Die Bindung der Wahlberechtigung an den Wohnsitz im Inland: Eine verfassungsrechtliche und verfassungsgeschichtliche Kritik [1 ed.] 9783428581498, 9783428181490

Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag knüpft neben dem Wahlalter traditionell an die Staatsangehörigkeit und die Ansässi

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German Pages 414 [415] Year 2021

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Die Bindung der Wahlberechtigung an den Wohnsitz im Inland: Eine verfassungsrechtliche und verfassungsgeschichtliche Kritik [1 ed.]
 9783428581498, 9783428181490

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1453

Die Bindung der Wahlberechtigung an den Wohnsitz im Inland Eine verfassungsrechtliche und verfassungsgeschichtliche Kritik

Von

Friedemann Larsen

Duncker & Humblot · Berlin

FRIEDEMANN LARSEN

Die Bindung der Wahlberechtigung an den Wohnsitz im Inland

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1453

Die Bindung der Wahlberechtigung an den Wohnsitz im Inland Eine verfassungsrechtliche und verfassungsgeschichtliche Kritik

Von

Friedemann Larsen

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Philipps-Universität Marburg hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18149-0 (Print) ISBN 978-3-428-58149-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Februar 2020 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Gesetzesänderungen sowie Rechtsprechung und Literatur sind bis zum Juni 2019 berücksichtigt. Mein erster Dank gilt meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Dr.  h. c. Hans-Detlef Horn, der die Arbeit angeregt, betreut und durch seinen kon­struktiven Rat in jeder Hinsicht gefördert hat. In meiner Zeit als Assistent an seinem Lehrstuhl verschaffte er mir Einsichten und Erkenntnisse, die meine juristische Denk- und Arbeitsweise bis heute nachhaltig prägen. Zu danken habe ich ferner Herrn Professor Dr. Sven Simon (LL. M.) MdEP für die eingehende und zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Dr. Florian R. Simon (LL. M.) danke ich für die Aufnahme der Arbeit in das Verlagsprogramm von Duncker & Humblot und Frau Heike Frank für die ebenso zuverlässige wie hilfreiche Begleitung der Drucklegung. Für vielfältige Unterstützung danke ich ferner Frau Christiane Bauer, Herrn Dr. Florian Kotman (LL. M.) und Herrn Oliver G. Hartmann. Ich widme die Arbeit meinen Eltern, Jörgen und Annelore Larsen. Marburg, im September 2020

Friedemann Larsen

Inhaltsverzeichnis Einführung 21 A. Einführende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 I. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Grundpfade in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 C. Weitere Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 D. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Erster Teil

Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 31 1. Kapitel



Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts in Anbetracht der wahlrechtlichen Inlandsbindung

31

A. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Gegenwärtige Ausgestaltung des Wahlrechts durch das Bundeswahlgesetz . . . . . . . . 34 I. Reichweite und Umfang gesetzgeberischer Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Aktives Wahlrecht und Inlandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Aktives materielles Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Regel-Ausnahme-Verhältnis der Inlandsbindung am Wahltag . . . . . . . . . 36 b) Systematik der aktuellen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 c) Wahlbeteiligung und prozedurale Auswirkungen der Regel- und Ausnahme­ tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Ausübung des aktiven materiellen Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Wählbarkeit und Inlandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Passives materielles Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Ausübung des passiven materiellen Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

8

Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel



Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel in der Bundesrepublik Deutschland

44

A. Wohnsitzbindung im aktiven Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Die frühen Wahlgesetze zum ersten und zum zweiten Bundestag . . . . . . . . . . . . 45 1. Historische Begleitumstände nach 1945 und Wahlrechtsverhandlungen im Parlamentarischen Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Juni 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Wahlgesetz zum 2. Bundestag und zur Bundesversammlung vom 8. Juli 1953 50 II. Inlandsbindung im Wahlrecht der „alten“ Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Siebtes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 15. März 1985 . 55 a) Inhalt der Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 b) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 c) Erwägungen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 III. Inlandsbindung im Wahlrecht nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages vom 3. August 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. April 1998 64 3. Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17. März 2008 66 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 B. Wohnsitzbindung im passiven Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 I. Die frühen Wahlgesetze zum 1. und 2. Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 II. Wählbarkeit nach Einführung des Bundeswahlgesetzes (1956) . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Gesetzlicher Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Wählbarkeit und Staatsangehörigkeit bei neu Eingebürgerten . . . . . . . . . . . . 72 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

3. Kapitel

Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

74

A. Die Allgemeinheit der Wahl in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 I. Konturierung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Auffassungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 B. Wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklauseln als Wahlrechtsbeschränkung . . . . . . . . . . . . 78 C. Der „zwingende Grund“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . 79

Inhaltsverzeichnis

9

I. Die Formel vom „zwingenden Grund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Herkunft und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. „Zwingende“ und „legitime“ Gründe zur gesetzgeberischen Differenzierung im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Von der Rechtsprechung anerkannte „zwingende Gründe“ für die wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Deutsche Teilung – grundlegend BVerfGE 5, 2 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Tradition – grundlegend BVerfGE 36, 139 ff. und BVerfGE 58, 202 ff. . . . . . 87 3. Funktionen der Wahl – Grundlegend BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 f.; BVerfGE 132, 39 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 D. Auffassungen in der Literatur zum „zwingenden Grund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. Grundlegende Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 II. Diversität innerhalb der grundlegenden Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Rezeption des Traditionsarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Rezeption von Wahlziel und Wahlfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Weitere Auffassungen zu den zwingenden Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Auswertung und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

4. Kapitel

Grundlegende Bewertung und Kritik

101

A. Allgemeinheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 I. Beschränkung des Wahlrechts auf deutsche Staatsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Staatsangehöriger und Staatsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Staatsbürgerschaft und Wohnsitz im Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Wohnsitzklauseln als verbotene gruppenspezifische Differenzierung? . . . . . . . . 109 1. Aussage des Verbots gruppenspezifischer Merkmale im Wahlrecht . . . . . . . . 109 2. Sesshaftigkeit als verbotenes persönliches Merkmal? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 B. Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 I. Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Argumentationsfolge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 116 2. Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

10

Inhaltsverzeichnis II. Schrankenbestimmung im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Gesetzes- oder Regelungsvorbehalt des Art. 38 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Einheit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Das Problem der gerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Ziele und Funktionen der Wahl als verfassungsunmittelbare Schranken . . . . . . . 133 1. Aufgabe und Funktion der Volksvertretung als Subjekt demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang und Kommunikationsfunktion der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 IV. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Hintergrund der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . 138 2. Bestimmung der zwingenden Gründe und Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . 141

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

5. Kapitel

Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit der für die Sesshaftigkeitsklausel als „zwingend“ angesehenen Gründe

144

A. Deutsche Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 B. Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 I. Bedeutung des Traditionsarguments in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Tradition als verfassungsunmittelbare Schranke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Möglicher Einfluss traditioneller Betrachtung auf das heutige Wahlrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 C. Funktionen der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 I. Integrationsfunktion und Kommunikationsfunktion der Wahl als verfassungsunmittelbare Schranke der Wahlzugangsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Integration durch ständige Wechselwirkung gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Funktionen von Wahlen zum Deutschen Bundestag bei der politischen Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) „Integrationsfunktion“ von Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) „Kommunikationsfunktion“ von Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Sesshaftigkeitsklauseln als geeignete und erforderliche Mittel zur Erfüllung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Inhaltsverzeichnis

11

1. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 III. Weitere Bedenken gegen die Sesshaftigkeitsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 D. Herstellung eines Verantwortungszusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I. Verantwortungszusammenhang als verfassungsunmittelbare Schranke der Wahlzugangsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Strukturelle Zuordnung zu den demokratischen Wahlfunktionen . . . . . . . . . . 175 2. Anpassungen an Reichweite und Inhalt des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Sesshaftigkeitsklauseln als taugliche Mittel zur Herstellung des demokratischen Verantwortungszusammenhangs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Schleichende Konturierung eines neuen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 E. Vertrautheit mit den Verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I. Vertrautheit als tragende Zweckbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 II. Vertrautheit und Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Wahlalter, Art. 38 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Staatsangehörigkeit, Art. 16 und 116 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Vertrautheitsbedingungen beim klassischen Erwerb der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 aa) Erwerb durch Einbürgerung (Naturalisation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 bb) Erwerb durch Abstammung (ius sanguinis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Berücksichtigung neuerer Entwicklung bei Erwerb durch Geburt im Inland (ius soli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 c) Schlussfolgerung für das Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Weitere demokratiebedingte Vertrautheitsanforderungen? . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Wahlalter und Staatsangehörigkeit als hinreichend typisierte Bedingung . 197 b) Typisierung als demokratische Maßgebung für Wahlrechtsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Passives Wahlrecht und Wohnsitzbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 F. Weitere „zwingende“ Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 G. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

12

Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel



Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung des Wahlrechts vom 27. April 2013

207

A. Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . 207 B. Bedenken gegen die Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Fortzugsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Mindestaltersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Rechtsstaatlicher Grundsatz der Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Unterschiedliche Vertrautheitsanforderungen nach Nr. 2 gegenüber Nr. 1? . . 222 3. Betroffenheit als eigenständiges Vertrautheitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4. Probleme auf Anwendungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

7. Kapitel

Maßgaben für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens

228

A. Rein formelles Wohnsitzverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 B. Antragserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Ergebnisse des Ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Zweiter Teil

Traditionsargument und historisches Wahlrecht 242 1. Kapitel



Gang der weiteren Untersuchung

242

A. Gründe für eine historische Untersuchung der wahlrechtlichen Inlandsklauseln . . . . 242 B. Reichweite der historischen Untersuchung zu den wahlrechtlichen Inlandsklauseln . . 243 C. Gang der Untersuchung zum historischen Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

2. Kapitel

Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus – eine Bestandsaufnahme

247

A. Historische Hintergründe zu den Anfängen und zur Entwicklung des Wahlrechts im Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Inhaltsverzeichnis

13

I. Konstitutionelle Anfänge unter Napoleon nach dem Untergang des alten Reiches 248 II. Wiener Kongress und die Frage nach dem Souverän . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 B. Die Rolle der Landstände im monarchisch konstituierten Verfassungsstaat . . . . . . . . 253 C. Die frühe Wahlrechtsentwicklung, dargestellt am Wahlrecht der süddeutschen Terri­ torien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I. Historisches Wahlrecht in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Passives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 II. Historisches Wahlrecht in Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Passives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III. Historisches Wahlrecht in Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Passives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 D. Die Wahlrechtsentwicklung im Vormärz bis zur Revolution 1848/1849 . . . . . . . . . . . 269 I. Allgemeine Konfliktlage im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Bedeutung für die Verfassungsentwicklung am Beispiel Kurhessens . . . . . . . . . 272 1. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Passives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

3. Kapitel

Vorstellungen von Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie – eine Annäherung

275

A. Politische Teilhabe im Lichte der Freiheitsbewegung im beginnenden 19. Jahrhundert 276 B. Bedingungen politischer Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Historische Schule und Traditionalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1. Justus Möser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. August Wilhelm Rehberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 II. Rationalistische Wahlrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

14

Inhaltsverzeichnis 1. Karl von Rotteck und Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Karl August zum Bach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3. Johann Friedrich Benzenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Substrate der Organischen Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4. Kapitel

Grundbesitz und Ansässigkeit als Mehrfachbedingung bürgerlicher Freiheit in den konstitutionellen Rechtsordnungen der Einzelstaaten

291

A. Das Stadt- und Bürgerrecht als Bedingung lokaler Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Herkunft und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 II. Bindung an Grundbesitz und Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 B. Berechtigung zum Grundbesitz sowie zur Ausübung von Gewerbe . . . . . . . . . . . . . . 299 I. Herkunft und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 II. Bindung an Grundbesitz und Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 C. Die Staatsangehörigkeit als statusbegründender Bezugspunkt zur Ausübung von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 I. Herkunft und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1. Staatsangehörigkeit als Mittel verwaltungsrechtlicher Zuordnung . . . . . . . . . 309 2. Staatsangehörigkeit und Aktivbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts – Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Süddeutsche Territorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 III. Bindung an Grundbesitz und Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 5. Kapitel

Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung und das Wahlgesetz um 1848/1849

317

A. Das Bundeswahlgesetz für die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung . . . . . 318 I. Zur Selbstständigkeit als Kriterium des Wahlrechts und der Wählbarkeit zur Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 II. Zur Staatsangehörigkeit als Kriterium des Wahlrechts und der Wählbarkeit zur Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Inhaltsverzeichnis

15

B. Zur Allgemeinheit des Wahlrechts in der Reichsverfassung vom 28. März 1849 . . . . 322 C. Zur Allgemeinheit des Wahlrechts im Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 . . . . . . 324 I. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 1. Ergebnisse der Beratungen im Verfassungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2. Ergebnisse der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung . . . . . . . . . 326 a) Materielle Wahlberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 b) Formelle Wahlausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 aa) Zweckrichtung: Verbot der Mehrfachstimmabgabe . . . . . . . . . . . . . . 329 bb) Zweckrichtung: Sicherung der Vertrautheit durch Heimatbindung? . 330 II. Wählbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Ergebnisse der Beratungen im Verfassungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Ergebnisse der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung . . . . . . . . . 335 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

6. Kapitel

Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

338

A. Das Scheitern der Revolution und der Rückfall in die Restauration . . . . . . . . . . . . . . 338 B. Wahlrecht und Sesshaftigkeit bis zum Ende der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 I. Norddeutscher Bund und Deutsches Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 1. Aktives Wahlrecht unter Geltung des RWahlG 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2. Passives Wahlrecht unter Geltung des RWahlG 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 II. Wahlrecht und Reichsangehörigkeit vor und nach 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 C. Wahlrecht und Sesshaftigkeit in der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 I. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 II. Weimarer Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 1. Aktives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2. Passives Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 3. Wahlrecht und Territorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 D. Unbedenklichkeit der Wohnsitzklauseln aus Sicht der Wahlrechtstheorie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 I. Rechtsanschauungen zum Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 1. Wahlrecht als Staatsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Wahlrecht als subjektives öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 II. Auswirkungen auf das wahlrechtliche Wohnsitzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

16

Inhaltsverzeichnis 7. Kapitel



Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

359

A. Erneute Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur traditionellen Inlandsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 B. Erneute Bewertung der Vertrautheit als eigenständige tatbestandliche Bedingung im materiellen Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 I. Bezüge zum historischen Wahlrecht vor 1848/1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 II. Freiheitlichkeit der Stimmabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

8. Kapitel

Abschließende Überlegungen

369

A. Der mündige (Staats-)Bürger als Leitbild auch im Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 B. Harmonisierung des aktiven und des passiven Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Ergebnisse des Zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort a. E. am Ende a. F. alte Fassung Abg. Abgeordneter AbgG Abgeordnetengesetz ABl.EU Amtsblatt der Europäischen Union Abs. Absatz Anh. Anhang Anl. Anlage Anm. Anmerkung APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte Aufl. Auflage Ausg. Ausgabe AuslG Ausländergesetz (1990) BAnz Bundesanzeiger Bayerisches Gesetzblatt BayGB BayRS Bayerische Rechtssammlung BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter Beschl. Beschluss / Beschluß (historisch) BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen BK-GG Bonner Kommentar zum Grundgesetz BMG Bundesmeldegesetz BR-Drs. Bundesratsdrucksache / n BT Bundestag BT-Drs. Bundestagsdrucksache / n BuStAG Bundes- und Staatsangehörigkeitsgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE BW Baden-Württemberg BWahlG Bundeswahlgesetz BWahlGÄndG Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes BWahlGV Bundeswahlgeräteverordnung BWahlRÄndG Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts BWG Bundeswahlgesetz BWO Bundeswahlordnung

18

Abkürzungsverzeichnis

bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands CDU Europäische Kommission (Commission) COM Christlich Soziale Union in Bayern e. V. CSU DDR Deutsche Demokratische Republik ders. derselbe dieselbe / dieselben dies. Diss. Dissertation Dok. Dokument Dok-Nr. Dokumente-Nummer Die Öffentliche Verwaltung DÖV Dr. Doktor Drucks. Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt DVBl. ebd. ebenda Europäische Gemeinschaft EG EinbTestV Einbürgerungstestverordnung Einl. Einleitung erl. erläutert erweiterte Ausgabe erw. Ausg. et cetera etc. Europäische Union EU EuWG Europawahlgesetz Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW f. folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht FamRZ Freie Demokratische Partei Deutschlands FDP fort folgende ff. FG Festgabe Fn. Fußnote Frankfurt am Main Frankfurt a. M. GBl. Gesetzblatt GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls GR-Kommentar Grundrechte-Kommentar GS Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt GVBl. Gesetz- und Verordnungssammlung GVS. herrschende Lehre h. L herrschende Meinung h. M. Habil. Habilitationsschrift HK Handkommentar hrsg. herausgegeben Hrsg. Herausgeber Handbuch des Staatsrechts HStR im Breisgau i. Br. in der Fassung i. d. F.

Abkürzungsverzeichnis

19

in der Regel i. d. R. im Ergebnis i. E. in Verbindung mit i. V. m. Internationaler Gerichtshof IGH Juristische Arbeitsblätter JA JW Juristische Wochenschrift JZ Juristenzeitung Königstein im Taunus Königstein / Ts. Kommunistische Partei Deutschlands KPD Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KritV lit. littera Landes- und Kommunalverwaltung LKV mit weiteren Nachweisen m. w. N. Mio. Million(en) Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Europäisches Pateienrecht MIP MRRG Melderechtsrahmengesetz neue Fassung n. F. Nachdr. Nachdruck Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes NBGBl. Neudr. Neudruck Neue Juristische Wochenschrift NJW No. Numero Neue Politische Literatur NPL Nr. Nummer Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter NWVBl. oder Ähnliches o. Ä. oben genannt(e / er) o. g. OVG Oberverwaltungsgericht Parlamentarischer Rat Parl.Rat PKK Partiya Karkerên Kurdistanê / A rbeiterpartei Kurdistans Preußische Gesetzessammlung PreußGS PStG Personenstandsgesetz RGBl. Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RGZ Rspr. Rechtsprechung RStGH Reichsstaatsgerichtshof RT Reichstag Reichstag des Norddeutschen Bundes RT NB RT-Drs. Reichstagsdrucksachen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz RuStAG RWahlG Reichswahlgesetz Seite / Satz S. siehe auch s. a. siehe unten s. u. Sächsischer Verfassungsgerichtshof SächsVerfGH Sächsische Gesetzsammlung SGV sogenannte(r, s) sog.

20

Abkürzungsverzeichnis

Sp. Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD ständige Rechtsprechung st. Rspr. StAG Staatsangehörigkeitsgesetz Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit StARegG StARG Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Das Standesamt StAZ Stenographischer Bericht / Stenographische Berichte Sten.Ber. StGH Staatsgerichtshof Staats- und Regierungsblatt StRegBl. Thüringer Verwaltungsblätter ThürVBl. Thüringer Verfassungsgerichtshof ThürVerfGH und andere / unter anderem u. a. Univ. Universität Urt. Urteil von / vom v. VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche VO Verordnung Vorb. Vorbemerkung VR Verwaltungsrundschau Beilage zur Verfassungsurkunde VU Beil. Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht VwV-StAR WahlprE Wahlprüfungsentscheidung WahlPrG Wahlprüfungsgesetz WP Wahlperiode WPflG Wehrpflichtgesetz WRV Weimarer Reichsverfassung z. zum Z. Zeile zum Beispiel z. B. Zeitschrift für Ausländerrecht ZAR Zeitschrift für Politik ZfP Zeitschrift für Gesetzgebung ZG Ziff. Ziffer zit. zitiert Zeitschrift für Parlamentsfragen ZParl. ZPO Zivilprozessordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Germanistische ZRG GA Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik ZRP zugl. zugleich

Einführung A. Einführende Bemerkungen Das Wahlrecht bildet im demokratischen Staat das vornehmste und wichtigste staatsbürgerliche Recht überhaupt.1 Es ist dies das Recht des Staatsvolkes, unmittelbar auf die Bildung des staatlichen Willens Einfluss zu nehmen.2 Wahlen stellen damit das zentrale Verfahren zur Willensbildung einer demokratisch verfassten Gesellschaft dar. Nicht nur legitimieren sie die künftigen Volksvertreter im Parlament. Vielmehr aktualisiert sich mit dem Wahlakt auch die permanente Teilhabe des Volkes an der Ausübung von Staatsgewalt.3 Die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger4 wird dabei bundesverfassungsrechtlich durch die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG verbürgt. Dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl entsprechend haben alle Deutschen mit Erreichen des wahlfähigen Alters das Recht, ihre Volksvertretung zu wählen wie auch sich als Kandidat zur Wahl aufstellen zu lassen. Eine Beschränkung der so von Verfassungs wegen ausgestalteten Wahlzugangsberechtigung darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur aus „zwingenden Gründen“ erfolgen. Als „zwingend“ gelten Gründe, die „von der Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind“5. Mit mehrfacher Billigung des Bundesverfassungsgerichts6 knüpft der Gesetzgeber das Wahlrecht an das Territorium des Wahlgebiets, indem er für die aktive Wahlberechtigung am Wahltag einen mindestens dreimonatigen Inlandswohnsitz bzw. Inlandsaufenthalt fordert (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG). Diese Einschränkung enthielt schon § 1 des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Juni 1949.7 Deutsche mit festem Wohnsitz oder Aufenthalt im Ausland (sog. Auslandsdeutsche) werden nach geltender Rechtslage nur ausnahmsweise zur Wahl zugelassen. Der Gesetzgeber hat diesen Ausnahmetatbestand für Auslandsdeutsche in seinem § 12 Abs. 2 BWahlG 1

BVerfGE 1, 14 (33); Blumenwitz, Wahlrecht, S. 16. BVerfGE 20, 56 (98); 123, 134 (136) – OMT. 3 Vgl. BVerfGE 20, 56 (113); 29, 154 (164 f.); 123, 39 (68 f.); Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 1. 4 BVerfGE 99, 1 (13); 129, 300 (317). 5 So BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25); zuvor BVerfGE 120, 82 (107); 95, 408 (418); 71, 81 (96); BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207. 6 Vgl. BVerfGE 5, 1 (6); 36, 139 (141 f.); 58, 202 (205 ff.); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); jüngst BVerfGE 132, 39 (56). 7 BGBl. I S. 21. 2

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eigens geregelt. Die Norm macht die Grundregel aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zu ihrem Ausgangspunkt und stellt das aktive Wahlrecht der Betroffenen seit ihrem Bestehen8 unter bestimmte zusätzliche Vorbehalte. Aktuell sind demzufolge nicht alle Auslandsdeutschen wahlzugangsberechtigt. Hingegen endet die wesentliche Statusbeziehung des Einzelnen zu seinem Staat nicht an der Staatsgrenze. Das gilt zumal für die das individuelle Wahlrecht fundierende Staatsangehörigkeit (vgl. § 12 Abs. 1 BWahlG, Art. 116 GG), deren statusbegründende Rechte über die Staatsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland hinauswirken. Sie wird dem Abstammungsprinzip entsprechend sogar grundsätzlich auf die Nachkommen übertragen, ganz unabhängig davon, ob diese im In- oder Ausland geboren wurden. Eine zwingende Kongruenz zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk und dem Aufenthalt im Staatsgebiet besteht also nicht. Die Trennung von aktiver Wahlberechtigung und Staatsbürgerschaft wird akut angesichts zunehmender Freizügigkeitsregelungen innerhalb der Europäischen Union. Bereits im Jahr 2010 waren rund 1,14 Mio. Deutsche – ohne über einen innerdeutschen Wohnsitz zu verfügen – allein im europäischen Ausland gemeldet,9 Tendenz steigend. Insgesamt ist es in einer zunehmend globalisierten Welt nicht mehr per se untypisch, dass sich Staatsangehörige – sei es aus beruflichen oder privaten Gründen – dauerhaft im Ausland aufhalten und zumindest deren Nachkommen nie einen Fuß auf das Gebiet ihres deutschen Heimatstaates gesetzt haben.10 Dennoch sind sie qua Staatsangehörigkeit mit der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor substantiell11 verbunden. Durch die einfachgesetzliche Anknüpfung an das Inland wird dieser zahlenmäßig mittlerweile nicht mehr unerheblichen Gruppe deutscher Staatsangehöriger12 das von der Verfassung zugesprochene Wahlrecht wieder entzogen. Will das Wahlrecht im Zeitalter der Globalisierung nicht zur rituellen Makulatur werden, so muss es sich mit diesem Befund auseinandersetzen. Hierzu will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten.

B. Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes Während die grundsätzliche Inlandsbindung des Wahlrechts nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG seit Bestehen des Bundeswahlrechts im jeweils gültigen BWahlG enthalten war und lediglich terminologische Änderungen erfuhr, dehnte der Ge 8 Von einem „Auslandsdeutschenwahlrecht“ kann seit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 15.3.1985 (BGBl. I S. 521 ff.) gesprochen werden, vgl. Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1434), näher s. u. Erster Teil 2. Kapitel A. II. 2. 9 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, BT-Drs. 17/1692; Erhebung durch das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat), zitiert nach BVerfGE 132, 39 (43 Rn. 9). 10 Eine solche Konstellation lag jüngst etwa bei BVerfGE 132, 39 ff. vor. 11 Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 50. 12 BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 46 f.); zu dieser Einschätzung gelangen auch Pautsch / MüllerTörok, ZParl. 2016, S. 851 (855).

