum. Aus ihren tief liegenden Scharten konnte daher fast nur der Graben beschossen bzw. seitlich „bestrichen“ werden. Insoweit war das Aufkommen von Streichwehren Ausdruck eines aktiveren und besser durchdachten Verständnisses von Verteidigung, das mit der zunehmenden Verbreitung von Feuerwaffen zu tun hatte – der Graben wurde nicht mehr nur als Annäherungshindernis verstanden, sondern darüber hinaus als ein Ort, an dem der Angreifer 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
233
operieren konnte und den man daher gegen sein Eindringen sichern musste. Bereits bei den turmlosen Zwingern (vgl. 2.2.8.2.), also dem weniger spektakulären und offenbar auch weniger verbreiteten Phänomen gegenüber den Zwingern mit Streichwehren, war festzustellen gewesen, dass sich ganz im Osten des deutschen Sprachraumes, und zudem im sonst fast zwingerfreien Flachland, eine unerwartete Dichte derartiger Anlagen feststellen ließ, nämlich im Ordensland Preußen. Und es war dort auch schon eine weitere These erwähnt worden, die dieses Sonderphänomen mit der Herkunft des Deutschen Ordens in Verbindung bringt. Im Heiligen Land gegründet und schon ab den 1220er / 30er Jahren im Land der Pruzzen aktiv, gewann sein Steinburgenbau in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und der Bau steinerner Stadtbefestigungen im Laufe des 14. Jahrhunderts an Dynamik. Dass der Orden ein direkt aus dem Orient importiertes Wissen über Zwinger anwandte, hat daher durchaus etwas für sich, auch wenn unmittelbare Beweise aus den Quellen fehlen; es sei immerhin daran erinnert, dass der Sonderbegriff „parcham“ für die Zwinger der Ordensburgen in der Regel von einem persischen Wort abgeleitet wird, das „Wall“ oder „Schießscharte“ bedeutet (und auch als „Barbakane“ weiterlebt). Eine zweite „östliche“ Anregung für Zwinger – nun für die jüngere Form mit Streichwehren – könnte von den hussitischen Feldzügen
im Osten des süddeutschen Raumes gekommen sein. Eine wirkliche Klärung dieser These ist hier unmöglich, sie könnte nur in Böhmen selbst erfolgen, durch Forscher mit direktem Zugang zu den tschechischen Quellen und den Bauten. Vom heutigen deutschen Forschungsstand her und für die Zwecke des vorliegenden Buches muss notgedrungen die Beobachtung genügen, dass in jenen deutschen Ländern, die im Westen und Norden an Böhmen grenzten, die von den hussitischen Zügen betroffen waren und die in der zweiten Jahrhunderthälfte dann auch zu den architektonisch produktivsten des deutschen Raumes gehörten, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewisse Phänomene auftraten, die man auf diese hussitische Anregung zurückführen kann. Dies gilt für die Oberpfalz und für Franken, für Sachsen und für Schlesien, also eben jene Länder, die in der Hauptsache Ziel hussitischer Züge waren; sie werden daher hier an den Anfang gestellt. Im regionalen Teil dieses Buches, Kapitel „11. Oberpfalz“, werden Beispiele für Zwinger mit Streichwehren genannt, die bereits ab den 1420er Jahren entstanden, in wichtigen Städten wie Nabburg, Cham und Amberg, vielleicht auch in Regensburg und weiter westlich, in Franken, auch in Würzburg. Vor allem in der Oberpfalz erhielten in dieser Zeit beachtlicherweise aber auch viele kleine Städte derartige Zwinger. Den Höhepunkt dieser Anlagen, auch bezüglich der Erhaltung, bildet Nürnberg, auch
Abb. 176 Nürnberg, Hauptmauer und Zwinger, nach Hartmann Schedel und rekonstruierender Schnitt nach August von Essenwein. Der Zwinger entstand wohl um / nach 1400 (Holzschnitt aus der „Weltchronik“, 1493, Ausschnitt; Handbuch der Architektur, 2. Teil, 4. Bd., H. 1, Die Kriegsbaukunst, 1889).
234 I. Systematischer Teil
Abb. 177 Bautzen (Sachsen), ein Abschnitt der inneren Stadtmauer mit drei runden Streichwehren mit „Hals“ (rechts ohne das abgebrannte Dach) und zwei Barbakanen im frühen 18. Jahrhundert. Diese Art von Streichwehren war besonders in Schlesien verbreitet (J. G. Schreiber, Budissin …, Kupferstich 1709).
wenn der Zwinger dort nicht eng datierbar ist; wahrscheinlich darf man die Nachricht, der Graben sei 1427–52 vollendet worden, auch auf den Zwinger beziehen. In ihrer ursprünglichen Gestalt – die später, wohl gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, durch Kappung, neue Brustwehren und Schießscharten an die Artillerie angepasst wurde – waren die fast durchweg rechteckigen Türme der Zwingermauer ein bis zwei Geschosse höher als deren Wehrgang (Abb. 176); auch ihr Buckelquaderwerk sorgte dafür, dass die Türme als Pendants zu jenen der Hauptmauer bzw. als zweite Mauer ganz ähnlicher Gestalt wirkten (Abb. 29). Dass einzelne Streichwehren abweichender Form – fünfeckig, abgerundet oder manieristisch „schraubenförmig“ mit entsprechend schrägen Schießscharten (Abb. 376) – erst später ergänzt wurden, darf man annehmen. Weitere erhaltene oder belegte Streichwehrzwinger in Franken gehören erst ins spätere 15. oder erst ins 16. Jahrhundert und fügen sich damit in die generelle Entwicklung des deutschen Raumes ein. Erwähnenswert scheinen etwa Möckmühl (Württembergisch Franken; um 1454–73) und Wolframs-Eschenbach (um 1463?); Wertheim erhielt seinen Zwinger wohl erst um 1500, ähnlich wie vermutlich Dinkelsbühl, wo die Entwicklung von rechteckigen Streichwehren zu runden im mittleren 16. Jahrhundert vonstattenging. Im kleinen Kronach sind zwei Zwingerrondelle auf 1509 und auf nach 1515 datierbar, während der verschwundene Zwinger von Mergentheim gar erst 1540–44 entstanden sein dürfte.
Sachsen hat bekanntlich durch sein intensives Baugeschehen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert einen schweren Aderlass seiner Befestigungsbauten erlebt, aber was blieb oder indirekt belegbar ist, belegt auch hier eine intensive Reaktion auf die Hussitenkriege. Die Zwinger besaßen hier oft runde und rechteckige Streichwehren nebeneinander, jedoch gab es auch Fälle mit ausschließlich runden (etwa Torgau, Löbau, Oelsnitz, Plauen). Relativ früh belegbar sind die Zwinger von Dresden (1427–31), Großenhain (nach 1429), Kamenz (ab 1432) und Löbau (1432–59?), wobei vor Ort kaum noch etwas zu sehen ist. In Bautzen, das wie Görlitz eigentlich zu Schlesien gehörte, kam der Zwingerbau spätestens etwa 1444 in Gang – damals wurde die Nikolaikirche im Nordzwinger geweiht; typisch bei dieser wohlerhaltenen Anlage sind mehrgeschossige Streichwehren, die mit langem „Hals“ vor die Mauer und den Zwinger vorspringen, die älteste ist hier 1468 / 69 datiert, die jüngste 1503. Ganz ähnlich sah der Zwinger von Görlitz aus; von den beiden erhaltenen Rondellen stammt eines von 1536. In Chemnitz ist ein Zwinger mit halbrunden Streichwehren – Nachfolger des erwähnten Zaunes von 1331 – ab 1456 belegbar. Diese Streichwehren, die nicht einfach vor die Zwingermauer vorspringen, sondern mit einem langen, überdachten Bau, den ich als „Hals“ bezeichne, an der Hauptmauer ansetzten und den Zwinger überquerten, sind ein regionaler Sonderfall (Abb. 177, vgl. Abb. 481). Neben Bautzen mit seinen mehrgeschossigen 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
235
Abb. 178 Breslau, die große Streichwehr am Ausfluss der Ohle, 1486 begonnen und ab 1967 freigelegt und rekonstruiert, „versinkt“ heute im Boden, weil der links anschließende Wassergraben verfüllt ist. Sie zeigt einerseits Kanonenscharten in den Kasematten, andererseits bezeugen die kleinen Türmchen spätgotische Formvorstellungen.
Beispielen und Görlitz gab es Streichwehren dieser Art in Zwickau (ab 1486), Zittau (1513–62?) und Pirna. Das Verbreitungsgebiet dieser Form umfasste aber nicht nur Sachsen, sondern auch Schlesien, wo allerdings gerade die Zwinger der wichtigen Städte verschwunden sind – neben jenen von Breslau und Glogau also auch die von Neiße (1417 erweitert), von Liegnitz, wo 1483 Abb. 179 München, der Holzschnitt von Hartmann Schedel (1493; Ausschnitt) zeigt die ehemals dicht gereihten rechteckigen Streichwehren des Zwingers des mittleren 15. Jahrhunderts; rechts das „Isartor“ (vgl. Abb. 164).
236 I. Systematischer Teil
ein Meister Urban an „Basteien“ beschäftigt war, oder von Schweidnitz, das 1486 „neue Mauern“ erhielt. In Breslau ist immerhin der wohl größte Bau dieser Art restauriert erhalten, und zwar am Ausfluss der Ohle: Diese wohl 1486 begonnene Streichwehr ist fast 50 m lang, besteht über einem Sockel aus Kalksteinrustika aus Backstein, besitzt Rundscharten in Hosenform und Erkertürmchen (Abb. 178). Erhaltene Zwinger findet man in Schlesien noch in Freistadt, wo sich eben die Form mit Hals mehrfach erhalten hat, ferner in Löwenberg (um 1435–94; Abb. 481) und in Bunzlau (ab 1479?), dort mit auffällig hohen Halbrundtürmen; geringe Reste gibt es noch in Namslau, wo der Zwinger 1471 und 1488 im Bau war. In Schlesien waren die Streichwehren grabenseitig stets rund. Auch im österreichischen Voralpenland gibt es einzelne Beispiele für Zwinger mit Streichwehren, die ab den 1420er Jahren entstanden, so etwa in Weitra (1426 erweitert), oder in Schärding / Inn, wo der Zwinger nach einer Inschrift ab 1429 in acht Jahren erbaut wurde. Die meisten Bauten dieser Art sind hier aber später entstanden (Freistadt, nach 1465?; Drosendorf, um 1460–90; Abb. 13) oder nicht näher datierbar (etwa Krems, Eggenburg, Retz, Ybbs). In den Alpen fehlt auch diese Form des Zwingers so gut wie völlig. In Tirol gab es rudimentäre Anlagen etwa in Innsbruck und Hall; in Glurns war ein Zwinger 1521 geplant, blieb aber weitgehend unausgeführt. Auch in der Schweiz waren die Beispiele eher selten und konzentrierten sich auf die Städte des Alpenvorlandes. In Bern etwa entstand ein Zwinger an der Angriffsseite mit sieben halbrunden Streichwehren um 1490, während die Entstehungszeiten in anderen großen Städten wie Basel oder Zürich durch spätere Umbauten und Schleifungen unklar sind. In Zofingen entstand der Zwinger mit vier Streichwehren wohl ab 1442. Weiter nördlich, in Bayern, erhielt München 1435–65 einen der aufwendigsten Zwinger dieser Art, vielleicht einer der entfernteren Ausläufer der hussitischen Vorbilder; die Streichwehren, jeweils mittig zwischen die Türme der Hauptmauer gesetzt – wie im wenig älteren Nürnberg, jedoch aus Backstein –, waren hier rechteckig und beachtliche 10 m breit (Abb. 179). Direkt von München abhängig war wohl der Zwinger im nahen
Landsberg am Lech, der aber auch einzelne achteckige Streichwehren besitzt. Weitere datierbare Beispiele im heutigen Bayern findet man etwa in Wemding, wo es rechteckige Streichwehren gab (wohl ab 1457) oder in Neuburg an der Donau, wo ein Zwinger mit runden Streichwehren 1470 erwähnt ist und damals wohl im Bau war; ein zweiter, am Hangfuß vorgelagerter entstand wohl um 1530 / 40. 1474 regelte Herzog Albrecht die Finanzierung des Zwingers von Straubing; seine erhaltenen Teile zeigen originelle Merkmale wie Wehrgangbögen und übereck gestellte rechteckige Streichwehren in Abwechslung mit runden. In Eichstätt entstand ein Zwinger mit halbrunden Streichwehren um 1488 / 94. Weiter westlich, im Oberschwäbischen, setzte die Entwicklung offenbar deutlich später ein; abgesehen von dem zweifelhaften Fall eines frühen Zwingers in Biberach (vgl. 2.2.8.2.), scheint hier Ulm der früheste Fall (um 1480 / 1500). Aussagekräftig ist Dillingen, wo der Bischof von Augsburg nach einem Vertrag von 1498 „den Zwinger mit verfasten thurnen um der Stadtmauer […]“ bereits bauen ließ. Bischof und Stadt wollten nun den Unterhalt teilen; Reste von drei runden Streichwehren sind erhalten. In Mindelheim entstand der Zwinger wohl um 1500, in Augsburg selbst aber erstaunlicherweise erst ab 1521. Weitere Fälle, die aber weitgehend verschwunden sind, waren Isny, Waldsee, Münsingen, Giengen, Mengen und Memmingen. Im anschließenden Neckarland ist die Lage unklarer; zwar gab es viele Zwinger mit runden Streichwehren, aber die Datierung ist selten zuverlässig geklärt; im wichtigen Reutlingen entstand der Zwinger vielleicht erst nach 1519. Ganz ähnlich stellt sich die Lage in Baden dar, wo es immerhin Zwinger gab, weitgehend im Gegensatz zum Elsass; und nicht viel anders steht es in der Pfalz, wo Alzey das besterhaltene Beispiel ist. In Hessen haben vor allem Städte im Odenwald und im Rhein-Main-Gebiet Zwinger bewahrt – also in dem erst spät zu Hessen gekommenen Landesteil; sie sind aber meist nur grob ins 15. Jahrhundert zu datieren –, etwa Lindenfels, Michelstadt und Steinau sowie Steinheim und Babenhausen. Herauszuheben sind erhaltene Abschnitte in Darmstadt, wo runde Streichwehren und eckige Erker ebenso abwechseln wie Varianten von Schlüsselscharten mit Schlitz-
scharten. Leider wissen wir offenbar nichts über die Entstehung der umfangreichen Zwingeranlagen von Frankfurt am Main, dafür ist der Zwinger in Butzbach um 1428–34 erstaunlich früh entstanden. Die zahlreichen kleinen, spät befestigten Städte Oberhessens hatten in aller Regel keine Zwinger. Dagegen waren Zwinger im östlich anschließenden Raum von Thüringen und SachsenAnhalt relativ verbreitet, auch wenn die in der dortigen Literatur oft erwähnten „Doppelmauern“ wohl manchmal nur eine Fehlinterpretation älterer Pläne darstellen. Erhaltene und datierbare Beispiele sind auch hier in der Minderzahl. Pößneck wurde 1424–97 ausgebaut, wozu auch ein Zwinger gehörte; erhalten sind drei Rondelle mit stichbogigen Maulscharten und kreuzförmig erweiterten Rundscharten; in Nordhausen entstand der Zwinger, von dem nur eine Streichwehr erhalten ist, ab 1455. Weitere Reste findet man noch in Jena und Neustadt an der Orla, wo die Zwingermauer turmlos um runde Ecktürme herumgeführt ist, in Langensalza und Weimar, wo Teile einer runden Streichwehr bzw. zwei Rondelle erhalten sind; in Heiligenstadt und Meiningen gab es Zwinger, von denen jedoch nichts übrig geblieben ist. In Sachsen-Anhalt ist der Zwinger von Naumburg mit seinen runden, rechteckigen und fünfeckigen Streichwehren, entstanden 1433–99, heute das besterhaltene Beispiel des Typus; Reste findet man auch in Aschersleben. Die Zwinger der bedeutenden Städte Halle und Magdeburg sind verschwunden. Im norddeutschen Flachland fehlen Belege für Zwinger mit Streichwehren so gut wie völlig und auch schon am Nordrand der Mittelgebirgszone sind sie selten. Das Fehlen in Oberhessen wurde schon angemerkt, für das Rheinische Schiefergebirge gilt Entsprechendes, wobei Blankenberg / Sieg als bemerkenswerte Ausnahme gelten muss; es besitzt einen Zwinger mit rechteckigen Streichwehren und einfachen Schlitzscharten (Abb. 103). Als Gegenstück in Westfalen ist Warburg zu nennen, das nach heutigem Kenntnisstand als einzige Stadt des Landes einen Zwinger (mit halbrunden Streichwehren) besaß. Der Hauptgrund für das weitgehende Fehlen des Bautypus im norddeutschen Raum wird sicherlich im fehlenden Steinmaterial zu suchen sein bzw. in der Möglichkeit, den Angreifer mit dem 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
237
anderen Mittel der Wall-Graben-Systeme auf Abstand zu halten (vgl. 2.2.9.). Jedoch weist die Tatsache, dass die Nordgrenze der „Zwingerzone“ schon weiter südlich bzw. im Mittelgebirgsraum lag, wohl doch darauf hin, dass es weitere Gründe für die Lage dieser Grenze gegeben haben muss – wohl die Tatsache, dass das Phänomen seinen Ursprung im Süden hatte und von dort aus nicht überall hin vordrang. Zwinger mit Streichwehren waren also im deutschen Mittelgebirgsraum ein recht verbreitetes Phänomen. Dabei traten sie ab den 1420er / 30er Jahren vor allem in einem breiten Gürtel um Böhmen herum auf, was der These Nahrung gibt, dass ihr Ursprung in Böhmen lag und dass ihre Verbreitung durch die Hussitenzüge jener Epoche erheblich gefördert wurde. Die Nordgrenze ihrer Verbreitung ist dabei weitgehend mit jener der Mittelgebirge identisch, wobei es aber auch Mittelgebirgsregionen gibt, in denen Zwinger nahezu gar nicht vorkamen; etwa das Rheinische Schiefergebirge mit seiner dünnen Besiedlung und kleinen Städten legt dabei nahe, dass es hier wieder wirtschaftliche Faktoren waren, die eine entscheidende Rolle spielten, denn die Anlage eines solchen Zwingers bedeutete selbstverständlich einen hohen Aufwand. Zusammen mit der Erweiterung des Grabens entsprach er durchaus jenem, den früher der Bau der Stadtmauer als solcher verursacht hatte. Die Einschätzung liegt daher nahe, dass diese Art von Zwinger den ersten Versuch der Städte und ihrer Baumeister darstellte, den aufkommenden Feuerwaffen entgegenzutreten. Dabei sah man offenbar die Zerstörungskraft der Kanonen noch nicht als das Hauptproblem – oder wollte es aus Kostengründen nicht sehen –, sondern vielmehr die Annäherung von Truppen. Denn die Zwinger und ihre „Türme“ schufen zunächst weder Platz für eigene größere Geschütze, noch versuchten sie, durch besonders dickes Mauerwerk oder gar Erdschüttungen den Geschossen der Angreifer Widerstand zu leisten. Zweck der Zwinger war es vielmehr, die Angreifer vom Fuß der Hauptmauer fernzuhalten, und zwar vor allem durch geschickt angeordnete Stellungen für eigene Schützen mit leichten Feuerwaffen, also Hakenbüchsen, Musketen oder Feldschlangen. Gelegentlich, wenn auch häufiger an Burgen – Festung Marienberg, Burg Prozelten, 238 I. Systematischer Teil
beide in Franken –, wurden die Untergeschosse der Streichwehren nicht nur durch Treppen oder Leitern erschlossen, sondern durch überwölbte Gänge wie etwa in Darmstadt (wo diese allerdings verblüffend niedrig sind). In den formalen Variationen der Streichwehren – anfangs wohl überwiegend rechteckig, dann aber fast überall gemischt, mit regionalen Tendenzen zur Rundform – zeigt sich neben der spätgotischen Tendenz zum malerisch Abwechslungsreichen offenbar der Versuch, die effektivste Anordnung der Scharten und Schützen zu finden. Dass Zwinger im Flachland weitgehend fehlen, wird man zwanglos davon ableiten dürfen, dass Erde, Sand und Wasser dort weit sparsamere Möglichkeiten boten, den Angreifer auf Distanz zu halten, während das enorme Mauerwerksvolumen, das ein Zwinger erforderte, dort nur sehr schwer aufzubringen war. Erst in einer späteren Phase, ab dem späten 15. Jahrhundert, begann man dann, weit größere und aufgrund ihrer Massivität auch schwer zerstörbare Aufstellplätze für eigene Geschütze zu schaffen, nämlich Rondelle aus Stein oder Erde und schließlich echte Bastionen, die aus Italien „importiert“ wurden (vgl. 2.2.11.5.). Offenbar hat das Konzept, auch bei Belagerungen schweren Geschützen die entscheidende Rolle zuzuweisen, einige Zeit zu seiner praktischen Durchsetzung gebraucht. Es sei daran erinnert, dass sich bei der Behandlung der Torzwinger (vgl. 2.2.7.) ein ganz analoger Schluss aufgedrängt hatte: Man fürchtete anfangs offenbar weniger die aus großer Entfernung heranfliegende Kanonenkugel mit ihrer Durchschlagskraft, sondern offenbar viel mehr die Masse der gegnerischen Truppen, die im Sturmangriff die Mauern erreichen und sie ersteigen oder zerstören könnten.
2.2.9. Gräben, Wälle, Palisaden und Hecken Gräben und Wälle waren von den Anfängen bis zur artilleristischen Spätzeit selbstverständliche Bestandteile der Stadtbefestigungen, wie viele erhaltene Beispiele und archäologische Befunde zeigen. Für Anlagen aus lebendem oder geschlagenem Holz hat wahrscheinlich Entsprechendes gegolten. Nur ist von ihnen sehr wenig erhalten und belegbar, weil Palisaden und Zäune, ungeschützt der Witterung ausgesetzt, nun einmal
rasch zerfallen und weil lebende Pflanzen bzw. Hecken bei Erreichen ihrer natürlichen Lebensdauer ebenfalls verschwinden. Dass schnell herzustellende Werke aus Erde oder Sand, verstärkt durch Palisaden oder Zäune, am Anfang sicherlich sehr vieler, wenn nicht sogar aller Stadtbefestigungen gestanden haben dürften, ist schon dargestellt worden (vgl. 2.2.1.2.). Hier soll es nicht nochmals um diese Anfänge gehen, sondern um Gräben, Wälle, Palisaden usw. in jener Zeit, in der die Hauptmauer aus Stein der Normalfall war und die Anlagen aus Holz und Erde lediglich Ergänzungen darstellten, die man vor dieser Hauptbefestigung anordnete, um die Annäherung des Gegners zu behindern. Das zentrale Problem bei der Erforschung der städtischen Wallgräben besteht in ihrem sehr weit gehenden Verschwinden. Die Ausdehnung der Städte besonders im 19. Jahrhundert führte dazu, dass die Wallgräben nicht nur die Kommunikation zwischen der (seit damals in der Verwaltung so genannten) „Altstadt“ und den neuen Stadtteilen behinderten und schon daher meist eingeebnet wurden, sondern dass sie darüber hinaus selbst als Reserveflächen für die Bedürfnisse des Verkehrs dienten. „Ringstraßen“ auf der Fläche der Mauern und Wallgräben sind ein Standardelement der Stadtplanung jener Epoche, nicht nur in den berühmten Fällen einer höchst repräsentativen Ausgestaltung wie vor allem in Wien, sondern in zahllosen Städten, wo sie weit unspektakulärer bis heute ihre Aufgabe erfüllen (vgl. 2.3.2.). Aus baugeschichtlicher Sicht besteht ein weiteres, ebenso wichtiges Problem der Wälle, Gräben und hölzernen Befestigungen natürlich darin, dass sie in die Entwicklung der Befestigungen nicht wirklich einzuordnen sind, weil man sie kaum je datieren kann. Wo selten genug quellenmäßige Erwähnungen dieser rein utilitären Anlagen vorliegen, geht es nicht um Details bzw. kann man nie bestimmen, auf welchen Entwicklungsstand der vielfach veränderten Gräben und Wälle sich diese Erwähnungen bezogen. Selbst archäologische Untersuchungen helfen nur gelegentlich weiter, weil man viel Glück braucht, um in einer unbesiedelten und daher in der Regel stratigraphiefreien Zone der Stadt Funde zu machen, die eine sichere Datierung ermöglichen;
Abb. 180 Nürnberg, Zwinger und Graben an der Westseite der äußeren Mauer, etwa 1860. An die Hauptmauer sind noch Wirtschaftsgebäude angelehnt, der Graben mit seiner gemauerten Contrescarpe wird als Garten genutzt (H. H. Hofmann, Die Nürnberger Stadtmauer, 1967).
immerhin kann die allgemeine Entwicklung des Stadtgebietes hier manchmal Hinweise geben. Als Hauptquelle zu diesen Anlagen bleiben also letztlich die historischen Darstellungen, mit denen sich jüngst Olaf Wagener auseinandergesetzt hat, also Pläne und Veduten, später auch Detaildarstellungen; diese setzten jedoch in halbwegs detaillierter Realitätsnähe nicht vor dem 16. Jahrhundert ein, sodass man in ihnen eigentlich frühneuzeitliche Zustände dargestellt findet, aus denen nur begrenzt und vorsichtig auf mittelalterliche zurückzuschließen ist. Wegen dieser nicht lösbaren Probleme kann die folgende Darstellung – wie schon jene der Zwinger, wo ähnliche Probleme vorliegen – nur nach formalen Aspekten gegliedert werden. Wo Beispiele zu den formalen Ausprägungen genannt werden können, bleiben diese doch notgedrungen so vereinzelt, dass eine Charakterisierung als typische Form einer Epoche nicht zu belegen ist; es steht zu befürchten, dass es auch auf Dauer bei diesem unbefriedigenden Zustand bleiben wird. Die einfachste Form des Grabens war der ungefütterte Graben mit beidseitigen Hängen, deren Steilheit vom Material abhängig war. Der Querschnitt war in der Regel u-förmig mit mehr oder weniger ausgeprägt horizontaler Sohle; der Spitzgraben, wie er typisch für römische Befestigungen war, fehlte im Mittelalter fast vollständig. Die Maße des Grabens variierten offenbar stark, 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
239
Abb. 181 Gransee, vereinfachter Schnitt durch die Wallgräben im Südosten der Stadt – ein seltener, archäologischer Befund, der leider nicht datierbar ist. Auf den später gekappten Wällen zwischen den drei Hauptgräben verliefen kleinere Gräben (von entfernten Palisaden?). Das System begann über 5 m vor der Mauer und war 52 m tief. (M. Trier in: Befestigungen brandenburgischer Städte …, 2000).
wobei man wohl davon ausgehen darf, dass die prinzipielle Entwicklung vom eher schwach ausgeprägten zum groß dimensionierten Graben ging. In Ravensburg etwa wurde archäologisch ein Graben vor der Mauer wohl des mittleren 12. Jahrhunderts nachgewiesen, der nur 3,5 m breit und 1,5 m tief war, was bedeutet, das nicht nur ein Reiter, sondern sogar ein Fußgänger ohne Weiteres darüber springen konnte. Dass so geringe Maße vor allem in der Frühzeit etwas mit rechtlichen Bestimmungen zu tun hatten – der immer wieder zitierte „Sachsenspiegel“ bewertet Gräben erst ab einer bestimmten, durch den Vorgang des Schaufelns definierten Dimension als genehmigungspflichtige „Befestigungen“ –, ist nicht ohne Grund häufig vermutet worden; leider aber sind derartige Festlegungen nie mit konkreten Fällen in gesicherte Verbindung zu bringen. In der Spätzeit, ab dem 15. Jahrhundert, erreichten die Gräben dagegen monumentale Dimensionen, wofür etwa Nürnberg ein bis heute eindrucksvolles Beispiel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bietet (Abb. 180). Wahrscheinlich vor allem aus der Erwägung, dass die Standfestigkeit der oft nur flach gegründeten Mauer (vgl. 2.2.3.3.) nicht gefährdet werden sollte, ergab sich die Überlegung, zwischen Mauer und innerem Grabenhang ein Stück flaches Gelände zu lassen, eine „Berme“. Frühe Beispiele dafür bieten etwa die schweizerischen Städte Freiburg im Üechtland (Mauer nach 1157) und Bern (erst um 1220 / 30?), wo die Gräben rund 10 m vor der Mauer lagen; diese Form kam in der Schweiz auch später noch verschiedentlich vor. Sie ist generell eher bei Kleinstädten erhalten geblieben, weil bei größeren und reicheren die spätmittelalterlichen Zwinger und Grabenvergrößerungen diesen Urzustand beseitigt haben – sofern er tatsächlich weitverbreitet gewesen sein sollte. 240 I. Systematischer Teil
Ein ungefütterter Graben war kein allzu wirkungsvolles Annäherungshindernis, denn seine beidseitigen Hänge können zwar die Annäherung nicht berittener Angreifer erheblich verlangsamen – vor allem, wenn sie mit Gerät wie etwa Leitern belastet waren –, aber nicht wirklich verhindern. Selbst wenn die Gräben Wasser enthielten, konnte man sie relativ leicht auffüllen oder den Winter mit seiner Eisbildung abwarten; und Palisaden, Zäune und Hecken waren nicht unempfindlich gegen Feuer, Hacken und Äxte. Die schützenden Eigenschaften der Wallgräben konnte man prinzipiell auf zwei Arten verbessern: Man konnte quantitativ vorgehen, also Wälle und Gräben mehrfach hintereinander staffeln, oder qualitativ, indem man Breite und Tiefe des Grabens vergrößerte und vor allem die Hänge durch senkrechte Futtermauern ersetzte. Die letztere Methode war sicherlich effektiver, denn in einen Graben mit senkrechten, hohen Wänden konnte man im Prinzip nur mit Leitern vordringen, während gestaffelte Erdwälle immer noch zu Fuß überwindbar blieben, wenn auch mit Mühe. Es ergibt sich aus der Natur der Sache, dass die erste Methode vor allem im Flachland zur Anwendung kam, wo Erde und Sand leicht zu bewegen sind, Stein aber selten und wertvoll ist, während die letztere eher im Mittelgebirge mit seinen Steinvorkommen gewählt wurde; sie war sicher die aufwendigere, denn im Mittelgebirge mussten viele Grabenteile in anstehenden Fels abgetieft werden. Beginnt man mit den mehrfach gestaffelten Wallgräben, so war das größte Verbreitungsgebiet der flache Nordteil Mitteldeutschlands: Brandenburg, Mecklenburg und Pommern, wo die Mauern in der Regel aus dem 14. Jahrhundert stammen, aber gerade die Wallgräben theoretisch auch weit ins 13. Jahrhundert zurückgehen könnten; dieses Letztere ist gelegentlich
behauptet worden, aber Beweise fehlen. Im sprichwörtlich sandigen Brandenburg waren – wie vor allem Pläne des 18. und 19. Jahrhunderts belegen, aber auch seltene archäologische Befunde (Abb. 181) – dreifach gestaffelte Gräben durchaus verbreitet, aber auch in Mecklenburg gab es sie, wie noch erkennbare Bereiche etwa in Parchim veranschaulichen. Dagegen waren sie weiter westlich, wo die Städte ohnehin weniger dicht gestreut waren, vielleicht seltener, wie eine Quelle des späten 14. Jahrhunderts für das westfälische Kamen andeutet, indem sie dessen dreifache Gräben als etwas offenbar Besonderes hervorhebt. In Brandenburg, wo die jüngeren archäologischen Untersuchungsergebnisse an Stadtbefestigungen vor einigen Jahren zusammengefasst wurden, sind einige wenige Details festgestellt worden, die die nähere Ausgestaltung der Wälle im Mittelalter ahnen lassen – Befunde, die in ihrem geringen Umfang zugleich die schon charakterisierten Schwierigkeiten belegen, über HolzErde-Anlagen überhaupt Genaueres zu erfahren. So wurde in Luckau die stadtseitige Abstützung eines Walles mit Holzpfählen auf 1388–1400 dendrodatiert, ähnlich in Bernau auf 1425 und 1482; selbstverständlich besagen diese Datierungen nichts über die Entstehungszeit der Wallgräben, denn solche schnell verwitternden Holzteile mussten immer wieder erneuert werden. Noch typischer für die Beweisprobleme bei Holzkonstruktionen sind die kleinen Gräbchen, die man in Gransee auf den Wällen feststellte. Dass es sich
um die Spur ehemaliger Palisaden handelte, liegt zwar nahe, ist aber letztlich nicht beweisbar, zumal jede Datierungsmöglichkeit fehlt – ein wahrhaft kümmerliches Ergebnis angesichts der Tatsache, dass Palisaden oder Zäune an eben dieser Stelle höchstwahrscheinlich ein enorm verbreitetes Element der Befestigung waren. Gefütterte Gräben, also solche mit Stützmauern vor allem auch an der Feldseite, traten vor allem in Verbindung mit Zwingern auf. Es ist schon angesprochen worden (vgl. 2.2.8.1.), dass Quellen, die im Spätmittelalter Arbeiten „am Graben“ erwähnen, damit wahrscheinlich vielfach auch die Entstehung des Zwingers ansprechen; in der Tat kann man diesen auch als die innere Grabenmauer (Eskarpe) verstehen bzw. ist es andersherum natürlich so, dass ein aufwendiger Zwinger mit Streichwehren nur dann seine primäre Funktion der Grabenbeherrschung erfüllen konnte, wenn gleichzeitig eine senkrechte Grabenaußenmauer (Kontereskarpe) das Eindringen eines Angreifers von dieser Seite verhinderte. Da gerade große Städte, die sich ein so aufwendiges System leisten konnten, ihre Befestigungen meist im 19. Jahrhundert zerstört haben, sind entsprechende Beispiele selten geworden; wie bei den Zwingern ist Nürnberg das wohl eindrucksvollste Beispiel, das man heute noch besichtigen kann (Abb. 180). Jedoch kamen gefütterte Gräben schon um 1300 vor, wie ein archäologisch untersuchtes Beispiel aus der Schweiz verdeutlicht. (Alt-)Eschenbach, 1292 zuerst erwähnt und schon 1309 zerstört, besaß im
Abb. 182 Alt-Eschenbach (Schweiz), Schnitt durch den nördlichen Stadtgraben mit dem Fundament der Mauer links, jenem der Kontermauer / Contrescarpe rechts (vgl. Abb. 58). Da die erst 1292 erwähnte, wohl nie vollendete Stadtgründung schon 1309 zerstört wurde, entstand die Kontermauer schon in der Gründungsphase (Stadt- und Landmauern, Bd. 2).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
241
Abb. 183 Niederehnheim (Elsass), vor der Nordmauer der kleinen Stadt (vor 1284) ist der Außenwall noch unverändert erhalten; nur ganz rechts ist er mit zwei Streichwehren zur äußeren Verteidigungslinie umgestaltet worden.
Abb. 184 Glurns (Südtirol), im ehemaligen Ostgraben der Stadtbefestigung ist der Schießplatz noch gut erhalten. Die Mauer diente als Kugelfang, hinter der runden Mauer davor schützte sich der Mann, der die Treffer feststellte und anzeigte.
letzteren Jahr nicht nur eine unvollendete turmlose Mauer, sondern auch eine begonnene Grabenaußenmauer (Abb. 182). Auch sonst findet man in der Schweiz gelegentlich gefütterte Gräben vor den Mauern kleinerer Städte, die Ende des 13. Jahrhunderts ummauert wurden (Thun Neustadt; Rapperswil, Unterseen); ob die gefütterten Gräben gleich zu Anfang mit entstanden, bleibt dabei aber natürlich offen. Wasser als Befestigungselement war gleichfalls weitverbreitet, wiewohl nicht so weit, wie es gewisse „populäre“ Vorstellungen wollen, nach denen schlechterdings jeder Graben ein „Wassergraben“ war. Begreiflicherweise füllte Wasser vor allem im Flachland die Gräben, weil dort die Städte schon aus Gründen der Trinkwasserversorgung und auch des Handels bzw. der Schifffahrt häufig an Flüssen lagen und weil das flache Gelände die Ableitung des Wassers in die Gräben erleichterte; zahlreiche Belege findet man vor allem in älteren Stadtplänen. Ob man dabei bereits Systeme aus Stauwehren anlegte, um auch in fallendem Gelände eine Wasserfüllung zu gewährleisten – im Festungsbau des 16.–19. Jahrhunderts spielten solche Systeme eine große Rolle, in der Regel mit gemauerten Stauwehren („Bär“ oder „Batardeau“) –, ist mangels eindeutiger Befunde unklar. Immerhin gab es Städte, in der Regel allerdings eher kleine, die sich nicht mit Gräben, sondern mit Stauteichen umgaben. Eppstein im Taunus war ein Beispiel, eine ganze Reihe gab es in der Oberpfalz, wo der Bergbau wohl zu einer gewissen Kompetenz in der Anlage solcher
Stausysteme geführt hatte. Solche Teichsysteme kamen mit einfachen Staudämmen aus Erde und vermutlich einfachen hölzernen Schiebersystemen aus und waren daher wohl die mittelalterliche Form, die den ausgetüftelten Anlagen des bastionären Zeitalters voranging. Dass man aber auch bereits komplexere Wasserführungssysteme kannte, wie sie etwa auch in Zisterzienserklöstern ab dem 12. / 13. Jahrhundert existierten, beweist ein Grabungsbefund in Strausberg in Brandenburg, wo eine Wasserführung auf dem Wall zwischen den Gräben belegt wurde; freilich handelte sich nicht um einen Teil der Befestigung, sondern um ein Mühlenfließ. Über die Wälle als solche ist gleichfalls nur noch wenig zu sagen (Abb. 183). Ihre Hangneigung ergab sich vor allem aus den jeweiligen Materialeigenschaften, die Krone war, wenn man wenig verändert scheinende Fälle zugrunde legt, wohl selten breiter als 2–3 m. Ein Wall in Soest ist, als seltene Ausnahme, beidseitig von Mauern gestützt; die von der örtlichen Literatur vertretene Annahme, diese Gestaltung ginge noch ins 12. Jahrhundert zurück, muss man aber anzweifeln. Eher dürfte es sich hier um einen spätmittelalterlichen Ausbau handeln und einen solchen findet man auch noch in erstaunlich gutem Erhaltungszustand in Goslar, wo die Wälle zu einer weit überdurchschnittlichen Höhe aufgeschüttet wurden, sodass sie tatsächlich eine Deckung für die nicht höhere Mauer bildeten (vgl. 2.2.11.6; Abb. 244). Man darf davon ausgehen, dass diese Verstärkung ab den 1490er Jah-
242 I. Systematischer Teil
ren ausgeführt wurde, als auf den Wällen auch mehrere voluminöse Rondelle entstanden (Abb. 233) – in Verbindung mit den Toren oder isoliert –, die die Schutzfunktion der Wälle um ein aktives Element ergänzten, indem ihre Geschütze die Bestreichung des Vorgeländes ermöglichten. Vergleichbare Anlagen mag es auch anderswo gegeben haben, aber sie sind nirgends in so gut erkennbarem Zusammenhang erhalten. Auch Befestigungen, die ausschließlich in Wällen bestanden – ohne Mauer, aber sicherlich mit Gräben und Palisaden –, hat es bis ins Spätmittelalter gelegentlich gegeben, nur kaum um den Stadtkern; in Thüringen waren etwa die Vorstädte von Nordhausen (ab 1365 / 68), Mühlhausen und Erfurt so geschützt, in Breslau entstand 1423 ein Wall um die 1263 gegründete Neustadt, nur ein Torturm wurde gemauert. Die Wallgräben mussten zwar, um ihre Schutzfunktion nicht zu beeinträchtigen, von Bebauung frei bleiben. Aber es gab Nutzungen, die keine Bauten erforderten und daher zumindest im Spätmittelalter und in der Neuzeit in vielen Grabenzonen zu finden waren; wie weit sie jeweils zurückgehen, wäre bestenfalls durch aufwendige Archivstudien festzustellen. Solche Nutzungen waren etwa die als Fischteich oder Viehweide, auch durchaus als Gärten; in Fritzlar wurde ein Wallgrabenbereich seit 1537 als Friedhof genutzt. Direkter mit der Verteidigung hatten die „Schießgräben“ zu tun, die öfter als Straßennamen überliefert sind. In Nürnberg – in einem Grabenstück vor der älteren, zur Feuerwaffenzeit längst aufgegebenen Mauer – und in Glurns ist der Übungsplatz der Schützen erhalten, im letzteren Falle sogar mit dem gemauerten Kugelfang (Abb. 184). Während Zäune und Palisaden zu jenen Anlagen gehören, über die man heute praktisch keine Feststellungen mehr treffen kann, weil sie selbst archäologisch nur noch mit viel Glück festgestellt werden können (Abb. 18; vgl. a. 2.2.1.3.), sind Heckenpflanzungen unserer Erkenntnis wenigstens in geringem Maße zugänglich geblieben, und zwar in der Regel über die Namen von Straßen, Stadtteilen oder Flurstücken. Im Rheinland trifft man gelegentlich auf die Bezeichnung „Gebück“, in Westfalen und Hessen auf das Wort „Hagen“, „Hain“ oder auch „Heeg“. Alle bedeuten grundsätzlich dasselbe, nämlich eine Hecke (gleicher
Wortstamm mit „Hagen“ usw.), deren Äste über längere Zeit immer wieder künstlich heruntergebogen („gebückt“) wurden, um sie mit den Ästen anderer Pflanzen zu einem schwer durchdringlichen Gestrüpp zu verflechten. Ob die Konzentration der Phänomene auf das Rheinland, Hessen und Westfalen nun bedeutet, dass diese Art von Annäherungshindernis auf jene Regionen beschränkt war – gerade das Schiefergebirge bietet derartigen Bäumen und Gesträuchen gute Bedingungen – oder ob uns aus anderen Regionen nur die Nachweise fehlen, ist kaum zu klären. Gebücke dienten in großem Umfang auch als Landwehren, das heißt als Annäherungshindernisse, die nicht die Stadt im engeren Sinne, sondern deren Umland oder auch eine politisch organisierte Region ohne zentrale Stadt schützten (vgl. 2.2.12.). Sie waren dafür besonders geeignet, weil Hecken und die fast immer damit kombinierten Gräben und Wälle mit weit weniger Aufwand als Mauern angelegt und vor allem unterhalten werden konnten, sodass es zumindest reichen Städten und Regionen im Spätmittelalter möglich war, solche viele Kilometer langen Anlagen zu unterhalten; freilich waren sie auch keine Verteidigungsanlagen im engeren Sinne, sondern konnten von einem entschlossenen Gegner relativ leicht durchbrochen werden, insbesondere an den Toren. Wo dagegen Bezeichnungen wie „Gebück“ oder „Hagen“ im unmittelbaren Stadtbereich vorkommen – etwa in Montabaur oder Wellmich am Rhein –, stellt sich als Frage, deren Beantwortung man immerhin versuchen kann, ob diese indirekt überlieferten Anlagen Vorgänger der steinernen Befestigung waren oder ob sie vielmehr mit diesen gleichzeitig existierten, als vorgelagerte Annäherungshindernisse oder etwa Befestigung von Vorstädten. In der Mehrzahl der Fälle deuten die Indizien eher darauf, dass die Gebücke die eigentliche Stadt- oder auch Ortsbefestigung waren, entweder in der Frühzeit wichtiger Städte – so etwa die „Hagen“ in Hildesheim (11. Jahrhundert), Braunschweig und Nordhausen – oder bei kleineren Städte auch noch später. An diesen Fall wird man vor allem dort denken, wo der betreffende Straßenname hinter der Mauer anzutreffen ist, wie bei vielen hessischen Kleinstädten, besonders deutlich in Hessisch Lichtenau, wo eine entsprechende Straße „Hinter 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
243
Abb. 185 Münster, der Plan, der den Zustand der Stadt um 1121 rekonstruiert, verdeutlicht, wie die Stadt um die befestigte Domfreiheit bzw. Bischofburg herum wuchs und sie im Endeffekt völlig einschloss (J. Prinz, Mimigernaford, 1960).
dem Hagen“ heißt. In anderen Fällen, gleichfalls in Hessen, findet man die Bezeichnung aber öfter außerhalb der Mauer, was eher auf eine Außenbefestigung hinweist.
2.2.10. Weitere Bauten als Teile der Befestigung Ein oberflächlicher Betrachter, selbst, wenn er viele gut erhaltene Stadtbefestigungen kennt, wird in der Regel zu der Annahme neigen, Stadtmauern seien ein „reiner“ Bautypus, im Sinne nämlich vollkommen einheitlicher Funktion: Alle Bauteile dienten ausschließlich einem einzigen Zweck, nämlich dem der Verteidigung. Dieser Eindruck ist nachvollziehbar, denn für viele, wahrscheinlich für die meisten Stadtmauern trifft diese Aussage durchaus zu. Aber es gibt Ausnahmen, die trotz ihrer Seltenheit von Bedeutung sind, nämlich Bauwerke, die in Stadtbefestigungen einbezogen waren und durchaus auch dem Befestigungszweck dienten, die aber dabei noch eine andere Funktion hatten. Und diese andere Funktion war oft so bedeutungsvoll, dass man sie als die Hauptfunktion dieser 244 I. Systematischer Teil
Bauten bezeichnen muss. Es handelte sich also etwa um eine Burg oder um eine Kirche, die in die Stadtmauer einbezogen war, keineswegs um einen Turm oder einen anderen Teil der Stadtmauer, der nebenbei auch Funktionen einer Burg oder Kirche übernommen hätte. Mit diesen beiden Bautypen sind dabei schon die beiden wichtigsten Fälle solcher Sonderbauten innerhalb der Stadtbefestigung genannt, nämlich der Adelssitz und der Sakralbau. Beide Bautypen waren im Mittelalter ausgesprochen häufig und beide waren auf ihre Weise Ausdruck ihrer Epoche, nämlich der feudalen Herrschaft und der allgegenwärtigen Frömmigkeit. Schon insofern kann es nicht überraschen, dass sie gelegentlich, sozusagen eher zufällig, auch im baulichen Zusammenhang von Stadtbefestigungen erscheinen. Besonders nahe liegt die Verbindung mit der Stadtmauer im Falle der Burgen, denn diese waren selbst Wehrbauten und konnten die Stadtbefestigung daher entschieden verstärken, abgesehen davon, dass ihre nach außen sichtbare Verbindung mit der Stadt in aller Regel Ausdruck der Macht ihres Besitzers über die Stadt war. Dass auch Flussbrücken befestigt waren, kann ebenfalls nicht erstaunen, waren sie doch oft zugleich Zugänge zur Stadt, die damit praktisch die Funktion eines Stadttores übernahmen. Und auch bei Zollstellen liegt es mehr als nahe, dass sie gelegentlich befestigte Sonderbereiche an oder vor der Stadtmauer waren, denn auch sie lagen funktionsbedingt an der Peripherie der Stadt und hatten wertvolle Güter zu schützen. Dass aber auch grundsätzlich „friedliche“ Bautypen wie Wohnhäuser oder Mühlen in der einen oder anderen Weise zu Teilen der Befestigung wurden, ist schon eher erklärungsbedürftig. 2.2.10.1. Burgen und andere Adelssitze Burgen sind ein Thema, das seit rund anderthalb Jahrhunderten eine Fülle von Literatur verschiedenster Art und Qualität hervorgebracht hat und das dennoch weit von einem klaren Gesamtbild, ja selbst von allgemein anerkannten Fragestellungen entfernt ist; dies gilt auf einer gesamteuropäischen Ebene, aber auch, wenn man die Betrachtung auf Deutschland beschränkt. Daher gilt es auch dann, wenn man sich nur mit Burgen im Zusammenhang einer Stadt beschäftigt,
denn auch „Stadtburgen“ waren noch sehr häufig und spielten eine variantenreiche Rolle; aktuelle Schlaglichter bieten immerhin mehrere Beiträge im Band Burg und Stadt der Wartburg-Gesellschaft (2008). Da eine zusammenfassende Darstellung zum Thema Stadtburgen bisher fehlt, können an dieser Stelle nur gewisse Prinzipien des Verhältnisses von Stadt und Burg an Beispielen angerissen werden, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Die Beziehung zwischen Burg und Stadt war während des gesamten Mittelalters eng und prägend, denn als Grundherrschaft, Verfügung über Rechte, System persönlicher Bindungen über Lehen usw. prägte adlige Herrschaft von Anbeginn auch die Entstehung und Funktion der Städte. Es war der Adel, vom König bis zur sich emanzipierenden Ministerialität, der Städte gründete, vor allem wegen ihrer besonderen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die über die landwirtschaftliche Produktion weit hinausgingen. Der Sitz des Stadtherrn oder zumindest seines Bevollmächtigten in der Stadt war ein direkter und unmissverständlicher Ausdruck dieser Herrschaftsverhältnisse. Die Burgenhäufigkeit in den Städten spiegelt dies unverkennbar, denn die Stadt gänzlich ohne Burg (oder anderen Herrensitz) war im Grunde eine Ausnahme, wie etwa Armand Baeriswyl für die Schweiz betont hat; auch in Sachsen ergab eine flächendeckende Erfassung, dass über zwei Drittel der Städte mit Burgen verbunden waren. Drei Fälle des zeitlichen Verhältnisses sind zu unterscheiden, die das räumliche bzw. bauliche Verhältnis prägten: 1.) die Stadt, die bei einer bestehenden Burg entstand, 2.) die Stadt, die mit Burg geplant und erbaut wurde, 3.) die Stadt, in die eine Burg nachträglich eingefügt wurde. Dem ersten Fall sind die meisten frühen und zu besonderem Rang aufgestiegenen Städte zuzurechnen, insbesondere jene, die an Bischofssitze antiker oder frühmittelalterlicher Zeitstellung anschlossen. Die befestigte Immunität, die „Bischofsburg“, aber auch eine (Hoch-)Adelsburg, konnte dabei von der später entstehenden Stadt völlig eingeschlossen werden, wenn bebaubares Gelände sie allseitig umgab (etwa in Münster,
Abb. 185, Hildesheim und Straßburg, also Städten im Flachland). In der Regel ging die frühe Burg dann allmählich in der Stadt auf, das heißt, die nicht mehr notwendigen Befestigungen verschwanden im Laufe der Zeit. Erlaubte jedoch die Topographie eine allseitige Ausdehnung der Stadt nicht, so blieb die Burg zwar am Stadtrand – etwa in Speyer lag die Bischofsburg auf einem Sporn über den Rheinauen, in Rothenburg die Reichsburg entsprechend über dem Taubertal, in Bern Burg Nydegg auf der Spornspitze in einer Aareschlinge –, aber dies war nur Folge der Siedlungsentwicklung, nicht Ausdruck eines fortifikatorischen Konzeptes. Eben ein solches Konzept aber finden wir bei jenen weit zahlreicheren Fällen, bei denen eine Burg gleichzeitig mit den Stadtmauern entstand oder der bereits befestigten Stadt erst nachträglich hinzugefügt wurde. In diesem Falle nämlich
Abb. 186 Lübeck im frühen 13. Jahrhundert, Rekonstruktionsversuch aufgrund der Ausgrabungsbefunde. Die wohl 1143 gegründete, um 1180 in Backstein ausgebaute Burg sicherte die schmale Angriffsseite, der Stadtkern lag noch isoliert dahinter (M. Gläser, Ausflüge zu Archäologie, Geschichte und Kultur …, 56: Hansestadt Lübeck, 2013).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
245
Abb. 187 München besaß im Mittelalter zwei Burgen, die im Zusammenhang der zwei Mauern jeweils den Stadtrand suchten: den wohl schon 1158 gegründeten Alten Hof und die Neuveste (ab 1377) (C. Behrer, Das unterirdische München, 2001).
liegt die Burg so gut wie immer im Verlauf der Stadtmauer, sodass sie sowohl aus der Stadt als auch vom freien Felde zugänglich war; besonAbb. 188 Vaihingen an der Enz (Baden-Württemberg) ist ein gut erhaltenes Beispiel für Schenkelmauern, die die Stadt mit einer Höhenburg verbanden. Die Stadt liegt rechts am Fuß der Weinberge; die Mauer rechts ist die Stadtmauer, die linke schützte nachträglich nur eine Mühle.
246 I. Systematischer Teil
ders beliebt war dabei die Lage an einer Ecke der Stadtmauer. Die Gründe dieser Anordnung sind zwar von den Zeitgenossen nicht schriftlich festgehalten worden, aber sie liegen auf der Hand und sind daher schon oft formuliert worden. Einerseits war die Burg, vor allem im Falle der Ecklage, tatsächlich eine Verstärkung der Stadtmauer, denn Ecken waren exponierte, weil von mehreren Seiten gleichzeitig angreifbare Punkte; besonders deutlich wird dies dort, wo eine Stadt eine ausgeprägte, von der Burg gesicherte Angriffsseite besaß. Besser erhaltene Beispiele sind etwa Heidelberg mit der Burg gegen den überragenden Berg, Besigheim sogar mit zwei Burgen an beiden Schmalseiten seines Bergspornes (Abb. 338) und die (Halb-) Inselstädte Lübeck (Abb. 186) und Lindau mit der Burg jeweils am schmalen Zugang von der Landseite. Andererseits machte die Lage rittlings auf der Mauer den Burg- bzw. Stadtherrn auch unabhängiger. Solange zwischen ihm und der Bürgerschaft Friede herrschte, hätte im Prinzip ein Burgtor zur Stadt ausgereicht bzw. hätte der Verzicht auf ein feldseitiges Tor die Burg sogar weniger angreifbar gemacht. Aber dieses idealen Verhältnisses zu seinen Untertanen konnte kein Burgherr auf die Dauer sicher sein, und deswegen war ein zweites Tor, das direkt ins Vorland führte, ein selbstverständliches Gebot der Vorsicht; es war für Versorgung, Verstärkung und schlimmstenfalls die Flucht notwendig, wenn ein Konflikt mit den Bewohnern der Stadt einmal eine gewaltsame Dimension erreichte. Als berühmte Beispiele solcher Konflikte können wiederum der Erzbischof von Köln und der Bischof von Straßburg genannt werden, deren Konflikte mit ihren mächtigen Heimatstädten zu regelrechten Entscheidungsschlachten führten (Hausbergen 1262, Worringen 1288). Die Stadtburgen von Würzburg (Marienberg) und Salzburg (Hohensalzburg) erhielten – allerdings erst in der Zeit der Bauernkriege – Artilleriewerke, die speziell zur Bestreichung der Stadt geeignet waren, wobei der Salzburger „Bürgermeisterturm“ schon in seinem Namen den Machtanspruch des bischöflichen Burgherrn verdeutlicht. Ältere und wichtige Fälle waren etwa die schon 1227 von der Stadtgemeinde niedergelegte Burg in Lübeck und die Münchener „Neuveste“ von 1385, die nach Unruhen der Bürgerschaft an der Ecke
der äußeren Stadtmauer entstand, weil die ältere Burg inzwischen ins Innere der wachsenden Stadt geraten war (Abb. 187). Weitere bauliche Zeugnisse für Konflikte zwischen Burgherrn und Stadt werden noch zu behandeln sein, nämlich Bauten, die gerade umgekehrt die Stadt errichtete, um die Burg unter Kontrolle zu halten. Dass auch die Ecklage nicht immer wehrtechnisch begründet war, sondern gleichfalls eher die Verbindungen zum Umfeld der Burg verbessern bzw. der Bequemlichkeit des Burgherrn zugutekommen sollte, kann man bei Städten am Flussufer beobachten. Etwa in Mainz und Eltville, in Boppard, (Ober-)Lahnstein oder Koblenz – um Beispiele vom Mittelrhein zu nennen – wäre es fortifikatorisch sinnvoller gewesen, die Burg an eine landseitige Ecke der Mauer zu legen, wo überragende Berge eine Bedrohung darstellten bzw. auch die höher liegende Burg einen besseren Überblick gehabt hätte. Gewählt wurde jedoch eine Ecke am Fluss, die für die Zollerhebung sinnvoll war und dem Burgherrn die Möglichkeit bot, bequem zu Schiff an- und abzureisen. Ein besonders markantes Bild der Verbindung von Burg und Stadt entstand dort, wo eine Höhenburg durch lange, frei über den Berghang geführte Schenkelmauern mit der im Tal liegenden Stadt verbunden wurde (Abb. 188). Der Ursprung dieser besonders wirkungsvollen Anordnung ist jedoch nicht ästhetischer Art, sondern Folge der Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Phänomene: Höhenburgen suchten die gute Verteidigungslage und die symbolhafte Fernwirkung, Städte dagegen sind an Verkehr, Agrarland und Wasserversorgung gebunden. Die Verbindung beider zu einer Verteidigungseinheit bot auch im Falle solch großer Höhenunterschiede die beschriebenen Vorteile, aber die langen Mauerstrecken, die dabei entstanden, erforderten natürlich auch viele Verteidiger, die in den meist eher kleinen Städten kaum zur Verfügung standen. Deswegen kamen solche mit Schenkelmauern verbundenen Burgen und Städte zwar in praktisch allen Gebirgsregionen des deutschen Raumes vor, aber sie waren doch nicht ganz so häufig, wie es die Literatur vorspiegelt. Denn die suggestive Kraft des Konzeptes war offensichtlich so groß, dass es in der Literatur nicht selten auch dort angenommen wurde, wo der Anschluss der Mauern an die Burg zweifelhaft ist oder eindeu-
tig nicht existierte. An Mittelrhein und Mosel etwa gab es im 14. Jahrhundert zwar durchaus markante Beispiele des Typs – etwa Bacharach oder Trarbach (Abb. 402) –, aber die Fachliteratur bis hin zum „Dehio Rheinland-Pfalz“ zählt viele weitere Städtchen auf, bei denen die Mauer angeblich auch an die Burg anschloss, wo dies aber bei genauer Prüfung nicht der Fall war – etwa in Bernkastel oder Beilstein. Weiterhin gibt es Abstufungen zwischen den beiden eindeutigen Fällen, insbesondere kam es häufig vor, dass die Mauer zwar nicht bis an die Burg selbst herangeführt war, sondern nur an die Felsen anschloss, auf denen sie sich erhob (Kaub, Wellmich); die Unzugänglichkeit des Geländes ersetzte hier die Mauer, vielleicht auch hier und dort ein Gebück, wie es im Rheinland verbreitet war. An dieser Stelle drängt sich die Gegenfrage auf, ob es auch den Fall der zwar nach Herrschaft und Namen zusammengehörigen Burg und Stadt gegeben hat, bei dem beide zwar in nächster Nähe nebeneinanderlagen, aber als voneinander getrennte Befestigungen? Selbstverständlich hat es auch diesen Fall gegeben, nur ist er im Gegensatz zu jenem mit Burganschluss nie be-
Abb. 189 Burgdorf (Schweiz). In der Gründungsphase der Stadt, um 1200, waren Burg (2) und Stadt (3) noch nicht miteinander verbunden; erst in einer Ausbauphase wurden sie durch einen dazwischen entstehenden Stadtteil und entsprechende Mauerteile verbunden (A. Baeriswyl, Stadt, Vorstadt und Stadterweiterung im Mittelalter, 2003).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
247
sonders behandelt worden und daher kaum ins Bewusstsein getreten. Ein berühmtes frühes Beispiel ist Freiburg im Breisgau, ein neuerdings gut erforschtes das ebenfalls zähringische Burgdorf im Kanton Bern, wo die kleine, um 1200 entstandene Stadt zunächst isoliert unter der nahen Burg lag, wobei aber die Verbindung schon vor 1300 durch eine Stadterweiterung erfolgte (Abb. 189). Ganz entsprechend liegt der auch im aufgehenden Mauerwerk gut erhaltene Fall von Gmünd in Kärnten, wo die alpine Einstraßenstadt ebenfalls erst bei einer Stadterweiterung mit der Höhenburg verbunden wurde (Abb. 275). Auch in Nordhessen mit seinen vielen kleinen Burgstädten des 13. / 14. Jahrhunderts findet man durchaus beide Fälle nebeneinander – sowohl den Anschluss der Stadtmauer an die Gipfelburg als auch die isoliert danebenstehende Burg gleichen Namens, besonders markant etwa in Waldeck. Fälle wie Freiburg, Burgdorf oder Gmünd legen die Fragestellung nahe, ob nicht die Isolierung der Stadt von der Burg der ältere Fall gewesen sein dürfte; auch die rheinischen Fälle der „Schenkelmauern“, die ja meist erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts realisiert wurden, verstärken diesen Verdacht. Klarheit ist in diesem Punkt bisher nicht zu gewinnen, weil einfach zu wenige Fälle hinreichend untersucht sind.
Abb. 190 Ravensburg (Baden-Württemberg), der Turm „Mehlsack“ mit dem Berg der Veitsburg rechts und dem „Obertor“ links. Der extrem hohe „Mehlsack“ – der Name stammt vom weißen Anstrich – wurde 1425–29 im Zuge der Stadtmauer errichtet, um die Burg, den Sitz der kaiserlichen Landvögte, unmittelbar einsehen zu können.