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setzgeber die Ausnahmeregelung des § 12 Abs. 2 BWahlG nach ihrer erstmaligen Einführung im Jahr 198513 schrittweise aus. Auf diese Entwicklung wird im Rahmen der Untersuchung im Einzelnen einzugehen sein.14 Dem aktuell auch für Auslandsdeutsche geltenden Erfordernis eines vor dem Wegzug ununterbrochenen dreimonatigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland liegt die gesetzgeberische Erwägung zugrunde, dass als wahlberechtigte „Aktivbürger“ nur Deutsche qualifiziert werden könnten, bei denen objektive Merkmale vorliegen, die es gewährleistet erscheinen lassen, dass sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken. Hierfür sei eine auf eigenen Erfahrungen beruhende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland notwendig.15 Zuvor wurden andere Erwägungen ins Feld geführt. So blieben wegen des Sesshaftigkeitserfordernisses die Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Berlin (Ost) während der deutschen Teilung in der Regel vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ferner sei die Voraussetzung vorheriger Sesshaftigkeit im Bundesgebiet auch aus Gründen der „Wahltechnik“ geboten gewesen, weil für die Ausübung des Wahlrechts an den melderechtlich erfassten Aufenthalt in der „Wegzugsgemeinde“ angeknüpft werden könne. Dadurch sei eine Häufung der Wahlberechtigten in bestimmten Wahlkreisen sowie eine nennenswerte Änderung der Wählerstruktur vermieden worden.16 I. Gegenstand der Untersuchung Dem Grundgesetz ist ein Sesshaftigkeitserfordernis i. S. d. § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG fremd. Auch der wahlrechtliche Staatsvolkbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 i. V. m. Art. 38 Abs. 1, Art. 116 GG kennt keine verfassungsmäßige Anbindung an das Territorium. Volksherrschaft wird maßgeblich durch Nationszugehörigkeit, nicht durch Aufenthalt legitimiert.17 Trotzdem begründet die einfachgesetzliche Ausgestaltung des aktiven Wahlrechts gewissermaßen ein J­unktim von Wahlvolk und Staatsgebiet. Zwar ist das Wahlvolk auch immer Staatsvolk, dennoch ist von vornherein nicht jeder Deutsche wahlberechtigt. Etwa darf gemäß Art. 38 Abs. 2 GG nur wählen, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.18 Folglich wird die bereits von Verfassungs wegen bestehende Diskrepanz zwischen Staatsvolk und Wahlvolk durch die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG verankerte Gebietsabhängigkeit für die Wahlberechtigung weiter vergrößert. Konkret wird das 13

Vgl. oben, Nachweis bei Fn. 8. Vgl. unten Erster Teil 2. Kapitel A. 15 BT-Drs. 17/11820, S. 3; 13/986, S. 5; 10/2834, S. 23 mit Verweis auf BT-Drs. 9/1913, S. 10. 16 BT-Drs. 10/2834, S. 23 mit Verweis auf BT-Drs. 9/1913, S. 11. 17 BVerfGE 83, 37 (50 f.); Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 148. 18 BVerfGE 42, 312 (342); weitere vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Wahlzugangsbeschränkungen sind etwa geistige Mängel, BVerfGE 67, 146 (148), oder der Ausschluss vom Wahlrecht durch Richterspruch, BVerfGE 36, 139 (141 f.). 14

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aktive Wahlrecht im Grundsatz auf den Teil des deutschen Volkes beschränkt, der sich mehr oder weniger dauerhaft auf dem deutschen Staatsgebiet aufhält. Dieser in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannte Befund überrascht, stellt man dem das Regelungsmuster des passiven Wahlrechts gegenüber. Eine grundsätzliche Begrenzung der Wählbarkeit auf Inlandsdeutsche kennt das BWahlG seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1956 nicht. Auch die Verfassung enthält keinen entsprechenden Vorbehalt. Gegenstand der Untersuchung ist deshalb die Vereinbarkeit des in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG im Grundsatz statuierten Erfordernisses eines mindestens dreimonatigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland mit der Verfassung, insbesondere den in Art. 38 Abs. 1 GG postulierten Grundsätzen der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl. Damit geht konkret die Problematik des sog. „Auslandsdeutschenwahlrechts“ einher. Als „Auslandsdeutsche“ werden jene Personen bezeichnet, die zeitweilig, langfristig oder dauernd ihren Wohnsitz im Ausland genommen haben, ohne über einen inländischen Wohnsitz zu verfügen. Abzugrenzen sind sie von den bloßen „Auslandsreisenden“, d. h. von Personen mit inländischem Wohnsitz, die sich bloß vorübergehend im Ausland aufhalten. Sie gehören der Inlandsbevölkerung an. Im Hinblick auf einen Auslandsaufenthalt zum Wahlzeitpunkt werfen sie aber dieselben Probleme wie die Auslandsdeutschen auf.19 Die Untersuchung wird in diesem Zusammenhang auch § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG auf seine Vereinbarkeit mit den demokratischen und wahlrechtlichen Grundsätzen der Verfassung überprüfen. Diese Norm lässt in ihrer gegenwärtig gültigen Fassung20 – bei Vorliegen der sonstigen Wahlrechtsvoraussetzungen – nur jene am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen zur Wahl zu, die gemäß Nr. 1 nach Vollendung ihres vierzehnten Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt oder nach Nr. 2 aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind. Insgesamt wird die wahlrechtliche Gebietsbezogenheit im Hinblick auf das aktive Wahlrecht analysiert. Denn nur hier ist das Wahlrecht von der Rechtsordnung gebietsbezogen ausgestaltet. Das passive Wahlrecht wird bei der gesamten Diskussion zwar nicht außen vor gelassen, doch nur insoweit miteinbezogen, als dies im Hinblick auf notwendige Kontrollüberlegungen zu den Ergebnissen der aktiven Wahlberechtigung erheblich ist. Daneben ist auch die jedenfalls in der älteren Rechtsprechung und Literatur häufig anzutreffende Überlegung zur historischen Tradition der wahlrechtlichen Inlandsbindung aufzugreifen und einer Klärung hinsichtlich deren inhaltlicher Validität zuzuführen. 19

Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 25. 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 27.4.2013 (BGBl. I S. 962), dazu näher unten Erster Teil 6. Kapitel. 20

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II. Grundpfade in Rechtsprechung und Literatur In zwei grundsätzlichen Entscheidungen aus den Jahren 1956 und 1973 billigte das Bundesverfassungsgericht die Grundregel aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zur Anknüpfung des aktiven Wahlrechts an einen Mindestaufenthalt innerhalb der Bundesgrenzen zunächst unter Verweis auf die gefestigte historische Tradition und die deutsche Teilung.21 Kurz nach der Wiedervereinigung stellte es im Zusammenhang mit der Aktivbürgerschaft zusätzlich auf die Notwendigkeit der informierten Mitwirkung am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess als objektives Kriterium ab.22 Daran anknüpfend formulierte das Gericht in einer neueren Grundsatzentscheidung vom 4. Juli 201223 stärker als zuvor die Forderung nach einem Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit den politischen und sozialen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland. Hierbei anerkennt das Gericht die Eigenschaft des Wahlrechts als Massenerscheinung mit der Folge, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven Wahlberechtigung zum Erlass typisierender Regelungen befugt sei.24 Die Entscheidung stellte den Gesetzgeber im Hinblick auf die notwendig gewordene Neufassung des Ausnahmetatbestandes nach § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG durchaus vor einige Herausforderungen, auf die im Rahmen der Untersuchung noch einzugehen ist. In der rechtswissenschaftlichen Literatur fand die Problematik zum Auslandsdeutschenwahlrecht zunächst kaum Beachtung. Die erste dezidierte Untersuchung lieferte Joachim Henkel im Jahr 1974. Mit Hinweis auf den Repräsentationsgedanken des Deutschen Bundestages und die enge Anknüpfung des Staatsvolkes an sein Staatsgebiet, ausgedrückt durch eine gewisse Betroffenheit des Staatsbürgers durch „seine“ Staatsgewalt, hält Henkel den Ausschluss von Auslandsdeutschen bei der Wahl zum Deutschen Bundestag im Grundsatz für zulässig. Er spricht sich aber für die Zulassung der nur vorübergehend im Ausland aufhältigen wahlberechtigten Bundesbürger aus.25 Die daraufhin etablierte herrschende Literatur26 anerkennt die grundsätzliche Zulässigkeit der Sesshaftigkeit als einfachgesetzlichen Anknüpfungspunkt zur materiellen Wahlberechtigung. Dabei gehen die Erwägungen jedoch kaum über die Argumente des Bundesverfassungsgerichts hinaus. Dieter Blumenwitz kommt im Jahr 1999 nach seiner durchaus kritischen Analyse ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die vorherige Sesshaftigkeit in der Bundesrepublik im Wahlrecht sowohl im Hinblick auf die Grundregel wie die Ausgestaltung des Ausnahmetatbestandes mit dem Grundgesetz vereinbar sei.27 Zu ähnlichen 21

BVerfGE 38, 139 (142); 58, 202 (205 f.). Vgl. BVerfG Kammer, NJW 1991, S. 689 (690) mit Verweis auf BR-Drs. 198/82, S. 19. 23 BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 49). 24 BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29). 25 Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5 ff., 28 f.). 26 Vgl. statt vieler Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 52 m. w. N.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 18; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 27; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 11 ff., 29. 27 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 112. 22

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Ergebnissen kommt auch Marten Breuer. Nach seiner umfassenden Analyse zum Auslandsdeutschenwahlrecht aus dem Jahr 2001, die auch über weite Teile das historische Wahlrecht vorangegangener Epochen miteinbezieht, hält er zwar die damals gültige Ausgestaltung des Ausnahmetatbestandes aus § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG a. F. für verfassungswidrig.28 Die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG geregelte grundsätzliche Voranknüpfung an den Inlandsaufenthalt sei demgegenüber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.29 Neuen Schwung erhielt die Diskussion nach dem oben bereits erwähnten Richterspruch vom Juli 2012.30 Die überwiegende Mehrheit im neueren Schrifttum hat sich der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der grundsätzlichen Inlandsbindung des Wahlrechts aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG angeschlossen.31 Soweit ersichtlich hat sich dezidiert allein Hans-Detlef Horn in Bezug auf die wahlrechtliche Wohnsitzklausel ausdrücklich für eine unterschiedslose Angleichung des aktiven an das passive Wahlrecht ausgesprochen.32

C. Weitere Begriffsklärungen Wird im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung von „Wahlen“ gesprochen, sind – soweit nichts anderes vermerkt – stets die Wahlen auf gesamtstaatlicher Ebene, also Wahlen zum Deutschen Bundestag oder, sofern für die historische Betrachtung relevant, zum Deutschen Reichstag gemeint. Auf Landesebene kommt das Problem des Auslandsdeutschenwahlrechts nicht zum Tragen. Der Staatsvolksbegriff des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ist zwar personal nur teilidentisch mit dem des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Hier handelt es sich aber um integrale Teile des deutschen Staatsvolkes und nicht um deutsche Teilvölker.33 Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 GG wird damit von vornherein durch den Wohnsitz im Land bzw. der Gemeinde präformiert, so dass es Auslandsstaatsbürger auf Landes- und Kommunalebene schon begrifflich nicht geben kann.34 Dieser Befund wird auch durch einen Blick in die jeweiligen Landesverfassungen bestätigt. In der überwiegenden Mehrzahl enthalten die Landesverfassungen keine Regelungen über die Staatsangehörigkeit in Bezug auf das jeweilige Bundesland.35 Art. 6 der Bayerischen Verfassung bildet hiervon zwar eine Ausnahme. Zu Recht wird aber darauf hingewiesen, dass 28

Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 248 f., S. 263 f. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 231. 30 Vgl. oben Fn. 23. 31 Felten, DÖV 2013, S. 466 ff.; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (244 ff.); Heydt, DÖV 2012, S. 974 ff.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 75; Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (11 ff.); kritischer Germelmann, Jura 2014, S. 310 (320); Sacksofsky, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 6 Rn. 36; dies., in: FS Bryde, S. 313. 32 Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (92); ders., in: FS Wagner, S. 343 (361 f.). In diese Richtung auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 1, 5. 33 So Isensee, HStR1 IV, § 98 Rn. 45, a. A. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 33. 34 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 25; Lindner, BayVBl. 2016, S. 577 (578). 35 Vgl. auch Koch, NWVBl. 2017, S. 197 (198). 29

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der dort in Absatz 3 enthaltene Gesetzgebungsauftrag zur Schaffung eines Bayerischen Staatsangehörigkeitsrechts bis heute unerfüllt geblieben ist.36 Ungeachtet dessen hat die wahlrechtliche Wohnsitzbindung auf Landesebene zumindest auch zum Ziel, ein doppeltes Wahlrecht nach Fortzug in ein anderes Bundesland zu verhindern. Hier kommt dem melderechtlichen Hauptwohnsitz eine besondere Rolle zu.37 Weil sich ein vergleichbares Problem auf Bundesebene naturgemäß nicht stellt, können die im Rahmen dieser Untersuchung erarbeiteten Ergebnisse zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Wohnsitz- und Aufenthaltsbindung im Bundeswahlrecht jedenfalls nicht ohne weiteres für die wahlrechtlichen Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern fruchtbar gemacht werden.38 Von einer entsprechenden Betrachtung wird daher abgesehen. Im Zusammenhang mit § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG hat sich der Begriff „Sesshaftigkeit“ etabliert.39 Gelegentlich synonym zur „Sesshaftigkeit“ werden die Begriffe „Wohnsitzbindung“ bzw. „Wohnsitzprinzip“40 oder „Inlandsbindung“41 gebraucht. Letztgenannter Begriff wird teilweise gegenüber der Wohnsitzbindung in erweitern­ der Bedeutung verstanden. So formuliert handelt es sich um rein äußerliche Tatbestände, welche durch „Wohnung“ oder „gewöhnlichen Aufenthalt“ objektiv gekennzeichnet sind. Jeweils mit inbegriffen ist häufig ein gesetzlicher Mindestaufenthalt, den § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG derzeit auf drei Monate festlegt.42 Davon abweichend wird der Begriff „Inlandsbindung“ vereinzelt zumindest auch als Bezeichnung einer subjektiven, „inneren“ Verbindung oder Vertrautheit des Einzelnen zum Inland verwendet,43 und zwar in einer Weise, wie es der durch das 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 36

BayVerfGH, BayVBl. 1986, S. 396 (397); Thum, BayVBl. 2016, S. 579 (580 ff.). Vgl. dazu näher ThürVerfGH, NJW 1998, S. 525 (526); ThürVerfGH, ThürVBl. 1997, S. 204 (206 f.); Koch, NWVBl. 2017, S. 197 (198 f.). 38 Zu den Problemen bei Einführung eines „Auslandsbürgerwahlrechts“ auf Landesebene dezidiert Thum, BayVBl. 2016, S. 579 (580 ff.); auf die Notwendigkeit der vormaligen Wohnsitznahme im betreffenden Bundesland hinweisend Wallrabenstein, JÖR 66 (2018), S. 431 (440). 39 Vgl. etwa BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); BVerfGE 58, 202 (205): jeweils: „Erfordernis der Sesshaftigkeit“; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 84; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 22: „Grundsatz der Sesshaftigkeit“. 40 Vgl. etwa bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (3); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 25. 41 Unklar bei BVerfGE 132, 39: Einerseits leiten die Feststellungen die „grundsätzliche Inlandsbindung des Wahlrechts“ ausdrücklich aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ab, vgl. S. 41 Rn. 4. Im Weiteren wird ausschließlich und offensichtlich synonym von „Sesshaftigkeit“ gesprochen, vgl. insbesondere S. 44 Rn. 13, 45 Rn. 17, 58 Rn. 53. 42 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 230, 232, der in seinem dritten Teil die „Seßhaftigkeit“ im Zusammenhang der Europaratslösung (§ 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG i. d. F. v. 21.7.1993, BGBl. I S. 1217) abhandelt und damit die Anbindung des dauerhaften Aufenthaltes in einem EU-Mitgliedsstaat außerhalb der Bundesrepublik Deutschland meint. 43 In diese Richtung wohl auch das Sondervotum Lübbe-Wolff zu BVerfGE 132, 39 (64 Rn. 64 und 66 Rn. 66). Im Übrigen spricht auch Lübbe-Wolff durchgängig von „Sesshaftigkeit“. 37

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2013 (21. BWahlGÄndG 2013) geschaffene Ausnahmetatbestand in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG44 bereits normtextlich vorsieht. Die Vielfalt an Bedeutungsvarianten erschwert den einheitlichen Gebrauch dieser Begriffe. Nachstehend wird deshalb „Sesshaftigkeit“ als Oberbegriff zu „Wohnsitzbindung“ und „Inlandsbindung“ betrachtet. Von diesen Begriffen ist die Wohnsitzbindung gegenüber der Inlandsbindung enger gefasst. So bezeichnet die Wohnsitzbindung dem Wortlaut nach (nur) das Erfordernis eines (festen)45 Wohnsitzes und lässt den bloß tatsächlichen Aufenthalt (z. B. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland unberücksichtigt.46 Letzterer wird von dem Begriff „Inlandsbindung“ mit47 umfasst, so dass hiermit allein das in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG erhobene Postulat vollständig bezeichnet ist. Dies gilt gleichermaßen für die Sesshaftigkeit „im Ausland“,48 so von ihr hier die Rede ist. Die persönliche Vertrautheit mit den Verhältnissen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG, also das „innere“ Element der Beziehung zum Heimatstaat, soll mit dem Begriff „Inlandsbindung“ nicht erfasst werden. Denn ausdrücklich durchbricht dieser Auffangtatbestand den in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG aufgestellten Grundsatz, der überwiegend mit den Begriffen „Inlandsbindung“ bzw. „Sesshaftigkeit“ äußerlich eingefangen wird. Wenn es um die persönliche „Vertrautheit mit den Verhältnissen“ des Einzelnen geht, soll dies auch dem Wortsinn nach einheitlich als solche selbst bezeichnet werden, wie es auch der Gesetzeswortlaut des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG derzeit eigens vorhält. Dafür sprechen auch die begrifflichen Parallelen im Rahmen der Verfassungsdebatte um die Jahre 1848/1849,49 auf die im Rahmen dieser Untersuchung besonders eingegangen wird. All diese Begriffe wiederum bezeichnen Elemente der seit der Geltung moderner Bundeswahlgesetze gängigen Begriffsverständnisse. Wo sie mangels Anknüpfung an normative Vorgaben historischer Rechts- und Verfassungstexte keine genaue Zuordnung erfahren können sollten, soll die Wendung „Territorialität des Wahlrechts“ eingeführt werden. Der Begriff „Territorialität“ oder „Territorialbindung“ im Zusammenhang mit dem Wahlrecht erfreut sich im Rahmen der aktuellen Diskussion um das Auslandsdeutschenwahlrecht keiner rechten Beliebtheit. Er wird, 44

Art. 1 des 21. BWahlGÄndG (BGBl. I S. 962), vgl. auch diesbezügliche Gesetzesbegründung aus BT-Drs. 17/11820, S. 5 f. 45 Jedenfalls bis § 7 RWahlG vom 31.5.1869 (NBGBl. S. 145), der die noch in § 11 Abs. 1 S. 1 RWahlG v. 12.4.1849 (RGBl. S. 79) enthaltene Wendung: „festen“ entfallen ließ. 46 Differenzierung bei Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 11. 47 Die Inlandsbindung erfasst freilich auch den festen Wohnsitz. Wo gewöhnlicher Auf­ enthalt und Wohnsitz die gleiche Rechtsfolge begünstigen, wird hier von Inlandsbindung gesprochen. 48 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 11, ähnlich auch bei BVerfGE 132, 39 (42 Rn. 5). 49 Vgl. etwa bei Pölitz, Staatswissenschaften I, S. 428; sowie Redebeitrag des Abg. Riesser während der „Verhandlungen der deutschen constituirenden National-Versammlung zu Frankfurt am Main“ v. 27.2.1849, Nr. 78 VII.23, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5421 (5429).

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wenn überhaupt, eher im Zusammenhang mit der deutschen Verfassungs- oder Verwaltungsgeschichte in den entstehenden Territorialstaaten des frühen 19. Jahrhunderts gebraucht, insbesondere soweit es um deren Entwicklung der Staatsangehörigkeit geht.50 In dieser Eigenschaft verwendet, fügt er sich jedoch vorzüglich auch in das konstitutionelle Verständnis von Wahlfähigkeit und Wahlrecht und Freiheit des 19. Jahrhunderts ein, wie diese Untersuchung zu zeigen versuchen wird.

D. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung Die von der Rechtsprechung und dem überwiegenden Teil des Schrifttums vertretenen Haltungen zur derzeitigen Ausgestaltung des aktiven materiellen Wahlrechts nach § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 BWahlG werden gegenwärtig nahezu ausschließlich aus dem positiven Recht samt seinen aktuellen Begleitumständen entwickelt. Besonders zeigt sich dies in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Beurteilung des Auslandsdeutschenwahlrechts „nicht ohne Blick auf die jeweiligen rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen verfassungsrechtlich gewürdigt werden“ könne. „Aussagen […] zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen“ könnten „nicht ohne Weiteres zur Beurteilung der aktuellen Rechtslage herangezogen werden“.51 Diese Einschätzung erweist sich für das Gericht als außerordentlich komfortabel, denn die bloß punktuelle Ableitung einer Momentaufnahme unter nahezu ausschließlicher Berücksichtigung gegenwärtiger Tatsachen relativiert nicht nur die zu dieser Frage in der Vergangenheit gefestigte Linie der Rechtsprechung. Sie belässt auch die allgemeinen Maßstäbe zur möglichen Beurteilung ähnlich gelagerter künftiger Sachverhalte im Ungefähren. Damit ist nicht zuletzt auch der Gesetzgeber vor die Herausforderung gestellt, bei der Ausgestaltung des Wahlrechts die je nach Situation – vor allem aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts – in Geltung stehenden „rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen“ jeweils neu zu ergründen, zu würdigen und zu berücksichtigen. Dieses Vorgehen ist grundsätzlich legitim, solange es nicht in Spannung zur Rechtssicherheit gerät. Um hier ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit zurück zu erkämpfen, ist es angezeigt, die Grenzen besagter Relativität zusätzlich unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Wahlrechts zu ermitteln. Auch dieser Weg wurde im Auslandsdeutschenwahlrecht von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest versuchsweise eingeschlagen52 und von 50

Vgl. etwa H. v. Mangoldt, ZAR 1999, S. 243 (251); ähnlich Geyer, in: Hofmann / Hoffmann (Hrsg.), HK-Ausländerrecht, StAG § 25 Rn. 4. 51 Vgl. BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31 f.) mit Zitaten. Außerhalb dieses Sachbereiches hat das Gericht diese oder eine ähnliche Formulierung bislang nicht verwendet. 52 Vgl. etwa BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (141 ff.), 58, 202 (205 ff.), letztere mit ausdrücklichem Bezug zum Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31.5.1869 (NBGBl. S. 145) sowie zu Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung.

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Einführung

einigen Teilen der Literatur vertieft,53 indem die aktuellen Gesetzestexte zumindest in den Kontext der Wahlgesetze vergangener Epochen gesetzt wurden. Doch ist das Bild unvollständig. In der Diskussion fehlt eine darüber hinausgehende Betrachtung, die auch die Wandlungen von „Staatlichkeit“ in engem Bezug auf das Wahlrecht zu verfolgen hätte. Für die hier interessierende Problematik müsste also außerhalb der bisherigen Normtextvergleiche festgestellt werden, was das Wesen der wahlrechtlichen Sesshaftigkeit bzw. der inländischen „Territorialbindung“ des Wahlrechts früherer Epochen unter Berücksichtigung der sie begleitenden tatsächlichen Umstände ausgemacht hat.54 Eine diese Belange einbeziehende Würdigung gibt es im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion zum Auslandsdeutschenwahlrecht bislang nicht. Diesem Erkenntnisinteresse folgend beginnt die Untersuchung also zunächst mit einer Analyse der Rechtslage des derzeit gültigen Wahlrechts nach BWahlG und klärt die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit der Sesshaftigkeitsklausel mit dem Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit gemäß Art. 38 GG. Darüber hinaus wird in einer erweiterten genealogischen Betrachtung der Herkunft und dem Bedeutungsgehalt früherer (historischer) wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln nachgespürt und abschließend mit den Ergebnissen der verfassungsrechtlichen Prüfung kontrastiert. Damit ist auch der grobe Rahmen der nachfolgenden Ausführungen gezeichnet. Die aus insgesamt zwei Teilen bestehende Untersuchung wird in ihrem ersten Teil – nach kurzer Einführung in die wesentlichen Rechts- und Verfassungsgrundlagen – die gegenwärtige Diskussion um das Auslandsdeutschenwahlrecht aufnehmen, die Argumente im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit hin untersuchen und anhand der gefundenen Ergebnisse die verfassungsrechtlichen Konsequenzen ziehen. Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich der von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht gern als Zusatzargument bedienten „historischen Tradition“ der wahlrechtlichen Wohnsitz- und Inlandsbindung.55 Diese Argumentation eröffnet den Blick in die historischen Tiefen des Wahlrechts vor Geltung des Grundgesetzes und bedarf, wie noch zu zeigen sein wird, eingehender Untersuchung, um hieran anschließend die Konsequenzen für die aktuelle Diskussion zu ziehen. Es gilt die Frage zu beantworten, ob das gegenwärtige Paradigma von der „Territorialbindung des Wahlrechts“ einem anachronistischen Paternalismus im Verständnis der individuellen Wahlteilnahmeberechtigung seitens des Gesetzgebers entspringt, für das unter Geltung des Grundgesetzes kein Raum mehr besteht.

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Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 27 ff.; mit Rückblick auf die Wahlrechtsentwicklung ab 1848/49 verkürzt auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 ff. 54 Als generalisierender Analyseansatz bei Waldecker, AöR 33 (1915), S. 436 f. 55 Vgl. insbesondere BVerfGE 36, 139 (141); 67, 146 (148); „traditionelle Begrenzungen“ auch bei BVerfGE 58, 202 (205).

Erster  Teil 1.

Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 1. Kapitel

Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts in Anbetracht der wahlrechtlichen Inlandsbindung A. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Wahlrechts Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Das hierin verankerte Prinzip der demokratischen Repräsentation beeinflusst auch die Ausgestaltung des Wahlrechts.56 Wahlen bilden in der parlamentarischen Demokratie den zentralen Mechanismus zur Legitimation hoheitlicher Gewalt. Das in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG benannte „Volk“ besteht aus der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen.57 Die übrige auf deutschem Staatsgebiet lebende „Bevölkerung“ ist hiervon nicht erfasst.58 Doch auch das „Volk“ i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ist nicht mit dem gesamten deutschen Staatsvolk identisch. Der dort gebrauchte Begriff billigt die legitimierende Funktion des Volkes nur aktivbürgerschaftlich zu, also einschränkend nur jenen deutschen Staatsangehörigen, die nach Maßgabe des Art. 38 Abs. 2 GG wahl­berechtigt sind.59 Mit der Stimmabgabe mündet die politische Willensbildung in die Wahl zur Volksvertretung, die sich so vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht.60 Letz-

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Vgl. BVerfGE 83, 60 (72); 123, 267 (342)  – Lissabon; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art.  79 Rn.  60. 57 BVerfGE 83, 37 (51); 83, 60 (71); ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 170 ff.; Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 31; Isensee, HStR3 II, § 15 Rn. 154 ff.; Horn, in: Gornig /  ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (65); Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 22: Gesetzgeber habe „staatsbürgerliche Natur des Wahlrechts als […] selbstverständlich vorausgesetzt“. 58 Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (66 f.). 59 Vgl. statt vieler Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 28; ungenau bei BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 24): „verbürgt die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsbürger“; die hier jeweils in Bezug gesetzten Nachweise aus BVerfGE 36, 139 (141) und BVerfGE 58, 202 (205) tragen die gewählte Formulierung nicht. 60 Vgl. BVerfGE 20, 56 (99); 44, 125 (140); 69, 315 (346); 132, 39 (50 f. Rn. 33).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

tere werden (personell) erst durch den demokratischen Wahlakt hervorgebracht und legitimiert.61 Der Verfassungsgeber konkretisierte die Entscheidung für die demokratische Staatsform nach Art. 20 Abs. 1 und 2 Satz 2 GG durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG dahin, dass die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl als Vertreter des ganzen Volkes gewählt werden. Das von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete freie Mandat ist die Fortsetzung der Wahlrechtsgrundsätze in den parlamentarischen Bereich hinein. Der Freiheitscharakter der Wahl und das freie Mandat des Abgeordneten bilden damit einen unauflöslichen Zusammenhang.62 Der in Art. 38 Abs. 1 GG niedergelegte Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gewährleistet die Gleichheit beim Zugang zur Wahl. Er schreibt vor, dass grundsätzlich jeder Deutsche sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können soll.63 Als Vorläufer der gleichen Wahl hat er einige ihrer Forderungen bereits vorweggenommen. Nachdem die Gleichheit der Wahl jedoch als eigener Wahlrechtsgrundsatz Eingang in den Verfassungstext gefunden hat, beschränkt sich die Reichweite des allgemeinen Wahlrechts darauf, Diskriminierungen bei der Wahlberechtigung zu verhindern.64 Dies gilt für das aktive wie für das passive Wahlrecht gleichermaßen.65 Die im Zusammenhang mit dem Wahlrecht gesetzten Mindestaltersgrenzen des Art. 38 Abs. 2 GG konkretisieren diesen Grundsatz und bestimmen, wer sich auf ihn berufen darf.66 Als spezifische Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) unterscheidet sich der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl von diesem durch seinen rein formalen Charakter.67 Danach besteht Einigkeit darüber, dass die Wahlrechtsgleichheit als solche zwar keinem absoluten Differenzierungsverbot unterliegt, aber zur Rechtfertigung von Differenzierungen ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz nicht in Betracht kommt.68 Aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit wird vielmehr geschlussfolgert, dass Beschränkungen nur durch ganz besondere Gründe gerechtfertigt werden können.69 Die Rechtsprechung entwickelte daraus die Formel 61

Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 11. BVerfGE 42, 312 (340); 62, 1 (32); 80, 188 (218 f.); 99, 19 (32); 112, 118 (134); 130, 318 (350, 352 ff.); vgl. auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 1. 63 BVerfGE 58, 202 (205); 99, 69 (77 f.). 64 Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 1, zur näheren Bestimmung vgl. unten Erster  Teil 3. Kapitel. 65 BVerfGE 40, 296 (317); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65. 66 Vgl. dazu BVerfGE 42, 312 (341). 67 BVerfGE 99, 1 (8 ff.); „radikale Formalisierung“ noch bei BVerfGE 4, 375 (382), dazu Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252). 68 BVerfGE 99, 1 (9); st. Rspr.; anders noch BVerfGE 11, 266 (271); 28, 220 (225); 36, 139 (141): jeweils noch ausgegangen von einem Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes. 69 So zuletzt BVerfGE 135, 259 (286 Rn. 52); BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32); vgl. ebenso BVerfGE 71, 81 (96); 95, 408 (418); 71, 81 (96); BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207; zur Gleichheit der Wahl vgl. BVerfG, NVwZ 2012, S. 622 (624); BVerfGE 120, 82 (107). 62

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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des „zwingenden Grundes“ zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen.70 Nur so werde die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte und im Wahlrecht verkörperte „Egalität der Staatsbürger“71 als wesentliche Grundlage der Staatsordnung gesichert.72 Aktive und passive Wahlberechtigung entfalten für den Einzelnen subjektivöffentlichen Rechtscharakter. Als „staatsbürgerliche Rechte“ sichern sie dem wahlberechtigten Deutschen, vermittelt über „das Volk“, das Recht, an der Legitimation der Staatsgewalt auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.73 Als ein traditionell und historisch aus der Staatsbürgerschaft resultierendes „politisches“ Recht wird das Wahlrecht als grundrechtsgleiches oder grundrechtsähnliches Recht begriffen.74 Mit deutlichem Nachdruck stellt allerdings das jüngere Schrifttum und zunehmend auch die Rechtsprechung die Grundrechtsqualität der aktiven und passiven Wahlberechtigung als Garantie auf freie und gleiche Teilhabe an der Staatsgewalt heraus.75 Damit einher geht auch die verstärkte Tendenz, das Wahlrecht als höchstpersönliches Individualrecht zu begreifen.76 Insbesondere das Bundesverfassungsgericht treibt diese Entwicklung seit seiner im Jahr 2009 getroffenen Lissabon-Entscheidung voran, soweit es um die staatsorganisationsrechtliche Zuordnung von Kompetenzen des Bundes gegenüber der Europäischen Union geht. Der „Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt“ sei, so judizierte das Gericht, „in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert“.77

70

Zurückgehend auf BVerfGE 1, 208 (248 f.); 6, 84 (92) jeweils zur Gleichheit der Wahl, ab BVerfGE 11, 266 (272) in st. Rspr. übernommen für die Allgemeinheit der Wahl, vgl. BVerfGE 28, 220 (225); 36, 139 (141); 95 408 (418); 99, 69 (78); 129, 300 (320); abgeschwächt bei BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25 a. E.) „sachlich legitimer Grund“. 71 BVerfGE 69, 92 (105 f.); 99, 1 (13). 72 BVerfGE 6, 84 (91); 11, 351 (360); 132, 39 (47 Rn. 24). 73 BVerfGE 39, 155 (171 f., 182); 97, 350 (368); Spies, Schranken, S. 1. 74 Dazu m. w. N. Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Vorb. v. Art. 1 Rn. 14. Ein „Grundrecht auf politische Mitgestaltung“ ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert, findet sich jedoch in einigen Landesverfassungen, so etwa Art. 21 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg. Der im Herrenchiemseer Entwurf zu Art. 12 enthaltene Vorschlag, „Wahl- und Stimmrecht der Staatsbürger“ als Grundrecht zu gewährleisten, fand im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit, Entwurf abgedruckt bei Huber, Quellen, S. 219 (221). 75 BVerfGE 123, 267 (341 ff.); 129, 124 (167 ff.); Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 18; Kube, in: GS Brugger, S. 571 (586 ff.). 76 BVerfGE 112, 118 (133); 123, 267 (329, 340 ff.); 129, 124 (167 ff.). Insofern recht deutlich bei H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 4: „politisches Grundrecht überhaupt“; auch Badura, in: Kahl / Waldorf / Walter (Hrsg.), BK-GG, Anh. zu Art. 38 GG, Rn. 4: „institutionelles Kernstück des demokratischen Verfassungsstaates und außerdem ein grundrechtlich ausgestaltetes Element der politischen Freiheit“. 77 BVerfGE 123, 267 (341 ff.); ebenso BVerfGE 129, 124 (169); 135, 317 (386 Rn. 125); 142, 123 (189 Rn. 124); 146, 216 (249 f. Rn. 46), zustimmend statt vieler H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 135 mit Fn. 2.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Diese Anschauung ist allerdings nicht frei von Widersprüchen. Denn in der Konsequenz führt die Zurechnung des Wahlrechts und der Demokratie zum Kern der Menschenwürde zu einer schwerlich rechtfertigungsfähigen Differenzierung zwischen „staatsbürgerlichen Menschenrechten“ und „sonstigen Menschenrechten“.78 Die hiergegen erhobene Kritik79 erscheint daher nicht unberechtigt, wenn sie bei der politischen Mitwirkung auf Bundesebene mit der herrschenden Auffassung an das zwingende Junktim zwischen Wahlrecht und Staatsbürgereigenschaft80 erinnert. Trotzdem wird anhand des eben Aufgezeigten deutlich, dass sich das Wahlrecht zunehmend von seinem ursprünglichen Funktionsgedanken zur Bildung einer Volksvertretung befreit. Wurde die legitimierende Wirkung zuvor noch der „Urgewalt des Volkes“ als solches zugerechnet, etabliert sich zunehmend die Auffassung, dass der Wählerwille und damit auch die Legitimation staatlichen Handelns in seinem Kern letztendlich auf den Einzelnen rückführbar sein müssen.81 Doch unabhängig von der Kritik im Einzelnen verstärkt die jüngere Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so einmal mehr die grundlegende Bedeutung des Wahlrechts als aktives Statusrecht.

B. Gegenwärtige Ausgestaltung des Wahlrechts durch das Bundeswahlgesetz I. Reichweite und Umfang gesetzgeberischer Ausgestaltung Wahlsystem und Wahlverfahren werden von der Verfassung nicht vorgegeben. Beides ist durch einfaches Bundesgesetz regelungsbedürftig.82 Ferner hat der Gesetzgeber Anzahl und Rechtsstellung der Abgeordneten83 zu bestimmen und die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu konkretisieren.84 Hinsichtlich der Ausgestaltung jener Wahlgrundsätze ist der dem Gesetz 78 In diese Richtung bereits Kube, in: GS Brugger, S. 571 (579 ff.); hervorgehoben auch im Referat von Walter, in: VVDStRL 72 (2013), S. 7 (27): „Menschenrecht auf Staatsangehö­ rigkeit?“. 79 Dezidiert Horn, Demokratie, S. 82 f.; allgemeiner Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 17: „subjektive Aufladung“. 80 Vgl. oben Fn. 57. 81 So schon angedeutet bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (6): „[…] in der parlamentarisch repräsentativen Demokratie [ist das] repräsentierte ‚Volk‘ nicht nur als ideelle Einheit, sondern auch als Summe der einzelnen Mitglieder des Staatsvolkes zu verstehen“ und bildet als solches „grundsätzlich die konkrete Basis für die Legitimation seines Repräsentanten“; H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 4 mit Fn. 12: „Grundrecht im exakten Sinne“; ebenso Dolde, Rechte, S. 75; zur „Individualisierung der Volkssouveränität“ in der Rechtsprechung, Horn, Demokratie, S. 69 ff. 82 BVerfGE 79, 169 (170 f.); 95, 335 (349); 121, 266 (296); Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 40; entsprechende Regelungen enthält das BWahlG. 83 Entsprechende Regelungen hierzu befinden sich im Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz-AbgG) v. 18.2.1977 (BGBl. I S. 297) i. d. F. der Bekanntmachung v. 21.2.1996 (BGBl. S. 326). 84 Vgl. Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 121.

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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geber von der Verfassung zugestandene Gestaltungsspielraum eng begrenzt.85 Sie sind vielmehr soweit als möglich in Reinform zur Geltung zu bringen.86 Zum Ausgleich etwaiger Beschränkungen der von der Verfassung im demokratischen Wahlrecht vorgegebenen Egalität ihrer Stimmbürger darf der Gesetzgeber allerdings Vereinfachungen und Typisierungen vornehmen. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber Lebenssachverhalte im Hinblick auf wesentliche Gemeinsamkeiten normativ zusammenfassen und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt oder absehbar sind, generalisierend vernachlässigen darf. Hierbei muss er sich grundsätzlich am Regelfall orientieren. Er ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen.87 Der konkreten Ausdehnung gesetzgeberischer Handlungsspielräume nimmt sich die vorliegende Untersuchung im Bereich der Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen noch ausführlicher an. Auf die diesbezüglichen Ausführungen sei an dieser Stelle verwiesen.88 II. Aktives Wahlrecht und Inlandsbezug Dem Verfassungsauftrag des Art. 38 Abs. 3 GG ist der Gesetzgeber mit Erlass des BWahlG nachgekommen. Die §§ 12 bis 14 BWahlG bilden die einfachgesetzliche Rechtsgrundlage des aktiven Wahlrechts für Wahlen zum Deutschen Bundestag. Sie konkretisieren den Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl und haben den gleichen und diskriminierungsfreien Zugang zur Wahl zu gewährleisten. Vom aktiven Wahlrecht außerdem geschützt ist die Berechtigung, Wahlvorschläge zu machen und die Stimme abzugeben.89 Bevor die Eintragung in das Wählerverzeichnis erfolgt, hat die zuständige Wahlbehörde gemäß § 16 Abs. 7 BWahlG zu prüfen, ob die betreffende Person die materiellen Wahlrechtsvoraussetzungen der §§ 12 und 13 BWahlG erfüllt (aktives materielles Wahlrecht). Dem Wählerverzeichnis kommt der Charakter einer öffent­ lichen Urkunde zu.90 Erst wer nach positiver Prüfung der aktiven materiellen Wahlberechtigung durch die zuständige Wahlbehörde91 in das gemeindliche Wähler 85

Das verschiedentlich in der Rechtsprechung verbreitete Postulat des „weiten Gestaltungsspielraums“, vgl. etwa BVerfGE 95, 335 (349); 121, 266 (296 ff.); 131, 316 (334 f.), bezieht sich nur auf die Gesamtgestaltung des Wahlverfahrens, so auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33 mit Fn. 123; einschränkend auch Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 105. 86 Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 105. 87 BVerfGE 30, 227 (249); 82, 159 (185 f.); 96, 1 (6); 124, 1 (3); 132, 39 (49 Rn. 29). 88 Vgl. unten Erster Teil 3. Kapitel C. 89 BVerfGE 13, 1 (8). 90 Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 5. 91 In den Fällen des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist dies gemäß §§ 17 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWO die Gemeinde, in denen der Wahlberechtigte seine (nach Melderecht gemeldete) Hauptwohnung innehat bzw. nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 16 Abs. 2 Nr. 1 lit. b) BWO die Gemeinde, in der der Wahlberechtigte, ohne eine Wohnung im Bundesgebiet innezuhaben, sich gewöhnlich aufhält.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

verzeichnis eingetragen ist, besitzt die Berechtigung, von seinem festgestellten Stimmrecht durch Stimmabgabe am Wahltag oder per Briefwahl Gebrauch zu machen (Ausübung des materiellen Wahlrechts). Die Wahlrechtsvoraussetzungen müssen am Wahltag vorliegen.92 Die prozedurale Ausgestaltung im Einzelnen ist gemäß § 52 BWahlG Sache des Verordnungsgebers, der mit der Bundeswahlordnung (BWO)93 und der Bundeswahlgeräteverordnung (BWahlGV)94 entsprechende Regelungen getroffen hat. 1. Aktives materielles Wahlrecht § 12 Abs. 1 BWahlG enthält die grundlegenden Voraussetzungen für die Zuerkennung der Wahlberechtigung. Hiernach sind grundsätzlich alle Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG wahlberechtigt, die am Wahltag das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG). Dies entspricht den verfassungsmäßigen Vorgaben des Art. 38 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Zwingend vom Wahlrecht ausgeschlossen sind nach § 12 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG jene Deutschen, bei denen am Wahltag ein (zulässiger) Ausschlusstatbestand des § 13 BWahlG vorliegt.95 Im Übrigen enthält § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG die Beschränkung auf Inlandsansässige, auf die im Folgenden näher einzugehen ist. a) Regel-Ausnahme-Verhältnis der Inlandsbindung am Wahltag § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG beschränkt den gemäß § 12 Abs. 1 BWahlG wahlberechtigten Personenkreis auf jene, „die am Wahltag seit mindestens drei Monaten in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten“. Die Dreimonatsfrist muss mit Beginn des Wahltages (0:00 Uhr) bereits erfüllt, also abgelaufen sein.96 Es gelten die kartographischen Grenzen des Bundesgebiets, so dass der Wahlberechtigte am Wahltag seit mindes 92

Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 2 a. E. I. d. F. der Bekanntmachung v. 19.4.2002 (BGBl. I S. 1376). 94 Vom 3.9.1975 (BGBl. I S. 2459). 95 Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist demnach, wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt. Die vorherige Fassung des § 13 BWahlG sah in Nr. 2 und Nr. 3 zudem weitere Ausschlussgründe vor. Demnach war vom Wahlrecht auch derjenige ausgeschlossen, für den vormundschaftsgerichtlich ein Betreuer zur Besorgung aller Angelegenheiten bestellt wurde (Nr. 2 a. F.) oder wer sich aufgrund einer Anordnung nach §§ 63, 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet (Nr. 3 a. F.). Für § 13 Nr. 2 BWahlG a. F. stellte das Bundesverfassungsgericht am 29.1.2019 die Unvereinbarkeit mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG fest, bezogen auf § 13 Nr. 3 BWahlG a. F. darüber hinaus auch dessen Nichtigkeit, vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019 (1. und 2. Leitsatz). Mit Gesetz vom 18.6.2019 (BGBl. I S. 834) erhielt § 13 BWahlG mit Wirkung zum 1.7.2019 seine aktuelle Fassung. 96 So Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 11, Wortlautargument: „am Wahltag seit mindestens […] innehaben oder […] aufhalten.“ 93

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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tens drei Monaten in einem der sechzehn Bundesländer entweder eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten muss. Diese Regelung statuiert den Grundsatz der wahlrechtlichen Inlandsbindung. Er besagt, dass all jene volljährigen Deutschen, die am Wahltag die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllen, im Bundesgebiet also nicht „sesshaft“ sind, grundsätzlich auch kein aktives materielles Wahlrecht zum Deutschen Bundestag haben. Auslandsdeutsche sind demnach grundsätzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen.97 Doch wird den im Ausland lebenden Deutschen abweichend von der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG formulierten Grundregel das Wahlrecht (wieder) zuerkannt, wenn sie die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 BWahlG erfüllen. Demnach sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG wahlberechtigt, die am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben, sofern sie nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) oder aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG). Die Ausnahmevorschrift fand ihre konkrete Gestalt nach der Novelle zum Bundeswahlgesetz vom 27. April 201398. Sie und dass ihr vorausgegangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts99 sind Gegenstand der aktuellen Kontroverse um das Auslandsdeutschenwahlrecht.100 b) Systematik der aktuellen Regelung Für ein genaueres Verständnis zur konkreten Ausgestaltung des aktiven Wahlrechts Auslandsdeutscher ist es notwendig, die Normstruktur des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG festzuhalten. Nr. 1 knüpft an einen dreimonatigen Inlandswohnsitz an, der im Unterschied zu § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht „am Wahltag“ vorliegen muss. Das Mindestalter von 14 Jahren und die Fortzugsfrist treten als Nebenregelungen auf, die den Kreis der Ausnahmefälle von vornherein nur begrenzen, nicht neu definieren. Demgegenüber konstituiert Nr. 2 nunmehr die Wahlberechtigung bestimmter Gruppen von Auslandsdeutschen, ohne explizit an eine vormalige Sesshaftigkeit im Wahlgebiet anzuknüpfen.101 Diese Neuerung hat in der bisheri 97

Vgl. Felten, DÖV 2013, S. 466 (467); ähnlich Heydt, DÖV 2012, S. 974 (975). Vgl. oben Fn. 44. 99 BVerfGE 132, 39 ff. 100 Vgl. etwa Heydt, DÖV 2012, S. 974 ff.; Felten, DÖV 2013, S. 466; Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 ff.; Sachs, JuS 2013, S. 376 ff. (Entscheidungsbesprechung); Germelmann, Jura 2014, S. 310 ff. (Entscheidungsbesprechung); Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (244 ff.). 101 Wortlaut: § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG: „aus anderen Gründen“. 98

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

gen Wahlrechtsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland kein Vorbild.102 § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG stellt erstmals sicher, dass durch die in Nr. 1 vorgenommene Typisierung nicht Personen ausgeschlossen werden, die zwar die Voraussetzungen des Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 nicht oder nicht mehr103 erfüllen, typischerweise aber mit den politischen Verhältnissen dennoch vertraut und zudem von ihnen betroffen sind.104 Denn die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen war ein Leitgedanke der Neuregelung.105 Nr. 1 stellt dahingehend also eine unwiderlegliche Vermutung für die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen auf, Nr. 2 fordert demgegenüber den konkreten Nachweis zum Bestand besagter Vertrautheit am Wahltag. Damit sind nach Nr. 2 erstmals z. B. die sog. Grenzpendler zur Wahl zugelassen. Das sind deutsche Staatsangehörige, die im grenznahen Ausland ihren dauerhaften Wohnsitz haben, beruflich aber in Deutschland einer Tätigkeit nachgehen. Von dieser Wählergruppe fordert die Norm zu keiner Zeit einen Mindestaufenthalt im Inland.106 Ferner formuliert die Gesetzesbegründung einige weitere, aber nicht abschließende „Regelbeispiele“, bei denen der Auffangtatbestand nach Auffassung des Gesetzgebers ebenfalls vorliegt. So sollen, ohne einen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland zu haben oder sich dort gewöhnlich aufzuhalten, regelmäßig mit den politischen Verhältnissen vertraut sein: „deutsche Mitarbeiter an Goethe­ instituten, an deutschen geisteswissenschaftlichen Institutionen im Ausland, an deutschen Auslandsschulen, bei den Auslandsbüros der politischen Stiftungen, der deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder der Außenhandelskammern sowie Korrespondenten deutscher Medien“, ferner „solche Auslandsdeutsche, die durch ein Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik teilnehmen“107. c) Wahlbeteiligung und prozedurale Auswirkungen der Regel- und Ausnahmetatbestände Die Gesetzesnovelle kam erstmals zur Wahl des 18. Deutschen Bundestages am 22. September 2013108 zur Anwendung. Die Neufassung des Ausnahmetat­bestandes 102

So auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (87). Etwa infolge verstrichener Fortzugsfrist, vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 5. 104 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 5; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246). 105 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 5; ebenso bei BVerfGE 132, 39 (53 ff. Rn. 40 ff.). 106 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 6; die Einbeziehung von Grenzpendlern forderte das der Wahlrechtsänderung vorausgegangene Urteil in BVerfGE 132, 39 (57 Rn. 49). 107 Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 6; vgl. auch BVerfGE 132, 39 (56 f. Rn. 49). Der in der Gesetzesbegründung ebd., gesetzte Verweis auf „Rn. 56“ der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung entstammt dem Originalurteil; vgl. ferner Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 29. 108 Vgl. Anordnung über die Bundestagswahl 2013 v. 8.2.2013 (BGBl. I S. 165). 103

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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für Auslandsdeutsche durch das 21. BWahlGÄndG 2013 war erforderlich geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht die vormalige Regelung zum aktiven materiellen Wahlrecht109 mit Beschluss vom 4. Juli 2012110 für unvereinbar mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und nichtig erklärt hatte.111 Von der Neuregelung betroffen waren insgesamt 67.057 Auslandsdeutsche, die anlässlich der Bundestagswahl einen Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis gestellt hatten. Davon entfielen 64.902 Anträge auf Personen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG und 2.155 Anträge auf Personen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG. Davon wurden etwa 1.000 Anträge nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG und etwa 500 Anträge nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG abgelehnt.112 Insgesamt ist eine stetige Zunahme der Wahlbeteiligung der Deutschen im Ausland zu verzeichnen. Lag die Zahl der Anträge von Auslandsdeutschen auf Eintragung ins Wählerverzeichnis im Jahre 1987 noch bei 31.135, gingen bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag (2005) 54.808 Anträge ein.113 Bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag (2009) beantragten bereits 65.731 der im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Wahlteilnahme.114 Die juristische Zuordnung der Wähler zur Grundregel oder zum Ausnahmetatbestand richtet sich nach dem Ort der Sesshaftigkeit am Wahltag als Stichtag. Damit wird auch in prozeduraler Hinsicht eine für die Praxis wichtige Weichenstellung getroffen. Die Eintragung in die Wählerlisten der am Stichtag im Inland ansässigen Wahlberechtigten nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG erfolgt gemäß § 16 Abs. 1 BWO von Amts wegen. Wahlberechtigte mit Sesshaftigkeit im Ausland müssen die Eintragung ins Wählerverzeichnis gemäß § 16 Abs. 2 BWO unter Angabe einer Versicherung an Eides statt (§ 18 Abs. 5 BWO) bei der letzten Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsgemeinde, von der aus der Wahlberechtigte die Bundesrepublik Deutschland verlassen hat (Fortzugsgemeinde),115 gesondert beantragen. Die (potenziell) wahlberechtigten Auslandsdeutschen sind selbst gehalten, die erforderlichen Informationen (Vordrucke und Merkblätter für die Antragstellung) zu beschaffen und die 109

Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17.3.2008 (BGBl. I S. 394). BVerfGE 132, 39 (40, 2. Leitsatz). 111 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 3 ff.; Sten.Ber. über die 215. Sitzung des Bundestages v. 14.12.2012, S. 26527 ff. und über die 219. Sitzung des Bundestages vom 31.1.2013, S. 2107 ff.; Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses v. 30.1.2013, BT-Drs. 17/12174. 112 Vgl. Antwort der Bundesregierung v. 29.1.2014, BT-Drs. 18/386 auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke v. 20.12.2013, BT-Drs. 18/235. 113 Vgl. dazu Übersicht bei Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 24; zu einzelnen Schwankungen der Wahlbeteiligung vgl. auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 79 f. 114 Vgl. Antwort der Bundesregierung v. 28.5.2010, BT-Drs. 17/1883 S. 3 auf die Kleine Anfrage von Mitgliedern der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen v. 12.5.2010, BT-Drs. 17/1692. 115 In diesen Fällen ist die Abmeldung bei der Meldebehörde erforderlich, vgl. § 17 Abs. 2 S. 1 Bundesmeldegesetz (BMG v. 3.5.2013, BGBl. I S. 1084). Zuvor ergab sich die Abmeldung aus § 11 Abs. 2 Melderechtsrahmengesetz (MRRG). Das BMG hat das MRRG zum 1.11.2015 abgelöst. Die Zuständigkeit der Fortzugsbehörde ergibt sich in den Fällen des § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG aus § 17 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 16 Abs. 2 Nr. 2 BWO. 110

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

konkreten Anträge zur Eintragung in das Wählerverzeichnis rechtzeitig vor der Bundestagswahl zu stellen.116 Ansprechpartner sind die jeweiligen diplomatischen Vertretungen in den Auslandsstaaten. Verzögerungen des Postverkehrs gehen zulasten der Auslandsdeutschen.117 Die Entscheidung zur Eintragung in die Wählerliste nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG ist regelmäßig determiniert durch die der zuständigen Wahlbehörde vorliegenden Einwohnermeldedaten. Abweichende Entscheidungen sind in Zweifelsfällen zulässig,118 wobei diese Übung im Wesentlichen auf praktischen Erwägungen beruht.119 Denn nur so ist die ordnungsgemäße Vorbereitung und Durchführung der Wahl durch die Wahlbehörden und Wahlorgane bei einem „Massengeschäft“ mit über 60 Mio. Wahlberechtigten und dem engen zeitlichen Rahmen vor einer Wahl überhaupt praktisch durchführbar.120 Andererseits zeigt sich hieran, dass das Wahlrecht nicht mehr streng akzessorisch dem Melderecht folgt.121 Dies ist entgegen einiger Kritik122 auch sachgerecht, da die Zuerkennung des aktiven und passiven materiellen Wahlrechts vor dem Hintergrund der Bedeutung der Allgemeinheit der Wahl nicht durch bundes- oder landesgesetzliche Vorgaben zum Meldewesen beschnitten werden darf.123 Dennoch haben die Melderegister nach wie vor eine starke Indiz-Wirkung in einem durch Typisierung gekennzeichneten Massenverfahren124 entfaltet. So sind die Wahlbehörden befugt bzw. auch verpflichtet, jedenfalls evidente Melderechtsverletzungen zu erkennen und die für das Wahlrecht notwendigen Konsequenzen zu ziehen.125 Das Innehaben einer Wohnung ist jedenfalls in diesem Zusammenhang kein rechtlicher, sondern ein tatsächlicher Vorgang.