248 I. Systematischer Teil
In wenigen, aber aussagekräftigen Fällen führten die Konflikte zwischen dem ursprünglichen Stadtherrn und dem erstarkenden Bürgertum so weit, dass sie einen baulichen Ausdruck in Befestigungsanlagen fanden, die die Stadt gegen die Burg errichtete. Der wohl berühmteste Fall ist der Nürnberger „Luginsland“, der 1377 im Zuge der Stadtmauer errichtet wurde, um die knapp 50 m entfernte Burg der mit der Stadt verfeindeten Burggrafen überblicken zu können. Die Höhe und Massivität des Turmes, die der des gegenüberstehenden Bergfriedes der Burggrafenburg entspricht, bestätigt die überlieferte Bestimmung; die Konfrontation der Türme ist heute aber verunklärt, weil nach Zerstörung der Burggrafenburg 1420 zwischen beiden die riesige städtische „Kaiserstallung“ entstand (1494 / 95). Auf andere Art nicht weniger beeindruckend ist der „Mehlsack“ in Ravensburg, der 1425–29 als 50 m(!) hoher Rundturm am Hang des Burgberges entstand, um die auf dessen Gipfel liegende Burg einsehen zu können – bemerkenswert zu einer Zeit, als erste Kanonen den Turm schon leicht hätten zerstören können (Abb. 190). Auch der 1357 als „neu“ bezeichnete große „Beginenturm“ in Hannover (Abb. 433) soll zur Überwachung der direkt davor liegenden Herzogsburg Lauenrode entstanden sein, die dann 14 Jahre später abgerissen wurde; in Horb am Neckar mag ein ähnlicher Fall vorliegen. In Kempten schließlich ist überliefert, dass die Burg des Klostervogtes durch eine Mauer von der Stadt isoliert wurde, bevor sie dann 1363 zerstört wurde; auch in Weinsberg ist die nachträgliche Abschließung der Stadt mit Zerstörung der Schenkelmauern im 14. Jahrhundert belegbar. Am Rande sei erwähnt, dass ähnliche Abläufe in zahlreichen italienischen Städten überliefert, aber auch dort kaum je noch durch Baureste belegt sind. Als Sonderfall solcher „Ausschließung“ sei noch der Streit erwähnt, den es 1230–37 in Helmstedt gab, weil die Stadt beim Mauerbau eben jenes Kloster „draußen lassen“ wollte, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen war. Eine letzte Fragestellung im Zusammenhang des Themas „Burg“ muss lauten, ob „Stadtburgen“ baulich als besonderer Typus beschrieben werden können, ob also ihre Einbindung in die Stadtmauer bzw. in den Stadtgrundriss ihre Architektur in einer eindeutigen und häufig auftre-
tenden Weise beeinflusst hat. Auch diese Fragestellung geht freilich weit über den verfügbaren Rahmen und die Ergebnisse dieses Buches hinaus. Ohne nähere, zumindest regionale Studien fallen lediglich etliche Beispiele dafür auf, dass der Rechteckgrundriss von Gründungsstädten quasi auf die Burg in Ecklage übertragen wurde. Besonders schön belegt dies Wiener Neustadt, wo die rechteckige Stadtmauer mit ihrem Eckturm zuerst entstand und die Burg zunächst mit eher „unperfekter“ Anordnung dreier weiterer Türme ebenfalls rechteckig eingefügt wurde; erst in einer weiteren Ausbauphase entstand dann ein echtes Kastell mit gleich dimensionierten Türmen (Abb. 283). Ließen sich dafür viele weitere Beispiele anführen, so gab es auch eine eher noch häufigere reduzierte Form desselben Typus, nämlich eine mehr oder minder rechteckige Burg, die nur einen größeren Turm besaß, der aber zugleich Eckturm der Burg und der Stadt war. Um auch hier wieder nur wenige Beispiele zu nennen: Eltville und Niederlahnstein am Mittelrhein, in Schlesien Bernstadt und Kreuzburg. Freilich ist bis auf Weiteres auch bei diesem „Rechtecktypus“ der Stadtburg nicht zu vernachlässigen, dass es neben der Einbindung in die Stadtbefestigung und den Stadtgrundriss auch ganz andere Faktoren gewesen sein können, die insbesondere die Rechteckform der Burg bestimmten. Denn es darf ja nicht vergessen werden, dass derartige Burgen fast immer erst in gotischer Zeit entstanden sind, kaum je also vor der Mitte des 13. Jahrhunderts. Und der gotische Burgenbau hatte generell eine Tendenz zu regelmäßigen bzw. rechteckigen Grundrissformen, auch wenn eine Beeinflussung durch eine anschließende Stadt gar nicht vorlag. Insoweit wird man bis auf Weiteres zunächst zu der Einschätzung neigen, dass es einen speziellen baulichen Typus der Stadtburg eher nicht gegeben hat, die Burgen folgten auch in diesem Sonderfall eher ihren eigenen Regeln bzw. hatten, da sie ohnehin formal recht variabel waren, keine Probleme, sich innerhalb ihres ganz normalen formalen Repertoires auch auf die praktischen wie ästhetischen Anforderungen einer Lage an / in der Stadtmauer anzupassen. Neben Burgen im engeren Sinne, also relativ großen, allseitig stark befestigten Anlagen des Stadtherrn im Zuge der Stadtmauer, gab es oft
Abb. 191 Wiedlisbach (Schweiz), Wohntürme an der Ecke meist kleinerer (Gründungs-)Städte kommen in der Schweiz öfter vor und werden mit gutem Grund meist als Sitz eines stadtherrlichen Vogtes angesprochen.
weitere Adelssitze in der Stadt, die sich stärker in die bürgerliche Siedlung integrierten und nicht unbedingt selbständig befestigt waren. Dabei handelte es sich meist um „Burgmannen“ bzw. Ministerialen des Stadtherrn, die ursprünglich zur Verteidigung der Burg oder auch nur der befestigten Stadt angesiedelt worden waren; aus ihnen scheint sich in manchen Fällen und zumindest teilweise das Patriziat der Stadt entwickelt zu haben. Mit diesen Adelssitzen und ihren Erbauern ist allerdings eine Thematik angesprochen, die noch weit problematischer als jene der „Stadtburgen“ im engen Sinne ist, und zwar sowohl bezüglich der Schriftquellen als auch der Bausubstanz. Denn die mittelalterliche Geschichte solch weniger bedeutender Geschlechter ist oft wenig dokumentiert und die Bausubstanz meist stark verbaut – und erst recht sind Fälle extrem selten, bei denen beides zusammentrifft, bei denen also ein noch gut erkennbarer Bau durch Quellen einer bestimmten Familie zugewiesen und datiert werden kann. Es kann hier daher weder um historische Studien zur Ministerialität einzelner Städte noch um gut erhaltene Bauten wie die berühmten „Geschlechtertürme“ in Regensburg oder die näher untersuchten in Basel oder Zürich gehen (und 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
249
Abb. 192 Horstmar (Nordrhein-Westfalen), Plan der Altstadt. Burgmannenhöfe in Städten gab es häufig, aber ihre systematisch umlaufende Anordnung hinter der Umwallung dürfte einzigartig sein. Die erhaltenen Bauten zeigen allerdings durchweg Formen der Renaissance (http://horstmar.de/staticsite).
erst recht nicht um ihre Verwandten in Italien, die zu regelrechten Kriegen mitten in der Stadt benutzt wurden). Vielmehr können nur knappe Hinweise auf einige Fälle gegeben werden, wo solche kleineren Adelssitze an der Peripherie der Stadt lagen bzw. Teil von deren Befestigung waren oder gewesen sein könnten. Es bietet sich dabei an, die Beispiele vor allem aus dem süd(west) deutschen Raum zu wählen, wo es derzeit mehr bekannte bzw. untersuchte Bauten dieser Art gibt. Wohntürme, die in die Stadtmauer eingebunden sind und offenbar von Ministerialen bewohnt waren, findet man etwa in der Steiermark in Radkersburg und Fürstenfeld, in Innsbruck gab es Vergleichbares; in Österreich sind zudem in bisher sechs Stadtmauertürmen sogenannte Blockwerkkammern festgestellt worden (bisher unveröffentlicht), wobei auch dafür am ehesten Ministerialen als Bewohner infrage kommen. In der Schweiz sind derartige Wohntürme, überwiegend in Ecklage kleiner Gründungsstädte, sogar recht häufig, etwa in Arbon, Rapperswil, Sempach, Solothurn, Stein am Rhein, Unterseen, Wangen oder Wiedlisbach (Abb. 191). In 250 I. Systematischer Teil
manchen Fällen ist belegbar, dass in ihnen ein Vertreter des Stadtherrn (Vogt) wohnte, in anderen ist das zumindest plausibel; jedenfalls war dies nur ein an wirkliche Burgen sich annähernder Sonderfall eines Sitzes von Burgmannen bzw. Ministerialen. Auch bei den kleineren Adelssitzen an / in der Mauer ist es sinnvoll, die Frage nach der zeitlichen Abfolge zu stellen. Waren sie schon vor der Befestigung vorhanden oder entstanden sie erst mit oder gar nach der Befestigung? In der Regel wird auch dies kaum noch zu klären sein, wenn auch gerade die zuletzt genannten schweizerischen Wohntürme in Ecklage meist den Eindruck erwecken, mit der Mauer zusammen erbaut worden zu sein. Dafür gibt es noch weitere Beispiele. So sind etwa die Ecken der kleinen Altstadt von Brixen alle durch Adelssitze („Ansitze“) markiert, was auch aufgrund der Quellen nach ursprünglicher Planung aussieht; ob diese Bauten burgartig waren, bleibt allerdings unklar, ähnlich wie im tirolerischen Vergleichsfall Innsbruck. Im oberschwäbischen Pfullendorf findet man eine Reihe adliger Häuser nahe der Grafenburg auf der Mauer, darunter eines mit Erdgeschoss von 1317 (Ritter von Gremlich), ähnlich im nahen Mengen, mit Bausubstanz offenbar schon der 1230er Jahre. Ein beeindruckender norddeutscher Vergleichsfall ist das westfälische Horstmar (Abb. 192), eine 1269 gegründete Rechteckstadt von etwa 250 × 300 m Größe, hinter deren Wallgraben acht Burgmannenhöfe die Peripherie der Stadt bildeten, davon vier an den Toren; freilich sind nur vier der Höfe in Renaissanceformen erhalten, davor muss man mit Fachwerkbauten rechnen. Aber es gibt auch Beispiele für Adelssitze, die erst nachträglich zu Teilen der Mauer wurden; in der Regel sind es Baubefunde, die dies belegen, sodass es allerdings, streng genommen, in Abwesenheit archäologischer Befunde immer möglich bleibt, dass die Anlage zusammen mit einer vorangehenden Holz-Erde-Befestigung entstand. Als wiederum süddeutsche Beispiele seien hier Überlingen, Kempten und Schaffhausen genannt. In Überlingen stößt die Mauer sekundär an Adelstürme und Höfe, die ihrerseits schon gotische Formen zeigen (Abb. 345), in Kempten ist ein (Wohn-)Turm des mittleren 13. Jahrhunderts in die Mauer integriert. Schaffhausen da-
gegen ist ein anderer Fall, da dort Wohntürme ihre Funktion änderten: der dortige „Obertorturm“ (Abb. 302) ist ein romanischer Wohnturm, der erst 1491 an die Stadt kam und dann erhöht wurde; ein Gegenstück an einem anderen Tor ist ergraben. Bei den kleineren Adelssitzen im Mauerverlauf hat man es, um zusammenzufassen, mit einer erheblichen Vielfalt an Formen und zeitlichen Abläufen zu tun; dabei wird aus Gründen der Erhaltung und der sehr begrenzten Schriftüberlieferung aber vieles offenbleiben müssen. 2.2.10.2. Sakralbauten Dass auch Sakralbauten, also Kirchen und Kapellen oder Teile davon, im Mittelalter Teile von Befestigungsanlagen gewesen sein können, ist für den westlichen Menschen von heute sicherlich eine verblüffende Tatsache. Religion, jedenfalls aber Christentum, gehört in der Gegenwart programmatisch in eine Sphäre des Friedens, stellt also geradezu das Gegenwicht zu Kampf und Krieg dar. Dass dies im Mittelalter anders war, dürfte aber auch dem architekturhistorischen Laien durch Phänomene wie Burgkapellen oder „Kirchenburgen“ bekannt sein. In diesen Vergleichsfällen architektonischer Durchdringung von Sakral- und Wehrbau war es freilich der häufigere Fall, dass die Sakralbauten oder -räume nicht in der allerersten Verteidigungslinie angeordnet waren. In der Kirchenburg stand die Kirche in einer äußeren Umwehrung und bildete selbst höchstens durch einen zinnen- und schartenbewehrten Turm oder Chor eine überhöhende, ergänzende Position der Verteidiger; auch die selbst völlig unbefestigte Kirche in der Umwehrung war durchaus häufig. Und auch Burgkapellen standen zumeist an eher schlecht angreifbaren, wenn auch gut sichtbaren Stellen der Burg; wo dies nicht der Fall war und die Kapelle einem Angriff doch direkter ausgesetzt wurde, handelt es sich meist um Fälle, bei denen der Sakralraum eine Beziehung zum Tor besaß, was – wie auch im Falle der Torkapellen von Klöstern – fraglos auf das Bibelzitat „Der Herr behüte deinen Eingang und Ausgang von nun an bis in Ewigkeit“ (Psalm 121,8) zu beziehen ist. Im Falle der Sakralbauten, die in irgendeiner Weise mit der Stadtmauer zusammenhingen, finden wir im Grundsatz vergleichbare Phänomene,
Abb. 193 In Rastenburg (Ostpreußen) beherrscht nicht die tief liegende, turmlose Ordensburg das Bild der Altstadt, sondern die zweitürmige, burgartig wirkende Pfarrkirche St. Georg (1359–70) auf ihrem höchsten Punkt (Ansichtskarte um 1880).
das heißt, in der Regel war der Sakralbau nicht wirklich ein Teil der Mauer, sondern stand eher nur nahe hinter ihr und wurde als Verstärkung genutzt. Eine besondere Rolle spielt dabei auch der Fall, dass die Kirche oder ein Vorgängerbau älter als der Mauerbau war, sodass die Ehrfurcht vor dem geheiligten Ort zu originellen Lösungen beitrug, bei denen entweder der vorhandene Bau oder ein Neubau an gleicher Stelle die Kontinuität wahrte und zugleich als „geistliche“ Stärkung der Wehranlagen verstanden werden konnte. Will man mit Fällen beginnen, bei denen der Wehrcharakter der Kirche nur ein symbolischer war, so bietet das Ordensland Preußen die wohl eindrücklichsten Beispiele. Dort nämlich besaßen nicht wenige Türme von Pfarrkirchen einen Zinnenkranz, wobei die Mehrheit von ihnen keineswegs im Mauerverlauf stand, sondern üblicherweise mitten in der Stadt (erhalten unter anderem in Morungen, Strasburg, Deutsch Eylau). Vergleichbares gab es auch im Rheinland, gut erhalten etwa in Kronberg im Taunus und in Schlesien in Pitschen, und vor den zahllosen neuen Kirchturmdächern nachmittelalterlicher Zeit sicherlich noch weit öfter. Der Effekt einer solchen Architektur bestand im Wesentlichen darin, dass die Stadtmauer in der Fernsicht eine wehrhafte Dominante erhielt – eine Art Bergfried, der das Bild der Stadt einer großen Burg annäherte. Dass dies wirklich so gemeint war, hat in einem Land, das ein Ritterorden aus seinen architektonisch höchst anspruchsvollen Burgen heraus beherrschte, durchaus eine hohe 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
251
Wahrscheinlichkeit. Einen Höhepunkt erreichte diese Wirkung in Rastenburg (Abb. 193), wo die Kirche doch einmal die Mauerecke einnahm und durch die Hügellage sogar die kleine Ordensburg optisch ausstach. Auch sonst steht der Kirchturm im Zentrum des Themas, wobei die naheliegende Idee, dass ein ohnehin vorhandener Stadtmauerturm „nebenbei“ als Glockenträger genutzt wurde, offenbar eher selten war: Zu nennen sind Brugg / Aare, wo der Kirchturm mit Eckbuckelquadern und hoher Schlitzscharte offenbar einfach einer der Mauertürme des mittleren 13. Jahrhunderts war, und Gilgenburg im Ordensland, wo man ein Wiekhaus entsprechend nutzte. In Lich (Hessen) wurde ein großer Schalenturm der Stadtmauer (um 1400?) wohl noch in der Spätgotik zum Glockenturm umgebaut. Deutlich häufiger war aber der Fall, dass der Turm dicht hinter der Mauer stand und aufgrund seiner Höhe und der Ausstattung mit einigen Schießscharten oder Zinnen über sie hinweg ins Vorfeld wirken konnte; offenbar war das Bedürfnis, den Kirchturm als eigenständige Dominante zu gestalten, ab dem 14. Jahrhundert doch sehr stark. Eines der zugleich frühesten und eindrucksvollsten Beispiele
Abb. 194 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), der Turm der Pfarrkirche St. Martin. Der Schnitt verdeutlicht, dass der äußerlich so wehrhaft ausgestattete Turm (vgl. Abb. 92) aufgrund seiner dünnen Wände nicht wirklich verteidigungsfähig war (Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Stadt Oberwesel, Bd. II).
252 I. Systematischer Teil
ist der Westturm von St. Martin in Oberwesel, der um 1300 als Teil der neuen Kirche hinter der älteren Mauer entstand (Abb. 194). Mit seiner Massigkeit, der Gliederung durch Strebepfeiler, dem umlaufenden Wehrgang mit Zierzinnen und polygonalen Eckerkern, schließlich dem (unvollendeten) schlankeren Oktogon für die Glocken übertrifft seine Monumentalität die meisten Bergfriede und mag sogar Anreger einer ihrer rheinischen Sonderformen, der „Butterfasstürme“, gewesen sein. Ein kleineres Pendant zu Oberwesel ist der Kirchturm von (Hanau-) Steinheim (nach 1449; Abb. 442), ebenfalls mit Zierzinnen und Eckerkern, aber auch schon mit einer hohen Schlüsselscharte (entgegen örtlicher Darstellung stand auch er hinter, nicht in der Mauer). Der Turm der Ursulinenkirche in Bruneck (Südtirol, eher nach 1427; Abb. 294) besitzt einen gut gestalteten, vorkragenden Wehrgang. Der Kirchturm des Heiliggeistspitals in Oldenburg, der ein Stadttor sicherte, der hohe „Josenturm“ in Schwäbisch Hall als zugleich betont hoher „Stadtturm“, der Turm der Pfarrkirche in Weilheim an der Teck und jener in Radkersburg (Steiermark), die beiden letzteren mit Schlüsselscharten, sind weitere Beispiele aus dem 15. Jahrhundert. Kaum einer dieser Türme erscheint als wirklich notwendige und vor allem wirklich starke Ergänzung der Stadtmauer, vielmehr wirkt es meist so, als habe man die günstige, mauernahe Lage einer Kirche genutzt, um sie eben als eher symbolhafte, nur leicht befestigte Ergänzung der Befestigungen auszustatten. Dass nicht nur der Kirchturm, sondern die gesamte Kirche oder Kapelle in die Mauer einbezogen wurde, ist gegenüber der an sich schon seltenen Mitnutzung eines Kirchturmes der nochmals seltenere Fall – genauer: eine ausgesprochene Ausnahme, die zudem noch später auftrat. Hatten wir bezüglich der Kirchtürme immerhin ein frühes Beispiel um 1300 nennen können, bei einer sonst eindeutigen Konzentration der Fälle im 15. Jahrhundert, so tritt dies bei den vollständigen Kirchen / Kapellen, die in die Mauer einbezogen waren, noch klarer hervor. Schon 1384 wurde die Katharinenkapelle in Sonnenberg bei Wiesbaden in einem Mauerturm der Burgfreiheit eingebaut; sie war der erste Sakralbau innerhalb der Mauern, aber wegen ihrer engen Beziehung zur Burg auch ein Sonderfall.
Abb. 195 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die „Wolfgangskirche“ (1475–92) ist Teil der Barbakane vor dem „Klingentor“ und präsentiert sich zum Hof (oben) als reiche spätgotische Architektur, völlig anders als an der Grabenseite.
Ein anderes Beispiel, ebenfalls in einer kleinen Burgstadt, findet man in Greifensee bei Zürich, wo die dreieckige, im Obergeschoss mit Maulscharten versehene Kirche fraglos (nach 1444?) an die rundlich geführte Mauer angebaut wurde. Auch Eglisau, ein anderes Schweizer Beispiel, war eine Zwergstadt, bei der die ergrabene erste Kirche wohl vor allem deshalb im Mauerverlauf stand, weil die engen Platzverhältnisse wenig Alternativen boten. Dass es bei Kirchen und Kapellen im Mauerverlauf nicht um eine Verstärkung der – fortifikatorischen oder geistlichen – Wehrhaftigkeit ging, sondern eher um die Bewältigung von Platzmangel, darauf weisen auch jene im Grunde interessanteren Fälle, bei denen der Sakralbau nicht Bestandteil der Hauptmauer war, sondern vielmehr eines verhältnismäßig späten Vorwerkes, meist an Toren. Denn in diesem Falle handelte es sich überwiegend um die Einbeziehung von Bauten, die schon vorher bestanden hatten und 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
253
die man – allerdings meist als Neubau – an traditioneller Stelle erhalten wollte. Das sicherlich bekannteste Beispiel ist die 1475–92 entstandene Barbakane vor dem Rothenburger „Klingentor“, die die Wolfgangskirche mit ihrem Geschützboden integriert (Abb. 195); sie entstand mit der Barbakane (vgl. 2.2.11.4.) neu, besaß aber als „Schäferkirche“ eine lang etablierte Funktion für einen Berufsstand, der seine Arbeit außerhalb der ummauerten Stadt versah. Interessanterweise findet man mehrere Vergleichsbeispiele in Schlesien, unter denen die um 1500 erbaute Antoniuskapelle im Zwinger des „Haidauer Tores“ in Striegau (Abb. 482) Rothenburg am ähnlichsten ist; auch hier gab es eine Wehrplatte über dem eigentlichen Kirchenraum, der Chor sprang als Streichwehr in den Graben vor. Der (verschwundene) Zwinger vor dem „Schweidnitzer Tor“ in Breslau, der eine ganze Gruppe von Kirchen und Kapellen umfasste, ist als Übergangsform zu einer befestigten Vorstadt schon erwähnt worden. Ohne Torbezug ist die 1444 geweihte Nikolaikirche in Bautzen, die nach ihrer Fertigstellung in den umlaufenden Zwinger einbezogen wurde, indem dieser teilweise zwischen die Strebepfeiler eingebaut wurde; und in Riesenburg (Westpreußen) springt die Marienkapelle als Vorwerk in den Graben vor. Auch Klöster und Pfarrhöfe werden gelegentlich als Verstärkung der Stadtbefestigung angesprochen, häufig etwa in Österreich. Richtig ist daran, dass man beide Bautypen manchmal hinter der Stadtmauer bzw. in Ecklage der Mauer antrifft, und richtig ist im Falle der Klöster weiterhin, dass sie oft durchaus befestigt waren. Jedoch gilt dieses Prinzip der eigenen starken Befestigung vor allem bei Klöstern, die ursprünglich allein lagen bzw. bei denen erst nachträglich eine Siedlung entstand, die dann später Stadtcharakter annahm. Insoweit kann man in solchen Fällen eigentlich nicht davon sprechen, dass das Kloster eine Verstärkung der Stadtmauer darstellte. Vielmehr handelte es sich eigentlich um Sonderfälle des Prinzips der älteren „Burg“, die zum Ausgangspunkt und Kern der Stadt wurde; sie standen funktional und formal vor allem den „Domburgen“ des frühen Mittelalters nahe. Als Beispiele, bei denen die frühen Klöster auch anhand mittelalterlicher Bausubstanz noch als burgartiger Kern der jüngeren Stadt erkennbar 254 I. Systematischer Teil
sind – eher selten, denn meist sind die Klöster nachmittelalterlich erneuert –, kann man etwa Melk und Klosterneuburg in Niederösterreich oder Weißenburg im (Unter-)Elsass nennen. Lässt man diesen Fall des älteren, burgartig befestigten Klosters aber beiseite und fragt nur nach Klöstern, die bei der Stadtgründung bereits eingeplant wurden oder nachträglich in der bestehenden Stadt entstanden – am ehesten waren dies Bettelordensklöster –, so waren diese in aller Regel unbefestigt. Zwar zog die Stadtmauer am Kloster vorbei, was manchmal zu Auseinandersetzungen über eine Mitfinanzierung oder auch Grundstückverluste führte (vgl. 3.1.), aber für eine Befestigung der auch gegen die Stadt gerichteten Seiten kenne ich tatsächlich keinen einzigen Beleg. Der Hauptgrund, warum Klöster oft direkt an der Stadtmauer lagen, waren offensichtlich die niedrigeren Kosten der abgelegenen, das heißt vom Markt und den Ausfallstraßen entfernten Grundstücke, die bei den großen Klosteranlagen erheblich ins Gewicht fielen. Eine gelegentlich verfolgte Beobachtung, deren Vertiefung hier aber zu weit führen würde, geht außerdem dahin, dass gelegentlich Grundstücke ehemaliger Ministerialensitze für Klöster genutzt wurden, was immerhin einen indirekten Bezug zwischen Adelssitz und Kloster herstellt. Für den ebenfalls in Österreich gern vermuteten Fall des Pfarrhofes als Eckverstärkung der Stadtmauer konnte ich überhaupt keine gesicherten Beispiele finden; es scheint so, als habe hier die oft massive Steinarchitektur der Höfe in Verbindung mit der gelegentlichen Ecklage dazu geführt, dass man die „burgartige“ Erscheinung für bare Münze nahm, obwohl der Nachweis von echten Befestigungselementen (zumindest bisher) fehlt. Das Rektorat neben der Pfarrkirche von Freyburg / Unstrut (Sachsen-Anhalt) ist tatsächlich das einzige mir bekannt gewordene Beispiel, bei dem ein solcher Bau, belegt durch Schlüsselscharten, wirklich Teil der Befestigung war. Erst um 1540 entstanden, ist es zugleich ein ungewöhnlich später Fall. 2.2.10.3. Brücken, Zollstellen, Mühlen, Häuser Neben den zahlreichen Burgen, deren Verbindung mit der Stadtmauer zweifellos fortifikatorische Bedeutung besaß, und recht wenigen
Sakralbauten, bei denen ein entsprechendes Zusammenwirken von eher begrenzter Bedeutung war, gab es noch Bauten anderer Art, die man in baulichem Zusammenhang von Stadtmauern findet. Ihre Bedeutung war freilich eher noch geringer als jene der Kirchen und Kapellen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Entweder erweisen sie sich bei genauer Betrachtung als Bauwerke, deren besondere Funktion sie im Grunde nicht als Bestandteil der Stadtmauer erscheinen lässt, sondern vielmehr als Bauwerk eigenen Charakters, das mit der Stadtbefestigung lediglich verbunden ist; dies gilt insbesondere für große Flussbrücken, aber auch für befestigte Zollstellen, deren Funktion im Grunde gleichfalls von den Städten unabhängig war, die aber aus praktischen Gründen oft im Schutz von Burgen und befestigten Städten entstanden und dabei oft in ähnlicher Weise als selbstständig ummauerter Bereich mit der Stadtmauer verbunden wurden, wie es bei den Burgen der Fall war. In beiden Fällen – Flussbrücken und Zollstellen – handelte es sich also um eigenständige Bauty-
pen, die im Grunde monographische Darstellungen verdient hätten und hier nur beispielhaft abgehandelt werden können. Andere Bautypen können deswegen kurz abgehandelt werden, weil sie entweder sehr selten sind (Mühlen) oder weil ihre baulichen Spuren mangels zugehöriger Schriftquellen leider nicht wirklich deutbar sind (Häuser bzw. originale Fenster in der Mauer). Flussbrücken, gleich ob als Holz- oder als Steinkonstruktionen, waren als technisch höchst aufwendige Bauten im Mittelalter noch recht selten. Vor allem die größeren steinernen Brücken – in Teilen erhalten sind etwa jene in Regensburg (1135–46), Würz- Flussbrücken burg (12. Jahrhundert, erneuert 1473–88 und im 16. Jahrhundert), Dresden (13. Jahrhundert), Esslingen (vor 1286) und Prag – waren außerdem strategische Punkte ersten Ranges. Sie bündelten nicht nur den gewinnträchtigen Handel, sondern sie waren selbstverständlich auch im Kriegsfalle von Bedeutung. Daher waren sie in aller Regel nicht nur mit einer Stadt verbunden, sondern auch selbst befestigt.
Abb. 196 Regensburg, die „Steinerne Brücke“ mit ihren drei Tortürmen, nach Martin Zeiller / Matthäus Merian. Erhalten ist nur der rechte, stadtseitige Torturm (Topographia Bavariae, 1644).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
255
Einerseits bildeten sie so einen Sonderfall des befestigten Stadttores, andererseits besaßen sie eine ganz eigenständige Qualität, die nicht zwingend von der Stadt abhängig war. Die befestigten Flussbrücken sind daher ein Sonderthema, das im Rahmen der Behandlung von Stadtbefestigungen nur gestreift werden kann und das leider auch sonst wenig erforscht ist. Eine zusätzliche Problematik liegt darin, dass die Wehrbauten der Brücken, die Tortürme und befestigten Brückenköpfe, in aller Regel nicht mehr vorhanden sind, weil sie dem Verkehr hinderlich waren und daher schnell zerstört wurden, als ihre Schutzfunktion entfallen war. Nur ganz selten ist daher heute noch das Zusammenspiel von Brücke und wenigstens einem einzelnen Turm bzw. Tor zu besichtigen, etwa in Brugg / Aare (Kanton Aargau), in Limburg an der Lahn und – mit barock umgebautem Doppelturmtor des 14. Jahrhunderts – in Heidelberg. Als vergleichsweise gut untersuchtes und bedeutendes Einzelbeispiel sei hier die „Steinerne Brücke“ in Regensburg dargestellt (Abb. 196). 1135–46 als erste mittelalterliche Steinbrücke Deutschlands errichtet, anknüpfend an die im Ursprung römische und schon im Frühmittelalter bedeutende Stadt, blieb sie für Jahrhunderte die einzige Donaubrücke zwischen Ulm und Wien. 1182 erhielt sie von Kaiser Friedrich I. ein PriviAbb. 197 Rottweil, die Hochbrücke mit ihren Pfeilern aus dem frühen 13. Jahrhundert, Ansicht von Westen mit Rekonstruktionsversuch der Tortürme nach der Pürschgerichtskarte von 1564 (C. Meckseper).
256 I. Systematischer Teil
leg, das die Erhebung von Zöllen und Steuern auf der Brücke und auch die Errichtung von Bauten an beiden Brückenköpfen verbot; dabei wurde auch ein „Brückenmeister“ erwähnt. Der stadtseitige Torturm wurde wohl im frühen 15. Jahrhundert, im Zeichen der Hussitengefahr, erneuert, wobei er ein gegen die Stadt verschließbares(!) Tor erhielt; vom romanischen Vorgängerbau sind offenbar mehrere Skulpturen übernommen, die mindestens zwei thronende Könige darstellen und so wohl auf das Privileg von 1182 anspielten. Auf dem elften Brückenpfeiler vor der Stadt, noch vier Bogen vom Nordufer entfernt, stand der offenbar erste nördliche Brückenturm, wohl aus dem frühen 13. Jahrhundert; er war dort über die schmale Brücke kaum anzugreifen, sicherte aber die dahinterliegenden Zugänge zu zwei Donauinseln und einer Anzahl von Mühlen. Erst Ende des 13. Jahrhunderts errichtete man einen dritten, höheren Torturm am Nordende der Brücke, wo sie wieder festes Land erreichte. Auch er wurde 1423, zur Zeit der Hussitengefahr, durch einen Torzwinger in Form eines Doppelturmtores stärker befestigt; da diese Befestigung noch innerhalb der älteren Mauer der bayerischen Vorstadt Stadtamhof lag, unterstrich sie die Eigenständigkeit der Brücke zusätzlich. Ein weiteres Beispiel einer Brücke in Verbindung mit einer Stadtbefestigung sei hier nur deswegen genannt, weil es sich um einen ausgesprochenen Sonderfall handelt. Die „Hochbrücke“ in Rottweil entstand noch in spätstaufischer Zeit direkt vor dem südlichen Torturm der kaum älteren Ummauerung und war auch am feldseitigen Ende durch einen Torturm gesichert (Abb. 197). Ungewöhnlich an ihr ist die Tatsache, dass sie nicht über einen Fluss, sondern mit bis zu 27 m hohen Buckelquaderpfeilern über einen Taleinschnitt führte; man hätte sie also durch eine abknickende, längere Wegführung vermeiden können, aber offenbar war der Wunsch, das „ideale“ Straßenkreuz im Stadtinneren in die Landschaft hinaus zu verlängern, so stark, dass man den enormen Mehraufwand auf sich nahm. Für Zollstellen an Flüssen trifft im Grundsatz dasselbe zu, was bereits über Stadtburgen und Flussbrücken gesagt worden ist: Es handelte sich um selbstständig befestigte Anlagen von besonderer Funktion, die zwar in der Regel mit einer Stadtbefestigung verbunden, aber nicht eigent-
lich ein Bestandteil von ihr waren. Weiterhin gilt auch hier das Prinzip der schlechten Erhaltung; Flussufer bei Städten bzw. Hafenanlagen sind Orte, die so gut wie immer einem dauerhaften, starken Veränderungsdruck ausgesetzt waren, sodass die mittelalterlichen Bauten einer Zollstelle kaum eine „Überlebenschance“ hatten. Da zudem meines Wissens Zollstellen keine Spezialliteratur zu den Zollstellen als Bauten vorliegt – man vergleiche etwa das Stichwort „Zoll“ im Lexikon des Mittelalters –, sollen auch hier nur zwei besser erhaltene Beispiele angesprochen werden, nämlich der pfälzische Zollhof in Bacharach und der kurmainzische in Höchst. Der bisher nie näher dargestellte Bacharacher Zollhof – der Zoll wurde zuerst 1226 erwähnt und war einer der einträglichsten am Mittelrhein – ist an der Südostecke der Stadtmauer gegen den Rhein vorgeschoben und bildet in der Hauptsache einen mauergeschützten Hof mit Achsen von rund 100 und 60 m Länge; der Grundriss mag andeuten, dass der Nordteil zuerst entstand, wobei gerade er durch ein 1685 eingebautes Kloster stark verändert ist (Abb. 198). Die Mauer um den Südteil besitzt noch Zinnen und über Rundbogen vorgekragte, polygonale Wehrerker, beide mit einer Variante von Schlüsselscharten; fraglos entstand sie erst im 15. Jahrhundert. Auch die ältesten Ansichten aus dem 17. Jahrhundert zei-
gen keine Innenbebauung mehr, und in der Tat dürfte das Innere des Zollhofes weitgehend als Stapelplatz gedient haben. In Höchst wirkt die Zollstelle auf den ersten Blick wie ein großer Torzwinger, der direkt neben der Burg das Tor zum Mainufer sicherte (Abb. 198). Jedoch deutet schon die Bezeichnung des aus dem mittleren 14. Jahrhundert stammenden Torturmes als „Zolltor“ an, dass es sich hier um etwas anderes handelte, nämlich um den Ort des 1355 / 56 von Karl IV. gewährten Zolls; man nimmt an, dass der Zollwächter das erste Obergeschoss des Tores bewohnte, während weitere zuständige Beamte in der Burg saßen. Wohl um 1465 entstand vor dem Tor die zwingerähnliche Ummauerung der Zollstelle – von der lokalen Forschung als „Batterie“ missverstanden – mit einem runden Schalenturm in auffällig qualitätvoller Ausführung: große Sandsteinquader, profilierte Vorkragung der wappengezierten Brustwehr über einem schönen Maßwerkfries, ein gestäbtes Spitzbogentor zum Bereich der Burg. Auch in Höchst, wo die Anlage weniger verändert ist als in Bacharach, erscheint sie also in erster Linie als ummauerter Stapelplatz am Fluss; jedoch gewinnen wir hier eine bessere Vorstellung vom formalen Anspruch der Architektur, die noch deutlicher als dort zeigt, dass solche Zollstellen durchaus Orte herrschaftlicher Repräsentation waren.
Abb. 198 Zollhöfe als ummauerte Sonderbereiche vor der Stadtmauer: links Bacharach, der Zollhof auf dem Merianstich (Topographia Palatinatus Rheni, 1645) vor dem runden Eckturm der Stadtmauer und rechts schon zur Geschützstellung umgestaltet, rechts die aufwendig ausgestaltete Mauer des Zollhofes in Höchst am Main (Hessen).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
257
Abb. 199 Köln, die 1446 zuerst erwähnte ehemalige Windmühle wurde kurz zuvor auf die „Ulrepforte“, eines der Doppelturmtore der Mauer des frühen 13. Jahrhunderts aufgesetzt; die umlaufende Galerie diente zum Drehen des heute fehlenden Aufsatzes mit den Flügeln (Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884).
Abb. 200 Dinkelsbühl (Mittelfranken), die 1424 ersterwähnte Wassermühle an der Südostecke der äußeren Stadtmauer war ein Teil der Befestigungen. Das Mühlrad lag in einer Art Zwinger mit zwei Ecktürmchen von 1490.
258 I. Systematischer Teil
(Getreide-)Mühlen waren auch im Mittelalter eine zentral wichtige Voraussetzung geregelter Lebensmittelversorgung; für die dicht bewohnten Städte galt das in besonderem Maße. Mit den Stadtbefestigungen hatten die Mühlen jedoch nur in den wenigsten Fällen etwas zu tun, wenn man von den zahllosen „Mühlentoren“ einmal absieht, deren Name Wassermühle, Wasserkunst nur bedeutet, dass die Mühlen vor diesem Tor (oder ausnahmsweise in seiner Nähe innerhalb der Stadt) lagen. Insbesondere gilt dies für Windmühlen, die zwar schon im 12. Jahrhundert aus dem Orient nach Mitteleuropa gekommen sein sollen, aber offenbar in der Regel nicht in den Städten standen, sondern – wie es bis ins 19. Jahrhundert üblich blieb – auf dem Land, auf Hügeln mit guten Windverhältnissen. Zwar hätten gerade auch Stadtmauertürme ähnliche Voraussetzungen geboten, aber die wenigen Beispiele dieser Anordnung, die wir etwa am Niederrhein noch finden, sind – ähnlich wie die wenigen, die auf Darstellungen des 16. / 17. Jahrhunderts auftauchen – offensichtlich nachmittelalterlich; das einzige noch mittelalterliche Beispiel ist die Mühle auf der Ulrepforte in Köln (Abb. 199), wohl aus dem frühen 15. Jahrhundert (eine zweite in Köln wurde im 2. Weltkrieg zerstört). Wassermühlen lagen dagegen öfter in den Städten, was zwanglos dadurch zu erklären ist, dass Städte nicht nur mit Getreide, sondern noch viel mehr mit Wasser versorgt werden mussten, sodass Städte ohnehin in der Regel so lagen, dass schnell fließendes Wasser hineingeführt werden konnte. Eine weitverbreitete Lösung war schon im Falle Regensburg berührt worden: Die Mühlen lagen im Fluss, der an der Stadt vorbeifloss, entweder direkt vor dem stadtseitigen Ufer oder eben an der Flussbrücke. Da der Zugang zur Brücke in der Regel durch einen Brückenkopf gesichert war, waren auch die Mühlen in solchen Fällen mit geschützt und dort, wo es keine Brücke gab, verhinderten oft Sperren im Fluss die allzu leichte Annäherung eines Angreifers. Dennoch bedeutete eine derartige Lage vor der Mauer, dass die Mühlen im Kriegsfalle schwer gefährdet waren, und daher kann es nicht überraschen, dass sie vielfach innerhalb der Stadt im Schutze der Mauer errichtet wurden. Sehr anschaulich ist das noch in Straßburg, wo die Ill sich direkt
nach ihrem Eintritt in die Stadtmauer in mehrere Arme spaltete, an denen die Gerberau und mehrere Mühlen lagen: Das Bild der drei großen Türme auf den Inseln mit den Mühlen dahinter gehört noch heute zu den berühmtesten der Stadt (Abb. 64). Auf andere Weise eindrucksvoll ist die Mühle des Deutschordens am Radaunekanal in der Danziger „Altstadt“, die zwar ihre Räder und Mahlwerke verloren hat, nicht aber ihr enormes Bauvolumen. Eben diese letztere Situation ist die typische für städtische Wassermühlen und sie bedeutet, dass in der Mauer nur Durchlässe für den Mühlkanal nötig wurden. Diese entsprachen im Grundsatz den schon behandelten Durchführungen für natürliche Wasserläufe (vgl. 2.2.6.5.), waren aber in der Regel noch unauffälliger, da Mühlenkanäle kaum breiter als 1–2 m sein mussten. Das bedeutet nicht, dass man den wasserbautechnischen Aufwand, der in solchen Zusammenhängen betrieben wurde, unterschätzen darf. Insbesondere mussten die Höhen der Wasserspiegel sehr genau bestimmt werden, gegebenenfalls durch Systeme von Dämmen, und das konnte auch die Gestaltung wassergefüllter Stadtgräben in dem nicht seltenen Falle, dass sie mit den Mühlkanälen direkt zusammenhingen, mit betreffen; aber Befunde sind in diesem Zusammenhang ausgesprochen selten. Genannt sei ein Ausgrabungsergebnis aus Strausberg, wo das Mühlenfließ auf dem Wall, zwischen den beiden Gräben, zwischen eingerammten Pfosten geführt war; man kann daraus schließen, dass der Kanal auch die Gräben selbst in hölzernen Rinnen überbrückte. Eine hölzerne Wasserleitung in Einbeck konnte auf „1440“ dendrodatiert werden und ebendort ist auch ein steinerner Aquädukt wohl erst des 16. Jahrhunderts beim „Diekturm“ erhalten (vgl. a. Abb. 452). Nach alledem dürfte klar sein, dass Wassermühlen als unmittelbarer Teil der Befestigungen extreme Ausnahmen waren. Das schönste und bekannteste Beispiel war hier fraglos die Wassermühle an der Ostecke der äußeren Mauer von Dinkelsbühl (Abb. 200). Dass der Mühlgraben hier zugleich Stadtgraben war, deutet darauf, dass die Mühle schon älter war und man sich den Wasserlauf für die neue Mauer zunutze machte. Die heutige Mühle dürfte dann wohl 1491 als Teil des umlaufenden Zwingers
entstanden sein; zumindest ist der „Zwinger“ mit seinen zwei Ecktürmchen, der das unterschlächtige Rad schützte, so datiert, während die Mühle selbst im 16. Jahrhundert erneuert wurde. In Aschersleben war die direkt vor dem Stadtgraben liegende „Malzmühle“ nach alten Plänen durch einen eigenen Graben geschützt; sie soll 1407 entstanden sein, ist aber nicht näher erforscht. Eine Mühle in Vaihingen an der Enz sei hier immerhin erwähnt, weil sie durch einen offenbar erst frühneuzeitlichen Mauerzug nur 60–100 m vor der eigentlichen Stadtmauer gesondert geschützt wurde; da die Mühle selbst dabei aber nicht befestigt war, ist dies schon wieder ein Sonderfall (Abb. 84). Ebenfalls selten waren „Wasserkünste“ – heute würde man sie als Hebewerke bezeichnen – im Abb. 201 Bautzen (Sachsen), die Alte Wasserkunst enthielt ein Pumpwerk, um die Stadt mit Wasser aus dem Spreetal zu versorgen; das erklärt ihre Höhe an der Felswand. (Y. Hoffmann).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
259
Abb. 202 Wiener Neustadt (Niederösterreich), zahlreiche zugesetzte Fenster in der westlichen Stadtmauer belegen, dass sich innen die Bebauung an die Mauer lehnte; mehrere romanische Fenster zeigen, dass dies von Anfang an der Fall war.
Zuge der Stadtmauern, die hier aber schon deswegen nur kurz anzusprechen sind, weil sie alle erst in der beginnenden Neuzeit entstanden bzw. in der Regel nur sekundären Gebrauch von Stadtmauertürmen machten. Das älteste erhaltene Beispiel scheint die „Abtswasserkunst“ in Lüneburg zu sein, ein stark veränderter, kräftiger Backsteinturm, der – ursprünglich im Zuge der Mauer stehend – auch eine Mühle schützte. Berühmter und wegen der Lage am Steilabhang des Spreetales besonders eindrucksvoll ist die „Alte Wasserkunst“ in Bautzen von 1558, deren unterer Teil als Streichwehr ausgebildet ist, womit sie ausnahmsweise auch einer letzten Modernisierung der Befestigung diente, während der Turmschaft die aus technischen Gründen nötige Höhe 260 I. Systematischer Teil
nutzt, um eine wahrzeichenhafte Wirkung zu entfalten (Abb. 201). Andere Beispiele waren dagegen äußerlich unauffällig, sind also in die älteren Türme eingebaut worden, ohne deren Äußeres nennenswert zu verändern; das gilt etwa für die „Neue Wasserkunst“ (1606–10) in Bautzen und für Beispiele in Großenhain und Naumburg. Schon im Zusammenhang der Adelssitze in der Stadt (vgl. 2.2.10.1.) waren Bauten angesprochen worden, die „sich an die Mauer lehnten“, obwohl sie offensichtlich Wohnbauten ohne jeden Befestigungscharakter waren. Exakter ausgedrückt, sind damit Gebäude gemeint, bei denen zumindest eine Außenmauer mit der Stadtmauer identisch war, sodass in dieser Öffnungen erscheinen, die wohnlichen Charakter besaßen, also in erster Linie Fenster, auch Aborterker oder sogar einmal Pforten. Gemeint sind dabei nicht jene Fälle, wo Gebäude aufgrund der zunehmenden Verdichtung der innerstädtischen Bebauung erst nachträglich, kaum vor dem 15. Jahrhundert, Originär an die Mauer angebaute Wohnhäuser an die Mauer angebaut wurden, mit der Folge des nachträglichen Einbrechens von Öffnungen in die Stadtmauer. Hier geht es vielmehr ausschließlich um jene romanischen und gotischen Fenster und anderen Spuren, die bereits zusammen mit der Mauer entstanden sind und damit belegen, dass Mauer und angelehntes Haus gleich alt sind. Aus Gründen, die schon erläutert wurden – dem regional üblichen Verzicht auf die Mauergasse (vgl. 2.2.3.6.) –, gibt es derartige Befunde fast nur im süddeutschen Raum. Ihre vollständige Erfassung ist beim gegenwärtigen Wissensstand illusorisch, nur sorgfältige Dokumentationen der häufig schlecht zugänglichen Mauerreste könnten dies leisten, aber einige gut erkennbare oder näher untersuchte Beispiel seien genannt. In Wiener Neustadt gibt es mehrere romanische Doppelfenster in der Mauer (Abb. 202), ähnlich in dem weitaus kleineren Egisheim im Elsass (Abb. 318), in Württemberg wäre entsprechend Herrenberg zu nennen. Die beachtlich alte Mauer von Duisburg (um 1120 / 25) bezog sogar ein bereits bestehendes Haus mit ein. Waren dies alles Beispiele für noch romanische Fenster in der Mauer, so ist Neuleiningen in der Pfalz, das nach neuerer Untersuchung um oder bald nach
Abb. 203 Werdenberg (Schweiz). Die Häuser auf der Mauer der sehr klein gebliebenen Stadt gehen in ihrer Substanz bis ins 13. Jahrhundert zurück. Durch spätere Vergrößerungen wurde die Stadtmauer so stark überbaut, dass sie kaum noch als solche zu erkennen ist.
1238–41 ummauert wurde, ein Beispiel für eine relativ dichte Anordnung von Ausfallpforten und Aborterkern in einem Teil der Mauer, an den innen größere Hofanlagen anschließen. Wer die Bauherren solcher mit der Mauer entstandenen Häuser und Höfe gewesen sind, ist in der Regel sehr schwer zu ermitteln. Sofern es sich um Sitze von Burgmannen handelte – was schon angesprochen wurde (2.2.10.1.) –, wird die Identifikation oft dadurch erleichtert, dass die Grundstücke lange in der Hand derselben Geschlechter blieben, sodass aus späterer Schriftüberlieferung oder auch Bausubstanz Rückschlüsse auf die Verhältnisse des 13. / 14. Jahrhunderts naheliegen. Auch im Fall der Burgmannen bleibt es aber immer denkbar, dass sie quellenmäßig nicht belegt sind, obwohl es sie durchaus gab, oder zumindest nicht so detailliert, dass ihre Sitze noch exakt lokalisierbar wären. Eben diese Überlieferungsprobleme treten noch viel massiver auf, wenn man von der Überlegung ausgeht, dass es vom 12. bis zum 14. Jahrhundert Fälle gab, in denen die Stadtmauer von vornherein als Bestandteil bzw. „Rückseite“ von aneinandergereihten Bürgerhäusern errichtet wurde. Denn für diese Frühzeit fehlt eine beschreibende Überlieferung zu den Wohnsitzen nichtadliger Stadtbewohner, und Baubefunde oder archäologische Ergebnisse können nun einmal den Status ehemaliger Bewohner nur sehr
bedingt erfassen. Am ehesten in die Richtung von Bürgerhäusern an der Mauer weisen die Befunde in einer Anzahl schweizerischer Kleinstädte wie etwa Eschenbach, Glanzenberg, Sempach, Wangen an der Aare und etlichen anderen. Wie so etwas in erhaltenem Zustand aussieht, verdeutlicht etwa Werdenberg in St. Gallen, wo die Häuser „auf der Mauer“ bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen (Abb. 203). Großflächige Grabungen in Unterseen (Interlaken, Kanton Bern) konnten belegen, dass die Hausbebauung mitsamt der Mauer in die Anfänge der 1279 gegründeten Stadt zurückging (Abb. 304). In derartigen Fällen muss man sich allerdings klarmachen, dass man es in aller Regel nicht mit lange gewachsenen, großen Mittelpunkten von Produktion und Handel zu tun hat, sondern mit kleinen Gründungsstädten, die in der Regel aus den Interessen eines adligen Herrn heraus entstanden. Das erklärt in erheblichem Maße das vereinheitlichte, in der Zusammenfassung von Mauer und Wohnhäusern auch sparsame Konzept – und es stellt eine im engeren Sinne „bürgerliche“ Freiheit der Hausbewohner a priori infrage. Es handelte sich hier um Klein- oder Minderstädte (vgl. 1.4.), bei denen sich die Abhängigkeit der Bewohner vom Stadtherrn eben auch im baulichen Konzept der „aus dem Boden gestampften“ Stadtanlage spiegelte. Entsprechend, nämlich als Sparkonzept, lediglich aus viel späterer Zeit, wird man auch jene 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
261
Vorstädte ebenfalls alpiner Handelsmittelpunkte bewerten (Innsbruck, Bozen und andere), deren Befestigung augenscheinlich auch nur aus den lückenlos gereihten Rückfronten der steinernen Häuser bestanden, lediglich mit einem Tor an der Hauptstraße. Damit ist die Darstellung jener Sonderbauten und -bereiche abgeschlossen, die direkt hinter einer Stadtmauer lagen und ihre Erscheinung damit in dieser oder jener Weise beeinflussten. Quasi als Schlusspunkt sei noch ein Einzelfall berührt, der zu keinem Kapitel recht passen würde, aber gerade deshalb die Vielfalt der Möglichkeiten nochmals unterstreicht. In Dinkelsbühl nämlich gibt es die „Bleiche“, eine nie bebaute Wiese in der beachtlichen Größe einer Vorstadt, die allein dem Bleichen der in der Stadt hergestellten Baumwoll- bzw. Barchenttücher in der Sonne diente. Sie wurde wohl um oder nach 1500 durch eine Mauer mit einem Tor, zwei Streichwehren und Wassergraben gesichert, die großenteils erhalten ist.
2.2.11. Bauten im Zeitalter der Feuerwaffen In der Entstehungszeit steinerner Stadtbefestigungen, also vor allem im 12. bis 14. Jahrhundert, hatten die Bauherren und Entwerfer der Anlagen mit Aktionen potenzieller Angreifer zu rechnen, die überwiegend darauf zielten, die Befestigungsanlagen zu überwinden, nicht aber auf ihre Zerstörung. Überraschungsangriffe und Übersteigen der Mauer, nachdem die Verteidiger durch Bogen- oder Armbrustschüsse dezimiert worden waren, waren die üblichen Mittel, die zur Folge hatten, dass die Mauern jener Zeit vor allem daraufhin entworfen wurden, die Annäherung des Gegners zu behindern. Dem dienten die Gräben und ebenso die Türme, die durch ihre Höhe das Schussfeld der Verteidiger vergrößerten. Zwar sind seit dem 13. Jahrhundert – und außerhalb des deutschen Raumes noch früher – auch schon Methoden nachweisbar, die auf die Zerstörung von Mauerwerk zielten, nämlich einerseits Unterminierung und andererseits der Einsatz von Wurfgeschützen, die nach neuerer Erkenntnis schwere Geschosse durchaus zielgenau werfen konnten. Aber solche Methoden brauchten Spezialisten und einigen Kosten- sowie Zeitaufwand, und unter mittelalterlichen Bedingungen konnte 262 I. Systematischer Teil
die Organisation und Finanzierung eines so ausgestatteten Heeres lange Zeit nur wenigen Fürsten gelingen, und das nur recht selten. Das änderte sich mit dem Aufkommen von Feuerwaffen im Spätmittelalter in grundlegender Weise, wobei sich die neue Technologie auch mit verbesserten Formen staatlicher Organisation verband, die gemeinsam das Kriegswesen zu verändern begannen; am prägnantesten belegte dies Volker Schmidtchen. Ein einzelnes Pulvergeschütz – und mehr als das wurde in den Anfängen der Belagerungsartillerie im früheren 15. Jahrhundert selten eingesetzt – erforderte zwar weiterhin Spezialisten für Produktion und Einsatz sowie erheblichen Transportaufwand bis zum Einsatzort, aber seine enorme Zerstörungskraft bot, abgesehen von Anfangsproblemen, sehr bald eine nahezu hundertprozentige Gewähr für die Einnahme des belagerten Platzes. Damit erreichte die Konkurrenz der Territorien eine neue Qualität und eine Entwicklung wurde in Gang gesetzt, in der ständig ansteigender militärisch-technologischer Aufwand einerseits und Konzentration der Macht in Form großer Fürstentümer und Stadtstaaten andererseits Hand in Hand gingen bzw. sich gegenseitig steigerten. Eine entscheidende Stufe dieses Prozesses war der Schritt vom einzelnen Geschütz zur Artillerie, also zu einer größeren Anzahl von Geschützen, die gemeinsam gewartet und koordiniert eingesetzt wurden. Dabei bestand ein weiterer bedeutender Schritt im Prozess der Normung, der es möglich machte, metallene Kugeln in wenigen, aber genau festgelegten Größen in allen Geschützen zu verwenden, die mit eben diesem „Kaliber“ hergestellt worden waren. Diese Entwicklungen fanden im Laufe des 16. Jahrhunderts statt – das Militärwesen und die Zeughäuser Kaiser Maximilians I. (Regierungszeit 1486–1519) spielten dabei im deutschen Raum eine entscheidende Rolle – und führten dann bald zum Aufkommen ganz neuer, „bastionärer“ Befestigungsformen, die aber im hier gesetzten Rahmen der mittelalterlichen Stadtbefestigung nicht mehr zu behandeln sind. In der Phase der frühen Feuerwaffen – von ersten, aus China herzuleitenden Anfängen in den 1320er Jahren bis ins frühe 16. Jahrhundert – war die neue Technologie noch keine allgegenwärtige Gefahr, die im Bewusstsein der Bauherren und
Entwerfer eine selbstverständliche und beherrschende Rolle gespielt hätte. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass es anfangs einzelne spektakuläre Belagerungen waren, die, erfolgreich oder nicht, eine eher unregelmäßige Wirkung auf den Befestigungsbau entfalteten; genannt seien als bekannte Fälle etwa Eltz 1332, Mägdeberg im Hegau 1378, Tannenberg an der Bergstraße 1399, die Marienburg in Westpreußen 1410, Friesack und Plaue in Brandenburg 1413, die Hussitenzüge um 1420 / 30 und die Türkengefahr ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dann Kufstein 1504, die Burgen des Franz von Sickingen 1522 / 23, Wien 1529 und schließlich die Belagerungen im Schmalkaldischen Krieg 1547. Fraglos bewirkten die Nachrichten von solchen Attacken – je nach Region, feindlicher Bedrohung, technischem Verständnis, verfügbaren Beratern, Finanzmitteln und weiteren ausgesprochen variablen Faktoren – ganz unterschiedliche Reaktionen, auch und insbesondere auf baulicher Ebene. Die Anfänge dieser Reaktionen werden im Folgenden zu analysieren sein. Heute spielen die durch den Einsatz von Artillerie geprägten Bauten im Bestand der Stadtbefestigungen eine Rolle, die ihre wirkliche Bedeutung in der Entwicklung des Bautypus eher noch übertrifft. Die Beschaffenheit dieser Bauteile, das heißt ihre meist beachtlichen Dimensionen und ihr gestalterischer Anspruch, haben dazu geführt, dass die „Überlebenschancen“ von Rondellen und anderen Kanonentürmen, von großen Torzwingern und gefütterten Gräben deutlich besser waren als jene einfacher Mauertürme oder gar turmloser Mauerpartien. Einzig die ebenfalls imposanten Tortürme und Torbauten früherer Phasen wurden in vergleichbarem Maße bis heute verschont und zu wahrzeichenhaften Akzenten moderner Städte uminterpretiert. Als Beispiele solch bekannter Bauten des frühen Artilleriezeitalters seien etwa das Lübecker „Holstentor“, das „Breite Tor“ in Goslar, der Görlitzer „Kaisertrutz“ oder der „Munot“ in Schaffhausen genannt. 2.2.11.1. Traditionelle Mauern im Artilleriezeitalter Dass die Stadtbefestigungen in Reaktion auf das Aufkommen der Feuerwaffen im 15. / 16. Jahrhundert erheblich modernisiert wurden, ist na-
hezu eine Binsenweisheit. Allerdings hat die ältere Forschung in der Regel nur ausgewählte Einzelbauwerke näher dargestellt, die unter technisch-militärischen Aspekten typisch für die neuen Entwicklungen schienen, während sie den unauffälligeren Entwicklungen, die sich zunächst ohne allzu einschneidende Veränderungen des überkommenen Baubestandes vollzogen, kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dabei besitzen gerade diese kleineren Veränderungen, die vor allem auch den Anfang des Prozesses markierten, ein hohes entwicklungsgeschichtliches Interesse. Denn der Prozess, der hier erkennbar wird, verdeutlicht in beispielhafter Weise, wie neue Notwendigkeiten auf eine seit Langem konsolidierte Situation wirken: Es findet kein plötzlicher, durch rationale Einsicht ausgelöster Umschwung statt, sondern man erkennt eher ein tastendes, durch Zufälligkeiten der Bewusstwerdung und ökonomische Zwänge bestimmtes, manchmal geradezu unlogisch wirkendes Übernehmen oder auch Zurückweisen von Anregungen. Um dies deutlicher zu machen, werden hier Kapitel an den Anfang gestellt, die gerade nicht nach den spektakulären Neuerungen des Feuerwaffenzeitalters fragen, sondern vielmehr zunächst die ab dem späten 14. Jahrhundert und bis weit ins 16. Jahrhundert neu entstehenden Mauern in ihrer Gänze zu erfassen suchen. Es wird sich dabei zeigen, dass das Typische dieser Epoche eher nicht das Neue war, eher nicht die spezialisierten, aufwendigen Artilleriebauten, sondern vielmehr durchaus traditionelle Mauern und Türme, wie sie ganz ähnlich schon ab dem 13. Jahrhundert entstanden waren. Dass Europa im mittleren 14. Jahrhundert eine tiefe und folgenreiche Krise durchzustehen hatte, ist bekannt. Weite Teile des Kontinents wurden damals vom „Schwarzen Tod“ ergriffen, der die Bevölkerung nach seriöser Schätzung um etwa ein Drittel reduzierte; er erreichte Deutschland 1349. Es ist zwar unbestritten, dass die Wirkungen der Pest regional recht unterschiedlich aussahen, dass zum Beispiel Süddeutschland offenbar weitgehend verschont blieb. Aber ein Geschehen, das bedeutende Handelsstädte wie etwa Florenz auf 20 Prozent ihrer Bewohnerschaft reduzierte und in noch nicht allzu stark erschlossenen, ländlichen Regionen zu umfangreichen Wüstungs2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
263
prozessen führte, hatte selbstverständlich einen flächendeckenden Einbruch des sozialen und wirtschaftlichen Geschehens zur Folge – auch in Räumen, denen das Massensterben als solches erspart blieb. Und ebenso liegt es auf der Hand, dass dieser Einbruch auf die Errichtung und Unterhaltung von Stadtbefestigungen starke Auswirkungen hatte. Es kann daher kaum verblüffen, dass im 14. Jahrhundert nur noch große Städte vollständige äußere Mauerringe bauen konnten, die ihre herangewachsenen Vorstädte einheitlich umgaben. Und es liegt weiterhin nahe, dass die große Mehrzahl dieser Städte eher im süddeutschen bzw. im Mittelgebirgsraum lag, wo nicht nur Natursteinmaterial zur Verfügung stand, sondern wo auch die Pest weniger stark gewütet hatte. Im südwestdeutsch-fränkischen Raum markierte ein interessanter Fall den Beginn dieser Entwicklungsstufe, nämlich Würzburg, das seine Vorstädte 1322–54 durch eine äußere Mauer zusammenfasste, aber ein Jahrhundert später wieder hinter diese optimistische Maßnahme zurückfiel; denn 1428 / 30 wurde allein die Kernstadt mit einem Zwinger versehen und 1432 / 35 schloss sogar eine Quermauer („Mittelmauer“) eine zuvor befestigte Vorstadt wieder aus. Etwas konsequenter verlief die Entwicklung im nahen Rothenburg, wo ab 1330 / 40 bis zum Ende des Jahrhunderts eine äußere Mauer entstand, vor die man 1376 zunächst die Mauer der Spitalvorstadt schob; ein dritter Mauerring, der Letztere integriert hätte, wurde um 1404 begonnen, blieb aber im Ansatz stecken. Weitere Beispiele aus demselben Raum sind die äußeren Mauern von Frankfurt am Main (ab 1333), Nürnberg (1346– 1407), Basel (1361 / 62–98), Ingolstadt (1363– 1430), Dinkelsbühl (1372–1420), Weißenburg in Mittelfranken (1372–76 begonnen), Schwäbisch Gmünd (1399–1424) und Nördlingen (um 1400?); Worms war um 1500 ein Nachzügler. Die meist mehrere Jahrzehnte erfassenden Quellen zum Bauvorgang belegen ein weiteres Mal den hohen Aufwand solcher Projekte. In Altbayern liegt der Beginn äußerer Mauerringe um die größeren Städte ähnlich früh wie in Franken, jedoch erscheinen hier die Anfänge der Mauerringe von München (um 1315 / 19) und Amberg (1326) als isolierte Vorläufer einer Entwicklung, die sonst erst im späten 14. Jahr264 I. Systematischer Teil
hundert einsetzte, etwa in Landshut, Passau oder Landsberg am Lech, wo sich der Bau bis mindestens um 1420 / 25 hinzog. Dass die Verhältnisse hier, überwiegend auf den Grundmoränen des Alpenvorlandes, wesentlich komplexer waren, kann etwa die Tatsache verdeutlichen, dass die bedeutende Bischofsstadt Freising erst 1381 ihre erste Mauer erhielt – die erste, nicht etwa eine zweite, äußere! Diese Verhältnisse erinnern direkt an den flachen, ebenfalls eiszeitlich geprägten Norden des deutschen Raumes, wo äußere Mauerringe unverkennbar schon deswegen kaum vorkamen, weil dort der Bau (back)steinerner Befestigungen überhaupt erst im späteren 14. Jahrhundert nennenswert in Gang kam; die Errichtung dieser Mauern zog sich, auch wegen der erhöhten Problematik der Materialbeschaffung, häufig so lange hin, dass die Zeit der mittelalterlichen Mauern bereits zu Ende ging, bevor die ohnehin meist begrenzte Wirtschaftsdynamik an eine Erweiterung des Stadtgebietes zu denken erlaubte. Dementsprechend findet man nördlich der Mainlinie deutlich weniger Beispiele solcher äußeren Mauerringe aus dem fortgeschrittenen 14. Jahrhundert und späterer Zeit. Genannt seien etwa Erfurt (um 1410–83) und Bautzen (wohl erst zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts), die aber beide noch im Bereich der Mittelgebirge liegen. Weitere wichtige Städte des Hügellandes, etwa Braunschweig oder Hildesheim, waren insoweit Sonderfälle, als die späten Mauern mehrere zuvor isolierte Stadtkerne zusammenfassten. Nicht zu vergessen ist dabei außerdem, dass die wirklich bedeutenden Handelsstädte des norddeutschen Flachlandes oft schon früh, im (12. oder meist) 13. Jahrhundert eine so erstaunliche Dimension erreicht hatten, dass es einer neuen Mauer im 14. Jahrhundert nicht mehr bedurfte; man denke etwa an Köln, Lübeck, Stendal oder Breslau. Dass im süddeutschen Mittelgebirgsraum nur herausragende Zentren wie die eben angeführten ihre Vorstädte durch einen gemeinsamen Mauerring zusammenfassten, bedeutete natürlich im Umkehrschluss nicht, dass mittlere und kleiner Städte im 13. und 14. Jahrhundert völlig in ihrer Entwicklung stecken blieben. Bei ihnen entstanden vielmehr auch Vorstädte an den Hauptausfallstraßen, die aber entweder unbefestigt blieben oder nur als solche, strahlenförmig
ins Vorland ausgreifend, ummauert wurden. Solche Vorstädte waren so häufig, dass hier kein vollständiger Überblick infrage kommt, zumal es sich nicht im engeren Sinne um eine Entwicklung handelt, die die Befestigungen betraf, sondern um ein Phänomen der Stadtentwicklung im Allgemeinen, dessen Mauern nicht anders aussahen als Erstummauerungen oder äußere Mauerringe derselben Epoche. Als gut erforschte Einzelbeispiele der Entwicklung von Vorstädten seien hier Basel, Rothenburg ob der Tauber und Freiburg im Breisgau genannt. In Basel konnte eine intensive archäologische Forschung zeigen, dass die Befestigung einzelner Vorstädte dem äußeren Mauerring vorangegangen war, der diese dann erst in einer dritten Entwicklungsstufe zusammenfasste (Abb. 204). In Rothenburg ist dagegen die Mauer um die Spitalvorstadt erhalten und verdeutlicht noch gut das Missverhältnis zwischen der Mauerlänge und der geringen Anzahl geschützter Grundstücke; auch der populäre Name „Kappenzipfel“ deutet an, dass die Vorstadt als skurriles Anhängsel empfunden wurde. Ein dritter Mauerring, in dem die Spitalvorstadt aufgegangen wäre, wurde in Rothenburg zwar konzipiert, blieb aber aus politischen und wirtschaftlichen Gründen unvollendet. Freiburg schließlich, wo von den Vorstadtmauern fast nichts erhalten ist, zeigt, wie lange deren Entwicklung oft brauchte. Die „Prediger-“ und die „Lehener Vorstadt“ wurden teils schon im 13. Jahrhundert durch Tore abgeschlossen, wobei ein Graben erst 1423 erwähnt wird und Mauern schließlich erst 1494–1583 entstanden – und dabei handelt es sich um eine durchaus wichtige Stadt, die vom 13. bis zum 15. Jahrhundert insgesamt sogar vier(!) Erweiterungen erlebte. Die bisher angesprochenen Mauern waren Folge des Wachstums größerer Städte, die schon früher ummauert gewesen waren. Nicht weniger typisch für die Epoche des späten 14. und des 15. Jahrhunderts waren jedoch Erstummauerungen zahlreicher kleiner Städte (die in der Regel auch ihre einzigen blieben). Diese Kleinstadtmauern prägen aufgrund ihrer hohen Anzahl – und relativ häufigen Erhaltung, die ebenfalls Folge geringer Entwicklungsdynamik ist – das Bild der deutschen Stadtbefestigungen vor allem des 15. / 16. Jahrhunderts im Grunde stärker als die
Abb. 204 Basel, der unregelmäßige Verlauf der äußeren Mauer (1361–1384 / 85) ergab sich daraus, dass zuvor bereits Vorstädte und andere Areale bestanden hatten (1–15), die nach archäologischen Ergebnissen teilweise separat befestigt gewesen waren. (G. Helmig in: Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt, 1996).
vergleichsweise eher seltenen Artilleriebauten; zur Verdeutlichung seien, ohne nähere Analyse, nochmals gut erhaltene und datierte Beispiele aus dem gesamten deutschen Raum genannt. Im Tiroler Raum ist das 1499–1521 neu befestigte Glurns hervorzuheben (Abb. 298), dem man in der Schweiz Zug (1477 / 78 bis etwa 1522; Abb. 205) oder auch Brugg / Aare mit Rundtürmen von 1522–25 an die Seite stellen kann; in allen drei Fällen wurden ursprünglich winzige Einstraßenstädte erweitert. In den Natursteingebieten der österreichischen Donauländer – die flachen Teile des Landes und Altbayern gehören aus den schon erörterten Gründen nicht hierher – sind etwa Haslach (nach 1427), Scheibbs (vor 1430) oder Melk (vor 1462) zu erwähnen. In der Oberpfalz ist Berching (um 1464–96, Vorstadt frühes 16. Jahrhundert) ein interessanter Fall, aber den wohl reichsten Bestand bietet auch hier wieder Franken. Als neue Mauern der Zeit vor und um 1400 können Greding, Rothenberg oder Lichtenfels genannt werden, wobei die neuen Mauern in den raueren Regionen des Juras und Fichtelgebirges auch bis weit ins 15. Jahrhundert oder sogar ins 16. Jahrhundert hinein2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
265
reichten; genannt sei Beilngries (1487–1524). Erst recht gilt das für die zahlreichen Städtchen und Weindörfer Unterfrankens, die ab dem späten 15. Jahrhundert und letztlich – in der Zeit Julius Echters von Mespelbrunn – bis ins frühe 17. Jahrhundert in immer noch mittelalterlichen Formen ummauert wurden, in der Regel mit Rundtürmen und niedrigen Torbauten (Abb. 386); auch Zäune und Fachwerktore hielten sich hier lange. Als Sonderfälle seien Ornbau (ab 1464 ummauert, um 1477 / 87 festungsartig verstärkt) sowie die Spätlinge Ellingen und Künzelsau genannt; im ersten Fall entstand die Mauer erst um 1590–1660, im zweiten sogar erst 1767–86, wobei Tore aber schon im 16. Jahrhundert bestanden. Weiter westlich, schon im Alemannischen, kann man die Neuummauerungen von Höchstädt (um 1523) und jene von Weißenhorn (1470 / 80 bis nach 1504) anschließen. Auch entlang der Rheinschiene sind Kleinstadtmauern des späten 14.–16. Jahrhunderts kein seltenes Phänomen gewesen. Im Elsass wären etwa Westhofen (1392) oder Pfaffenhoffen (1513–1613) zu nennen, in der anschließenden
Abb. 205 Zug (Schweiz), der Plan zeigt die Erweiterungen der Stadt: Auf die erste Mauer (vor 1255; 12. Jahrhundert?) folgte der ungewöhnliche Ausbau ihrer Contrescarpe zur Zwingermauer (nach 1435?), schließlich die Erweiterung mit ihren Rondellen (1477 / 78 bis um 1530) (R. Rothkegel in: Stadt- u. Landmauern, Bd. 2).