116 Siehe WahlprE v. 24.10.2003, BT-Drs. 15/1850 und v. 22.6.2006, BT-Drs. 16/1800; zu näheren Einzelheiten vgl. auch Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn 31; zum Verfahrensablauf im Einzelnen vgl. Mohamed, DÖV 2017, S. 890 (893 ff.). 117 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 31; dies entspricht auch der gängigen Spruchpraxis des Deutschen Bundestages in Wahlprüfungssachen, vgl. etwa Beschlussempfehlung des WahlprE v. 8.5.2014, WP 141/13, BT-Drs. 18/1710, S. 247 (248) m. w. N. 118 Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 15; Hahlen, ebd., § 14 Rn. 6. 119 Vgl. OVG Münster, DVBl. 1987, S. 144; Honnacker, BayVBl. 1984, S. 588; Huff, BayVBl. 1984, S. 587. 120 Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 6. 121 Vgl. ThürVerfGH, ThürVBl. 1997, S. 204 (206, 208 f.) mit Bezug zum Landeswahlrecht, das im Hinblick auf den wahlrechtlichen Wohnsitzbegriff dem Bundeswahlgesetzes entspricht; zustimmend Würtenberger / Seelhorst, ThürVBl. 1998, S. 49 (51): andernfalls werde der „Bürger zum Objekt vermeintlicher Verwaltungseffizienz“; ebenso Sachs, JuS 1999, S. 185 f.; a. A. Sondervotum der Richter Becker und Morneweg zum Urteil des ThürVerfGH, ebd., S. 209 f.; der Kritik zustimmend Schreiber, NJW 1998, S. 492: bloß politisch motivierte Entscheidung. 122 Vgl. oben Fn. 121. 123 SächsVerfGH, LKV 2006, S. 269; offengelassen bei BVerfG (Kammer), NVwZ 2009, S. 776 f. 124 Vgl. BVerfGE 30, 227 (249); 124, 1 (23); 132, 39 (49 Rn. 29). 125 Dies kann sowohl in negativer Weise durch Verweigerung der Eintragung in die Wählerliste geschehen, wenn der Meldepflichtige den gemeldeten Wohnsitz tatsächlich nicht selbst nutzt, aber auch in positiver Weise zur Eintragung in das Wählerverzeichnis führen, wenn der

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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Im Hinblick auf die unter § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG fallende Personengruppe erfolgt die Prüfung der für die aktive materielle Wahlberechtigung erforderlichen Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen im Einzelfall ebenfalls durch die zuständige Gemeindebehörde. Ihr steht bei der Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit des Vertrautheitskriteriums ein nicht zu unterschätzender materieller Beurteilungsspielraum offen.126 Steht die Tatbestandsmäßigkeit des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG nach erfolgter Beurteilung über die Voraussetzungen im konkreten Einzelfall fest, hat die Wahlbehörde im Hinblick auf die Zulassung zur Wahl durch Eintragung in die Wählerliste keinen Ermessensspielraum.127 2. Ausübung des aktiven materiellen Wahlrechts § 14 BWahlG legt i. V. m. §§ 14 ff. und 25 ff. BWO die formellen Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven Wahlrechts fest. Nur wer neben den materiellen auch die formellen Wahlrechtsvoraussetzungen erfüllt, kann an der konkreten Bundestagswahl teilnehmen.128 Die aktive materielle Wahlberechtigung wird durch die Eintragung in die Wählerliste oder die Ausstellung eines Wahlscheins formell legitimiert (§ 14 Abs. 1 BWahlG). Die Ausübung des Wahlrechts ist gemäß § 14 Abs. 4 BWahlG regelmäßig an einen bestimmten Ort in einem bestimmten Wahlbezirk gebunden. Mit der Eintragung in ein gemeindliches Wählerverzeichnis oder die alternative Ausstellung eines Wahlscheins wird die Möglichkeit der Mehrfachstimmabgabe verhindert (§ 14 Abs. 4 BWahlG).129 Die Differenzierung zwischen materieller Wahlberechtigung und (formeller) Ausübung des Wahlrechts leuchtet ein, wenn es um die Rechtsfolgen bei Nichtvorliegen der gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen der §§ 12, 13 BWahlG einerseits und des § 14 BWahlG andererseits geht. Denn nur die ohne materielle Wahlberechtigung erfolgte Stimmabgabe ist stets ungültig.130 Formelle Verstöße bei Ausübung des Wahlrechts können vom Wahlvorstand131 noch am Wahltag geheilt werden, indem etwa die pflichtwidrig unterlassene Eintragung in die Wählerliste nachgeholt wird.132 Umgekehrt

potenziell Wahlberechtigte realiter über einen Inlandswohnsitz verfügt, ohne diesen ordnungsgemäß angemeldet zu haben, vgl. dazu Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 16; vgl. ebenso ThürVerfGH, ThürVBl. 1997, S. 204 (208 f.). 126 Vgl. dazu Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 31. 127 Vgl. Beschlussempfehlung des WahlprE v. 8.5.2014, WP 110/13, BT-Drs. 18/1710, S. 203 (206). 128 Vgl. OVG Lüneburg, NVwZ 1985, S. 847. 129 Vgl. hierzu und im Folgenden Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 6; zu den konkreten Anforderungen zur Ausstellung eines Wahlscheins vgl. § 17 Abs. 2 BWahlG, §§ 19 Abs. 2, 25 ff., 28 Abs. 5 und 29 BWO. 130 Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 4. 131 § 56 Abs. 6 und 7, § 59 sowie § 75 Abs. 2; s. a. § 39 Abs. 4, § 40 BWahlG. 132 So jedenfalls Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 3; ablehnend OVG Frankfurt / Oder, LKV 2002, S. 230 (234).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

wirkt die Eintragung in das Wählerverzeichnis oder der Besitz eines Wahlscheins für das Vorliegen der materiellen Wahlrechtsvoraussetzungen nicht konstitutiv.133 Ein nochmaliges Wohnsitzerfordernis setzt § 14 BWahlG explizit nicht voraus. Seine nähere Konkretisierung in den §§ 16 ff., 25 ff. BWO nimmt aber auf die materiellen (Inlands-)Tatbestände des § 12 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 BWahlG Bezug. Die genannten Vorschriften der BWO regeln die Einzelheiten zur Eintragung in das Wählerverzeichnis bzw. die Ausstellung eines Wahlscheins.134 Auch hiernach folgt das Wählerverzeichnis der materiellen Wahlberechtigung. Die Eintragung erfolgt regelmäßig am Ort der Wohnsitz- oder – im Falle des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG – der Fortzugsgemeinde.135 Wahlberechtigte Auslandsdeutsche nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG haben, wenn sie noch nie zuvor einen Wohnsitz in Deutschland gehabt haben, ihren Antrag auf Eintragung in die Wählerliste bzw. auf Erteilung eines Wahlscheins bei der Gemeinde zu stellen, mit der sie am engsten verbunden sind.136 Die BWO verzichtet damit bewusst auf die Einrichtung eines einheitlichen Wahlkreises für Auslandsdeutsche. Vielmehr ­sichern die Ausübungsvorschriften eine breite Streuung der wahlberechtigten Auslandsdeutschen über das gesamte Bundesgebiet. Die Ausübung des Stimmrechts erfolgt entweder durch Stimmabgabe am Wahltag vor Ort oder – und dies wird der praktische Regelfall sein – durch Briefwahl nach § 36 BWahlG. Der Möglichkeit zur Stimmabgabe am Ort einer konsularischen Vertretung hat sich sowohl der Gesetzgeber als auch die Bundesregierung stets verweigert.137 III. Wählbarkeit und Inlandsbezug 1. Passives materielles Wahlrecht Das passive Wahlrecht, also das Recht, sich als Kandidat zur Wahl aufstellen zu lassen (Wählbarkeit), wird ebenso durch den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl geschützt.138 In Übereinstimmung mit Art. 38 Abs. 2 GG bestimmt § 15 BWahlG die materiellen Voraussetzungen der Wählbarkeit abschließend. Sie hängt 133

Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 4. Vgl. oben Fn. 129. 135 Vgl. auch § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 und Nr. 6 sowie § 48 Abs. 2 BWO, § 49 Nr. 7 BWO und Anl. 12 zu § 28 Abs. 3 BWO. 136 Vgl. den durch Art. 1 Nr. 6 der 10. VO zur Änderung der BWO vom 13.5.2013 (BGBl. I S. 1255), neugefassten § 17 Abs. 2 Nr. 5 S. 1 BWO. Dieser ist jedoch nicht anwendbar, wenn die Regelung des § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG im konkreten Fall nur deshalb einschlägig ist, weil der Betroffene die Fortzugsfrist von 25 Jahren überschritten hat. Dann gilt der o. g. Grundsatz (Fn. 135). 137 Vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 11; Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Lintner, Sten.Ber. BT, 12. WP/40. Sitzung v. 18.9.1991, S. 3347 C; ebenso Prüfbericht des Bundesministeriums des Inneren an den Bundestag v. 14.5.2008, BT-Drs. 16/9253, S. 3 und 4. 138 BVerfGE 38, 326 (337 f.); 40, 296 (317); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 107. 134

1. Kap.: Ausgestaltung des aktiven und des passiven Wahlrechts 

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nicht von den zusätzlichen Voraussetzungen zur materiellen aktiven Wahlberechtigung ab.139 Die Sesshaftigkeit im Wahlgebiet nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist auch keine eigene Wählbarkeitsvoraussetzung. Es genügt die Deutscheneigenschaft nach Art. 116 GG und die Vollendung des Wahlalters, das die Verfassung an den Eintritt in die Volljährigkeit knüpft.140 Für die Wahl in den Deutschen Bundestag ist also nicht erforderlich, dass die Wahlkreisbewerber am Wahltag im betreffenden Wahlkreis oder die Landeslistenbewerber im betreffenden Bundesland oder sonst wo in Deutschland wohnhaft sein müssen. Die für das aktive Wahlrecht erhebliche Frage von Haupt- und Nebenwohnsitz bzw. persönlichen Mindestaufenthalt im Wahlgebiet ist für die Beurteilung der passiven Wahlberechtigung ohne Belang.141 Wählbar sind damit alle volljährigen Deutschen, und zwar unabhängig davon, ob sie dauerhaft im In- oder im Ausland ansässig sind. 2. Ausübung des passiven materiellen Wahlrechts Die formellen Erfordernisse zur Kandidatenaufstellung und Wählbarkeit ergeben sich im Wesentlichen aus den §§ 18, 20 Abs. 1 Satz 2 und 3, §§ 26, 28 BWahlG i. V. m. § 34 Abs. 5 bis 7, § 39 Abs. 4 und 5 BWO. Auf diese braucht hier im Einzelnen nicht eingegangen zu werden. Die mit einem bestimmten Wohnsitz oder Aufenthalt regelmäßig verbundene Eintragung in ein Wählerverzeichnis ist jedenfalls nicht Voraussetzung für die Wählbarkeit. Damit verzichtet auch die Ausübung der passiven Wahlberechtigung auf das Zusatzkriterium der Sesshaftigkeit in Deutschland. Der von der zuständigen Gemeindebehörde ausgestellten Wählbarkeitsbescheinigung kommt ausschließlich interner Charakter zu.

C. Zwischenergebnis Somit zeigt der aktuelle Befund in zweierlei Hinsicht ein eindeutiges Bild. Zunächst bleibt festzuhalten, dass die wahlrechtliche Inlandsbindung von der Verfassung nicht gefordert wird. Erst der Bundesgesetzgeber hat sie bezüglich des materiellen aktiven Wahlrechts in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG – und nur dort! – als Regeltatbestand verankert. Sämtliche Folgevorschriften und die sich daraus ergebenden materiellen und formellen Konsequenzen für die Eintragung in ein Wählerverzeichnis, insbesondere die Erheblichkeit von Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsbegriffen und – neuerdings – die „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ sind nach der Logik des Regeltatbestandes notwendige Konsequenz dieser gesetzgeberischen Grundentscheidung. Es ist dem Gesetzgeber in diesen Zusammenhän 139

Zur früheren Anknüpfung von Wählbarkeit und aktiver Wahlberechtigung vgl. unten Erster Teil 2. Kapitel B. I. 140 Dazu vgl. Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 104. 141 Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 15 Rn. 2.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

gen gestattet, die die Allgemeinheit der Wahl konkretisierenden Vorschriften aufgrund typisierender Annahmen zu gestalten. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber sich grundsätzlich am Regelfall orientieren darf und nicht gehalten ist, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Das Wahlvolk ist damit einfachgesetzlich grundsätzlich über den dauerhaften Wohnsitz bzw. Inlandsaufenthalt präformiert. Nur im Ausnahmetatbestand sind bestimmte Gruppen von Auslandsdeutschen de lege lata „auch“142 wahlberechtigt. Hier ist es an den betroffenen Auslandsdeutschen, sich um die Teilnahme an den Bundestagswahlen selbst zu bemühen. Dies gilt insbesondere für die rechtzeitige Antragstellung, um ins Wählerverzeichnis aufgenommen zu werden, sowie die rechtzeitige Stimmabgabe. Demgegenüber kennt das passive Wahlrecht eine solche Einschränkung nicht. Die passive Wahlberechtigung konzentriert sich damit viel enger auf die Deutscheneigenschaft nach Art. 116 Abs. 1 GG als das aktive Wahlrecht. Die tatsächliche Entwicklung offenbart außerdem, dass die Zahl der an der politischen Beteiligung interessierten Auslandsdeutschen in der Vergangenheit zugenommen hat. Begünstigt insbesondere durch die rechtlichen Rahmenbedingungen der Europäischen Union zur Freizügigkeit im Unionsgebiet, der wachsenden Mobilität und der zunehmenden digitalen Vernetzung ist auch für die Zukunft zu prognostizieren, dass das Phänomen der Auslandsdeutschen im Wahlrecht keine untergeordnete Rolle mehr spielen wird. Mittelfristig avanciert dieser Tatbestand durch seine schlichte Faktizität zu einer politisch ernst zu nehmenden Größe. So wird die zusätzliche Begrenzung der nach Art. 38 Abs. 2 GG grundsätzlich wahlberechtigten Staatsangehörigen durch das Sesshaftigkeitserfordernis für den Stimmanteil bei der konkreten Wahlentscheidung nicht mehr nur unerheblich bleiben. 2. Kapitel

Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel in der Bundesrepublik Deutschland Dass die wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG keine Momentaufnahme des geltenden Rechts ist, sondern in der Bundesrepublik Deutschland von Beginn an das Wahlrecht prägte, soll eine historische Betrachtung verdeutlichen. Empirische Untersuchungen dazu liegen bereits vor.143 Die nachstehenden Ausführungen orientieren sich deshalb an den bisher erarbeiteten Befunden und schreiben diese fort. Sie stehen unter der Leitfrage nach den gesetzgeberischen Motiven der jeweils die Inlandsbindung des Wahlrechts betreffenden Normen und deren Änderungen. 142

Vgl. Wortlaut § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 57–80, bis zum Jahr 2001; zu den sonstigen Reformvorhaben bis 1983 vgl. bei Jesse, Wahlrecht, S. 91 ff. 143

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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A. Wohnsitzbindung im aktiven Wahlrecht I. Die frühen Wahlgesetze zum ersten und zum zweiten Bundestag 1. Historische Begleitumstände nach 1945 und Wahlrechtsverhandlungen im Parlamentarischen Rat Deutschland lag nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Militärisch verzehrt und äußerlich zerbrochen besiegelte die endgültige Kapitulationserklärung vom 5. Juni 1945144 das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die alliierten Siegermächte begab sich Deutschland in eine neue, noch unkalkulierbare Periode der Staatlichkeit. Im Zuge der zunehmenden Zerwürfnisse der Westalliierten mit der stalinistischen Sowjetmacht begründete das von der Sechs-Mächte-Konferenz145 am 7. Juni 1948 gefasste Schlusskommuniqué146 die Bildung eines deutschen Weststaates.147 Unter Vorsitz des ehemaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer trat am 1. September 1948 der aus Vertretern der Länder bestehende Parlamentarische Rat in Bonn zusammen. Seine einzige Aufgabe war es, „für die im Gebiet der deutschen Weststaaten zu schaffende rechtliche Ordnung ein Grundgesetz zu beraten, zu beschließen und den Ministerpräsidenten vorzulegen“.148 Im Hinblick auf den gegebenen Sachzusammenhang beanspruchte der Rat zusätzlich die Ausarbeitung und Verabschiedung eines Wahlgesetzes für sich.149 Neben dem mit Experten besetzten Herrenchiemseer Konvent, der mit der Formulierung eines Grundgesetzentwurfs betraut gewesen war,150 unterstützten weitere Fachausschüsse den Parlamentarischen Rat bei seiner Arbeit. Hierzu zählte auch der ausschließlich aus Vertretern der jeweiligen im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien besetzte151 Wahlrechtsausschuss, der einen Mustergesetzentwurf für die Wahl zu erarbeiten hatte.152 Tatsächlich gehörte die Klärung der Wahlrechtsfrage, besonders die nach dem Wahlsystem, zu den schwierigsten Verhandlungspunkten sowohl in den 144

Abgedruckt bei v. Münch (Hrsg.), Dokumente I, S. 19 ff. Bestehend aus den drei westlichen Alliierten USA, England und Frankreich sowie den Beneluxstaaten, Belgien, Niederlande und Luxemburg. 146 Abgedruckt bei Parl.Rat I, Nr. 1 S. 1, Deutsche Übersetzung ab S. 10. 147 Näher Stern, Staatsrecht V, § 133 I 2 (S. 1211 ff.). 148 Vgl. § 2 Modell und Begründung eines Gesetzes über den Parlamentarischen Rat v. 27.7.1948, abgedruckt bei Parl.Rat I, Nr. 15, S. 286. Zur Kreation (indirekte Wahl) und Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates vgl. auch Mußgnug, HStR3 I, § 8 Rn. 33 ff. und 47 ff. 149 Vgl. Huber, Quellen II, S. 276. 150 Ausführlich Stern, Staatsrecht V, § 133 II 2 (S. 1276 ff.); näher auch Mußgnug, HStR3 I, § 8 Rn. 39 ff. 151 Zur Besetzung im Einzelnen und mit ausführlichem Portrait seiner Mitglieder vgl. Rosen­ bach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XII ff. 152 Stern, Staatsrecht V, § 133 II 6 (S. 1277); näher auch Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXV ff. 145

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Ausschussberatungen wie auch später im Plenum des Parlamentarischen Rates.153 Dementsprechend kompliziert gestaltete sich die Arbeit des Ausschusses. Dies lag nur teilweise an der zunächst fraglichen Kompetenz.154 Als viel problematischer erwies sich die Tatsache, dass der Ausschuss auf keine Vorlage des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee zurückgreifen konnte.155 Denn nach dem Willen des Konvents sollte sich die Verfassung zum Wahlsystem nicht äußern, sondern dieses ausschließlich der Ausgestaltung durch den Bundesgesetzgeber vorbehalten werden.156 Darin stimmten auch der Parlamentarische Rat und die Ministerpräsidenten überein, was schließlich mit dem Erlass des Bonner Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 bestätigt wurde.157 Zu der offenen Ausgestaltung des Arbeitsauftrages kamen erschwerend die überwiegend parteitaktischen Maxime hinzu, nach denen ein jedes Ausschussmitglied das für seine Partei günstigste Wahlsystem durchsetzen wollte. In Rede stand die Grundsatzentscheidung entweder für ein eher nach Mehrheitswahlrecht oder eher nach Verhältniswahlrecht geprägtes Wahlsystem. Für die großen Parteien war die Entscheidung für ein Mehrheits- oder ein Verhältniswahlsystem Ausdruck einer Konkurrenzfrage, für die kleineren hingegen ging es um das politische Überleben.158 Einigkeit konnte nur dahin erzielt werden, dass eine Wiederbelebung der reinen Verhältniswahl wie in der Weimarer Zeit oder der reinen Mehrheitswahl wie in der Kaiserzeit nicht stattfinden durfte.159 Im Übrigen aber herrschte Uneinigkeit. So war die Ausschussarbeit insgesamt geprägt von einer unflexiblen Verhandlungsstrategie der parteipolitisch gebundenen Ausschussmitglieder.160 Die Vielzahl der in den Beratungen von den Mitgliedern eingebrachten und abgelehnten Gesetzesentwürfe zog die Ausschussarbeit zusätzlich erheblich in die Länge.161 Zu allem Überdruss wurde ein vom Ausschuss schließlich mühsam erarbeiteter und vom Parlamentarischen Rat am 24. Februar

153

Vgl. H. Meyer, Wahlsystem, S. 28 ff.; Jesse, Wahlrecht, S. 91 ff.; Lange, Wahlrecht, S. 346. Näher Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. VIII ff.; Stern, Staatsrecht V, § 133 II 8 (S. 1293); ausführlich Lange, Wahlrecht, S. 329 ff. 155 Auf diesen Umstand hat der Ausschussvorsitzende Dr. Becker (FDP) mehrfach hingewiesen, vgl. Wortprotokolle: 7. Ausschusssitzung v. 5.10.1948, in: Parl.Rat VI, S. 195, ders., 8. Ausschusssitzung v. 14.10.1948, ebd., S. 212, sowie ders., 11. Ausschusssitzung v. 27.10.1948, ebd., S. 332. 156 Art. 45 Abs. 1 S. 2 Entwurf eines Grundgesetzes, in: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee v. 10.–23.8.1948, abgedruckt in: Parl.Rat II, Nr. 14 S. 504 (588); vgl. auch Jesse, Wahlrecht, S. 92. 157 BGBl. S. 1. Der damalige Art. 38 Abs. 3 GG ist bis heute wortgleich geblieben. 158 Vgl. Stern, Staatsrecht V, § 133 II 8 (S. 1294 f.); zu den einzelnen Positionen vgl. Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXVIII ff.; dazu näher Lange, Wahlrecht, S. 342 ff. 159 Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXVII f. 160 Relativierend Lange, Wahlrecht, S. 346 f., der mit Hinweis auf das politische Verhalten des Ausschussmitgliedes Paul Löbe (SPD), welcher sich entgegen seiner Fraktion für ein reines Mehrheitswahlrecht aussprach (vgl. ders., Einl. zu Parl.Rat VI, S. 50), die „starre Blockbindung abgeschleift“ sieht. 161 Vgl. dazu m. w. N. Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXVIII f., insbesondere S. XXX f.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 57 f. 154

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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1949 gebilligter Wahlgesetzentwurf162 überraschend von den alliierten Militär­ gouverneuren abgelehnt.163 Dies führte zu einer Neuauflage der Verhandlungen, die schlussendlich in das von den Besatzungsmächten gebilligte Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Juni 1949164 (BWahlG 1949) mündeten. Das Bundeswahlgesetz trat sodann zeitgleich mit dem vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Grundgesetz in Kraft (§ 27 BWahlG 1949). 2. Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. Juni 1949 Das BWahlG 1949 ist nicht zuletzt im Hinblick auf die gesetzgeberische Entscheidung zur Inlandsbindung eine Neuentwicklung. Das aktive Wahlrecht war gemäß § 1 Abs. 1 BWahlG 1949 beschränkt auf deutsche Staatsangehörige (Nr. 1), die am Wahltag mindestens das 21. Lebensjahr vollendet hatten (Nr. 2)165 und „seit mindestens drei Monaten vor dem Wahltag [ihren] Wohnsitz oder in Ermangelung eines anderen Wohnsitzes [ihren] Aufenthalt im Bundesgebiet [hatten]“ (Nr. 3). Hier handelt es sich um eine materiell-rechtlich ausgestaltete Sesshaftigkeitsklausel,166 welche das vorgängige Weimarer Reichswahlgesetz vom 27. April 1920167 (RWahlG 1920) noch nicht gekannt hatte. Dort spielte der Wohnsitz allein bei der Ausübung des Wahlrechts, namentlich bei der Eintragung in die Wählerliste sowie für die Stimmabgabe ausschließlich im Wohnsitzbezirk eine Rolle.168 Das BWahlG 1949 machte den Wohnsitz am Wahltag indessen zur immanenten Wahlrechts­ voraussetzung überhaupt. Maßgebend für den Wohnsitzbegriff des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1949 war § 7 BGB.169 Demnach begründete einer Person ihren Wohnsitz im Sinne des Wahlrechts am Ort ihres nicht nur vorübergehenden Aufenthalts. In der Aufenthaltnahme lag ein „rein tatsächliches Verhalten und zwar unabhängig von der polizeilichen Meldung nach dem Melderecht.170 Erforderlich, aber auch 162

Vgl. Parl.Rat VI, S. 674 und 752 ff. (Wahlrechtsausschuss) und Parl.Rat IX, S. 319 ff., 632 ff. (Plenum). 163 Vgl. Stern, Staatsrecht V, § 138 II 8 (1295 f.); zu den Gründen vgl. Lange, Wahlrecht, S. 363 ff. 164 BGBl. S. 21. 165 Die Einschränkungen des § 12 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BWahlG 1949 korrespondierten – wie heute – mit der damaligen Verfassungsnorm, insbesondere zum Wahlalter Art. 38 Abs. 2 GG (Stand 1949). 166 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 58 f. Zur Ausgestaltung des Vorgängerwahlrechts der Weimarer Zeit vgl. unten Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 167 I. d. F. der Bekanntmachung v. 6.3.1924 (RGBl. I, 159), mit Änderung v. 13.3.1924 (RGBl. I, 173). 168 Vgl. § 3 i. V. m. § 11 RWahlG 1920, näher unten Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 1. 169 Vgl. BVerfGE 5, 2 (8); Linck, DÖV 1970, S. 125 (126). 170 Näher Linck, DÖV 1970, S. 125 (126), mit Verweis auf das Berliner Gesetz über das Melde­wesen vom 16.10.1958 (GVBl. S. 1022).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

ausreichend sei ein Verweilen von gewisser Dauer oder Regelmäßigkeit“.171 Die Absicht der dauernden Niederlassung war nicht gefordert. Die dreimonatige Mindestdauer der Sesshaftigkeit – die zweite Neuerung im Bundeswahlrecht – ging auf den von den Alliierten abgelehnten ersten Kompromiss­ entwurf des Wahlrechtsausschusses vom 24. Februar 1949172 zurück. Die in den Ausschussberatungen erhobenen Forderungen einiger Mitglieder auf Verzicht der Sesshaftigkeit setzten sich nicht durch. Denn die Mehrheit der Ausschussmitglieder teilte zunächst die Auffassung des Vorsitzenden Dr. Max Becker, wonach „die Geschicke des Staates von denen bestimmt werden sollen, die sich mit diesem Staat verbunden fühlen“173. Das setzte nach Auffassung der Mitglieder aber neben dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt auch eine mindestens formale Gewährleistung dahingehend voraus, Verbundenheit überhaupt aufzubauen. Naheliegend war die Verknüpfung des Sesshaftigkeitserfordernisses mit einer für alle gleich geltenden Mindestfrist. Der Ansatz Beckers war aber keineswegs unumstritten. Im fortgeschrittenen Verlauf der Beratungen veranlasste insbesondere das Problem der „Rückkehrer“, also jener Personen, die als Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie ihre Staatsangehörigkeit unter den Sowjets verloren hatten, vielfach zur Überlegung, auf den Gedanken der „Verbundenheit“ im Wahlrecht überhaupt zu verzichten.174 Jedenfalls standen die Ausschussmitglieder der zusätzlichen Anknüpfung des Wohnsitzes an eine Mindestdauer zunächst mehrheitlich kritisch gegenüber.175 Deshalb gab es in der Folge auch einige weitere Entwürfe, die zwar an der Sesshaftigkeit festhalten wollten, eine dreimonatige Mindestfrist jedoch nicht mehr enthielten.176 In den Diskussionen um die grundsätzliche Sesshaftigkeit spielte auch eine Rolle, dass eine Beteiligung von Auslandsdeutschen aus technischen Gründen schwerlich durchführbar sei.177 Die Möglichkeit der Briefwahl wurde erst mit dem Bundeswahlgesetz vom 4. Mai 1956178 eingeführt und stand im Jahr 1949 noch 171 Vgl. Palandt / Ellenberger, BGB, § 7 Rn. 2, die Vorschrift und deren Auslegung ist bis heute gleich geblieben. 172 Vgl. Fn. 162. Alle vorhergehenden Entwürfe Beckers enthielten eine an einen Mindestzeitraum gekoppelte materielle Sesshaftigkeitsklausel, so etwa Drs. Nr. 128, in: Parl.Rat VI, S. 108 ff. (§ 1 lit. a.), Drs. Nr. 197/II, ebd., S. 302 (§ 1 S. 1). 173 Vors. Dr. Becker (FDP), in: Parl.Rat VI, S. 116, später auch ebd., S. 283. 174 Vgl. etwa bzgl. der Flüchtlingsproblematik: Dr. Mücke (SPD), Parl.Rat VI, S. 110 f.; Heiland (SPD), vgl. ebd., S. 110 f.; bezogen auf den Wohnsitz generell ablehnend: Dr. Kroll (CDU), ebd., S. 114 f.: „bei der Staatsangehörigkeit bewenden lassen“. 175 Abg. Dr. Kroll (CDU), in: Parl.Rat VI, S. 114; vgl. auch Abg. Dr. Dietrichs (SPD), ebd., S. 114, 117; Abg. Heiland (SPD), ebd., S. 115. 176 Vgl. etwa Entwurf Abg. Dr. Dietrich (SPD), Drs. Nr. 178, in: Parl.Rat VI, S. 216 ff., der jedoch im Hinblick auf die Wohnsitzfrage nicht behandelt wurde. 177 So etwa Abg. Kaufmann (CDU / CSU), Parl.Rat VI, S. 450 f. 178 BGBl. I S. 383, vgl. dazu unten Erster Teil 2. Kapitel A. II.; den bisherigen Ausschluss der grenznahen Staatsdiener nach Einführung der Briefwahl vom Bundesverfassungsgericht just mit der fehlenden Möglichkeit zur Stimmabgabe außerhalb des Wohnsitzes begründet bei BVerfGE 36, 139 (143).