266 I. Systematischer Teil
Pfalz Dalsheim und Freinsheim (beide um / nach 1400; Abb. 206); auf der anderen Rheinseite, im Schwarzwald, dürfte Zell am Harmersbach seine Mauer erst um 1462–98 erhalten haben. In Lothringen wäre Rodemachern zu erwähnen, das um 1483 die Mauer nicht überragende Rundtürme – und einen mandelförmigen Turm – mit Maulscharten erhielt. Im niederrheinischen Gebiet entstanden um 1400 noch viele Kleinstadtmauern aus Backstein, die in der Regel nur wenige Rundtürme besaßen; ein spätes Beispiel war Hattingen, das seine Mauer – nach der Erlaubnis für Wall und Graben 1369 – erst im 16. Jahrhundert erhielt. Noch später liegen Gemünden, dessen 1689 zerstörte Mauer von der Gemeinde nochmals erneuert wurde, und Blankenheim, wo man 1723 eine äußere Mauer begann. In Hessen sind die meisten Kleinstadtmauern mit ihren charakteristischen Rundtürmen und -schalen ohnehin erst spät entstanden. Typische Beispiele der beginnenden Feuerwaffenzeit sind etwa Hochstadt, wo im Laufe des 15. Jahrhunderts sukzessive Schlitzscharten in Stehhöhe bei Wehrgangverzicht, später nur noch mauerhohe Schalen und Maulscharten auftreten, oder aber Dillenburg, dessen 1588–1618 entstandene schlichte Mauer mit einigen kleinen Rondellen auskommt. Ähnliche, noch ganz mittelalterlich wirkende Mauern des 15. bis frühen 17. Jahrhunderts bietet das nahe Thüringen, in der Regel ebenfalls mit kleinen Rondellen oder Schalen, so etwa noch in Themar (Abb. 218) oder Heldburg; Salzhausen begann eine Mauer um seine Solequelle erst 1668 / 69, Rastenberg die Ortsbefestigung 1711. Erwähnenswert sind auch einige Kleinstädte im Thüringer Becken mit Mauern des 16. Jahrhunderts, etwa Greußen mit 22 nur mauerhohen „Türmen“ verschiedener Form. Aussagekräftig ist ferner Zerbst, wo man um 1396–1486 die gefährdete Feldsteinmauer des 13. Jahrhunderts in Backstein erneuerte und dabei Wiekhäuser und einige Rundtürme ergänzte, die zuvor schalenförmigen Tore innen schloss und erhöhte. Das benachbarte Sachsen bietet das Problem, dass dort allgemein wenig erhalten ist; jedoch kann es, etwa nach frühen Abbildungen, kaum Zweifel geben, dass auch dort vom späten 14. Jahrhundert bis ins frühe 16. Jahrhundert intensiv gebaut wurde; erinnert sei bezüglich des Endes dieser Phase nur an die „Bergstädte“ des Erzgebirges:
Annaberg erhielt 1503–40 eine niedrige Mauer mit Wehrgang, Rondellen und Rundschalen, Marienberg 1541–56 eine vergleichbare Mauer mit kräftigen Torbauten, die aber nur noch an den Ecken Rondelle besaß (Abb. 207). Brandenburg schließlich, das mit seinem erst im 14. Jahrhundert stärker einsetzenden Mauerbau hier als Vertreter der ganzen Backsteinregion stehen darf, erlebte im 15. Jahrhundert einfach nur die letzten Ausläufer dieses vergleichsweise geschlossenen Ablaufes, etwa mit den Mauern von Drossen (nach 1477) oder Lübben (ab 1487). Diese auf charakteristische Fälle beschränkte Aufzählung von Mauern, die zwischen dem späten 14. Jahrhundert und dem 17. oder gar 18. Jahrhundert entstanden, sollte zunächst verdeutlichen, dass das Aufkommen der Feuerwaffen auf eine nach wie vor blühende Kultur des Stadtmauerbaues traf. Sie sollte aber auch veranschaulichen, dass die neue Waffentechnik keineswegs etwa eine schnelle und flächendeckende Wandlung der Befestigungsformen auslöste. Vielmehr blieben die vor den Feuerwaffen im 13. und früheren 14. Jahrhundert entwickelten Bauformen noch lange üblich, obwohl sie ihre Aufgabe immer weniger erfüllen konnten. Denn die grundsätzlichen Bestandteile all dieser äußeren Mauerringe, Vorstadt- und Kleinstadtmauern blieben die altbekannten: Mauern, Türme und Graben, oft auch Zwinger (weswegen sie in den Abschnitten 2.2.3.–2.2.9. oft schon mitbehandelt wurden). 2.2.11.2. Anfügung von Türmen und Erhöhung der Mauer Geht man von älteren Darstellungen des Befestigungswesens aus, so wirkt es ausgesprochen überraschend, dass manchen bestehenden Mauern in der Zeit der aufkommenden Artillerie überhaupt erst Türme hinzugefügt und dass sie erhöht und mit neuen Wehrgängen versehen wurden. Denn um 1900 und noch weitaus länger war es üblich, als beispielhafte Zeugnisse dieser Epoche nur die fortschrittlichsten und eindrucksvollsten Artilleriebauten vorzustellen, für die ganz im Gegenteil geringe Höhe, Dickwandigkeit und Aufstellungsplätze für Geschütze immer charakteristischer wurden. Wie jedoch schon im vorigen Kapitel klar geworden sein sollte, verfehlt die Auswahl solcher besonders progressiven Einzelbauten
Abb. 206 Dalsheim (Rheinland-Pfalz), der Rundturm neben dem zerstörten „Obertor“ und die Wehrgangbögen der hohen Bruchsteinmauer (um 1470–90) gehören zu einer der besterhaltenen, wenn auch stark verbauten Mauern in der Pfalz , obwohl Dalsheim nie Stadtrechte erhalten hat. Abb. 207 Marienberg (Sachsen), die Darstellung des 17. Jahrhunderts lässt die noch ganz „mittelalterliche“ Befestigung der 1521 gegründeten Stadt erkennen: Mauer mit Wehrgangbögen, Torbauten und kleine Eckrondelle (Bergkarte von Adam Schneider, 1689, Ausschnitt; Stadtarchiv Marienberg).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
267
die Realität des späten 14. und 15. Jahrhunderts, die in Wahrheit noch sehr weitgehend durch die Fortführung traditioneller Befestigungsformen geprägt war. Dementsprechend waren auch die Anfügung von Türmen, die Erhöhung der Mauern und die Neugestaltung ihrer Wehrgänge durchaus zeittypisch. Denn dort, wo sich finanziell potentere Städte oder Landesherren einen ganz neuen, äußeren Mauerring, ausgedehnte Vorstadtmauern oder die Erstummauerung einer kleineren Stadt leisten konnten, da reichten die Mittel anderer Gemeinwesen gerade einmal dafür aus, jenen mittelalterlichen „Standard“ zu vervollständigen, der ihnen bisher gefehlt hatte; wirklich progressive Artilleriebauten lagen weit außerhalb ihrer Möglichkeiten. Insbesondere im süddeutschen Raum – in der Schweiz, in Baden, in Bayerisch Schwaben und im österreichischen Raum – hatten viele Mauern kleinerer Städte anfangs gar keine oder nur sehr wenige Türme gehabt (vgl. 2.2.4.3.); sie wurden erst ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nach und nach hinzugefügt. Dass in dieser Spätphase auch zahlreiche Tortürme neu entstanden, ist ein Phänomen, das weit über den süddeutschen Raum hinausreichte und schon behandelt worden ist (vgl. 2.2.5.). In aller Regel wissen wir in solchen Fällen nicht, was zum Neubau des Torturmes geführt hat, jedoch liegt die Deutung am nächsten, dass die zuvor bestehenden Tore von sehr viel bescheidener Art waren, also niedrige Torbauten oder gar Mauertore (vgl. 2.2.6.1–2.2.6.2). Beispiele würden wegen der großen Anzahl der Fälle und der grundsätzlichen Unklarheit über die Vorgängerbauten nicht weiterführen, aber ein Blick etwa auf das „Breite Tor“ in Goslar kann im Prinzip verdeutlichen, was häufig abgelaufen sein dürfte (Abb. 171). Das ursprüngliche Tor wurde zusammen mit anderen Toren in den Jahren ab 1397 abgerissen und entstand dann 1443 völlig neu. Bei diesem Neubau sind die beiden kräftigen, auf den Außenwall vorgeschobenen Rondelle des Torzwingers als Anpassung an die Feuerwaffen erklärbar, kaum aber der formal ganz traditionelle, niedrige Torturm im Verlauf der Hauptmauer. Sein Bau war eher darin begründet, dass die älteren Tore aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts einem völlig überholten Typus angehörten, indem sie offensichtlich Torbauten mit Kapellen im einzigen 268 I. Systematischer Teil
Obergeschoss waren. Die Goslarer Tortürme der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellten also wohl eine recht späte Anpassung an einen Standard dar, der bei vielen, insbesondere aber den großen und vorbildhaften Stadtmauern schon im 13. / 14. Jahrhundert entwickelt worden war. Und eben diese nachholende Verwirklichung eines bestehenden Standards würde ich ganz allgemein für die Erklärung jener zahlreichen Tortürme halten, die zwischen dem späten 14. und dem 16. / 17. Jahrhundert in Deutschland entstanden (vgl. 2.2.5., 2.2.5.10.). In eine durchaus ähnliche Richtung dachte auch Heinrich Trost, der die meist erst um 1400 entstandenen, besonders schmuckreichen Tore im brandenburgischen Backsteingebiet in dem Sinne deutete, die meist kleinen Städte hätten so versucht, die älteren und stärkeren Mauern der größeren Städte wenigstens durch besonderen formalen Reichtum zu übertreffen; dem würde ich nur hinzufügen wollen, dass der auffällig späte Zeitpunkt dieses Versuchs sicher auch mit der verlangsamten wirtschaftlichen Entwicklung gerade kleiner Ackerbürgerstädtchen in der unfruchtbaren „Streusandbüchse“ zu tun hatte. In größerer Anzahl Beispiele für Mauertürme darzustellen, die vor allem im süddeutschen Raum erst nachträglich turmarmen Mauern angefügt wurden, wäre ebenso wenig sinnvoll wie bereits bei den späten Tortürmen. Die Türme als solche zeigen keine Merkmale, die sie von den anderen Türmen der Epoche unterscheiden, was auch bedeutet, dass viel mehr von ihnen nachträglich hinzugefügt sein können, als wir bisher wissen; denn man benötigt besonders günstige Umstände oder konsequente Bauforschung, um die betreffenden Umbaubefunde zu erkennen; die Regionalkapitel 1. bis 9. nennen zahlreiche derzeit erkennbare Einzelfälle. Zwei besonders anschauliche, weil weitgehend erhaltene und gut untersuchte Beispiele seien aber auch hier nochmals angesprochen, nämlich Nördlingen und Schwäbisch Gmünd. Die äußere Mauer von Nördlingen – die innere stammte wohl noch aus der Stauferzeit – wurde 1327 begonnen und etwa 1390 vollendet, wobei Quellen und Baubefund ergeben, dass es anfangs zwar wohl fünf Tortürme gab – sie wurden später alle erneuert –, aber keinen einzigen Mauerturm. Ab 1395 dann, also eigentlich in einer
zweiten Ausführungsphase, wurden dann einige wenige Türme angebaut, aber die Mehrzahl der heute vorzufindenden Türme, Rondelle und anderen Werke entstanden erst im 16. Jahrhundert durch Anbau oder Umbau der wenigen älteren Türme. In Schwäbisch Gmünd, gleichfalls mit noch stauferzeitlicher oder wenig jüngerer Innenmauer, zeigen die Quellen im Vergleich mit den Dendrodaten, dass man die äußere Mauer als solche in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts errichtete, die Türme aber erst nach 1500 nach und nach anfügte. Der nachträgliche Anbau von Türmen war ein Vorgang, der im Baubestand erhaltener Stadtmauern sehr schwer zu erkennen ist, weil durch ihn kein neues, ungewöhnliches Bild entstand, sondern vielmehr eines, das anderswo längst vorhanden war – der Vorgang schuf keine Abweichung vom Standard, sondern vielmehr eine Anpassung. Noch unauffälliger war eine andere Veränderung der Stadtmauern im Zeitalter der Feuerwaffen, die jedoch schon wesentlich direkter auf die Verwendung der neuen Waffen reagierte: die Anpassung der Wehrgänge. Fast alle Mauern, die zumindest ihre Brustwehren bewahrt haben, zeigen heute keine Zinnen mehr, sondern an ihrer Stelle Scharten für Handfeuerwaffen, die in der Regel einfach als Verkleinerung in die Zinnenlücken eingebaut worden sind (Abb. 208, 32). Zinnen als die mindestens vom 11. bis zum 14. Jahrhundert normale Form der Brustwehr wurden so zu einem seltenen Phänomen; man findet sie heute nur noch auf Mauern von Kleinstädten, denen das Geld zur Modernisierung fehlte, oder vermauert in späteren Erhöhungen oder, was letztlich der häufigste Fall sein dürfte, als Restaurierungszustand des 19. / 20. Jahrhunderts. Die Verwendung von Feuerwaffen war es auch – nach einer häufig anzutreffenden Meinung –, die dazu führte, dass die Wehrgänge überdacht wurden. Die Behauptung als solche ist in technischen Überlegungen begründet, denn frühe Feuerwaffen waren ausgesprochen feuchtigkeitsempfindlich; nasses Pulver zündete nicht mehr und so konnte schon Nieselregen die Verteidigung zum Erliegen bringen. Schwer fällt allerdings der Nachweis, dass es vor der Verbreitung der Feuerwaffen noch keine überdachten Wehrgänge gegeben habe (vgl. 2.2.3.4.), und so
Abb. 208 Der Einbau von Feuerwaffenscharten in die Zinnenlücken fand in Spätmittelalter und früher Neuzeit fast flächendeckend statt, ist aber, da die Brustwehren selten erhalten sind, nur noch selten zu sehen, wie hier in Amberg (Oberpfalz).
bleibt es insoweit bei einer vernünftigen, aber kaum beweisbaren Vermutung. Eine dritte bauliche Veränderung, die mittelalterliche Mauern den gestiegenen Anforderungen der frühen Feuerwaffen anpassen sollte, war vermutlich die Erhöhung der Mauern. Eine genaue Betrachtung der Befunde zeigt aber auch hier wieder, wie schwierig das Thema in der Praxis ist. Denn viele Mauererhöhungen sind wirklich zuverlässig nur durch aufwendige Bauforschung zu erkennen und es braucht zusätzlich sehr günstige Umstände, um den Zeitpunkt solcher Erhöhungen zu bestimmen. Zwar trifft man verschiedentlich auf Fälle, in denen eine oder mehrere Erhöhungen mit bloßem Auge erkennbar (oder quellenmäßig zu belegen) sind, aber es wäre fahrlässig, diese relativ wenigen Fälle für repräsentativ zu halten (Abb. 37, 409). Deutlich sichtbar sind derartige Veränderungen nämlich vor allem dann, wenn die Zinnen der ursprünglichen Mauer in der Erhöhung erhalten blieben, was dem erfahrenen Betrachter oft direkt erkennbar ist. Es gibt aber auch Fälle, vor allem bei Bruchsteinwerk, bei denen selbst erhaltene Zinnen kaum zu unterscheiden sind, und erst recht dürfte es zahllose Mauern geben, die nach Abbruch der Zinnen erhöht wurden; in diesem Falle zeugt nur eine horizontale Baufuge von der Erhöhung und solche Fugen sind oft nahezu unsichtbar. Die wahre Anzahl nachträglich erhöhter Mauern ist uns daher mit 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
269
Sicherheit unbekannt und wird es – bei der eher langsamen Verbreitung der Bauforschung, ganz abgesehen vom oft schlechten Erhaltungszustand vieler Mauern – mit Sicherheit auch weitgehend bleiben; und erst recht gilt das für die Datierung der Erhöhungen. Einige Beispiele für späte Erhöhungen im 15. und 16. Jahrhundert können immerhin belegen, dass dieses Mittel oft eine Reaktion auf die Verbreitung vor allem der Feuerwaffen war; offenbar sah man die Gefahr, dass Kanonenkugeln über die zu niedrige Mauer hinweg die Bebauung dahinter zerstören könnten. So findet man etwa in der Schweiz, deren Mauern besonders gut erforscht sind, Beispiele wie Murten, wo die Mauer nicht weniger als dreimal(!) erhöht wurde (Abb. 209), oder das einmal erhöhte Solothurn; im eher abgelegenen Chur ist eine Erhöhung noch 1542 belegbar. Aus anderen Regionen sei das ebenfalls gut erforschte Duisburg genannt, wo die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert besteAbb. 209 Murten (Schweiz), die südliche Stadtmauer lässt vier Phasen erkennen, die alle zwischen 1238 und 1416 zu datieren sind (H. Schöpfer in: Mittelalter, 4, 1992 / 2).
hende Mauer um 1500 erhöhte wurde, oder eine Kleinstadt wie das thüringische Stadtilm, wo die um 1300 entstandene Mauer nur 3 m hoch war, jedoch im 15. Jahrhundert nahezu 8 m erreichte. Ein Sonderfall soll hier den Abschluss bilden, nämlich die brandenburgischen „Wiekhausmauern“, die bekanntlich keine Wehrgänge besaßen, sondern die Schützen in dicht gereihten Schalentürmen, eben den „Wiekhäusern“, konzentrierten (vgl. 26. Brandenburg im topographische Teil, Bd. II). Obwohl letzte Mauern dieser Art offenbar noch im späten 15. Jahrhundert entstanden (Drossen, nach 1477; Lübben ab 1487), gibt es hier gleichzeitig vereinzelte Fälle, bei denen die Mauer nachträglich doch einen Wehrgang erhielt, so etwa – teils nur in bestimmten Abschnitten der Mauer – in Wittstock, Beeskow und vielleicht in Cottbus nach 1434; in Brandenburg / Neustadt wurden Wehrgangbögen ergraben, die in dieselbe Richtung weisen. Offenbar wurde die schnelle Bewegung der Verteidiger auf der Mauer auch in dieser Region mit ihrer ausgeprägten Sondertradition als wichtig erkannt, wenn auch spät und selten; die Nässeempfindlichkeit der Feuerwaffen wird hier mitgespielt haben, denn ohne Wehrgang hätten diese bei jeder Verlagerung der Verteidigung über die Mauergasse getragen werden müssen – und damit eventuell durch Regen. 2.2.11.3. Entwicklung der Schießscharten Schießscharten gehören zu jenen Elementen mittelalterlicher Burgen und Befestigungen, die keineswegs nur Laien für eine früher allgemein verbreitete Selbstverständlichkeit halten. Etwas genauere Betrachtung – von flächendeckender Erfassung kann bisher nicht die Rede sein – zeigt jedoch wie so oft, dass eine derartige Pauschalannahme der Differenzierung bedarf. Sie geht hier in die Richtung, dass Schießscharten nur in bestimmten Epochen wirklich eine zentrale Rolle spielten, während sie in anderen entweder fehlten oder eher als Beiwerk von beschränkter Verbreitung und Bedeutung erscheinen. Aus der Anordnung des Themas im Kapitel über das Zeitalter der Feuerwaffen ergibt sich bereits, dass ich das 15. / 16. Jahrhundert für die wichtigste Epoche in der Entwicklung der mittelalterlichen Schießscharten halte, während mir ihre Bedeutung zuvor recht begrenzt scheint.
270 I. Systematischer Teil
Abb. 210 Neuleiningen, Schlitzscharten (und Aborterker) des mittleren oder späteren 13. Jahrhunderts an der Westseite der Stadtmauer (L. Müller).
Im deutschen Burgenbau sind Schießscharten erst ab etwa 1240 aufgekommen; die beste Zusammenfassung zum Thema bieten bisher die Untersuchungen von Stefan Ulrich über Neuleiningen (Pfalz), wo 1238–41 ff. eine eindeutig französisch beeinflusste Burg in Kastellformen und im Anschluss daran die Stadtmauer entstanden; beide Teile des Ensembles zeigen feldseitig runde Türme und hohe Schlitzscharten (Abb. 210, 410). Nicht nur Neuleiningen, sondern auch zahlreiche weitere Bauten – Burgen und Stadtmauern – am Westrand des deutschen Sprachraumes, am Rhein entlang, belegen recht eindeutig, dass die langen Schlitzscharten als früheste im mittelalterlichen Deutschland belegbare Schartenform aus Frankreich kamen; dort war sie kurz zuvor, in der Regierungszeit des Königs Philippe II. Auguste (1180–1224), aufgekommen, als im Kampf mit dem Königreich England neue Burgformen entstanden. Die Scharten waren bei dieser fortification philipienne überwiegend – wie in Neuleiningen – in vorspringenden Rundtürmen angeordnet, die man durchaus nachvollziehbar Schießscharten im 13. Jahrhundert als Neubelebung von Formen versteht, die den Baumeistern in Form spätrömischer Stadtmauern noch vor
Augen standen. Die gelegentlich aufgeworfene Frage, ob das Aufkommen der Scharten mit einer zunehmenden Verwendung der Armbrust in Verbindung stand, scheint mir dabei aber nicht beantwortbar. Es ist mangels Forschung bisher nicht sicher auszuschließen, dass Schießscharten an Stadtmauern auch schon vor 1240 vorkamen; schließlich liegt mit der Burg in Lahr (Baden, Dendrodatum 1218) auch ein bisher isoliertes, besonders frühes Beispiel aus dem Burgenbau vor. Im Lahr benachbarten Straßburg besitzen die vier erhaltenen großen Backsteintürme der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erbauten Mauer schon recht sophistisch radial auf das Vorfeld ausgerichtete Scharten ohne Nischen (Abb. 64, 317); leider aber lässt sich die Entstehungszeit der Türme nicht näher eingrenzen. Auch Köln als Bischofs- und vor allem Handelsstadt ähnlichen Niveaus wurde um 1210–50 ummauert und erhielt dabei vom Boden her bedienbare Scharten in den Kurtinen (Abb. 41), was im Rheinland Schule machte, etwa in Oberwesel in den 1240er Jahren (Abb. 398), in andere Regionen aber noch nicht übergriff. Auch in Köln bleibt freilich offen, ab wann solche Scharten genau aufkamen. Nur zum Vergleich sei erwähnt, 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
271
dass die „porta torre“ im lombardischen Como, der 1192 erbaute Torturm am Stadtausgang nach Mailand, auch bereits Schlitzscharten aufweist. Die Herkunft der frühen Schlitzscharten aus Frankreich spiegelt sich auch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch in ihrer Konzentration am Westrand des deutschen Sprachgebiets, am Rhein entlang. Dabei blieben sie an den Stadtmauern des Hoch- und Oberrheins eher selten, obwohl die elsässischen Burgen der Epoche sie in großer Anzahl aufwiesen; zu nennen wären Kaiserstuhl (1260), Kaysersberg (um / nach 1265–68), beide nach Dendrodatum, und das 1312 als oppidum bezeichnete, wohl knapp zuvor ummauerte Buchsweiler. Das nahe lothringische Saarburg / Sarrebourg (Stadtrecht 1226) zeigt Rundtürme, die mit ihren Schrägsockeln und den Schlitzscharten mit halbrundem („steigbügelförmigem“) Fuß noch ganz Abb. 211 Saarburg (Lothringen), der Rundturm mit der flankierend angeordneten hohen Schlitzscharte (recht im Winkel zur Mauer) ist ein Beispiel der fortification philipienne, die im 13. Jahrhundert bis in den Westen des deutschen Sprachraumes wirkte (vgl. Abb. 69).
272 I. Systematischer Teil
und gar französisch sind und eindrucksvoll verdeutlichen, wie kurz der Sprung zum Oberrhein war (Abb. 211). Wesentlich verbreiteter waren die frühen Schlitzscharten aber offenbar im weiteren Raum um Köln und auch im kölnisch beherrschten Westfalen. Auch hier sind nicht alle vorgeschlagenen Datierungen hieb- und stichfest, aber das Bild einer stärkeren Verbreitung ab etwa 1240 wird im Prinzip bestätigt; ob ein schartenverstärkter Torbau in Rüthen (Westfalen) wirklich schon um 1225 entstand, sei dahingestellt. Überzeugend ist dagegen die Mauer des weit westlich liegenden Echternach (vor 1239), die Schlitzscharten mit Dreiecksfuß aufweist; Ähnliches zeigt das gegen die Jahrhundertmitte ausgebaute(?) Doppelturmtor der Luxemburger „Altpforte“. Im nahen Welschbillig, wo die Mauer nach der Stadterhebung 1291 entstand, die Burg wohl schon früher, zeigen einzelne Scharten der wiederum sehr „französischen“ Türme sogar kleine Spitzbogenblenden als Abschluss. Die Mauer von Bonn entstand, in enger Anlehnung an Köln, zwischen 1244 und 1291; ihre Scharten zeigten oft den hufeisenförmigen Fuß, der in Köln noch Ausnahme gewesen war. Weitere rheinische Beispiele bieten etwa Virneburg (Mitte des 13. Jahrhunderts?), Ahrweiler (um 1259, mit wieder französischen bzw. kölnischen Doppelturmtoren und Rundschalen; Abb. 400), ab 1300 dann an Toren verschiedener Form in Zülpich (ab 1291) und Aachen, wo besonders das „Marschiertor“ auffällig schartenreich ist (Abb. 150), schließlich ähnlich auch in Jülich und Nideggen sowie an der wieder sehr französischen Rundturmmauer von Recklinghausen, dort an Mauern und Kurtinen. In Westfalen ist besonders Soest zu erwähnen, dessen ältere Mauer wohl um 1250 nach Kölner Vorbild durch halbrunde Türme mit Scharten ergänzt wurde. Als seltene Sonderform, die vielleicht eher englische als französische Vorbilder hatte, gab es auch kreuzförmige Scharten mit kurzem Querschlitz; man findet sie mindestens am „Katharinentor“ (um / nach 1245 / 47) in Blankenberg / Sieg und zur gleichen Zeit bereits in beachtlicher Anzahl in Münstereifel (Abb. 423). Weiter östlich waren Scharten vor / um 1300 noch ausgesprochen selten. Aufgefallen sind mir ein Turm der wohl noch vor 1300 ummauerten
Tübinger Neustadt, der eine hohe Schlitzscharte mit dreieckigem Fuß aufweist (vor 1300), sowie mehrere Türme der äußeren Mauer von Regensburg (1284–1320), deren Scharten einen halbrunden Fuß besitzen; interessant ist hier, dass die Form in den jüngeren Teilen der Mauer von Amberg noch nach 1400 übernommen wurde. Schließlich sei ganz im Osten Templin erwähnt, dessen von Lübeck abhängige Rundschalen jeweils eine Scharte im Erdgeschoss, drei im Obergeschoss besitzen (Abb. 491); auch diese Mauer entstand wohl noch vor 1300. Auch im 14. Jahrhundert und bis ins 15. Jahrhundert hinein blieben Schlitzscharten eine verbreitete Erscheinung an deutschen Stadtmauern, aber sowohl in ihrer Form als auch in der Art, wie sie in der Schießscharten im 14. Jahrhundert Mauer angeordnet wurden, gewinnt man den Eindruck einer Entwicklung, die als Stagnation, wenn nicht geradezu als Rückschritt zu bezeichnen ist. Denn in den französisch beeinflussten Mauern des 13. Jahrhunderts waren die Scharten meist in vorspringenden Rundtürmen angeordnet, und zwar so, dass sie „flankierend“ wirken konnten, mit dem Schuss parallel zur anschließenden Mauer; so konnte ein einzelner Schütze aus guter Deckung jeden Angreifer treffen, der sich der Mauer näherte – das Prinzip der Flankierung, das seine Perfektionierung dann ab dem 16. Jahrhundert erlebte, im Zeitalter der Bastionen, als man auch die Grundrissform der vorspringenden Bauteile konsequent an die Schusslinien anpasste. Trotz der hohen Wirksamkeit dieser flankierenden Schartenanordnung wurde sie im 14. Jahrhundert aber nicht mehr konsequent, sondern nur noch von Fall zu Fall angewandt, zudem nur noch selten in runden Türmen – die Wirksamkeit der Scharten wurde also nicht mehr konsequent optimiert. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass auch eine zweite Schartenreihe unterhalb des Wehrganges bzw. der Zinnen – was es in Köln und, von dort beeinflusst, an anderen rheinischen Mauern gegeben hatte – keine Verbreitung fand. Auch solche tiefer liegenden Scharten sind besonders effektiv, weil der Schuss jeden Angreifer unabhängig von seiner Entfernung trifft – anders als ein nur punktuell wirksamer Schuss von oben.
Angesichts solcher Missachtung höherer Effek tivität, die man im 13. Jahrhundert ja durchaus angestrebt hatte, wird man wohl schließen müssen, dass im 14. Jahrhundert die Möglichkeiten sowohl der Verteidiger als auch der Angreifer generell nicht allzu hoch eingeschätzt wurden. Eine zweite, untere Schartenreihe hätte weit mehr Verteidiger benötigt – über die man offenbar nicht verfügte –, und flankierende Scharten hätten nur gegen einen Gegner gewirkt, der den Graben bereits in großer Anzahl überwunden hatte, was man ihm wohl nicht zutraute. Ganz offensichtlich rechnete man in dieser Entwicklungsphase nicht mit einem zahlreichen, gut ausgerüsteten und entschlossenen Angreifer, oder man hielt ihn zumindest für etwas so Seltenes und Unwahrscheinliches, dass der Aufwand für komplexere bauliche Anlagen und eine größere Anzahl von Verteidigern nicht lohnte; die Sparsamkeit der meist ja nur kleinen Städte war, so muss man vermuten, in der Regel ausgeprägter als die Furcht vor einem wirklich entschlossenen Gegner. Auch bei der Form der Scharten ist im 14. Jahrhundert eine Vereinfachung zu beobachten. Die besonders lange und mit einem vergrößerten – meist dreieckigen oder halbkreisförmigen – Fuß versehene Schlitzscharte bzw. Senkscharte, die im 13. Jahrhundert üblich war und deren Sinn vor allem darin bestand, auch den Schuss steil nach unten zu ermöglichen bzw. das Schussfeld zu verbreitern, wurde durch eine kürzere, rechteckige Schlitzform ersetzt, die man, wenn Stelle und Art ihrer Anbringung nicht im Einzelfall Klarheit schüfen, auch für einen Lichtschlitz halten könnte. Die Einfachheit dieser Form ermöglichte es vor allem in den Bruchsteingebieten, die Scharten ohne Werksteingewände in reiner Maurerarbeit herzustellen. An den Mauern und auch Burgen im rheinischen Schiefergebiet, wo die Scharten noch im ganzen 14. Jahrhundert oft länger waren, findet man dafür zahlreiche Beispiele; die Tortürme in Linz (spätes 14. Jahrhundert) mit Scharten, die unten eine rechteckige Erweiterung besitzen, sind hier Ausnahmen (Abb. 403). Man findet die Scharten im 14. / frühen 15. Jahrhundert in der Regel an zwei Stellen der Befestigung: auf den Wehrgängen, gegebenenfalls auch der Zwingermauern, und in den Türmen. Wie verbreitet sie auf den Wehrgängen waren, ist wegen der extremen Substanzverluste dieser Bau2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
273
teile nicht mehr festzustellen. Die normale Ausstattung des Wehrganges blieben bis ins Zeitalter der Feuerwaffen hinein offensichtlich die Zinnen, also Öffnungen, aus denen der Verteidiger sich hinausbeugen konnte. In den eigentlichen Zinnen hat es zumindest gelegentlich Schlitzscharten gegeben, die oft auch als Spähschlitze bezeichnet werden, aber es ist heute eben nicht mehr zu klären, ob das ein seltener, ein häufiger oder gar der Normalfall war; ein frühes Beispiel dürfte die noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene Mauer im österreichischen Hainburg bieten. Im Zeitalter der Feuerwaffen änderte sich dieses ältere Prinzip der Zinnen jedenfalls sehr häufig in dem Sinne, dass Scharten für Feuerwaffen in die Zinnenöffnungen eingebaut wurden; wo Zinnen bis heute überhaupt erhalten sind, ist dies geradezu das normale Bild (Abb. 208). Auch bei den erhaltenen Stadtmauer- bzw. Tortürmen fallen Aussagen über die frühere Schartenanordnung heute recht schwer, denn auch sie sind meist in so hohem Maße verändert, dass eine zuverlässige Aussage kaum noch möglich ist. Neben dem Verlust oberer Turmteile spielt
Abb. 212 Nürnberg, ein Turm der Hauptmauer mit den rekonstruierten Scharten der Feldseite; heute sind die Türme fast alle gekappt und die Scharten zu Fenstern erweitert; zur Seitenansicht des Turmes vgl. Abb. 176 (Essenwein in: Handbuch der Architektur, 2. Teil, 4. Bd., H. 1, Die Kriegsbaukunst, 1889).
274 I. Systematischer Teil
bei dieser Problematik der spätere Einbau von Fenstern eine entscheidende Rolle, denn es war dafür natürlich am leichtesten, eine vorhandene Scharte zu erweitern; selbst eingehende Bauforschung wird also in sehr vielen Fällen nicht mehr in der Lage sein, festzustellen, ob dem Fenster eine Scharte vorausging. Lediglich ein indirektes Argument bietet in dieser Lage etwas mehr Sicherheit, nämlich die Tatsache, dass sehr viele Türme des 14. / 15. Jahrhunderts, wohl sogar ihre Mehrheit, nicht besonders weit vor die Mauer vorsprangen. Für eine konsequente Flankierung ist es natürlich sinnvoll, dass der Turm mit möglichst seiner gesamten Breite vor die Mauer springt – je größer der Vorsprung, desto mehr Platz steht für die Scharten zur Verfügung. Tatsächlich aber sind die Türme, die dieser Erwägung konsequent entsprechen, dem heutigen Eindruck nach eher Ausnahmen gewesen. Üblich waren im 14. Jahrhundert vielmehr Türme, die innen und außen etwa gleich vorspringen oder die gar weitgehend oder völlig hinter der Mauer stehen. Aus den beschriebenen Problemen mit der sicheren Feststellung ehemaliger Scharten ergibt sich, dass man nur bei besonders gut erhaltenen und dokumentierten Mauern halbwegs verbindliche Aussagen zur ursprünglichen Anordnung der Scharten machen kann. Als erstes Beispiel sei hier Nürnberg angeführt (Abb. 212), wo die fast durchweg rechteckigen Schalentürme der 1346–1407 entstandenen äußeren Mauer in erster Linie frontal Scharten besitzen, und zwar bis zu drei pro Geschoss in ehemals wohl bis zu vier Geschossen; hier gibt es auch seitlich Scharten, jedoch maximal eine pro Geschoss – trotz dieser Ungleichheit ein Beispiel für eine relativ konsequente Ausstattung mit flankierenden Scharten. Bezeichnender für die Inkonsequenz des 14. Jahrhunderts ist der in Brandenburg zu Hunderten gebaute Turmtypus des „Wiekhauses“, eines in aller Regel rechteckigen Schalenturmes, dessen Schartenausstattung deswegen besonders wichtig war, weil den „Wiekhausmauern“ Wehrgänge fehlten. Trotz dieser besonderen Funktion verzichtete das typische Wiekhaus, das ohnehin nur wenig über die Mauer vorsprang (Abb. 88, 494), im Erdgeschoss völlig auf Scharten und im ersten Obergeschoss, das frontal stets zwei oder
Abb. 213 Schwäbisch Gmünd (BadenWürttemberg), „Fünfknopfturm“ (vgl. Abb. 90). Obwohl der Turm fast 2,5 m über die Mauer vorsprang, enthielt er in seinen Seitenmauern (Süd, Nord) keine zur Flankierung geeigneten Schießscharten. (R. Strobel, Die Kunstdenkmäler der Stadt Schwäbisch Gmünd, I, 2003).
drei Scharten besaß, gab es nur manchmal seitliche Scharten, gelegentlich auch nur einseitig, weil in der anderen Seitenwand die Mauertreppe angeordnet war. Das Hauptgewicht der seitlichen Verteidigung ruhte daher höchst traditionell auf den Schießfenstern der Wehrplatte bzw. des zweiten Obergeschosses. Ein weiteres, aber leider bisher wenig dokumentiertes Beispiel bietet die äußere Mauer von Ingolstadt (1346–1430), deren genormte Rundschalen, soweit heute erkennbar, unter zahlreichen Schlitzscharten meist nur eine flankierende im ersten(?) Obergeschoss besessen zu haben scheint. Schließlich sei die äußere Mauer von Schwäbisch Gmünd angeführt, deren erhaltene Türme alle ins beginnende 15. Jahrhundert gehören und im Kunstdenkmälerinventar von 2003 mit exakten Ansichten aller Seiten erfasst sind (Abb. 213). Die wenigen Schlitzscharten sind ganz zufällig verteilt und fehlen gerade an den Seiten der Türme in geradezu auffälliger Weise, obwohl man die Halbrundform des „Königsturmes“ und gar die fünfeckige des „Fünfknopfturmes“ gerne als frühe Einflüsse der Artillerie werten würde. Zu dieser sehr zurückhaltenden Anwendung der Scharten passt im Übrigen die Beobachtung, dass im gesamten Neckarland,
westlich von Gmünd, eindeutige Scharten – mit Innennischen – vor der Zeit um 1400 ganz allgemein noch zu fehlen scheinen. Die Schlüsselscharte ist wegen ihrer enormen Verbreitung (nicht nur) im deutschen Raum sicherlich die bekannteste Schartenform überhaupt, quasi ein „Leitfossil“ des frühen Artilleriezeitalters. Ihre Entstehung ist leicht nachzuvollziehen: Man ergänzte die Die Schlüssel scharte im 14. Jahrhundert übliche kurze Schlitzform um eine untere Rundöffnung, die dem Durchstecken bzw. Auflagern der Mündung einer Handfeuerwaffe oder eines kleinen Geschützes diente. Die Rundung, in der Regel etwas größer, als es der Lauf der benutzten Waffe erforderte, erlaubte einen gewissen Schusswinkel, der Schlitz darüber – wie schon in der Zeit vor den Feuerwaffen – das Visieren. Dass man diese Form entwickelte, als kleinere Feuerwaffen üblicher wurden, liegt also auf der Hand und die Frage, wo eine so funktionale Form „erfunden“ wurde, wird wohl kaum zu beantworten sein. Als Vorform der Schlüsselscharte sind hohe Schlitzscharten mit Steigbügel- oder dreieckigem Fuß anzusprechen, wie man sie etwa – auf den ersten Blick durchaus an Formen des 13. Jahr2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
275
Abb. 214 Ravensburg (Baden Württemberg), der Turm des „Obertores“ wurde 1431 / 32 erbaut und enthält Schlüsselscharten, die zu den frühen dieser Form im deutschen Raum gehören.
hunderts erinnernd – schon knapp vor und um 1400 findet, etwa am Heilbronner „Götzenturm“ (1392), in Friedberg bei Augsburg (1409 ff.), in Dalsheim und Freinsheim in der Pfalz (um / nach 1400) und in Weil der Stadt bei Stuttgart (um 1430–54); freilich gibt es Derartiges auch noch später, etwa in Bunzlau (Schlesien, ab 1479). Auch die Frage, wann die Schlüsselscharte im engeren Sinne aufkam, ist nicht wirklich zu klären, denn unter den Tausenden erhaltenen Beispielen sind weitaus die meisten nicht eng zu datieren. Es gibt immerhin einige besser datierte Beispiele, die darauf deuten, dass die frühesten Schlüsselscharten um 1430 entstanden sind. Reinhard Gutbier hat für Hessen vermutet, es habe sie schon vor 1400 gegeben, aber ohne Bauten zu nennen; zwar enthält etwa die den Turm umgebende Mauer der 1414 erbauten Frankfurter „Galgenwarte“ eine monolithisch gearbeitete Schlüsselscharte, aber es fehlt der Beweis, dass sie zum ursprünglichen Baubestand gehört. Ebenso wenig auf das Jahr genau festzulegen sind einige Schlüsselscharten an Mauern des süddeutschen Raumes, bei denen wir nur „post quem“-Datierungen kennen, etwa Merkendorf in Oberfranken (1398 bis um 1430), Landsberg am Lech (nach 1422 / 25), Haslach in Oberösterreich (nach 1427) und Schärding am Inn (inschriftlich 1429–37). Einen sicheren Festpunkt bietet dann offensichtlich das 1431 / 32 entstandene „Obertor“ in Ravensburg, das neben Schlüsselscharten auch bereits Maulscharten zeigt (Abb. 214). In den 1440er Jahren gibt es dann weitere, ge276 I. Systematischer Teil
sichert scheinende Beispiele, etwa am Goslarer „Breiten Tor“ („1443“), an der Erhöhung des Ulmer„Gänstores“ (1445) oder am dendrodatierten Torturm im pfälzischen Herrstein (1449). Spätere gut datierte Beispiele von Schlüsselscharten seien hier noch angeführt, obwohl sie für die Anfänge des Typus nicht mehr weiterführen können: Neubrunn (Unterfranken, Torturm 1459–62; Abb. 384), Solothurn („Krummturm“, 1462 / 63), Baden / Aargau (in der Erhöhung des „Bruggertores“ von 1481–83, während der Erstbau von 1441–48 noch keine Schlüsselscharten besaß; Abb. 310) und Abenberg (Mittelfranken, Turm von „1488“). Nach 1500 schließlich ist das „Langenfelder Tor“ in Schwäbisch Hall anzuführen, das um / nach 1515 entstand, und aussagekräftig sind die beiden Tore in Weißenhorn, die um 1470 / 80 noch ohne Schlüsselscharten entstanden; erst bei der Erhöhung des „Obertores“ 1527 wurden Schlüsselscharten mit rechteckigem Unterteil eingebaut. Fälle wie die Torerhöhungen in Baden / Aargau und Weißenhorn deuteten bereits an, dass die Schlüsselscharte keineswegs überall gleich früh auftrat, und dem ist hinzuzufügen, dass sie auch nicht überall üblich wurde. So bleiben Schlüsselscharten in großen Teilen Frankens und in Schlesien im gesamten 15. / 16. Jahrhundert Ausnahmen. Dort bleibt man vielmehr weitgehend bei der einfacheren Form der Schlitzscharte, die in Schlesien selbst an ausgesprochen fortschrittlichen Streichwehren verwendet wurde. In Unterfranken, wo der Torturm in Neubrunn als gut datiertes Beispiel für relativ frühe Schlüsselscharten zitiert wurde, ist dieser neben jenem in Burgsinn eines der ganz seltenen regionalen Beispiele für Schlüsselscharten. Auch anderswo gibt es Beispiele, dass die Schlüsselscharten den einfachen Schlitz keineswegs völlig verdrängten. So ist etwa in Ohrdruf (Thüringen) nur der Ostteil der Stadtmauer mit Schlüsselscharten versehen, während man sich im Westen mit Schlitzen begnügte; da das Schloss im Osten liegt, mag man hier bewusst die modernere oder vielleicht auch die schmückendere Form eingesetzt haben. Denn, dass die Schlüsselscharte auch als Ornament begriffen wurde, dafür spricht nicht nur ihr häufiges Vorkommen an Renaissanceschlössern – auch als unbenutzbare Blendscharte –, sondern auch etwa in einem Rondell im pom-
merschen Stargard, das kreuzförmig erweiterte Schlüsselscharten aus Formsteinen(!) aufweist, in einer Gegend, die sonst wenig Schlüsselscharten besitzt. Auch das nördliche Rheinland gehört schließlich zu den Regionen, in denen ich Schlüsselscharten kaum notieren konnte; Wassenberg ist hier ein isoliertes (undatiertes) Beispiel. Bei Fragen der regionalen Verbreitung bestimmter Formen bleibt freilich immer anzumerken, dass die fortschreitende Erforschung der Bauten das Bild auf die Dauer quantitativ und irgendwann dann auch qualitativ verändern kann; das gilt auch im Falle eines so verbreiteten Phänomens wie der Schlüsselscharte. Das Aufkommen der Feuerwaffen hatte vor allem im Laufe des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Folge, dass man in vielfältiger Weise mit den Schartenformen experimentierte. Die Idee einer geradlinigen Entwicklung, bei der sich das funktionalere Modell stets gegen das weniger brauchbare durchsetzte, beschreibt daAndere Schartenformen für Feuerwaffen her keineswegs das, was ein unvoreingenommener Beobachter feststellt. Schon das Modell der Schlüsselscharte, das sich durch einfache Funktionalität auszeichnete, konnte sich, wie zu zeigen war, keineswegs gleichmäßig im deutschen Raum verbreiten. Als anschauliches Beispiel für das Nebeneinander unterschiedlichster Schartenformen fielen mir etwa die Zwinger im Neckarland auf, die zwischen dem mittleren 15. und dem frühen 16. Jahrhundert entstanden sind. Dort findet man neben Schlüsselscharten – mit runden und halbrunden Öffnungen, manchmal mit einfachen oder trapezförmig erweiterten Querschlitzen – rechteckige Maulscharten, gelegentlich mit halbrunder oberer Erweiterung in der Mitte, schließlich seltener außen erweiterte Schlitzscharten und ovale Maulscharten. Als Einzelfall sei das wenig östlich liegende Vellberg erwähnt, dessen 1466– 99 entstandene Neubefestigung vielfältige Schartenformen aufweist. Neben Schlitzscharten mit und ohne runde Erweiterung und rechteckigen Schießfenstern findet man hier querrechteckige und quadratische Scharten mit Visierschlitz, schließlich trapezoide Senkscharten. Die neben der Schlüsselscharte wohl am weitesten verbreitete Schartenform des beginnen-
den Artilleriezeitalters war die Maulscharte. Im Gegensatz zur Schlüsselscharte, die aus der älteren Schlitzscharte weiterentwickelt wurde, war die Maulscharte eine ganz neue, funktionale Form. Die Schartenenge wurde an die Innenseite der Mauer verlegt, wodurch der Schütze oder das Geschütz frei hinter der Mauer stehen konnten und manövrierfähiger wurden. Um aber ein breiteres Schussfeld zu bewahren, war es nötig, die Außenseite der Scharte trichterförmig zu erweitern, und zwar vor allem nach links und rechts, daraus ergab sich die breite, eben „maulförmige“ Außenansicht solcher Scharten; in der Renaissance wurde sie manchmal zum Bestandteil einer ornamentalen Fratze. Die äußere Form der Maulscharten blieb im Prinzip variabel, denn nur ihre Breite war funktional wichtig. Der obere Abschluss konnte daher sowohl gerade – mit monolithischem oder gemauertem Sturz – als auch bogenförmig, dann in der Regel als Stichbogen, gestaltet werden. Um auch hier einige frühe Beispiele beider Formen zu nennen, die relativ sicher zwischen den 1430er und den 1470er Jahren entstanden: Goslar, „Breites Tor“ (1433; Abb. 171); Ulm, „Gänstor“ (1445?); Gelnhausen, „Hexenturm“ (1447); Freyburg / Unstrut, mehrere runde und halbrunde Türme (einer 1449); Goslar, „Kegelworthturm“ (1459); Pößneck, Rondelle (um 1424–97). Nach 1500 werden Maulscharten dann so häufig, dass man nur noch interessantere Beispiele nennen kann, etwa den „Wollenweberturm“ in Korbach (1505), das betont wehrhafte „Eiserne Tor“ in Freinsheim („1514“; Abb. 413) und das betont ornamentale „Osthofentor“ in Soest (1523–26; Abb 126). Aus der Maulschartenform mit Stichbogenabschluss konnte man, falls eine gewisse ornamentale Wirkung gewollt war – wir befinden uns mitten in der Spätgotik –, ohne fortifikatorischen Nachteil eine querovale oder kreisrunde Schartenöffnung entwickeln. Dabei scheint die Rundform etwas früher nachweisbar; man findet sie etwa an einem Straubinger Eckrondell (nach 1474), am Rondell des „Schleiferturmes“ in Kelheim (um 1470–90), an einer riesigen Streichwehr in Breslau (wohl ab 1486; Abb. 178) als Variante in Hosenform (siehe unten), schließlich in Pößneck als kreuzförmig erweiterte Rundscharte (um 1424–97). Aus der ersten Hälfte des 16. Jahr2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
277
Abb. 215 Solothurn (Schweiz), das „Baseltor“ (1502–05) besitzt ovale Maulscharten, die erst in der Feuerwaffenzeit aufkamen, kaum vor dem 16. Jahrhundert.
Abb. 216 Solothurn (Schweiz), in der Brustwehr besitzt das „Baseltor“ (1502–05) auch Scharten, deren äußere Erweiterung abgetreppt ist, damit Geschosse abprallten und nicht als Querschläger ins Innere geraten konnten – auch dies kam erst im 16. Jahrhundert auf.
hunderts seien Kindelbrück in Thüringen (ab 1508), Marienberg in Sachsen (1541–56) und das Vortor des „Ellinger Tores“ in Weißenburg / Mittelfranken (zweites Viertel des 16. Jahrhunderts; Abb. 162) genannt. Für ovale Scharten konnte ich bisher keine Beispiele vor 1500 finden; als früheste seien Freiburg im Üechtland („Großes Bollwerk“, um 1500), die Rondelle von Solothurn (ab 1502; Abb. 215), die „Aul“ in Zwingenberg / Bergstraße („1532“) und schließlich der „Halbmond“ in Gelnhausen (vor 1535) genannt. Quadratische Scharten sind dagegen eher selten; in der Tat bieten sie gegenüber Maulscharten weniger Vorteile und wirken auch weniger ornamental als ovale oder runde Scharten. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass eines der Beispiele eher aus der Frühzeit der Feuerwaffen stammt – an halbrunden Türmen in Freyburg / Unstrut (um 1449) –, während das andere besonders spät ist und in Abwechslung mit maul- und rundbogigen Scharten auftritt (Themar, Mitte des 16. bis zum frühen 17. Jahrhundert). Zwei fortifikatorisch-technische Fortentwick lungen der Maulschartenformen, die beide dasselbe Ziel hatten, sind gegen Ende der hier behandelten Zeit festzustellen. Die Gefahr nämlich, dass ein Angreifer mit zielgenauen Feuerwaffen, insbesondere mit Musketen, die Schartenöffnung treffen und den dahinterstehenden Verteidigern Schaden zufügen könnte, war sehr groß. Gänzlich zu verhindern war das nicht, aber zumindest konnte man etwas dagegen tun, dass ein ungenauer Treffer, von den schrägen
Wänden einer Maulscharte abprallend, quasi in die eigentliche Schartenöffnung „weitergeleitet“ wurde. Eine Lösung bestand darin, die Wände der Schartenmündung nicht schräg, sondern abgetreppt zu gestalten, sodass die Kugeln nicht mehr in stumpfem Winkel abprallen konnten. Die andere Lösung ersetzte eine einzige, sehr breite Schartenöffnung durch mehrere schmale, die von einer inneren Schartenöffnung ausgingen und im Grundriss durch „Keile“ vom Mauerwerk getrennt wurden; so konnte zumindest ein seitlicher Schuss nicht mehr bis innen durchdringen. Diese letztere Form nennt man nach dem Grundrissbild, das bei nur zwei äußeren Öffnungen entsteht, „Hosenscharte“; es gab aber auch Scharten mit drei Öffnungen, ebenso wie eine Umkehrung der Form: drei Schartenengen innen, nur eine große Öffnung außen. Beide Formen – abgetreppte Scharten und Hosenscharten – konnte ich freilich vor 1500 bei Stadtbefestigungen kaum finden; sie sind offenbar eher typisch für den frühen Festungsbau im 16. Jahrhundert. Getreppte Rechteckscharten gibt es etwa in Solothurn (ab 1502; Abb. 216) und in Kirchheim unter Teck (ab 1538). Hosenscharten findet man am Torbau in Marienberg in Sachsen (1541–56; Abb. 469); in Wiedenbrück in Westfalen zeigt eine undatierte Streichwehr eine getreppte, korbbogige Scharte, die erst nachträglich, durch Einfügung eines kompliziert geformten Werkstückes aus Sandstein, zur Hosenscharte wurde. Gerade bei der Hosenschartenform muss man sich freilich bewusst bleiben, dass eine sol-
278 I. Systematischer Teil
che Form leicht zu übersehen ist, solange keine genaue Untersuchung und Dokumentation des Baues vorliegt. Dass die Zeit der frühen Feuerwaffen eine Zeit des vielfältigen Experimentierens war, wird schon durch die zahllosen Varianten der verbreiteten Schlüssel- und Maulscharten deutlich, aber vielleicht noch mehr durch Schartenformen, die nur ganz vereinzelt oder bestenfalls in kleinen, regional begrenzten Gruppen auftreten. Der Fünfeckturm von „1448“ in Neckarbischofsheim (Abb. 72) besitzt zum Beispiel zweiteilige Scharten, bei denen der Visierschlitz isoliert über der hufeisenförmigen Öffnung für das Geschütz sitzt – wenn man so will, eine weitere Variante einer großen Schlüsselscharte. In Südthüringen und im anschließenden nördlichen Oberfranken findet man die Form eines „kopfstehenden“ T – quasi eine kleine Maulscharte mit kurzem Visierschlitz (Creußen, Kulmbach, Lohr, Aub, Heldburg, Schleusingen); kreuzförmige Scharten könnte man als ornamentale Weiterentwicklung davon betrachten (Heldburg, Mitte des 16. Jahrhunderts; Überlingen, „Aufkirchertor“, nach 1450; Pfullendorf, Vortor, 1505). Ebenfalls eine ornamentale Weiterentwicklung der Maulscharte, die man erst an Schlössern und Befestigungen der Renaissance häufiger findet, dann aber auch an einem kleinen Stadttor wie in Ilshofen (Württembergisch Franken, 1609; Abb. 217), ist die Brillenscharte, die man als in der Mitte verengtes, „brillenähnliches“ Queroval beschreiben kann. Sie dürfte schon vor 1500 aufgekommen sein, wie zumindest Rondelle in Annweiler (1492) und Bergzabern (Pfalz) andeuten. Weitere erwähnenswerte Einzelerscheinungen sind symmetrische Gruppen von vier verschieden geformten Scharten wie in Kirchheim unter Teck (ab 1538) oder Scharten, die zur Verbesserung des Schussfeldes in Erkern angeordnet waren (Landshut), sowie schließlich breite und hohe Schlitzscharten, die sich außen wie eine Maulscharte erweitern (Besigheim am Neckar, Beeskow in Brandenburg). Schließlich seien zum Abschluss zwei ganz neuartige Formen genannt, die ebenfalls erst als Reaktion auf die Verbreitung der Feuerwaffen zu verstehen sind. Da ist einmal der aus Balken gefügte (Blockwerk-)Aufsatz mit kleinen Scharten
anstelle einer gemauerten Brustwehr (oder auch als „Wehrgangschirm“, der vor fenstergroßen Öffnungen der gemauerten Brustwehr sitzt), der Musketenkugeln mit geringerer Splitterwirkung abfing. Allerdings konnte ich an Stadtmauern nur noch ein erhaltenes Beispiel finden (Waldkirchen bei Passau, nach 1451; Abb. 469); an Burgen und Festungen im Alpenraum (Tirol, Salzburg) ist mehr erhalten. Und für die gerundete, steinerne Brustwehr mit eingeschnittenen, nicht überdeckten Scharten ist der umgebaute, aber leider nicht näher datierte Zwinger in Nürnberg das prominenteste Beispiel – ebenfalls wohl eine Form, die ihre Bedeutung erst im Festungsbau des späteren 16. Jahrhunderts entfaltete; erste Beispiele findet man aber schon knapp nach 1500 (Solothurn, ab 1502). Zu Anfang dieses Kapitels wurde dargelegt, dass jene seltenen Mauern, die im beginnenden Artilleriezeitalter noch ganz neu entstanden, fast immer betont traditionell gestaltet wurden (vgl. 2.2.11.1.) – fast als könne man durch das Fest-
Abb. 217 Ilshofen (Württembergisch Franken). Die unteren Geschosse des „Haller Tores“ zeigen verschiedene Variationen von Brillenscharten.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
279
halten am Gewohnten den Einbruch neuartiger Bedrohungen bannen. Neben diesen konservativ gestalteten Mauern entstand im 15. / 16. Jahrhundert jedoch auch eine andere, tatsächlich neuartige Form der Stadtmauer, Mauern mit Scharten die allerdings wegen ihrer in Stehhöhe Bescheidenheit bisher wenig Beachtung fand. Gemeint sind Mauern – meist um kleine und spät entwickelte Städte –, die kaum höher waren als die Verteidiger, die sie schützen sollten, also 2,5 m bis höchstens 4 m, und auch gerade so dick, dass sie Gewehrfeuer abhalten konnten. Ihre Verteidigungsfähigkeit beruhte also weder auf Höhe noch auf Festigkeit – eine kurze Leiter genügte, um sie zu übersteigen, ein einziger Kanonenschuss zu ihrer Zerstörung. Ihr Konzept ging vielmehr konsequent von Gewehrverteidigung aus, denn solche Mauern waren mit eng und regelmäßig gereihten Schießscharten versehen, häufig mit Schlüsselscharten, und zwar in geringer Höhe, sodass der Schütze auf dem Boden stehen konnte. Ein Wehrgang fehlte bei Mauern dieser Art, ebenso wie Türme im eigentlichen Sinne. Lediglich Rundschalen in gleicher Höhe wie die Mauer und mit derselben Mauerdicke und Schartenausstattung finden sich gelegentlich – keine Türme, sondern nur Ausbuchtungen der Mauer, die Flankierung ermöglichten. Ergänzung solcher Mauern waren ungefütterte Gräben, die ähnlich unaufwendig geschaffen werden konnten, aber die eine allzu schnelle Annäherung eines Angreifers allemal verhinderten. Selbstverständlich waren solche Mauern in erster Linie ein Sparmodell, zu dem man nur dann griff, wenn das Geld für eine „richtige“ Mauer fehlte, man aber andererseits eine Ortschaft nicht gänzlich schutzlos lassen wollte. Im Grunde boten sie nur wenig mehr Schutz als eine mit Scharten versehene Palisade; sie waren lediglich dauerhafter. Dem Angriff eines Heeres mit Artillerie konnten sie nicht widerstehen, leichter Bewaffneten aber durchaus. Trotz der Bescheidenheit des Konzeptes waren solche Mauern moderner als jene Bauten derselben Epoche, die in herkömmlicher Weise mit hohen Mauern, Wehrgängen und Türmen ausgestattet wurden. Denn Höhe wurde mit zunehmender Verbreitung der Kanonen immer mehr zum Nachteil, weil solche Bauteile ein gutes Ziel 280 I. Systematischer Teil
boten und ihr Einsturz für die Verteidiger gefährlich war. Die Zukunft gehörte daher niedrigen, schwer zu treffenden Bauten, die den Belagerten gerade eben die Bestreichung des Vorfeldes erlaubten. Dieser Art der Verteidigung entsprachen schon die zur gleichen Zeit zahlreich entstehenden Zwinger (vgl. 2.2.8.) und später, mit letzter Konsequenz, das bastionäre System (2.2.11.7.), aber eben auch die Mauer mit Scharten in Stehhöhe. Dass ganz entsprechende Mauern noch im Festungsbau des 19. Jahrhunderts als „carnotsche Mauern“ (nach dem Festungsbauer Lazare Carnot, 1753–1823) eine Rolle spielten, bestätigt diese Einschätzung. Soweit ein erster Überblick Interpretationen erlaubt, traten solche Mauern in bestimmten Gebieten häufiger auf, ohne dass immer auf der Hand läge, was der Grund der Verdichtung war. Im Prinzip wird es sich um dichter besiedelte Regionen mit einer gewissen wirtschaftlichen Stabilität gehandelt haben, so dass größere Dörfer sich auch im Spätmittelalter noch eine steinerne Befestigung zulegen bzw. den Schritt zur Stadt vollziehen konnten. Im österreichischen Raum kann man GroßEnzersdorf bei Wien (ummauert ab 1396, Bauinschrift 1409; Abb. 291) als Vorstufe der wehrganglosen Mauern sehen; die Mauer besaß zwar noch Zinnen, aber es gab keine Türme mehr. Herzogenburg (ab 1477), Traismauer (1517), Wilhelmsburg und Raabs sind dann typische regionale Beispiele der Bauform. Das anscheinend größte Verbreitungsgebiet dieser Mauerform lag aber in Hessen und Thüringen. Hier reichen die Beispiele von Trechtingshausen und Ober-Ingelheim am Rhein (beide mit Rundtürmen) über den Frankfurter Raum – Bonames (ab 1410), Hochstadt, Staden – bis in den Odenwald (Reichelsheim, ab 1420). Noch häufiger sind die Fälle in Thüringen, meist bei kleinen Städten, aber auch ausnahmsweise bei der Vorstadt einer größeren Stadt (Langensalza). Enger datierbar sind hier Kindelbrück (ab 1508), Themar (mit Rondellen, „1557“ und „1603“; Abb. 218) sowie Sömmerda (1591–98); genannt seien ferner Allendorf (mit später angefügten Schalen), Greußen und Ohrdruf. Weitere Beispiele findet man vereinzelt im gesamten deutschen Raum, dabei allerdings recht oft nicht als Mauer der Kernstadt, sondern als Umweh-
Abb. 218 Themar (Thüringen) wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ummauert, wobei die niedrige, mit einfachen Schlitzscharten und kleineren Rundtürmen versehene Mauer charakteristisch für die Spätzeit ist.
rung einer Vorstadt. Genannt seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit von Süden nach Norden: Solothurn (Vorstadt südlich der Aare, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts); Pfarrkirchen (Bayern, 1558 vollendet); Berching (Bayern, Vorstadt, 16. Jahrhundert); Rodach (Franken; nach 1411); Kaiserslautern (Pfalz, Vorstadt, 15. Jahrhundert); Osterode / Harz (mit Rundschalen) und Stadtoldendorf (Niedersachsen, 15. Jahrhundert). Als Übergangstypus von traditionellen Mauerformen zu der hier behandelten niedrigen Mauer mit Scharten findet man nur sehr selten Mauern, die Scharten in Stehhöhe mit Wehrgängen kombinieren. Im Grunde beschränkten sich die Beispiele auf Unterfranken (Eltmann, Iphofen / Vorstadt, Schweinfurt); Hirschhorn am Neckar (Vorstadt, um 1500) ist nicht allzu weit entfernt. Bedenkt man, dass am Main unter Julius Echter von Mespelbrunn noch um und nach 1600 Kleinstädte und Dörfer mit rundturmreichen Mauern umgeben wurden, so kommt man hier in die Versuchung, einen besonderen Konservatismus zu sehen, der das traditionelle Bild der Mauern so lange wie möglich bewahren wollte.
Gerade in die andere, zukunftsträchtige Richtung wies ein ebenfalls ganz seltenes Phänomen, nämlich ein Verspringen der Mauer, um im Rücksprung eine flankierende Scharte anordnen zu können (Abb. 74). In regelmäßiger Reihung konnte ich dies nur in Landshut feststellen, wo die betreffende Partie aber nicht erhalten ist. Offenbar um 1410 wurde hier an der Vorstadtmauer und dem Zwinger etwa alle 40 m ein rechteckiger Schalenturm angeordnet, bei dem die Mauer jeweils um Turmbreite versprang, sodass der Turm die anschließende Mauerstrecke voll flankierte. Ähnliche Mauerversprünge konnte ich etwa in Schwäbisch Gmünd, Seßlach (Oberfranken) und an der Vorstadtmauer von Wolfsberg (Steiermark) feststellen; es mag mehr Beispiele gegeben haben, aber fraglos blieben solche Vorgriffe ins bastionäre Zeitalter isolierte Einzelfälle. 2.2.11.4. Barbakanen und Vorhöfe Schon im Zusammenhang der größeren Torzwinger (2.2.7.3.) ist deutlich geworden, dass die Tore im Zeitalter der aufkommenden Artillerie 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
281
weiterhin als besonders gefährdeter Punkt der Stadtmauer begriffen wurden, der entsprechender Verstärkung bedurfte. Das Verständnis von Angriff und Verteidigung, das an dieser Stelle erkennbar wird, ist noch das Althergebrachte: Die Mauer als solche galt als kaum zerstörbar, das Tor dagegen als jene Stelle, an der ein Angreifer mit Gewalt oder durch Überraschung relativ leicht in die Stadt eindringen konnte. Mit dem Vordringen der Artillerie musste sich dieses Konzept auf Dauer ändern, denn Geschütze konnten jeden Teil der Befestigung zerstören, sodass es nun neues Ziel der Verteidiger sein musste, das gesamte Vorfeld so lückenlos zu sichern, dass die Batterien des Belagerers überall Abstand halten mussten. Aber in den Anfängen war dies noch nicht klar erkannt, sodass zunächst weiterhin die Tore zentrale Punkte der Verteidigung blieben. Die Barbakane war ein besonders typisches Produkt dieser Übergangsphase. Eine Barbakane vereinte zwei Funktionen. Einerseits handelte es sich um einen von Ringmauern umgebenen Hof mit Außentor, der vor einem Tor der Hauptmauer lag – Barbakanen also im Prinzip um einen Torzwinger. Andererseits war das weit vor die Mauer gezogene und durch einen eigenen Graben geschützte Bauwerk feldseitig gerundet oder polygonal und mit Kanonenscharten versehen, sodass es sich gleichzeitig um eine Art Rondell oder Kanonenbollwerk handelte, von dem
das Vorgelände der Stadt gut bestrichen werden konnte. Auch in der fremdartigen Bezeichnung, die sicherlich während der Kreuzzüge in Europa übernommen wurde, spiegelt sich der Doppelcharakter des Baues, denn das persische „barbah-hané“ meinte sowohl eine Vor- oder Zwingermauer als auch eine Mauer mit Schießscharten; in England bezeichnet „barbican“ bis heute jede Form eines Torzwingers, während „barbacane“ im Französischen eine Schießscharte oder ähnliche Öffnung meint. Wie alle größeren Werke des Artilleriezeitalters entstanden Barbakanen nur in wohlhabenderen Städten oder in solchen, die für ihre Herren eine besondere strategische Bedeutung hatten. Heute findet man nur noch wenige Barbakanen, die eine vollständige Anschauung des Bautypus geben; „Klingentor“ und „Spitalbastei“ in Rothenburg ob der Tauber (Abb. 219), das „Marientor“ in Naumburg (Abb. 220) und die besonders wenig veränderte, bescheidenere Anlage im nahen Laucha (Abb. 462), der „Kaisertrutz“ in Görlitz (Abb. 222) und schließlich – außerhalb Deutschlands, aber seit Langem und zuletzt von Tomasz Torbus als Prototyp betrachtet – die Barbakane am Krakauer „Florianitor“ (1497 ff., restauriert von Essenwein; Abb. 221). Der Eindruck eines extrem seltenen Bautypus, den auch einige weitere (teilweise) erhaltene Beispiele nicht ändern, wäre aber falsch. Denn die städtebaulichen
Abb. 219 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), Grundrisse der Barbakane vor dem „Klingentor“, mit der integrierten Wolfgangskirche (vgl. Abb. 195) und der „Spitalbastei“ (vgl. Abb. 381); bei der „Spitalbastei“ verlief zwischen dem äußeren Rundbau und dem Torturm der Stadtgraben, in den erst später der zweite Rundbau gesetzt wurde (Heller, Rothenburg in Wehr und Waffen, 1926).
282 I. Systematischer Teil
Abb. 220 Naumburg (Sachsen-Anhalt), isometrische Rekonstruktionen des „Marientores“ (vgl. Abb. 57, 147), vor und nach dem Anbau der Barbakane (Th. Biller in: Forschungen zu Burgen und Schlössern, Bd. 5, 2000).
Maßnahmen des 19. Jahrhunderts haben im Fall der Barbakanen, bei denen fast überall ein prinzipieller Konflikt zwischen dem Bauwerk und dem Wunsch nach geradliniger Straßenführung bestand, zu besonders hohen Verlusten geführt. Da Barbakanen als brauchbare Artilleriewerke oft noch in die Festungswerke der Renaissance und des Barock einbezogen wurden, sind viele der verschwundenen Beispiele immerhin durch frühe Darstellungen dokumentiert, also durch Festungspläne oder Darstellungen von Topographen wie Braun / Hogenberg oder Merian. Durch die Auswertung solcher Dokumente gewinnt man einen besseren Überblick über das ehemals Vorhandene, der aber sicherlich immer noch weit von jeder Vollständigkeit bleibt und der vor allem auch wenig über den Ursprung und die Entwicklung des Typus vermittelt. Nach Untersuchungen in Böhmen wurde der Bautypus der Barbakane offenbar von den Hussiten entwickelt; als erstes Beispiel, 1433 zuerst belegt, gilt die Barbakane am „Neuen“ oder „Prager Tor“ der von den Hussiten ab 1420 neu angelegten Stadt Tábor südlich von Prag. Für den hussitischen Ursprung des Bautypus spricht durchaus auch, dass sich die Hauptverbreitungsgebiete der Barbakanen fast allseitig um Böhmen herum gruppieren und dass, soweit man
Abb. 221 Krakau (Polen), die Barbakane vor dem „Florianitor“, die berühmteste ihrer Art, im Grundriss (Architektura gotycka w Polsce, Bd. 2, 1995).
das bereits sagen kann, die älteren Anlagen aus dem mittleren 15. Jahrhundert eher in der Nähe Böhmens festzustellen sind, während die weiter entfernten deutlich bis ins 16. Jahrhundert hineinreichen; erstaunlich ist dabei aber, dass es in Böhmen selbst erst sehr spät eine Nachfolge gab. Beginnt man im Nordosten, so hat Tomasz Torbus darauf hingewiesen, dass es in Polen neben der berühmten Anlage in Krakau noch weitere Barbakanen gegeben hat, etwa in Warschau oder Kamieniec Podolski; auch in Ungarn findet sich der Typus. In Schlesien sind zerstörte Bauten zumindest in Breslau, Glogau, Oppeln, Jauer und Striegau nachweisbar; vor allem in Bautzen gab es Barbakanen vor mehreren Toren (Abb. 177), wohl aus dem frühen 16. Jahrhundert. Der mächtige „Kaisertrutz“ (ab 1490) im heute sächsischen Görlitz war formal ein Sonderfall (Abb. 222): Das äußere Tor führte hier nämlich nicht in das große Hofrondell, das den äußeren Teil der Anlage bildet, sondern in den Torzwinger, der durch Parallelmauern zwischen der Stadtmauer und dem Rondell entstand; zudem steht im Hof des Rondells, nach bisheriger Erkenntnis als einzigartiger Fall, ein hoher achteckiger Aussichtsturm. In Sachsen, das gegen 1500 zum wohl reichsten deutschen Staat aufstieg, waren Barbakanen nach frühen Bildquellen – vor allem nach den 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
283
Abb. 222 Görlitz (Sachsen), der „Kaisertrutz“ (um 1490), rekonstruierter Grundriss. Das Bollwerk vor dem „Reichenbacher Tor“ war keine Barbakane im engen Sinne, denn der Torweg führte nicht durch den Rundbau. Einzigartig ist auch der schlanke Turm im Hof des großen Rondells (A. Haupt / R. Jecht, Topographie der Stadt Görlitz, 1996).
Zeichnungen Wilhelm Dilichs – recht häufig; die wichtigeren Städte des Landes verfügten meist wohl über mehrere dieser Bauten. Jedoch blieb – wie allgemein von den sächsischen Stadtmauern – kaum etwas erhalten, und, soweit ich sehe, kann bisher nur in einem Falle etwas zur Datierung gesagt werden: In Delitzsch wurde 1451 eine Barbakane geplant, denn man schickte eine Delegation nach Naumburg, um eine dort im Bau befindliche zu besichtigen. Im Raum des südlichen Sachsen-Anhalt und östlichen Thüringen setzte sich die hohe Dichte an Barbakanen offenbar fort, aber es gibt nur noch zwei erhaltene Beispiele. Von mehreren, ab 1451 erbauten Barbakanen in Naumburg blieb nur jene vor dem „Marientor“ erhalten, die 1456– 58 entstand (Abb. 220). Eine noch weniger verfälschte Anschauung bietet jedoch die undatierte Anlage im nahen Laucha, der die jüngeren Umbauten der Naumburger Anlage erspart blieben (Abb. 462). Weitere Beispiele gab es in Jena („Johannistor“, 1440er Jahre), Freyburg / Unstrut („Eckstädter Tor“, 1447–48; Abb. 461), Pößneck („Oberes Tor“, 1467), Nordhausen („Rautentor“, 1453; „Töpfertor“, 1487) und Weißenfels. Hessen und die Landschaften westlich und nördlich davon erscheinen nach gegenwärtigem Wissensstand als Randbereich der Landschaften mit Barbakanen, wohl mit eher späten An284 I. Systematischer Teil
lagen. Frankfurt am Main besaß offenbar mehrere, Fritzlar zumindest eine am „Werkeltor“. In Lemgo (Westfalen) war von zwei Barbakanen jene am „Neuen Tor“ auf 1519 datiert und auch im nördlichen Rheinland gab es offenbar einige Fälle (Kempen, 1522; Düren; Emmerich). Im süddeutschen Raum und bis ins Alpenvorland sind weitere Beispiele zu notieren. In Rothenburg integrierte die ungefähr rechteckige „Klingenbastei“ die Wolfgangskirche (1475–92; Abb. 219); die wohl erst nach 1500 entstandene „Spitalbastei“ war ursprünglich ein Rundbau vor dem Hauptgraben, mit Geschützstellungen auf Hofniveau und einer Plattform; 1537 setzte man in den Graben, als Verbindung zur Hauptmauer eine Art zweites Rondell, sodass ein im Grundriss 8-förmiger Bau mit Bestreichungsmöglichkeit des Grabens entstand. Weitere fränkische Barbakanen sind in Dinkelsbühl, Gunzenhausen, Neustadt / Aisch, Wolframs-Eschenbach, Oettingen und Nördlingen in Resten erhalten oder nur noch indirekt belegt; ein Vorwerk mit Eckrondell in Waldenburg (Württembergisch Franken) darf man hier anschließen. Im bayerisch-schwäbischen Raum war der Bautypus offenbar selten; hier konnte ich nur jene am „Neuhauser Tor“ in München (1492), sowie mehrere große Anlagen in Ulm (um 1520 / 39) finden. In Österreich gibt es geringe Reste einer runden Barbakane
vor dem Südtor von Wiener Neustadt, und in Korneuburg fand man eine siebeneckige. In der Schweiz besaß Freiburg im Üechtland drei Barbakanen vor den Haupttoren, die aber nur noch auf alten Darstellungen überliefert sind; das Vorwerk der „Porte de Morat“ mit einem noch schwachen Halbrondell (1468 ff.) erschien hier als Vorstufe, während die „Porte de Romont“ und die „Porte des Etangs“ voll entwickelte Barbakanen besaßen (im ersten Fall: 1468–70); der „Grand Boulevard“ (1490–96; Abb. 312), der aber kein Tor verteidigte, gibt heute noch eine Anschauung dieser Werke. Der Platz vor der Brücke, die zu einem Stadttor führte, war nicht nur verteidigungstechnisch ein neuralgischer Punkt, sondern auch unter Aspekten des Verkehrs. Hier wurde kontrolliert, wer Einlass in die Stadt begehrte, es wurden Zölle erhoben und deswegen konnte Vorhöfe es hier zu Stau und unübersichtlichen Verhältnissen kommen, die auch für die Sicherheit der Stadt gefährlich werden konnten. Deswegen war an dieser Stelle ein absperrbarer Bereich notwendig, der nicht eigentlich fortifikatorische Funktionen besaß, sondern nur ein Kontrollpunkt mit Unterkunft für die Wächter war. Seine einfachste Form bestand in Holzzäunen mit Schlagbäumen (Abb. 223), aber auch ummauerte Höfe mit weiteren Gebäuden waren als dauerhaftere Anlagen nicht selten (Abb. 224); in solchen Fällen fand man dann manchmal einige Schießscharten. Erhalten sind sehr wenige dieser Höfe oder auch nur Reste davon, denn auch sie waren grundsätzlich den neuen Straßen des 19. Jahrhunderts im Wege und, da die Zollerhebung an den Stadttoren (Akzise), die während des Absolutismus noch eine bedeutende Rolle gespielt hatte, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fast überall wegfiel, wurden die Vorhöfe dann mit einiger Vollständigkeit abgerissen. Dabei spielte fraglos auch eine Rolle, dass sie im Gegensatz zu den Haupttoren bzw. Tortürmen, die gelegentlich wegen ihrer symbolhaften Architektur überlebten, als reine Nutzbauten galten. Es bedurfte also ungewöhnlicher, glücklicher Umstände, damit solche Vorhöfe einmal erhalten blieben und solche gab es in Rothenburg ob der Tauber, das bekanntlich im 19. Jahrhundert in seiner Entwicklung regelrecht stecken blieb,
Abb. 223 Nürnberg, die Sicherungen vor dem „Frauentor“ waren im Jahre 1493 sehr provisorisch: quer gelegte Baumstämme mit Ästen, ein Holztor, ein Wachhaus aus Fachwerk (Hartmann Schedel, Weltchronik; Ausschnitt).
Abb. 224 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), der weitgehend erhaltene Vorhof am „Rödertor“. Auf dem Außenwall liegt ein ummauerter Vorhof des 15. Jahrhunderts, fast schon eine Barbakane, davor die beiden frühbarocken, nicht befestigten Wachhäuser (um 1615; Heller, Rothenburg in Wehr und Waffen, 1926).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
285
sodass nicht nur Stadtbild und Stadtbefestigung, sondern auch gleich mehrere Vorhöfe in ihrem letzten Ausbaustand erhalten blieben; sie seien hier als einzige Beispiele solcher eigentlich unbefestigter Vorhöfe benannt. Am vollständigsten ist das „Rödertor“ erhalten, mit einem rechteckigen, nur feldseitig befestigten Vorwerk und eben den beiden Wachhäusern von 1615 vor deren Graben (Abb. 224). Sie sind im Grundriss viertelkreisförmig und flankieren symmetrisch das große Rundbogentor und die Fußgängerpforte mit ihrer Diamantquaderung. Die geschwungenen Spitzdächer betonen das Malerische der Anlage, lediglich zwei Schießscharten erinnern noch formell an Wehrhaftigkeit. Die ganz entsprechende, ähnlich zu datierende Wachhausgruppe vor dem weniger gefährdeten „Burgtor“ ist noch schmuckreicher und verzichtet zugunsten von Fenstern gänzlich auf Schießscharten. 2.2.11.5. Rondelle und andere Kanonentürme Rondelle sind sicherlich jene Bauten des beginnenden Artilleriezeitalters, die dem Nichtfachmann am ehesten vor Augen stehen. Denn obwohl auch sie in der Regel nur als Einzelbauten den älteren Mauern angefügt wurden und daher nur einen kleinen Teil der erhaltenen Stadtbefestigungen ausmachen, fallen sie doch durch ihr Volumen und ihre oft beherrschende Position noch immer in vielen Altstädten auf. Zudem waren sie eine sehr verbreitete Bauform, deren Beispiele man vom frühen 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert in weiten Teilen des deutschen Sprachgebietes findet – und weit darüber hinaus, von Portugal bis in die Türkei (noch mehr gälte dies, wenn man auch die Burgen in die Betrachtung einbezöge). Entsprechend der weiten Verbreitung und formalen Vielfalt sind die Ursprünge und die Entwicklung der Bauform nicht einfach zu erkennen. Es liegt auf der Hand, dass Rondelle sich aus Rundtürmen entwickelten, wobei fast alle Merkmale, die sie von jenen unterscheiden, funktional begründet sind. Schon Türme des 13. / 14. Jahrhunderts besaßen ja durchaus Eigenschaften, die die Aufstellung von Feuerwaffen ermöglichten, nämlich witterungsgeschützte Innenräume in überhöhter Position; dementsprechend sind Türme mit nachträglich eingebauten größeren 286 I. Systematischer Teil
oder kleineren Feuerwaffenscharten im erhaltenen Bestand sehr häufig. Für größere Geschütze waren diese älteren Türme aber wenig geeignet, denn ihre Innenräume waren zu klein, ihre Mauerdicke dem Beschuss nicht gewachsen und auch ihre Höhe wurde zum Nachteil, weil die Türme einstürzen und damit den Verteidigern zusätzlich schaden konnten. Der Versuch, diese Probleme in den Griff zu bekommen, musste zwangsläufig zu einem neuen Bautypus führen. Größere Innenräume und Mauerdicken ergaben einen voluminöseren Baukörper, die Reduzierung der Höhe – um möglichst kein Ziel zu bieten – verstärkte den Effekt. Die Rundform wurde nicht immer, aber meistens beibehalten, weil sie einerseits den Kugeln der Belagerer nur eine minimale Fläche bot, wo allein sie, rechtwinklig auf das Mauerwerk treffend, ihre maximale Wirkung entfalten konnten. Andererseits war die Rundform optimal für eine radiale Aufstellung der Geschütze bzw. für radiale Schusslinien, die zunächst – bis zur Erfindung der Bastionen – als die beste Möglichkeit gesehen wurde, das Gelände im und vor dem Graben möglichst lückenlos zu beherrschen. Dementsprechend sind Schießscharten für Geschütze und in geringerem Maße für Handfeuerwaffen wie etwa Hakenbüchsen jene Öffnungen, die den äußeren Eindruck eines Rondells bestimmen; typisch ist dabei meist die geschossweise versetzte Anordnung, die die Bestreichung des Vorfeldes zusätzlich verbessern sollte. Ergänzt wurden diese Bemühungen, dem Belagerer möglichst wenig Schutzraum zu lassen, durch eine überlegte Platzwahl der Rondelle. Sie sollten möglichst weit vor die Verteidigungslinie vorspringen, meist an einer Ecke und / oder auf einer überragenden Höhe, auch einmal isoliert vor die Hauptverteidigungslinie vorgeschoben; als Sonderfall, oft ebenfalls in runder Form, entstanden zu dieser Zeit auch die Streichwehren, die in tiefer Position allein den Graben sichern sollten. Dass auch Tore, deren Lage oft nicht diesen Anforderungen entsprach, mit rondellähnlichen Barbakanen (vgl. 2.2.11.4.) verstärkt wurden, widerspricht allerdings solchen Erwägungen und zeigt, dass man in dieser Übergangsphase zum Artilleriezeitalter noch Kompromisse mit traditonellen Formen suchte, in diesem Falle mit Torzwingern.
So weit war dies eine idealisierende Darstellung des Bautypus, die durch seine funktionale Prägung nahegelegt wird. In der Praxis findet man dagegen einen Variationsreichtum, der einerseits in gewisser Weise noch mittelalterlich wirkt, also seine Entstehung offenbar der Freude an der Variation und der Bindung an lokale Traditionen verdankt; andererseits spiegelte sich in ihm sicherlich auch die Suche nach der optimalen Form, wie sie beim Aufkommen einer völlig neuen Art von Waffen unvermeidlich war. Im Folgenden werden insbesondere Beispiele aufgeführt, die beim heutigen Kenntnisstand gut zu datieren sind. Die chronologische Anordnung wurde gewählt, um hypothetische Entwicklungslinien erkennbar zu machen. Eine regionale Ordnung wie bei den Bestandteilen der älteren Mauern schien dabei nicht mehr sinnvoll, eben wegen der Überregionalität des Phänomens. Jedoch werden im Folgenden, um der Vollständigkeit des Bildes halber, auch einige gut erhaltene Rondelle angeführt, die leider nicht eng datierbar sind. Nach der Schlacht bei Tannenberg und der folgenden Belagerung von Burg und Stadt Marienburg 1410 wurde der Hauptsitz des Deutschen Ordens vom Hochmeister Heinrich von Plauen mit einem Außenwall verstärkt, aus dem Rundschalen vorspringen (Abb. 225). Dieses restauriert erhaltene „Plauenbollwerk“ ähnelt jenen Zwingern mit regelmäßigen Halbrundschalen, wie sie wenig später – während der Hussitenkriege – wohl zuerst in Franken und der Oberpfalz aufkamen und im 15. Jahrhundert auch bei Burgen üblich Die Entwicklung bis 1460 / 70 wurden. Jedoch waren die Schalen in Marienburg niedriger, geräumiger und sicherlich auch überdacht; der Entwerfer hatte die Forderungen der neuen Waffentechnik erstaunlich früh begriffen. In Jena umfasste eine inschriftlich überlieferte Ausbauphase im Jahre 1430 offenbar auch eine Art von Rondellen an den vier Stadtecken. Das besterhaltene wirkt wie ein konzentrisch um den runden Eckturm („Pulverturm“) herumgeführter Zwinger, was durch Zinnen und drei halbrunde Erker noch malerisch verstärkt wird (Abb. 226); jedoch zeigen kleine, außen erweiterte Rechteckscharten, dass hier in Innenräumen und auf der Plattform durchaus kleinere
Abb. 225 Marienburg (Polen, ehemals Westpreußen), das nach 1410 erbaute „Plauenbollwerk“ ist ein befestigter Außenwall, dessen große halbrunde Streichwehren bereits konsequent für Geschützverteidigung eingerichtet waren – eines der frühesten Beispiele im mittelalterlichen deutschen Raum (Chr. Herrmann).
Abb. 226 Jena (Thüringen), das Rondell an der Nordwestecke der Stadtmauer entstand um 1430 durch Umbauung eines Rundturmes wohl des mittleren 14. Jahrhunderts. Die Kanonenscharten dieser frühen Anlage für Geschütze waren schwer benutzbar, weil der Turm wenig Platz ließ.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
287
Abb. 227 Duderstadt (Niedersachsen), überwiegend nur noch durch Ausgrabung konnten mehrere kleine Halbrundschalen erfasst werden, die um 1440–70 die ältere Mauer von Duderstadt verstärkten. (A. Porath, Die Befestigung der Stadt Duderstadt, Teil II, 2002).
Feuerwaffen verwendet wurden. Die Anlage erinnert stark an den Adlerturm in Rüdesheim, der allerdings als etwas jünger gilt (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts; Abb. 446). Ob die anderen Jenaer Eckrondelle ähnlich aussahen, bleibt wegen ihrer starken Veränderungen unklar; sie besaßen teils ähnliche Rechteckscharten, auch Schlüsselscharten und Zinnen. Ebenfalls schon um 1430–40 sollen zwei U-förmige Türme im niederösterreichischen Eggenburg entstanden sein, die die Weiterentwick-
Abb. 228 Halle (SachsenAnhalt), der „Leipziger Turm“ (vor 1478) war Teil eines Vorwerkes am „Galgtor“ (= Leipziger Tor), seine Höhe entspricht der Notwendigkeit, ein ansteigendes Vorgelände zu überschauen. Ungewöhnlich sind die kleinen Maßwerkfenster (vgl. Abb. 80).
288 I. Systematischer Teil
lung aus älteren Turmformen gut veranschaulichen würden, denn, von ihrem größeren Innenraum und den quadratischen und Schlüsselscharten abgesehen, sind sie in Höhe, Mauerdicke und Balkendecken ganz traditionell; die wohl ab 1434 ausgeführte Befestigung von Burg und Stadt im nahen Schrattenthal steht Eggenburg in den Details sehr nahe. Vor die archäologisch recht gut erforschte Mauer von Duderstadt im südlichen Niedersachsen wurden etwa zwischen 1440 und 1470 mehrere kleine Halbrundtürme mit wiederum quadratischen Scharten in zwei Geschossen vor die Mauer gesetzt, die 1451 als „nyge Bolwarke“ bezeichnet wurden (Abb. 227). Recht ähnlich hat man die Mauer des 14. Jahrhunderts im damals thüringischen Freyburg / Unstrut mit zahlreichen runden und halbrunden Türmen verstärkt, von denen einer auf 1449 datiert ist; auch sie zeigen neben Schlitzscharten quadratische Scharten, teils mit Klappläden. Im nahen Halle wiederum, das ab 1454 mit Zwingern, Gräben und Vortoren verstärkt wurde, ist von alledem nur der (1478 erwähnte) „Leipziger Turm“ am äußeren Vortor des „Galgtores“ erhalten, der ein völlig anderes Konzept vertritt. Zwar ist auch er rund und mit Scharten versehen, aber seine erstaunliche Höhe und einzelne Maßwerkfenster haben mit einem „Rondell“ nichts zu tun, wirken vielmehr ausgesprochen traditionell, auch wenn die Höhe funktional auf das ansteigende Vorgelände bezogen ist (Abb. 228); regional Vergleichbares findet man in Stolberg („Saigerturm“) und Zörbig (Turm am „Hallischen Tor“).
Im südwestdeutschen Raum schließlich stammt der „Zuckmantelturm“ in der Vorstadt von Miltenberg inschriftlich von „1451“; ähnlich dem sieben Jahre jüngeren „Diebsturm“ in Bönnigheim ist er relativ niedrig und mit Schlüsselscharten versehen. Etwa genauso alt dürfte ein runder Zwingereckturm in Balingen sein, der über dem – allgemein für die Zeit typischen – vorspringenden obersten Steingeschoss noch ein offenbar originales Fachwerkobergeschoss besitzt; seine reichen Formen – Maßwerkfenster, gestäbtes Gewände – dürften hier mit der Stadtburg zusammenhängen, mit der der Turm verbunden ist. Bis zu diesem Punkt waren ausgesprochen unterschiedliche Bauformen in weit auseinanderliegenden Regionen anzusprechen, aber eben diese Vielfalt, wenn nicht gar Zersplitterung der Phänomene spiegelt offensichtlich die Situation der Frühphase, die etwa bis 1460 / 70 reichte. Man war intensiv darum bemüht, das neue Problem kreativ zu bewältigen, wobei aber, weil offenbar anfangs ein nennenswerter Austausch fehlte, in verschiedenen Regionen ganz unterschiedliche Ansätze verfolgt wurden. Die einzige auffällige Beziehung der beschriebenen Beispiele besteht darin, dass vor allem Regionen im mittel- und ostdeutschen Raum zu nennen waren, vom preußischen Ordensstaat über Thüringen bis nach Österreich. Es scheint so, als ob auch hier wieder, wie es schon bei den umlaufenden Zwingern mit Streichwehren anzumerken war (2.2.8.3.), eine Entwicklung ihre Anfänge eher im Osten des deutschen Sprachraumes genommen hätte, wobei die Ähnlichkeit beider Abläufe nicht verblüffen kann, denn die Streichwehren der Zwinger und die Rondelle standen sich ja funktional und formal nahe – beide als direkte Reaktion auf die Verbreitung der Feuerwaffen. Dass die Hussitenkriege einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung beider Bauformen gebildet haben, liegt dabei ein weiteres Mal nahe, auch wenn gezielte, notwendigerweise grenzübergreifende Untersuchungen zu diesem Thema noch fehlen und auch sonst vorsichtige Einschränkungen nötig sind. So hatte es der Deutsche Orden ja nicht mit den Hussiten zu tun, sondern mit dem Königreich Polen und dem Großherzogtum Litauen und die Gemeinsamkeit der Beispiele in den angesprochenen Regionen lag ja eben gerade nicht in den Bauformen, sondern in einem abstrakteren
Faktor, den man als die Schnelligkeit und Originalität der Reaktion auf die neue Kriegstechnik beschreiben könnte. Dass dem eine frühere und konsequentere Auseinandersetzung mit der Technik der Pulvergeschütze zugrunde lag, ist teilweise – etwa gerade beim Deutschen Orden mit seinen frühen Steinbüchsen – durchaus belegbar, kann aber hier nicht in der nötigen Breite behandelt werden; es ginge dabei ja auch um die Entwicklung in Ländern wie Polen, Böhmen, Litauen usw. Die Blütezeit der Rondelle lag zwischen etwa 1460 / 70 und dem mittleren 16. Jahrhundert; in diesem Zeitraum war der Typus weitverbreitet und so variantenreich, dass Entwicklungslinien bisher nicht klar Verbreitung der Rondellform, erkennbar sind. Es ist daher sinn1460 / 70–1500 voller, wichtige Beispiele in regionaler Ordnung vorzustellen, und zwar in zwei Zeitabschnitten – bis 1500 und danach –, wodurch sich immerhin gewisse Linien der Verbreitung andeuten. In Bayern, wo der Zwinger in Landsberg am Lech um / nach 1425 noch auffällig dünnwandige Abb. 229 Burghausen an der Salzach (Bayern), der „Pulverturm“ (um 1500) in einer Umzeichnung nach dem Modell von Jacob Sandtner (1573 / 74) im Bayerischen Nationalmuseum. Das Eckbollwerk der Stadtmauer war ein massives Rondell, das ungewöhnlicherweise von einem Zwinger mit mehreren Streichwehren verstärkt war.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
289
Abb. 230 Schwäbisch Hall (Württembergisch Franken), Grundrisse u-förmiger Streichwehren der Zeit zwischen 1490 und 1532 (E. Krüger, Die Stadtbefestigung von Schwäbisch Hall, 1966).
Rundschalen aufwies und jener in München bis etwa 1465 hohe und schlanke, ebenfalls nicht als Rondelle ansprechbare Rundtürme, gab es auch sonst bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kaum größere Kanonentürme. Eines von zwei Abb. 231 Biberach (Baden-Württemberg), der „Weiße Turm“ (1476–84) ist ein ungewöhnlich hoher, aber von vornherein für Geschütze eingerichteter Turm an der Westseite der Stadt, der den vorgelagerten Gigelberg beherrschen sollte.
290 I. Systematischer Teil
kleinen Rondellen in Eichstätt an der Altmühl ist „1460“ datiert, von 1481 stammt vielleicht einer der schlanken Rundtürme, die in Passau die Wasserfront sicherten; der zweite entstand 1513. Erst um 1490 entstand mit dem „Pulverturm“ in Burghausen / Salzach ein erstes wirklich massives, durch Zwinger zu einer Art Zitadelle erweitertes Rondell (Abb. 229); es war Bestandteil einer bereits festungsartigen Gesamtanlage, zu der außer der lang gestreckten Burg eben auch die Stadt gehörte. Nur der „Schleiferturm“ in Kelheim (um 1470–90?) kann damit im Bayern jener Zeit verglichen werden, und vielleicht ein verbautes, undatierbares Rondell in der Oberstadt von Dingolfing. Auch in Österreich und dem Alpenraum gab es in dieser Phase nicht wesentlich mehr Aktivitäten. Nach den erwähnten Türmen in Eggenburg (um 1430 / 40?; Abb. 289) entstand in Krems 1477 der wuchtige „Pulverturm“, und ein noch deutlich höherer in Pöchlarn 1489. Wohl 1477 / 78 war der Baubeginn der äußeren Mauer von Zug in der Schweiz, die sechs rondellartige Türme erhielt (Abb. 205, 309); einer davon wurde bald um zwei weitere Geschosse erhöht. Da aber die Befestigung von Zug frühestens 1522 abgeschlossen war, könnte man diese Anlage auch erst der späteren Entwicklungsstufe zuordnen. Als Tiroler Landesfestung, vergleichbar dem bayerischen Burghausen, entstand die nach einer Zerstörung 1499 begonnene, vollständig erhaltene Neubefestigung von Glurns; auch sie gehört aber, wohl 1521 vollendet, eigentlich erst in die nächste Entwicklungsphase (Abb. 298). Die tra-
pezoide, geräumig angelegte Mauer wurde von vier Eck- und drei Zwischenrondellen verteidigt, die als zweigeschossige Schalen die Mauer kaum überragen und mit dem Anzug des Sockels und dem Kordongesims norditalienische Einflüsse zeigen. Im fränkischen und württembergischen Raum traten Rondelle gleichfalls kaum vor 1470 auf; so entstand etwa der eindrucksvolle Ausbau des Burgstädtchens Vellberg, mit mehreren Rondellen und kasemattiertem Torturm, um 1466–99, während die nahe gelegene Reichsstadt Schwäbisch Hall erst um 1490 einige u-förmige Streichwehren erhielt (Abb. 230); das kleine Creußen in Oberfranken bekam 1473 einen Steuernachlass, der für die weitgehend erhaltenen Rondelle verwendet werden sollte. Ab dem späten 15. Jahrhundert werden Rondelle dann in Franken häufiger. In Oberschwaben ist der 1476–84 von Hans Hartmann errichtete „Weiße Turm“ in Biberach ein eindrucksvolles Beispiel für eine Übergangsform von Turm und Rondell, der man zur Beherrschung des Vorfeldes eine besondere Höhe gab (Abb. 231). Er besitzt Kanonenscharten in acht(!) Geschossen und ist durch Wasserschläge und einen Maßwerkfries gegliedert. Der „Pulverturm“ in Vaihingen, ein Rondell am Zwinger, wurde 1493 samt seiner Ausstattung mit Doppelhaken von den Bürgerfamilien Gremp und Aschmann finanziert; er ist unter anderem mit einem Relief geschmückt (Abb. 84). Weiter westlich, in Baden und am Oberrhein, scheint es bis um 1500 zunächst noch keine Rondelle gegeben zu haben. In Thüringen und Hessen gibt es dagegen einzelne Beispiele ab der Zeit um 1470 und mit Büdingen einen der absoluten Höhepunkte dieser Bauform. Kahla etwa wurde mit sechs Rondellen verstärkt, von denen eines „1472“ datiert ist, undatierte Beispiele findet man unter anderem in Pößneck, Nordhausen, Mühlhausen und Stadtilm. In Hessen sind kleine Rondelle in Volkmarsen (1483, Hans Jacob von Ettlingen?) und Wildungen sowie der undatierte „Bierturm“ in Fulda zu erwähnen. Die kleine Residenzstadt Büdingen, die durchaus keinen strategischen Brennpunkt besetzte, erhielt zwischen den 1480er Jahren und etwa 1517 eine aufwendige Rondellumwehrung, die aufgrund ihrer hervorragenden Erhaltung
Abb. 232 Büdingen, der „Grüne Turm“, ein charakteristisches und gut erhaltenes Rondell an der Westseite der Stadtmauer, entstand wohl kurz vor 1500.
zu den sehenswertesten Stadtbefestigungen Deutschlands gehört (Abb. 154, 232, 447). Der Bau begann offenbar an der von einem Berg überragten Nordseite, wo schon 1489 zwei Rondelle bestanden, wohl der „Folterturm“ und der „Hexenturm“; vor den Letzteren wurde 1491, verbunden durch eine Streichwehr, das „Große Bollwerk“ an der Nordwestecke der Stadt gesetzt, das vier Geschosse mit Balkendecken besitzt. Danach entstand dann wohl der mauergestützte Wall mit Schützengalerie und weiteren Rondellen; sie zeigen rechteckige Maulscharten und gemauerte Spitzdächer. Das „Unter-“ oder „Jerusalemer Tor“ von 1503 (Abb. 154), der Haupteingang der Stadt, ist ein repräsentatives Doppelturmtor mit einer Blendmaßwerkattika, wappengeziertem Erker und dreieckiger „Pförtnerloge“. Als Abschluss wurde die ältere und weniger gefährdete Südmauer durch kleine Rondelle verstärkt, außerdem durch einen Außenwall mit weiteren Rondellen, darunter einem am „Mühltor“. 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
291
In Schlesien war eine Form der lang gestreckten Streichwehr verbreitet, die entweder nur vor den Zwinger vorspringt – oder sogar, an der Hauptmauer ansetzend, über den Zwinger herüber reicht – und an der feldseitigen, meist in den Graben vorspringenden Front abgerundet ist. Es handelt sich quasi um eine Mischform aus Streichwehr und Rondell, was dort besonders deutlich wird, wo der vordere Teil des Baues vollrund über seinen „Hals“ vorspringt (Abb. 481). Auch hier gibt es wie bei den Barbakanen gute Gründe, das Vorbild in Streichwehren zu suchen, die ab 1420 im hussitischen Tábor entstanden. Die schönsten schlesischen Beispiele findet man heute in Bautzen, wo sie zwischen den späten 1460er Jahren und dem frühen 16. Jahrhundert entstanden (Abb. 177), erwähnenswert ist aber auch die fast 50 m lange Streichwehr am Einfluss der Ohle in Breslau, die wohl 1486 begonnen wurde (Abb. 187). Weitere, kleinere Beispiele in Schlesien sind leider undatiert. Außerhalb Schlesiens findet man vergleichbare Formen nur selten; verschwundene Bauten in Cottbus und Rochlitz kann man noch dem schlesischen Einfluss zurechnen, solche in Steinau (Hessen) und Schwäbisch Hall wirken eher versprengt; freilich ist hier ein weiteres Mal zu vermerken, dass ein Abb. 233 Goslar, der „Dicke Zwinger“ entstand 1517 im Zusammenhang der links sichtbaren hohen Deckungswälle (vgl. Abb. 244) vor der gefährdeten Bergseite der Stadt. Ursprünglich besaß das Rondell ein hohes Spitzdach; die Fenster sind selbstverständlich viel jünger.
292 I. Systematischer Teil
sorgfältiges Sammeln bisher unbeachteter Beispiele das Bild verschieben könnte. Im norddeutschen Raum gibt es einige bedeutende und gut erhaltene Beispiele für Rondelle, die zu der Einschätzung führen könnten, der Bautypus sei hier besonders verbreitet gewesen. Dabei muss man sich jedoch vor Augen halten, dass die Entwicklung hier, im steinarmen Flachland, etwas anders verlief als weiter südlich. Wälle, Gräben und Wasser spielten eine deutlich größere Rolle bei den Umwehrungen, der Bau (back)steinerner Mauern kam deutlich später in Gang. Einerseits kam es daher zu Mischformen zwischen späten Rundtürmen und ersten Rondellen, andererseits wurden auch die voll entwickelten Rondelle anders in den Gesamtorganismus der Befestigungen eingefügt. Für die typische Mauerform insbesondere von Brandenburg, mit ihrer engen Reihung von Wiekhäusern, war die Anordnung einiger weniger, höherer Rundtürme in größeren Abständen üblich; sie waren neben den Toren die einzigen „echten“ Türme dieser Mauern, die witterungsgeschützte Räume besaßen und einen besseren Überblick über das Vorfeld boten (Abb. 495). Viele dieser selten näher datierten Rundtürme können erst ins 15. Jahrhundert gehören und wären damit schon an der Schwelle zum Artilleriezeitalter entstanden. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass ein solcher regionaltypischer Rundturm auch Feuerwaffen beherbergen konnte, ist der Turm neben dem „Steintor“ in der Brandenburger Neustadt (um 1460 / 70). Er unterscheidet sich von den üblichen Rundtürmen des Landes im Grunde nur durch den großen Durchmesser bzw. die beachtliche Wanddicke und dadurch, dass er wesentlich reicher an Schlitzscharten ist; Material, Höhe und Zinnenkranz bleiben sonst ganz im Landesüblichen. Als Vergleich könnte man den gleichzeitigen, freilich weit reicher gestalteten Turm des „Elbtores“ in Werben (Altmark) anführen (Abb. 110). Echte, das heißt niedrige Rondelle findet man im brandenburgischen Backsteingebiet dagegen kaum; zu nennen wären der (undatierte) niedrige „Pulverturm“ in Stendal, einer von ehemals dreien dieser Art, und das Halbrondell vor dem „Friedländer Tor“ von Neubrandenburg. Generell mögen artilleristische Verstärkungen in dieser Region eher an den Toren konzentriert gewesen sein, was auch ihr
weitgehendes Verschwinden aus Verkehrsrücksichten erklären könnte. Es wäre ein durchaus zeittypisches Merkmal gewesen (vgl. 2.2.11.4.), verstärkt durch die flachlandtypischen, tief gestaffelten Wallgräben, die die Tore zu den einzigen Punkten werden ließen, an denen ein vorgeschobenes Werk leicht erreichbar war. Auch im Flach- und Hügelland weiter westlich setzte die Entwicklung zum Rondell vor 1500 erst zögerlich ein. Als einziges wirklich eindrucksvolles Beispiel ist hier das reiche Goslar zu nennen, wo erste Wirkungen der Feuerwaffen am „1459“ erbauten, aber noch hohen und schlanken „Kegelworthturm“ erkennbar sind, in Form flankierender Schlüsselscharten. Echte Rondelle findet man dann ab 1493 / 94, einerseits bei der Frankenberger Kirche, an der angreifbarsten Stelle der Stadt, andererseits am wichtigen „Breiten Tor“ (Abb. 180); sie sind noch direkt an die Mauer angesetzt. Wenig später folgte dann ein Wechsel des Systems, indem riesige Rondelle auf dem wohl gleichzeitig hoch aufgeschütteten Außenwall errichtet wurden: beim „Breiten Tor“ (1501), am „Klaustor“ (1503–07) und der „Dicke Zwinger“ auf dem „Thomaswall“ (1517); dieser letzte der sogenannten Zwinger erreichte mit einem Durchmesser von 24,40 m, einer Mauerdicke von 6 m und 20 m Höhe monumentale Dimensionen (Abb. 233). Entsprechende Rondelle an den großen Zwingern zweier Tore ergänzten das System: am „Breiten Tor“ (1505) und am „Rosentor“ (1508), im letzten Falle als monumentaler Schalenturm. Trotz der Fortschrittlichkeit dieses Systems, das die Geschütztürme an die absolute Peripherie der Befestigungen hinausschob, um das Vorfeld besser zu sichern, zeigt ein gut erhaltener Bau wie der „Dicke Zwinger“ auch noch Merkmale, die wenig zu einem konsequenten Einsatz schwerer Geschütze passten, insbesondere Balkendecken, relativ kleine Scharten und ehemals hohe Spitzdächer. Vergleichsfälle vorgeschobener Rondelle in Norddeutschland, auch in bescheidenerer Form als in Goslar, sind heute sehr selten geworden; eine Auswertung von Merianstichen und anderer früher Darstellungen würde sicher noch Erkenntnisse zur ehemaligen Verbreitung bringen, insbesondere in größeren Städten, aber Details von Material, Dimension, Baugestalt usw. werden uns generell verschlossen bleiben. Als erhaltener
Abb. 234 Solothurn, das Rondell an der Nordostecke der Stadt („Riedholzturm“) wurde inschriftlich „1548“ erbaut, zu einer Zeit, als nördlich der Alpen bereits die ersten Bastionen entstanden.
Bau ist etwa noch der „1500“ datierte „Diekturm“ in Einbeck sehenswert, der – hier mit gewölbtem Untergeschoss – auf dem Außenwall steht und dort ein Tor, zwei Mühlen und den Mühlenkanal sicherte; der Außenwall von Einbeck besaß noch weitere Rondelle, die aber anders als in Goslar flankierend vorsprangen. Im vorigen Kapitel wurden bereits einige Rondellbefestigungen angesprochen, die sich, obwohl noch vor 1500 begonnen, als anspruchsvolle, in der Regel ganze Städte umfassende Projekte bis weit ins 16. Jahrhundert hineinzogen (Zug, Glurns, Büdingen, Goslar). Diese Beispiele deuten schon das an, was auch die Betrachtung erhaltener Einzelbauten bestätigt: Der Höhepunkt in der Verbreitung der Rondelle hat in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelegen, als fast überall im deutschen Raum Bauten entstanden, deren massive Formgebung nun der Dynamik der Pulvergeschütze entsprach. Wiederum im Alpenraum beginnend, ist das ab 1502 Die Blütezeit der Rondelle, 1500–1550 aufwendig neu befestigte Solothurn noch heute eines der herausragenden Beispiele der Epoche (Abb. 234). Neben dem aus einem Doppelturmtor entwickelten „Baseler Tor“ (Abb. 215) entstanden hier bis zur Jahrhundertmitte mehrere massive Rondelle 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
293
und rechteckige Bollwerke mit gewölbten Innenräumen und monumentaler Rustikaschale; die völlig verschwundenen Torverstärkungen und Bollwerke von Zürich waren nach alten Abbildungen sehr ähnlich. Flachere und geräumigere, insoweit fortschrittlicher wirkende Rondelle waren der erstaunlich frühe „Grand Boulevard“ (1490–96) in Freiburg im Üechtland (Abb. 312) und der späte Schaffhauser „Munot“ (1563–89; Abb. 240, 315), der als eine Art Zitadelle freilich ein Sonderfall ist. Der „Nölliturm“ (1513; Abb. 27) und der „Baghardsturm“ in Luzern sind dagegen Beispiele turmartiger Rondelle, die eher architektonisch wirken wollen; gerade der Letztere wirkt mit seinen großen Fenstern freilich eher als Belvedere mit Seeblick. In Österreich scheint die erste Türkenbelagerung Wiens 1529 einen gewissen Befestigungsboom ausgelöst zu haben. Zumindest gibt es eine Reihe erhaltener Rondelle (Klosterneuburg, 1531; St. Veit an der Glan, 1531–34; Radstadt, 1533; Völkermarkt und andere), deren steil anzie-
hender Sockel und das Kordongesims meist auf oberitalienische Vorbilder verweisen; ein Blick auf den gleichzeitigen Burgen- bzw. Festungsbau der Region (etwa Hohensalzburg, Hohenwerfen) würde dieses Bild noch verfestigen. Auch die Hauptstadt Wien bestätigt den italienischen Einfluss, freilich auf andere Weise: Dort nämlich entstand gleichzeitig (ab 1531) mit der „Burgbastion“ die erste echte (das heißt fünfeckige) Bastion nördlich der Alpen; die Phase aufwendiger Rondellbefestigungen wurde dort offenbar übersprungen. Im Allgäu besitzt Füssen eine Stadterweiterung, die 1502 / 03 mit mehreren schwachen Eckrondellen befestigt wurde; ein kleines Rondell blieb auch in der Vorstadt von Kempten und in Lindau finden sich Reste des „Looserturmes“. Zu den besonders interessanten und gut erhaltenen Fällen aufwendiger Rondellbefestigung gehört dagegen Überlingen, das erstaunliche anderthalb Jahrhunderte lang mehrfach mit Rondellen verstärkt wurde (Abb. 235). 1502 / 03 entstand der
Abb. 235 Überlingen am Bodensee sicherte sich bis ins Bastionärzeitalter hinein durch Rondelle. Links der „Gallerturm“ (1502 / 03), noch hoch und schartenreich, rechts der nach dem Dreißigjährigen Krieg wiederaufgebaute, massive und frontal öffnungslose „Rosenobelturm“ (1657; Fotos M. Manske, G. Giebener).
294 I. Systematischer Teil
fünfgeschossige, noch nicht eingewölbte „Galler turm“, der von zwei „Welschen“ aus „Falensia“ (Valencia? Valence?) erbaut wurde. Es folgte 1522 / 23 der dreigeschossige und schon eingewölbte „St. Johannisturm“, den man dann 1634, im Jahr einer erfolglosen schwedischen Belagerung, auf erstaunliche sieben Geschosse erhöhte. Im Vergleich mit dem ähnlichen, aber anderthalb Jahrhunderte(!) älteren „Weißen Turm“ im nahen Biberach (Abb. 231) ist dies ein erstaunliches Zeugnis, wie lange Bauformen selbst in technisch innovativen Zeiten überleben konnten – zumal, da nochmals 23 Jahre später, 1657, in Überlingen ein letztes mächtiges Rondell ganz neu entstand, der „Rosenobelturm“, und zwar in einer Stadt, die sonst mit bastionären Erdschanzen und angeschütteten Geschützstellungen hinter den Mauern durchaus zeitgemäß geschützt war. Am Oberrhein, im Elsass, in Baden und der Pfalz sind nur kleinere Bauten aus der Phase der Rondelle erhalten geblieben, wobei freilich die Entfestigung der großen Städte wie Basel, Freiburg und Straßburg das Bild sicherlich verschoben hat; erwähnenswert ist im Elsass noch eine kleine Streichwehr in Weißenburg, in Bergzabern ein Eckrondell („Dicker Turm“), in Baden ist der „Gallusturm“ in Säckingen anzusprechen, in Villingen drei Streichwehren (1499?), in Rottweil das Eckrondell des „Pulverturmes“. Württemberg und Schwaben bieten dagegen noch einige schöne Ensembles dieser Zeit, darunter die Esslinger „Burg“, in Wahrheit ein geräumiges Artilleriewerk mit mehreren Rondellen, das zwischen 1519 und „1531“ auf dem die Stadt überhöhenden Berg vor die spätstaufische Schildmauer gelegt wurde. Schorndorf und Kirchheim unter Teck wurden ab 1538 als württembergische Landesfestungen ausgebaut, wovon aber nur Teile noch zu sehen sind. Der interessantere Fall war Schorndorf, wo große, bereits kasemattierte Rondelle nachträglich mit zurückgezogenen Flanken versehen wurden, ohne jedoch die Effizienz echter Bastionen erreichen zu können. Das gleichzeitige Kirchheim ist in seiner durchaus andersartigen Gestaltung ein gutes Beispiel für die Experimentierfreude dieser Übergangszeit zur voll entwickelten, bastionären Artilleriebefestigung. Dort nutzte man einen älteren Zwinger zur Anlage eines kasemattierten Walles, vor dem einige runde oder hufeisenförmige Streichweh-
Abb. 236 Trochtelfingen (Baden-Württemberg), der neungeschossige Rundturm, an der Südwestecke der kleinen gräflichen Residenzstadt, entstand aufgrund seiner Schartenformen wohl im mittleren 16. Jahrhundert (E. Lehle).
ren vorspringen; zwei etwa rechteckige, quaderverkleidete Kanonenplattformen springen selbst wenig vor den Wall, sind aber an der Spitze durch kleine Rondelle verstärkt. Erwähnenswert ist auch das große, gleichfalls kasemattierte Rondell in Wimpfen am Berg (vor 1546), das freilich, sonst nur durch kleine Streichwehren ergänzt, die ungünstig liegende Stadt kaum schützen konnte. Wohl schon ins mittlere 16. Jahrhundert, erkennbar auch an der Kissenrustika um die Maulscharten, gehört der runde „Hohe Turm“ in Trochtelfingen, der mit seinen neun(!) Geschossen ein weiterer Verwandter der hohen Kanonentürme in Biberach und Überlingen ist (Abb. 236). Er bildete die Ecke eines Zwingers, zu dem auch ein Doppelturmtor im Westen gehörte, jedoch auch schon eine kleine Bastion im Süden. Sie wurde durch drei größere, verschwundene Bastionen im Osten ergänzt, die wohl bis ins 17. Jahrhundert hinein realisiert wurden – ein kleines, aber schönes Beispiel für den Übergang von spätmittelalterlichen Formen zum bastionären System der Neuzeit, erklärlich wohl durch das fürstenbergische Schloss, das seinerseits im Zwinger stand und ihn auch als Garten nutzte. Ähnliche interessante Einblicke in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts als Übergangszeit 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
295
bietet Nördlingen, das schon durch seine ab 1519 entstehenden neuen Tortürme aufgefallen ist (vgl. 2.2.5.10.). Dort wurde zunächst (um 1530– 35) der Zwinger durch die „Backofentürme“ verstärkt, hufeisenförmig weit vorspringende, schartenreiche Streichwehren aus Backstein (Abb. 356). 1554 folgte dann mit der „Alten Bastei“ eine Art hohes Rondell als stadtseitig offene Schale, das nicht nur den Graben, sondern auch das Vorfeld bestreichen sollte (Abb. 237). 1607– 13 folgte die ganz ähnlich gestaltete (zerstörte) „Neue Bastei“, die nun aber schon als fünfeckige Bastion gestaltet war. Ähnlich wie in Schorndorf, Kirchheim oder Trochtelfingen ahnt man hier den tastenden Übergang zu den andersartigen Formen der Neuzeit, der aufgrund hoher Kosten und begrenzter Informationen zunächst nicht zu wirklich systematisch geplanten Festungen führte. Eben dies kann man auch über die Befestigungen von Nürnberg sagen, deren Ausbau nach 1500 gerade in seiner Wechselhaftigkeit prototypisch für die Epoche wirkt. Nachdem zunächst 1526 / 27 zwei große, kaum kasemattierte Eckrondelle entstanden waren – zwar in der Heimatstadt Dürers und zeitgleich mit seinem Buch Etliche underricht zu befestigung […], aber weitaus schlichter als dessen Ideen –, leistete sich die Stadt dann ab 1538 mit den „Burgbastionen“ die ersten echten Bastionen auf deutschem Boden; vorangegangen war ihnen allein die Wiener „Burgbastion“ (1531). Dass die Entwicklung jedoch keineswegs geradlinig verlief, zeigen die ebenfalls wohlerhaltenen „Dicken Türme“ an den vier Haupttoren, die nach einem Entwurf von G. Ungers in den 1550er Jahren entstanden (Abb. 238). Denn sie missachten, als hohe Geschützplattformen konzipiert, das Bestreichungsprinzip echter Bastionen wieder völlig und setzen allein auf Mauerstärke und zudem auf die Wirkung guter Architektur. Ihre wohlproportionierten Renaissanceformen wurden tatsächlich eine Art reichsstädtisches Symbol, wie der Umbau des „Sinwellturmes“ auf der Burg und die Türme des nürnbergischen Amtsschlosses Lichtenau zeigen – sowie der „Dicke Turm“ im feindlichen Ansbach. Erst im Dreißigjährigen Krieg kehrte Nürnberg wieder zum bastionäre System zurück, indem es wie viele andere Städte weit kostengünstigere Erdschanzen vor dem Graben 296 I. Systematischer Teil
anlegte. Außerhalb der Metropole Nürnberg blieben Rondelle in Franken auch nach 1500 selten. „Pfarrturm“ und „Schieferturm“ in Kronach entstanden ab 1509, in Weismain zwei Rundschalen um „1519“, in Stadtsteinach vielleicht alle Rondelle der Hauptmauer erst nach 1553. Das benachbarte Bayern scheint in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überhaupt keine Bauten dieser Art errichtet zu haben. Wieder zurück am Rhein trifft man im Pfälzisch-Moselanischen ein ähnliches Nebeneinander eines aufwendigen Einzelbaues und vieler kleiner Verstärkungen. So verstärkte in Annweiler ein kleines Rondell von „1492“ in Glattquadern den Zwinger der Nordmauer; der „Dicke Turm“ in Bergzabern aus wohl sekundär verwendeten Buckelquadern mit Brillen- und anderen Scharten ist ähnlich zu datieren; der Mainzer „Alexanderturm“ (um 1500?) wurde stark verändert, von zwei Rondellen in Kirchheimbolanden blieben nur Stümpfe. Im armen Rheinischen Schiefergebirge sind keine Rondelle nachweisbar; der symbolhaft hohe und geschmückte Andernacher „Runde Turm“ besitzt zwar unten Scharten, aber seine Architektur verfolgt ganz andere Ziele (vgl. 2.2.4.10.). Dagegen wurde der auf einen spätrömischen Palast zurückgehende Stiftsbezirk in Pfalzel bei Trier wohl 1531–40 zu einer regelrechten Landesfestung ausgebaut, mit abgemauerten und kasemattierten Wällen und Großrondellen – freilich ein Sonderfall, denn das Dorf blieb leicht befestigt außerhalb. Am Niederrhein gab es vor allem im 16. Jahrhundert in einigen größeren Städten echte Rondelle, die aber in der Regel verschwunden sind (Köln, Neuss, Gladbach, Kempen, Düren); einige kleinere Beispiele sind erhalten, etwa in Zülpich, betont ornamental behandelt, und in Rees. Auch Hessen, Thüringen und Sachsen bieten heute nur noch wenig Einschlägiges aus der Zeit nach 1500. In Hessen dürfte der hohe Prozentsatz eher entlegener, finanzschwacher Kleinstädte, die sich starke Rondelle kaum leisten konnten, dabei eine Rolle spielen, aber auch die umfassenden Abrisse etwa in Frankfurt oder Kassel. Und dass im gerade um und nach 1500 reichen Sachsen die Zerstörungen des 19. Jahrhunderts den Bestand extrem reduziert haben, war schon vielfach zu betonen. In Gelnhausen ist der 1535 zuerst erwähnte „Halbmond“ erhalten, ein
innen offenes, schalenturmartiges Halbrondell an der bedrohten Bergseite, ähnlich den Nördlinger Bauten. Schleusingen in Thüringen besaß sieben kleinere, an die ältere Mauer angesetzte Rondelle, von denen eines „1513“ datiert ist. In Sachsen zeigt die späte, 1541–56 auf Kosten des Bergbauunternehmers Ulrich Erckel ummauerte Gründungsstadt Marienberg mehrgeschossige, aber relativ schwache Eckrondelle mit verschiedenen Schartenformen; in Kamenz gibt es etwas Ähnliches am Zwinger, jedoch stadtseitig schmal geöffnet. Im norddeutschen Flachland, westlich der Elbe, sind in Paderborn, Celle und Münster Rondelle als Spuren aufwendiger Neubefestigungen erhalten geblieben bzw. ergraben. Der 1507–30 entstandene hohe Deckungswall von Celle besaß große Eckrondelle, von denen eines ergraben und auf 1530 / 31 dendrodatiert wurde. In den beiden anderen Fällen standen die Rondelle auf den Außenwällen, wie schon die etwas früheren in Goslar: „1518“ ist jenes in Paderborn datiert, 1527–30 entstand der „Zwinger“ in Münster (der später zum Gefängnis ausgebaut wurde). Kleinere erhaltene Rondelle besitzen noch Verden (um 1512), Oldenburg („Pulverturm“ auf Außenwall, 1529) und Buxtehude („Zwinger“, 1539); undatierte sind schließlich in Unna, Lemgo, Borken, Haltern und Wiedenbrück (Westfalen) zu erwähnen, im hügeligen Südteil Niedersachsens in Northeim („Rodenbollwerk“), Duderstadt, Osterode und Bodenwerder; gerade in den letzten beiden Fällen muss man erwägen, ob nicht die gesamte Mauer erst mit den Rondellen zusammen entstanden ist. In den nordostdeutschen Backsteingebieten, in Mecklenburg, Pommern und dem Ordensland, gibt es insgesamt nur wenige Beispiele von Rondellen und diese sind, soweit wir die Datierungen kennen, meist erst spät erbaut worden; dass in diesen Regionen Artilleriewerke gerne vor den Toren entstanden – weil sie dort, bedingt durch die tief gestaffelten Wallgräben, besser ins Vorfeld wirken konnten –, ist schon erwähnt worden. In Mecklenburg ist der verschwundene „Zwinger“ am Rostocker „Steintor“ hervorzuheben, ein 1526–32 entstandenes, mit seinen fünf Geschossen noch turmartiges Rondell mit 6,5 m dicken Mauern, einem vorgekragten Zinnenkranz und zurückgesetztem Oberbau (Abb. 239). Der acht-
Abb. 237 Nördlingen (Bayerisch Schwaben), die „Alte Bastei“ (1554) ist eine Art mauerstarkes Halbrondell, eine Übergangsform aus der Zeit, als anderswo im deutschen Raum die ersten italienisch geprägten Bastionen entstanden.
Abb. 238 Nürnberg, der Rundturm am „Laufer Tor“ entstand 1556 als dickwandige Ummantelung des mittelalterlichen Torturmes; entsprechende Bauten entstanden an den anderen drei Haupttoren. Da Nürnberg ab 1538 schon moderne Bastionen erhalten hatte, stellte die Rückkehr zum Prinzip hoher Rondelle einen Anachronismus dar, der sich aber ebenfalls an italienische Vorbilder hielt, an das Mailänder „Castello Sforzesco“.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
297
eckige „Lagebuschturm“ in derselben Stadt, der erst 1574–77 entstand, zeigt noch klarer, wie lange an der Ostsee Türme gebaut wurden. Auch in Pommern findet man neben artillerietauglichen, weit vorgeschobenen Torbauten nur wenige Rondelle offenbar des 16. Jahrhunderts, so in Stargard – mit kreuzförmigen Schlüsselscharten aus Formsteinen – in Stolp und Pyritz. Und ganz ähnlich ist die Lage im Ordensland Preußen, wo Bauten an den Hauptmauern von Guttstadt, Braunsberg und Rastenburg zu erwähnen sind. Zusammenfassend kann man über die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts sagen, dass die erhebliche Anzahl und weite Verbreitung der Rondelle hier den Höhepunkt dieser Bauform markiert; jedoch ist dies bei genauerer Betrachtung noch zu differenzieren. Dann nämlich wird Abb. 239 Rostock (Mecklenburg-Vorpommern), das frühere Rondell vor dem Steintor („Zwinger“, 1526–32), Ansicht und Grundrisse, Umzeichnung nach einer Bauaufnahme von 1849 (A. F. Lorenz, Zur Geschichte der Rostocker Stadtbefestigung, 1935).