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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nicht zur Verfügung. Dass im Übrigen hier vieles noch nicht ausgegoren gewesen ist, zeigt zudem etwa die Bereitschaft einiger, bezüglich der Flüchtlinge sogar auf das Erfordernis der Staatsangehörigkeit zu verzichten.179 Diese und andere Alternativvorschläge sind jedoch letztlich der eher ungeordneten Arbeitsweise des Wahlrechtsausschusses180 zum Opfer gefallen. Das Hauptaugenmerk legten die Mitglieder ohnehin auf die fundamentale Entscheidung nach dem richtigen Wahlsystem. So hatten in der Schlussphase der Beratungen durchweg alle Entwürfe das ursprünglich von Becker befürwortete dreimonatige Sesshaftigkeitsprinzip enthalten, ohne dass es darum größeres Aufheben gab.181 So kam letztlich der um einige Änderungen modifizierte ursprüngliche Entwurf des Ausschussvorsitzenden einschließlich der materiellen Sesshaftigkeit samt dreimonatigem Mindestaufenthalt zur Beratung im Plenum des Parlamentarischen Rates.182 Doch hier war das Motiv für das Erfordernis der Sesshaftigkeit nicht mehr in erster Linie die von Becker eingeführte „Heimatverbundenheit“ der Wähler. Die politische Lage war im Wandel. Auch die Beratungen des Rates zum Wahlrecht fanden jetzt primär im Umfeld des schwelenden Konflikts der Westalliierten mit der Sowjetmacht statt. Aufgrund der sich abzeichnenden Teilung Deutschlands reichte die Staatsangehörigkeit für eine zuverlässige Abgrenzung der Wahlberechtigung nicht mehr aus. Denn die Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren ebenso deutsche Staatsangehörige.183 Sie sollten vom Wahlrecht zum Deutschen Bundestag aber naturgemäß ausgeschlossen werden.184 So gelangte die Norm zwar mit gleichbleibendem Wortlaut, aber unter veränderter politischer Zwecksetzung zur Geltung. Für die (formelle) Ausübung des Wahlrechts sah § 18 BWahlG 1949 ein reines Aufenthalterstimmrecht für Inlandsdeutsche vor. Vorherige Sondervorschriften aus der Weimarer Zeit wurden insoweit nicht übernommen. So entfiel etwa das Wahlrecht für Staatsbedienstete im grenznahen Ausland, wie dies noch in § 11 RWahlG 1920 vorgesehen war. Die Ausübung des Wahlrechts durch Eintragung in eine Wählerliste und mittels Wahlschein wurde in den Beratungen nicht differenziert erörtert. Sie kam, soweit ersichtlich, allein unter dem Aspekt der Wahltech-

179 Vgl. etwa Wahlgesetzentwurf Abg. Dr. Dietrichs (SPD), Drs. Nr. 266; ebenso von der CDU / CSU-Fraktion, Drs. Nr. 369, synoptisch abgedruckt in: Parl.Rat VI, S. 528, dort § 7 Abs. 2: „Wahlberechtigt sind ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit ferner: […]“. 180 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 59. 181 Vgl. etwa überarbeiteter Wahlgesetzentwurf Abg. Dr. Dietrich (SPD), Drs. Nr. 474, Parl. Rat VI, S. 553; ebenso überarbeiteter Entwurf von der CDU / CSU-Fraktion, Drs. Nr. 450, ebd., S. 566 ff.; später Redaktionsentwurf, Drs. Nr. 577/II, ebd., S. 705 ff.: ab hier wurde zur Wahlberechtigung das Wort nicht mehr gewünscht. 182 Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXV mit Fn. 102, ferner vgl. Stern, Staatsrecht V, § 133 II 8 (S. 1295, 1297): „unterschied sich nicht substanziell vom Entwurf v. 24.2.1949“. 183 Vgl. BVerfGE 36, 1 (30 f.); BVerfGE 5, 2 (6). 184 BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (142); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 59; Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

nik185 zur Sprache. Konkret erlaubte der Wahlschein die Stimmabgabe im Inland auch außerhalb des Wohnsitz- oder (gewöhnlichen) Aufenthaltsortes. Tatsächlich entspricht der Wortlaut des § 18 BWahlG – von redaktionellen Änderungen abgesehen – inhaltlich allen vorangegangenen im Wahlrechtsausschuss ernsthaft diskutierten Formulierungsvorschlägen zur Ausübung der Wahlberechtigung. § 1 Abs. 1 BWahlG 1949 wurde während seines vierjährigen Bestehens mit Gesetz vom 20. Dezember 1952 einmal geändert.186 Die Änderung geht auf einen Regierungsentwurf vom 3. Dezember 1951 zurück, in dem die Personen deutscher Volkszugehörigkeit durch den gemeinsamen Bezug auf Art. 116 Abs. 1 GG mit den Staatsangehörigen begrifflich gleichgestellt wurden.187 So war im Hinblick auf den wahlberechtigten Personenkreis fortan die Rede nur noch von „Deutschen“ i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG. Inhaltlich hielt auch das Änderungsgesetz ausdrücklich an der Inlandsbindung des Wahlrechts in der vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Form fest.188 Damit war das aktive Wahlrecht materiell limitiert auf die Inlandsansässigen bzw. die im Inland aufhältigen Deutschen. Auslandsdeutsche waren vom Wahlrecht also generell ausgeschlossen. 3. Wahlgesetz zum 2. Bundestag und zur Bundesversammlung vom 8. Juli 1953 Das Wahlgesetz zum 2. Bundestag und zur Bundesversammlung vom 8. Juli 1953189 (BWahlG 1953) entsprach hinsichtlich der in § 1 geregelten aktiven Wahlberechtigung dem Vorgängerwahlgesetz in seiner geänderten Fassung.190 Eine erneute Diskussion über die im Parlamentarischen Rat gesetzten Grundentscheidungen zum aktiven materiellen Wahlrecht erfolgte nicht. § 4 BWahlG 1953 erfuhr eine Konkretisierung im Hinblick auf die Stimmabgabe mit Wahlschein in einem beliebigen Wahlbezirk, die indes auch hier nur bei inländischem Wohnsitz Wirkkraft erlangte. Neu hingegen war die Einführung eines aktiven Wahlrechts für Staatsbedienstete mit grenznahem dienstlichen Auslandswohnsitz in § 1 Abs. 3 BWahlG 1953. Seine Einfügung beruhte auf einem Änderungsantrag (Nr. 996), den Teile der CDU / CSU-Fraktion in die abschließende parlamentarische Beratung zum BWahlG 1953 vom 25. Juni 1953 eingebracht hatten. Durch die Ausweitung des Wahlrechts sollten diejenigen „deutschen Beamten, Angestellten und Arbeiter

185

Vgl. Abg. Dr. Dietrichs (SPD), Parl.Rat VI, S. 144. Vgl. Art. 1 Nr. 1 Gesetz v. 20.12.1952 (BGBl. I S. 821). 187 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. I/2889, S. 3. 188 Vgl. Art. I Nr. 1 Regierungsentwurf, BT-Drs. I/2889, S. 2. Die Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1949 erfolgte aus redaktionellen Gründen. 189 BGBl. I S. 470. 190 Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 59; ebenso Bericht des Wahlrechtsausschusses (52. Ausschuss) vom 10. Juni 1953, BT-Drs. 4450 zum Entwurf eines Bundeswahlgesetzes (BT-Drs. 4090), S. 5. 186

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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des öffentlichen Dienstes, die aus dienstlichen Gründen unmittelbar jenseits der Bundesgrenze wohnen müssen, also vor allem in Salzburg, Kufstein und Basel sowie in anderen ähnlichen Orten, das Recht erhalten, sich in die Wahlkartei des Nachbarorts eintragen zu lassen, und damit das Recht bekommen, zu wählen“.191 Die Vorschrift hatte bereits Vorbilder im Weimarer Wahlrecht, auf die in der knappen Antragsbegründung ebenfalls Bezug genommen wurde.192 Der Antrag wurde ohne weitere Aussprache mehrheitlich angenommen.193 Darüber hinaus waren Deutsche ohne festen Wohnsitz oder Aufenthalt im „Bundesgebiet“ vom Wahlrecht nach wie vor ausgeschlossen. Hans Meyer ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass die Ausweitung des damaligen Wahlrechts nach § 1 Abs. 3 BWahlG 1953 von der „durchaus demokratischen Vorstellung“ getragen gewesen sei, dass diese Wählergruppe, wenn sie schon nicht im Bundesgebiet lebe, „wenigstens mit den Verhältnissen dort sehr vertraut sein soll und eine durch den Dienst vermittelte kommunikative Bindung unterstellt werden“ könne. Dafür spräche jeweils die „räumliche Nähe und die Dienstbeziehung zum Staat“194. Dieser Annahme kann so jedoch nicht gefolgt werden. Die Erwägungen Meyers werden allein im Kontext und zur Rechtfertigung zum heutigen Ausschluss von Auslandsdeutschen vom Wahlrecht angestellt.195 Diese steht aber in keinem Zusammenhang mit der wahlrechtlichen Inlandsbindung nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1953. Denn die Ausweitung des Wahlrechts auf Auslandsbedienstete mit grenznahem Auslandswohnsitz samt Hausstand war in den ursprünglichen Gesetzentwürfen gar nicht vorgesehen.196 So enthielt auch der von der CDU / CSU-Fraktion in dritter Lesung eingebrachte Änderungsantrag vom 25. Juni 1953 die von H. Meyer behauptete Begründung wie dargelegt nicht.197

191

Vgl. Zitat der Antragsbegründung Abg. Dr. Jäger (CSU), in: Sten.Ber. BT, 1. WP, 276. Sitzung v. 25.6.1953, S. 13744 C, Hervorhebung im Original. 192 Vgl. Redebeitrag Abg. Dr. Jäger (CDU) in: Sten.Ber. BT, 1. WP, 276. Sitzung v. 25.6.1953, S. 13744 D. Dazu näher Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 62 mit Fn. 245; zum historischen Wahlrecht vgl. unten Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 1. 193 Sten.Ber. BT, 1. WP, 276. Sitzung v. 25.6.1953, S. 13745 A. 194 H. Meyer, JZ 2016, S. 121 (126) mit Zitat. 195 Erstmals Begründung zum Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 12.8.1982, BT-Drs. 9/1913, S. 10; bestätigend BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); zuletzt BVerfGE 132, 39 (50 ff. Rn. 32 ff.). 196 Vgl. Gesetzentwurf (Abg. Dr. Wuermeling, Strauß und Genossen) v. 16.7.1952, BT-Drs. Nr. 3636, S. 1; Regierungsentwurf v. 19.2.1953, BT-Drs. Nr. 4090; Mündlicher Bericht des Wahlrechtsausschusses (52. Ausschuss) v. 10.6.1953, BT-Drs. I/4450, S. 4. 197 Auf die Notwendigkeit der inneren Verbindung des Einzelnen zu seinem Heimatstaat als Wahlzulassungskriterium stellte sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht nach Fortschreiten der rechtlichen wie tatsächlichen Rahmenbedingungen erst über 30 Jahre später ab. Näher dazu unten Erster Teil 2. Kapitel A. II. 2. c) und Erster Teil 3. Kapitel  C. II. 3.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

II. Inlandsbindung im Wahlrecht der „alten“ Bundesrepublik 1. Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 Das Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956198 (BWahlG 1956) bildet die Grundlage des heutigen Wahlrechts. Seine Vorschriften gelten mit Änderungen bis heute. Es ist das erste Wahlgesetz mit Anspruch auf Gültigkeit über eine Legislaturperiode hinaus auch für künftige Bundestagswahlen.199 Das materielle aktive Wahlrecht regelt in seinen Grundsätzen nun § 12 Abs. 1 BWahlG 1956. Am Sesshaftigkeitserfordernis hält es mit § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG grundlegend fest.200 Doch empfing die gesetzgeberische Argumentation zur Rechtfertigung der wahlrechtlichen Inlandsbindung eine neue juristische Begründung. So war es jetzt der Repräsentationsfunktion des Deutschen Bundestages, allein bezogen auf das im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebende Volk, geschuldet, die Geltung des Wahlrechts auf jenen Wirkungsraum zu beschränken. Das Wahlrecht könne folglich auch nur dem Teil des deutschen Volkes gewährt werden, der in diesem Wirkungsbereich lebe.201 Äußerlich ging dieser Rechtfertigungsansatz maßgeblich mit dem Umstand der deutschen Teilung einher. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Ansatz in seinen Begründungsstrukturen zur Verfassungsmäßigkeit der materiellen Sesshaftigkeitsklausel des BWahlG 1956 in seiner frühen Rechtsprechung aufgenommen und weiter gefestigt.202 § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG 1956 erweiterte aber die bereits im § 1 Abs. 3 BWahlG 1953 bestehende Ausnahme für Auslandsbedienstete mit grenznahem Auslandswohnsitz auf alle „Beamte, Soldaten, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst“, die „auf Anordnung ihres Dienstherrn ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Ausland genommen haben“. Die neuerliche Öffnung des Wahlrechts für Auslandsbedienstete (samt Hausstand) ist in erster Linie auf die Einführung der Briefwahl gemäß §§ 15 Abs. 3 lit. b),203 36 BWahlG 1956 zurückzuführen. Diese ging auf einen Gesetzentwurf der FDP-Fraktion204 zurück. 198

Vgl. oben Fn. 178. Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 60. 200 Der Wortlaut aus § 1 lit. b) BWahlG 1953 wurde weitgehend übernommen. Einzig ersetzt wurde die Formulierung: „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ durch „Wahlgebiet“, was nunmehr auch Westberlin in den gesetzlichen Anwendungsbereich eingeschlossen hat, vgl. Bericht des Wahlrechtsausschusses v. 14.3.1956, zu BT-Drs. 2206, S. 2, ablehnend Linck, DÖV 1970, S. 125 (126). 201 BVerfGE 5, 2 (6); vgl. auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 f. und S. 7. 202 Vgl. BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (142); ebenso BVerwGE 51, 69 (77). 203 Heute § 14 Abs. 3 lit. b) BWahlG, vgl. Bekanntmachung der Neufassung des Bundeswahlgesetzes vom 1. September 1975 (BGBl. I S. 2325 ff.). Der frühere § 14 BWahlG 1956 („Ruhen des Wahlrechts“) wurde kurz zuvor gemäß Art. 1 Nr. 6 und 7 des Gesetzes zur Änderung des Wahlrechts vom 24. Juni 1975 (BGBl. I S. 1593 ff.) mit § 13 BWahlG („Ausschluß vom Wahlrecht“) zusammengeführt. 204 Entwurf eines Bundeswahlgesetzes, BT-Drs. II/1444, S. 7 dort § 34. 199

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Im Rahmen der parlamentarischen Debatte wurde auf die positiven Erfahrungen der in anderen europäischen Ländern selbstverständlich bestehenden Institution der Briefwahl verwiesen. Die bisherigen Bedenken an der Einhaltung des Wahlgeheimnisses bei Stimmabgabe außerhalb eines Wahllokales seien mit diesem Gesetz ausgeräumt.205 Damit einher ging freilich die Begrenzung der bisherigen Freizügigkeit des Aufenthalterstimmrechts im Bundesgebiet. Konnte nach dem zuvor gültigen Wahlrecht jeder Wahlberechtigte nach Erteilung eines Wahlscheins seine Stimme noch in einem beliebigen Wahlbezirk abgeben, war diese Möglichkeit durch die Einführung des § 15 Abs. 3 lit. b) BWahlG 1956 im Zusammenhang mit der Briefwahl entfallen. Nunmehr war die Stimmabgabe nur noch im Wohnsitz- bzw. Aufenthaltswahlkreis möglich. Damit wurde die Stimmabgabe vom Gesetzgeber formal wieder enger „an die Heimat“ geknüpft. Diese Regelung sollte – so jedenfalls die Ausführungen im Rahmen der Plenardebatte am 6. Juli 1955 – die natürlichen Beziehungen des Wählers zu „seinem“ Wahlkreis erhalten und vor Verfälschungen durch zufällige Konzentration ortsfremder Wählermassen verhindern.206 In formaler Hinsicht bezweckten die Wahlausübungsregelungen des § 15 Abs. 1 BWahlG 1956 (später § 14 BWahlG)207 – wie schon seine Vorgängerregelungen des § 18 BWahlG 1949 und § 16 BWahlG 1953 – die nur einmalige Stimmabgabe am Wahltag.208 Nach dem Vorbild der beiden vorangegangenen Bundeswahlgesetze hat auch § 15 Abs. 4 BWahlG 1956 dieses Sicherungsziel für die Ausübung durch Stimmabgabe am Wahltag nach Wählerliste oder aufgrund Wahlscheins gesondert festgelegt. Demnach kann jeder Wahlberechtigte sein Wahlrecht nur einmal und persönlich ausüben. Die Anbindung der Stimmabgabe an die Eintragung in eine Wählerliste oder an den Besitz eines Wahlscheins war im parlamentarischen Verfahren unstrittig.209 Der Regelung zum Wahlschein nach § 15 Abs. 3 lit. b) BWahlG 205 Vgl. Abg. Dr. Schneider (FDP), in: Sten.Ber. 2. WP/94. Sitzung v. 6.7.1955, S. 5323 D. Dem Entwurf selbst ist eine offizielle Begründung nicht angefügt. 206 Vgl. dazu Abg. Dr. Schneider (FDP), Sten.Ber. 2. WP/94. Sitzung v. 6.7.1955, S. 5323 f., wörtlich: „Wir sind auch der Meinung, daß die Wahlfreudigkeit viel mehr gefördert wird, wenn der Betreffende, der auswärts ist und sein Wahlrecht ausübt, weiß: Ich wähle hier nicht einen XY, den ich gar nicht kenne, in Oberbayern oder sonst wo, sondern ich nehme meinen Wahlbriefumschlag und schicke meine Stimme in die Heimat. Dort, weiß ich, gestalte ich meine eigenen Verhältnisse, die ich kenne, mit; da weiß ich: den Meier kann ich wählen und den Schulze nicht. Damit, meine ich, führen wir eine gute Institution ein.“ 207 Vgl. oben, Nachweise bei Fn. 203. 208 Seifert, Bundeswahlrecht, § 15 Rn. 7. 209 Demgemäß enthielten alle parlamentarischen Entwürfe eines Bundeswahlgesetzes (1956) im Hinblick auf die Wahlausübung eine entsprechende Regelung mit ähnlichem oder gar identischen Wortlaut, vgl. Regierungsentwurf v. 14.3.1956, BT-Drs. 2206, § 15 Abs. 1 und 4, der im Gesetzentwurf nicht eigens begründet ist, vgl. zu BT-Drs. 2206, S. 3; ähnlich Antrag der Fraktion der FDP, BT-Drs. 1444, § 14 Abs. 1 u. 4; Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drs. 1272, § 11; ebenso bereits bei den Beratungen zum BWahlG 1953, dazu synoptische Darstellung im Bericht des Wahlrechtsausschusses (52. Ausschuss) vom 10. Juni 1953, BT-Drs. 4450 zum Entwurf eines Bundeswahlgesetzes (BT-Drs. 4090) sowie zu den Entwürfen eines Bundes-

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

1956 und dem Verbot mehrfacher Stimmabgabe nach § 15 Abs. 4 BWahlG 1956 lag somit ein spezielles Ergänzungsverhältnis zugrunde. Die daneben in der Debatte zur Sprache gekommenen Erwägungen zur „engeren Verbindung an den Heimatwahlkreis“ besitzen hingegen neue Qualität.210 Damit hat die räumliche Ordnung der Wahlrechtsausübung eine im Vergleich zu den Vorgängergesetzen erhöhte, nunmehr auch materielle Bedeutung gewonnen.211 Mit Blick auf die bislang absolut ausgestaltete Inlandsbindung des Wahlrechts sind die ursprünglichen Bedenken zur technischen Machbarkeit der Stimm­abgabe aus dem Ausland212 mit der Einführung der Briefwahl entfallen. Im Zusammenhang mit der hier gesetzgeberisch zumindest mitschwingenden Annahme, dass dem Wahlrecht eine gewisse Art der Heimatvertrautheit innewohnen sollte, rückte eine bestimmte Gruppe von Auslandsdeutschen in den Fokus: die im Ausland beschäftigten Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Diese hielten sich dort „nicht aufgrund eigener Entscheidung“, sondern allein wegen einer im Rahmen ihres Dienstverhältnisses bindenden Anordnung ihres deutschen Dienstherrn auf. Trotzdem seien die im Ausland befindlichen Angehörigen des öffentlichen Dienstes schon von Berufs wegen „aufs engste mit der Bundesrepublik verbunden“ und stünden daher „in einer ganz anders gearteten Beziehung zum Staate […] als die eigentlichen Auslandsdeutschen“.213 Außerdem dürfe es der Staat nicht in der Hand haben, durch Auslandsversetzung seiner Bediensteten Einfluss auf die Zusammensetzung des Wahlvolkes zu nehmen.214 Zumindest in den Beratungen zu den formellen Wahlausübungsregelungen (Wahlschein / Briefwahl) schimmerte bereits das materiell-rechtliche Fundament hervor, von dem das Auslandsdeutschenwahlrecht künftig abhängig sein sollte: die Bindung des Wählers an „seine Heimat“.215 Mit der gleichzeitigen materiellen Einbeziehung der im Ausland sesshaften deutschen Beschäftigten im öffentlichen Dienst zum Wahlrecht (samt Hausstand) ist jener wahlgesetzes von den Abgeordneten. Dr. Wuermeling, Strauß und Genossen (BT-Drs. 3636) und der Fraktion der SPD (BT-Drs. 4062), dort jeweils § 4. 210 Allenfalls ab diesem Zeitpunkt greifen die von H. Meyer in JZ 2016, S. 121 (126) auseinander gesetzten Erwägungen (vgl. dazu Erster Teil 2. Kapitel A. I. 3) zumindest in Grundzügen Platz. Von der „Vertrautheit mit den Verhältnissen“ und einer „kommunikativen Bindung“, vgl. ders., ebd., war damals freilich noch nicht die Rede. Dies zumal nicht im heute verstandenem materiellen Sinne. 211 Vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, § 15 Rn. 5. 212 So noch in den Debatten im Wahlrechtsausschuss des Parlamentarischen Rates, vgl. oben Fn. 177. 213 Vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 12 mit Zitat; vgl. bestätigend BVerfGE 36, 139 (143); die wahlrechtliche Privilegierung der Staatsdiener im Ausland war dem Wortlaut entsprechend umfassend auf alle Dienstverhältnisse bezogen, vgl. auch BVerfGE ebd. 214 Zu dieser Überlegung vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 41. 215 Vgl. dazu auch Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5; a. A. Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5): „[…] nur einen mehr regulativen Charakter“. An anderer Stelle anerkennt Henkel aber den besonderen Bezug des Wahlrechts auf die im Staats(=Wahl-)gebiet lebenden Staatsbürger, vgl. ders., ebd., S. 8; die Vertrautheit als gesetzgeberisches Motiv für diese Regelung auch annehmend Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (6).

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Sinngedanke so auch konsequent in die Tat umgesetzt worden.216 Alle übrigen Auslandsdeutschen hatten „mangels“ Heimatbindung demgegenüber nach wie vor kein materiell aktives Wahlrecht inne. Die Zulässigkeit dieser Differenzierung erscheint aus der Retroperspektive betrachtet allerdings fraglich. Denn zum erheblichen Abgrenzungskriterium avancierte nicht der Wohnort an sich, sondern die von den im Ausland ansässigen Deutschen bestehende Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst.217 Dies aber ist ein persönliches Merkmal, das als Differenzierungskriterium vor dem Hintergrund der formalen Gleichheit des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und der damals noch alles überlagernden „regulative[n] und letztlich übergeordnete[n] Bedeutung“ des Art. 3 Abs. 1 GG im Wahlrecht218 unzulässig scheint.219 Etwa Auslandskorrespondenten oder Entwicklungshelfer haben trotz nahezu gleicher Rückanbindung an das Bundesgebiet berufsbedingt ebenso mit einer längeren Tätigkeit im Ausland zu rechnen. Auch das Kriterium der Unfreiwilligkeit stand zu Recht in der Kritik. Wer etwa eine Beschäftigung im Auswärtigen Dienst antritt, nimmt seine Versetzung in das Ausland durchaus in Kauf.220 Mittlerweile steht diese Norm freilich nicht mehr in Geltung, weshalb die Frage nach der Zulässigkeit einer entsprechenden Privilegierung von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes mit dienstlichem Auslandswohnsitz an dieser Stelle offen bleiben kann. 2. Siebtes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 15. März 1985 a) Inhalt der Änderungen Trotz der teils erheblichen Kritik beherrschte dieser Regelungsmodus der weitgehenden Inlandsbindung das Wahlrecht bis zur 10. Legislaturperiode. Eine Reihe parlamentarischer Vorstöße aller Fraktionen zur zumindest partiellen Ausweitung des Wahlrechts auf weitere bestimmte Gruppen von Auslandsdeutschen221 216

BVerfGE 58, 202 (206). Die Einbeziehung des Hausstandes rechtfertige sich aus dem Familienzusammenhalt um der Fortführung des gemeinsamen Hausstandes willen, der sich zusammen mit dem Angehörigen des öffentlichen Dienstes ins Ausland begebe, vgl. BVerfGE ebd., S. 207: „mittelbare Folge“. 217 So auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (21). 218 Zurückgehend auf Leibholz, JW 1929, S. 3042 f.; Diese Auffassung fand zunächst Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. etwa BVerfGE 1, 208 (237 und 242); 18, 172 (180); 24, 300 ff., wurde in BVerfGE 99, 1 ff. aber ausdrücklich aufgegeben, vgl. dazu unten Erster Teil 4. Kapitel B. I. 2. 219 Kritisch zu diesem Kriterium auch Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81 und 101 f.); Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (19 ff.); v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG3, Bd. 2, Art. 38 Rn. 48. 220 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 227. 221 Vgl. Gesetzentwurf BT-Drs. V/3036 (Bedienstete zwischen- und überstaatlicher Organisationen); § 12 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzentwurfs, BT-Drs. VI/3395, Anl. 1 („Europaratslösung“); Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 7/2063, S. 4; Unterrichtung der Bundesregierung, BT-

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scheiterte jeweils an verfassungsrechtlichen Einwänden (Gleichheitssatz) oder an verfassungspolitischen Bedenken (Verstärkung der abzulehnenden Tendenz nach Ausdehnung auf alle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen) oder an allgemeinpolitischen, völkerrechtlichen und wahltechnischen Erwägungen.222 Erst auf Initiative der Regierungsfraktionen von CDU / CSU und FDP223 unter Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl kam in der 10. Legislaturperiode das Siebte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985224 (im Folgenden bezeichnet als: 7. BWahlGÄndG 1985) zustande. Das 7. BWahlGÄndG kann in vielerlei Hinsicht als Fortschritt gewertet werden.225 Erstmals enthielt es Vorschriften zur Einführung eines Auslandsdeutschenwahlrechts als Ausnahmetatbestand. Der Wahlzugangstatbestand für Angehörige des öffentlichen Dienstes mit Auslandswohnsitz wurde unter § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG beibehalten. Zudem wurde aber in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG die sog. „Europaratslösung“ eingeführt, die es allen auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten im Europarat sesshaften deutschen Staatsangehörigen erlaubte, künftig an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teilzunehmen. Für alle übrigen Auslandsdeutschen führte § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG erstmals das sog. kombinierte Fristenmodell für Deutsche mit Sitz im außereuropäischen Ausland ein. Diese waren fortan aktiv wahlberechtigt, sofern nach ihrem Fortzug aus der Bundesrepublik nicht mehr als 10 Jahre verstrichen waren. Anknüpfungspunkt der unter § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 BWahlG geregelten Ausnahmetatbestände war aber ein Mindestsesshaftigkeitszeitraum in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland von drei Monaten nach dem 23. Mai 1949, dem Geltungsbeginn des Grundgesetzes. Die Eintragung in das Wählerverzeichnis sollte, wie bereits bei den Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Ausland, am Ort der Fortzugsgemeinde erfolgen. Für Angehörige des öffentlichen Dienstes gab es ein entsprechendes Erfordernis früherer Sesshaftigkeit im Inland demgegenüber nicht.

Drs. 7/867; Art. 1 Gesetzentwurf, BT-Drs. 8/1716. All diese Vorstöße fanden im Parlament keine Mehrheit. Begleitet wurden die Vorgänge von einer Vielzahl parlamentarischer Anfragen, vgl. auch Nachweise bei BT-Drs. 9/1913, S. 8 f.; dezidiert und m. w. N. auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S, 67 ff.; darauf Bezug nehmend auch Wallrabenstein, JöR 66 (2018), S. 431 (440 ff.). 222 Vgl. etwa Plenarprotokoll über die 103. Sitzung des 7. Bundestages v. 22.5.1974, S. 6879 ff.; BT-Drs. 7/2063 und 7/2132; Sten.Ber. 7. WP/162. Sitzung v. 10.4.1975, S. 11333, 11341; Sten. Ber. 8. WP/157. Sitzung v. 31.5.1979, S. 12588, 12593. 223 Regierungsentwurf v. 23.5.1984, BT-Drs. 10/1489. 224 BGBl. I S. 521 ff. 225 Vgl. Schreiber, NJW 1985, S. 1433. Genannt sei hier insbesondere die „Umstellung“ des für die Sitzverteilung im Bundestag maßgebenden Berechnungssystems vom Höchstzahlverfahren nach d’Hondt auf das Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer; die Einführung des Verbotstatbestandes der Unterschriftensammlung unmittelbar vor Wahllokalen während der Wahlzeit, die Einengung der Wahlrechtsausschlussgründe sowie die Wahlkreiseinteilung für die Wahl zum 11. Deutschen Bundestag, vgl. Regierungsentwurf v. 23.5.1984, BT-Drs. 10/1489, S. 1.

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b) Vorgeschichte Die Wahlrechtsnovelle blickt auf eine Entwicklungslinie zurück, die bereits in der 9. Legislaturperiode unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und seiner sozialliberal geführten Koalition ihren Anfang nahm. Der Anstoß zum Umdenken in der zuvor fraktionsübergreifend ablehnenden Beschlusslage zum Auslandsdeutschenwahlrecht kam allerdings von außen. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. Oktober 1980 befasste sich mit der Wahlprüfungsbeschwerde eines in Belgien wohnhaften Beamten der Europäischen Gemeinschaft deutscher Staatsangehörigkeit, dem die Teilnahme an der Wahl zum 9. Deutschen Bundestag mangels Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb der deutschen Staatsgrenzen durch die Wahlbehörden verwehrt worden war.226 Die Beschwerde wurde mit Blick auf die „noch verfassungsgemäße Rechtslage“ zur aktiven Wahlberechtigung zwar abgewiesen, in seinen Entscheidungsgründen legte das Gericht den Parlamentariern aber sehr deutlich nahe: „[…] künftig jedenfalls die Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften sowie die Angehörigen ihres Hausstandes dem in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG umschriebenen Personenkreis gleichzustellen […]“. Diese wirkten bei der „Ausgestaltung, der Fortentwicklung und dem Vollzug der Gemeinschaftsrechtsordnung […] im Rahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen mit, die in besonderer Sachnähe zur Bundesrepublik Deutschland“ stünden. Diese Besonderheiten müssten „im Zuge des fortschreitenden Integrationsprozesses der Gemeinschaft“ bei der Ausgestaltung der aktiven Wahlberechtigung mehr berücksichtigt werden.227 Dies zum Anlass nehmend, unternahmen sowohl die sozial-liberale Regierungskoalition228 als auch die Fraktion der CDU / CSU229 Vorstöße, die der Neuregelung in der 10. Legislaturperiode parlamentarisch den Boden bereiteten. Beide Entwürfe kombinierten jeweils unter Beibehaltung einer vorangegangenen mindestens dreimonatigen Sesshaftigkeit im Bundesgebiet nach 1949 zunächst das „EG-Modell“ – hier war die Wahlberechtigung nur an die Sesshaftigkeit in einem anderen EG-Mitgliedstaat geknüpft – mit der Fristenlösung für die im außereuropäischen Ausland sesshaften Deutschen. Während der Entwurf der CDU / CSU-Fraktion eine Fortzugsfrist von zehn Jahren vorsah,230 beschränkte der Regierungsentwurf diese auf nur fünf Jahre.231 Zu einer intensiveren Beratung der Entwürfe kam es angesichts der verkürzten Legislaturperiode durch die Übernahme der Regierungsverantwortung durch die CDU / CSU zusammen mit der FDP unter Führung von Dr. Helmut Kohl nicht mehr. Durch das vorzeitige Ende der 9. Legislaturperiode 226

BVerfGE 58, 202 ff. BVerfGE 58, 202 (207 f.); anders noch ausdrücklich BVerwGE 51, 69 (78) mit Hinweis auf das rechtswissenschaftliche Schrifttum. 228 Regierungsentwurf v. 12.8.1982, BT-Drs. 9/1913. 229 Gesetzentwurf der CDU / CSU v. 20.11.1981, BT-Drs. 9/1062. 230 Gesetzentwurf der CDU / CSU, BT-Drs. 9/1062, S. 2. 231 Regierungsentwurf, BT-Drs. 9/1913, S. 8. 227

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wurden beide Gesetzentwürfe nach dem Prinzip der Diskontinuität hinfällig.232 Die liberal-konservative Regierung hat das Vorhaben aber wieder aufgegriffen, das „EG-Modell“ durch das „Europaratsmodell“ ersetzt und unter Beibehaltung des mindestens dreimonatigen Mindestaufenthaltes im Bundesgebiet und der Einsetzung einer zehnjährigen Fortzugsfrist am 8. März 1985 verabschiedet.233 c) Erwägungen des Gesetzgebers Die Begründung des Gesetzentwurfs der liberal-konservativen Regierung vom 23. Mai 1984 ist äußerst knapp.234 Seinem Sinngedanken nach knüpft er aber an die umfassenden Vorarbeiten des sozial-liberalen Gesetzentwurfs aus der 9. Legislaturperiode und dessen ausführliche Begründung an.235 Das kombinierte Modell der zehnjährigen Fortzugsfrist gepaart mit einem vorherigen dreimonatigen Inlandsaufenthalt, nimmt auf die „Integrationswirkung des Wahlrechts“ Bezug. Sie geht von der Prämisse aus, „daß die Beteiligung an Wahlen Bestandteil des ständigen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung vom Staatsvolk zu den Verfassungsorganen hin ist“. Dieser Prozess setze „die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme“ voraus. Gerade bei Deutschen, die nicht mehr im Bundesgebiet leben, sei dies „beschränkt, und je länger sie außerhalb des Bundesgebiets leben, immer weniger möglich“. Hingegen hätten Deutsche, „die sich erst eine begrenzte Zeitspanne außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, […] in der Regel noch persönliche und sachliche Verbindung zu ihrem Heimatstaat“. Bei ihnen könne „unterstellt werden, daß die früher gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse noch eine gewisse Zeit fortwirken und daß sie auch von außerhalb an dem politischen Geschehen Anteil nehmen“. Sie seien daher „noch als ‚Aktivbürger‘“ zu qualifizieren.236 Der Höhe nach sei die Fortzugsfrist von zehn Jahren deshalb gerechtfertigt, weil „bei einem darüber hinausgehenden Zeitraum der notwendige Bezug zum Wahlrecht schwerer herzustellen“ sei.237 In der Plenardebatte wurde zudem auf die „Verflechtungen der modernen Welt“ in Form von Medien, Zeitungen und anderen Informationsmöglichkeiten abgestellt.238 Dieser Begründungsansatz zur Rechtfertigung der Fortzugsfrist unterscheidet sich qualitativ vom vormaligen Regierungsentwurf in der 9. Legislaturperiode, der 232

Vgl. zur parlamentarischen Auseinandersetzung m. w. N. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 75. 233 Vgl. Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1434); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 76 f. 234 Sie erstreckt sich auf nur eine halbe Seite für sämtliche Änderungen, vgl. BT-Drs. 10/1489, S. 5. 235 Vgl. Bericht der Abg. Kiehm, Krey und Dr. Hirsch, BT-Drs. 10/2834, S. 23. 236 Vgl. sämtliche Zitate bei Regierungsentwurf BT-Drs. 9/1913, S. 10. 237 Vgl. Gesetzentwurf der CDU / CSU aus der 9. Legislaturperiode, BT-Drs. 9/1062, S. 4. 238 Vgl. Abg. Wolfgramm, in: Sten.Ber. BT 10. WP/120. Sitzung v. 7.2.1985, S. 8941 A / B.

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noch die Fünfjahresfrist beinhaltet hatte. Dort wurde noch darauf abgestellt, dass der berufsbedingte Aufenthalt im Ausland, etwa als „Entwicklungshelfer, Lehrer an deutschen Auslandsschulen, Bediensteten der Goethe-Institute, Auslandskorrespondenten von Rundfunk, Fernsehen und Presse“ regelmäßig fünf Jahre nicht überschreite.239 Nahm der vormalige sozial-liberale Regierungsentwurf damit noch inzident die subjektiven Verhältnisse der Berufsausübung bestimmter Berufsgruppen in den Fokus seiner Begründung,240 hat der liberal-konservativ getragene Regierungsentwurf ein objektives Kriterium in Form einer generellen Frist und damit ein „verfassungsrechtlich zulässiges Abgrenzungskriterium“ geschaffen. Denn durch die Frist werde „die Wahlrechtsgleichheit optimal formalisiert“241. Die weitere Neuerung der Europaratslösung in § 12 Abs. 2 Nr. 3 BWahlG trage dem „Gesichtspunkt der europäischen Integration in besonderem Maße Rechnung“. Mit Bezug auf die anstoßende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werde „auch die besondere politische Entwicklung in den Europäischen Gemeinschaften“, vor allem die „fortschreitende Verflechtung zwischen den Mitgliedstaaten“ berücksichtigt, die den dort lebenden Deutschen „auch die Anteilnahme an dem politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland“ erleichtere. Dies ermögliche den Betreffenden „im besonderen Maße eine informierte Mitwirkung am politischen Willensbildungs- und Meinungsprozess im Heimatstaat“242. Die CDU / CSU- und FDP-geführte Regierung übernahm diese Argumentation für die Erweiterung der EG-Lösung zur Europaratslösung. So wurden Bedenken im Hinblick auf die Gleichbehandlung gegenüber den in Österreich und der Schweiz sesshaften Deutschen243 ausgeräumt, die bei Geltung der EG-Lösung nach wie vor nicht wahlberechtigt gewesen wären. Der rechtswissenschaftliche Diskurs verwies zudem auf die „im Lebensraum der Europarat-Staaten weitgehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Übereinstimmungen, Interessen­verflechtungen und Zielsetzungen“ sowie die „geographische Nähe zur Bundes­republik Deutschland“, die „einen ständigen aktuellen Informationsfluss von der Heimat nach draußen“ aus begünstige.244 Auch hier erfolge die Anknüpfung an den objektiv zu bestimmenden geographischen Aufenthalt und nicht an die persönlichen Eigenschaften der betreffenden Personen.

239

BT-Drs. 9/1913, S. 10. Zu dieser Einschätzung gelangte auch Blumenwitz, Wahlrecht, S. 42. 241 BT-Drs. 9/1913, S. 10. Im Wege der Typisierung müssten (berufsbedingte) Aufenthalte von über fünf Jahren außer Betracht bleiben; inkonsequent insoweit noch BR-Drs. 198/82, in der man einerseits die Notwendigkeit eines objektiven Ansatzes vor dem Hintergrund der Wahlrechtsgleichheit befürwortet (S. 18, auch S. 24), an anderer Stelle jedoch die auf fünf Jahre beschränkte Fortzugsfrist, ähnlich wie der Regierungsentwurf der sozial-liberalen Regierung, mit berufsbedingtem Auslandsaufenthalt zu rechtfertigen sucht (S. 20). 242 Sämtliche Zitate bei BT-Drs. 9/1913, S. 11. 243 Vgl. etwa bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (24 f.). 244 Vgl. Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1435) mit Zitaten; ähnlich Blumenwitz, Wahlrecht, S. 43 f.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 76. 240

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Schließlich enthielt der vorherige ununterbrochene Mindestaufenthalt von drei Monaten im Bundesgebiet die eigentliche Grundlage der in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 BWahlG geregelten Ausnahmeregelungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht. Er wird mit der Forderung nach einem „Mindestmaß an Bindung zur Bundesrepublik Deutschland“ gerechtfertigt. Er solle in erster Linie gewährleisten, dass im Ausland lebende Deutsche imstande sind, am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen teilzunehmen. Der ununterbrochene Mindestaufenthalt sorge zudem dafür, dass auch weiterhin die Deutschen der damaligen DDR wie bislang vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben. Ferner sei er aus Gründen der Wahltechnik und der Anknüpfung an die melderechtlichen Daten der Wegzugsgemeinde geboten, wodurch auch eine „Häufung der Wahlberechtigten in bestimmten Wahlkreisen sowie eine nennenswerte Änderung der Wählerstruktur vermieden“ werde.245 Demgegenüber verneint Thomas Felten die gesetzgeberische Anknüpfung der Regelung aus dem Jahr 1985 an die Notwendigkeit der Vertrautheit mit dem politischen System.246 Er sieht in erster Linie den Umstand für maßgebend an, dass aufgrund des Abstammungsprinzips (ius sanguinis) die Staatsangehörigkeit weitervererbt werden könne, die parlamentarisch-repräsentative Demokratie aber die Einbeziehung solcher Staatsangehöriger nicht fordere. Diese Auffassung übersieht, dass sich beide Gesichtspunkte in der Gesetzesbegründung zur Fristenlösung nicht ausschließen. Gerade weil die Staatsangehörigkeit ins Ausland weitervererbt werden kann, sei – so die Auffassung des Gesetzgebers – ein Korrektiv bei der Wahlberechtigung nötig, dass er in der Forderung einer bestimmten „Heimat­bindung“ nach objektiven Kriterien ausdrückte. Der Umstand des Abstammungsprinzips allein berechtigt in der Tat noch nicht zum Ausschluss der Wahlberechtigung aus dem demokratischen Repräsentationsprinzip. Das hatte der Gesetzgeber aber auch nicht im Blick. Zur Höhe der Mindestfrist von drei Monaten äußerte sich die Gesetzesbegründung nicht. Das Bundesverfassungsgericht legitimiert diese Regelung unter Bezug auf die vorausgegangenen Verhandlungen im Deutschen Bundesrat späterhin mit dem Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber die für drei Monate bemessene Mindestfrist zum ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet für die Gewährleistung eines Mindestmaßes an „politischer Vertrautheit mit den Verhältnissen“ für ausreichend erachtet habe. Dies sei der mit dem Mindestaufenthalt verfolgte legitime Zweck.247

245

Vgl. BR-Drs. 198/2 S. 21 f.; ebenso Bericht der Abg. Kiehm, Krei und Dr. Hirsch, BT-Drs. 10/2834, S. 23 f., 26 mit Verweis auf BT-Drs. 9/1913, S. 10 f. mit Zitaten. 246 Felten, DÖV 2013, S. 466 (474). 247 Vgl. BVerfGE 132, 39 (51 f.); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690) mit Verweis auf BR-Drs. 198/82 S. 19.

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3. Bewertung Trotz der zahlreichen Neuerungen und der expliziten Einführung eines Auslandsdeutschenwahlrechts stellte der Gesetzgeber das Konzept zur Inlandsbindung des Wahlrechts mit dem 7. BWahlGÄndG nicht auf neue Füße. Der zu Beginn der Wahlrechtsentwicklung nur diffus scheinende Zusammenhang von Wahlrecht und Heimatverbundenheit der ersten Bundeswahlgesetze wird in den Begründungen zur Neuregelung qualitativ konkretisiert und ausgebaut. Im Grunde stellte der Gesetzgeber erst durch das 7. BWahlGÄndG die Weichen für die aktuelle Rechtfertigung der wahlrechtlichen Inlandsbindung. Erstmals kam gesetzgeberisch zum Tragen, dass die Abgrenzungskriterien nicht subjektiv an Eigenschaften bestimmter Personengruppen anknüpfen dürfen, sondern nach objektiven Kriterien bestimmt werden müssen, um den Anforderungen formaler Gleichheit hinreichend Rechnung zu tragen. Insbesondere das von der späteren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgenommene notwendige Junktim zwischen Wahlrecht und der „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ fand in der gesetzgeberischen Forderung nach einem „Mindestmaß an Bindung zur Bundesrepublik Deutschland“ zur Herstellung der „Integrationsfunktion der Wahl“248 sein Fundament. Das Erfordernis eines mindestens dreimonatigen Inlandsaufenthaltes perpetuiert und formalisiert diesen Zusammenhang grundlegend. Damit war das wahlrechtliche Sesshaftigkeitserfordernis des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 1956, zusammen mit der von Verfassungs wegen vorgegebenen Staatsangehörigkeit und dem Mindestwahlalter, mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts249 nun endgültig in den Kanon der „zwingenden Gründe“ zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen aufgenommen worden. Im Umkehrschluss mussten sich alle darauf aufbauenden Ausnahmetatbestände zur Beteiligung von Auslandsdeutschen künftig an diesem Maßstab messen lassen. Sie ließen vor dem Hintergrund dieser Grundüberlegung nur noch Abweichungen in zeitlicher Hinsicht zu, so dass die Sesshaftigkeit im Bundesgebiet nicht mehr zwingend nur am Wahltag erforderlich war. Dass Teile der Gesetzesbegründung, etwa im Hinblick auf die Europaratslösung, teils berechtigte Kritik erfuhren,250 ändert nichts an der grundlegend erkennbaren Stoßrichtung des Gesetzgebers, das Wahlrecht mittels des Erfordernisses eines Mindestmaßes an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen fest mit dem Bundesgebiet zu verknüpfen und Ausnahmen künftig nur selektiv zuzulassen. Demgegenüber trat das bis dato vordergründige Argument zur Inlandsbindung des Wahlrechts – nämlich der Ausschluss der DDR-Bürger von den Wahlen zum Deutschen Bundestag – in den Hintergrund. Es nahm zunehmend den Charakter einer bloßen Hilfsüber­ legung an. Deshalb ist die erweiterte Einbeziehung von Auslandsdeutschen nach § 12 Abs. 2 BWahlG 1956 durch das 7. BWahlGÄndG kein echter Paradigmenwechsel 248

BVerfGE 132, 39 (50); zurückhaltend noch BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). BVerfGE 58, 202 (205 ff.). 250 Vgl. etwa bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (24 ff.). 249

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im Auslandsdeutschenwahlrecht.251 Denn ein solcher hätte viel eher im Gegenteil die endgültige Loslösung des Wahlrechts vom Staatsterritorium und die alleinige Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und das Mindestalter erfordert. Vielmehr bleibt das Wahlrecht durch das Erfordernis des dreimonatigen Sesshaftigkeitserfordernisses nach wie vor an das Inland gebunden, wobei sich die Qualität dieser Bindung nunmehr nach objektivierten Kriterien bestimmte. Lediglich der Zeitpunkt, bis zu dem der zur „Sicherung der Integrationsfunktion des Wahlrechts notwendige Inlandsaufenthalt“ mindestens andauern sollte, wurde flexibler ausgestaltet, ohne aber auf ihn zu verzichten. Zudem gab es für die im außereuropäischen Ausland ansässigen Deutschen die Gegeneinschränkung durch die zeitliche Begrenzung des Wahlrechts auf höchstens zehn Jahre nach Wegzug. Wenngleich durch die geschaffenen Ausnahmetatbestände nunmehr ein erheblicher Anteil der im Ausland lebenden Deutschen aktiv wahlberechtigt gewesen war, bildete so der (mehr oder weniger limitierte) Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Wohnsitz bzw. persönlichem Aufenthalt auch nach 1985 immer noch die eigentliche Grundlage des aktiven materiellen Wahlrechts zum (West-)Deutschen Bundestag.252 III. Inlandsbindung im Wahlrecht nach der Wiedervereinigung 1. Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages vom 3. August 1990 Die Wiedervereinigung machte eine Angleichung der Wahlrechtsverhältnisse auf die Gebiete der ehemaligen DDR erforderlich. Der hierzu am 3. August 1990 geschlossene Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik berücksichtigte in seinem Art. 3 Nr. 3 auch eine frühere Wohnung oder einen früheren Aufenthalt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, also der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Ostberlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Der Vertrag wurde durch Gesetz vom 29. August 1990 in Bundesrecht umgesetzt.253 Die getroffenen Regelungen galten zunächst nur für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl und waren daher nicht in das Bundeswahlgesetz inkorporiert, sondern diesem als Anhang 251 So aber Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1434): „grundsätzliche Anknüpfung des aktiven Wahlrechts an die Sesshaftigkeit der Staatsbürger im Geltungsbereich des Bundeswahlgesetzes aufgegeben“, zutreffend hingegen Blumenwitz, Wahlrecht, S. 42. 252 Diesen Befund bestätigt die st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, die diesen Gedanken seit BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690), stets zur grundsätzlichen Rechtfertigung der Wahlrechtsbeschränkung durch das Sesshaftigkeitserfordernis verwendet, vgl. BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (320 f.); 132, 39 (50 Rn. 40); aus der Literatur vgl. etwa Blumenwitz, Wahlrecht, S. 91. 253 BGBl. II S. 813 und 822 f.; zu den Einzelheiten vgl. ausführlich Brenner, AöR 116 (1991), S. 537 (552 ff.).

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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beigefügt worden.254 In der darauffolgenden Legislaturperiode wurde Art. 3 Nr. 3 Satz 2 des Vertrages durch das 11. Änderungsgesetz zum BWahlG vom 21. Juli 1993255 in § 12 Abs. 2 Satz 3 BWahlG dauerhaft eingefügt. Die Regierungsbegründung dazu fiel äußerst knapp aus. Berücksichtigt werden „die besonderen Gegebenheiten in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen sowie in Berlin und die Besonderheiten der Rechtsordnung der Deutschen Demokratischen Republik“256. Dabei ist die Neuregelung mit Blick auf die ihr innewohnende Folge nicht frei von Widersprüchen. Denn sie befremdet angesichts des in § 12 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BWahlG a. F. niedergelegten Stichtags zur Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949, ab dem der Wohnsitz oder dauernde Aufenthalt im Westteil der Bundesrepublik erheblich wurde. Ausdrücklich war dies von der Erwägung geleitet, dass „die Anknüpfung an den 23. Mai 1949 […] eine Zuordnung des Wahlberechtigten zur Bundesrepublik Deutschland“ herstelle.257 Die konkrete Ausgestaltung der Neuregelung sprach nunmehr aber auch Deutschen, die noch vor der Wiedervereinigung von der DDR in einen Mitgliedstaat des Europarates oder in sonstiges Ausland übergesiedelt waren und folglich nie unter dem politischen System der Bundesrepublik gelebt hatten, das aktive Wahlrecht zum gesamtdeutschen Bundestag zu.258 Es handelt sich hierbei entgegen einiger Rechtfertigungsversuche nicht um eine bloße „Klarstellung“259. Vielmehr durchbricht die Regelung den oben erörterten Fundamentalansatz des 7. BWahlGÄndG aus dem Jahr 1985 zum „Mindestmaß an Bindung zur Bundesrepublik Deutschland“ zur Herstellung der „Integrationsfunktion der Wahl“, indem sie den Mindestaufenthalt der in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Bürger mit jenem in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung gleichstellt und für das Wahlrecht der Betroffenen darüber hinaus allein auf deren Mindestalter und Staatsangehörigkeit abstellt.260 Unter Annahme der mit der Dreimonatsfrist verfolgten gesetzgeberischen Intention liegt insoweit wohl eine gleichheitswidrige Bevorzugung bestimmter Gruppen von Auslandsdeutschen der ehemaligen DDR vor.261 In der weiteren Wahlrechtsentwicklung blieb dies aber  – zumindest was das Auslandsdeutschenwahlrecht anbelangt –262 ein einmaliger Bruch der selbstgesetzten Grundsätze. Dabei gilt der wahlrechtliche Privilegierungstatbestand für 254

Vgl. Neubekanntmachung des BWahlG v. 21.9.1990, BGBl. I S. 2059 (2073). BGBl. I S. 1217. 256 BT-Drs. 11/7624, S. 13 f. 257 Vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 12; BR-Drs.198/82, S. 25; Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 28. 258 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 77. 259 So aber BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 33, vgl. für die Vorauflage auch Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 33. 260 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 89, 91; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 244 f. 261 So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 245. 262 Zu den anderen „Modifikationen“ durch die im Zuge der Wiedervereinigung verfolgten politischen Erwägungen, welche auf einem „falschen und daher verfassungswidrigen Verständnis des Rechts auf Gleichheit der Wahl beruhen“, vgl. ausführlich Brenner, AöR 116 (1991), S. 537 ff. mit Zitat auf S. 537. 255

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

ehemalige DDR-Bürger bis heute einschränkungslos fort.263 Auf die grundlegende Haltung des Gesetzgebers oder des Bundesverfassungsgerichts zur Erforderlichkeit von Sesshaftigkeitsklauseln wirkte sich dieser Umstand trotzdem nicht erkennbar aus.264 2. Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. April 1998 Die Neufassung des Bundeswahlgesetzes vom 23. Juli 1993265 ergab für die hier interessierende Problematik keine Neuerungen. Mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. April 1998266 (14. BWahlGÄndG 1998) wurde sodann aber die Fortzugsfrist für die im europäischen Ausland ansässigen Deutschen von 10 auf 25 Jahre heraufgesetzt. Dies rechtfertigte der Gesetzgeber mit den aus seiner Sicht gegenüber dem Jahr 1985 verbesserten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten durch die allgemeine Zugänglichkeit des Internets. So heißt es in der maßgeblichen Passage der Gesetzesbegründung, dass nach Ablauf der Zehnjahresfrist noch bei deren Einführung im Jahr 1985 zwar ein „tragfähiges Indiz für die Loslösung Auslandsdeutscher von der Bundesrepublik Deutschland“ gegeben sei. Diese ursprüngliche Annahme erschiene aber im Hinblick auf die „verbesserten Möglichkeiten kommunikativer Teilnahme am politischen Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland vom Ausland aus nicht länger gerechtfertigt“.267 Die Gesetzesänderung im 14. BWahlGÄndG 1998 knüpfte an eine Initiative der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen an, die allerdings für eine gänzliche Aufhebung der zehnjährigen Fortzugsfrist eintrat.268 Auch die Begründung des Fraktionsentwurfs rekurrierte auf die neueren technischen Errungenschaften, etwa dem Empfang des Rundfunkprogramms der Deutschen Welle auch außerhalb der deutschen Staatsgrenzen, und zog daraus die Konsequenz, dass eine Fortzugsfrist angesichts dieser Entwicklung willkürlich sei. Zudem sei im Zeitalter des Internets der Informationsfluss von jedem beliebigen Ort der Welt gleichermaßen möglich. Die Privilegierung auf die Staatsgebiete der Mitgliedstaaten des Europarates habe deshalb und auch wegen der politischen Inhomogenität innerhalb des zwischenzeitlich um zahlreiche Mitgliedsstaaten angewachsenen Europarates seine tatsächliche Grundlage verloren.269 263

Vgl. heute § 12 Abs. 2 S. 2 BWahlG. Vgl. auch Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (68 Rn. 68). 265 BGBl. I S. 1288 ff. Die Neufassung ist im Zuge der zahlreichen Änderungsgesetze zum Wahlrecht erforderlich geworden. 266 BGBl. I S. 706. 267 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses v. 20.1.1998, BT-Drs. 13/9686, S. 5. 268 Vgl. Gesetzesentwurf v. 5.6.1997, BT-Drs. 13/7864. 269 Vgl. jeweils BT-Drs. 13/7865, S. 3; näher auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 78. 264

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis90/Die Grünen hatte in den Beratungen sowohl des Innenausschusses als auch in der sich anschließenden Plenardebatte in seiner ursprünglichen Form keine Mehrheit gefunden, wurde aber – mit Unterstützung aller Fraktionen außer der Fraktion der SPD, die die bisherige Regelung beibehalten wollte – in der im 14. BWahlGÄndG 1998 gefundenen Fassung abgeändert.270 Gegen einen gänzlichen Wegfall der Fortzugsfrist – so wie es der ursprüngliche Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum BWahlG vorgesehen hatte – sprächen „eine Reihe von verfassungspolitischen und praktischen Erwägungen“. Insbesondere erscheine eine zeitlich unbegrenzte Wahlbeteiligungsmöglichkeit der Auslandsdeutschen im Hinblick auf den „demokratischen Sinn der Wahl“ bedenklich.271 Der rechtswissenschaftliche Diskurs hat die Stellungnahme des Innenausschusses nahezu wörtlich und unkommentiert aufgenommen.272 In der Bewertung der Änderung fallen aber sofort zwei Dinge ins Auge. Zunächst hat der Gesetzgeber am Grundgedanken zum Zusammenhang von Wahlrecht und „Mindestmaß an realer Verbindung“ festgehalten. Dies ist für sich genommen unspektakulär. Interessanter sind hingegen die an dieses Festhalten geknüpften Konsequenzen, namentlich der Einfluss der tatsächlichen Rahmenbedingungen und Verhältnisse auf die konkrete Ausgestaltung dieses Zusammenhangs bei der aktiven Wahlberechtigung. Im Zuge der realiter bestehenden fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten der Information und Kommunikation schon im Jahr 1998 war es tatsächlich nicht mehr haltbar, davon auszugehen, dass „die persönliche und sachliche Verbindung [der Auslandsdeutschen] zu ihrem Heimatstaat“273 typischerweise mit Ablauf von zehn Jahren nicht mehr vorhanden sei. Insbesondere die Möglichkeiten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten hatten sich erweitert. Zu Recht hebt der eben erwähnte und später im 14. BWahlGÄndG 1998 aufgegangene Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen daher etwa auf den Programmauftrag der Deutschen Welle ab, ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens auch im Ausland zu vermitteln.274 Auch die Inhalte anderer deutscher Medien waren dank moderner Satellitenübertragung im Ausland abrufbar geworden. Ferner musste sich der Gesetzgeber mit den Auswirkungen der politischen Entwicklung der Mitgliedstaaten im Europarat zumindest auseinandersetzen.275 Denn immerhin wurde die Teilnahme der dort lebenden Auslandsdeutschen ursprünglich u. a. auch damit gerechtfertigt, dass diese sich dort in politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichbaren und im Zuge der europäischen Integration gar zuneh 270 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses v. 20.1.1998, BTDrs. 13/9686; Sten.Ber. BT, 13.WP/222. Sitzung v. 5.3.1998, S. 20328 C. 271 Vgl. ebd., BT-Drs. 13/9686, S. 5. 272 So bei Blumenwitz, Wahlrecht, S. 115 f.; Schreiber, DVBl. 1999, S. 345 (348). 273 Zitat bei Bericht der Abg. Kiehm, Krei und Dr. Hirsch, BT-Drs. 10/2834, S. 24. 274 Vgl. BT-Drs. 13/7864, S. 3. 275 Vgl. Begründung des Entwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 13/7865, S. 3.