298 I. Systematischer Teil
deutlich, dass nur noch wenige feste Plätze so konsequent mit modernen Befestigungen ausgestattet wurden, dass sie einer echten Belagerung mit Artillerie hätten widerstehen können. Soweit es sich dabei um Städte handelte, waren dies entweder reiche Metropolen mit eigener Machtposition oder aber landesfürstliche Städte, die als Grenzfestungen oder Residenzen modern ausgestattet wurden. Die große Mehrheit der aufgezählten Rondelle bildeten jedoch nur ganz punktuelle Verstärkungen von Mauern, die im Großen und Ganzen in ihrem mittelalterlichen Zustand verblieben. Die meisten dieser „Rondelle“ – eher klein, relativ hoch und an die Hauptmauer angesetzt – standen Türmen noch sehr nahe und bildeten im Grunde nur den Ausklang jenes lang gezogenen Baugeschehens, bei dem anfangs turmarme Mauern sukzessive mit Türmen ganz verschiedener Form verstärkt wurden; dass die letzten dieser Türme in ihrer Dickwandigkeit und mit neuen Schartenformen Vorboten eines ganz neuen Zeitalters waren, das für die Stadtmauern ein schnelles Ende bedeuten würde, war solchen Bauten noch kaum anzusehen. Dass gerade in den mittel- und ostdeutschen Regionen nach 1500 nur wenige Rondelle zu nennen waren, hat einerseits sicherlich mit den umfassenden Zerstörungen des 19. / 20. Jahrhunderts zu tun. Bis zu eingehenderen Untersuchungen, die etwa in Sachsen ein vollständigeres Bild des ehemaligen Bestandes zeichnen könnten, darf man aber auch mit aller Vorsicht erwägen, ob hier die Blüte dieser Bauform vielleicht schon vor 1500 gelegen hat – was ein weiteres Indiz dafür wäre, dass sie eben dort ihren Ursprung gehabt haben könnte. 1531 war in Wien die „Burgbastion“ im Bau, ab 1538 folgte in Nürnberg die Bastionsgruppe gleichen Namens. Damit war – zeitparallel zu vielen Rondellen, die im vorigen Kapitel angesprochen wurden – ein grundsätzlich neues, in Norditalien entwickeltes Prinzip der Artilleriebefestigung zum ersten Mal in den deutschen Raum vorgedrungen. Echte Bastionen setzten die Artillerie weitaus effektiver ein, indem ihr fünfeckiger Grundriss den Schussbahnen jeweils nur weniger Geschütze in den „Flanken“ (den Seiten) der Nachbarbastion exakt folgte. So war eine lückenlose Bestreichung des Bastions-
Abb. 240 Schaffhausen (Schweiz), der Munot auf einem die Stadt überhöhenden Berg ist eine Art Zitadelle als riesenhaftes Rondell (1564–89); nur die kleinen Streichwehren achteten bereits auf systematische Flankierung. Grundrisse von Untergeschoss und Hauptgeschoss (vgl. Abb. 315; Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Kanton Schaffhausen, Bd. 1, 1951).
fußes mit relativ geringem Aufwand möglich; die auf das Vorfeld gerichteten Geschütze standen weiterhin auf den Plattformen, das Innere der Bastionen bestand aus Kostengründen und wegen der Unzerstörbarkeit aus Erde. Diese neue Form der Befestigung prägte, immer wieder abgeVerspätete Rondelle, 1550 bis nach 1600 wandelt und verbessert, die gesamte frühe Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein, wobei ihr endgültiger Durchbruch außerhalb Italiens, erkennbar an der etwa gleichzeitigen Entstehung zahlreicher aufwendiger Festungen, um 1560 anzusetzen ist. Vor dem Hintergrund einer so konsequent funktionalen und rasant sich verbreitenden Bauform – die nicht ohne Grund als „erste internationale Architektur“ bezeichnet wurde (Stanislaus von Moos) und auf architekturgeschichtlichem Gebiet zu den wichtigsten Zeichen der Wende zur Neuzeit zählte – könnte man nun annehmen, dass die vergleichsweise uneffektive Form des gemauerten Rondells spätestens ab der Mitte des 16. Jahrhunderts schlagartig verschwand. Dies war jedoch so abrupt nicht der Fall, sondern es wurden noch ein volles Jahrhundert lang hier und dort Rondelle gebaut, teilweise in monumentalen Formen; einige erhaltene seien aufgezählt. 1558– 64 entstand der „Archivturm“ in Brugg / Aare, um 1560 ein Rondell an der äußeren Mauer von Waltershausen in Thüringen, 1563–89 schließlich einer der Höhepunkte des Bautypus überhaupt, der „Munot“ in Schaffhausen, eine regelrechte Zitadelle in Form eines riesigen Rondells, mit kleineren Rondellen als Streichwehren (Abb. 240).
1574–77 ist der achteckige „Lagebuschturm“ in Rostock zu datieren, 1583 eines von zwei Rondellen in Aschersleben. Im 17. Jahrhundert ist ein kleines, 1649 datiertes Rondell in Lenzburg im Aargau zu erwähnen, ebenso die beiden riesigen Rondelle in Überlingen: der 1634 auf sieben Geschosse erhöhte, ältere „St. Johannisturm“ und schließlich der 1657 völlig neu errichtete „Rosenobelturm“. Wie hat man ein so erstaunlich langes Nachleben einer technologisch „überholten“ Bauform zu interpretieren? Mehrere Gründe mögen zusammengewirkt haben. Einerseits pflegt das Wissen um die beste funktionale Lösung sich nicht gleichmäßig zu verbreiten; militärisch bedrohte Städte und Territorien – wie im 16. Jahrhundert etwa die protestantischen oder allgemein Grenzfestungen und Residenzen – kümmern sich erfahrungsgemäß intensiver um die neuesten Bauformen und bringen mehr Geld dafür auf. Kleine, abgelegene Städte bleiben dagegen eher im Windschatten der Entwicklungen und begnügen sich daher im Ernstfalle auch einmal mit einer zwar „altmodischen“, aber bezahlbaren Lösung. Andererseits aber dürften Rondelle auch nicht vollständig unfunktional geworden sein. Nicht jeder Teil einer bastionären Festung bedarf perfekter Flankierung, sodass man weiterhin auch einmal ein Rondell bauen oder auch nur beibehalten konnte, als Vorwerk minderer Bedeutung oder auch als Kern eines Werkes, der nicht dem ersten Angriff ausgesetzt war. Als berühmtes, architektonisch hochrangiges Beispiel für ein Vorwerk, das einen Ravelin ersetzte, kann 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
299
der „Maschikuliturm“ der Festung Marienberg in Würzburg genannt werden, der 1724–1729 von Balthasar Neumann erbaut wurde. Seine zahlreichen Schießscharten zeigen seine Aufgabe in der Nahverteidigung, die „Maschikuli“ – in Wahrheit Senkscharten für Gewehre – verdeutlichen aber auch, dass Neumann hier bewusst mittelalterliche Bauten zitierte. In den Festungen des 19. Jahrhunderts, die hier nur noch am Rande zu zitieren sind, erlebten eingewölbte, schartenreiche Rundbauten schließlich ein letztes kraftvolles Comeback, vor allem als Reduits von Bastionen oder Forts. Auch bei ihnen kam es mehr auf radiale Bestreichung des Vorfeldes (und bombensichere Innenräume) als auf die Flankierung gerader Bastionsfacen an. Rondelle waren vom 15. bis zum 17. Jahrhundert an Städten, Burgen und frühen Festungen ein so verbreitetes Phänomen, dass ihre Bezeichnung in weiten Teilen der Literatur fast zum Synonym für jedes turmähnliche, zur Aufstellung Abb. 241 Zwettl (Niederösterreich), die Stadtmauer besitzt polygonale Türme des 15. Jahrhunderts, hier der „Antonturm“, die bereits für Feuerwaffen eingerichtet sind.
300 I. Systematischer Teil
von Geschützen eingerichtete Bauwerk geworden ist, auch wenn es nicht rund ist. Jene Kanonentürme, Nichtrunde Kanonentürme die einen anderen Grundriss aufweisen, sind dabei fast völlig aus dem Blickfeld geraten, was nun doch – trotz ihrer relativen Seltenheit – das Bild etwas verfälscht. Denn die anderen Grundrisse solcher Bauten, polygonale, rechteckige, fünfeckige und weitere, sind einer der Belege dafür, dass in dieser letzten Epoche vor dem Aufkommen der perfekt funktionalen Bastion eben noch keineswegs klar war, welche Grundrissform der neuen Technologie am besten widerstehen und ihr zugleich die besten Einsatzmöglichkeiten bieten konnte. Es war eine Phase des Suchens und Experimentierens, aus der für eine Zeit lang die Rundform als die scheinbar geeignetste hervorging. Die Rundung ließ Geschosse besser abprallen, und ihre radial angeordneten Scharten bestrichen das Vorfeld ohne große Lücken; erst die Bastionsform, die mit deutlich weniger Geschützen eine völlig lückenlose Bestreichung des Mauerfußes ermöglichte, konnte dies übertreffen. Mehr als isolierte Kuriosa denn als eigenständige Bauformen sind Türme über ovalem und achteckigem Grundriss zu erwähnen. Oval ist der „Katzenturm“ in Feldkirch (1491–1507), der auch durch seine beachtliche Höhe die Unsicherheit seiner Epoche erkennen lässt. Die Grundrissform einer Acht weist ein mit Schlüsselscharten ausgestatteter Turm in Lauda an der Tauber auf. Polygonale Türme in variantenreicher Grundrissform, die man unter anderem im österreichischen Raum und im bayerischen Alpenvorland findet, typischerweise oft in Verbindung mit „echten“ kleinen Rondellen, verdankten ihre Gestalt sicher demselben Gedanken wie die Rondelle, nämlich, dass die Geschosse der Belagerung seitlich abgelenkt werden sollten. Noch aus dem 15. Jahrhundert dürften solche Türme etwa in Zwettl (Abb. 241) und Waidhofen an der Thaya sowie ein Eckturm in Steyr stammen, in der Regel nur mit Scharten für Musketen und kleine Geschütze versehen; entsprechende Türme in Pfarrkirchen wurden offenbar mit der gesamten Mauer erst 1558 vollendet. Einige fünfeckige Türme im süddeutschen Raum haben deswegen zeitweise besondere Aufmerksamkeit gefunden, weil sie in einer frühen
Diskussion als Argument herangezogen wurden, dass die fünfeckige Bastion des 16.–19. Jahrhunderts nicht in Italien, sondern in Deutschland erfunden wurde; diese stark nationalistisch gefärbte Kontroverse, bei der die deutsche Seite zeitweise auch Albrecht Dürer aufbot, ist längst überholt, der italienische Ursprung der Bastion geklärt. Jene ganz wenigen Fünfecktürme im deutschen Raum, die vor dem mittleren 16. Jahrhundert entstanden sind, muss man in heutiger Sicht jenen vielfältigen formalen Experimenten zurechnen, die das Aufkommen der Feuerwaffen auslöste, zumal es durchaus ältere Beispiele auch solcher Formen gibt (vgl. 2.2.4.7.). Mit der gut nachvollziehbaren, auch von theoretischen Diskussionen begleiteten Entwicklung zur Bastion, die in Italien in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts einsetzte, haben sie fraglos nichts zu tun, wie allein schon ihre große geographische Streuung zeigt. Als frühes Beispiel fünfeckiger Türme kann man etwa Ingolstadt nennen, wo es in der ab 1363 ausgebauten äußeren Mauer auch einzelne, noch hohe und nicht für Pulverwaffen eingerichtete Fünfecktürme gab (Abb. 62). Zeitweise als bastionäre Frühform galt ein „1448“ datierter, fraglos interessanter, weil kaum veränderter Turm in Neckarbischofsheim (Abb. 72) und vielleicht noch in die zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mag der auf dem Zwinger stehende „Folterturm“ in Wemding bei Nördlingen gehören. Weitaus die meisten fünfeckigen Geschütztürme dürften aber erst in die Zeit der Bastionen entstanden sein, ins 16. / 17. Jahrhundert, und quasi als deren Sparform bzw. fünfeckige Streichwehr gelten. Das gilt etwa für den Turm auf der „Reußbrücke“ in Bremgarten (Aargau; 1544–49?) und für eine Reihe von Befestigungen, die in der Zeit der Türkengefahr im Burgenland entstanden (Rust 1614; Stadtschlaining; Güssing). Aber auch im Westen des deutschen Raumes findet man Beispiele (Kaiserslautern, um 1620; St. Johann / Saarbrücken, nach 1680). Das experimentelle Vorgehen der Baumeister im Zeitalter der frühen Pulvergeschütze verdeutlicht letztendlich die Tatsache, dass auch Kanonentürme und Streichwehren in mancherlei Übergangsformen gebaut wurden, die einfach rechteckig sind bzw. waren; ihre Entwerfer suchten ihr Heil noch allein in Mauerstärke und hin-
Abb. 242 Ornbau (Mittelfranken), die kleine Stadt erhielt um 1480 / 90, als eine Art eichstättische Grenzfestung, ungewöhnliche rechteckige Geschütztürme.
reichend Aufstellungsplatz für eigene Geschütze, aber nicht in Abwandlungen der Grundrissform. Interessant ist in dieser Hinsicht die erst um 1446–83 aus einem Erdwall entstandene, fast völlig verschwundene äußere Mauer von Erfurt, die eine eindrucksvolle Mischung traditioneller und neuer Elemente zeigte. Neben einem einzigen hohen Turm mit vier Ecktürmchen, Runderkern auf Strebepfeilern und (niedrigen) Tortürmen – also weitgehend traditionellen Elementen – traten hier Eckrondelle und eben auch rechteckige Streichwehren. Teils riesige, auch als Tore genutzte rechteckige Streichwehren, die um 1477 / 87 an die Mauer angebaut wurden, zeigt auch Ornbau, eine eichstättische Festung (Abb. 242). Die rechteckigen, nur an der Spitze durch Streichwehren verstärkten Kanonenplattformen in Kirchheim unter Teck sind schon erwähnt worden; ähnlich muss man sich jene großen Rechteckbollwerke in Freiburg im Breisgau und Rottweil vorstellen, die wir nur noch aus alten Abbildungen kennen. Eine Sonderform war der „Kriegerturm“ in Laubach (um / nach 1500), ein Rechteck mit gerundeten Ecken und flankierenden Maulscharten; ähnliche Türme gab es wohl im gleichfalls solmsischen Lich. Als Beispiele kleinerer Rechtecktürme für Geschütze kann man etwa einen in Mürzzuschlag in der Steiermark (1478–85), den „Pfarrturm“ in Meersburg (Ende des 15. Jahrhunderts?), den „Pechnasenturm“ in Schwäbisch Hall (ab 1515; Abb. 394) 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
301
und vergleichbare Bauten in Crailsheim und Langenburg anführen. Ein rechteckiger Schalenturm in Laupen (Kanton Bern) würde den Schlusspunkt des Themas setzen, falls die Inschrift „1700“ wirklich erst seine Erbauung meint. Dass auch manche Tore und Vortore des späten 15. und des 16. Jahrhunderts die Form rechteckiger Kanonentürme oder -plattformen annahmen, sei zum Abschluss nochmals erwähnt (vgl. 2.2.5.10.). Ornbau (1477–87) war angesprochen worden, benachbarte Beispiele bieten die Vortore des „Bergertors“ (1573 / 74; Abb. 134) und des „Reimlinger Tors“ (1597) in Nördlingen. Im Alpenraum schließlich seien die Tortürme in Glurns – ab 1520, als isolierte kleine „Zitadelle“ (Abb. 145, 297) – sowie in Feldkirch („Mühletor“ in Hausform) und Bludenz erwähnt. 2.2.11.6. Befestigte Außenwälle, Deckungswälle In der Einleitung zum Kapitel über die umlaufenden Zwinger war zu erklären, dass dieser Begriff mancherlei Missverständnissen ausgesetzt war und ist (vgl. 2.2.8.1.), vor allem auch in dem Sinne, dass in Wahrheit recht unterschiedliche Abb. 243 Zwinger und befestigter Außenwall unterscheiden sich funktional wenig, beides sind vorgelagerte Plattformen insbesondere für die Verteidigung mit Feuerwaffen. Der Außenwall erforderte jedoch weniger Veränderung der vorgefundenen Anlagen, indem einfach der oft vorhandene Erdwall ausgebaut wurde (vgl. Abb. 183).
302 I. Systematischer Teil
Bauformen gerne unter dieser Bezeichnung „in einen Topf geworfen“ werden. Eine letzte dieser Bauformen bleibt hier anzusprechen, nämlich der befestigte Außenwall. Der oft übersehene Unterschied zwischen einem umlaufenden Zwinger und einem befestigten Außenwall liegt darin, dass nicht eine direkt vor der Hauptmauer liegende Plattform mit einer feldseitigen Stützmauer, einem Wehrgang und Streichwehren versehen ist, sondern dass vor der Hauptmauer zunächst der übliche Graben und erst vor diesem ein Außenwall liegt, der durch die entsprechenden Bauteile verstärkt ist, schließlich noch ein äußerer Graben (Abb. 243). Grundsätzlich haben beide Formen, Zwinger und Außenwall, dieselbe Funktion, nämlich die einer umlaufenden Plattform für Schützen und Artillerie, die die Bestreichung des Grabens und des Vorgeländes wesentlich verbesserte. Der verteidigungsfähige Außenwall bietet aber noch zusätzliche Vorteile: Er liegt weiter vor der Hauptmauer und hält daher die Artillerie des Belagerers in größerem Abstand; außerdem schützt der innere Graben die Hauptmauer auch dann noch, wenn der Wall schon eingenommen ist. Es handelt sich also um das vorteilhaftere, aber mit einem zusätzlichen Graben auch aufwendigere Modell, was die Frage nahelegt, in welchen Fällen es vorgezogen wurde. Die nächstliegende Antwort ist fraglos, dass Gräben und Wälle vielfach, vor allem im Flachland, schon seit den Anfängen der Ummauerung vorhanden waren, allerdings zunächst nur als reines Annäherungshindernis ohne Mauerverkleidung oder Flankierungsbauten (vgl. 2.2.1.2; Abb. 183). In diesen Fällen wäre vom inneren Graben wenig übrig geblieben, wenn man einen Zwinger in ihn hätte hineinbauen wollen; man hätte den Graben und in der Konsequenz auch den Wall und den Außengraben zur Feldseite hin „verschieben“ müssen, was enorme Erdbewegungen bedeutet hätte. Der Ausbau des Walles zur zweiten Verteidigungslinie war unter solchen Voraussetzungen die weit einfachere Lösung. Die im Folgenden genannten Beispiele solcher befestigten Außenwälle werden geographisch geordnet, weil genaue Datierungen häufig fehlen und um die weite Streuung des Phänomens deutlich zu machen; nur im Hochgebirge fehlte es völlig. Dass es sich, im Gegensatz zum Fes-
tungsbau als geschlossenes System, wie er im 16. Jahrhundert aufkam, noch um einen recht flexibel anwendbaren Bautypus handelte – die Länge war ebenso wie die Größe der Streichwehren und Rondelle frei wählbar –, zeigt sich auch darin, dass er keineswegs auf die Spitzengruppe der großen Städte beschränkt blieb. Befestigte Außenwälle waren offensichtlich wie ihr Pendant, die Zwinger, eine auch für kleinere Städte noch finanzierbare Bauform. In der Schweiz besaßen die wichtigen Städte Zürich, Schaffhausen und Kleinbasel, alle halbwegs flach liegend, Außenwälle; Reste sind jedoch nur im kleinen Sursee erhalten. Ganz ähnlich ist der Befund im Elsass, wo es überhaupt keine Zwinger gab, sondern ausschließlich Außenwälle, manchmal nur an der flachen Talseite im Hügelland liegender Städte (ehemals in Straßburg, Mülhausen und Rufach; überbaut erhalten in Egisheim, wenig verändert in Bergheim (Abb. 325) und Niederehnheim). Auch in Baden gab es diverse, meist verschwundene Außenwälle mit und ohne Streichwehren; erwähnenswert sind Villingen wegen seiner gesicherten Datierung um 1440 und Sulzburg, wo eine alte Darstellung eine hohe Zinnenmauer auf dem Außenwall zeigt. Im Schwäbischen wäre außerdem Urach zu nennen, wo ein an der Bergseite vorgelagerter Außenwall mit ehemals vier Rondellen weitgehend erhalten ist, sowie Reste in Ravensburg (beide wohl erste Hälfte des 16. Jahrhunderts). Am Nordende des Oberrheins besaß Mainz verschwundene Außenwälle. Damit sind die süddeutschen Beispiele im Wesentlichen schon genannt; warum etwa in Bayern und Österreich bisher nichts Vergleichbares zu notieren ist, bliebe zu klären. In Hessen gehört ein Außenwall mit Rondellen an der flachen Südseite zu den spektakulär erhaltenen Befestigungen von Büdingen, und in Korbach ist die Mauerverkleidung einer ähnlichen Anlage mit rechteckigen Scharten und zwei runden Streichwehren erhalten. In Thüringen ist Schmalkalden zu erwähnen, wo ebenfalls die Mauer mit noch einer von zwei Streichwehren erhalten blieb (1429–64, beim Bau als „Zwinger“ bezeichnet), in Sachsen Pirna mit nur landseitigem Außenwall mit rechteckigen Streichwehren. Schlesien hat fraglos viele unbefestigte Außenwälle besessen, von den befestigten Beispielen ist aber kaum etwas erhalten. Nur in Jauer, wo
Abb. 244 Goslar (Niedersachsen), die Bergseite der Stadtmauer – ihre niedrigen Reste sieht man links – wurde im 15. Jahrhundert durch einen Deckungswall (rechts) gegen direkten Beschuss gesichert. Der Wall ist so hoch, dass er die Mauer auch verdeckte, als sie noch ihre Originalhöhe hatte.
1510–59 eine Anlage mit drei für Schlesien typischen, sehr langen Streichwehren entstand, ist eine davon, die „Engelsburg“, erhalten; in wichtigen Städten wie Breslau, Liegnitz (1530–63) und Schweidnitz (1526) ist alles verschwunden. Das durch den Silberbergbau reiche Goslar leistete sich im Wesentlichen 1494–1517 die wohl spektakulärste Außenwallanlage, die heute noch erhalten ist; sie ist schon im Zusammenhang der Torzwinger und der Rondelle als bedeutendes Beispiel zu erwähnen gewesen (Abb. 244). Der Wall in Goslar war nicht nur durch seine Höhe ungewöhnlich – er verdeckte die ältere Mauer praktisch vollständig –, sondern auch durch den Verzicht auf Bestreichung des Außengrabens. Statt vorspringender Streichwehren standen hier massive Rondelle – erhalten ist vor allem der „Dicke Zwinger“ (1517) mit 5 m dicken Mauern (Abb. 233) –, isoliert oder im Zusammenhang der Tore, auf dem Wall. Ihre Scharten konnten bedingt die Gräben, aber auch das Vorfeld bestreichen; ein zugleich fortschrittliches und inkonsequentes System, denn „tote Winkel“ waren bei den kleinen Scharten häufig, die hohen Spitzdächer sehr verwundbar. Dementsprechend verzichtete man in der letzten Fertigstellungsphase, bis etwa 1547, auf weitere Rondelle und baute nun Kasematten in den Wall, die besseren Schutz, aber weiterhin keine konsequente Flan2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
303
kierung boten. Solche Kasematten mag es öfter gegeben haben, ohne dass wir sie noch nachweisen könnten; so zeigt etwa ein Holzschnitt der Belagerung von Münster 1534 Geschütze, die aus Scharten im Erdwall feuern. Der gebirgige Südteil von Niedersachsen hat auch sonst interessante Beispiele zu bieten. Einbeck sei hier erwähnt, obwohl seine dendrodatierten Wälle – der innere um 1440, der äußere 1493 – nicht befestigt waren; sie zeigen auch so, ähnlich wie Quellen von 1441 in Helmstedt, dass im 15. Jahrhundert zunehmend Wert auf diese einen Abstand schaffenden Außenwerke gelegt wurde. Braunschweig besaß ab der Mitte des 14. Jahrhunderts einen Außenwall, der im frühen 15. Jahrhundert halbrunde Streichwehren erhielt; ab dem 17. Jahrhundert ging dies alles in den Bastionen auf. Northeim legte zwischen 1468 und 1491 einen in Resten erhaltenen Außenwall mit Rondellen und Torzwingern an, und Ähnliches gab es in Hameln (ab Mitte des 15. Jahrhunderts; Inschriften von 1531 und 1556) und in Hildesheim. Im norddeutschen Flachland findet man am Niederrhein zahlreiche doppelte Wallgräben, aber kaum Außenwälle, die mit Mauerfront und Streichwehren verstärkt sind; zu erwähnen ist Zons, wo im 16. Jahrhundert immerhin Mauerfronten entstanden. Westfalen bewahrt zwei Beispiele, die an das Goslarer Modell erinnern, nämlich kräftige Rondelle auf dem Außenwall. In Münster ist dies der neuzeitlich zum Gefängnis umgebaute „Zwinger“, in Paderborn ein „1518“ datiertes Rondell. Auch sonst waren befestigte Außenwälle in Westfalen häufig, etwa in Minden und Bielefeld, aber es gibt kaum Reste. In Oldenburg zeugt noch der „Pulverturm“, ein Rondell von 1529, vom ehemaligen Außenwall. Im nördlichen, flachen Teil Niedersachsens ist Lüneburg von besonderem Interesse, weil eine Grabung 1968 die Gesamtentwicklung seiner Wallanlagen klären konnte; sie dürfte an vielen Orten des Flachlandes ähnlich abgelaufen sein. Dort nämlich gab es schon im 12. Jahrhundert einen dreifachen Wall, zunächst ohne Mauer, die erst um 1300 auf den inneren Wall gesetzt wurde. Die beiden äußeren vereinte man im 15. Jahrhundert zu einem einzigen breiteren Wall, der durch eine feldseitige Stützmauer und Rondelle zu einer durchaus artillerietauglichen 304 I. Systematischer Teil
Befestigung wurde; sie bestand, partiell modernisiert, bis ins 18. Jahrhundert. In den mittel- und ostdeutschen Flachlandregionen sind bisher kaum befestigte Außenwälle erkennbar. Die wichtige Handelsstadt Frankfurt an der Oder dürfte nach alten Darstellungen einen Außenwall mit Rondellen besessen haben, im Ordensland erhielt Elbing nach der Schlacht bei Tannenberg 1410–37 einen Außenwall mit kleinen Rondellen, der an jenen der Marienburg erinnerte. Eine nur ganz vereinzelt auftretende Sonder form des befestigten Außenwalles im beginnen den Artilleriezeitalter bestand darin, dass der Wall nicht nur als relativ niedriges Annäherungshindernis bzw. als Artillerieplattform vor Mauer und Graben lag, sondern dass er als Deckungswall so hoch aufgeschüttet wurde, dass er die dahinter liegende Mauer gegen direkten Beschuss schützen konnte. Dass dieses Konzept passiver Verteidigung keine nennenswerte Verbreitung fand, ist leicht zu erklären, denn es besaß mehr Nach- als Vorteile. Um den Wall bis zu einer Höhe von 6–8 m über dem Gelände aufzuschütten, waren einerseits umfangreiche Erdarbeiten nötig, andererseits aber blieben die aktiven Einwirkungsmöglichkeiten der Verteidiger begrenzt, denn die Wallkrone konnte keine nennenswerte Breite mehr haben und die Wehrgänge und Türme der älteren Mauer hatten eben, weil sie nun hinter dem Wall verdeckt lagen, kein freies Schussfeld mehr. Der Deckungswall alleine brachte also noch keine ernsthafte Verbesserung, er bedurfte vielmehr der Ergänzung durch zusätzliche Bauten für die Geschütze der Verteidiger, wodurch der Aufwand nochmals erheblich stieg. Das heute noch eindrucksvollste Beispiel eines solchen Deckungswalles ist das schon vielfach in anderen Zusammenhängen erwähnte Goslar, wo der um 1494–1517 entstandene Deckungswall durch große, gemauerte Rondelle auf dem Wall selbst ergänzt wurde (Abb. 244). Aus dieser Position und durch die viel zu kleinen Scharten konnte von einer effektiven Bestreichung des Vorfeldes keine Rede sein, sodass man dieses Experiment als gescheitert bezeichnen muss. Andere Beispiele waren früher in Braunschweig, Einbeck und Northeim zu finden. Iphofen bietet noch ein bescheideneres, aber weitgehend erhaltenes Beispiel, beson-
ders anschaulich dadurch, dass das (vermauerte) Vortor des „Pesttores“ deutlich unter der Wallkrone liegt, folglich nur vor der Aufschüttung des Walls nutzbar war. Weit sinnvoller war fraglos die Kombination eines hohen Deckungswalles mit vorspringenden Eckrondellen, wie man sie wenig später (1507–30) etwa in Celle schuf; der damals hoch aufgeschüttete und durch vier gemauerte Rondelle ergänzte Wall stammt im Kern von der Erstbefestigung der 1292 gegründeten Stadt. Erscheint schon dies als unmittelbarer Vorgänger bastionärer Befestigungen, so gilt dies noch mehr für Schorndorf, das ab 1538 seinen hohen Außenwall mit polygonalen Erdbollwerken und kleinen fünfeckigen Streichwehren an den Ecken verstärkte. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt zur „echten“, aus Italien importierten Fünfeckbastion, deren erste Vertreter auf deutschem Boden tatsächlich schon im gleichen Jahrzehnt in Wien und Nürnberg begonnen wurden. Erwähnt sei abschließend, dass Deckungswälle mit oder ohne Rondelle möglicherweise bei Burgen bzw. „festen Schlössern“, deren kleinerer Umfang manches erleichterte, verbreiteter als bei Städten waren. Als erhaltene oder erforschte Beispiele seien etwa Westerburg (ohne Rondelle), Gifhorn oder Rüsselsheim genannt. 2.2.11.7. Rondelle und Kanonenplattformen aus Erde Schon mit der Behandlung der Zwinger (2.2.8.3.) und der befestigten Außen- und Deckungswälle (2.2.11.6.) wurde eine der zukunftsträchtigsten Veränderungen berührt, die im Befestigungswe-
sen durch das Aufkommen der Feuerwaffen ausgelöst wurde: der Ersatz von Mauerwerk durch Erdschüttungen. Die ersten Erfahrungen mit Belagerungsartillerie zeigten mit aller Deutlichkeit, wie leicht Mauerwerk durch die neuen Waffen zu zerstören war, und legten die Rückkehr zu Befestigungen nahe, die im Wesentlichen aus Erdschüttungen bestanden, denn in ihnen, die wie schon im Frühmittelalter schnell und kostengünstig herzustellen waren, blieben die Kanonenkugeln einfach stecken, ohne große Schäden anzurichten. Ein weiterer Vorteil von Erdschüttungen ergab sich daraus, dass Geschütze geräumige Aufstellungsplätze benötigten. Die schmalen Wehrgänge und engen Turmräume der mittelalterlichen Befestigungen waren dafür ungeeignet, man brauchte vielmehr Plattformen von mehreren Metern Tiefe – und die waren auf Erdwällen allemal billiger als auf ähnlich dicken Mauern zu schaffen. Erdwerke der vorbastionären Phase sind nur sehr selten erhalten, denn sie nahmen einerseits sehr viel Raum ein und waren andererseits weitaus leichter als Mauerwerksbauten zu beseitigen. Beides führte dazu, dass sie – ähnlich wie ihre Nachfolger, die Bastionärbefestigungen – im 19. Jahrhundert fast überall planiert wurden, um die Ausdehnung der Stadt nicht zu behindern (vgl. 2.3.). Was wir über die Verbreitung und Gestalt solcher Erdwerke aus der Frühzeit der Artillerie wissen, beruht also kaum je auf der Untersuchung erhaltener Anlagen, deren Schlichtheit ohnehin kaum detaillierte Analysen zulässt, sondern weit überwiegend auf frühen Darstellungen der Städte, darunter vor allem jenen von Braun / Hogenberg und Matthäus Merian, aber
Abb. 245 Im 17. Jahrhundert wurden gelegentlich erhöhte Plattformen für Geschütze („Kavaliere“) hinter der Mauer aufgeschüttet, meist an Ecken, als Ergänzung von Bastionärbefestigungen. Beispiele aus Matthäus Merians Topographien (v. l. n. r.): Lechenich, Bonn (beide Rheinland) und Thorn (ehemals Ordensland).
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
305
Abb. 246 Kassel. Die Stadt verschwindet in der Darstellung von Braun/Hogenberg (Ende des 16. Jahrhunderts) fast vollständig hinter ihren mächtigen Erdwällen und Rondellen.
Abb. 247 Ingolstadt, die Bollwerke, die Reinhard Graf zu Solms ab 1537 erbaute, experimentierten mit Erdschüttungen, Kasematten, Zwingern usw. Sie waren aber schon während des Baues durch die in Italien entwickelten, effektiveren Bastionsformen überholt. „Frauenbastei“ und „Ziegelbastei“ nach dem Modell von Jakob Sandtner (1570 ff.).
306 I. Systematischer Teil
auch auf solchen Sonderfällen wie etwa den sandtnerschen Holzmodellen der bayerischen Herzogsstädte von 1568–74. In aller Regel geben diese Quellen kaum genaue Angaben zur Entstehungszeit und Detailgestaltung her, sodass die im folgenden genannten Beispiele keineswegs ein vollständiges Bild ergeben oder auch nur anstreben; ganz im Gegenteil sind sie eine Auswahl zufällig besser dokumentierter oder von der Forschung besonders beachteter Fälle, einschließlich der Gefahr, dass das, was sie aus heutiger Sicht hervorhebt, sie zugleich untypisch macht. Die einfachste Art, eine mittelalterliche Mauer als Standort von Pulvergeschützen zu ertüchtigen, bestand verständlicherweise darin, vor oder hinter der Mauer einfach einen „Hügel“ anzuschütten, dessen Plattform geräumig genug war, um einige Geschütze aufstellen zu können; die Mauer diente dabei einseitig als Abstützung, die anderen Seiten blieben geböscht. Nur selten hat die Forschung Quellen notiert, die so schlichte Maßnahmen beschreiben; so wurde etwa in Soest nach einer Belagerung 1447 ein Erdwall hinter der Mauer aufgeschüttet, in Rees geschah Entsprechendes im 16. Jahrhundert vor der Mauer. Ob ein Ausbau unter starker Holzverwendung, den Rechnungen um 1500 in Geldern belegen, ähnlicher Art war, ist zu erwägen. In Basel sind vergleichbar zwei reine Erdplattformen belegt, die 1531 / 32 entstanden; sie entsprachen dem Bild rechteckiger „Kavaliere“, die man vor allem bei Matthäus Merian vielfach sieht (Abb. 245). Wie vergänglich solche platzraubenden Provi-
sorien waren, zeigt sich jedoch darin, dass ich bei meinen zahllosen Begehungen nur noch ein einziges erhaltenes Beispiel fand, nämlich das „Neuwerk“ in Münster, das wohl nur erhalten blieb, weil es ungewöhnlicherweise Stützmauern besitzt. Fraglos effektiver als gegen die Mauer geschüttete Wälle oder vereinzelte Kanonenplattformen waren jedoch große Erdrondelle, die – meist mit Außenwällen kombiniert – zusätzlich eine Flankierung erlaubten. Ein interessanter Fall ist Göttingen, wo ein Großteil der Wälle erhalten und ihre Entwicklung gut bekannt ist. Schon ab 1362 wurden die Vorstädte hier mit einem Wall umgeben, der dann 1447–54 modernisiert wurde; er erhielt damals wohl beidseitige Stützmauern, Torzwinger und wohl auch Rondelle, während eine Fünfeck-Streichwehr offenbar erst der Zeit um 1533–77 zuzuweisen ist. Die riesigen Erdrondelle, die Kassel wohl ab 1523 erhielt und die Braun / Hogenberg so darstellen, dass die Stadt hinter ihnen verschwindet (Abb. 246), sind ebenso wie jene des Außenwalles in Frankfurt am Main nicht mehr vorhanden. In Basel wurde die erwähnten Erdplattformen 1547–51 durch fünf mauerverkleidete Erdrondelle an den Ecken ergänzt; auch sie sind verschwunden. Erhalten, aber undatiert ist dagegen ein Erdrondell in Stargard in Hinterpommern, an der Ecke eines Außenwalles; das nahe Stolp besaß früher ein Gegenstück. Besondere Beachtung als Frühform des moder nen Festungsbaues haben die Bauten von Reinhard Graf zu Solms gefunden, die, auch fast durchweg zerstört, vor allem durch die sandtnerschen Modelle von Ingolstadt genauer bekannt sind. Die sehr variantenreichen Ingolstädter Bollwerke von 1537–65 waren großenteils Erdschüttungen, aber sie enthielten auch große Teile aus Mauerwerk, als hochragende Kavaliere, Kasematten oder Schartenmauern mit Streichwehren am Fuß der Schüttung; zwei von ihnen schützten Tore, die die Anlagen nochmals komplexer gestalteten (Abb. 247). Weniger bekannt, weil kaum dokumentiert, waren die älteren Erdrondelle in Hanau (ab 1528), der Heimat des Grafen zu Solms; kleinere Erdrondelle gab es auch in den nahen Kleinstädten Hungen und Lich. Die nur teilweise und verändert erhaltenen vorbastionären Erdwerke in Augsburg (1540–46)
erinnerten in ihren rundlichen Formen mit kompliziertem Innenausbau stark an Ingolstadt, von dem sie mindestens angeregt waren; dabei besaß das jüngste dieser Werke, der „Luginsland“ von 1553, bereits die Form auch einer echten, fünfeckigen Bastion. Ein verschwundenes, samt anschließenden Wällen direkt vor die Mauer geschüttetes Erdrondell (um 1529–46) im nahen Memmingen war offenbar von Augsburg angeregt. Die Erdschüttungen vor und hinter der Mauer und die oft mit ihnen verbundenen Erdrondelle stellten im deutschen Raum die letzte Entwicklungsphase vor der Verbreitung der in Italien entwickelten Bastion dar, die dann, ständig fortentwickelt, bis ins 19. Jahrhundert hinein das Grundelement des internationalen Befestigungswesens blieb. Die Bastion setzte sich deswegen durch, weil sie eine konsequente Lösung für das Problem des sowohl effektiven wie auch ökonomischen Einsatzes der teuren Artillerie bot: Die Anordnung der Geschütze in für den Angreifer kaum erreichbaren Flankenstellungen und die aus ihren Schussbahnen abgeleitete Form der jeweiligen Nachbarbastion erlaubten mit einem Minimum an Geschützen und Mannschaften eine lückenlose Verteidigung der Gräben. Erst im Vergleich mit dieser unübertrefflich einfachen und effektiven Lösung werden hochkomplexe und im Detail immer wieder variierte Anlagen wie die solmsschen Bollwerke in Ingolstadt verständlich; sie stellen immer wieder im Detail veränderte Versuche dar, die Wirkung und den Schutz der Batterien zu optimieren; die Aufgabe war erkannt, die beste und einfachste Lösung aber noch keineswegs gefunden. Und die Erdschüttungen und einfach gestalteten Erdrondelle, die dem seit dem mittleren 15. Jahrhundert vorangegangen waren, lösten letztlich erst einen kleinen Teil der neuen Probleme: Sie waren selbst schwer zerstörbar und erlaubten bereits eine gewisse Flankierung, aber die Batterien der Verteidiger waren noch kaum geschützt, die toten Winkel vor der Rundung des Nachbarrondells noch nicht bestreichbar. Wenn etwa Stanislaus von Moos in der konsequenten Effektivität der Fünfeckbastion mit Flankenbatterien jene Rationalität erkennen wollte, die auch sonst für das neue Denken der Renaissance charakteristisch war, so ist dies durchaus nachvollziehbar. Der Schritt vom experimentell immer wie2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
307
der abgewandelten Rondell zur Fünfeckbastion mag, an Einzelfällen betrachtet, nicht so groß erscheinen, aber das hinter der jüngeren Form stehende „funktionalistische“ Denken rechtfertigt es durchaus, an dieser Stelle den letzten, entscheidenden Schritt vom Mittelalter zur Neuzeit zu erkennen.
2.2.12. Landwehren und Warten Vor allem in populären Darstellungen mittelalterlicher Städte findet man gelegentlich die Behauptung, die Stadtmauer sei nicht allein ein Instrument der Sicherung und Selbstdarstellung gewesen, sondern sie habe die Stadt noch weit grundsätzlicher in dem Sinne definiert, dass sie zugleich ihre Grenze als Organismus gewesen sei; das Gelände innerhalb des Mauerrings und „Stadt“ werden dabei im Grunde gleichgesetzt. Dass das nicht zutreffen kann, wird sofort deutlich, wenn man die Stadt nicht einseitig als ausschließlich bauliches, sondern auch als wirtschaftliches und politisches Gebilde betrachtet. Dann nämlich ist unübersehbar, dass vor allem die vielfältigen wirtschaftlichen Zusammenhänge, ohne die die Stadt nicht existieren konnte, weit über ihre Mauern hinausreichten, dass zur Stadt also auch die Gärten, Äcker und Weiden, Wälder, Dörfer und Höfe, Mühlen, Steinbrüche und Lehmgruben, Spitäler und vieles andere mehr in ihrem Umland gehörten. Auf der rechtlichen Ebene spiegelten sich diese wichtigen Zusammenhänge, zumindest im Spätmittelalter, als ein zur Stadt gehörendes Territorium. Dass die Stadt am Schutz auch dieser Besitzungen und Rechte extra muros ein hohes Interesse hatte, liegt auf der Hand, ebenso wie freilich auch die Tatsache, dass eine Mauer in gleicher baulicher Ausstattung, wie sie die Stadt selbst umschloss, für diese Aufgabe nicht infrage kam, denn sie hätte 20, 30 oder mehr Kilometer lang sein müssen und damit einen Aufwand erfordert, dem selbst die größten und reichsten Städte nicht gewachsen waren. Dennoch hat es derartige Sicherungen des städtischen Umlandes vom 13. bis zum 15. Jahrhundert bei manchen Städten gegeben. „Landwehren“ waren allerdings keine Mauern oder auch nur verteidigungsfähige Anlagen im weiteren Sinne, sondern nur Annäherungshin308 I. Systematischer Teil
dernisse. Sie bestanden in der Hauptsache aus Wällen und Gräben sowie gezielt angepflanztem und sorgfältig gepflegtem Gebüsch; wo es irgend möglich war, bezog man natürliche Hindernisse wie Wasserläufe oder Steilhänge mit ein, um Aufwand für Anlage und Pflege zu sparen. Das Gebüsch bestand, soweit die Quellen und äußerst seltene Überreste das belegen, aus Pflanzen, die entweder von Natur aus dicht oder gar dornig waren, oder aber aus solchen, die biegsam und daher zu einem undurchdringlichen Geflecht formbar waren. Zum Landwehren zweiten Zweck waren etwa Hainbuchen brauchbar, die sich besonders gut biegen bzw. „bücken“ ließen; auf solche „Gebücke“ als Teil der Stadtbefestigungen im eigentlichen Sinne ist schon eingegangen worden (2.2.9.). Die regelmäßige Pflege der Landwehr oblag, etwa in Würzburg, den Stadtbewohnern als Fron, in Rothenburg gab es dafür eine eigene Organisation („Hegereiter“). Befestigungsbauten im eigentlichen Sinne, wie man sie von den Stadtmauern oder Burgen kennt, traten im Zuge der Landwehren nur an den Durchlässen der Landstraßen auf, die durch mehr oder minder wehrhafte Höfe gesichert waren, oder durch allein stehende Türme, eventuell mit kleiner Ummauerung und Nebengebäuden; die Höfe dienten den Wärtern, oft freien Bürgern der Stadt, als Wohnsitz und zum Unterhalt. Solche „Warten“ kamen aber auch außerhalb des Zusammenhanges von Landwehren vor, als isoliert stehende Anlagen außerhalb der Stadt, deren Besatzungen aufgrund der nach weitem Ausblick gewählten Bauplätze feindliche Annäherungen frühzeitig feststellen und – etwa durch Trompetensignale, Schüsse oder herausgehängte Zeichen – an die Stadt melden konnten. Dass die Verteidigung von Landwehren gegen einen organisiert angreifenden Feind unmöglich und daher gar nicht angestrebt war, sondern nur eine Kontrolle des Verkehrs, belegen nicht nur solche vorgeschobenen, oft nur tagsüber besetzten Posten, sondern auch die Tatsache, dass die Durchlässe der Landstraßen keineswegs immer echte Torbauten mit verriegelbaren Toren waren, sondern oft nur Schlagbäume („Schläge“), insbesondere in abgelegenen Regionen, aus denen wohl kein Angriff erwartet wurde; dort wurden Kontrollen durchgeführt – in Bielefeld etwa von „Stadtbäu-
mern“ – und gelegentlich wurde auch Zoll erhoben, aber eine Verteidigung war nicht möglich. Die Zielvorstellung der Landwehr insgesamt war also lediglich, wie es 1458 / 60 in Rothenburg hieß, dass „die Armen lewt von Rewttern nit Allso beschedigt wurden“, dass man also die Bewohner des Umlandes frühzeitig vor umherstreifenden Reitertrupps warnen und diese möglichst am Eindringen hindern konnte. Dass die Landwehren darüber hinaus auch Mittel der Territorialpolitik waren, ahnt man etwa, wenn die Stadt Höxter 1356 eine Landwehr anlegt, die mehrere Dörfer des seit Langem konkurrierenden Klosters Corvey von diesem verkehrlich abschnitt, oder wenn 1527 der Herzog von BraunschweigWolfenbüttel die Goslarer Landwehr teilweise zerstört. Zwei die Landwehren zentral betreffende Punkte können hier nicht näher behandelt werden, weil die nötige Diskussion weit über das Thema „Stadtbefestigungen“ hinausführen würde. Einerseits gab es Landwehren schon zu einer Zeit, wo Städte noch nicht in der Lage waren, sie anzulegen, weil sie noch gar nicht oder nur als frühe Ausnahmefälle existierten, und Frühe Landwehren, Landwehren ohne Städte es gab sie andererseits noch zur Zeit des voll entwickelten Städtewesens als Schutz von Gebieten, in denen gar keine Stadt lag. Sie erweisen sich damit als eine Art Anlage, die ursprünglich von den Städten unabhängig war, die vielmehr ganz im Gegenteil zum Schutz des „Landfriedens“ in ausgedehnteren und eher spärlich besiedelten Gebieten bestimmt war. Man muss nicht bis auf die „Chinesische Mauer“ (5. Jahrhundert v. Chr. bis 17. Jahrhundert n. Chr.) oder auf den römischen Limes (1.–3. Jahrhundert n. Chr.) zurückgehen, um frühe Grenzbefestigungen dieser Art zu finden, sondern es gab auch in Deutschland, insbesondere im norddeutschen Flachland, vormittelalterliche und hochmittelalterliche Landwehren, die mit den frühen Städten dieses Raumes nichts oder wenig zu tun hatten. Erinnert sei an den „limes saxoniae“, den wohl Karl der Große 810 / 11 als Schutz gegen die slawischen Abodriten anlegen ließ, und an das „Danewerk“, ein rund 30 km langes Wallsystem des 8.–12. Jahrhunderts, mit dem sich die Dänen gegen die Sachsen schützten (Abb. 483). Sie belegen, dass derartige Anlagen zumindest bis ins
Frühmittelalter zurückgehen, und es mag weit mehr und bescheidenere Fälle gegeben haben. Wo diese freilich lagen und wann sie entstanden sind, bedarf angesichts der Schwierigkeiten, solche Anlagen auch nur sicher zu erfassen, bzw. der oft eher legendären Überlieferung aufwendiger interdisziplinärer Untersuchungen im Einzelfall; im 4. Teil des Literaturverzeichnisses habe ich mich bemüht, zumindest möglichst viele auch solcher Darstellungen zu erfassen. Auch für Landwehren ohne Städte, aber schon im Zeitalter der Städte, seien hier nur Beispiele genannt, die die Spannweite des Möglichen andeuten. Das „Rheingauer Gebück“ etwa schützte eine Anzahl reicher Weindörfer, die sich früh und relativ selbstständig organisiert hatten, unter denen aber keine Stadt war; seine Entstehung wird heute ins frühe 14. Jahrhundert gesetzt, 1771 wurde es aufgelassen. In der Nähe wurden die „vier Täler“ bzw. Dörfer Bacharach, Rheindiebach, Steeg und Manubach ebenfalls von einem Gebück geschützt; erst als Bacharach um 1353– 66 ummauert wurde, lag darin eine Stadt. Der alpinen Sondersituation entsprachen schließlich die „Letzen“ oder „Letzinen“ in der Schweiz, die ganze Talschaften bzw. deren Streusiedlungen schützten, indem sie den Taleingang an einer günstigen Engstelle sperrten (Abb. 308); ein Beispiel bietet etwa Schwyz, das nach ersten militärischen Konflikten mit den Habsburgern im Lauf des 14. Jahrhunderts in allen dorthin führenden Tälern, und sogar am Hafen im Vierwaldstätter See, durch Mauern oder Holzbefestigungen geschützt wurde; auch Unterwalden befestigte seinen Seehafen bei Stansstad durch Holzsperren im See. Das Wort „Letze“, eine Variante des Substantivs „der / die Letzte“, bedeutet so viel wie Hinderung oder Hemmung, im erweiterten Sinne also auch Schutzwehr oder Grenzbefestigung. Entsprechende Talsperren, nur unter anderer Bezeichnung, gab es vor allem im 14. / 15. Jahrhundert auch in anderen Teilen der Alpen und vereinzelt ebenso in Mittelgebirgen wie etwa den Vogesen. Kommen wir aber nun zu jenen Landwehren, die hier zum Thema gehören, weil sie der Umlandsicherung einer Stadt dienten, so weist beim heutigen, freilich durchaus lückenhaften Forschungsstand vieles darauf hin, dass die frühesten unter ihnen im norddeutschen Flachland entstanden. Die meines Wissens zuerst erwähnte 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
309
städtische Landwehr im südlichen Niedersachsen war jene von Helmstedt (1252); neben Graben und Hecke besaß sie zwei Warttürme. Der Unterbau der „Magdeburger Warte“ ist – für eine Warte ungewöhnlich, aber etwa auch in Lüneburg und Vechta nachweisbar – quadratisch und mag recht alt sein. Im benachbarten Westfalen ist dem Herford an Landwehren in Deutschdie Seite zu stellen, desland, Beispiele sen Landwehr mit Höfen an den Toren 1255 belegt sei. In beiden Regionen werden die meisten städtischen Landwehren jedoch erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts greifbar, was als durchaus typisch, zumindest für den norddeutschen Raum, gelten kann. So wurde die Landwehr des reichen Goslar 1336 / 38 begonnen und im 15. Jahrhundert durch Warten ergänzt, Hamburg erhielt die seinige ab etwa 1350. Um Hannover entstanden Warten 1361–92 und 1441–60; die „Döhrener
Warte“ von 1382 hat Kreuzrippengewölbe in mehreren Turmgeschossen, ein ungewöhnlicher Aufwand für den Bautypus. 1377 wurde die ältere Helmstedter Landwehr erweitert. In Göttingen, das ab 1380 eine mehrfach gestaffelte Landwehr erhielt – außer Warten dienten ihr auch Burg- und Kirchtürme –, ist eine Warte ausgegraben worden, meines Wissens der bisher einzige Fall. Die „Rieswarte“ (Abb. 248) besaß in ihrer trapezoiden Ringmauer neben dem Rundturm ein Wohn- und Wirtschaftsgebäude, eine separate Küche und einen Stall, alles in Holzbauweise; anschaulich wird so der Aufenthalt einer mehrköpfigen Wachmannschaft, von der jeweils nur einer den anstrengenden Posten auf dem Turm einnehmen musste. Lüneburg baute seine Landwehr – drei bis fünf Wälle, quadratische Warttürme – nach der 1392 erteilten Erlaubnis 1397–1406; 1479–84 wurde sie erheblich erweitert. Weitere niedersächsische Landwehren sind
Abb. 248 Göttingen, die um 1438–42 erbaute und nur kurz bestehende „Rieswarte“ im Stadtteil Nikolausberg ist die bisher wohl einzige Warte in Deutschland, bei der auch die Innenbebauung archäologisch erforscht ist (1979–81); die Besatzung konnte hier zumindest die Pferde unterstellen und kochen (5 Jahre Stadtarchäologie … Göttingen, Göttingen 1984).
310 I. Systematischer Teil
in Hameln belegt (erweitert 1385), in Duderstadt (1392 / 97), Hildesheim (1440 / 49) und Gandersheim (1478 / 79). Sachsen-Anhalt und Thüringen schließen östlich an den gebirgigen Teil Niedersachsens an und zeigen erwartungsgemäß ein ähnliches Bild, mit recht häufigen, aber bisher eher wenig erforschten Landwehren und Warten. In Thüringen beschränkten sie sich offenbar auf das relativ flache Thüringer Becken; der Mühlhäuser Landwehrgraben, wohl schon 1281 erwähnt und durch Wart- und Kirchtürme ergänzt, war durch einen äußeren Graben verstärkt, die Meininger Landwehr wurde wohl erst 1525 erwähnt. Wernigerode besaß eine Landwehr mit fünf Warten; zwei sind als Ruinen erhalten. Im westlich an Niedersachsen grenzenden Westfalen bietet sich ein ähnliches Bild wie in (Süd-)Niedersachsen, also Landwehren aus mehrfachen Wallgräben mit Warten und Höfen oder Schlagbäumen an den Durchlässen. In Bielefeld wird die Landwehr schon ins frühe 14. Jahrhundert gesetzt, in Lemgo ist sie ab 1353 zu belegen, in Höxter ab 1356; die Anlagen in Dortmund scheinen bisher undatiert. Noch im 14. Jahrhundert dürfte die 53 km lange, angeblich alle 3 km mit einer Warte versehene Landwehr des reichen Soest entstanden sein, die 1441 gegen Proteste des Kölner Erzbischofs erweitert wurde. Auf andere Weise aufschlussreich ist der Fall von Borgholz und Borgentreich, wo in dem Vertrag über die Anlage der Landwehr 1429 unter anderem die geplanten Warten mit Rundtürmen, umgebender Mauer und Spitzgraben so beschrieben werden, wie wir sie heute noch bei manchen anderen Städten finden. Im flachen Norden Mitteldeutschlands waren Landwehren offenbar ähnlich verbreitet wie weiter westlich, wobei aber die Erforschung bisher weniger intensiv scheint und die baulichen Reste noch seltener sind. In der Altmark gab es solche Anlagen, in der Regel mit Warttürmen, etwa in Stendal, Gardelegen, Osterburg, Seehausen, Kyritz und Jüterbog (ab 1379), in der Mark selbst in Berlin, Brandenburg und Wittstock. Bei der letzten Stadt ist mit der „Dabernburg“, einem Rundturm mit ehemals anschließendem quadratischen Hof eine der seltenen Warten an einem Straßendurchlass erhalten (Abb. 249). In Mecklenburg gibt es nur wenige Graben- und Wall-
Abb. 249 Wittstock (Brandenburg), die sogenannte Dabernburg aus dem mittleren 15. Jahrhundert war keine Burg, sondern eine Warte an einer Ausfallstraße; der kleine Rechteckhof neben dem Rundturm wurde im 19. Jahrhundert als Scheune aufgestockt (Grundriss: Kunstdenkmäler der Provinz Mark Brandenburg, 1, 2, Ostprignitz, 1907).
reste, etwa um Neubrandenburg, Parchim, Röbel und Wismar); bei Parchim ist ein Wartturm erhalten. Anklam und Treptow sind die bisher einzig belegbaren Fälle in Pommern; vielleicht lag es schon im Randgebiet, in dem die Verbreitung der Landwehren endete. Von der Landwehr von Anklam, die mehrere Warten besaß, blieb der Rundturm des „Hohen Steins“ erhalten, umgeben von Wall und Graben (1458?); bei Treptow gab es an einem Durchlass einen Rechteckturm. Im westlichsten Teil des norddeutschen Flachlandes, am Niederrhein, setzte der Bau von Landwehren wohl Ende des 14. Jahrhunderts ein, um große Städte wie Aachen oder Wesel, aber auch 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
311
Abb. 250 Frankfurt am Main, die „Friedberger Warte“ ist die besterhaltene der Warten, die wichtige Tore der Landwehr sicherten. Trotz späterer Änderungen ist die Grundform des Wachturmes mit Nebenbauten im ummauerten Hof noch gut zu erkennen.
um kleinere wie Gladbach, Kempen oder Goch. Auch Territorien wurden hier weiterhin durch Landwehren gesichert, etwa um das sonst unbefestigte Viersen (1383 / 1423) oder die Grafschaft Kleve (um 1400–40). Hessen und Franken bildeten, soweit der gegenwärtige, fraglos recht zufällige Forschungsstand es ahnen lässt, das südliche Ende des Verbreitungsgebietes der Landwehren. Die reiche Handelsstadt Frankfurt am Main besaß eine der ausgedehntesten und am besten ausgestatteten, die ab den 1370er Jahren ständig verstärkt und bis ins 17. Jahrhundert unterhalten wurde. Anfangs besaß sie „Zingel“ (Höfe) an den Durchlässen und Warten in Holzkonstruktion, die aber im 15. Jahrhundert durch steinerne Warten ersetzt wurden. Diese Warten an den Toren, noch mehrfach erhalten, besaßen fast die Dimension kleiner Burgen und waren sicher geeignet, ihre Besatzung eine gewisse Zeit zu schützen (Abb. 250). Der für Warten typische schlanke Rundturm, hier durch ein Fachwerkgeschoss für die Wächter bekrönt, wurde eng von einer runden oder achteckigen Mauer mit Schießscharten umschlossen, erst daran schloss sich ein rechteckig ummauerter Hof an, der ein Wächterwohnhaus und andere Nebenbauten enthielt. Erhaltene Warten in größerer Anzahl findet man in Hessen auch noch im Zusammenhang der Landwehren um Fritzlar und um Fulda. Im ersteren Falle sind sechs von ehemals mindestens acht Warten erhalten, in der verbreiteten Form, teils 312 I. Systematischer Teil
mit runder Ummauerung und einem Graben um den Rundturm (Abb. 445); bei ihrer Ersterwähnung 1365 waren sie wohl noch aus Holz. Auch um Fulda sind noch sechs von ehemals acht, seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts belegbare Warten erhalten, die durch Kirchtürme ergänzt wurden; Friedberg, Kassel, Grebenstein, Wolfhagen und Seligenstadt waren weitere Beispiele. Südlich der Mainlinie sind nur noch wenige Landwehren um bedeutende Städte zu nennen, die dem bisherigen Anschein nach überwiegend erst nach 1400 angelegt wurden, also rund ein halbes Jahrhundert später als die meisten im norddeutschen Flachland, was ein weiteres Mal anzudeuten scheint, dass das Phänomen seine Ursprünge dort hatte. In Speyer etwa gab es ab 1410 eine Landwehr, zunächst mit Warten aus Holz, die dann ab 1431 teilweise in Stein erneuert wurden; in Mainz beschloss man die Landwehr 1432. In Franken schließlich findet man mit Rothenburg ob der Tauber und Schwäbisch Hall die beiden derzeit besterforschten Landwehren; vor allem in Rothenburg wurde anhand der Quellen gut dargestellt, wie der Begriff „Landwehr“ auch zum Synonym für die Herrschaft der Stadt über ihr Umland wurde. Die 1430 begonnene und vor 1480 fertiggestellte Rothenburger Landwehr war 62 km lang und bestand aus drei Gräben und zwei dicht bewachsenen Wällen, die von mehreren Wegen begleitet wurden (dass das „Hegereiterhaus“ im Spitalhof die Unterkunft der die Landwehr kontrollierenden Wächter gewesen
sei, ist jedoch erst eine Erfindung des 19. Jahrhunderts). In (Schwäbisch) Hall stellte sich die ab 1401 (oder doch schon 1352?) belegte Landwehr komplexer dar. Die Anzahl der Gräben variierte, natürliche Hindernisse waren einbezogen; zudem war die Anlage noch 1503 nicht fertig, was vielleicht auf mehrere Erweiterungen hinweist. Mit dem „Hörlebacher Landturm“ der Zeit um 1500 ist auch einer der bewohnbaren Türme an den Durchlässen erhalten (Abb. 251). Weitere fränkische Landwehren gab es in hohenzollerischem Territorium um Bayreuth / Kulmbach, um Nürnberg – 1449 angelegt als Wallgraben mit Blockhäusern und Schranken, nach einer Überholung 1461 aber bald wieder verfallen –, in Würzburg und bei Wertheim. Weiter südlich – in Altbayern und im alemannischen Raum – gab es nach gegenwärtigen Wissensstand offenbar keine Landwehren. Die einzige städtische Landwehr in der Schweiz war offenbar jene von Schaffhausen, belegt seit 1379 – umso auffälliger, als die Sperrung von Tälern mit dörflichen Streusiedlungen, durch „Letzinen“, im gebirgigen Teil der Schweiz ja durchaus häufig war. Im Zusammenhang von Landwehren kamen Türme in zwei verwandten Funktionen vor. Einerseits standen sie an den Toren bzw. Schlagbäumen und dienten der Kontrolle des Durchgangsverkehrs, dabei aber aufgrund ihrer Höhe auch dazu, die sich Nähernden schon lange vor ihrer Ankunft zu erkennen. Eben diese letztere Funktion des weiten Ausblicks war entscheidend für die andere Funktion der Türme, nämlich für die „Warten“ im eigentlichen Sinne, deren Standort nicht durch eine Straße bestimmt wurde, sondern primär durch den weiten Überblick bzw. die Signalfunktion. Sie standen folglich auf Anhöhen, von denen aus man einerseits die Umgebung der Stadt möglichst weit überblicken konnte, andererseits eine Blickverbindung mit der Stadt selbst bestand, etwa mit einem Wächter auf dem Kirchturm, um durch Feuer, Tonsignale oder andere Zeichen Nachrichten übermitteln zu können. Die Funktion solcher Warten bedurfte grundsätzlich keiner Einbindung in eine Landwehr und der entscheiWarten ohne Landwehr dende Vorteil einer Warte ohne Landwehr liegt auf der Hand: Ihre Errichtung und dauerhafte Unterhaltung kostete
nur einen Bruchteil dessen, was eine ganze Landwehr erforderte. Die Normalform der allein stehenden Warten unterschied sich nicht nennenswert von vielen der Warten, die Teil einer Landwehr waren: ein Rundturm von 3–4 m Durchmesser, dessen Einstieg ins erste Obergeschoss führte. Natürlich war der Innenraum des Turmes extrem eng und konnte kaum mehr als eine Leiter aufnehmen. Es ist daher davon auszugehen, dass auf dem meist allein erhaltenen Steinschaft in aller Regel ein Obergeschoss saß, das der Wache zum Aufenthalt diente und wahrscheinlich meist aus Fachwerk war. Ausnahmsweise erhalten ist dieses Obergeschoss bei einer Warte nahe Windsheim in Unterfranken, sonst findet man noch gelegentlich Reste der schrägen Abstützungen. Ein solcher Turm war kaum verteidigungsfähig; ganz entsprechend den Landwehren war er nur dafür ausgelegt, im Falle einer schnellen Reiterattacke nicht allzu leicht zugänglich zu sein; Abb. 251 Schwäbisch Hall (Württembergisch Franken), der „Hörlebacher Landturm“ steht etwa 12 km nordöstlich von Schwäbisch Hall an der ehemaligen „Haller Landheeg“. Inschriftlich wohl erst 1587(?) erbaut, ist er das seltene Beispiel eines solchen Turmes am Durchlass einer alten Fernstraße.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
313
bei einem ernsthafteren Angriff musste die Besatzung darauf hoffen, noch in die Stadt fliehen zu können. Selten ist noch erkennbar, dass der Turm konzentrisch von Wall und Graben umzogen war, die man sich gewiss durch Palisaden ergänzt vorstellen darf. Solche Anlagen waren einerseits offenbar die etwas aufwendigeren Nachfolger von Warten in Holz-Erde-Konstruktion, wie sie gelegentlich als Frühform erwähnt werden, andererseits sind ummauerte Warten, wie man sie etwa in Fritzlar – oder fast schon burgartig, im Zusammenhang der Landwehr um Frankfurt (Abb. 250) – findet, die aufwendigste und daher seltene Variante. Der umwallte oder ummauerte Hof diente, wie in Einzelfällen belegt ist, auch dem Schutz des als Beute begehrten Viehs, wenn man es nicht mehr in die Stadt treiben konnte. Das Verbreitungsgebiet isoliert stehender Warten ist noch schwieriger als im Falle der Landwehren zu erfassen. Einerseits ist der Bautypus wenig bekannt und eher unspektakulär, sodass er auch von der Heimatforschung nur gelegentlich behandelt wurde; es ist davon auszugehen, dass erhaltene und weithin sichtbare Warttürme viel öfter Eingang in Publikationen gefunden haben als die vermutlich häufigeren, die längst abgegangen sind. Andererseits sind auch die nichtsteinernen Bestandteile von Landwehren fraglos meist verschwunden – Wallgräben wurden überackert, Hecken sind abgestorben –, sodass manche Warttürme heute isoliert erscheinen dürften, die in Wahrheit Bestandteile von Landwehren waren. Dies vorausgeschickt, scheint es so, als seien die isolierten Warttürme etwa im gleichen Gebiet verbreitet gewesen, in dem es auch Landwehren gab, also mit dem Schwerpunkt im norddeutschen Flachland, insbesondere in Westfalen, sowie in Hessen, Thüringen und Teilen Frankens. Weiter südlich, insbesondere im alemannischen Raum, in Bayern und Österreich ist das Phänomen momentan kaum fassbar – vielleicht, weil man schwer zugängliche Berge entsprechend nutzte? In Westfalen findet man um Paderborn, Obermarsberg, Warburg, Detmold oder Beckum Beispiele der klassischen Wartenform, Rundtürme mit Gewölben und Hocheinstieg, umgeben von Ringmauer und Spitzgraben. Der Turm steht
314 I. Systematischer Teil
meist in der Mitte, in Paderborn auch einmal an der Ringmauer; eine Beschreibung der Warten von Borgholz, von 1429, bestätigt diese Form. Die „Moderer Warte“ bei Brakel hat den Eingang im Erdgeschoss, was aber nicht original sein muss; auch die Konsolen für das oberste Geschoss aus Holz sind hier erhalten. Beim „Fährturm“ in Schöningen wird 1583 ein Gasthaus erwähnt, was bei Warten in Straßennähe nicht selten war. In Brandenburg sind Warten etwa um Berlin / Cölln, Osterburg, Seehausen, Wittstock und Salzwedel nachweisbar, wenn auch kaum erhalten; in Salzwedel stand ein Wartturm ungewöhnlicherweise nahe vor dem Stadttor. In Pommern fand ich Belege für Warten nur in Kolberg. Sachsen-Anhalt besaß wieder deutlich mehr Warttürme, so bei Aschersleben, Egeln, Eisleben (erwähnt seit 1441), Haldensleben, Quedlinburg, Seehausen und Wernigerode, und ähnlich steht es in Hessen, wo man einzelne Türme noch in Grünberg findet (mit Ringmauer), in Korbach („Dalwiger Warte“), Sachsenhausen und Zierenberg. In Kirchhain sperrte die hessische, 1431 gebaute „Wittelsberger Warte“ die Straße zum mainzischen Amöneburg. Thüringen schließlich besaß um Heiligenstadt fünf Warten und um Langensalza drei, wobei eine hölzerne schon 1378 erwähnt ist; für das große und wichtige Erfurt ist dagegen bisher nur eine Warte belegbar. In Franken, das wie bei den Landwehren auch bei den isolierten Warten den Südrand des Verbreitungsgebietes bildete, gab es solche Türme fast nur in Unterfranken und dem südlich anschließenden Württembergisch Franken, etwa bei Neustadt, Ochsenfurt und Mellrichstadt; gelegentlich dienten Ketten von Warttürmen offenbar zur Signalvermittlung, etwa südlich von Neustadt an der Saale. Die einzige Warte, die ich für Mittelfranken notieren konnte, bei Windsheim, gehörte eigentlich eher zu Unterfranken, so wie eine bei Buchen, heute in Baden, zu Württembergisch Franken gehört. Die andere badische Warte, die ich fand, bei Horb, ist ebenso eine Ausnahme wie eine bei Besigheim (Abb. 338) und der Wartturm über Kirchheimbolanden in der Pfalz. Schließlich war auch der verschwundene „Trutzkaiser“ über Heidelberg (1462) eine Art Warte, aber die ungewöhnliche Bauform erweist auch ihn als vereinzelten Sonderfall.