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mend rechtlich verschränkten Verhältnissen befänden.276 Ob die im Jahr 1985 angenommene Vergleichbarkeit auch im Jahr 1998 – nach Aufnahme vieler ehemals unter sowjetischem Einfluss stehenden Staaten in den Europarat, etwa Ungarn, Polen, Bulgarien, Ukraine, später auch Russland – tatsächlich noch so vorhanden gewesen war, durfte zwar ernstlich bezweifelt werden.277 Der Gesetzgeber hat dies trotzdem noch bejaht. 3. Gesetz zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17. März 2008 Nach der von der großen Koalition aus CDU / CSU und SPD angestoßenen278 Änderung des Bundeswahlgesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17. März 2008279 (im Folgenden: BWahlRÄndG 2008) waren bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen zum Deutschen Bundestag wahlberechtigt, „die am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben“.280 Die vormalige Privilegierung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit dienstlichem Auslandsaufenthalt (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG a. F.) bei der aktiven Wahlberechtigung war ebenso entfallen wie die Differenzierung zwischen Auslandsdeutschen inner- und außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG a. F.). Auch die zuvor in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BWahlG a. F. geregelte Fortzugsfrist bestand im BWahlG (2008) nicht mehr. Die Regelung bildet den vorläufigen Höhepunkt der stetigen Lockerung im Auslandsdeutschenwahlrecht. Angesichts der bisherigen gesetzgeberischen Entwicklung überrascht die weitgehende Angleichung der Wahlrechtsvoraussetzung von Inlands- und Auslandsdeutschen aber nicht. Mit den bisherigen Begründungsansätzen war etwa die kombinierte Europaratslösung im Jahr 2007281 tatsächlich nicht mehr vereinbar.282 Der Gesetzgeber erkannte, dass mit dem zwischenzeitlichen Zuwachs der Mitgliedstaaten im Europarat von ursprünglich 21 auf damals 46 sowohl die „geographische Nähe“ wie auch die zur Legitimation der aktiven Wahlberechtigung angenommene „Homogenität zwischen den Mitgliedstaaten“ in einer Weise abgenommen hat, die eine typisierende Differenzierung zwischen den dort 276

Vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 11 f. So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 232 f. 278 Vgl. Gesetzentwurf v. 11.12.2007, BT-Drs. 16/7461. 279 BGBl. I S. 394 ff. 280 Vgl. Art. 1 Nr. 4 lit. a) BWahlRÄndG 2008 zu § 12 Abs. 2 S. 1. BWahlG. 281 Vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 2. c) und Erster Teil 2. Kapitel A. III. 2. 282 A. A. zu dieser Zeit Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 26, der mit Verweis auf die ältere Rspr. des BVerfG, NJW (Kammer), NJW 1991, S. 689, „keinen verfassungsrechtlichen Zwang zur Änderung zum Auslandsdeutschenwahlrecht“ erkannte. 277

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Ansässigen gegenüber den im übrigen Ausland sesshaft gewordenen Auslandsdeutschen nicht mehr rechtfertigte.283 „Gleichzeitig“, so der Gesetzgeber, ermögliche es „die Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten jeden interessierten Auslandsdeutschen unabhängig von seinem Aufenthaltsstaat grundsätzlich […] sich über die Vorgänge in Deutschland zu informieren und daran Anteil zu nehmen.“284 Diese Einschätzung trägt auch dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vom 17. Oktober 2005 Rechnung.285 In seiner Zusammenfassung286 stellt der Ausschuss u. a. fest, dass das Internet „als interaktives Medium grundlegende Kommunikationsmöglichkeiten neu [eröffnet] und damit auch demokratietheoretisch relevant“ sei.287 Aktuelle Kommunikationskonzepte würden Spuren „der real erkennbaren Veränderungen politischer Kommunikation“ enthalten und „die Möglichkeit der Intensivierung der Kommunikation zwischen Bürgern untereinander und zwischen Bürgern und dem politischen System“ eröffnen. Gerade im „transnationalen Bereich“ deuteten sich Entwicklungen an, „die es rechtfertigen, auch von einem transnationalen Demokratiepotenzial des Internets zu sprechen“. Für „bestimmte Themen und unter einzelnen Gruppen“ gebe es „deutliche Anzeichen dafür, dass […] das Internet bereits erhebliche Folgen für die politische Kommunikation“ habe. So habe sich auch die „Politik […] hin zu Netzöffentlichkeit und Netzkultur geöffnet“ und „dabei auch die Ansprüche von Bürgern, die das Netz als ein Mittel der einfachen und direkten Kommunikation (auch im politischen Bereich) betrachten“, berücksichtigt. Das Netz erleichtere „die Kommunikation zwischen Bürger und Staat“ und könne „insofern die politische Meinungs- und Willensbildung sowie die Responsivität der Institutionen der repräsentativen Demokratie gegenüber Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft unterstützen“. Es sei daher zu „begrüßen, wenn diejenigen Strukturen und Prozesse gefördert und unterstützt werden, die ein erweitertes bürgerschaftliches Engagement ermöglichen und zu einer vitalen politischen und kulturellen Netzöffentlichkeit beitragen“288. Der Bericht wird in der Gesetzesbegründung zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Doch setzt der Gesetzgeber den Wunschgedanken des Ausschusses nach mehr Berücksichtigung technischer und kommunikativer Möglichkeiten im Meinungsaustausch durch die weitgehende Angleichung der Wahlrechtsvoraussetzung von 283

Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16. Vgl. BT-Drs., ebd. 285 Internet und Demokratie  – Abschlussbericht zum TA-Projekt „Analyse netzbasierter Kommunikation unter kulturellen Aspekten“, Bericht Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung, BT-Drs. 15/6015. 286 Der Bericht ist Bestandteil eines insgesamt 110-Seitigen Gutachtens, dass den Einfluss moderner Kommunikation, insbesondere des Internets auf die kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge von verschiedenen Seite her beleuchtet. 287 Vgl. BT-Drs. 15/6015, S. 8 mit Zitaten. 288 Alle Zitate bei BT-Drs. 15/608, S. 9. 284

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Inlands- und Auslandsbürgern geradezu mustergültig um. Dennoch erfuhr diese Regelung durch das aktuell geltende 21. BWahlGÄndG 2013 wieder erhebliche Einschränkungen. Das derzeitige Auslandsdeutschenwahlrecht verlangt unter Beibehaltung des dreimonatigen Sesshaftigkeitserfordernisses erneut u. a. eine Fortzugsfrist und darüber hinaus ein Vorfortzugsmindestalter.289 Offenkundig fügt sich dies nicht in die geschilderte, vorherige Wahlrechtsentwicklung ein, sondern fällt hinter diese zurück. IV. Zusammenfassung Zusammenfassend ist zwar eine relativ einheitliche Entwicklungslinie der Wahlrechtsgesetzgebung bis zur Sesshaftigkeitsklausel des heutigen § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zu erkennen, die im Detail gleichwohl nicht frei von inhaltlichen Brüchen ist. Waren es in den ersten beiden Bundeswahlgesetzen noch die deutsche Teilung sowie auch der Verweis auf die historische Tradition,290 die der Gesetzgeber und später auch das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung des materiellen Ausschlusses von Auslandsdeutschen herangezogen haben,291 änderte sich die Konzeption durch die Einführung der Briefwahl im BWahlG 1956 schrittweise. Mit der Zulassung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit dauerndem Auslandsaufenthalt stellte der Gesetzgeber auf die bei solchen Berufsgruppen regelmäßig zu bejahende „engste Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland“ ab. Dabei fällt auf, dass die genannte Personengruppe von „den eigentlichen Auslandsdeutschen“ noch unterschieden wurde.292 Sohin wäre es verfehlt, hier schon von einem echten Auslandsdeutschenwahlrecht zu sprechen. Doch der Grundgedanke tritt in aller Deutlichkeit hervor. Es ging um eine bestimmte Verbindung des Einzelnen zur Bundesrepublik Deutschland, die ihn gegenüber anderen Deutschen, die diese „Verbindung“ nicht haben, zum Wahlrecht berechtigen bzw. befähigen sollte. Gleichzeitig wurde die innerdeutsche Freizügigkeit durch die vorherige Möglichkeit, seinen Wahlschein an jedem beliebigen Ort abzugeben,293 bewusst und gewollt auf den Heimatwahlkreis beschränkt.294 Freilich war dieses, im Diskurs zwischen Rechtsprechung, Literatur und Politik entwickelte Kriterium der Heimatverbundenheit gegenüber der späteren Entwicklung noch nicht derart gefestigt, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten gewesen wäre, die „herkömmliche

289

Zur geltenden Rechtslage vgl. oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1. BVerfGE 36, 139 (142); BVerfG, NJW 1991, S. 689 (690). Diesem speziellen Argument ist Teil 2 der Untersuchung gewidmet. 291 Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 13; ebenso in der Vorauflage bei Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 13. 292 So etwa bei Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 12; in diese Richtung BVerwGE 51, 69 (77). 293 Vgl. § 4 Abs. 2 S. 2 BWahlG 1953. 294 Vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 1. 290

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Sonderregelung auf Auslandsdeutsche schlechthin zu erstrecken“.295 Dennoch wandelte sich der gesetzte „Spatenstich“ zum Fundament für die tatsächliche Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts durch das 7. BWahlGÄndG 1985. Das „Mindestmaß an realer Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland“ wurde zum unumstößlichen Credo. Die Beschränkung der politischen Beteiligung auf die typischerweise mit den Verhältnissen der Bundesrepublik vertrauten Aktivbürger sollte die mit der Wahl verbundene Integration des Volkes hinreichend garantieren. Folglich hatten sich sämtliche Ausnahmetatbestände daran messen zu lassen, dass eine bestehende reale Mindestverbindung gewährleistet ist. Die Beurteilung darüber, ab welchem Zeitpunkt des Fortzugs dieses „Mindestmaß an realer Verbindung“ im konkreten Einzelfall noch zu bejahen oder bereits zu verneinen sei, lag fortan nahezu ausschließlich beim Gesetzgeber.296 Dabei hat der Gesetzgeber den Entwicklungen des technischen Fortschritts durch den sukzessiven Abbau der Wahlrechtsbeschränkungen für Auslandsdeutsche Rechnung getragen.297 Mit dem Fortfall fast aller äußeren Beschränkungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht im Jahr 2008 (Art. 1 Nr. 4 BWahlRÄndG 2008) war der Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht. Am eigentlichen Ursprung hielt und hält das Gesetz aber nach wie vor fest. Der in § 12 BWahlG statuierte mindestens dreimonatige Inlandsaufenthalt zum Wahltag (Abs. 1 Nr. 2) oder zu irgendeinem Zeitpunkt nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (Abs. 2 Satz 1 a. F.) ist das zentrale Kriterium im Wahlrecht geblieben. Demnach hat die mindestens dreimonatige Wohnsitznahme gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG die Aufgabe, das für die Wahlbeteiligung aus Sicht des Gesetz­ gebers erforderliche „Mindestmaß an realer Verbindung“ erstmals herzustellen.298 Hingegen sicherte § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG a. F. typisierend den für das aktive Wahlrecht „zwingend“ erforderlichen fortwährenden Bestand dieser Bindung auch nach dem tatsächlichen Fortzug.

295

Vgl. BVerfGE 36, 139 (143 f.); BVerwGE 51, 69 (77). Das Bundesverfassungsgericht achtet diesen Spielraum, vgl. BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 27). Sohin konnte es sich in vorherigen Entscheidungen nur auf „Hinweise“ zurückziehen, vgl. insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der europäischen Integration bei BVerfGE 58, 202 (207). 297 So auch Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (63 Rn. 63). 298 Diese Kontinuität ist über die gesamte Wahlrechtsentwicklung erkennbar, soweit sie vom Gesetzgeber thematisiert wurde, vgl. insbesondere BT-Drs. 9/1913, S. 10, 14 und BT-Drs. 10/2834, S. 27: „Mindestmaß einer Bindung zum Heimatstaat“; BT-Drs. 13/9686, S. 5: „besonderer Bezug zur Bundesrepublik Deutschland“. 296

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

B. Wohnsitzbindung im passiven Wahlrecht I. Die frühen Wahlgesetze zum 1. und 2. Bundestag § 5 Abs. 1 BWahlG 1949 knüpfte die Wählbarkeit neben weiteren Einschränkungen grundlegend an die aktive Wahlberechtigung: „Wählbar ist jeder Wahl­ berechtigte, der […]“. Das aktive Wahlrecht des BWahlG 1949 setzte wie dargestellt den dreimonatigen Inlandswohnsitz am Wahltag voraus.299 Im Unterschied zu den vorherigen Wahlgesetzen der Weimarer Zeit machte das BWahlG 1949 somit auch das passive Wahlrecht durch die tatbestandliche Einbeziehung der aktiven Wahlberechtigung (mittelbar) vom Inlandswohnsitz abhängig.300 Indes waren die Motive zunächst andere als beim aktiven Wahlrecht. Die Verwerfungen in den Beziehungen der westlichen Alliierten zur Sowjetunion machten auch vor den Beratungen des Wahlrechtsausschusses nicht halt. So wurden dort Spionageversuche aus dem Osten befürchtet.301 Der Ausschussvorsitzende Becker (FDP) forderte deshalb die Möglichkeit, die Zugewanderten auf „Herz und Nieren“ zu prüfen.302 In diesem Zusammenhang stand auch die Regelung des späteren § 5 Abs. 1 lit. b) BWahlG 1949, der die Wählbarkeit bei neu Eingebürgerten vom einjährigen Bestand der Deutscheneigenschaft abhängig machte. Die hiergegen erhobenen Bedenken303 setzten sich zwar zunächst durch,304 fielen aber nach der Ablehnung durch die alliierten Bevollmächtigten der späteren Neufassung des Entwurfes zum Opfer.305 So wurde allein der Ansatz Beckers, die Wählbarkeit an die aktive Wahlberechtigung zu knüpfen, in das Wahlrecht zum 1. Deutschen Bundestag eingeführt. Der Regelungsmodus erfuhr im BWahlG 1953 insoweit eine Änderung, als nun auch der Wohnsitz oder dauernde Aufenthalt im Lande Berlin für das Wahlrecht ausreichend war. Dieser Umstand wurde für eine Wahlprüfungsbeschwerde des über die Landesliste der CDU Hamburg in den Bundestag eingezogenen Abgeordneten Schmidt-Wittmack relevant. Schmidt-Wittmack hatte seinen Hamburger Wohnsitz im Jahr 1954 aufgegeben und sich nach Ostberlin abgesetzt.306 In der Folge war dem CDU-Parlamentarier das Mandat mit der Begründung entzogen worden, dass wegen der Wohnsitzverlegung die Wählbarkeitsvoraussetzung des

299

Vgl. dazu oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 1. Vgl. dazu und im Folgenden Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 60; zu den vorangegangenen Regelungen vgl. unten Zweiter Teil 6. Kapitel B. I. 2 (Reichswahlrecht) und Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 2 (Weimarer Wahlrecht). 301 Vors. Dr. Becker (FDP), in: Parl.Rat VI, S. 132, 454. 302 Vgl. ebd., S. 453. 303 Abg. Dietrichs (SPD) und Kroll (CDU), in: Parl.Rat VI, S. 131, 132 f. 304 Vgl. Abstimmungsergebnis, ebd., S. 132. 305 Vgl. Rosenbach, Einl. zu Parl.Rat VI, S. XXV mit Fn. 102; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 60. Zu den Hintergründen vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 1.; zur unzureichenden Arbeitsweise des Ausschusses Erster Teil 2. Kapitel A. I. 2. 306 Vgl. BT-Drs. II/1197. 300

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Wohnsitzes im Geltungsbereich des Grundgesetzes nachträglich entfallen sei.307 Juristisch problematisch war die Frage, ob die an das aktive Wahlrecht geknüpften Wählbarkeitsvoraussetzungen nur am Wahltage oder während der gesamten Legislaturperiode gegeben sein müssen. Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde Schmidt-Wittmacks nicht statt. Es billigte die grundsätzliche Möglichkeit der Verknüpfung von Wählbarkeit und aktiven Wahlrecht, insbesondere im Hinblick auf die so inkorporierte Sesshaftigkeitsklausel. Mit Blick auf die deutschlandpolitische Situation der deutschen Teilung308 verwies das Gericht darauf, dass der „Wirkungsbereich des Grundgesetzes“ nur auf Inlandsdeutsche309 beschränkt sei. Sohin stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Ostberlin nicht zu diesem „Wirkungsbereich“ gehöre.310 Weiter hat es entschieden, dass die Wählbarkeitsvoraussetzungen über die gesamte Legislaturperiode vorliegen müssten, so dass auch die konkrete Ausschlussentscheidung des Bundestages nicht zu beanstanden gewesen sei.311 II. Wählbarkeit nach Einführung des Bundeswahlgesetzes (1956) 1. Gesetzlicher Tatbestand Mit Blick auf die im vorbenannten Wahlprüfungsverfahren aufgetretenen juristischen Unklarheiten zur zeitlichen Geltung der Wählbarkeitsvoraussetzungen hat der Gesetzgeber die Verknüpfung der Wählbarkeit mit dem aktiven Wahlrecht im Zuge der Einführung des BWahlG 1956 aufgegeben.312 § 16 BWahlG 1956 statuierte nun ausschließlich wahlrechtsunabhängige Voraussetzungen für die Wählbarkeit („Wählbar ist, wer […]“), wobei § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1956 – wie schon § 5 Abs. 1 lit. b) BWahlG 1949 – für neu Eingebürgerte eine Karenzzeit von mindestens einem Jahr vorsah.313 Das Sesshaftigkeitserfordernis des aktiven Wahlrechts gehörte nach der Neuregelung also nicht mehr zum ausdrücklichen 307

BT-Drs. II/1197, Sten.Ber. BT, 2.WP/68. Sitzung v. 23.2.1955, S. 3469 B ff.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 63. 308 BVerfGE 5, 2 (5 f.). Zu diesem Motiv im aktiven Wahlrecht vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel  A. I. 2. 309 Zurückgehend auf BVerfGE 5, 2 (6) mit Zitaten; ebenso Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (7); vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 1. 310 BVerfGE 5, 2 (7). 311 BVerfGE 5, 2 (7 f.). Das im Gesetzestext genannte „Land Berlin“ sei nur im Sinne der drei Westsektoren Berlins zu verstehen. 312 Zu den Motiven vgl. Abg. Schneider (FDP), in: Sten.Ber BT, 2.WP/94. Sitzung v. 6.7.1955, S. 5323 B. 313 Vgl. § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1956: „Wählbar ist, wer am Wahltag […] seit mindestens einem Jahr Deutscher […] ist“, vgl. dazu Spies, Schranken, S. 36. Zu Recht sieht Spies hier einen Zusammenhang zwischen der dreimonatigen materiellen Inlandsbindung des aktiven Wahlrechts und der mindestens einjährigen Staatsangehörigkeit als Wählbarkeitsvoraus­ setzung, vgl. ders., ebd.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Kanon der Wählbarkeitsvoraussetzungen. So konnten sich fortan auch Auslandsdeutsche zur Wahl aufstellen lassen.314 Die Neuerung ging auf einen Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zurück.315 Zweck der Neuregelung sei es, „auch den außerhalb des Bundesgebietes wohnenden Deutschen eine Kandidatur zum Bundestag zu ermöglichen“.316 Die Gegenentwürfe der CDU / CSU-Fraktion wie auch der Fraktion der FDP wollten das mit dem BWahlG 1949 eingeführte Sesshaftigkeitsprinzip bei der Wählbarkeit hingegen beibehalten und als eigene Wählbarkeitsvoraussetzung im Gesetz festlegen.317 Über die Gründe dafür geben jedoch weder die amtlichen Entwurfsdokumente noch die Plenardebatten Auskunft. Die Frage der Wählbarkeit hatte angesichts der erbittert geführten Auseinandersetzung über das einzuführende Wahlsystem ohnehin verschwindend geringen Raum eingenommen. Während das vormalige deutsche Wahlrecht die Wählbarkeit also nur einem besonders qualifizierten Kreis der Wahlberechtigten zuerkannt hatte, zieht das BWahlG 1956 mit der Abkehr vom Sesshaftigkeitsprinzip den Kreis der wählbaren Personen wesentlich weiter als den der Wahlberechtigten selbst.318 Der so gestaltete Regelungsmodus erfuhr mit Blick auf die unmittelbare Inlandsbindung bis heute keine Änderung mehr. 2. Wählbarkeit und Staatsangehörigkeit bei neu Eingebürgerten Doch stellte sich ein ähnliches Problem zumindest mittelbar im Zusammenhang mit der für neu Eingebürgerte lange geltenden Karenzfrist am Wahltag. Gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG 1956 (bzw. § 15 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG i. d. F. der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993, BGBl. I S. 1288) waren neu eingebürgerte Staatsangehörige  – bei Erfüllung der übrigen Wählbarkeitsvoraussetzungen  – wählbar, wenn sie am Wahltag mindestens ein Jahr die deutsche Staatsangehörigkeit innehatten.319 Nach erheblicher Kritik in der Literatur320 hat der Bundestag die Karenzfrist auf Initiative der Rot / Grünen-Bundesregierung321 im Jahr 2001 ersatzlos aufgehoben.322 Der Gesetzgeber begründete seine Entscheidung mit Blick auf das der Einbürgerung vorausgehende Einbürgerungsverfahren. Die „betroffenen neu Eingebürgerten“, so die Gesetzesbegründung, „hatten gemäß den gesetzlichen 314

Seifert, Bundeswahlrecht, § 15 Rn. 4. Vgl. BT-Drs. II/1272 sowie Bericht des Wahlausschusses, zu BT-Drs. 2206. 316 Vgl. Bericht des Wahlausschusses, zu BT-Drs. 2206, S. 3. 317 Vgl. Gesetzentwurf der Abgeordneten Stücklen, Dr. Jaeger, Lücke und Genossen (CDU / ​CSU), BT-Drs. II/1494, dort § 17 Abs. 1 Nr. 3; Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, BTDrs. II/1444, dort § 15 Abs. 1 Nr. 3. 318 Kritisch, Seifert, Bundeswahlrecht, § 14 Rn. 4: „Ein nicht eben sehr sinnvoller Rechtszustand!“. 319 Vgl. oben Fn. 313. 320 Vgl. H. Meyer, HStR 2 II, § 38 Rn. 9 mit Hinweis auf BVerfGE 42, 312 (341); Schreiber, DVBl. 1999, S. 345 (351). 321 Regierungsentwurf v. 4.7.2000, BT-Drs. 14/3764. 322 Vgl. Art. 1 Nr. 3 des. 15. G zur Änderung des BWahlG v. 27.4.2001 (BGBl. I S. 698). 315

2. Kap.: Entwicklung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel 

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Mindestanforderungen einen ausreichend langen Inlandsaufenthalt nachzuweisen, womit die der bisherigen Vorschrift zugrundeliegenden Erwägungen eines bestimmten Vertrautseins mit dem deutschen Staat als erfüllt gelten können“.323 Die Abschaffung der Karenzfrist ist demnach nur unter Hinzuziehung des Staatsangehörigkeitsrechts richtig zu verstehen. Denn sowohl nach der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Rechtslage, insbesondere der §§ 8 ff. Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG)324, § 9 Abs. 1 Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (1. StARegG)325 und §§ 85 ff. Ausländergesetz (AuslG)326 wie auch  – nach der Neufassung des Einbürgerungsrechts durch Gesetz vom 15. Juli 1999327  – unter Geltung der §§ 8 ff. Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) war und ist die in einem längeren rechtmäßigen Inlandsaufenthalt zum Ausdruck kommende Bindung an das deutsche Gemeinwesen bereits Voraussetzung für die Einbürgerung.328 Der einjährigen Karenzfrist des BWahlG 1956 a. F. bedurfte es für die neu Eingebürgerten sohin nicht mehr. Aus der Warte der Wählbarkeitsvoraussetzungen war damit der Gleichlauf zwischen den Deutschen qua Abstammung und qua Einbürgerung nunmehr hergestellt. Allerdings fällt auf, dass das Vertrautheitskriterium bei der Beurteilung der passiven Wahlfähigkeit zumindest mittelbar allein für die neu Eingebürgerten aus dem vorangegangenen Einbürgerungsverfahren durchschlägt. Für alle übrigen Deutschen gibt es ein entsprechendes Erfordernis scheinbar nicht. Diesem Zusammenhang widmet sich die Untersuchung an anderer Stelle noch ausführlicher.329

C. Zwischenergebnis Nach diesem Überblick kann festgehalten werden, dass sich die Entwicklung der aktiven materiellen Wahlberechtigung signifikant von der der Wählbarkeit unterscheidet. Während der Gesetzgeber und auch das Bundesverfassungsgericht die Ausgestaltung des aktiven Wahlrechts von einem „Mindestmaß an realer Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland“ abhängig machen, verzichtet die Wählbarkeit seit Einführung des BWahlG 1956 auf diese Verknüpfung. Wählbar ist vielmehr jeder Deutsche im wahlfähigen Alter, der nicht ausdrücklich vom Wahlrecht ausgeschlossen wurde. Die Gründe für die einstige Verquickung von Wählbarkeit und aktiver Wahlberechtigung einschließlich seiner Inlandsbindung waren nahezu 323

Regierungsbegründung zu Nr. 3 (§ 15) v. 4.7.2000, BT-Drs. 14/3764, S. 7. Vom 22.7.1913 (RGBl. S. 583). 325 Vom 22.2.1955 (BGBl. I S. 65). 326 Vom 9.7.1990 (BGBl. I S. 1354). 327 BGBl. I S. 1618. 328 Vgl. Schreiber, DVBl. 1999, S. 345 (351); näher ausdifferenziert auch durch die VwVStAR Nr. 8.0 sowie 8.1.2.2 und 8.1.2.5, abgedruckt bei Hailbronner, in: ders. / Renner (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht4, § 8 StAG (S. 461 ff.). 329 Vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 2. a) und c). 324

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

ausschließlich von den äußeren Umständen des Ost-West-Konflikts getragen und wurden zwischenzeitlich aufgegeben.330 Die der späteren Entwicklung der aktiven Wahlberechtigung zugrunde liegende Annahme zum Erfordernis eines „Vertrautseins“ mit den Verhältnissen kam in der Wählbarkeit zwar auch, aber nur schwach zur Geltung. So hat der Gesetzgeber den Anforderungen zur Erteilung der Staatsangehörigkeit für neu Eingebürgerte Rechnung getragen, indem dort der Inlandsaufenthalt bereits selbst vorausgesetzt war und daher eine gesonderte Regelungsbedürftigkeit im Wahlrecht entfallen konnte. Insofern wird deutlich, dass der Gesetzgeber bei der Regelung der aktiven und passiven Wahlberechtigung, wenn schon nicht ein grundlegend unterschiedliches Maß, so doch unterschiedliche Anforderungsprofile an dieses Maß zur Anwendung bringt. 3. Kapitel

Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur Zunächst gilt es klarzustellen, dass sich das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nach Art. 38 Abs. 1 und 2 GG nur auf das „deutsche Volk“ bezieht. Davon geht auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 GG aus. Es ist dies die Ausprägung des demokratischen Prinzips, das seinen Funktionsund Legitimationszusammenhang gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 2 und Art. 146 GG auf das deutsche Volk beschränkt. Dieser Befund ist derart gründlich und überzeugend erarbeitet worden, dass er seinem Grunde nach hier nicht mehr näher auseinandergesetzt zu werden braucht.331 Damit einher geht auch die Begrenzung des Wählerkreises nur auf Deutsche i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG. Die Einschränkung der aktiven Wahlberechtigung durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG 2013 auf dauerhaft im Inland ansässige Deutsche muss sich an dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG aufgestellten Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl messen lassen.332 Differenzierungen hinsichtlich der aktiven Wahlberechtigung zum Deutschen Bundestag bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines „zwingenden Grundes“333. In diesem Kapitel sollen zunächst die Maßstäbe, die sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der überwiegende Teil des Schrifttums

330

Vgl. auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 85 und 86. Näher BVerfGE 83, 37 (50 ff.); StGH Bremen, DVBl. 2014, S. 1248 (1. Leitsatz); Horn, in: VVDStRL 68 (2009), S. 413 ff. (435 f.) m. w. N.; „Einheit von Staatsvolk und Staatsgewalt“ bei Isensee, HStR3 II, § 15 Rn. 154 ff.; Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 208; ferner Grzeszick, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. III, Art. 20 II Rn. 79 ff.; Huber, DÖV 1989, S. 531 (532); auch Voßkuhle / Kaufhold, JuS 2013, S. 1078 (1079); gegen die Unauflöslichkeit der Verbindung von Volkssouveränität, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht Bryde, JZ 1989, S. 257 (259). 332 BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 23). 333 BVerfGE 36, 162 (167); 60, 162 (167): „sachlich legitimierter Grund“ bei BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25), dazu vgl. sogleich. 331

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

75

für die Rechtfertigung der wahlrechtlichen Ungleichbehandlung bei der Wahlberechtigung von Inlands- und Auslandsdeutschen heranziehen, herausgearbeitet werden. Das sich anschließende 4. Kapitel unterzieht die Ergebnisse sodann einer vertieften kritischen Würdigung.