2.3. Das Ende der Stadtmauern Das Ende der Stadtbefestigungen – im Sinne ihrer baulichen Zerstörung, der der Verlust ihrer Funktion vorausgegangen war – wird in der Regel als Phänomen vor allem des 19. Jahrhunderts beschrieben, und in der Tat ist damals wohl weit mehr als jemals davor oder danach abgebrochen worden. Dennoch wäre es falsch, das Verschwinden der Stadtmauern als ein auf wenige Jahrzehnte konzentriertes Geschehen zu sehen, das ausschließlich mit den epochalen Veränderungen der einsetzenden Industrialisierung zusammengehangen hätte; es handelte sich vielmehr um einen lang gezogenen Prozess, dessen Anfänge letztlich sogar im Mittelalter selbst lagen. Denn die Mauern standen von Anfang an im Brennpunkt von Konflikten zwischen verschiedenen Interessen der Stadtbewohner. Einerseits bedurfte man selbstverständlich des Schutzes vor gewaltsamen Attacken, andererseits aber engten die Mauern auch den Raum zum Wohnen und Arbeiten ein bzw. behinderten im Alltag die Verbindung mit dem Umland. Daher sind nahezu seit den Anfängen der Stadtbefestigungen – im Grunde mit dem Einsetzen hinreichend detaillierter Schriftquellen – Tendenzen zu beobachten, Pforten und Nebentore in die Mauern zu brechen; auch Fenster sind bereits vor dem
Ende des Mittelalters zu beobachten, vor allem, wenn wie meist im süddeutschen Raum die Häuser ohne Behinderung durch die Mauergasse direkt an die Mauer angebaut werden konnten. In Meran wurde schon 1317 eine Buße für das Einbrechen von Fenstern in die Mauer festgelegt, in Winterthur 1336 ein Verbot erlassen, Fenster einzubrechen; in Crailsheim findet man 1485– 90 eine Verordnung, die den Häuserbau an der Mauer eindämmen sollte – Beispiele für fraglos weitverbreitete Maßnahmen, die überflüssig gewesen wären, wenn nicht starke Tendenzen in dieser Richtung bestanden hätten. Allerdings führte das Einbrechen kleiner Öffnungen bzw. das Anbauen von Häusern noch nicht zu einer wirklichen Zerstörung der Mauer; es schwächte sie nur und verdeutlicht Alter und Stärke der Interessen, denen die Mauer im Wege war. Aber auch erste Beispiele für wirkliche Abbrüche von Stadtmauern findet man schon weit früher als meist angenommen, nämlich Ende des 16. Jahrhunderts, als beispielsweise Kiel und Flensburg ihre erst aus dem 14. Jahrhundert stammenden Backsteinmauern wieder abrissen (Abb. 252). Dabei handelt es sich allerdings um Einzelfälle, die sicher nicht zufällig im nördlichsten Deutschland liegen; in den an Naturstein
Abb. 252 Kiel, die Stadtmauer an der weniger angreifbaren Wasserseite (rechts) war schon Ende des 16. Jahrhunderts teilweise wieder abgebrochen (Braun Hogenberg, Civitates Orbis terrarum). 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
315
Abb. 253 Nördlingen (Bayerisch Schwaben), der Stich von Andreas Zeidler (1651) zeigt die bastionsförmigen Einzelschanzen, die die Stadt im Dreißigjährigen Krieg anlegte und die teils noch erkennbar sind. Die Stadtmauer musste dabei aber weiterhin moderne Kurtinen ersetzen.
armen Flachlandregionen waren Backsteine ein kostbares Gut und so konnte hier die Einsicht, dass Mauern im Artilleriezeitalter nichts mehr nützten, eher zu so radikalem Vorgehen führen.
2.3.1. Bastionärer Ausbau und Akzise (17. / 18. Jahrhundert) Generell aber überlebten die Mauern und Türme der meisten Städte das Ende des Mittelalters für geraume Zeit, obwohl sie seit Langem nicht mehr dem Stand der Militärtechnik entsprachen. Die bis heute populären, in der ersten Hälfte bis Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen „Topographien“ der deutschen Territorien zeigen auf den Kupferstichen Matthäus Merians in aller Regel noch intakte Mauern, obwohl doch gerade die modern ausgerüsteten Heere des Dreißigjährigen Krieges gezeigt haben müssen, wie wenig sie noch nützen konnten. Hier darf man sich vom äußeren Bild aber nicht täuschen lassen. Viele kleinere Städte hielten zu dieser Zeit zwar ihre Mauern noch halbwegs instand, um zumindest kleine Trupps von Angreifern abhalten und an den Toren Zoll- und Zugangskontrollen durchführen zu können; dass sie einem organisierten 316 I. Systematischer Teil
Angriff mit Artillerie standgehalten hätten, ist damit nicht gesagt. Im Falle einer ernsthaften Belagerung konnten im 17. Jahrhundert – wie es sich schon im Spätmittelalter immer stärker abgezeichnet hatte (vgl. 2.2.11.) – nur noch große und finanzkräftige Städte Widerstand leisten, seien sie nun „freie“, nur der Herrschaft ihres Rates unterworfene Städte, Residenzen oder auch Grenzfestungen absolutistischer Landesherren gewesen. Auch in solchen Fällen wäre es aber eine Fehleinschätzung, wenn man der mittelalterlichen Mauer noch im 17. / 18. Jahrhundert die Hauptrolle bei der Verteidigung zuweisen wollte; diese fiel nun vielmehr den bastionären Verstärkungen zu, die auf den Ansichten Matthäus Merians – und anderer Stecher dieser Epoche – aus mehreren Gründen optisch zurücktreten. Einerseits waren die Bastionen, eben um der Wirkung der Artillerie wenig Angriffsfläche zu bieten, flach und fallen daher weniger ins Auge als die hinter ihnen aufragenden mittelalterlichen Befestigungen. Andererseits blieben vollständige, das heißt lückenlos die gesamte Stadt umfassende Bastionenkränze auf wenige Städte beschränkt, weil einfach ihre Kosten enorm waren, selbst als gegen 1600 mit der (alt- und neu)niederländischen Befestigungs-
weise reine Erdwerke üblich wurden, die wenig spezialisierte Arbeitskraft erforderten. Die meisten Städte beschränkten sich daher auf einzelne bastionsförmige Schanzen, die vor der mittelalterlichen Befestigung so angeordnet wurden, dass sie sich gegenseitig flankieren konnten; dies aber bedeutete, dass die mittelalterliche Mauer mit ihrem Zwinger und Graben die Kurtine zwischen den Bastionen ersetzte und schon deswegen – allenfalls mit verkürzten Türmen – erhalten bleiben musste (Abb. 253). Turmartige Streichwehren, die den Steinbau der mittelalterlichen Mauern ein letztes Mal fortführten, waren nun absolute Ausnahmen, etwa die bastionsförmigen Streichwehren in Bayreuth (1674) oder die vergleichbaren Bauten in Kronach, gar erst von 1722–46. Städte mit bastionär modernisierten Befesti gungen behielten ihre Festungseigenschaft, und damit meist auch große Teile ihrer mittelalterlichen Mauern, in der Regel bis ins 19. Jahrhundert; nur einzelne Residenzen wie Berlin (1735), Kassel (1767) oder Koblenz (1785) wurden schon vor 1800 entfestigt, weil die Bastionen der Entwicklung der Gartenanlagen bzw. der Stadt im Wege waren. Aber auch im Falle der weit zahlreicheren kleinen Städte bestand im 17. / 18. Jahrhundert noch ein gewisses Interesse an der Erhaltung der Mauern, wenn auch kein im eigentlichen Sinne fortifikatorisches mehr. Einerseits galt es bis ins 19. Jahrhundert hinein als selbstverständlicher Schutz der innerstädtischen Sicherheit vor Räubern und „Gesindel“, dass nachts die Tore geschlossen wurden; diesen Brauch beendete Lübeck als letzte deutsche Stadt erst 1864, zusammen übrigens mit dem „Mauerzwang“, der Verpflichtung der rechtlich definierten „Bürger“, innerhalb der Mauern zu wohnen. Ein populäres Bild der psychologischen Wirkung der Stadtbefestigungen vermittelt noch um 1800 die Moritat vom Schinderhannes: „Es packt Dich wildes Schaudern, musst über Land Du gehen. Kaum bist Du aus den Mauern, so ist‘s um Dich geschehen.“ Der andere Grund für die Erhaltung der fortifikatorisch überholten Mauern war die Erhebung von Zöllen an den Toren. Schon im Mittelalter war das dort oder auf den Marktplätzen erhobene „Ungeld“, eine auf Alkoholika erhobene Verbrauchssteuer, eine der wichtigsten Einnah-
Abb. 254 Potsdam, eine Akzisemauer wie die ab 1722 entstandene in Potsdam diente nicht der Befestigung, wie die geringe Höhe und Dicke sowie der fehlende Wehrgang zeigen, sondern sie sollte die Umgehung des Torzolles und die Desertion von Soldaten verhindern.
mequellen der Städte gewesen (vgl. 3.1.) – im Absolutismus besaß die nun als „Akzise“ bezeichnete Torsteuer eine fast noch höhere Bedeutung als Einkommensquelle der Landesherren. Zu ih-
Abb. 255 Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern), viele Wiekhäuser wurden im 18. / 19. Jahrhundert abgetragen, in und auf ihre erhaltenen Unterteile kleine Fachwerkhäuser gebaut.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
317
Abb. 256 Mainbernheim (Unterfranken), Gärten auf den verfüllten Gräben sind eine typische Nachnutzung aufgegebener Gräben, wenn sie nicht parzelliert und bebaut wurden (Dr. Volkmar Rudolf / Tilman 2007).
Abb. 257 Ansbach (Mittelfranken), das „Herrieder Tor“ ist ein gutes Beispiel, wie ein mittelalterlicher Torturm durch Flügelbauten und neue Fassadengestaltung städtebaulichen Vorstellungen des Barock angepasst wurde (1750 / 51).
rer Erhebung wurden in manchen Städten ganz neue Mauern errichtet, an die man bei dem Wort „Akzisemauer“ heute meist denkt. Berühmt ist vor allem die Berliner Akzisemauer, die 1734–37 entstand und, 1860 in ihrer Funktion aufgehoben, 1867–70 abgerissen wurde; zu ihr gehörte, als Ergänzung des späten 18. Jahrhunderts, auch das längst zum Symbol aufgestiegene „Brandenburger Tor“. Weitere barocke Akzisemauern gab es in Brandenburg etwa in Potsdam (ab 1722; Abb. 254) und Schwedt (ab 1733), aber schon etwas früher auch im nassau-oranischen Krefeld (ab 1692). Die Pariser Zollmauer („Mur des Fermiers généraux“; 1785–88) sei hier nur ihrer Berühmtheit halber erwähnt, besonders wegen ihrer Tore als Spätwerke von Claude-Nicolas Ledoux. Die große Masse der aus Gründen der Akzise erhaltenen Mauern wird jedoch in der einschlägigen Literatur nicht erwähnt, weil diese weder neu noch bedeutende Werke der Architektur waren – es waren einfach die mittelalterlichen Mauern, die so weit instandgehalten wurden, dass sie dem reduzierten Zweck noch genügen konnten. Ein schönes Beispiel bietet heute noch Neuruppin, wo man gut ablesen kann, wie die 1788–96 entstandene Akzisemauer große Teile der mittelalterlichen Stadtmauer integrierte; das Prinzip galt fraglos für viele mittelalterliche Stadtmauern Brandenburgs. Für eine Zollmauer reichte eine
Höhe von ca. 4 m, so wie auch die Türme bzw. Wiekhäuser nun überflüssig waren; man trug die Mauer also auf diese Höhe ab, ebenso die Türme bis zum Boden. Das gewonnene Material wurde zum Teil benutzt, um die entstandenen Lücken zu schließen, aber es blieb fraglos auch viel übrig, um es in der übrigen Stadt zu verbauen, etwa für steinerne Fassaden der Fachwerkhäuser. In dem solchermaßen reduzierten Zustand blieben die Mauern vieler Städte zumindest in Brandenburg bis zu den umfassenden Reformen der Zeit um 1810–20 erhalten, die dann auch die Binnenzölle bzw. die Akzise beseitigten. Dieser politische Wandel war letztlich der endgültige Startschuss für den umfangreichen Abriss von Stadtmauern im 19. Jahrhundert. Aber auch dort, wo die Zölle keine große Bedeutung gehabt hatten, insbesondere in den vielen Klein- und Ackerbürgerstädten mit ihren nur regional wichtigen Märkten, erlebten die mittelalterlichen Mauern im 17. / 18. Jahrhundert noch Verwandlungen. Einerseits bestanden diese in einer allmählichen Reduzierung der militärisch nun wertlosen Anlagen. Um die Stadt vor „Gesindel“ zu schützen, musste man nicht unbedingt Türme, Wehrgänge und Schießscharten erhalten, auch keine Gräben und Wälle. Und so verschwanden obere Mauerteile und hölzerner Wehrgang, sei es durch Abbruch, um das Mate-
318 I. Systematischer Teil
rial zu gewinnen – vor allem im Backsteingebiet, wo oft nur die Feldsteinsockel übrig blieben –, sei es durch Verfall infolge mangelnder Pflege. Und auch Türme konnten nun, soweit sie nicht als Gefängnis oder Armenwohnung nutzbar waren, teilweise oder ganz verschwinden; ein anschauliches Beispiel bietet noch Neubrandenburg, wo die Oberteile der meisten Wiekhäuser fehlen, während in den Unterteil winzige Fachwerkhäuschen eingebaut wurden (Abb. 255). Die zunehmend verfüllten Gräben und Wälle wurden nun endgültig zu Gärten umgestaltet (Abb. 256), was zu vielen neuen Pforten in der Mauer führte. Einerseits also konnte man vielerorts von einem langsamen, eher unauffälligen Verfall der Stadtmauern sprechen. Andererseits gibt es im Barock durchaus Beispiele dafür, dass Stadttore sogar neu gebaut wurden. In der Mitte und zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es vor allem im Fränkischen eine ganze Reihe von Torneubauten oder aufwendige Reparaturen von im Krieg zerstörten Toren, so etwa in Weismain (Zerstörung 1633, Reparatur 1643–1719), in Dinkelsbühl („Segringer Tor“, 1648 zerstört, Neubau 1655) oder Höchstadt, wo die am Wiederaufbau in den 1660er Jahren Beteiligten auf drei Schrifttafeln festgehalten sind. Dürften solche frühen Beispiele noch auf die Initiative der Bürger zurückgegangen sein, die Mauern und Tore weiterhin als Zeichen ihrer Eigenständigkeit empfanden – als Spätling etwa noch der Aufsatz des Bautzener „Reichenturms“ von 1715–18, ein regelrechter Stadtturm –, so gehen Beispiele im 18. Jahrhundert eher auf die absolutistischen Landesherren zurück, die ihre Residenz betonen oder auch nur den guten Zustand ihrer Städte unterstreichen wollten. Gute Beispiele für barocke Stadttore als Elemente typischer Residenzarchitektur bieten Ansbach und Heidelberg. In Ansbach, der Residenz der Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, wurde der Turm des „Herrieder Tores“ 1684 / 85 zunächst achteckig erhöht, dann 1733 / 34 durch zwei Torhäuser flankiert, schließlich 1750 / 51 nochmals modernisiert (Abb. 257). Das pfalzgräfliche Heidelberg erhielt um 1775–90 mehrere neue Tore, die – teils nach Entwürfen bedeutender Baumeister wie Nicolas de Pigage – entweder Ausbauten der mittelalterlichen Tore waren („Brückentor“) oder wegen besserer Wirkung vor
deren Stelle vorgerückt wurden („Karlstor“). Weiter im Süden des Oberrheins bieten barocke Tore in mehreren Städtchen des vorderösterreichischen Breisgaues Beispiele dafür, wie man nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts eine repräsentative Wiederherstellung des Stadtbildes anstrebte, ohne dass der Ort mehr als ein regionaler Marktort gewesen wäre (Burkheim, Emmendingen, Ettenheim, Ettlingen). Auch das „Neue Heilbronner Tor“ im württembergischen Lauffen am Neckar, das 1772 wegen der Verlegung einer Chaussee neu entstand, ist so zu deuten, dass die Abgeschlossenheit selbst einer kleinen Landstadt weiterhin ein selbstverständliches Ziel war. Und die nicht wenigen, auch erst im 18. Jahrhundert entstandenen Torhäuser in vielen Dörfern etwa Unterfrankens zeigen, dass dieser Aspekt sogar für noch kleinere Siedlungen sehr lange in Geltung blieb (Abb. 144, 385). Die Sicherheit der Bürger und deren symbolische Vermittlung nach außen, das waren noch im 18. Jahrhundert neben der Erhebung von Zöllen die Hauptgründe, warum die mittelalterlichen Mauern im Großen und Ganzen erhalten blieben; der Verlust ihrer militärischen Funktion zeigte sich lange Zeit nur im Detail, vor allem in der Vernachlässigung nicht mehr dringend benötigter Teile.
2.3.2. Abriss, Denkmalpflege und „Ringstraßen“ (19. Jahrhundert) Die Reformen der nachnapoleonischen Ära beseitigten in den deutschen Staaten auch die Akzise und mit ihr den letzten praktischen Grund, die Ummauerungen und Tore der Städte noch zu bewahren. Nachdem die Befestigungen längst nur noch notdürftig unterhalten worden waren, deutet vieles darauf hin, dass dieser Verlust der – bei den Bürgern nie beliebten – Funktion endgültig einen Wandel in der Betrachtung und Behandlung der Stadtmauern ausgelöst hat. Ihre Wertschätzung als Symbol städtischer Identität dürfte seit dem Verlust der Verteidigungsfunktion ohnehin stark geschwunden sein und so setzte sich die Erkenntnis, dass die Mauern nur noch ein kostenträchtiges und auch sonst nachteiliges Hindernis im städtischen Leben waren, nun endgültig durch; einen anschaulichen Beleg der dahinterstehenden, durchaus „aufgeklärten“ 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
319
Gedankenwelt bietet etwa eine 1792 veröffentlichte Abhandlung des kurmainzischen Ingenieur-Majors und Lehrers Rudolf Eickemeyer, der die alten Mauern für so ziemlich alle Übel der Epoche verantwortlich machte. Für die vielfältige Entwicklung im 19. Jahrhundert war dabei allerdings typisch, dass der Bewusstseinswandel keineswegs nur in eine Richtung wirkte. Das galt für große Städte, aber fast noch mehr für kleine, in denen sich die Planungsansätze oft überlagerten oder bruchstückhaft blieben; so belegte es etwa Volkmar Eidloth am Beispiel Württemberg. Zwar wurde die Tendenz zur Beseitigung der Mauern in der zweiten Jahrhunderthälfte, unter dem Einfluss der Industrialisierung, nochmals verstärkt, als nämlich das explosive Wachstum vieler Städte dazu führte, dass der Bereich der ehemaligen Befestigungen endgültig zum Rohmaterial oft sehr anspruchsvoller städtebaulicher Planungen wurde. Andererseits aber entstand schon viel früher, vor dem Hintergrund der Romantik und des einsetzenden Nationalismus, die Einsicht, dass die Stadtmauern auch Ausdruck deutscher Geschichte und Kultur waren, die man vor dem völligen Verschwinden schützen müsse. Der Widerstreit beider Tendenzen, der bis weit ins 20. Jahrhundert anhielt, formte letztlich jenes vielfältige Bild, das die Stadtmauern im deutschsprachigen Raum heute bieten – zwischen wenigen fast vollständig erhaltenen Anlagen und sehr vielen restlos verschwundenen hat eine Fülle mehr oder minder isolierter Restbestände überlebt. Als letzte Entwicklung, die diesem Zustand nochmals einen Akzent hinzufügte, ist der in den 1970er Jahren einsetzende Wiederaufbau einzelner Tore oder Türme zu nennen – Ausdruck eines nostalgischen Verlustempfindens, das das Verlorene wiedergewinnen möchte, aber letztlich selten über Kulissen hinauskommen kann. Die verbreitete Aussage stadtgeschichtlicher Literatur, dass man im 19. Jahrhundert die Stadttore generell als Verkehrshindernisse und die Mauern als Einengung empfunden habe, ist meines Wissens noch nicht vergleichend unAbriss tersucht worden. Immerhin gibt es frühe Dokumentationen solcher Empfindungen wie etwa in Weiden in der Oberpfalz, wo 1803 die Rede war von den „zu hohen Stadtmauern, welche den Ort einkerkerten“, die man dann 320 I. Systematischer Teil
in der Folge abtrug. In den Akten der Zeit dürfte man aber weit häufiger trockene Verwaltungsakte dokumentiert finden, hinter denen eventuelle Gefühlslagen der Bürger oder zumindest ihrer entscheidungsberechtigten Vertreter eher verborgen bleiben. In Fritzlar etwa riss man 1838 die Tore ab und gab eine Begründung zu den Akten, der man entnehmen kann, dass die Bürokratie es inzwischen geradezu als Pflichtverletzung ansah, die „Verkehrshindernisse“ stehen zu lassen. Ein weiteres hessisches Beispiel, Limburg an der Lahn, ist deswegen interessant, weil dort der nüchterne Übergang der Verhaltensweisen von der Heimatforschung gut zusammengefasst wurde. Noch 1808 reparierte man ein Mauerstück, aber nur zehn Jahre später begannen schon Versteigerungen der Türme, Wachhäuser und Mauerzüge; zuletzt brach die Stadt selbst zur Materialgewinnung ab. Ab 1866 / 70 betrieb dann die preußisch geprägte Verwaltung in ganz Nordhessen systematisch den Abriss der Stadttore – mit spürbarem Erfolg, denn heute findet man dort fast keine mehr. Einen Sonderfall bildeten jene Städte, die neuzeitliche bzw. bastionäre Befestigungen besessen hatten, denn bei ihnen gab es in der Regel keinen allmählichen Verfall der Mauern und Türme. Vielmehr waren diese meist schon beim Bau der Bastionen stark in Mitleidenschaft gezogen worden; oft verschwanden sie unter den Erdwällen, die Türme wurden häufig gekappt. Im aus heutiger Sicht günstigsten Falle entstand die neuzeitliche Umwallung nicht auf, sondern vor den Mauern und diese wurden als Absperrung der Festungswerke gegen die eigentliche Stadt teilweise erhalten. Auch in diesem Falle verschwanden sie jedoch fast immer bei der Schleifung der Festung, und zwar einfach deswegen, weil sie im Bewusstsein der zuständigen Administration gar nicht von den Festungswerken unterschieden wurden, sondern einfach als deren Teil galten. Zwischen dem mittleren 18. Jahrhundert und dem mittleren 19. JahrhunDenkmalschutz dert war – diese Sicht drängt contra Stadtplanung sich im Rückblick auf – im Umgang mit den Stadtmauern praktisch alles möglich, sodass ein Bild von extremer Widersprüchlichkeit entstand. Neben Vernachlässigung, Verkauf auf Abriss und mi-
litärisch begründeter Schleifung gab es andererseits durchaus noch Restaurierungen aus ästhetischen Gründen und schließlich, ab den 1820er / 30er Jahren, auch erste Regungen eines Denkmalbewusstseins zumindest bei manchen Fürsten. Um 1800 wurde in Teterow in Mecklenburg die stadtseitige Spitzbogenöffnung des „Rostocker Tores“ mit einem neugotischen Blendmaßwerk gefüllt (Abb. 508) – traditionelle Verbundenheit mit dem Symbol städtischer Freiheiten oder schon frühes Aufblitzen eines Denkmalbewusstseins? Man denkt an das „Nauener Tor“ in Potsdam, eines der frühesten Beispiele von Neugotik außerhalb Englands (Johann Gottfried Büring, 1754 / 55) – aber was soll die Residenz Potsdam mit dem Landstädtchen Teterow zu tun gehabt haben? In Bayern erlaubte Kurfürst Maximilian zur gleichen Zeit den Abriss der Mauern und die Verfüllung der Gräben, aber schon 1826 untersagte König Ludwig I. per Dekret den Abriss der Mauern von Dinkelsbühl und anderer bayerischer Stadtbefestigungen. Seine Begründung spiegelte allerdings nicht nur ein Geschichtsempfinden, sondern auch die Angst vor den tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen der Epoche. Er hoffte nämlich, „dass die Historie ein spezifisches Gegengewicht wider revolutionäre Neuerung und wider ungeduldiges Experimentieren sei – wer seinen Sinn ernst und würdig auf die Vergangenheit richte, sei nicht zu fürchten in der Gegenwart“. Eine preußische Kabinettsordre von 1830 beabsichtigte Ähnliches, in der Folgezeit unterstützt durch entsprechend ausgerichtete Gesetze mehrerer Ministerien. Die Geschichtsschreibung der deutschen Denkmalpflege neigt ein wenig dazu, die frühen königlichen und landesfürstlichen Anordnungen zum Schutz von Baudenkmälern hoch zu bewerten, ohne dabei die Frage nach der Wirksamkeit im Alltag allzu scharf zu stellen. Fraglos gab es in den folgenden Jahrzehnten Einzelfälle, in denen Zuschüsse der Verwaltung die Erhaltung oder Restaurierung eines Einzelbaues förderten, aber die grundsätzliche Entwicklungstendenz ging doch klar in eine andere Richtung, die durch die Industrialisierung und den damit verbundenen Aufstieg eines wirtschaftlich kraftvollen Bürgertums bedingt war.
Abb. 258 Lübeck, „Holstentor“. Die Inschrift „Concordia domi, foris pax“ (innen Eintracht, außen Frieden) wurde erst 1871 angebracht, als verkürztes Zitat einer Inschrift auf einem abgerissenen Tor der Bastionärbefestigung. Spätestens zu dieser Zeit wurde das „Holstentor“ zum wichtigsten Symbol der Stadt.
Zwar stand das Bürgertum des beginnenden Industriezeitalters den mittelalterlichen Baudenkmälern nicht a priori ablehnender gegenüber als die Landesherren des frühen 19. Jahrhunderts, aber der romantisch und traditionell geprägte Vergangenheitsbezug der Letzteren hatte spätestens nach 1848 keine Chance mehr gegen die dynamische Entwicklung der Städte und ihrer architektonischen Gestaltung. Zwar wollte auch das reich werdende Bürgertum weiterhin bestimmte Bauten als Geschichtssymbole erhalten; bis heute beeindruckt etwa die städtebauliche Freistellung des 1863–71 restaurierten und erst damals „concordia domi, foris pax“ beschrifteten Lübecker „Holstentors“ (Abb. 258). Aber weitaus stärker und zerstörerischer wirkte die zunehmende Entwicklungsdynamik der Städte – durch Stadterweiterungen, Industrieanlagen, Bahnhöfe vor den Befestigungen usw. wurden die verbliebenen Mauern und Tore endgültig zu Verkehrshindernissen. Es ist gewiss kein Zufall, dass man gerade im Ruhrgebiet und in Sachsen, zwei früh und intensiv industrialisierten Regionen, heute nur noch wenige Reste von Stadtmauern findet. Bis zur Jahrhundertmitte, als die Ausdehnung der Städte erst schwach einsetzte, sah man die Fläche der Mauergassen, Mauern, Gräben und äußeren Grabenstraßen, insbesondere aber von bastionären Befestigungen manchmal als Möglichkeit, Grünanlagen bzw. „Promenaden“ um den eng bebauten Stadtkern zu legen. Das ge2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
321
schah etwa in Greifswald, wo sich die Festungswerke im Siebenjährigen Krieg als sinnlos erwiesen hatten, mit ersten Planungen schon ab 1769 und der Umsetzung ab 1782. Es entstanden Promenaden unter Baumreihen, später auch Baumschulen, ein botanischer Garten, ein dendrologischer Lehrpfad usw.; die Weiterentwicklung bis
heute ist in einer Studie von 2008 detailliert dargestellt. In Dresden plante François de Cuvilliés 1755 einen Parkgürtel und eine breite Allee auf den Festungswerken des 16. Jahrhunderts, die aber nicht verwirklicht wurden. Ein bedeutendes Beispiel ist auch der Braunschweiger Landschaftsgarten auf den zur Hügel-
Abb. 259 Braunschweig, eines der wichtigen Beispiele für die Umgestaltung bastionärer Wallanlagen zu Gärten, an der ab 1803 u. a. Peter Josef Krahe mitwirkte (Plan von F. von Heinemann, 1836; Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Sp_Braunschweig 1836).
322 I. Systematischer Teil
Abb. 260 Josef Stübben, Planung für Köln, vor 1881. Um die hellgrau angelegte Altstadt, deren Mauer weitgehend abgebrochen wurde, wurde ein weiterer Ring neuer Wohnquartiere gelegt, deren Rückgrat ein „Ring“ verschieden breiter Alleen ist (J. Stübben, Handbuch der Architektur, Tl. 4, 9. Halbbd.: Der Städtebau, 1907).
landschaft überformten Resten der Bastionen (Peter Joseph Krahe, 1803–23; Abb. 259); ähnlich ist Lübeck zu beschreiben, anderswo begnügte man sich mit Alleen und Grünanlagen auf den Wällen oder verfüllten Gräben, etwa in Naumburg oder Meiningen. Solchen Entwicklungen, die in Frankreich schon weit früher einsetzten, entstammt der Begriff „Boulevard“ für eine repräsentative, baumbepflanzte Straße (Bollwerk = französisch „boulevard“). Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des späten 19. Jahrhunderts traten aber gänzlich neue und durchaus repräsentativ gestaltete Außenquartiere der nun erst so bezeichneten „Altstadt“ gegenüber. Dadurch erhielt der Bereich der Befestigungsanlagen eine vollkommen neue Funktion und Wertigkeit. Hatte er bisher die Stadt rigide begrenzt und in sich abgeschlossen, so musste er nun eine Verbindungsfunktion zwischen alten und neuen Stadtteilen übernehmen, also eben dort „Öffnung“ gestalten, wo bisher funktional und ästhetisch „Abschluss“ stattgefunden hatte. Dass dies weiterhin und in noch verstärktem Maße Abbrüche von Stadtmauern und insbesondere – nämlich an den weiterhin genutzten Ausfallstraßen – Zerstörungen von Stadttoren bewirkte, liegt auf der Hand. Denkmalpflege im Sinne der Erhaltung von Teilen der Stadtbefestigung hatte im Zusammenhang dieser Entwicklungen im Grunde nur zwei Chancen von freilich ganz verschiedener Art. Einzelbauten konnten als gestalterische
Elemente eingesetzt werden, wenn Stadtväter und Stadtplaner eine Vorstellung von ihrer historischen Aussagekraft entwickelten, sie also als „Denkmäler“ sahen, oder sie konnten einfach deswegen erhalten bleiben, weil die wirtschaftliche Dynamik der Stadt eben nicht ausreichte, um sie mit sich fortzureißen. Diese Thematik, die natürlich ein ungeheures, schon 1912 von Adolf Zeller gesichtetes Material bietet, sei hier an nur drei Beispielen erläutert, die alle, jeweils auf ihre Art, bedeutende Zeugnisse ihrer Epoche sind: Köln, Wien und Rothenburg ob der Tauber. Die Kölner Neustadt wurde, nach weitgehendem Abriss der Stadtmauer, 1881–89 vom Stadtbaumeister Josef Stübben geplant und realisiert. Während die Neubebauung auf dem ehemaligen Rayon entstand, gestaltete Stübben den Bereich der Gräben und Wälle zu einer nach deutschen Dynastien benannten, fast 6 km langen Ringstraße, die das repräsentative Rückgrat der neuen Quartiere bildete (Abb. 260). In ihre bewusst abwechslungsreiche Gestaltung mit Plätzen und unterschiedlichen Straßenbreiten, die bereits von Zeitgenossen gelobt wurde, bezog Stübben auch drei erhaltene Stadttore ein („Eigelstein-“, „Hahnen-“ und „Severinstor“ [Abb. 418, 107, 99]) sowie den „Wahrzeichenturm“, den „Bayenturm“ am Rhein. Stübben, der in seinem 1890 erschienenen Lehrbuch Der Städtebau den aus angeblichen Forderungen des Verkehrs und „künstlerischer Unkenntniß“ resultierenden Abriss vieler Tor2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
323
bauten bedauerte, führte die neuen Straßen beidseitig an den Toren vorbei, was sie entgegen ihrer ursprünglichen Funktion zwar als Einzelmonumente frei stellte, aber immerhin ihre Erhaltung sicherte. Er knüpfte dabei an ein offenbar schon vorhandenes lokales Bewusstsein an, das mit der Vollendung des Domes zu tun haben dürfte (1823–80); der Dombaumeister Zwirner hatte schon um 1860 auch die Torturmreste im nahen Lechenich restauriert. Zu den wichtigsten Vorbildern von Köln gehörte die Wiener „Ringstraße“, die als kaiserliche Planung in der Hauptstadt Österreich-Ungarns allerdings noch weit anspruchsvoller gestaltet wurde. Nach der Schleifung der Bastionen, 1857 von Franz Joseph I. befohlen, wurde der Straßenzug 1864 / 65 angelegt und dann wurden bis in die 1880er Jahre die meisten seiner Repräsentationsbauten errichtet (Abb. 261). Um die Hofburg gruppieren sich die kulturellen Institutionen Oper, Museen und Burgtheater, im Anschluss die städtischen und staatlichen Bauten: Rathaus, Parlament und Universität; der Ausbau zog sich bis knapp vor dem 1. Weltkrieg hin. Im Gegensatz zu Köln belegt die Wiener Ringstraße, dass die Erhaltung von Stadtmauerresten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs Stan-
dardrepertoire der Gestaltung derartiger Projekte war. Nicht nur die Bastionen wurden abgetragen oder in Resten verbaut, sondern auch die Tortürme des 13. Jahrhunderts, die beim Abriss kurz zum Vorschein kamen, verschwanden sang- und klanglos; fraglos waren ihre Stümpfe, etwa im Vergleich mit Köln, nicht mehr repräsentativ genug, vielleicht auch zu sehr Symbol städtischer Freiheit, um in ein kaiserliches Projekt zu passen (Abb. 281). Wenn man den beiden berühmten Großplanungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nun Rothenburg ob der Tauber als ähnlich berühmtes Beispiel einer bis heute nahezu vollständig erhaltenen mittelalterlichen Stadtbefestigung gegenüberstellt (Abb. 262), dann belegt das keineswegs, wie man vielleicht denken könnte, das Wirken eines zur gleichen Zeit schon hoch entwickelten Denkmalbewusstseins. Vielmehr war Rothenburg, das schon ab dem 15. Jahrhundert nicht mehr mit Zentren wie Nürnberg, Würzburg oder auch Ansbach konkurrieren konnte, im 19. Jahrhundert in eine wirtschaftlichen Randlage geraten, die durch den Verlust seines halben Territoriums 1810 nochmals verschärft wurde. Nachdem sie auch erst verspätet Eisenbahnanschluss erhielt – 1873 bzw. sogar
Abb. 261 Wien mit den Bastionen des 16. Jahrhunderts und dem frei gehaltenen Glacis (links), und mit den Bauten der Ringstraße, die nach der Entfestigung ab 1857 / 58 auf dieser großen Fläche entstanden (L. Benevolo, Die Geschichte der Stadt, 2000).
324 I. Systematischer Teil
Abb. 262 Rothenburg ob der Tauber, die äußere Mauer nördlich des „Rödertores“, mit dem vorgelagerten Zwinger. Der Graben ist teilweise aufgefüllt.
erst 1905 –, stagnierte die Stadt gerade in der Phase, in der anderswo die Befestigungen der explosiven Ausdehnung des Stadtgebietes zum Opfer fielen. Die Mauern haben in Rothenburg also letztlich deswegen überlebt – und ähnlich in den kaum weniger berühmten Nachbarn Dinkelsbühl und Nördlingen –, weil diesen Städten gerade in der „gefährlichsten“ Phase der Entwicklung, als dynamische Erneuerung auf ein noch kaum entwickeltes Denkmalbewusstsein traf, die Kraft zu umfassender Erneuerung ihrer Bausubstanz fehlte. Man darf diesen Fall der Erhaltung durch fehlende Kraft zur Zerstörung sicher nicht verallgemeinern – etwa das nahe Nürnberg nahm eine frühe und kraftvolle industrielle Entwicklung und erhielt trotzdem große Teile seiner Mauer, offensichtlich als Ausdruck stolzen Geschichtsbewusstseins. Aber ein herausragender Fall wie Rothenburg belegt doch, dass es oft keineswegs Bewusstsein, sondern vielmehr glückliche Zufälle waren, die Stadtmauern oder Teile von ihnen bis in unsere Zeit bewahrten.
2.3.3. Stadtmauern heute Heute sind die deutschen Stadtmauern – seien sie nun als seltene, weitgehend vollständige Ensembles oder eher in isolierten Einzelbauten erhalten – ein selbstverständlicher Teil des archi-
tektonischen Erbes, das nicht nur von staatlichen Institutionen geschützt wird, sondern auch im Bewusstsein der Bürger einen relativ gesicherten Platz hat. Sieht man von den Grundsatzproblemen der Denkmalpflege einmal ab, die mit der Rolle von „Kultur“ in der modernen Gesellschaft zusammenhängen, könnte man also meinen, dass weitere Verluste des überkommenen Bestandes heute nicht mehr zu befürchten seien. Jedoch ist es in der Praxis nicht ganz so einfach. Zwar wird heute, von seltenen Ausnahmen abgesehen, niemand mehr einem deutlich erkennbaren Teil einer mittelalterlichen Stadtmauer bewusst Schaden zuzufügen. Aber keineswegs alle erhaltenen Reste sind leicht erkennbar und dort, wo im entscheidenden Moment den zuständigen Behörden oder einem durchaus gutwilligen Grundstückseigentümer die nötige Information fehlt, können auch heute noch umfangreiche Teile einer Stadtmauer zerstört werden, ohne dass dies überhaupt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt. Denn Stadtmauern sind oft schwer erkennbar in die dichte Bebauungsstruktur der Stadtkerne integriert und damit gut verborgen. Werden nun größere Neu- oder Umbauten geplant, so entwickelt der Abriss gemeinhin eine Dynamik, die das Erkennen älterer und wertvoller Bausubstanz fast immer verhindert. Entscheidend ist dabei, dass Bauen stets unter 2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
325
hohem Zeit- bzw. Finanzdruck stattfindet, sodass Spezialisten, die erst während des Abrisses den Wert eines Bauteiles feststellen, kaum noch eine Möglichkeit haben, das einmal angelaufene teure Geschehen noch zu stoppen. Eine Untersuchung stark in jüngere Bebauung integrierter, denkmalwerter Bausubstanz ist daher in der Praxis nur dann möglich, wenn die Kenntnis erwartbarer Befunde weit vor Beginn der Arbeiten in den Planungsprozess eingebracht wurde. Das aber setzt nicht nur Forschung voraus, sondern auch eine verständliche Vermittlung der Erkenntnisse an Nichtfachleute wie städtische Verwaltungsbeamte, Investoren und Bauunternehmer; die wissenschaftlich selten befriedigenden, primär auf leichte Benutzbarkeit zielenden „Denkmaltopographien“ sind ein Schritt in diese Richtung. Wenn es dennoch bis heute vorkommt, dass unerkannte Reste etwa von Stadtmauern Baumaßnahmen zum Opfer fallen, so liegt das zwar einerseits am immer noch oft fehlenden Bewusstsein vom Wert solcher Relikte, aber noch mehr wohl Abb. 263 München, das „Talburgtor“, das im 15. Jahrhundert erneuerte Osttor der ältesten Ummauerung, und das 1470–80 daran angelehnte Rathaus, die kriegszerstört waren, wurden nach dem 2. Weltkrieg wiederhergestellt bzw. 1971–74 neu errichtet (Thomas Wolf, www.foto-tw.de).
326 I. Systematischer Teil
an Vermittlungsproblemen sowie, was solche Wirkungen allemal verstärkt, an der fast immer schwierigen Finanzsituation der öffentlichen Hand, von der in der Regel die Finanzierung von Denkmalpflege erwartet wird. Vor diesen Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick als Widerspruch, wenn in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in manchen Städten Tore oder Türme wieder neu errichtet wurden, die seit Langem nicht mehr existierten. Bei genauer Betrachtung zeigt sich in solchen Fällen fast immer eine nostalgisch eingefärbte Sehnsucht nach Symbolen einer vergangenen, als besser interpretierten Zeit, der Wunsch im Grunde nach einem Tilgen zerstörerischer Einzelereignisse oder Epochen der Geschichte – und als Symbole sind Türme nun einmal brauchbarer als noch so sorgfältig präparierte, aber vom Zahn der Zeit dennoch deutlich geschädigte Mauerreste. Insoweit kann man sogar sagen, dass die Wiederaufbauten der jüngsten Vergangenheit sich durchaus noch in denselben Gleisen wie bereits das Mittelalter selbst bewegten, nur dass die entfallene Hauptfunktion der Mauern heute eine Beschränkung auf die symbolträchtigen Türme zulässt. Einige Beispiele seien zum Abschluss angesprochen. In München entstand 1971–74 der Turm des „Talburgtors“ der ältesten Stadtmauer neu, der nach Kriegszerstörung gesprengt worden war (Abb. 263). Freilich symbolisierte der Turm schon seit dem Mittelalter die Stadt München in einem noch höheren Sinne, als es ein Tor allein täte, denn bei der Erneuerung des direkt angebauten Rathauses 1392 / 94 war der Torturm zum Rathausturm umgebaut worden. Im Gegensatz zu dieser in mehrfacher Hinsicht zentralen Funktion verfolgte der Neubau des 1876 zerstörten „Illertores“ in Kempten (1990) offenbar allein den Zweck, die Grenze der Altstadt an einer markanten Stelle, unter der „Burghalde“ an der Illerbrücke, wieder deutlicher zu markieren. Versuchten die beiden genannten Beispiele die Architektur ihrer Vorbilder möglichst getreu nachzugestalten, was zu dem typischen „glatten“ Erscheinungsbild solcher Neubauten führte, so gibt es inzwischen auch Versuche, den Regeln moderner Denkmalpflege besser zu entsprechen oder gar die Bauaufgabe in kompromisslos modernen Formen anzugehen.
Abb. 264 Dortmund, „Adlerturm“. Von dem Turm waren nur ausgegrabene Fundamente erhalten, und die Stadtbefestigung von Dortmund ist auch sonst verschwunden. Um sie wieder anschaulich zu machen, entschloss man sich zum Neubau als Museum, der aber auf wenigen Betonstützen über den alten Fundamenten „schwebt“.
Abb. 265 Isny (Baden-Württemberg), der Entwurf von Peter Zumthor (2010) für einen neuen Turm anstelle des ehemaligen Obertores. Der avantgardistische Bau hätte aus Glasbausteinen bestanden und u. a. ein Restaurant und einen Saal für Veranstaltungen aufgenommen. Die Ausführung wurde 2012 in einem Bürgerentscheid abgelehnt.
Ein etwas merkwürdig anmutender Mischling der ersten Art ist der 1992 als Museum neu entstandene „Adlerturm“ in Dortmund (Abb. 264). Erhalten waren nur ergrabene Fundamente, aber offenbar wollte man eine bessere Anschauung der verschwundenen Stadtmauer zurückgewinnen. Diesen Widerspruch löste man so, dass zwar ein massiver, bis zur Dachspitze 30 m hoher Turm neu entstand, der jedoch nicht auf den originalen Fundamenten steht, sondern auf separaten Betonpfeilern berührungslos(!) über ihnen „schwebt“. Wirklich befriedigen kann die Lösung nicht, weil einerseits ein so massiver Baukörper optisch niemals „schweben“ kann und weil andererseits der Spalt zwischen Originalfundament und modernem Aufsatz so schmal und zudem durch Gitter geschlossen ist, dass man ihn leicht übersieht. Bei Weitem interessanter mutete der kühne Entwurf des Graubündener Architekten Peter Zumthor für ein neues Stadttor in Isny im Allgäu an, der aber 2012 in einem Bürgerentscheid abgelehnt wurde (Abb. 265). Auch in Isny standen ursprünglich durchaus traditionelle Gefühle hinter der Planung; der Bürgermeister betonte damals, dass „zu einer freien Reichsstadt […] Türme und Tore“ gehören und dass man durch eine neue Umgehungsstraße nun „die einmalige Chance [habe,] die größte Lücke der Stadtmauer wieder zu schließen“. Der Entwurf Zumthors hatte freilich mit dem 1830 abgerissenen „Ober-
tor“ nur noch die turmartige Dimension gemein. Eher wie ein Ufo war dort ein hoher, dreibeiniger, den rechten Winkel verschmähender, nachts strahlender Baukörper aus Glasbausteinen geplant, der unter anderem eine Bühne und ein Restaurant hätte aufnehmen sollen. Dass der Rekonstruktionsversuch eines mittelalterlichen Tores ohne hinreichende Erforschung auch peinlich missglücken kann, dafür sei zum Abschluss noch das „Neutor“ in Rheinbach genannt. Dort richtete man 1971–72 einen halb ruinierten Eckturm, den „Wasemer Turm“, als Treffpunkt des „Stadtsoldatencorps 1905 Rheinbach“ ein; als aber der Platz im Turm nicht ausreichte, erbaute man 1986 / 87 als Erweiterung direkt daneben einen betont „mittelalterlichen“ Torbau als vermeintliche Rekonstruktion des „Neutores“ – in Unkenntnis der im Namen schon anklingenden Tatsache, dass dieses Tor höchstwahrscheinlich erst im 17. Jahrhundert entstanden war; eine Hinweistafel direkt neben den Neubau versucht nun die Fakten zu klären. Von der Rheinbacher Mauer ist sonst nur wenig Originales erhalten, aber man hat in den 1980er / 90er Jahren den Mauerzug teilweise 50 cm hoch wieder angedeutet, auch mit zwei Mauerschalen. Ein solches akzeptableres, weil zurückhaltendes Verfahren, das das Verschwundene der Anschauung zurückzugewinnen sucht, wurde inzwischen auch anderswo angewendet, etwa im nahen Kempen.
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung
327
3. Zur Organisation von Bau und Verteidigung Es ist noch immer wenig üblich, in Werken, die einen Bautypus behandeln und daher in der Regel von Kunst- oder Architekturhistorikern geschrieben werden, detaillierter auf das einzugehen, was die Schriftquellen zur Entstehung und Nutzung der Bauten sagen. Historiker setzen nun einmal eine ganz andere Methodik ein, um ein ebenfalls andersartiges Material zu analysieren, und die intensive, detailbezogene Zusammenarbeit von Historiker und Kunsthistoriker ist leider bis heute seltene Ausnahme. Auch das
vorliegende Werk kann solchen Beschränkungen nicht vollständig entkommen, aber um es nicht bei der Beschreibung des Baulichen und seiner unmittelbar ablesbaren Funktionen und Entwicklungen zu belassen, soll hier zumindest ein Überblick über die wichtigsten jener Themen gegeben werden, die aus dem rein Baulichen nicht ablesbar sind, aber die Funktionen der Bautypen doch letztlich erst verständlich machen; die Arbeit von Historikern kann dieser Versuch aber sicher nicht ersetzen.
3.1. Organisation und Finanzierung des Baues Wer war der Bauherr einer Stadtbefestigung und wie wurde sie finanziert? Wer entwarf und leitete den Bau, und wie lief er praktisch ab? Im Grundsatz war die Befestigung einer Stadt eine herrschaftliche Aufgabe, wobei allerdings über die Jahrhunderte hinweg recht verschiedene Herrschaftsträger tätig wurden. Ursprünglich besaß nur der König das Befestigungsrecht, aber dies begann sich im 12. / 13. Jahrhundert zu ändern, wie bereits Erich Schrader 1909 dargelegt hat. Zu der Zeit, als die meisten Stadtbefestigungen entstanden, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, war dieses Recht bzw. die umfassender definierte „Wehrhoheit“ weitgehend auf regionale oder gar lokale Mächte übergegangen, also auf Fürsten oder Angehörige des Adels, im Falle freier Reichsstädte und größerer landesherrlicher Städte auch bereits auf die Stadt selbst, das heißt auf ihren Rat. Theoretisch wäre es dem jeweiligen Inhaber der Stadtherrschaft durchaus möglich gewesen, den Bau einer Befestigung einfach zu befehlen, ohne dass er irgendwelche Überlegungen darüber hätte anstellen müssen, welche Möglichkeiten die dafür Herangezogenen in der Realität hatten: ob also ihre Anzahl und Arbeitskraft, ihre Einkünfte, ihre Verfügung über Baumaterial usw. dafür überhaupt ausreichen konnten. Manche frühen Nachrichten erwecken auf den ersten Blick einen entsprechenden Eindruck, wenn etwa 328 I. Systematischer Teil
Heinrich IV. 1106 den Bürgern (nicht etwa dem Erzbischof!) von Köln befahl, drei Vorstädte mit Wällen und Türmen zu befestigen, wenn Landgraf Ludwig II. von Thüringen († 1172) angeblich sechs benachbarte Orte zum Mauerbau in Eisenach zwang (deren erhaltene Teile aber sicherlich meist jünger sind) oder wenn Bischof Otto von Würzburg (1207–23) die Bürger von Karlstadt zum Mauerbau verpflichtete. Indirekter wird die königliche Verfügung über die Stadtbefestigung auch greifbar, wenn Konrad IV. 1251 auf den Abriss eines Mauerteiles gegenüber der Pfalz Mühlhausen verzichtete. In diesen vereinzelten Fällen aus salischer und staufischer Zeit bleibt jedoch immer zu fragen, ob es nicht doch ergänzende, praktische Formen der Unterstützung des hochadligen Stadtherrn gegeben hat, die uns nur nicht explizit überliefert wurden. Auch im Spätmittelalter sind noch lakonische landesherrliche Befehle dieser Art belegbar, wenn etwa Herzog Wratislaw von Pommern 1319 den Mauerbau in Müncheberg fordert und bei Nichterfüllung Strafen androht oder wenn König Sigismund in den 1420er Jahren befiehlt, die Mauern von Bautzen gegen die Hussiten „zu festen und zu bewahren“. Solche scheinbar isoliert im Raum stehenden Befehle waren aber im Spätmittelalter seltene Ausnahmen geworden; aus dieser Epoche verfügen wir vielmehr über eine Fülle von Belegen dafür, dass der Bau zusätzlich zur puren Anweisung
Abb. 266 Mainz, Zinnensteine der Stadtmauer mit Inschriften: Namen umliegender Dörfer, deren Bewohner bei Gefahr in die Stadt fliehen durften und dafür bestimmte Mauerabschnitte zu unterhalten und verteidigen hatten. Die Inschriften, teils auf römischen Spolien, dürften um 1200 entstanden sein (F. V. Arens, Die Inschriften der Stadt Mainz … bis 1650, 1958; die Steine sind überwiegend Kriegsverlust).
durch die Übertragung von Einkünften gefördert wurde; der Eingriff des Stadtherrn beschränkte sich zu dieser Zeit immer stärker auf die reine Erlaubnis bzw. Privilegierung, während die Finanzierung und Organisation des Mauerbaues nun auch deutlich erkennbar auf die Stadtbewohner übergegangen war. Was in der obrigkeitlichen Verfügung über die Schaffung von Stadtbefestigungen gelegentlich greifbar wird, wenn auch solche Ursprünge kaum im Einzelnen beweisbar sind, ist die Funktion von Städten als eine Art „Fliehburgen“. Dass Beteiligung des Umlandes am Mauerbau, der Schutz der BevölkeFliehburgfunktion rung im Frühmittelalter dem König und seinen Beauftragten oblag, vor allem den Grafen, ist bekannt, und dass dazu Fliehburgen geschaffen und unterhalten wurden, ist gleichfalls unbestritten. In der freilich recht isoliert überlieferten sogenannten Burgenordnung Heinrichs I. legte der König 926 fest, dass je ein „Landkrieger“ (agrarius miles – waffentragender Bauer) für acht andere Wohnmöglichkeiten in diesen Fliehburgen schaffen sollte, die ihn im Gegenzug zu
versorgen hatten; auch Gerichtstage und Märkte sollten nur in den Burgen stattfinden, denen damit gewisse zentrale, bereits auf Städte verweisende Funktionen zugewiesen wurden. In späteren Zeiten findet man nur noch indirekte Hinweise auf derartige Schutzfunktionen der Stadt(mauern) für Bewohner des Umlandes. Welche Rechtsgrundlagen es für solche beidseitigen Verpflichtungen gab, bleibt in der Regel offen und eben dies wird gern als Indiz genommen, dass es sich um ein „uraltes Herkommen“ gehandelt hat. Besonders die nicht ohne Grund in diesem Zusammenhang oft angeführte „Fron“ ist höchstens über ihre Nebenkosten zu belegen; ihre dennoch durchaus hohe Bedeutung dürfte die Fron, wegen der fehlenden Ausbildung der meisten Betroffenen, vor allem beim Materialtransport und bei Erdarbeiten gehabt haben. In diesem Sinne verstand die Forschung insbesondere die „Mauerbauordnungen“, die etwa aus Worms, Ladenburg, Mainz und Bingen bekannt sind – also durchweg Städten mit römischer Wurzel –, wobei freilich nicht nur das belegbare Alter der Texte sehr unterschiedlich ist, sondern in vieler Hinsicht auch diese selbst (Gerold Bönnen). Dementsprechend wird der Wormser Text, der Bischof Tietlach (um 891–914) zugeschrieben wird, heute als jüngeres Kompilat angesehen, während die ebenfalls ins 9. Jahrhundert gehörende „Mauerbaupflicht“ – Transport von Baumaterial – von fränkischen Königsleuten zu der römischen Mauer von Ladenburg und der frühmittelalterlichen Fliehburg „Heidenlöcher“ bei Deidesheim bisher der einzige Text ist, der eine römische Stadt und eine mittelalterliche Fliehburg nebeneinanderstellt. Auch in der Koblenzer Kastellmauer durften zur Zeit der Normanneneinfälle, wohl entsprechend einem königlichen Mandat von 1018, die Bewohner aller Orte bis Kaub am Rhein und Cochem an der Mosel Zuflucht suchen und waren auch zur Instandhaltung verpflichtet; ein Inschriftenstein bestätigt dies (während beim Koblenzer Mauerbau im späten 13. Jahrhundert alle entsprechenden Indizien fehlen). Ähnlich waren in Mainz 34 Ortschaften zur Pflege bestimmter Abschnitte der im Kern noch römischen Mauer verpflichtet; dort erhaltene Zinneninschriften werden auf etwa 1200 datiert und geben neben dem Ort offenbar die Anzahl der zu pflegenden Zinnen an 3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
329
(Abb. 266). In Boppard belegen Inschriften, dass Oberwesel und Niederlahnstein Zollbefreiung dafür genossen, dass sie dort Türme gebaut hatten, wie vielleicht auch Koblenz den nach der Stadt benannten Turm. Schließlich hält eine gleichfalls noch romanische Inschrift in Speyer fest, die Gemeinde Mutterstadt sei an den Kosten der Zinnen beteiligt. Dass die Umlandbewohner im Gegenzug zu ihren Pflichten in Kriegszeiten in die Stadt fliehen durften, ist in den letzteren Fällen unbelegt, darf aber unterstellt werden. Auch die Binger Mauerbauordnung, 1552 in einem Ratsprotokoll überliefert, bestand im Gelübde von 32 benachbarten Orten, der Stadt mit Bewaffneten beizustehen, wenn sie in Zeiten der Not dazu aufgefordert würden. 1498 beginnt man in Duderstadt einen weitgedehnten Wall um die Vorstädte, der noch heute fast nur Wiesen umfasst; daran arbeiteten überwiegend die
Abb. 267 Köln in den Befestigungen der Zeit zwischen 1180 und den 1220er-Jahren. Die Klöster nahe der neuen Mauer und bestimmten Stadttoren, die sich teils auch in den Bauformen der Tore spiegeln, sind hervorgehoben, nur die erhaltenen Tore namentlich bezeichnet (G. Binding / B. Löhr, Kleine Kölner Baugeschichte, 1976, mit Eintragungen von Th. Biller).
330 I. Systematischer Teil
Bauern der Ratsdörfer. In Chemnitz wurde 1331 festgelegt, dass die Hörigen des dortigen Klosters, die der Stadt „helffen umbzewnen“, nicht nur in der Stadt zollfrei sein sollten, sondern dass sie im Notfalle auch in sie fliehen dürften, bei Überfüllung in den Raum zwischen der Mauer und einem „Zaun“, also einer vorgelagerten, hölzernen Verteidigungslinie. Zusammenfassend kann man bisher nur festhalten, dass es in der Tat gewisse Indizien für eine frühmittelalterliche (oder noch ältere) Herkunft solcher Beteiligungen der Umlandbewohner am städtischen Mauerbau bzw. ihres Rechts auf Zuflucht in der Stadt gibt, vor allem am Rhein. Andererseits ist jedoch kaum zu klären, ob derartige Regelungen nicht doch erst später geschaffen oder zumindest in neue Formen gebracht wurden. In einer Epoche, die nach heutigen Maßstäben kein funktionierendes Steuer- und Finanzwesen besaß, gab es auch für den König, für Fürsten oder mächtige Adlige kaum Möglichkeiten, kurzfristig in größerem Umfang Geld zu beschaffen. Eine geordnete „Finanzierung“ Mittelbeschaffung war schon deswegen unmögfür den Bau lich, weil die Mächtigen damals wenig Überblick darüber hatten, wer ihnen wann welche Steuern schuldete, weil diese nur schlecht und unregelmäßig eingetrieben werden konnten und weil sie kaum je für die dringendsten Zwecke ausreichten und daher in der Regel, kaum eingegangen, schon wieder ausgegeben waren. Unter diesen Umständen konnte man keinen „Etat“ im heutigen Sinne aufstellen und verwalten, sondern es lag weit näher, den Städten, die bauen sollten oder wollten – also dem stadtherrlichen Vertreter vor Ort, später dem Rat –, Zugriff auf örtlich vorhandene Einkünfte zu übertragen. Der Stadtherr trat also Abgaben aus der betreffenden Region, die ihm zustanden, unter der Bedingung an die Stadt ab, dass sie zum Bau der Befestigung verwendet wurden. Dabei konnte es sich um Einnahmen aus Zöllen oder einer Münze handeln, es kamen Abgaben infrage, die die Bürger der Stadt eigentlich ihrem Herrn hätten entrichten müssen, etwa Hofzinsen, Zahlungen bei Erbfällen oder Bußgelder, sowie schließlich Abgaben, die gesondert steuerpflichtige Körperschaften innerhalb der Stadt, vor allem
Klöster, schuldig waren. In Extremfällen überließ der Stadtherr der Stadt sogar Schenkungen von Grundbesitz oder Rechten, um die städtischen Einkünfte dauerhaft zu erhöhen. Die weitaus üblichste Form der Mittelbeschaffung beruhte jedoch auf einem Hauptmerkmal der Städte, nämlich Markt für ihr Umland zu sein. In diesem Zusammenhang wurden – an den Toren oder auf dem Markt selbst – von den Bewohnern der Umgebung Abgaben erhoben, wenn sie ihre Waren auf den Markt brachten. Dieses „Ungeld“ bzw. „Ungelt“ – in der Bedeutung von „eine Unmenge Geld“ – wurde vor allem auf Getreide, Wein, Bier, Fleisch und Salz erhoben, wobei die Abgaben der an Markttagen besonders besuchten Wirtshäuser auf alkoholische Getränke eine zusätzliche Rolle spielten. Gelegentlich trifft man auch auf Versuche des Stadtherrn, die Bewohner eines Marktes durch indirekte Anreize zum Mauerbau zu motivieren, oft durch die Zusage, ihnen vollständigere Stadtrechte zu gewähren, sobald sie die Mauer fertiggestellt hätten; das ist insbesondere im herzoglichen Bayern ab dem späten 14. Jahrhundert nachweisbar, aber etwa auch in Seßlach in Oberfranken, wo auf das Stadtrecht von 1335 dreißig Jahre später weitere Rechte als Anerkennung für die fertige Mauer folgten, oder in Stolp (Pommern), dem der Herzog bei der Stadterhebung 1310 eine zehnjährige Steuerbefreiung für den Zeitpunkt versprach, wenn die Palisaden fertiggestellt sein würden. In solchen Fällen nahm also der Stadtherr an, dass sich aus solch verbesserten Rechtspositionen für die künftigen Bürger wirtschaftliche Vorteile ergeben würden, die sie zu Anstrengungen motivieren. Ob das dann tatsächlich immer der Fall war, darf man – etwa bei Städten in ungünstiger Verkehrslage – bezweifeln, und in der Tat wurde die Mauer oft trotz solcher Versprechen nicht oder nur extrem langsam fertig (vgl. 2.2.1.5.). Eine letzte, theoretisch denkbare Unterstützung des Mauerbaues durch den Landesherrn, nämlich durch direkte Materiallieferungen oder Abordnung von Arbeitskräften, konnte ich nirgends finden; offenbar überforderte auch dies die Möglichkeiten der Epoche. Betrachtet man nun konkrete Beispiele für die Mittelbeschaffung, und zwar in chronologischer Ordnung, so spielen die Steuern bzw. deren Er-
lass von Anfang an, also schon im 12. / 13. Jahrhundert, eine entscheidende Rolle, aber nicht die einzige. Für die Steuern kann man etwa Regensburg anführen (1230 / 32, nebst Zoll), Göttingen (1232), Murten (1238), Aachen (1257), Einbeck (1264) oder Lechenich (1279) – und natürlich die berühmte staufische Steuerliste von 1241, die einer ganzen Anzahl von Städten Steuernachlässe ad edificia eorum gewährte, also „für ihre Bauten [= Befestigungen]“. Daneben aber findet man beispielsweise auch, dass ein Drittel der erbenlosen Nachlässe ad municionem villae (zur Befestigung des Dorfes) verwendet werden sollten (Diessenhofen 1178), dass das Bußgeld einer Nachbarstadt für einen Turm verwendet wurde (Rüthen 1225), dass der Stadtherr auf den Hofzins verzichtete (Massow / Pommern 1286), dass der Herzog zweckgebunden Güter schenkte (Kitzbühel 1297) oder offenbar doch auch schon Geld (Hannover 1297). Im 14. Jahrhundert spielen die Steuererlässe eine noch größere Rolle, insbesondere in Form des Ungelds, so etwa in Koblenz (1300, für den Graben) sowie in München 1301 und wieder 1319 als dauerhafte Abtretung für die äußere Mauer. In Franken sind die Beispiele für die Zuweisung des Ungelds zahlreich (Dinkelsbühl 1309 und 1372, Königshofen 1315, Schweinfurt 1361, Weißenburg 1372, dort 1434 erneuert und 1442 verdoppelt), auch in Nachbarregionen wie etwa in Nördlingen 1327, in Thüringen (Schmalkalden 1315, Eisfeld 1323, Hildburghausen 1327) oder in Babenhausen 1441. Auch nachdem das Ungeld im 16. Jahrhundert wieder an die Landesherren übergegangen war, wurde es gelegentlich für die Befestigungen genutzt, etwa als Sagan in Schlesien 1573 um Hilfe aus den „Piergeltsgefellen“ bat. Ergänzt man weitere Fälle von Steuerabtretungen, die sich nicht explizit auf ein Ungeld beziehen, so wird klar, dass die Abtretung von Steuern im 14. (und 15.) Jahrhundert beim Stadtmauerbau endgültig zum Mittel der Wahl geworden war (etwa Neustadt an der Donau 1319 / 24; Frankfurt am Main 1333; Kallies 1336 und Dramburg 1338 und 1350, beide in Pommern; Rain / Lech 1359–1416; Creußen 1473). Andere Formen der Förderung gab es zwar auch weiterhin – etwa Abtretung eines Zolles (Amberg 1326, Straubing 1341, Neuburg an der Donau 1347, Lauban / Schlesien 1498) oder des Salz3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
331
Abb. 268 Brandenburg, der „Mühlentorturm“ mit der Inschrift, die seine Erbauung 1411 durch Nikolaus Kraft aus Stettin festhält.
332 I. Systematischer Teil
monopols (Breslau 1331) –, aber sie treten zahlenmäßig stärker zurück als vor 1300. Gelegentlich trifft man auf Belege, dass Klöster innerhalb der Stadt – als selbstständige Körperschaften mit oft hohen Einkünften – für die Errichtung der Stadtmauer herangezogen wurden; das galt auch dann, wenn nicht das Kloster selbst, sondern nur ein Klosterhof in der Befestigung liegen sollte. Dass diese Mauerbaupflicht der Klöster als selbstverständlich galt – und daher wohl viel öfter wirksam wurde, als die Schriftquellen es festhalten –, zeigen Fälle expliziter Befreiung, so schon 1219, als Friedrich II. das Kloster Walkenried von Beiträgen zur Befestigung von Nordhausen befreite, oder in Fritzlar, wo nach einer Zerstörung 1232 nicht nur das Domstift die neue Mauer mitfinanzierte, sondern fünf Jahre später auch die Franziskaner Baugelände „vom Tor bis zum nächsten Turm“ zugewiesen erhielten; in Koblenz leistete der Deutschorden eine Zahlung für die Mauer um seinen Bezirk. In Vilshofen wurden 1320 gleich drei Klöster von der Mauerbaupflicht befreit. Ein andersartiges Indiz für solche Zusammenhänge findet man in Köln, wo die spätstaufischen Tore ähnliche Schmuckformen aufwiesen wie die nahe hinter ihnen liegenden Klöster, die fraglos zu deren Bau herangezogen wurden (Abb. 267). Im Backsteingebiet gibt es Hinweise auf die Beteiligung von Klöstern etwa in Stettin, wo die Franziskaner die Mauer 1318 im Bereich des Klosters selbst errichten mussten, oder in Stargard (Pommern), wo sich der Rat mit den Augustiner-Eremiten um die Mauer stritt. 1484 finanzierte das Meißener Franziskanerkloster den Bau eines nahen Bollwerks. Was dagegen von der Legende zu halten ist, Herzog Heinrich III. von Schlesien († 1266) habe die Johanniter beauftragt, die (weitgehend verschwundene) Mauer von Striegau zu bauen, bliebe zu prüfen. Weißenburg in Bayern schließlich bietet ein letztes Beispiel für die Verquickung städtischer und kirchlicher Institute beim Mauerbau: Offenbar hatte die selbstständige, aber vom Magistrat verwaltete Kirchenstiftung im späten 14. Jahrhundert den Bau der Mauer um eine Stadterweiterung finanziert, denn noch Anfang des 19. Jahrhunderts unterhielt sie deren 16 Türme. Dass einzelne Bürger bzw. Familien des Patriziats ein bestimmtes Bauwerk der Befestigung
stifteten – so wie sonst etwa Fenster in der Pfarrkirche –, konnte ich nur sehr selten im spätesten Mittelalter finden. 1492 stiftete etwa der Patrizier Heinrich Bart in München die Barbakane am „Neuhauser Tor“, ein Jahr später finanzierten die Familen Gremp und Aschmann in Vaihingen an der Enz ein Rondell samt seiner Bewaffnung (Abb. 84). Und als der Bergbauunternehmer Ulrich Erckel 1541–56 die Mauer von Marienberg im Erzgebirge auf eigene Kosten errichtete, war deutlich erkennbar eine neue Phase der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung erreicht. Fraglos waren die reichen Familien der Städte schon lange an dem Bau und der Instandhaltung der Mauern stark beteiligt gewesen; neu war um und nach 1500 wohl nur, dass sie ihren Betrag nicht mehr bescheiden als namenlose Bürger leisteten, sondern dass nun „Frühkapitalisten“ begannen, eine Art Imagepflege zu betreiben. Wer im Mittelalter Bauten entworfen, ihre Errichtung überwacht und die Abrechnung erstellt hat – wer also, in heutiger Begrifflichkeit, ein „Architekt“ war –, ist vor allem für die Zeit der Romanik kaum zu beantworten. In der großen Mehrzahl der Fälle schweigen die Quellen zu diesem Punkt, in anderen ist es umstritten, welche Funktion die erwähnten Persönlichkeiten wirklich hatten, ob sie nur Bauverwalter – in Deutschland ab dem 13. Jahrhundert operarius – oder Quellen zu Planung, Bauleitung, Abrechnung wirklich Architekten waren, das heißt Entwerfer bzw. Planer. Bei großen Sakralbauten werden erst in der Gotik Baumeister greifbar, die von der Ausbildung her in erster Linie Steinmetzen waren, deren Fähigkeiten aber weit darüber hinausgingen. Ihr Berufsbild einfach auf die Bauaufgabe „Stadtmauer“ zu übertragen, verbietet sich aufgrund des ganz anderen Charakters der Bauten und ihrer Gestaltung; dass der Leiter eines großen Kirchenbaues „nebenbei“ auch eine weit weniger anspruchsvolle Stadtmauer betreut haben kann, sei damit aber nicht ausgeschlossen. 1229 sollte ein Konverse des Zisterzienserklosters Himmerod das leider verschwundene „Untertor“ in Zell an der Mosel erbauen. Dass Konversen ordensfremde Bauaufträge übernahmen, ist auch sonst belegt; interessant ist aber, dass hier nur ein Tor beauftragt wurde, also der
formal anspruchsvollste Teil einer Mauer, nicht diese in ihrer Gänze. Bald nach 1230 erfahren wir, dass König Wenzel I. von Böhmen seinen (deutschstämmigen) Münzmeister beauftragte, das Straßenraster und den Mauerverlauf der Prager Altstadt zu planen, eine Aufgabe, die – in modernen Begriffen – „Stadtplanung“ war und hier einem spezialisierten Techniker oder gar „Bürokraten“ übergeben wurde, keinem „Architekten“. Der 1251 in Mühlhausen / Thüringen genannte „magister muri“ gilt als der erste speziell für die Mauer zuständige städtische Beamte, der im deutschen Raum überliefert ist. In Koblenz, wo als große Ausnahme Rechnungen des Mauerbaues erhalten sind, verwalteten in den 1270er / 80er Jahren zwei von der Stadt und dem finanziell beteiligten Klerus gestellte Beamte die aus Ungeld gespeiste Baukasse. Nach 1356 traten in Basel die „Fünferherren“ auf, eine Art städtische Baubehörde, die in Zusammenarbeit mit Bischof und Rat für die Stadtmauer verantwortlich war. Im Spätmittelalter führten dann die Anforderungen aus dem Bauwesen, bei dem die Mauer eine zentrale Rolle spielte, nach Gerhard Fouquet sogar „zur Formierung eines die gesamte Gemeinde durchdringenden Steuerwesens, zum Aufbau der städtischen Verwaltung“. Mindestens bis ins 13. Jahrhundert hinein hatten also, so wird man schließen müssen, die Verwalter der Baukasse eine weit bessere Chance, in Schriftquellen genannt zu werden, als die Planenden und Bauenden im engeren Sinne; die Bauhandwerker sind ohnehin nur indirekt zu fassen, wenn etwa in Basel 1248 eine Zunft der Maurer, Putzer und Zimmerleute erscheint, deren Rolle beim Stadtmauerbau man nur vermuten kann. Erst nach 1400 – inzwischen ging es freilich eher um Ergänzungen vorhandener Mauern, kaum um völlige Neubauten – werden in Urkunden und Rechnungen wirkliche Architekten namentlich erwähnt; neben der reichlicheren Erhaltung der Quellen dieser Zeit dürfte dafür auch die gestiegene Wertschätzung des einzelnen Künstlers verantwortlich gewesen sein. Eines der besten Beispiele ist der 1400–1428 neu erbaute „Eschenheimer Turm“ in Frankfurt am Main, der fraglos aus repräsentativen Gründen anstelle eines älteren Tores erbaut wurde; auf dem quadratischen Sockel entstand erst nach einem Baumeisterwechsel 1426–28 ein gut proportionierter, erker3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
333
gezierter Rundturm (Abb. 131). Entwerfer war Madern Gerthener, der auch den Frankfurter Domturm gestaltet hatte und einer der kreativsten Baumeister und Bildhauer der Spätgotik im Rhein-Main-Gebiet war; ein weiteres Frankfurter Beispiel ist Eberhard Friedberger, der 1455–56 den „Rententurm“ beim Saalhof erbaute. Im Backsteingebiet mit seinen generell späteren Bauten ist neben Nicolaus Kraft aus Stettin, der 1411 den „Mühlentorturm“ in Brandenburg baute (Abb. 268), vor allem Steffen Boxthude zu nennen, der um 1450–70 schmuckreiche und erst wenig für Artillerie adaptierte Tore in Stendal, Werben und Tangermünde baute (Abb. 487, 101, 156); obwohl er auch an Kirchen arbeitete, etwa in Stendal und Berlin, ist er damit der erste bekannte Baumeister in Deutschland, der auch eine gewisse Spezialisierung für Stadttore entwickelte. 1483 baute ein „Meister Urban“ in Abb. 269 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), eine Fuge zeigt am „Rödertor“, dass der mit Buckelquadern verkleidete Turm zunächst isoliert entstand und dass die Mauer erst nachträglich dagegengestoßen wurde.
334 I. Systematischer Teil
Liegnitz Basteien, ebenfalls eine Premiere in den Quellen, denn dies ist der meines Wissens erste namentliche Beleg für einen Baumeister, der in einer Stadt kein Tor, sondern einen reinen Wehrbau errichtete. Wenig später folgte ihm Nickel Krantz, Maurer aus Frankenhausen, der 1508 auf Befehl des Landesherrn die Mauer von Kindelbrück begann. Wie der Bau einer Stadtmauer im Einzelnen ablief bzw. wie sich der Baubetrieb gestaltete, gehört ebenfalls zu den Themen, auf die nur ganz gelegentlich ein Schlaglicht geworfen wird, weil Derartiges nach dem Verständnis der Epoche normalerweise nicht schriftlich festgehalten werden musste; nur dort, wo obrigkeitliches Eingreifen stattfand oder wo Rechtsprobleme entstanden, hat man die Chance auf schriftliche Dokumentationen, die über pure Abrechnung hinausgehen. So hört man etwa für Zittau, dass Ottokar II. Přemysl den Gründungsakt durch einen Umritt einleitete, auf den dann eine Umzäunung und erst später (1255) eine Ummauerung folgte, die aber schon eine Erweiterung des Stadtgebiets berücksichtigte. Namslau in Schlesien ist einer der bestdokumentierten Fälle für intensives Eingreifen des Herrschers: Karl IV. legte nicht nur selbst den Grundstein zur Mauer, sondern ermahnte die Stadt auch mehrfach, diese zu vollenden, was erst 1415 der Fall war, 37 Jahre nach seinem Tod. Recht anschaulich ist auch der ähnliche Fall von Müncheberg, wo Herzog Wratislaw von Pommern 1319 den Mauerbau forderte und zwar unter Androhung einer jährlichen Strafe, solange sie nicht vollendet war; noch im gleichen Jahr fuhren alle Dörfer im Lande Leubus Steine dafür an. Materialbeschaffung ist auch sonst gelegentlich der Aspekt des Bauvorganges, der in den Quellen erscheint, etwa als Klingnau (Schweiz) 1331 Steine für die Mauer kaufte oder als man in Liegnitz 1345 jüdische Grabsteine pro structura verwendete. Anschaulich ist auch der Fall von Tennstedt, wo Herzog Wilhelm III. von Sachsen beim Mauerbau ab 1448, nachdem er die Mauer abstecken ließ, wegen Rauferei verurteilte Bürger zum Bau heranzog; sie mussten Steine anfahren oder einige Ruten der Mauer bezahlen. Dass auch in der Spätzeit um 1500 noch viel Holz für die Befestigungen verwendet wurde – auch wenn wir nicht wissen, wofür genau –, belegen die in Geldern erhaltenen Rechnungen.
Über den zentralen Aspekt der Baukosten der Befestigung erfahren wir im Mittelalter kaum je etwas. Die erhaltenen Abrechnungen für den Mauerbau in Koblenz (1276–91) haben daher mit Recht frühe Aufmerksamkeit erfahren, in Wesel gibt es ein weniger bekanntes Pendant; leider sind beide Mauern weitgehend verschwunden. Von der Mauer in Sömmerda – einem extremen Spätling (1591–98) – erfahren wir immerhin, dass sie 1925 Gulden, 1 Groschen und 2 Pfennig gekostet hat. Angesichts der allzu begrenzten Aussagen der Schriftüberlieferung gewinnen Beobachtungen am Bau selbst eine hohe Bedeutung für das Verständnis von Planung und Bauablauf der Stadtmauern. Dieses Phänomen gilt ähnlich für alle mittelalSpuren des Bauvor ganges am Bauwerk terlichen Bautypen, tritt hier aber in besonders problematischer Form auf. Denn Stadtmauern sind in der Regel nur in Resten oder in verbautem Zustand erhalten, was die vollständige Erfassung feinerer Befunde sehr erschwert bzw. ein Urteil verhindert, ob es sich bei Einzelbeobachtungen um Üblichkeiten oder um Einzelphänomene handelt. Aus gutem Grund wird in der Literatur oft angenommen, dass Stadtmauern in Abschnitten aufgeführt wurden – sei es in dem Sinne, dass zunächst Türme und Tore entstanden und die Kurtinen nachträglich dazwischengesetzt wurden, sei es in jenem, dass die Mauer als solche abschnittsweise entstand. Nicht nur Baubefunde deuten oft einen solchen Ablauf an, sondern auch Überlegungen zur Verteidigungsfähigkeit der Stadt gehen in dieselbe Richtung. Denn wenn man unterstellt, dass die meisten Städte vor dem Mauerbau schon einfachere Befestigungen besaßen – Wälle, Zäune oder Palisaden (vgl. 2.2.1.2 und 2.2.1.3.) –, so war es zweckmäßig, diese abschnittsweise durch die Mauer zu ersetzen, weil dann nur kurzzeitig begrenzte Lücken im Befestigungsring entstanden. Im Gegensatz dazu erscheint es realitätsfern, den gesamten Mauerring gleichzeitig zu beginnen und hochzuführen; dies hätte die Stadt jahre- oder jahrzehntelang hinter einer nur langsam emporwachsenden Mauer ungeschützt gelassen. Entsprechend solchen Überlegungen, sind Verzahnungen bzw. Baufugen zwischen Mauerabschnitten begrenzter Länge in Stadtmauern
durchaus häufig zu beobachten, so häufig, dass man es wagen darf, die abschnittsweise erfolgende Ausführung tatsächlich für den Normalfall des Stadtmauerbaues zu halten. In der Schweiz wurde aufgrund von Beobachtungen an relativ frühen Mauern (Basel, um 1100; Schaffhausen, spätes 12. Jahrhundert) erwogen, ob nicht zumindest in dieser Frühphase die Parzelleneigentümer jeweils „ihr“ Mauerstück selbst gebaut haben; dort gab es anfangs keine Mauergassen und vor allem in Basel liegen manche Verzahnungen exakt auf den Parzellengrenzen (Abb. 49). Streng genommen, beweist dies aber nur, dass die Bautrupps sich an den Grundstücken orientierten, während Aussagen über Zuständigkeit, Finanzierung und Bauleute davon nicht zwingend abzuleiten sind. Als weitere, durchaus zufällige Beispiele für heute gut erkennbare bzw. näher untersuchte Verzahnungen zwischen Mauerabschnitten sind etwa Zofingen – die Mauer des späten 13. Jahrhunderts zeigt auch entsprechende Wechsel der Mauertechnik und der Rüstlochlagen, Baulose sind belegt – sowie in beachtlichem Umfang die äußere Mauer von Rothenburg ob der Tauber zu nennen. Im brandenburgischen Backsteingebiet, wo die Türme bzw. Wiekhäuser meist gekappt, die Mauern als solche aber großenteils erhalten sind, können etwa Brandenburg selbst, Prenzlau, Wittstock, Gartz und Königsberg (Neumark) angeführt werden, in Schlesien Pitschen; die letzteren Beispiele stammen aus dem 14. Jahrhundert. Beispiele, bei denen man aus Gründen des Verfalls oder der Verbauung heute nur noch ein oder zwei senkrechte Fugen im Mauerverlauf erkennen kann, sind darüber hinaus sehr zahlreich. Bei turmreichen Mauern, die ja erst im 14. / 15. Jahrhundert etwas häufiger wurden, lag es nahe, die Türme, die mehr Material-, Arbeitsund Zeitaufwand erforderten, zuerst isoliert hochzuführen und dann erst die Kurtinen zwischen ihnen einzufügen. Auch die zunächst allein stehenden Türme konnten – eventuell auch in Verbindung mit Zäunen oder Palisaden – bereits eine vorgeschobene Verteidigungslinie bilden; bei einer äußersten Mauer von Rothenburg ob der Tauber, die dann nicht mehr vollendet wurde, sind solche isoliert begonnenen Türme in Resten erhalten. Bei vollendeten Mauern ist die Abfolge Turm – Kurtine heute nur noch gelegentlich gut ablesbar, denn die Verzahnungen an 3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
335
den Turmseiten sind aufgrund des oft schlechten Mauerwerks und häufiger Restaurierungen meist unkenntlich; einige Fälle, die unter diesen Umständen fraglos eine eher zufällige Auswahl darstellen, seien angeführt. Ein sehr schönes, weil weitgehend erhaltenes und unverbautes Beispiel ist die um 1330 / 40–1400 entstandene äußere Mauer von Rothenburg ob der Tauber, wo die Mauer an viele Tor- und andere Türme mit Fuge ansetzt (Abb. 269). In Duderstadt ist archäologisch Entsprechendes für viele der 17 Türme nachgewiesen worden; weitere recht deutliche Fälle findet man etwa, meist nur bei einigen Türmen, in Freiberg / Sachsen (Mauer 1233 erwähnt), Halberstadt (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts), Quedlinburg (nach 1337?), Langensalza (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts) oder Babenhausen (1441 / 45). Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass natürlich auch das durchaus nicht seltene Gegenteil, der nachträglich angebaute Turm, oft noch erkennbar ist (vgl. 2.2.4.3.). Schließlich sei als Beispiel für indirektere Hinweise auf eine mögliche Ausführung in Abschnitten der Fall von Höxter erwähnt. Die dortige Mauer macht nämlich den Eindruck durchaus einheitlicher Entstehung, aber es wechseln turmreiche Partien mit turmlosen ab, ohne dass dafür Gründe direkt erkennbar wären – darf man hier verschiedene Auftraggeber unterstellen, die untereinander kein Gesamtkonzept abgestimmt haben? Es wird kaum noch zu klären sein, aber die Fragestellung macht jedenfalls deutlich, dass abschnittsweise erfolgende Ausführung – aus welchem Grund auch immer – viel häufiger gewesen sein mag, als wir es heute noch schlüssig erfassen können. Nur äußerst selten findet man, zumindest ohne aufwendige Detailuntersuchung, an Stadtmauern Baubefunde, die nicht nur eine abschnittsweise erfolgende Ausführung, sondern auch Planänderungen während der Ausführung erkennen lassen. In Frankenstein in Schlesien begann man, gut erkennbar an diversen Ausführungsabschnitten, die Mauer mit Schieferbruchstein, stellte aber offenbar bald fest, dass die
336 I. Systematischer Teil
Fundamentbögen sich zu verformen begannen. Obwohl man vielleicht nur die Austrocknung des Mörtels nicht abgewartet hatte, führte man das Problem wohl auf das Steinmaterial zurück, denn die Mauer wurde nun mit Backstein vollendet, wobei auch jetzt erst Rundschalen mit Schießscharten hinzugefügt wurden. Rüstlöcher müsste man im Grunde an vielen, wenn nicht allen Stadtmauern erwarten, aber festzustellen sind sie im Grunde nur im Backsteingebiet Brandenburgs und darüber hinaus. Man darf wohl annehmen, dass sie sehr viel verbreiteter waren, aber in dem üblichen Bruchsteinmauerwerk nicht mehr erkennbar sind, nachdem sie verschlossen wurden. Eine gewisse Bestätigung dieser Annahme bieten die recht hohen Feldsteinsockel vieler Backsteinmauern: Sie zeigen nämlich etwa alle 1,30 m horizontale Abgleiche aus Steinsplittern, die offenbar auch hier Gerüstlagen wiederspiegeln, aber die Rüstlöcher selbst kann man nicht erkennen. Nur in seltenen Einzelfällen findet man im Baubestand auch einmal Detailinformationen über einzelne Aspekte des Baubetriebs. Wenn etwa Stadtmauern am Niederrhein in großem Umfang Basalt aus der Eifel verwenden, so zum Beispiel in Köln, Bonn oder Neuss, so zeigt dies die hohe Bedeutung des Materialtransportes auf dem Rhein bzw. generell auf Flüssen. Andere Einblicke werden der Archäologie verdankt, so etwa die Feststellung der Lagerfeuer offenbar jener Arbeiter, die in den 1250er Jahren die Holzbefestigung um das eben gegründete Frankfurt / Oder bauten (Abb. 19), oder der in Einbeck gefundene Mörteltrog, der auf 1271 + / – 10 dendrodatiert wurde. Und in doppelter Hinsicht aussagekräftig ist der Bronzegriffel, der in Erfurt auf dem Fundamentabsatz der Mauer gefunden wurde. Er belegt einerseits, dass beim Mauerbau durchaus Aufzeichnungen genutzt wurden – in Text oder Zeichnung. Andererseits kann der stilistisch als „romanisch“ angesprochene Griffel allein sicher nicht beweisen, dass auch die Mauer noch romanisch war, denn ein solches sicher wertvolles Gerät konnte fraglos über Jahrzehnte benutzt werden.
3.2. Instandhaltung und Verteidigung Die Organisationsformen der Bürger zur Vertei digung ihrer Stadt sind neben den baulichen Resten der zweite Aspekt städtischer Wehrhaftigkeit im Mittelalter, der bis heute anschaulich präsent geblieben ist, denn die Schützenvereine, ihre Aufzüge und Feste spielen in vielen Städten noch immer eine zentrale Rolle im sozialen Geschehen, wobei gewiss vielen Feiernden nicht mehr klar ist, dass die Ursprünge solcher Veranstaltungen im Mittelalter und im blutigen Ernst des Krieges lagen. Die historische Forschung zur städtischen Wehrhaftigkeit, der vielerorts ein reiches Material an Urkunden, Rechnungsbüchern und Chroniken zur Verfügung stünde, war weit überwiegend zwischen etwa 1890 und 1945 aktiv – also zu einer Zeit, als das Militärische noch eher bejubelt als kritisch betrachtet wurde – und sie bezog sich, genauso wie die Forschung zum baulichen Aspekt des Themas, so gut wie immer nur auf einzelne Städte, bestenfalls auf mehrere Städte einer Region, etwa in Schwaben (Saur 1911); dabei findet man detaillierte Darstellungen oft an eher versteckter Stelle, etwa in regionalen Publikationen wie zum Beispiel jener zu Nordhausen in Thüringen oder, viel später, zu Büdingen. Inwieweit die Interpretationen dieser frühen Zeit noch vor den Fragestellungen heutiger Mediävistik Bestand hätten, ist mangels neuerer Arbeiten schwer zu sagen. Einen knappen Überblick mit der wichtigsten Literatur bot Volker Schmidtchen 1985 im Rahmen der niedersächsischen Landesausstellung Stadt im Wandel und 1997 legte Brigitte Wübbecke-Pflüger eine weitere Zusammenfassung vor, aber sonst scheint dieser Forschungszweig heute weitgehend brachzuliegen, insbesondere, was die Erforschung von Einzelfällen betrifft. Das Folgende beruht daher überwiegend auf den Verhältnissen in bestimmten, besser untersuchten Städten – Schmidtchen wählte die Beispiele Osnabrück und Lüneburg, Wübbecke-Pflüger vor allem Köln –, wobei man sich aber bewusst bleiben muss, dass mittelalterliche Städte recht unterschiedlich funktionierten. Angesichts der über Jahrhunderte prinzipiell unveränderten Aufgabe der Stadtverteidigung war deren Organisation einerseits von starken Traditionen geprägt, aber andererseits traten in
der langen Zeit vom 12. bis zum 16. Jahrhundert auch deutliche Veränderungen auf, die durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und (waffen) technische Entwicklungen hervorgerufen wurden. Dabei erschwert hier wie so oft die späte Entwicklung der Schriftlichkeit und des Archivwesens den Einblick in die Verhältnisse der Frühzeit; erst ab dem 14. / 15. Jahrhundert lernen wir immer mehr Details kennen. Da dann aber die Pulvergeschütze und die immer stärkeren Heere, auch der wachsende Reichtum der städtischen Oberschicht, wichtige Änderungen bewirkt hatten, bleibt unsere Kenntnis der frühen Verhältnisse, vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, eher begrenzt. Grundsätzlich sind die Aufgaben der Stadtbewohner bei der Verteidigung zu unterscheiden, einerseits zur Zeit des gewöhnlich herrschenden, aber allemal gefährdeten Friedens, im Verteidigungsfall andererseits. Dass die Bürgerschaft einer Stadt, was durchaus nicht selten war, gegen einen auswärtigen Gegner ins Feld zog, sei hier nur kurz erwähnt, weil die Stadtbefestigung dabei kaum eine Rolle spielte; die Organisationsformen blieben dabei jedoch weitgehend dieselben wie bei der Verteidigung der Stadt selbst. In Friedenszeiten bildete der Wachdienst neben der Instandhaltung der Mauern die Hauptaufgabe. Im Ernstfall eines Angriffes musste dagegen vieles gleichzeitig stattfinden, was detaillierter und eingeübter Organisation bedurfte: vor allem, wie die Alarmierung der Verteidiger funktionierte, wer welchen Abschnitt der Mauern verteidigte und wer innerhalb welcher Hierarchie Weisungen erteilen durfte. Sowohl im Frieden wie im Krieg war wichtig, welche Waffen verwendet wurden und wer für ihre Beschaffung und Pflege verantwortlich war. Zu den späten, durch die explosive Entwicklung der Waffentechnik ausgelösten Tendenzen gehörte schließlich als eigener, hier nur zu streifender Themenbereich die Beschäftigung meist auswärtiger Spezialisten für die Produktion und Pflege von technisch anspruchsvollen (Feuer-)Waffen sowie für den entsprechenden Bau von Geschützstellungen (Rondelle, Bastionen usw.). Solange der König bzw. der Landesherr die Städte noch beherrschte und ihre Befestigung 3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
337
erlauben musste – also mindestens im 12. Jahrhundert und meist bis weit ins 13. Jahrhundert hinein –, darf man sich die organisatorische Struktur der Stadtverteidigung fraglos einfach vorstellen; sie ähnelte sicherlich der einer großen landesherrlichen Burg, so wie man ja auch im Frühmittelalter Zentralorte hinter römischen Mauern unter Vernachlässigung ihrer wirtschaftlichen Sonderfunktionen „Burgen“ nannte (Regensburg, Augsburg, Straßburg und andere). Befehlshaber im Verteidigungsfall war in dieser Frühzeit der Vogt oder Burggraf des Stadtherrn, der diesen auch in Friedenszeiten vertrat, vor allem in der Rechtsprechung oder beim Steuerwesen. Die Stadtbewohner, die im Frieden Handel und Gewerbe, auch bäuerlicher Arbeit nachgingen, wurden im Kriegsfalle zum Fußvolk, ganz wie die Bauern außerhalb der Städte; Reichsstädte mussten so wie Fürsten und andere Vasallen dem König Kontingente für seine Kriegszüge zur Verfügung stellen, manchmal in Anzahl und Weite des Kriegszuges begrenzt, wie in Würzburg schon um 1300. Und auch das (nieder-) adlige Element war, in Form von Ministerialen bzw. „Burgmannen“, wie in den Burgen auch in den Städten präsent; der Vogt oder Burggraf war meist einer von ihnen. Ähnlich manchen großen Burgen besaßen sie dort stattliche Höfe, gern direkt an den Mauern (vgl. 2.2.10.1.), und stellten die Anführer im Belagerungsfall, die Reiterei bei Kriegszügen; es gilt heute weithin als gesichert, dass das spätere Patriziat der Städte neben den Kaufleuten auch aus solchen Ministerialengeschlechtern hervorgegangen sein dürfte. Welche Waffen bei der Verteidigung der Städte in der noch landesherrlichen Phase des 12. / 13. Jahrhunderts verwendet wurden, wer sie anschaffte und pflegte, scheint weitgehend unbelegt. Aus späteren Verhältnissen wird man wohl schließen dürfen, dass die Grundbewaffnung am Mann – gepolstertes oder ledernes Wams, Helm, Spieß oder Hellebarde, Schwert, Schild usw. – von jedem wehrfähigen Bürger selbst unterhalten werden musste, während Einsatz und Bedeutung von Fernwaffen fraglos sehr beschränkt blieben. Welcher Stadtbewohner etwa Bogen oder gar Armbrust besaß und benutzen konnte, können wir bis zu ersten Belegen um 1400, etwa in Würzburg, nur vermuten; und eher selten dürften in den Städten jener Epoche große und aufwendige 338 I. Systematischer Teil
Fernwaffen wie Bliden vorhanden gewesen sein. Solche Waffen kamen in Deutschland bei Belagerungen erst im Laufe des 13. Jahrhunderts auf, und wenn sie überhaupt zur Verteidigung von Städten eingesetzt wurden, dann gewiss erst spät und wahrscheinlich eher in großen Städten. In Würzburg etwa werden Bliden 1374 erwähnt, im 14. / 15. Jahrhundert auch in Aachen. Nachdem insbesondere größere, wirtschaftlich leistungsfähige Städte sich aus der unmittelbaren Herrschaft ihrer adligen Herren gelöst hatten – was sich, zum Teil unter militärischen Auseinandersetzungen, vor allem im 13. Jahrhundert vollzog, aber keineswegs alle Städte erfasste –, bildete sich dort eine eigenständige, im Detail reich variierte Organisationsstruktur heraus, die Ratsverfassung. Der Rat, ein zunächst nur aus dem (Kaufmanns-)Patriziat, später auch aus Handwerkern zusammengesetztes Gremium, regierte nun die Stadt, deren Unabhängigkeit im Kern auf ihrer Wirtschaftskraft beruhte und sich vor allem in Steuerfreiheit und eigenem Gericht spiegelte. Solche „freien“ Städte – nicht nur Reichsstädte, sondern auch nominell weiterhin landesherrliche, die aber de facto unabhängig agierten – konnten ihre Machtpositionen beständig ausbauen, vor allem durch Zukauf von Rechten und Privilegien, und sie konnten eine eigene Außenpolitik betreiben, die sie in manchen Fällen auf Augenhöhe mit Landesherren brachte bzw. sie selbst zu solchen werden ließ. Eine funktionierende, das heißt beständig modernisierte Verteidigung spielte auch und besonders in dieser Entwicklungsphase, die weit in die frühe Neuzeit hineinreichte, eine entscheidende Rolle, denn natürlich wurde öfter versucht, die Unabhängigkeit einer Stadt mit kriegerischen Mitteln zu beseitigen. Auch die Organisationsformen entwickelten sich deutlich weiter, wobei die erheblich verbesserte Schriftüberlieferung freilich auch manches ins Licht rücken mag, was es schon in der landesherrlichen Frühphase ähnlich gegeben hatte. Nur kleinere Städte wie etwa Büdingen wurden weiterhin vom Landesherrn befestigt und – über die Verpflichtung der Einwohner – verteidigt. Dagegen lag das Befestigungsrecht nun in größeren Städten de facto bei diesen selbst; wenn, wie etwa in Lüneburg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dem herzoglichen Landes- und Stadtherrn sogar die ge-
samte Huldigung verweigert wurde, so war das von der Stadt beanspruchte Befestigungsrecht nur ein selbstverständlicher Unterpunkt. Auch die Pflicht zur Heeresfolge lebte offenbar formal unverändert fort, wobei aber die Bürger nun nur noch die eigene Stadt verteidigten bzw. deren Interessen vertraten. Wie wichtig die Erfüllung dieser Pflicht gegenüber der Bürgergemeinschaft war, zeigt sich etwa in dem Eid neu aufgenommener Bürger, binnen kurzer Zeit Waffen zu erwerben; im Falle der Nichterfüllung schaffte der Rat die Waffen an und stellte sie dem Bürger in Rechnung. Bürger und auch Einwohner ohne Bürgerrecht waren gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet, die Stadt im Angriffsfalle ohne Entgelt, unter Androhung hoher Bußgelder bei Verweigerung, zu verteidigen; lediglich materielle Verluste wurden von der Stadt bzw. vom Rat ersetzt und gefangene Bürger ausgelöst. Kommandeur war nun, in Nachfolge des landesherrlichen Vertreters, der Bürgermeister oder ein Ratsherr. Für die Instandhaltung der Mauer wurden Zuständige bestimmt, etwa in Bremen „Mauerherren“ aus dem Kreise des Rates, und „Etats“ geschaffen; eine gesonderte „Mauerkasse“ ist dort ab 1369 belegt. Die Organisation zur Verteidigung trat übrigens auch in einem anderen Notfall in Kraft, nämlich bei Ausbruch eines Feuers; die Folgen konnten dabei ja ähnlich verheerend wie bei einem Angriff auf die Stadt sein, und auch ein Zusammenhang beider Ereignisse kam infrage, wenn etwa ein Feuer gelegt wurde, um von einem Angriff abzulenken. Im 14. Jahrhundert errangen die Handwerker in oft heftigen Auseinandersetzungen Einfluss auf die Regierung vieler größerer Städte bzw. sie erhielten Sitze im Rat, und ab dieser Zeit wurde ihnen auch weitgehend die Verteidigung der Stadt übertragen – eine nachvollziehbare Entwicklung, denn viele Gewerke waren nicht nur an harte körperliche Arbeit gewöhnt, sondern konnten auch Waffen herstellen und reparieren sowie die Bauten der Befestigung instand halten. Auch die an den Toren fest angestellten Wächter, die vor allem das nächtliche Schließen zu besorgen hatten, stammten meist aus der Handwerkerschaft und wurden etwa durch Wohnungen und Grundstücke entlohnt; die strengen Pflichten der „Burggrafen“, die in Köln die fünf täglich geöffneten, aber auch die normalerweise
geschlossenen Tore zu bewachen hatten, sind detailliert bekannt. Der durchaus aufwendige Wachdienst, der darüber hinaus den Bürgern oblag – und dem sie sich häufig zu entziehen suchten, meist durch Geldzahlungen –, bezog sich etwa in Lüneburg tagsüber auf die Tore und einige Kirchtürme – wobei es auch um die Entdeckung von Bränden ging –, nachts aber wurden alle Mauertürme und die Außenwälle besetzt; in Köln patrouillierten jede Nacht vier Reiter hinter der Mauer, die alle Tore und Pforten sowie die Aufmerksamkeit der Wächter auf den Türmen prüften. Dass außerdem auch in den Gassen neun bis zwölf bewaffnete Bürger unter einem Meister wachten („Scharwacht“) – in Nordhausen etwa waren es nur vier –, zeigt einerseits, dass es hier um Aufgaben ging, die man heute als polizeilich beschreiben würde; andererseits wird deutlich, dass die Wache nicht nur beobachten und alarmieren, sondern dass sie im Notfalle auch die erste Abwehr übernehmen sollte. Hatte es einen Alarm gegeben, so mussten Meister und Gesellen schnellstmöglich zu einem festgelegten Sammelplatz laufen, etwa dem Zunfthaus, und dann zum zugeteilten Abschnitt der Befestigung. „Harnisch und Gewehr“ – etwa: Körperschutz, Hieb- und Stichwaffen –, die ihnen gehörten, hatten sie zuvor anzulegen bzw. mitzubringen; gelegentlich gab es Appelle zur Überprüfung der Bewaffnung, und die Zünfte konnten aus Abgaben neuer Meister und aus Spenden zu deren Reparatur oder Ergänzung beitragen. In ersten Ansätzen schon ab dem Ende des 14. Jahrhunderts, vor allem dann aber im späteren 15. und im 16. Jahrhundert begannen diese relativ einfachen Organisationsformen, sich zu verändern. Man kann vor allem zwei Aspekte benennen, die beide ohne die großen Erfolge der städtischen Wirtschaftsform undenkbar gewesen wären. Einerseits gab es eine Tendenz, Söldner heranzuziehen, sodass die Bürger nicht mehr selbst ihre Zeit aufwenden und Leben wie Gesundheit riskieren mussten; sie zahlten dafür Ablösesummen, für die nun auch zunehmend geistliche Institutionen oder auch die stadtsässigen Juden herangezogen wurden. Andererseits – im Grunde ein Aspekt derselben Entwicklung, aber anders begründet – erforderte die Modernisierung der Befestigungen selbst und noch mehr der Bewaffnung nun weitgehend Spezialisten, 3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
339
Abb. 270 Rothenburg ob der Tauber, Plan der sechs Wachten (und der geistlichen Bezirke) in der Stadt (K. Borchardt / E. Tittmann, Mauern – Tore – Türme …, 2005).
weil die Entwicklung der Feuerwaffen komplexere Kenntnisse und Fähigkeiten als die Pflege von Helmen, Schwertern und Spießen verlangte; in Büdingen etwa wird der erste Büchsenmeister 1413 genannt, in Würzburg 1415. Selbstverständlich aber identifizierten sich Söldner und auswärtige Techniker weit weniger mit dem Ort ihrer Tätigkeit als die Bürger, deren Familien oft seit Generationen ansässig waren; durch Eide verschiedener Art versuchte man daher, die Ortsfremden fester einzubinden. Abb. 271 Solothurn (Schweiz), das Zeughaus (um 1609) zeichnet sich durch Bestände vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg aus, die weitgehend nicht angekauft sind, sondern tatsächlich zur Verteidigung von Solothurn und seines Territoriums benutzt wurden.
340 I. Systematischer Teil
Ein erster Ausdruck der wachsenden Verteidigungsmöglichkeiten reicher Städte und Landschaften waren die städtischen Landwehren, die in der Hauptsache wohl im 15. Jahrhundert entstanden (vgl. 2.2.12). Ihre Anlage zeigte, dass die betreffende Stadt nicht nur ein geschlossenes Herrschaftsgebiet gewonnen hatte, das vor allem auch für ihre Versorgung wichtig war, sondern dass sie es auch sichern und bewachen konnte. Wie diese Aufgabe, die weit über die Bewachung nur der Stadtmauern hinausging, erfüllt wurde, ist etwa für Rothenburg ob der Tauber näher erforscht; dort gab es mit den „Hegereitern“ besondere Wächter und Pfleger der Landwehr (= „Hege“), die auch juristisch weitgehend mit dem Herrschaftsgebiet der Stadt gleichgesetzt wurde. Das Söldnerwesen reichte in Anfängen ins 14. Jahrhundert zurück, zunächst mit Soldrittern („Reisigen“), die nur für Sonderaufgaben wie den Wachtdienst oder befristet für Kriegszüge herangezogen wurden, etwa in Rothenburg oder Osnabrück. Im 15. Jahrhundert, beispielsweise in Nordhausen belegbar ab 1420, wurden in vielen Städten spezielle Schützenbataillone aufgestellt, in denen man eine erste Auswirkung der Feuerwaffen vermuten könnte; jedoch waren sie – etwa wieder in Osnabrück – anfangs nur
mit Armbrüsten bewaffnet, erst gegen 1500 und im 16. Jahrhundert mit „Handbüchsen“, der frühesten Form tragbarer Feuerwaffen. In ihrem Ursprung waren die Schützen in vielen Fällen eine Art Elitetruppe nur für den Kriegsfall, die vom „Staken und Waken“ (Instandhalten und Wachen) freigestellt war, dafür aber ständig üben musste. Sie war direkt dem Rat unterstellt und trat auch bei repräsentativen Anlässen auf, etwa bei Empfängen hochgestellter Gäste; beides erinnert an die gleichzeitig aufkommenden Leibgarden der Fürsten, die Vorform „stehender“ Heere. Das jährliche Preisschießen dieser Schützenbataillone – etwa in Osnabrück ab 1441 belegt – war der Ursprung heutiger Schützenfeste; aus den Bataillonen oder Kompagnien, in kleinen Städten auch religiös gefärbten „Bruderschaften“ wie in Büdingen, sind heute Schützenvereine oder -gesellschaften geworden, die etwa in Westfalen, aber keineswegs nur dort, in besonderer Blüte stehen (siehe die Literatur zu Lünen, Minden, Werne). Die Übungsplätze der Schützen, meist als „Schießgraben“ bezeichnet, weil die Gräben – aber auch die Zwinger – für ihre Einrichtung besonders geeignet waren, sind oft zumindest als Name erhalten; eine Anschauung bieten noch Nürnberg, im Graben der inneren Mauer, und vor allem Glurns (Abb. 184), wo auch der Kugelfang und die Deckung für den Kontrolleur der Treffer erhalten sind. Die neuen Organisationsformen, die durch das Söldnerwesen und die Artillerie nötig wurden, wirkten augenscheinlich auch auf die wehrfähigen Bürger zurück. So führte man im 16. Jahrhundert auch für sie die bei Landsknechten übliche Gliederung in „Rotten“ ein, das heißt in Gruppen von zwölf bis 18 Mann, die nichts mehr mit den Handwerkszünften zu tun hatten, sondern aus den gut miteinander bekannten Bewohnern eines Stadtviertels bestanden; sie mussten sich im Alarmfalle auch nicht mehr auf dem Marktplatz sammeln, um ihren Einsatzort zu erfahren, sondern verteidigten den Befestigungsabschnitt, der ihrem Viertel direkt benachbart war. Manches weist darauf hin, dass vergleichbare Organisationsformen, die sowohl sozial als auch verteidigungstechnisch effektiver als die Einteilung nach Zünften waren, in den mittelund ostdeutschen Kolonisationsgebiet mit ihren später und planmäßig gegründeten Städten
von Anfang an üblich waren; jedoch fehlen dafür flächendeckende Untersuchungen. Die „Huten“ im rheinischen Ahrweiler zumindest werden, im Vergleich mit westfälischen Beispielen, auf Siedlergemeinschaften aus der Zeit vor der Stadtgründung zurückgeführt, die erst später für die Verteidigung relevant geworden seien. Zahlreiche Städte waren flächenmäßig in „Wachten“ eingeteilt, deren Bewohner jeweils benachbarte Mauerabschnitte zu verteidigen hatten. Rothenburg etwa besaß sechs „Wachten“, deren Entstehung man dort ins 14. Jahrhundert datiert – eine vergleichsweise große Anzahl (Abb. 270). Auch die Pflege der Bewaffnung änderte sich im 16. Jahrhundert; ab dem Ende des 15. Jahrhunderts gab es zunehmend Verzeichnisse, welche Waffen in welchen Bauten der Befestigung aufbewahrt wurden. Da immer mehr schwere und Sonderkenntnisse erfordernde Waffen in Gebrauch kamen, vor allem Pulvergeschütze und Handfeuerwaffen, reichte es nicht mehr aus, dass die Bürger die Waffen selbst pflegten, sondern man musste Institutionen bzw. Gebäude schaffen, in denen dies zentral erledigt wurde – anfangs eher pragmatisch verteilte Magazine, dann aber Zeughäuser bzw. Rüstkammern, in denen die Bürger die Waffen im Verteidigungsfall kostenlos oder gegen geringes Entgelt erhielten; auch für diesen neuen Kostenfaktor wurden zumindest in manchen Städte zusätzliche Abgaben erhoben (Osnabrück: „Pflegesgeld“). Dies geschah jedoch erst in der frühen Neuzeit, ab dem 16. Jahrhundert, und muss daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Das älteste erhaltene Zeughaus im deutschen Raum ist – ohne seine alten Bestände – jenes in Innsbruck, aus der Zeit um 1500, das allerdings kein städtisches war, sondern das des kaiserlichen Heeres Maximilians I. Dagegen ist das höchst sehenswerte Zeughaus in Solothurn (erbaut 1609–14) wirklich ein städtisches Zeughaus, das noch eine Fülle von Waffen aller Art präsentiert, freilich auch hier überwiegend erst aus dem 17. Jahrhundert und später (Abb. 271). Sehenswerte Bestände frühneuzeitlicher städtischer Zeughäuser und Rüstkammern, aber nicht mehr in den alten Gebäuden, bewahren auch noch Wien (Hofjagd- und Rüstkammer), Dresden (Albertinum) und Emden (Rathaus). Es ist typisch für umfangreiche Bauaufgaben des Mittelalters, also auch für große Sakralbau3. Zur Organistation von Bau und Verteidungung
341
ten oder Burgen, dass eine klare Grenze zwischen Erbauung und laufender Instandhaltung meist schwer zu erkennen ist. Wo Schriftquellen zu Bauvorgängen überhaupt erhalten sind, schließen jene, die der Erhaltung des Baues dienen, mehr oder minder nahtlos an die an, die offenbar noch mit der Errichtung des Bauwerkes in Verbindung stehen – der Umfang des Vorhabens bzw. die lange Bauzeit bewirkten, dass man bei der (oft eher notdürftigen) „Vollendung“ des Baues an Instandhaltung der Befestigungen dessen zuerst entstandenen Teilen schon wieder ausbessern musste. Dass die Erhaltung der Stadtmauern sehr aufwendig war, bleibt unter solchen Umständen eher im Verborgenen. Denn wenn aus jener Zeit, in der die meisten Stadtbefestigungen entstanden, dem 13. und 14. Jahrhundert, detaillierte Quellen zu Bauvorgängen fast vollständig fehlen, so gewähren im Spätmittelalter zwar Stadtrechnungen Einblicke in Verträge, Volumina und Kosten, aber auch dies bleibt in der Regel wenig anschaulich, weil eben oft nichts wirklich Neues bzw. kein klar definierter, benennbarer Bauteil geschaffen wurde. Eher selten, vermutlich vor allem in Zeiten der Kriegsgefahr, gab ein Stadtherr in solcher Sache Anweisungen. So ordnete etwa König Sigismund 1421 / 28 an, die Mauern von Bautzen „zu festen und zu bewahren“, und 1432 / 33 erließ er eine „Defensionsordnung wider die Ketzer“, also die Hussiten. 1467 verpflichteten die Grafen von Everstein die Bürger von Naugard (Pommern) noch konkreter, alle zwei Jahre drei Ruten der Mauer auszubessern. Auch die Städte selbst erließen in der Spätzeit Vorschriften, die eher im Detail der Erhaltung der Mauern dienten, so etwa in Tirol, wo die Grundstücke meist ohne Mauergasse an die Mauer stießen; dort verbot man im 16. Jahrhundert, Fenster in die Mauern zu brechen (Brixen), oder man erlaubte dies zwar, verfügte aber als unrealistischen Kompromiss, sie im Kriegsfall wieder zuzumauern (Innsbruck). Dass wir aus Schriftquellen eher wenig Konkretes über Reparaturen erfahren, war fraglos entscheidend darin begründet, dass solche Arbeiten – wie das Instandhalten der Waffen und die Verteidigung als solche – weit überwiegend zu den Pflichten der Bürger gehörten. Deswegen wurden hierüber keine Verträge ausgefertigt, 342 I. Systematischer Teil
sondern es entstanden nur Abrechnungen und Aufstellungen etwa über Material, Transporte oder Ähnliches. Das „Staken“, wie es in Norddeutschland oft genannt wurde (staken = Pfähle einschlagen, „stecken“), war genauso wie das „Waken“ (wachen) alltägliche, mühsame Beschäftigung der Bürger. Dabei wurde unter „Staken“ durchaus nicht nur das Erneuern von Palisaden und Zäunen verstanden, sondern, wie etwa in Osnabrück näher untersucht, auch Ausbesserungen an Mauerwerk und vor allem das Freihalten der Gräben und im Winter zudem das Aufhacken des für einen Angreifer hilfreichen Eises auf Wassergräben; der Begriff der „Handdienste“ meinte im Grunde dieselbe Mehrheit von Aufgaben. Man mag erwägen, ob der auf Pfähle zu beziehende Begriff des „Stakens“ nicht aus der Frühzeit der Befestigungen stammte, als diese tatsächlich noch weitgehend aus Holz bestanden. Dass für spezialisierte Arbeiten die jeweiligen Handwerker herangezogen bzw. besonders belastet wurden, also vor allem Maurer und Zimmerer, liegt auf der Hand. Bei Nichterscheinen zu allen Arbeiten an der Befestigung mussten Geldbußen entrichtet werden („Grabegeld“), bis die Arbeiten dann ab dem 15. Jahrhundert durch Geldzahlungen abgelöst werden konnten. Manchmal waren die Bußen auch nicht in Geld zu entrichten, sondern mussten als zusätzliche Arbeiten an der Befestigung erbracht werden (etwa Weißenburg in Bayern, 1452 / 53). Neben den Arbeiten an der Befestigung selbst, den „Handdiensten“, spielten der Transport von Baumaterial und wohl auch der Abtransport von Abraum, die „Spanndienste“, eine zentrale Rolle bei Bau- und Instandhaltung der Stadtbefestigung; beide Aufgabenbereiche werden daher in der Regel gemeinsam zitiert („Handund Spanndienste“). Jeder, der über Pferde und Wagen verfügte, musste sie für diese Aufgaben zur Verfügung stellen, auch Bauern der umliegenden Dörfer, die, etwa in Nordhausen ab 1360 belegbar, Steine und Kalk nicht nur für die Befestigung der Stadt, sondern für alle öffentlichen Bauten anzufahren hatten – ein weiterer Beleg für die Beteiligung des Umlandes an Bau und Erhaltung von Stadtbefestigungen, die letztlich mit deren traditioneller Funktion als „Fliehburg“ zu tun hatte (vgl. 3.1.).
4. Die Stadtmauer als Symbol Gut erhaltene, turmreiche Stadtmauern wurden ab den Anfängen ihrer wissenschaftlichen Betrachtung von der lokalen Forschung in der Regel als reine Zweckbauten angesprochen. Nur wenn das Phänomen von Kunsthistorikern oder Historikern auf einer allgemeineren Ebene reflektiert wurde, wurde den Mauern hin und wieder durchaus ein höherer Bedeutungsgehalt zugeschrieben – man reflektierte ihren potenziellen Symbolwert. Das reichte von der naheliegenden Idee, die Mauer repräsentiere die Stadt als selbstständiges bzw. „freies“ Gemeinwesen, über religiöse Inhalte bis zu eher wenig begründeten Schlagworten wie dem der „Stadtkrone“. In der Gegenwart, die sich von der Überhöhung des militärisch-kämpferischen, dem Pathos und der blumigen Formulierung eher abgewandt hat und die sachliche Ebene der archäologischen und Bauforschung stärker betont, ist Derartiges in den Hintergrund getreten, aber es gibt weiterhin guten Grund, die Frage der Bedeutung und Symbolik auch von Stadtmauern zu diskutieren. Dass Stadtbefestigungen in erster Linie Zweckbauten waren, ist schon aus der potenziellen Allgegenwart gewaltsamer bzw. kriegerischer Auseinandersetzungen zweifelsfrei zu begründen, wie sie (keineswegs nur) für das Mittelalter typisch war. Aber auch der unmittelbare Eindruck der Bauwerke bestätigt zunächst diese Deutung, vor allem, wenn man von dem weit häufigeren Fall kleiner Städte mit ihren turmarmen Mauern ausgeht, oder von frühen Städten des 12. Jahrhunderts, bei denen Türme noch fehlten. Die lang gezogene, wenig akzentuierte Mauer in pragmatisch schlichter Mauertechnik erhob fraglos kaum gestalterischen Anspruch, und die unregelmäßige Führung, die sich oft aus den Geländebedingungen und den Grundrissen organisch gewachsener Siedlungen ergab, verstärkte den Eindruck des puren Zweckbaues zusätzlich. Solche Beobachtungen scheinen auf den ersten Blick zu belegen, dass Stadtbefestigungen ein ganz und gar pragmatischer Bautypus sind, der einem architektonisch-künstlerischen Gestaltungswillen kaum Raum lässt und damit die symbolhafte Wi-
derspiegelung abstrakter, also etwa politischer oder religiöser Inhalte ausschließt. Dass das nicht ganz zutreffen kann, legen jedoch drei Feststellungen nahe. Einerseits nämlich muss man sich verdeutlichen, dass Stadtmauern zur Zeit ihrer Entstehung noch weit besser als definierende Begrenzung der Stadt wahrzunehmen waren, weil sie durch die wenig bebaute Umgebung in ihrer optischen Wirkung noch kaum eingeschränkt waren. Ein Betrachter konnte, anders als es heute fast überall der Fall ist, meist weite Teile des Mauerringes überblicken und damit die Stadt als architektonische Einheit wahrnehmen, vergleichbar einer überdimensionierten Burg. Dabei muss man sich zweitens vor Augen halten, dass die Mauer keineswegs die Stadt schlechthin begrenzte, wie es oft geschrieben wird. Vielmehr umfasste sie infolge wohlüberlegter Planung nur den Kern des städtischen Gesamtorganismus und ließ dabei allzu große oder zu isoliert liegende, aber durchaus funktional wichtige Teile dieses Zusammenhanges außerhalb der Mauer – das Acker- und Gartenland und die Dörfer, die im Besitz der Stadt waren und sie versorgten, auch Mühlen, Spitäler, Klöster, Waldungen und dergleichen. Schon die Entscheidung, was von dieser Vielfalt in die Befestigung einbezogen wurde und was nicht, hatte also – obwohl sie zu wesentlichen Teilen strategischen Erwägungen folgte – bedeutsame gestalterische Folgen, und man kann sich angesichts des Aufwandes, den die Städte für ihre Kirchen, Rathäuser und andere öffentliche Bauten trieben, kaum vorstellen, dass diese ästhetischen Fragen nicht auch bewusst in diese Gestaltung der Befestigungen einbezogen wurden. Drittens – und dies ist sicher der Aspekt, der heute noch am stärksten ins Auge fällt – zeigt die Gestaltung der Tore, dass die Befestigungen die Stadt nicht nur sichern, sondern sie auch repräsentieren sollten. Die in Deutschland weitaus häufigste Torform, die Tortürme, sind in der Regel die höchsten und aufwendigsten Türme des Mauerrings, wenn nicht ohnehin die einzigen und jedenfalls jene, die im Spätmittelalter am ehesten mit Wappen, Skulpturen und weiterer 4. Die Stadtmauer als Symbol
343
Abb. 272 Eine Auswahl heutiger, meist aber ins Mittelalter zurückgehender Stadtwappen, die ein Stadttor als Symbol des Städtischen schlechthin zeigen, in verschiedener Weise ergänzt: durch einen weiteren Turm, eine Heiligenfigur, den ersten Buch staben des Stadtnamens oder das Wappen des Landesherrn.
Ornamentik ausgestattet wurden; seltenere Bauformen wie vor allem die Doppelturmtore setzen noch wirksamere Akzente. Die Tore vertraten als jener Teil der Mauer, den jeder Ankömmling unvermeidlich aus der Nähe sah, die Stadt als Ganzes; sie zeigten, dass das Gemeinwesen eigenständig und wehrhaft war und dass seine Mittel allemal ausreichten, diese Position auch mit gestalterischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Wo der Mauerring als Ganzes diese Wirkung nicht entfalten konnte, etwa aus Gründen der Wegeführung, des Geländes oder vorgelagerter Bebauung, da konnte ihn das Stadttor als pars pro toto in überzeugender Weise vertreten. Dabei sind jene Fälle besonders aussagekräftig, bei denen baulich betonte Tore auch eine besondere Bedeutung hatten; das Kölner „Hahnentor“ und das Aachener „Kölntor“ etwa spielten eine Rolle bei der Krönung der deutschen Könige, das „Untertor“ in Lauf an der Pegnitz markierte mit seiner aus Prager Vorbildern abgeleiteten, unge344 I. Systematischer Teil
wöhnlichen Form die Herrschaft Kaiser Karls IV. gegenüber der nahen, mächtigen Reichsstadt Nürnberg. Dass Tore und Mauern schon in ihrer Epoche als wohl wichtigste Symbole des städtischen Gemeinwesens galten, zeigt sich auch unmissverständlich in den Wappen und Siegeln der Städte. Dort ist, meist bis heute nur wenig abgewandelt, die Mauer das übliche Motiv, in der Regel mit einem Stadttor als Zentrum und oft mit symmetrisch stilisierten Mauerteilen und eventuell Türmen als Ergänzung (Abb. 272). Dies konnte durch andere Motive, etwa einen bedeutenden Sakralbau der Stadt oder ihren heiligen Patron, ergänzt werden, die aber gestalterisch wie in ihrer Bedeutung hinter die stilisierte Mauer zurücktraten. Auch hier, wie in der mittelalterlichen Kunst und Architektur allgemein, galten also die Symbole des Glaubens und der Wehrhaftigkeit als die besonders darstellungswürdigen, während das, was der heutige Wissenschaftler als entscheidende Merkmale der mittelalterlichen Stadt empfindet – vor allem Selbstverwaltung und durch Handel und Handwerk erzielter Reichtum –, in solchen Abbreviaturen keine erkennbare Rolle spielte; etwa Rat- oder Kaufhäuser, Marktplätze oder Hafenanlagen findet man an solcher Stelle so gut wie nie. Damit ist auch ein Thema berührt, das in der Literatur eine nicht allzu umfangreiche, aber wegen seiner großen Zusammenhänge bedeutsame Rolle spielt, zuletzt etwa angesprochen von Paul Naredi-Rainer (1996): die Frage nämlich, ob die Befestigung von Städten bzw. ihre Anlage auch Träger sakraler Bedeutungen gewesen sein können. Bischofssitze und große Klöster waren wichtige Ansatzpunkte früher Städte und selbstverständlich wurde die Bedeutung solcher Orte von Anfang an auch mit den Mitteln der Architektur unterstrichen. Dabei spielten allerdings Sakralbauten die entscheidende Rolle, und zwar nicht nur die Kathedrale oder Abteikirche mit dem anschließenden Kloster / Stift, sondern auch weitere Kirchen und Kapellen sowie schließlich, wie Erich Herzog ins Bewusstsein rückte, weitere Klöster oder Stifte in der Umgebung, möglichst in Höhenlage, die den Ort weithin sichtbar betonten bzw. zu einer sakralen „Landschaft“ erweiterten. Bei derartigen Akzentuierungen früher
„Städte“ oder eher städtischer Vorstufen spielte freilich die Umwehrung noch keine wichtige Rolle. Zwar war das steuerbefreite und rechtlich abgehobene Gebiet um die Kathedrale in der Regel als „Domburg“ befestigt (vgl. 2.1.3.), aber dabei handelte es sich noch nicht eigentlich um die Befestigung einer Stadt, denn die ersten Anfänge von Händler- und Handwerkersiedlungen befanden sich kaum je innerhalb dieser Befestigung, sondern in der Regel vor ihrem Tor; dass auch dieser andersartige Siedlungsteil umwehrt wurde, war grundsätzlich ein späterer Schritt der Stadtwerdung. Dabei dürfte es durchaus so gewesen sein, dass die ersten Ummauerungen der Händler- und Handwerkersiedlungen von den geistlichen Stadtherren noch als Vergrößerung der Domburgen begriffen wurden, und insofern liegt es durchaus nahe, dass man auch sie sakral akzentuieren wollte. Dabei muss man vor allem an die Kapellen denken, die gelegentlich in den Torbauten von Domburgen bzw. Stiftsimmunitäten belegbar sind – und in einigen wenigen Fällen eben auch über oder neben den Toren früher Stadtmauern, in Bischofsstädten (Köln, Hildesheim; Abb. 10) oder in bedeutenden Städten ohne Bischofssitz (Goslar, Soest: Abb. 427). Aber dies waren Ausnahmen, und in der Blütezeit der Stadtmauern, vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, sind derartige Phänomene dann nicht mehr zu finden; die „Sakralisierung“ von Toren, wenn man überhaupt von ihr reden will, beschränkte sich nun auf die gelegentliche Darstellung – als Malerei, Relief oder Skulptur – von Heiligen, Kreuzigungs- und anderen biblischen Szenen an Stadttoren (Abb. 121, 327). Auch sie belegten die Frömmigkeit als selbstverständliches Merkmal der mittelalterlichen Gesellschaft, aber sie machten das Tor eben nicht mehr zum sakralen Ort im eigentlichen Sinne, sondern waren nur noch knappe Verweise auf das christliche Selbstverständnis der Bürger, dessen direkterer Ausdruck jedoch die baulich nur selten mit der Befestigung verbundenen Kirchen und Kapellen waren (vgl. 2.2.10.2.). Die Bauten der Stadtmauern erscheinen daher, von den erwähnten, frühen Ausnahmen abgesehen, eher als Belege für die Entscheidung, Befestigung und religiöse Verehrung konsequent zu trennen. Selbstverständlich gab es auch im Mittelalter – wie bereits früher – vielfältige Ansätze, im
Ganzen der Stadt, in der Geometrie ihres Grundrisses, der Straßenführung und Blockstruktur sakrale Bedeutungen widergespiegelt zu sehen, wie es zuletzt Hans Rudolf Sennhauser unter dem Stichwort „Stadtumgrenzung und Grenzen“ (1999) skizzierte. Grundfrage ist und bleibt dabei letztlich, ob die Planung der Stadt solchen religiös symbolischen Vorstellungen gefolgt ist oder ob diese Planung nicht vielmehr praktisch bestimmt war – Verkehrslage, Topographie, Hausformen, Wasserversorgung, Agrarlandschaft usw. –, wobei dann die Symbolik den jeweiligen Gegebenheiten nach Möglichkeit angepasst wurde. Denn so allgemein waren diese symbolischen Vorstellungen, „dass sie sich bei der Vorliebe mittelalterlichen Denkens für einfache und oft geometrisch ausgeformte Symbole überall dort mit sichtbaren Realien verknüpften, wo sich ein – wenn auch noch so geringer und für uns Heutige kaum nachvollziehbarer – Anhaltspunkt dafür bietet“ (Sennhauser). Mit der baulichen „Umgrenzung“ der Stadt in Form der Mauer hatten solche religiösen Vorstellungen eher wenig zu tun. Im Grunde kamen beide Aspekte nur an einer einzigen Stelle miteinander in Berührung, nämlich bei der Idealvorstellung des „himmlischen Jerusalem“ mit seiner kreisrunden oder auch quadratischen Form und den zwölf Toren (Offenbarung 21,11–15). Keine mittelalterliche Stadt im deutschen Raum war jedoch kreisrund; wo es bei Städten in flachem Gelände doch eine gewisse Annäherung an diese Form gab (Aachen, Nördlingen), zeigen die Abweichungen von der exakten Rundform eher, dass die Idealvorstellung in der Praxis nur begrenzte Wirkung entfalten konnte. Die geometrische Vorstellung vom „himmlischen Jerusalem“ eignete sich eher zur gestaltenden Umsetzung im Kunsthandwerk, bei dem Gold und Edelsteine auch das überirdische Strahlen andeuten konnten, also jedenfalls für große Radleuchter in Kirchen (Hildesheim, Aachen, Großkomburg), vielleicht auch, in der Variante mit übereinandergelegten Quadraten, für die achteckige Kaiserkrone. Wenn U. Mainzer für Köln und Aachen wahrscheinlich machen konnte, das sich dort zumindest in der Anzahl der zwölf Tore – die auch verkehrlich offenbar weniger notwendige Tore umfasste – der gewollte Bezug auf das „himmlische Jerusalem“ spiegelte, so ist dies zwar plau4. Die Stadtmauer als Symbol
345
sibel, aber eben auch eine Ausnahme, die in der Funktion beider Städte bei der Krönung der deutschen Könige begründet war. Der Erzbischof von Köln zog nach Aachen, um dort die Krönung vorzunehmen; auch die Sonderform der beiden Tore – des Kölner „Hahnentores“ (Abb. 149) und des Aachener „Kölntores“ –, die er dabei passierte, bestätigte dies, wie sich auch die großen Schmucknischen mehrerer Aachener Tore als Widerspiegelungen des karolingischen Westbaues der Pfalzkapelle bzw. des Domes erweisen, also als Pforten zu einem Sakralbezirk, der – in hier besonders später Anknüpfung an Traditionen des 9.–12. Jahrhunderts – die gesamte Stadt umfassen sollte. Auch in diesen beiden Städten, die eine besondere Bedeutung für das deutsche Königtum besaßen und deren Befestigung daher auch im 12. / 13. Jahrhundert noch überdurchschnittlich „sakralisiert“ erscheint, bleiben die religiösen Akzente insbesondere der Tore also letztlich an das Herrschaftliche gebunden – denn um sie, die im Mittelalter prinzipiell weltliche und sakrale Elemente verbanden, ging es schließlich bei der Königskrönung. Damit bestätigen gerade auch diese Sonderfälle das Grundprinzip, das bei der Betrachtung aller deutschen Stadtbefestigungen des 12.–16. Jahrhunderts als das dominante erkennbar wird: dass nämlich die Mauern, Türme und Tore neben ihrer praktisch fortifikatorischen Funktion stets auch Bedeutungsträger im Sinne der Stärke und Abgeschlossenheit waren, die in erster Linie auf die weltliche Herrschaft über die Stadt bezogen wurde, gleich, ob die Herrschaft eines Stadtherrn veranschaulicht wurde oder ob es sich bereits um eine „freie“ Stadt handelte.
346 I. Systematischer Teil
Sakrale Elemente enthielt diese Symbolik der Stadtmauern und -tore nur insoweit, als Herrschaft im Mittelalter stets und selbstverständlich mit sakralen Elementen durchsetzt war. Zum Abschluss muss noch eine der wenigen mittelalterlichen Schriftquellen kurz angesprochen werden, die die Umwehrung damaliger Siedlungen direkt anspricht und daher gerne auf eine vermeintliche Symbolwirkung der Stadtmauern bezogen wird, nämlich der Satz: „Bürger und Bauer scheidet nicht mehr als ein Zaun und eine Mauer“ („einen burger und einen gebuer scheit nicht me wen ein czuhin und ein muer“). Er stammt aus der sogenannten Liegnitzer Glosse zum Sächsischen Lehnrecht (Sachsenspiegel), die von Nikolaus Wurm (nach 1401) verfasst wurde; der Zusammenhang ist dort freilich kein baulicher, sondern ein rechtlicher. Wurm wollte hier offensichtlich sagen, dass es im juristischen Sinne auch zu seiner Zeit noch keinen wirklichen Unterschied zwischen Stadtund Dorfbewohnern gab; beide seien nur so frei, wie es die lokalen (spät)mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse zuließen. Der Unterschied in der Umwehrung beider Siedlungsformen sei, so ist er wohl zu verstehen, nur ein praktischer bzw. ästhetisch wirksamer und eben keiner, der etwa einen rechtlichen Unterschied der Bewohner spiegele. Im Rahmen unserer architekturgeschichtlichen Fragestellung beschränkt sich die Aussage des viel zitierten Satzes also leider darauf, dass es in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Schlesien sowohl ummauerte Städte als auch umzäunte Dörfer gab – was wirklich keine Überraschung ist.
Zusammenfassung: Die Entwicklung der Stadtbefestigung im deutschen Raum
Anfänge und Probleme der Forschung Die Anfänge der mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschen Raum liegen im 12. Jahrhundert. Zwar gab es hier oder dort – etwa in Solothurn, in Regensburg oder mehrfach am Rhein entlang – halbwegs erhaltene und weitergenutzte Befestigungen der spätrömischen Epoche, aber diese spielten als formale Vorbilder für die mittelalterlichen Stadtmauern keine Rolle. In wenigen weiteren Fällen existierte bereits vor 1100 eine neue Mauer – die frühen Umwehrungen etwa von Speyer (um 1061–1100) und Basel (um 1080–1100) sind relativ gut erforscht, weitere Fälle wie etwa Straßburg, Worms oder die Erweiterungen von Köln sind nur indirekt bekannt oder zu erahnen. Bei diesen Vorläufern war es, obwohl nur selten antike Befestigungsreste wiederverwendet wurden, sicherlich kein Zufall, dass es sich um Bischofssitze in ehemaligen römischen Grenzprovinzen handelt, das heißt um Zentren, die, an Reste antiker Zivilisation anknüpfend, früh wieder aufblühten. Auch einige ergrabene Ummauerungen von Domimmunitäten, die bereits ab dem 10. Jahrhundert entstanden (und von manchen Archäologen als Stadtmauern angesprochen werden), ändern an der Datierung der frühesten Stadtmauern ins 12. Jahrhundert nichts, denn Städte im eigentlichen Sinne entwickelten sich zwar später oft im Anschluss an solche Domburgen oder großen Klöster, aber diese selbst waren zuvor eben noch keine Städte, sondern sakrale Zentren bzw. Herrschaftssitze gewesen. Definiert man folglich „Stadt“ als eine Siedlung, in der eine handwerklich produzierende und Handel treibende Bevölkerung Kern und treibende Kraft der Sozialstruktur war – die daher später als organisiertes „Bürgertum“ die lokale politische Macht errang –, so fällt es bis-
her schwer, befestigte Städte wesentlich vor der Mitte des 12. Jahrhunderts zu benennen. Freilich gilt dies weiterhin nur für Städte, die mit einer Mauer befestigt waren und bei denen das steinerne Bauwerk durch Archäologie oder Bauforschung belegt ist; neben Basel und Speyer seien Zürich, Freiburg, Trier, Duisburg, Fulda und vielleicht Goslar genannt. Darüber hinaus mögen sich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts durchaus noch weitere stadtartige Zentren entwickelt haben, die zwar noch nicht durch Mauern, wohl aber bereits durch Holz-Erde-Befestigungen geschützt waren; Schriftquellen, die bereits auf entwickelte zentralörtliche Funktionen hinweisen, oder auch schwer datierbare Baubefunde legen diese Vermutung hier und dort nahe (Freiburg im Üechtland?, Schaffhausen, Braunschweig, Göttingen, Einbeck, Halberstadt, Querfurt, Stendal, Tangermünde und andere), aber nur eine weitere Prüfung vor allem mit archäologischen Mitteln könnte in dieser schwer übersehbaren Grauzone größere Klarheit schaffen. Dabei zeigen im übrigen gewisse Befunde, etwa in Basel, Freiburg im Breisgau und Villingen (sowie einigen kleineren Städten Badens), aber auch etwa in Paderborn (ab 1127) oder Aachen (ab 1171), dass manch frühe Mauer noch keine solche im Sinne einer frei stehenden Mauer war, sondern dass es sich um einen Wall mit steinverkleideter Front handelte. Mit dem Stichwort „Wall“ ist dabei bereits eines der schwierigsten, weil nur aufwendig erforschbaren Themen im Zusammenhang der Stadtmauern berührt, nämlich jenes der HolzErde-Befestigungen. Gräben und Wälle – in der Herstellung in der Regel eine Einheit, weil der Aushub des Ersteren das Material für den Letzteren ergab – spielten in jeder Phase des Baues 4. Die Stadtmauer als Symbol
347
von mittelalterlichen Stadtmauern eine wichtige Rolle (wie auch Hecken, was die häufige Nennung von Begriffen wie „Hagen“, „Hain“ oder „Hege“ an Stadtperipherien belegt). Dabei dienten solche Anlagen spätestens ab dem 13. Jahrhundert fast immer nur noch der Sicherung des Vorfeldes, aber in den Anfängen des 11./12. Jahrhunderts ist davon auszugehen, dass viele Städte zunächst mit schnell herstellbaren Holz-Erde-Befestigungen gesichert wurden, bevor man zum aufwendigeren und zeitraubenden Bau einer Mauer überging; bei kleinen Städten wie etwa westfälischen „Weichbildern“ konnte sich dieser Prozess durchaus bis ins Spätmittelalter hinziehen. Schriftlich erfasst wurde der Übergang vom Holz zum Stein dabei fast nur im norddeutschen Flachland (Haithabu, Stade, Schleswig, Lüneburg) und im östlichen Kolonisationsgebiet, wo er von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis ins 15. Jahrhundert dauerte und in den in dieser Zeit schon wesentlich dichteren Schriftquellen weit besser zu fassen ist. Sonst ist der Nachweis eines derartigen Ablaufes nur in seltenen Fällen möglich, vor allem dort, wo eine Stadt schon kurz nach der Gründung wieder aufgegeben wurde, oder aber durch Ausgrabung dort, wo die spätere Mauer nicht an derselben Stelle wie der Wall oder die Palisade entstand. Deswegen ist die wirkliche Verbreitung früher Holz-ErdeBefestigungen nur noch sehr bedingt zu erfassen; als Verdachtsfälle sind vor allem jene nicht
seltenen Mauern anzusprechen, die noch heute auf anders schwer erklärlichen niedrigen Wällen stehen oder bei denen Befunde wie Grabungen oder frei liegende Fundamente noch indirekt auf abgetragene Wälle dieser Art hinweisen (etwa Schaffhausen, Zürich, Würzburg, Weißenburg in Bayern, Duisburg, Einbeck). Als besonders anschauliches Beispiel sei Köln genannt, dessen nach 1210 errichtete Mauer auf einem Wall stand, dessen Identifikation mit dem bald nach 1179 erwähnten vallum seu fossatum mehr als naheliegt. Die wohl wichtigste Folge der Schwierigkeit, die Verbreitung früher Holz-Erde-Befestigungen sicher zu fassen, besteht darin, dass die Rückschlüsse, die man aus den Schriftquellen auf die Entstehung der Mauern im technischen Sinne ziehen darf, eng beschränkt bleiben. Denn die Ersterwähnung als „Stadt“ (civitas, oppidum und andere) oder die weitaus seltenere Dokumentation eines echten Gründungsaktes, aus der die ältere Forschung oft simplifizierend auf die Bauzeit der Mauern schloss, enthalten grundsätzlich eben keine eindeutige Aussage für die Entstehungszeit einer Steinbefestigung. Diese kann grundsätzlich vielmehr Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach der Gründung der Stadt liegen; dabei erschweren außerdem die ständigen Reparaturen und Modernisierungen eines so funktionalen Bauwerks die Datierung erhaltener Teile entscheidend.
Tortürme und Turmreihung (um 1200–1250) Die Blütezeit der Stadtmauern im engeren, technischen Sinne – das heißt der Befestigungen aus Mörtelmauerwerk – lag im westlichen und mittleren Deutschland im 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts; nahe liegt die Deutung, dass der dann im mittleren 14. Jahrhundert erkennbare Einschnitt mit dem Niedergang zusammenhing, den die Jahrzehnte der Pest auslösten und der auch umfangreiche Wüstungsprozesse umfasste. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts und bis weit ins 15. Jahrhundert hinein entstanden dann aber wieder neue Befestigungen als punktuelle Verstärkung vieler Mauern, aber auch als formal variantenreiche 348 I. Systematischer Teil
äußere Mauerringe großer Städte, insbesondere, aber nicht nur, in Süddeutschland. Wenig später setzten dann schon jene Ergänzungen der Mauern ein, die durch die rasante Entwicklung der Feuerwaffen erzwungen wurden und die dann ab dem 16. Jahrhundert ganz andersartige Bauformen hervorbrachten, die hier nicht mehr Thema sind. Ein Nachklang als Weiterführung mittelalterlicher Formen währte dabei aber bis ins 17./18. Jahrhundert. Wie viele Mauern in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in spätstaufischer Zeit, entstanden, ist aus Gründen des Erhaltungszustandes weiterhin nur begrenzt zu erfassen. Denn nicht
wenige dieser immer noch frühen Mauern besaßen noch keine Türme und nur einfache Mauertore; und, wenn Türme erst später angebaut oder Mauertore durch Tortürme ersetzt wurden, bedarf es besonders günstiger Erhaltung bzw. genauer Untersuchung, um die Veränderung sicher zu erkennen. Schon eine unsensible Instandsetzung, wie sie leider häufig ist, genügt, um Fugen oder nachträgliche Verzahnungen unkenntlich zu machen; dann erscheint die Mauer fälschlich als einheitliches, von Anfang an mit Türmen versehenes Bauwerk, das oft zu spät datiert wird. Das Aufkommen der Türme in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist in zwei Varianten zu beobachten. Einerseits entstanden zu dieser Zeit erste Tortürme, oft als einzige Türme neuer Mauern oder als Ergänzung älterer Holz-ErdeBefestigungen bzw. anfangs turmloser Mauern. Genannt seien unter diesen Tortürmen, die oft nur ein Obergeschoss besaßen, jedenfalls in der Regel eher niedrig wirkten, das Freiburger Martinstor 1200/01 (d), der etwa sechs Jahrzehnte älteren Mauer hinzugefügt, und der Berner „Zytgloggen“ (um 1220/30), wo die Mauer wohl 30 Jahre älter war; ähnlich werden das „Schwarze Tor“ und der „Hochturm“ in Rottweil datiert. In einigen weiteren Fällen (Mühldorf am Inn, „Münchener Tor“; zwei ergrabene Ulmer Tore; Esslingen, „Wolfstor“; Schlettstadt, „Obertor“; Rothenburg ob der Tauber, „Weißer Turm“; Eisenach, „Nicolaitor“; Schleswig, „Nordertor“?) darf man vermuten, dass die Mauer erst nach ihnen entstand, dass sie anfangs also durch Holz-Erde-Befestigungen ergänzt waren; auch der verschwundene Mittelturm auf der Regensburger „Steinernen Brücke“ wird bald nach 1200 entstanden sein. Das bereits recht hohe Speyerer „Altpörtel“, im mittleren 13. Jahrhundert der Mauer des 11. Jahrhunderts hinzugefügt, ist schon eher ein spätes Beispiel dieser Entwicklung. Neben solchen Tortürmen sonst turmloser oder turmarmer Mauern entstanden vor 1250 andererseits aber auch erste Ummauerungen größerer Städte, die mit regelmäßig gereihten Türmen ausgestattet wurden; auch bei ihnen sind zwei formale Untergruppen zu unterscheiden. Einerseits baute man in Süd- und Mitteldeutschland Mauern mit quadratischen und rechteckigen Türmen. Andererseits sind zwei Regionen mit halbrunden Schalentürmen festzustellen, de-
ren Ausgangspunkte die beiden großen Handelszentren Köln und Lübeck waren und die jeweils viele Mauern kleinerer Städte in ihrer Einflusszone prägten, also einerseits am Niederrhein, andererseits entlang der Ostseeküste; dass Rhein, Nord- und Ostsee als wichtige Handelswege hier ihre Wirkung entfalteten, liegt sehr nahe. Als große Städte, deren Mauern in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit quadratischen oder rechteckigen Türmen ausgestattet wurden, sind im südwestdeutschen Raum Basel zu nennen, wo Rechtecktürme an die ältere Mauer angefügt wurden, vielleicht auch bereits Zürich, am Oberrhein Straßburg und Worms; weiter östlich gehört Wien zu dieser Gruppe, wo die Mauer entgegen älteren Deutungen kaum vor 1200 entstand und wo in der Folge einige Städte der Umgebung ähnlichen Formvorstellungen folgten, in Niederösterreich und bis in die Steiermark; unter ihnen stechen besonders Wiener Neustadt und Hainburg hervor. Für den süddeutschen Raum wird man festhalten, dass dort auch die Bergfriede der Burgen bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts überwiegend quadratisch waren. Im mitteldeutschen Raum, wo allerdings eher runde Bergfriede üblich waren, zeigten Erfurt und Halberstadt die Reihung quadratischer Türme (schon ab etwa 1170/80?), ferner Magdeburg und auch Freiberg; dabei sind weitere vielleicht frühe Mauern in Sachsen (Leipzig, Meißen, Pegau) baulich nicht mehr greifbar. Spätestens gegen die Jahrhundertmitte entstanden aber auch schon im westlichen und südlichen deutschen Altsiedelgebiet Mauern kleinerer Städte, für die gleichfalls quadratische oder rechteckige Türme typisch waren, so etwa in Duderstadt (frühes 13. Jh.), Oberwesel (ab etwa 1240), Schwäbisch Hall (nach 1200), Luzern (ab etwa 1230) oder Brixen (ab 1240). Die Mauer von Köln, nach 1210 auf wenig älterem Wall begonnen, war mit ihren zwei Scharten-/Schussebenen, den niedrigen, überwölbten Halbrundschalen und Doppelturmtoren, die dieselbe Turmform integrierten, eine höchst originelle Schöpfung. Ob man sie von spätrömischen Anregungen herleiten oder sie doch eher als Variante der ab den 1190er Jahren von König Philippe II. Auguste von Frankreich entwickelten fortification philipienne verstehen will – in jedem Falle entsprachen die Kölner For4. Die Stadtmauer als Symbol
349
men keiner dieser möglichen Anregungen vollständig, sondern sie stellten eine eigenständige Weiterentwicklung dar, die hohe Effektivität mit monumentaler Wirkung vereinte. Dem Kölner Vorbild folgten das gleichfalls erzbischöfliche Bonn (ab 1244) und ab der Mitte des 13. Jahrhunderts dann weitere Mauern des Herrschaftsgebietes wie etwa Münstereifel oder Andernach. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts aber geriet der Niederrhein dann endgültig unter starken französischen Einfluss, was insbesondere zahlreiche „echte“ Doppelturmtore – mit schlankeren, nicht als Schalen geöffneten Türmen – in den mittleren und kleineren Städten der Region veranschaulichen. Französische Vorbilder kann man auch bei wichtigen Bauten der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts weiter südlich, am Oberrhein, identifizieren, zwar überwiegend bei Burgen mit runden Ecktürmen (Kastellen), aber gerade im Falle des gut erforschten, pfälzischen Neuleiningen folgte die offenbar direkt nach der Burg errichtete Stadtmauer mit ihren Rundtürmen und hohen Schlitzscharten eindeutig denselben Vorbildern. Und auch in (der Landgrafschaft) Hessen liegt es nahe, Einflüsse der fortification philipienne zu erkennen, vor allem, wenn man einen Blick auf die um 1235–50 entstandene Ummauerung von Marburg mit ihren runden Tourellen wirft; auch die spätestens nach 1232 begonnenen Mauern von Fritzlar wiesen gerundete Turmformen in einer Region auf, die sonst noch keine steinernen Stadtbefestigungen kannte. Die andere Region, in der früh Mauern mit gerundeten Türmen auftraten, nahm ihren Ausgang fraglos von der Backsteinmauer, die ab 1214/17 um das (schon ab 1181 ummauerte) deutlich vergrößerte Lübeck entstand. Hier waren halbrunde Schalen typisch, die man kaum später auch in Bremen findet und die in der Folgezeit Vorbild für viele Mauern weiter östlich, in Mecklenburg und bis nach Westpommern und Nordbrandenburg, wurden – also in einer Region, die von dem frühen Handelszentrum Lübeck her erschlossen wurde und in der die meisten Städte auch das lübische Recht übernahmen. Ob diese von Halbrundschalen charakterisierten Mauern des von Lübeck geprägten Raumes als kölnischer Einfluss zu werten sind – Handelsbe-
350 I. Systematischer Teil
ziehungen zwischen den beiden großen Zentren ihrer Zeit über Rhein und Ostsee erleichterten Derartiges ganz fraglos – oder ob hier noch direktere Anregungen des Königreichs Frankreich wirkten, kann noch Anlass zur Diskussion sein. Neben Mauern mit regelmäßig gereihten, quadratischen oder halbrunden Türmen – mit denen der bis heute wirksame Typus der deutschen Stadtbefestigung geschaffen wurde – findet man aber vor dem mittleren 13. Jahrhundert in weiten Teilen des deutschen Raumes auch noch gänzlich turmlose oder zumindest turmarme Mauern. Sie widersprechen gängigen Vorstellungen „staufischer“ Monumentalität mit eindrucksvoller Eindeutigkeit, gerade auch im deutschen Südwesten und Süden (Freiburg im Üechtland, Freiburg im Breisgau, Konstanz, Rheinfelden, Villingen, Kaufbeuren, Wasserburg, Schongau, Heidelberg und andere), aber auch weiter nördlich (Hannoversch Münden, Mühlhausen, Helmstedt). Man wird sich daher von der Idee verabschieden müssen, dass jede Stadt, die in staufischem Besitz war oder zumindest in der späten Stauferzeit entstand, von Anfang an Mauern mit monumentalem Anspruch erhielt. Auch was die funktionale Ausstattung bzw. Gestaltung der Mauern betrifft, sind bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts viele Merkmale zum ersten Mal zu beobachten, die dann bis ins Spätmittelalter weitverbreitet bleiben; dabei ist freilich zu beachten, dass manche Merkmale durchaus auch früher aufgetreten sein könnten, aber wegen schlechter Erhaltung der seltenen älteren Bauten nicht mehr festzustellen sind. Als solche neu auftretenden baulichen Merkmale sind etwa die Wehrgangbögen der älteren Mauer von Frankfurt am Main zu nennen (wohl 1223–39) – vielleicht ging ihnen die nur ergrabene Mauer von Würzburg noch voraus – oder die Schlitzscharten in den Zinnen von Hainburg (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts). Auch erste Ansätze zur Ausbildung von Schalentürmen gibt es ab den 1220er Jahren, etwa in Andernach („Rheintor“, vor 1228) und Rottweil („Hochturm“, um 1220–40). Die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts – und vielleicht noch enger: die Zeit ab 1220 – erweist sich also auch auf der Ebene der Durchgestaltung im Detail als eine entscheidende Entwicklungsphase der deutschen Stadtbefestigungen.
Die Blütezeit (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts und 14. Jahrhundert) Mit den oft schon turmreichen Mauern, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts um noch relativ wenige, aber wichtige Zentren entstanden, war ein Modell der sowohl fortifikatorisch effektiven wie repräsentativen Stadtmauer geschaffen, das in der Folgezeit breite Wirkung entfaltete. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert, als die meisten Städte des deutschen Raumes erst entstanden, wurden dann auch zahllose mittlere und kleinere Städte ummauert. Dabei ist in den meisten Fällen weiterhin gesichert oder zumindest sehr wahrscheinlich, dass die steinerne Befestigung, die Mauer, erst mit einer Verspätung von mindestens drei bis vier Jahrzehnten auf die Gründung der Stadt und eine provisorische HolzErde-Befestigung folgte. In dieser Phase entstand nun eine nicht nur chronologisch und zahlenmäßig, sondern auch formal schwer zu ordnende Vielfalt von Ummauerungen. Zu beobachten ist generell die Bewegungsrichtung von West nach (Nord-)Ost, die zu jener historischen Entwicklung parallel verlief, die man als Ostkolonisation bezeichnet. Östlich der Elbe, insbesondere in Schlesien, Brandenburg, Mecklenburg, Pommern und dem preußischen Ordensland, liegt die Phase der Stadtgründungen „nach deutschem Recht“ etwas später als in den westlicheren Regionen; beispielsweise entstanden die meisten Städte in Brandenburg zwischen etwa 1230 und 1340, die Zeit der Mauerbauten setzte dagegen frühestens um 1260 ein und reichte bis zum mittleren 15. Jahrhundert. Weniger selbstverständlich erscheint die Tatsache, dass der Höhepunkt der Ummauerungen auch in anderen östlichen Gebieten wie Franken, der Oberpfalz und Bayern, auch in der Landgrafschaft Hessen, um mindestens einige Jahrzehnte nach hinten verschoben war. Zwar kann das in den glazial geprägten Gebieten Bayerns, südlich der Donau, durch Natursteinmangel erklärt werden, der dort eine Backsteinregion wie im norddeutschen Flachland entstehen ließ. Aber in den nördlicheren Regionen Süddeutschlands, in Hessen und Thüringen, greift diese Erklärung nicht, sodass man wohl doch daran festhalten muss, dass das Phänomen der Ummauerung mittlerer und kleinerer Städte von den altbesiedelten und
wirtschaftlich aktiveren Landschaften am Rhein erst verzögert nach Osten ausstrahlte. Unter den zahlreichen Mauern mittlerer und kleinerer Städte, wie sie ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in diesen östlichen Regionen entstanden, waren weiterhin viele turmlos oder turmarm, zumindest in ihren Anfängen. Dass inzwischen dennoch der Turmreichtum das verbindliche Modell geworden war, zeigen dabei aber nicht nur jene neu entstandenen Mauern, die von Anfang an mit Türmen ausgestattet wurden, sondern es gibt auch zahlreiche Fälle, in denen zunächst turmlose oder turmarme Mauern etwas später durch Anfügung zusätzlicher Türme verstärkt wurden; wie häufig dieser Fall wirklich war, wäre freilich nur durch genaue Bauuntersuchungen festzustellen. Der Versuch, in der schwer überschaubaren Vielfalt der ab dem mittleren 13. Jahrhundert neu entstandenen Stadtmauern formale Ordnungsprinzipien zu erkennen, ist bisher kaum unternommen worden, insbesondere nicht für die Befestigungen in ihrer Gesamtheit. Allein für die Tore einerseits der brandenburgischmecklenburgisch-pommerschen Backsteinregion (Heinrich Trost), andererseits des kölnischen Territoriums am Niederrhein (Udo Mainzer) gibt es solche Ansätze; die durchaus umfangreiche sonstige Literatur zu deutschen Stadtmauern beschränkt sich in primär heimatgeschichtlicher Sicht so gut wie immer auf die Befestigungen einzelner Städte. Schon deswegen waren für das vorliegende Werk umfangreiche Bereisungen nötig, um jenen ersten Überblick zu gewinnen, der im zweiten Band regional geordnet vorgestellt wird. Bei diesen Bereisungen bestätigte sich das, was schon die auf die Tore beschränkten Studien von Trost und Mainzer nahegelegt hatten. Es sind nämlich durchaus regionale Gruppen formal ähnlicher Stadtbefestigungen zu erkennen, auch wenn das nicht überall der Fall ist und die Entstehung solcher Gruppen bisher nur vorsichtig gedeutet werden sollte. Es sind vier Landschaften, bei denen sowohl die große formale Einheitlichkeit als auch die zeitliche Nähe vieler Mauern besonders ins Auge fallen. Zunächst ist da das Rheinland, von dem schon bemerkt wurde, dass dort viele Mauern 4. Die Stadtmauer als Symbol
351
kleinerer Städte, die ab der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden, deutliche Züge der im nahen Frankreich entwickelten fortification philipienne tragen, nämlich „echte“ Doppelturmtore (ohne Schalentürme) und auch sonst fast ausschließlich schlanke Rundtürme oder Rundschalen. Die Frage, ob bereits die Kölner Mauer des zweiten/dritten Jahrzehnts des 13. Jahrhunderts diesen Einfluss verarbeitet hatte oder ob ihre Vorbilder doch woanders zu suchen sind, bleibt dabei zu diskutieren. Das zweite Beispiel ist das nördliche, landgräfliche Hessen, wo im 14./15. Jahrhundert, also relativ spät, eine erstaunliche Einheitlichkeit der fast ausschließlich mit schlanken Rundtürmen ausgestatteten Mauern zu beobachten ist. Auch hier liegt es nahe, die Verarbeitung französischer Vorbilder zu vermuten, die sich in den 1230er Jahren zunächst an der Marburger Mauer mit ihren schlanken Rundtourellen manifestiert hätte, gleichzeitig wohl in Fritzlar; diese für Hessen frühen Bauten wären dann zum Vorbild späterer Kleinstadtmauern der Region geworden. Beruhen diese beiden Beispiele vor allem auf formalem Vergleich bzw. der Abfolge der Bauzeiten – im Erzstift Köln wohl auch auf herrschaftlichen Zusammenhängen –, so kommen im Falle der dritten Gruppe weitere Argumente hinzu. Die Verbreitung der mit Halbrundschalen ausgestatteten Mauern von Lübeck aus nach Osten entspricht einerseits recht weitgehend der Übernahme des lübischen Rechts durch viele Städte des Raumes, andererseits liegt es auch auf der Hand, dass die intensiven Verkehrs- und Handelsbeziehungen über die Ostsee dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Nirgends besser als dort wird beim bisherigen Forschungsstand deutlich, dass auch die Verbreitung von Stadtmauerformen, vergleichbar anderen Architekturgattungen wie Sakralbauten, Bürger- oder Rathäusern, allgemeinen rechtlichen und wirtschaftlichen, das heißt letztlich soziokulturellen Zusammenhängen folgten. Etwas anders sieht es mit dem „Wiekhaussystem“ der Mark Brandenburg aus. Einerseits war diese Bauform mit ihren wehrganglosen Mauern und betont regelmäßig angeordneten rechteckigen Schalentürmen als alleinigen Trägern der Verteidigung für das brandenburgische Herrschaftsgebiet so verbindlich, wie man es kaum 352 I. Systematischer Teil
bei einer andern formalen Gruppe der Stadtmauern beobachtet. Andererseits ist es eben bei diesem System schwierig, zu erklären, wie es entstanden sein könnte. Frühe Fälle, die man als originelle Gründungsbauten der Form betrachten könnte, sind bisher nicht erkennbar, und so bleibt man auf die Erwägung angewiesen, dass es sich um eine Umsetzung der Formen hölzerner Befestigungen in Backstein handeln könnte: Die Wiekhäuser wären ursprünglich Blockwerkoder Fachwerkbauten gewesen, die Kurtinen dazwischen Palisaden. Die Problematik dieser naheliegenden These liegt aber darin, dass es bisher keine Grabungsergebnisse gibt, die die in dieser Weise gestaltete Holzbefestigung einer Stadt belegen; angesichts der wenigen Grabungen, die bisher an Stadtperipherien stattgefunden haben, und angesichts der Überlegung, dass die späteren Mauern oft exakt an der Stelle der Holzbefestigung gestanden haben, ist diese Lücke aber sicherlich auch nicht als Gegenbeweis zu werten. Beachtlich ist auch die Weiterentwicklung des Wiekhaussystems im Ordensland Preußen, wo – wohl wegen latenter Kriegsgefahr – deutlich vergrößerte Wiekhäuser üblich waren und vor allem auch Wehrgänge hinzugefügt wurden. Ein ergänzendes Beispiel für Gruppenbildungen, die aber nicht wie in den genannten Beispielen einfach mit Herrschaftsgebieten oder politischen Einflusszonen übereinstimmen (und erst recht nicht mit heutigen Grenzen), sondern vielmehr zeigen, wie eine politische Einheit verschiedenen Einflüssen unterliegen konnte, ist Schlesien. Das Land, dessen Mauern ab den 1260er Jahren entstanden, zeigt nämlich mindestens drei abgrenzbare Mauerformen. Einerseits gibt es in Niederschlesien Mauern, die fast nur mit quadratischen oder rechteckigen Türmen versehen sind und die man daher von den vor 1250 entstandenen Mauerformen westlich angrenzender Regionen ableiten mag. Daneben aber treten hier Mauern mit runden Türmen, die man – aufgrund ihrer Lage im südlichen Oberschlesien – mit aller Vorsicht als böhmischen Einfluss ansprechen könnte (wobei wir über die Mauern in Böhmen selbst bisher zu wenig wissen); und schließlich gibt es ganz im Norden Schlesiens, im glazial geprägten Flachland, einige wenige Mauern aus Backstein, die fraglos brandenburgisch beeinflusst sind.
Die Feststellung solcher formalen Gruppen in der Phase, als im deutschen Raum der weit überwiegende Teil der steinernen Stadtbefestigungen entstand, kann dabei nur einen ersten Ordnungsversuch des Materials darstellen, und das gilt erst recht für die Erwägung, die Gruppen jeweils durch externe Einflüsse oder eben durch die Umsetzung hölzerner Bauformen in (Back-)Stein zu erklären. Auch muss man darüber hinaus im Bewusstsein behalten, dass zahlreiche Stadtmauern, die im späteren 13. und im 14. Jahrhundert entstanden, nicht so einfach einer formalen Gruppe zuzuordnen sind. Das gilt insbesondere für die Mauern kleinerer Städte, die weiterhin oft turmlos oder turmarm entstanden bzw. bei denen, im Falle der ursprünglichen oder sekundären Ausstattung mit Türmen, keine Turmform vorherrschte. In solchen Fällen ist es kaum möglich, Vorbilder sicher zu bestimmen; es liegt nahe, dass man sich dort aus verschiedenen Formen die jeweils brauchbarste „heraussuchte“, wobei fraglos weiterhin beschränkte Mittel bzw. lang gezogene Bauabläufe entscheidend mitwirkten. Von fortifikatorischer Fortentwicklung kann in dieser Hauptphase des Stadtmauerbaues nicht wirklich die Rede sein – eher im Gegenteil. Das Aufkommen der Türme, insbesondere der regelmäßigen Turmreihung, hatte man noch in diesem Sinne verstehen können, verbesserte es doch die Beherrschung des Vorfeldes ganz entschieden – aber es lag eindeutig noch in spätstaufischer Zeit. Ebenso entstanden jene wenigen französisch beeinflussten Bauten im Westen des deutschen Sprachraumes, die mit weit vorspringenden Rundtürmen und konsequent flankierenden Schlitzscharten ausgestattet wurden, noch vor 1250 – und sie fanden im deutschen Raum zunächst keine nennenswerte Nachfolge. Vielmehr zeigen die weitaus meisten der vielen Stadtmauertürme, die ab dem späteren 13. und im 14. Jahrhundert entstanden, kaum ein konsequentes Bemühen um flankierende Wirkung – sie sprangen oft nur wenig vor die Mauerflucht vor, ihre seitlichen Scharten waren selten und wenig konsequent angeordnet. So bleiben die in zwei Varianten auftretenden Zwinger – umlaufende Zwinger und Torzwinger – auf den ersten Blick die einzige fortifikatorische Verbesserung, die in dieser Phase häufigen
Stadtmauerbaues auftrat; sie waren ein weiterer Versuch, einen Angreifer von der Hauptmauer bzw. den Toren möglichst weit fernzuhalten. Allerdings deutet die neuere Forschung – deren Einzelergebnisse man allerdings kritisch prüfen muss – immer stärker darauf hin, dass die Ursprünge zumindest der umlaufenden Zwinger ebenfalls schon vor 1250 gelegen hatten (etwa Hainburg, Wiener Neustadt, Koblenz). Wirklich überraschen kann das nicht, denn umlaufende Zwinger gab es schon in der Antike und ein herausragendes Beispiel wie die Landmauer von Konstantinopel war im Mittelalter spätestens seit den Kreuzzügen bestens bekannt; zudem liegt es nahe, dass umlaufende Zwinger als „Versteinerung“ einfacherer Vorfeldsicherungen wie Palisaden oder Hecken entstanden waren. Torzwinger – und auch Zugbrücken – hingegen scheinen zumindest im süddeutschen Raum erst ab dem mittleren 14. Jahrhundert häufiger geworden zu sein – sie waren also wirklich eine Neuerung in der großen Blütezeit der Stadtmauern, erklärbar vielleicht durch die besonderen Notwendigkeiten städtischer Befestigungen: Der Handel erforderte große, tagsüber fast immer offene Tore und breite Brücken, deren schneller Schutz im Angriffsfalle diese Innovation nahelegte. Eine weitere Neuerung des 14./15. Jahrhunderts, die die wachsende Selbstständigkeit größerer Städte belegt, war schließlich die Überwachung und Sicherung des Umlandes bzw. städtischen Territoriums; dafür wurden baulich vor allem zwei Mittel eingesetzt. Einerseits boten auf nahen Höhen platzierte Warten – in der Regel schlanke Rundtürme mit oder ohne Ummauerung und Nebenbauten – einen weiteren Überblick über die Landschaft als die Türme der Stadt selbst. Andererseits umschlossen aufwendige Landwehren, das heißt Annäherungshindernisse aus Wallgräben und verdichteten, ständig gepflegten Heckenpflanzungen, das gesamte Territorium reicherer Städte; natürliche Hindernisse wie Täler, Steilhänge oder Gewässer wurden dabei einbezogen. Die Straßendurchlässe waren meist durch Schlagbäume, im 15./16. Jahrhundert auch durch Wachtürme mit Toren gesichert, viele Landwehren zudem mit Warten kombiniert. Die Ursprünge solcher Landwehren lagen weit vor der Entstehung der mittelalterlichen Städte, 4. Die Stadtmauer als Symbol
353
das heißt, sie dienten schon im Frühmittelalter – und, wenn man etwa Limes, Hadrianswall oder die Chinesische Mauer betrachtet, noch weit früher – der Sicherung größerer Regionen, in denen im deutschen Raum meist noch keine Städte lagen. Das älteste Beispiel einer städtischen Land-
wehr in Deutschland bietet bisher Helmstedt, wo sie 1252 belegt ist. Die Blütezeit lag jedoch erst im 15./16. Jahrhundert; das Kerngebiet der Landwehren und auch das isolierter Warttürme umfasste damals vor allem Franken, Hessen und Westfalen.
Späte Ummauerungen und stilistische Neuerung – Ende des 14. Jahrhunderts und 15. Jahrhundert Ab dem späten 14. Jahrhundert nahm die Anzahl neu entstehender Ummauerungen im deutschen Raum deutlich ab, was fraglos als Sättigungseffekt zu verstehen ist – noch mehr Städte waren für das wirtschaftliche System der Epoche offenbar unnötig, zumal von Anfang an auch Fehlgründungen vorgekommen waren, das heißt Städte, bei denen die Ausgangsbedingungen nicht für ihr Gedeihen ausreichten. Jene Städte jedoch, die sich als entwicklungsfähig erwiesen hatten, waren bis etwa Mitte des 14. Jahrhunderts in der Regel ummauert worden. Was daher nach dem tief greifenden sozialen und wirtschaftlichen Einbruch, der vor allem durch die Pestepidemien ab 1348 ausgelöst wurde, noch an den Stadtmauern neu entstand – noch vor den viel tiefer greifenden Veränderungen, die durch die aufkommenden Feuerwaffen ausgelöst wurden –, hatte einen grundsätzlich anderen Charakter als in der vorhergehenden Phase, als die neuen Städte und Mauern wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Neben nur noch wenigen Neubefestigungen wurden nun einerseits vorhandene Mauern erhalten und verbessert; man baute hier oder dort einen Turm an, umlaufende Zwinger und Torzwinger wurden hinzugefügt usw. Andererseits hatte sich inzwischen eine Spitzengruppe von Städten herausgebildet, in denen Handel und Produktion blühten; dort hatten sich immer mehr Menschen angesiedelt, es war Bebauung vor den Toren entstanden und daher setzte sich bei der Führungsschicht solcher Städte die Erkenntnis durch, dass man zumindest diese Vorstädte zusätzlich befestigen oder aber, besser noch, sie durch einen neuen, zusammenfassenden Mauerring schützen musste. 354 I. Systematischer Teil
Diese neuen Vorstadtbefestigungen oder äußeren Mauerringe unterschieden sich in ihren einzelnen Bauteilen wenig von den Formen der vorangegangenen Zeit. Es entstanden weiterhin Stadtmauern, die in sehr regelmäßiger Weise mit formal normierten Türmen ausgestattet wurden, wie beispielsweise in Nürnberg oder Ingolstadt. Andererseits fallen in dieser Zeit ab dem späteren 14. Jahrhundert aber auch Mauern auf, deren Turmformen in auffälliger Weise variierten. Quadratische Türme stehen neben runden oder u-förmigen, Volltürme neben Schalen- oder Erkertürmen, hohe neben niedrigen, bestes Buckelquaderwerk wurde neben billigem Bruchstein verwendet. Darin zeigen sich zum Teil sicherlich alte Probleme: Die hohen Kosten erzwangen anfangs den weitgehenden Verzicht auf Türme, sodass die Mauer dann erst nach und nach, über einen längeren Zeitraum mit Türmen verstärkt wurde. Dabei führten wechselnde Baumeister – und wenig später auch das Vordringen der Feuerwaffen – zu recht verschiedenartigen Formen; Nördlingen ist das beste Beispiel solcher erst nach und nach ergänzten Mauern, das man noch fast vollständig besichtigen kann. Aber sicherlich führten nicht nur ökonomischpraktische Einschränkungen zum formalen Reichtum vieler Mauern des späten 14. und des 15. Jahrhunderts, sondern es hatte auch eine Entwicklung der ästhetischen Ideale gegeben, die im Sakralbau, aber auch bei vornehmeren profanen Bauaufgaben wie Rathäusern oder Bürgerhäusern, mit dem Begriff der Spätgotik beschrieben wird. Dass die Freude am Abwechslungsreichen, Vielformigen, gelegentlich sogar Skurrilen der späten Gotik auch bei der Gestaltung von Stadtmauern eine Rolle spielte, bestätigt zusätzlich die Entwicklung in bestimmten Regionen, wo
das verfügbare Baumaterial eine reichere Durchgestaltung vor allem der Tor(türm)e ermöglichte oder sogar nahelegte. In erster Linie ist hier das nord- und ostdeutsche Backsteingebiet zu nennen, wo das kleinformatig normierte oder auch ornamental formbare Material – Backstein, Terrakotta – nicht nur abwechslungsreiche Wandgliederungen ermöglichte, sondern wo im späten 14. und im 15. Jahrhundert darüber hinaus auch die baukörperliche Durchbildung einen Reichtum entwickelte, der so in anderen Regionen unerreicht blieb. An die Seite stellen kann man dem immerhin gewisse Turmformen im mittelrheinischen Schiefergebiet, wo das ebenso kleinteilige, mit viel Mörtel zu verbauende und abschließend zu verputzende Baumaterial ebenfalls zu formalen Experimenten führte, die sich hier allerdings eher auf die Grundrisse und gegebenenfalls Auskragungen oder Friese bezogen; dass dies – hier wie auch in den Backsteingebieten – ehemals eine reiche Farbgestaltung ergänzte, können wir nur noch erschließen. Durch die äußeren Mauerringe wurden die älteren Mauern obsolet. Die Mauern als solche und auch die Türme, soweit sie schon vorhanden gewesen waren, wurden meist verbaut oder abgetragen, um ihr Material anderweitig zu verwenden. Manche Tortürme dieser älteren Mauern jedoch blieben erhalten und wurden zu einer Art „Stadttürme“ uminterpretiert, die oft reich ausgestaltet bzw. erneuert wurden, um den
Stadtbewohnern und ihren Gästen und Handelspartnern symbolhaft den Reichtum der Stadt zu verdeutlichen. Eine ähnliche ästhetische Funktion übernahmen in dieser Phase manche besonders hohen und reich ausgestalteten Türme, die mit den neuen äußeren Mauern entstanden und an besonders gut sichtbarer Stelle schon von Ferne dem Ankömmling die Bedeutung der Stadt als „Wahrzeichentürme“ vor Augen führten. Vor allem am Rhein entlang, aber auch in anderen Städten vor allem an Flüssen, gibt es wohlerhaltene Beispiele solcher Türme, die praktisch alle erst aus dem 15. Jahrhundert stammen (Rüdesheim, Oberwesel, Andernach, Köln: „Bayenturm“ und weitere). Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen auf der Ebene ästhetischer Wirkung sind größere fortifikatorische Verbesserungen in der Zeit zwischen dem späten 14. Jahrhundert und der Mitte/ zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht festzustellen. Das Einzige, was man hier vermerken muss, ist die zunehmende Häufigkeit der Zugbrücken, die offenbar auch zur schnellen und weiten Verbreitung einer Minimalform des Torzwingers führte, nämlich des „Vortores“, dessen Kleinheit wohl damit zu erklären ist, dass hier vor allem die Aufzugsvorrichtung der Zugbrücke untergebracht werden sollte, die man in einen dickwandigen und in der Durchfahrt beengten Torturm kaum nachträglich einbauen konnte.
Das Aufkommen der Feuerwaffen (spätes 14. bis 16. Jahrhundert) Feuerwaffen sind im deutschen Raum seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts belegbar, erste spektakuläre Zerstörungen von Burgen durch Pulvergeschütze ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aber es dauerte bis zur Mitte oder gar zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, bis sich auch die Befestigungen merklich zu wandeln begannen, um der neuartigen Bedrohung etwas entgegenzusetzen. Der Grund dieser Verzögerung dürfte darin liegen, dass die frühen Belagerungsgeschütze, die schwer zu transportieren und mühevoll zu bedienen waren, noch selten eingesetzt wurden, sodass man sie noch nicht als grundsätzliche Gefahr erkennen konnte. Erst we-
sentliche Weiterentwicklungen der Technologie konnten dazu führen: nämlich die Entwicklung leichterer, auf Lafetten besser transportabler Geschütze, deren ständige Pflege in Zeughäusern, ferner die Normierung der Kugeln, sodass sie immer wieder und auch in verschiedenen Geschützen verwendbar waren, und schließlich der Übergang von Stein- zu Eisenkugeln. Hinter diesen Entwicklungen standen natürlich solche auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, denn nur reiche und mächtige Fürsten, Territorien und auch Städte konnten sich den Aufwand leisten, den der dauerhafte Unterhalt und häufige Einsatz dieser neuartigen Artillerie erforderte. 4. Die Stadtmauer als Symbol
355
Und eben diese Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Territorien zeigte sich auch bei den Verstärkungen der Stadtbefestigungen ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Denn nicht einmal die größten und reichsten Städte der Zeit konnten es sich leisten, ihre Stadtmauer in ihrer Gesamtheit durch eine moderne Umwehrung zu ersetzen – also durch mehrere Meter dicke Mauern, oder besser: Wälle mit Mauerfront, und durch systematisch angeordnete Kanonentürme mit Geschützscharten. Was man daher mindestens bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts allenthalben antrifft, ist eine eher pragmatisch-sparsame und daher nur bedingt effektive Anpassung der alte Stadtmauern an die neuartige Bedrohung bzw. an die Notwendigkeit, den Angreifer und seine Geschütze in eine viel größere Entfernung von den Befestigungen zu zwingen, als es in der Zeit vor den Feuerwaffen der Fall war. In der Regel sah das so aus, dass die nun viel zu dünnen Mauern dennoch als solche bestehen blieben und lediglich ihre Zinnen zu Schlitz- oder Schlüsselscharten verkleinert wurden; viele Zwinger entstanden erst jetzt, als Plattform und Bewegungsraum für die nun flach über das Vorfeld feuernden Geschütze und mit Streichwehren verschiedenster Form zur Beherrschung der Gräben. Die hoch aufragenden Türme, deren Einsturz große Schäden hätte anrichten können, wurden gelegentlich gekappt (z. B. in Nürnberg) und für die Aufstellung von Geschützen eingerichtet; dabei entstanden zu Anfang des 15. Jahrhunderts aber durchaus noch vereinzelt neue, besonders dickwandige Türme mit Scharten für Geschütze und Handfeuerwaffen – das Verständnis der neuen Situation und die Reaktion darauf sahen also von Stadt zu Stadt noch recht unterschiedlich aus. Darüber hinaus leisteten sich viele Städte aber durchaus Neubauten, die mit ihren dicken Mauern und Geschützstellungen den Notwendigkeiten der Artillerie entsprachen. Neben den schon erwähnten Zwingern mit Streichwehren waren dies vor allem Kanonentürme bzw. Rondelle und – zumindest in bestimmten Regionen – auch Barbakanen. Die Platzwahl für diese Neubauten entsprach dabei noch ganz den Traditionen der mittelalterlichen Befestigung, das heißt, neben den Toren wurden vor allem Ecken verstärkt sowie Stellen, die durch ein gut 356 I. Systematischer Teil
zugängliches Vorgelände oder gar durch eine überragende Anhöhe besonders bedroht schienen. Dies war nicht nur verständlich, sondern auch durchaus sinnvoll; allerdings wird mit Blick auf die wenig später aus Italien „importierte“ bastionäre Befestigungsweise deutlich, welche Möglichkeiten in dieser Phase des 15. und frühen 16. Jahrhunderts noch ungenutzt blieben. Denn höchstens als seltene Ausnahme gab es bereits ein Bemühen um die gegenseitige Flankierung der Werke, die dann ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei deutlich geringerem Bedarf von Geschützen die lückenlose Bestreichung des Vorgeländes erlauben sollte. Die Geschütze wurden in dieser früheren Entwicklungsphase noch frontal auf den Angreifer gerichtet, die Flankierung in die Gräben hinein erfolgte vor allem mit Handfeuerwaffen aus den zahlreichen Streichwehren. Dementsprechend wiesen sowohl die Rondelle, die häufigste Form von Kanonentürmen, als auch die Barbakanen als weitere Aufstellungsorte von Geschützen gerundete Formen auf – man versuchte weiterhin, in einem eher passiven Denkansatz, den Geschossen des Angreifers eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten, anstatt durch gerade geführte Facen das flankierende Feuer des benachbarten Bollwerks zu optimieren. Im Detail wiesen die Rondelle des 15./16. Jahrhunderts eine große Variationsbreite auf. Verschiedene Positionen im Mauerverlauf, vorgeschoben auf dem Wall oder etwa am Torzwinger, kamen vor; Durchmesser und Mauerdicke konnten höchst unterschiedlich ausfallen, ebenso Geschosszahl und Ausbildung der Decken – Balkendecken oder Gewölbe –, schließlich auch die Anzahl, Anordnung und Form der Scharten sowohl für Geschütze als auch für Handfeuerwaffen; sogar rechteckige Kanonentürme gab es, wenn auch nur als Ausnahme (Ornbau in Franken). Ganz unverkennbar ist also in dieser Entwicklungsphase noch kein „System“ festzustellen, dessen hohe Effektivität zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der Formen geführt hätte. In der Phase der Rondelle wurde vielmehr experimentiert; die meisten der für Befestigungen herangezogenen Baumeister versuchten ihren eigenen Weg zum wirksamsten und zugleich bezahlbaren Bau zu finden – und so war in dieser Zeit alles möglich: vom geduckten, öffnungsar-
men „Bunker“ bis zum weiterhin vielgeschossig und schlank aufragenden Turm, den eigentlich nur seine vielen Scharten von weit älteren Bauten unterschieden. Eine weitere zukunftsträchige Entwicklung der Zeit um und nach 1500 bestand in der wachsenden Bedeutung von artillerietauglichen Anlagen, die ganz oder zumindest weitgehend aus Erde bestanden. In ihnen zeigte sich die lang-sam zunehmende Erkenntnis, dass sprödes Mauerwerk auch bei extremer Dicke dem konsequenten Artillerieeinsatz – einem über Tage und Wochen andauernden, zielgenauen Beschuss mit Kanonen – nicht widerstehen kann, während Kanonenkugeln in Erdwällen einfach stecken bleiben, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Zudem waren Erdarbeiten weitgehend von ungelernten „billigen“ Arbeitskräften auszuführen, während teure Steinmetzarbeiten fast völlig, Mauerarbeiten zumindest in großem Umfang unterbleiben konnten. Dabei ist allerdings bei den frühen Erdwerken, wie sie ab dem beginnenden 15. Jahrhundert entstanden, weiterhin unübersehbar, dass passives Denken bei ihrer Gestaltung eine große, wenn nicht die überwiegende Rolle spielte. Dies zeigt sich schon darin, dass alle größeren Anlagen, die dann als Aufschüttungen entstanden, in der Regel die mittelalterlichen Mauern und Gräben nicht ersetzten, sondern ihnen vorgelagert wurden – sie entstanden als Außenwerke,
denn vor dem inneren Graben vieler, wenn nicht der meisten mittelalterlichen Befestigungen lagen noch ein Außenwall und vor diesem ein zweiter Graben, die man nur verstärken musste. Durch Erhöhung dieses Außenwalles konnte man eine Deckung für die weiterhin bestehenden Stadtmauern schaffen. Wo ein solcher „Deckungswall“ erhalten ist, was freilich selten der Fall ist, kann man noch sehen, dass die älteren Mauern – vor allem, wenn zusätzlich die Türme gekürzt worden waren – vollständig hinter ihm verschwinden; man konnte sie von der Feldseite her nicht mehr sehen, also auch nicht direkt auf sie schießen (ein Vorteil, der jedoch bald durch die Entwicklung der Mörser aufgehoben wurde, die in hohem Bogen über die Befestigung hinwegschossen, wenn auch mit geringerer Zielgenauigkeit). Manchmal wurden in solche neuen Wälle auch (selten erhaltene) Kasematten eingebaut, aus denen Geschütze frontal auf das Vorfeld feuern konnten. Aber weitaus typischer für die Entwicklungsphase um und nach 1500 waren große Erdrondelle, die – ähnlich den Streichwehren und steinernen Rondellen der Zeit – ein gewisses Maß an Flankierung erlaubten. Sie boten auf ihren Plattformen mehr Platz für Geschütze, aber ihre Rundform ließ weiterhin „tote Winkel“ bestehen, ein Nachteil, der erst durch die spitzen Bastionen der nächsten, bereits nachmittelalterlichen Entwicklungsphase beseitigt wurde.
Nachleben und Nachwirkung Die Verbreitung und rasch zunehmende Effektivität der Artillerie führte spätestens Ende des 16. Jahrhunderts dazu, dass die mittelalterlichen Befestigungen der Burgen und Stadtmauern ineffektiv wurden. Die wegen Geldmangels fast überall beibehaltenen mittelalterlichen Mauern und Türme boten einem mit guter Artillerie ausgestatteten Angreifer allemal eine Schwachstelle, die durch konzentriertes Feuer leicht zu zerstören war. Auf die Dauer konnten daher nur jene Mächte in der anhaltenden Konkurrenz der Territorien bestehen, die sich vollständige bastionäre Festungen leisten konnten: Städte oder anfangs auch „bastionierte Schlösser“, die voll-
ständig von gemauerten oder aus Erde aufgeschütteten Kurtinen umgeben waren, mit Bastionen an den Knickpunkten, die sich gegenseitig lückenlos flankieren konnten. Solche neuartigen Festungen waren jedoch so teuer, dass nur die größten und besonders gut verwalteten Territorien sie errichten und unterhalten konnten – ein wichtiger Aspekt des Weges zum Absolutismus. Freilich fand dieser Übergang von der spätmittelalterlichen Stadtbefestigung zur bastionären Festung nicht plötzlich statt, sondern es sind über einen beachtlich langen Zeitraum vielfältige Übergangsformen zu beobachten. Neben hochmodernen Festungsanlagen findet man bis ins 4. Die Stadtmauer als Symbol
357
17. und 18. Jahrhundert hinein auch Neubauten, die in einer aus heutiger Sicht anachronistischen Weise die Traditionen des Hoch- und Spätmittelalters weiterführten. So entstanden im Laufe des 17. Jahrhunderts nicht nur die großartigen Tortürme Elias Holls in Augsburg oder jene in Nördlingen, die den alten Bautypus im Sinne eines Zentralbaus zu interpretieren suchten, sondern ganz zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar noch ein Torturm wie jener in Neuenstadt am Kocher, den man – wären nicht die Datierungen am Bau und weitere Details – auch ins 15. Jahrhundert setzen könnte. Ein außergewöhnlicher Fall anderer Art ist der „Rosenobelturm“ in Überlingen, der noch 1657 nicht in Bastionsform, sondern als massives Rondell neu entstand, weil sich die eigentlich überholte Rondellbefestigung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg anscheinend nochmals bewährt hatte. Zu dieser Zeit aber waren die mittelalterlichen Mauern der Städte generell längst funktionslos. Sofern sie überhaupt noch ganz oder in Teilen stehen blieben, setzten Umnutzung, Verbauung und Verwahrlosung ein. In manchen Fällen entstanden vor den Mauern oder an ihrer Stelle bastionäre Befestigungsringe – ab dem 17. Jahrhundert weitgehend aus Erde aufgeschüttet und daher billiger –, die den mittelalterlichen Mauern eine letzte Gnadenfrist gewährten, weil sie als stadtseitige Absperrung der modernen Werke dienen konnten. Die Kehrseite der Medaille zeigte sich in diesen Fällen im 19. Jahrhundert, als die meisten der überflüssig gewordenen Festungswerke geschleift wurden; da die in sie integrierten mittelalterlichen Reste kaum je in ihrer Eigenwertigkeit erkannt wurden, hat man sie in der Regel mitzerstört. Aber auch dort, wo strategisch weniger wichtige Städte keinen bastionären Ausbau erfahren hatten, wurden viele Mauern im 19. Jahrhundert zerstört. Nur gelegentlich ist damals belegbar, war aber fraglos weitverbreitet, dass die Mauern bei den Bürgern ein Gefühl der Eingesperrtseins erzeugt hatten. Es äußerte sich oft in der Form, dass die Tore vor allem als Verkehrshindernis bezeichnet und abgerissen wurden – wohlgemerkt lange vor dem Aufkommen des Autoverkehrs. Im Mittelalter war die Isolierung durch die Befestigungen als notwendiges Übel hingenommen worden und danach hatte sie noch lange 358 I. Systematischer Teil
die herrschaftliche Autorität geschützt, weil sie zumindest als Schutz vor Räubern oder als Akzisemauern nützlich waren. Nun aber, spätestens nach den Reformen der napoleonischen Zeit, entfielen auch diese letzten Argumente zur Erhaltung der Mauern, und so entstand endlich die Möglichkeit, die seit Langem störenden Barrieren niederzulegen und das Material anderswo zu verwenden bzw. gewinnbringend zu verkaufen. Die Gegenbewegung, deren Wurzeln anfangs in herrschenden Dynastien, dann aber vor allem im gebildeten Bürgertum der Zeit lagen, ließ jedoch in der Epoche rascher Entwicklungen, die das 19. Jahrhundert darstellte, nur wenige Jahrzehnte auf sich warten. Allererste Äußerungen, dass man in den nutzlos gewordenen mittelalterlichen Profanbauten auch schützenswerte Denkmäler einer bedeutsamen – zunächst vor allem national empfundenen – Vergangenheit sah, sind im späten 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu notieren, wobei freilich staatlich organisierte Maßnahmen zu ihrem Schutz zunächst nur zögerlich umgesetzt wurden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als einerseits das Verschwinden der Stadtmauern längst einen erschreckenden Umfang erreicht hatte und andererseits das Aufblühen der industriellen Produktion auch Gelder für Erhaltungsmaßnahmen verfügbar machte, kam in Deutschland eine organisierte Denkmalpflege zum Tragen, die vielerorts wichtige Bauten bewahren konnte. Nicht vergessen darf man dabei freilich, dass gerade manche der besterhaltenen Mauern, etwa in Mittelfranken, ihr Überleben nicht so sehr einem hoch entwickelten kulturellen Bewusstsein verdanken, sondern vielmehr der Tatsache, dass die betreffenden Städte gerade in der Phase intensiver Zerstörungen den Anschluss an die industrielle Entwicklung zeitweise verpasst hatten; und, als sie diese Schwächephase dann überwunden hatten, war das Denkmalbewusstsein zum Glück bereits so weit entwickelt, dass ein Nachholen der Zerstörungen nicht mehr infrage kam. Dass, ganz im Gegensatz dazu, gerade die im 19./20. Jahrhundert wichtigsten Handels-, Residenz- und Industriestädte, die Metropolen der Neuzeit, kaum auf gepflegte mittelalterliche Bauten, sondern auf ganz andere Formen städ-
tebaulicher Repräsentation setzten, ist ebenfalls eine Wahrheit über die aufblühende bürgerliche Gesellschaft. Gerade dort, wo man durch Einebnung der Bastionen, Gräben, Vorwerke und des Glacis einen breiten Ring unbebauten Geländes rings um die Altstadt hatte gewinnen können – Wien und Köln sind berühmte Beispiele –, wurden gänzlich neue städtebauliche Strukturen geschaffen. Breite Boulevards oder Grüngürtel schufen in diesen Fällen die Möglichkeit, Bauten von politischer oder kultureller Bedeutung oder
auch nur aufwendig gestaltete Wohnhausfassa den gut sichtbar anzuordnen und damit dem alten, „engen“ Stadtkern ein betont modernes Bild entgegenzusetzen. Solche Ringstraßen oder Parks sind für den stadtgeschichtlich Interessierten bis heute unverkennbare Indizien, wo die Stadtbefestigungen einmal verliefen; dem weniger spezialisierten Bürger oder Besucher dürfte jedoch eher selten klar werden, was solche markanten städtebaulichen Situationen noch über die Geschichte der Stadt aussagen.
4. Die Stadtmauer als Symbol
359
Über den Inhalt Ohne Stadtmauer keine mittelalterliche Stadt! Die Befestigung der großen Reichsstädte wie der vielen kleinen landesherrlichen Städte ist ein einzigartiges Charakteristikum des europäischen Mittelalters. Der Architekt und Bauhistoriker Thomas Biller schreibt das erste umfassende Handbuch zur Stadtbefestigung im deutschsprachigen Raum überhaupt. »Thomas Biller ist der mit Abstand beste Kenner in diesem Bereich und arbeitet seit vielen Jahren an einer Erfassung aller Stadtmauern im deutschsprachigen Bereich. Das Buch von Thomas Biller zu den Stadtmauern im deutschsprachigen Bereich ist ein absolutes Desiderat.« Prof. Dr. G. Ulrich Großmann, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
Über den Autor Dr. phil. Dr.-Ing. Thomas Biller ist Architekturhistoriker sowie Inhaber eines Büros für Baugeschichte und -forschung in Freiburg im Breisgau. Er ist einer der profiliertesten Burgenforscher Deutschlands und verfasste zahlreiche Publikationen zur Architekturgeschichte, so die Monographie »Templerburgen« (Zabern Verlag 2014).