A. Die Allgemeinheit der Wahl in Rechtsprechung und Literatur Die Reichweite der mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbundenen Schutzgewährung erfolgte in ihrer Interpretation nicht immer einheitlich, sondern erfuhr durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in der Literatur unterschiedliche Bestimmung. I. Konturierung in der Rechtsprechung In seinen frühen Entscheidungen interpretierte das Gericht den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl dahin, dass es dem Gesetzgeber „verboten“ sei, „bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts“ auszuschließen.334 Diese Formulierung ließ allerdings offen, ob lediglich der Ausschluss der genannten Fälle verboten war.335 Bejahendenfalls bestünde der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl allein in dem Verbot, ganze Bevölkerungsteile aufgrund gruppenspezifischer Merkmale auszuschließen.336 Sollte der Aufzählung hingegen nur beispielhafter Charakter zugekommen sein, wäre sie für eine allgemeinverbindliche Definition ungeeignet.337 Im Jahr 1973, also noch vor Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts durch das 7. BWahlGÄndG 1985, präzisierte das Bundesverfassungsgericht die Reichweite des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl dahingehend, dass dem Gesetzgeber der „unberechtigte Ausschluss von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl überhaupt“ verboten sei.338 Diese Formulierung ging über den Ansatz der bisherigen Rechtsprechung hinaus. Während zuvor nur bestimmte Personengruppen aufgrund spezifischer Merkmale nicht ausgeschlossen werden durften, gerät nunmehr jede materielle Wahlrechtsbeschränkung unter Rechtfertigungsbedarf. Die gruppenspezifischen Merkmale aus früherer Rechtsprechung339 werden zwar auch hier erwähnt,340 stehen aber nunmehr unter der neuen Prämisse des nicht ab-

334

Vgl. BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166 f.). Gramlich, JA 1986, S. 129 (131). 336 In diese Richtung Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). 337 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 143. 338 BVerfGE 36, 139 (141). 339 Oben Fn. 334. 340 Vgl. BVerfGE 36, 137 (141); ebenso BVerfGE 58, 202 (205). 335

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

schließenden Charakters.341 Damit waren auch Wohnsitzklauseln am Maßstab der Allgemeinheit der Wahl zu messen. In zwei Nichtannahmebeschlüssen vom 24. November 1981342 und vom 25. Juli 1997343 verzichtete der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit der Allgemeinheit der Wahl sodann auf diese in der Rechtsprechung zwischenzeitlich gefestigte344 Formulierung. Stattdessen besage der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, „daß grundsätzlich alle Staatsbürger an der Wahl sollen teilnehmen können“. Im Unterschied zu früher wird hier der Inhalt des Allgemeinheitsgrundsatzes erstmals positiv statt wie bisher negativ umschrieben. Dieser Ansatz wird in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Auslandsdeutschenwahlrecht vom 4. Juli 2012 weiter verfestigt, indem bei der Bestimmung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl nunmehr die „Sicherung der vom Demokratieprinzip vorausgesetzten Egalität der Staatsbürger“ ausdrücklich herausgestellt wird.345 Konkretisierend hebt der Senat in der benannten Entscheidung auf die „Gleichbehandlung aller Staatsbürger“ bezüglich der „Fähigkeit, zu wählen und gewählt zu werden“, als eine „der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung“, ab346 Diese Formulierung gehört zwar ebenfalls zum gefestigten Bestandteil der höchstrichterlichen Rechtsprechung, fand jedoch bislang fast ausschließlich im Zusammenhang mit der wahlrechtlichen Zähl- und Erfolgswertgleichheit der Stimmen sowie der Chancengleichheit der Parteien Verwendung.347 In ihr ist regelmäßig das Gebot enthalten, dass „alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben sollen können“.348 Im Vergleich zu dem in den frühen Wahlrechtsentscheidungen des Ersten Senats ausgesprochenen Verbot des „unberechtigten“ Ausschlusses vom Wahlrecht nach gruppenspezifischen Merkmalen führt die vom Zweiten Senat hergestellte Verknüpfung der Allgemeinheit der Wahl mit dem Gebot der egalitären Teilhabe grundsätzlich aller Staatsbürger zu keiner qualitativen Veränderung des Wahlrechtsschutzes. Vielmehr ist die Reichweite dieses Schutzes betroffen. Das bislang negativ formulierte Diskriminierungsverbot ist unter einen weiteren Obersatz gestellt, der neben Stimm- und Chancengleichheit nunmehr ausdrücklich auch die 341

Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 88: „dokumentiert Kontinuität der Rechtsprechung“. 342 BVerfGE 59, 119 (125). 343 BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207. 344 Vgl. etwa BVerfGE 58, 202 (205); auch BVerwGE 51, 69 (77). 345 BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 24); in diese Richtung bereits BVerfGE 59, 119 (125): „Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl […] besagt, dass grundsätzlich alle Staatsbürger an der Wahl sollen teilnehmen können“. 346 BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 24) mit Verweis auf die Rspr. zur Chancengleichheit in BVerfGE 6, 84 (91), und BVerfGE 11, 351 (360); ebenso BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 42 in Bezug auf § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG a. F. 347 Vgl. bei BVerfGE 41, 399 (413); 51, 222 (234); 71, 81 (94); 85, 148 (158); 99, 1 (13). 348 So etwa BVerfGE 51, 222 (234); 78, 350 (357); 82, 322 (337); 85, 264 (315).

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

77

Möglichkeit der Teilhabe im Wahlrecht an sich unter den Schutz der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl stellt. Gleichzeitig verdeutlicht das Gericht damit die enge Verbindung beider Wahlrechtsgrundsätze.349 II. Auffassungen in der Literatur In der Literatur gilt die vom Bundesverfassungsgericht erst spät entwickelte positive Umschreibung zur allgemeinen Zuerkennung der aktiven Wahlberechtigung350 als vorherrschend. Demnach besteht der „besondere Beitrag“ der allgemeinen Wahl „in der Gewährleistung der politischen Einflußchancen des gesamten Volkes – ungeachtet der sozialen Schichtung der Gruppenzugehörigkeit oder sonstiger möglicher Differenzierungsmerkmale. Kein Teil der Bevölkerung solle von der politischen Einflußnahme ausgeschlossen sein.“351 Trotz den teilweisen unterschiedlichen Formulierungen besteht hinsichtlich des Gewährleistungsgehalts des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl weitgehend Einigkeit.352 Einige Autoren ziehen zusätzlich die Struktur des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes hinzu. Demnach enthalte der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl das Gebot der Gleichheit beim Zugang zur Wahl.353 Die enge Beziehung zwischen den Grundsätzen der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl hat auch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung stets betont. Beide Grundsätze sichern die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Wahlbürger.354 Während allerdings die Rechtsprechung den Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl auf alle „Staatsbürger“ erstreckt,355 knüpfen Teile der Literatur die Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden an die „Staatsangehörigkeit“.356 Dies wirft die Frage nach

349

BVerfGE 28, 220 (225); 36, 139 (141); 129, 300 (319); 132, 39 (47 Rn. 24). Dazu oben Erster Teil 3. Kapitel A. I. 351 Zitat Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 68. 352 Vgl. etwa Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 108 f.; Erichsen, Jura 1983, S. 635 (636); Gramlich, JA 1986, S. 129 (131); Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (14); Kluth, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art.  38 Rn.  16 f.; H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 1; Spies, Schranken, S. 7; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 303 f.); teilweise ausdrücklich ergänzend um das Ausschlussverbot bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund gruppenspezifischer Merkmale, etwa Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 13; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81. Die in Anlehnung von BVerfGE 99, 1 (10), teilweise vorgenommene Begriffsbestimmung der Allgemeinheit der Wahl als „Unterfall“ der Wahlrechtsgleichheit, vgl. etwa bei Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 68; Ennuschat, VR 1999, S. 12; Lampert, JuS 2011, S. 884, haben in der Sache keine merklichen Auswirkungen hinsichtlich des oben festgestellten Schutzniveaus. 353 Vgl. Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 13; Lampert, JuS 2011, S. 884 (886); ähnlich Erichsen, Jura 1983, S. 635 (637). 354 BVerfGE 99, 1 (13); 132, 39 (47 Rn. 24). 355 Vgl. etwa BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205); 99, 1 (14); 132, 39 (47 Rn. 24). 356 Badura, in: Kahl / Waldorf / Walter (Hrsg.), BK-GG, Anh. zu Art. 38: BWahlG Rn. 9. 350

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

dem Verhältnis beider Begriffe zueinander auf, die jedoch erst im Rahmen der grundlegenden Bewertung und Kritik geklärt werden soll.357

B. Wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklauseln als Wahlrechtsbeschränkung § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG knüpft die aktive materielle Wahlberechtigung am Wahltag an die mindestens dreimonatige Sesshaftigkeit im Inland. Die Vorschrift ist adressiert an alle bereits von Verfassungs wegen in den Status der Aktivbürgerschaft gesetzten Deutschen. Dennoch knüpft die wahlrechtliche Differenzierung in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG an den Ort der Sesshaftigkeit an, der am Wahltag und drei Monate zuvor im „Bundesgebiet“ bestehen muss. Im Ergebnis sind grundsätzlich alle nach Art. 38 Abs. 2 GG aktiv wahlberechtigten Deutschen ausgeschlossen, die am Wahltag nicht im Wahlgebiet für zuvor drei Monate sesshaft gewesen sind.358 Deshalb beeinträchtigt § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nach einhelliger Meinung den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der grundsätzlich für die Zulassung aller deutschen Staatsbürger streitet.359 Allerdings wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, dass das Demokratiegebot in Art. 20 Abs. 1 GG für die Wählereigenschaft grundsätzlich keinen räumlichen Bezug zur Ausübung der Wahl voraussetzt. Dass aber ist keineswegs selbstverständlich, insofern Teile der Literatur etwa auch das Wahlalter in Art. 38 Abs. 2 GG nicht als Wahlrechtsbeschränkung begreifen, sondern als eine das Wahlrecht schlechthin konstituierende Verfassungsbedingung.360 Ebenso könnte es sich mit der wahlrechtlichen Wohnsitzbindung verhalten. Auch auf diese Frage ist später im Rahmen der Bewertung und Kritik zurückzukommen.361 Die Ausnahmeregelung des aktuellen § 12 Abs. 2 BWahlG „korrigiert“362 den grundsätzlichen Ausschluss Auslandsdeutscher hingegen nur teilweise. Zwar erlangen etwa jene Auslandsdeutschen, die anhand der Meldedaten eine frühere dreimonatige Sesshaftigkeit im Bundesgebiet oder (nach § 12 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Satz 1 Nr. 1 BWahlG) auf dem Gebiet der ehemaligen DDR glaubhaft machen können, ihr Wahlrecht „wieder zurück“. Gleiches gilt für jene, die auf Basis des neu eingeführten Auffangtatbestandes (§ 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG) nach 357

Vgl. unten Erster Teil 4. Kapitel A. I. 1. Dies wurde besonders deutlich nach der Nichtigkeitserklärung des § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG a. F. durch BVerfGE 132, 39 (Tenor). Folge der Nichtigkeit war, dass Auslandsdeutsche bis zur Neuregelung des 21. BWahlGÄndG 2013 überhaupt nicht wahlberechtigt waren, vgl. Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (8); Heydt, DÖV 2012, S. 974 (975). 359 Dies ist gemeinhin anerkannt, vgl. statt vieler Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246), auch BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205). 360 Etwa Schroeder, JZ 2003, S. 917 (919); Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 45. 361 Unten Erster Teil 4. Kapitel A. I. 2. 362 BVerfGE 132, 39 (52 Rn. 36). 358

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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weisen können, individuell mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland vertraut und betroffen zu sein.363 Doch bewirkt der differenzierende Ansatz eine Ungleichbehandlung gegenüber jenen deutschen Auslandsbürgern, die mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 (ggf. i. V. m. Satz 2) und Nr. 2 BWahlG von der Wahlberechtigung weiterhin ausgeschlossen bleiben. Das betrifft erstens Auslandsstaatsbürger, die bereits in zweiter Generation im Ausland leben und zu keiner Zeit für mindestens drei Monate auf dem Gebiet der Bundesrepublik wohnhaft waren oder sich dort gewöhnlich aufgehalten haben. Die vermittels Sesshaftigkeit geforderte Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen können sie regelmäßig nicht nachweisen.364 Betroffen sind zweitens auch jene im Ausland lebenden deutschen Staatsbürger, die sich zwar nach dem Stichtag für mindestens drei Monate innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik (oder der ehemaligen DDR) aufgehalten haben, zum Zeitpunkt der Wahl aber die mit dem 21. BWahlGÄndG 2013 eingeführten gesteigerten Anforderungen an die Wahlberechtigung nicht bzw. nicht mehr erfüllen. Genannt seien die für die Aufenthaltserheblichkeit zu berücksichtigenden Kriterien des (Vorfortzugs-)Mindestalters von 14 Jahren und des Fortzugszeitraums von 25 Jahren. Sohin führt auch der in § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 BWahlG enthaltene Ausnahmetatbestand nicht dazu, dass die durch die Inlandsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG bewirkte Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts für die betroffenen Gruppen entfällt.

C. Der „zwingende Grund“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Entsprechend dem allgemeinen rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) bedürfen Eingriffe in verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtspositionen stets einer parlamentsgesetzlichen Grundlage.365 Eine solche enthält § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 BWahlG. Im Hinblick auf das Demokratiegebot hängen Regelungsdichte und der Grad der an die gesetzliche Grundlage zu stellenden Anforderungen von der jeweils zu bewältigenden Sachmaterie ab. Bei der Prüfung, ob eine Beschränkung im „Sachbereich der Wahlen“ gerechtfertigt ist, postuliert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig, dass insofern grundsätzlich ein „strenger Maßstab“ anzulegen sei.366 In seiner Entscheidung zum Auslandsdeutschenwahlrecht vom 4. Juli 2012367 verwendet der Zweite Senat folgende 363

So jedenfalls Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/11820, S. 5: „politische Vertrautheit […] muss im Einzelfall persönlich aufgrund eigener Erfahrung und unmittelbar erworben worden sein.“ 364 Ein solcher Fall lag BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 f., sowie BVerfGE 132, 39 ff. zugrunde. 365 Vgl. dazu BVerfGE 98, 218 (251); Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 41, 45; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 3 Rn. 273 ff. 366 Vgl. BVerfGE 120, 82 (106); 129, 300 (317, 320); 132, 39 (48 Rn. 25). 367 Zuletzt BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Formulierung: „Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes […]. Sie können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind […].“368 Zunächst muss geklärt werden, was das Gericht unter der von ihm aufgestellten Rechtfertigungsformel versteht. Denn dies ist keineswegs immer eindeutig.369 So offenbart ein Vergleich mit früheren Entscheidungen des Senats zumindest in terminologischer Hinsicht eine erhebliche Vielfalt. Hier variieren die Formulierungen zwischen „zwingenden Gründen“370, wobei das Wort „zwingend“ teils mit,371 teils ohne372 An- und Abführungszeichen gesetzt wird, sodann „besonderen rechtfertigenden Gründen“373, besonderen zwingenden Gründen,374 „besonderen, rechtfertigenden, zwingenden Gründen“375, „zureichenden Gründen“376 oder „sachlich legitimierten“377 Gründen. Vollends deutlich wird die terminologische Unsicherheit seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nachwahl in Dresden vom 21. April 2009. Für Differenzierungen in der Wahlrechtsgleichheit fordert der Senat einen „besonderen, sachlich legitimierten, bislang als ‚zwingend‘ bezeichneten Grund“378. Die unterschiedlichen Formulierungsansätze legen nahe, dass der Zweite Senat in der Bestimmung eines rechtfertigenden Grundes zur Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl eine Entwicklung durchlaufen hat, die mit der verfassungsrechtlichen Würdigung der „jeweiligen rechtlichen und tatsäch­lichen Rahmenbedingungen“ im Zusammenhang steht.379 Aus dem dynamischen Charakter dieser Rahmenbedingungen leitet der Zweite Senat konkret ab, dass „Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur früheren Ausgestaltung der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen […] nicht ohne Weiteres zur Beurteilung der aktuellen Rechtslage herangezogen werden [können]“380. Ob also mit den unterschiedlichen 368 BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25); zuvor auch für die Gleichheit der Wahl BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107). 369 Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 3 mit Fn. 9. 370 BVerfGE 8, 51 (64 f.); 13, 243 (247); 14, 121 (133); 28, 220 (225); 36, 139 (141); 41, 399 (413); 82, 322 (338). 371 BVerfGE 1, 208 (249). 372 BVerfGE 82, 322 (338). 373 BVerfGE 11, 266 (272); 11, 351 (361); 12, 10 (25); 12, 73 (77); 13, 1 (12). 374 BVerfGE 24, 300 (341); 34, 160 (163); 44, 125 (146); 47, 198 (227). 375 BVerfGE 34, 81 (99); 51, 222 (235). 376 Vgl. BVerfGE 95, 408 (419) mit Verweis auf BVerfGE 1, 208 (248); 6, 84 (92); ebenso BVerfGE 132, 32 (51 Rn. 35 sowie 72 Rn. 37). 377 Vgl. oben Fn. 368, „sachlich legitimierter ‚zwingender‘ Grund“ bei BVerfGE 129, 300 (320). 378 BVerfGE 124, 1 (19); fortgesetzt von BVerfGE 135, 259 (286 Rn. 53) – 3 %-Klausel bei der Europawahl, jeweils m. w. N. aus der früheren Judikatur zu den als „zwingend“ bezeichneten Gründen. 379 In diese Richtung auch Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 84; Ennuschat, VR 1999, S. 12 (13). 380 BVerfGE 139, 39 (50 Rn. 31).

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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Formulierungen zur Rechtfertigungsformel des „zwingenden Grundes“ auch inhaltlich stets „das gleiche gemeint“ ist, wie von einigen behauptet,381 bedarf angesichts der aktuelleren Rechtsprechungsentwicklung zumindest der Erörterung. Dies aus dem folgenden Grund: Gerade der mehrfach selbstgesetzte Anspruch des Gerichts als „Hüter der Verfassung“382 bezeugt den Willen zur „generell-abstrak­ ten Verfassungsinterpretation“383. Wenn das Bundesverfassungsgericht dabei etwa in seiner Entscheidung vom 4. Juli 2012 davon ausgeht, dass sich seine Rechtsprechung im Wahlrecht kontinuierlich an die sich rechtlich und tatsächlich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen habe,384 ist dies zunächst nachvollziehbar. Dies enthebt das Gericht bei der inhaltlichen Bestimmung der von ihm einmal entwickelten und immerwährend gebrauchten juristischen Begriffe aber nicht der Verantwortung, das grundsätzliche Erfordernis einer einheitlichen und möglichst im Voraus bestimmbaren höchstrichterlichen Rechtsprechung385 zu berücksichtigen. Hierfür streitet nicht zuletzt auch die Verbindlichkeitsanordnung des § 31 BVerfGG.386 Daher gilt es im Folgenden, die verfassungsgerichtliche Maßstabsformel als Grundlage aller konkreten Rechtfertigungsbetrachtungen zunächst eigenständig herauszuarbeiten. I. Die Formel vom „zwingenden Grund“ 1. Herkunft und Grundlagen Die Formel387 vom „zwingenden Grund“ zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen ist keine Erfindung des Bundesverfassungsgerichts. Bereits der Reichsstaatsgerichtshof äußerte sich ähnlich zur verfassungsrechtlichen Reichweite der gesetzgeberischen (Aus-)Gestaltungsfreiheit der Wahlgrundsätze unter dem Regime der Weimarer Reichsverfassung (WRV). In der Entscheidung über die Bestimmungen zur Bekämpfung von Splitterparteien im Preußischen Landeswahlgesetz vom 17. Februar 1930 (sog. Preußen-Urteil) entnahm der Reichsstaatsgerichtshof dem – mit dem heutigen Art. 38 Abs. 3 GG vergleichbaren – Regelungsauftrag des Art. 22 Abs. 2 WRV („Das nähere bestimmt das Reichswahlgesetz“) zunächst die Gewährung eines „gewissen Spielraum[s]“ des Gesetzgebers bei der 381

Vgl. Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252); ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 93 mit Fn. 430 sowie S. 104: „unangefochtener Bestand der Rechtsprechung des Zweiten Senats“; auch vermutet von Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 54: „offenbar ohne Differenz in der Sache“; eher abschätzig zur Diskussion H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33 mit Fn. 120. 382 BVerfGE 1, 184 (195); 1, 396 (408 f.); 2, 124 (131); 40, 88 (93 f.); 119, 247 (258). 383 Lepsius, in: Jestaedt / ders. / Möllers (Hrsg.), Gericht, S. 159 (162). 384 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31). 385 Zum diesbezüglichen Selbstverständnis vgl. Lepsius, in: Jestaedt / ders. / Möllers (Hrsg.), Gericht, S. 159 (162 ff.). 386 Vgl. dazu ausführlich Rennert, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), BVerfG, § 31 Rn. 50 ff. 387 Bezeichnung etwa bei BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Umsetzung „auch der großen Wahlgrundsätze“, indem er „einen einzelnen von ihnen im Interesse der Durchführung der übrigen nötigenfalls einengen darf“.388 Gleichzeitig stützt sich der Gerichtshof auf die  – unter der Geltung der WRV noch absolut  – formal zu deutende Wahlrechtsgleichheit, die es gebiete, Einschränkungen auf ein „wirklich nur dringendes Bedürfnis“ zu stützen.389 Diese Formulierungen waren aber nur Vorläufererscheinungen. Erst der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat die Formel des „zwingenden Grundes“ in seinem Urteil zur 5 %-Klausel im Bayerischen Gemeindewahlrecht vom 18. März 1952 ausbuchstabiert.390 Über eine der ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, damals noch gefällt vom Ersten Senat,391 fand diese Formulierung Eingang in den Bestand der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. 2. „Zwingende“ und „legitime“ Gründe zur gesetzgeberischen Differenzierung im Wahlrecht Die Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere die der Gleichheit und der Allgemeinheit der Wahl, sind Ausfluss des demokratischen Prinzips des Grundgesetzes nach Maßgabe des Art. 20 Abs. 1 GG.392 Wenn das Demokratieprinzip selbst aber zu den gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört, liegt es zumindest nahe, anzunehmen, dass wahlrechtliche Bevorzugungen oder Benachteiligungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn die sie tragenden Gründe ebenfalls aus einem unabänderlichen Verfassungsprinzip abgeleitet werden können. Demnach wäre also eine gesetzgeberische Differenzierung im Wahlrecht, deren tragender Grund nicht auf einem unveränderlichen Verfassungsprinzip beruht, auch nicht rechtfertigungsfähig.393

388 Vgl. RStGH, Entscheidung v. 17.2.1930,  – StGH 12/28, RGZ 128, abgedruckt bei Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH IV, S. 132 (139). Diese Aussage basierte auf drei früheren fast wortgleichen Entscheidungen des RStGH, jeweils v. 17.12.1927, – StGH 12/27, – StGH 8/27 und – StGH 6/27 = RGZ 118, zu den Landeswahlgesetzen Hessen, Hamburg sowie Mecklenburg, Entscheidungen jeweils abgedruckt bei Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH I, S. 329 (337 ff.); ebd., S. 341 ff. und 398 ff.; zum Zusammengang vgl. näher Nenstiel, Wahlrechtsentwicklung, S. 134 ff. Die Wahlgrundsätze, insbesondere der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, galten über Art. 17 WRV unmittelbar auch in den Ländern, dazu Anschütz, Verfassung, Art. 17 S. 127, 128. 389 Vgl. RStGH, Entscheidung v. 17.2.1930,  – StGH 12/28, RGZ 128, abgedruckt bei Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH IV, S. 132 (139); näher auch Anschütz, Verfassung, Art. 17 S. 128 mit Anm. 1; zur Formalisierung des wahlrechtlichen Gleichheitsprinzips auch Rinck, in: FS Geiger, S. 677 (683 f.). 390 BayVGH, Urt. v. 18.3.1952, – Vf 25-VII-52 = BayVGHE n. F. 5, 66 (75). 391 BVerfGE 1, 208 (248 f.); übernommen von BVerfGE 12, 10 (25); vgl. auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 93. 392 BVerfGE 41, 399 (413); 69, 92 (106); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 98; Stern, Staatsrecht I, § 18 II 5 (S. 606). 393 Vgl. Murswiek, in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (99 f.).

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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Doch legt das Bundesverfassungsgericht das Erfordernis eines „zwingenden Grundes“ in seiner wahlrechtlichen Rechtsprechung nicht so streng aus, wie es begrifflich erscheint. Denn dass sich die zwingenden Gründe auf solche von Verfassungs wegen gebotenen Ziele selbst beschränken, hat das Gericht noch nie gefordert.394 Zwar mögen sich insbesondere im Fall der Kollision von Wahlrechtsgrundsätzen zwingende Gründe zugleich als verfassungsrechtlich geboten erweisen.395 Im Übrigen aber ist eine Begriffslockerung zu vermerken. So verzichtete das Gericht etwa darauf, die Prüfung der Ernsthaftigkeit einer Wahlwerbung durch Unterschriftenquoren, die die in die Phase der Wahlvorbereitung vorverlagerte Wahlrechtsgleichheit berührt, in den Rang eines Verfassungsguts zu erheben.396 Ebenso hat das Gericht in seiner Sperrklauseljudikatur davon abgesehen, die in ihrer Notwendigkeit nur „schwer bestimmbaren Maßnahmen zur Sicherung eines seinerseits graduell abstufbaren Maßes an Funktionsfähigkeit von Parlamenten“ als fest umrissene Verfassungspflichten zu formulieren.397 Auch die durch den Gesetzgeber mit der Formel des „zwingenden Grundes“ gerechtfertigten Differenzierungen der Wahlrechtsgleichheit, etwa das Stimmgewicht nationaler Minderheiten betreffend,398 entbehren der zwingenden verfassungsrechtlichen Notwendigkeit.399 Immerhin präzisierte das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundmandatsentscheidung vom 10. April 1997 erstmals die zu stellenden Anforderungen an den „zwingenden Grund“, indem es nunmehr ausdrücklich eine Güterabwägung zwischen Wahlrechtsgrundsätzen und den entgegenstehenden Belangen forderte. Demnach lässt das Gericht  – neben den von Verfassungs wegen „zwangsläufigen oder notwendigen“ Differenzierungen, „wie dies etwa in Fällen der Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten“ gegeben sein könne – auch Gründe zu, „die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann.“ Dabei sei es „nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen“ gebiete. Gerechtfertigt seien „auch ‚zureichende‘, ‚aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe‘.“400

394

Vgl. etwa schon BVerfGE 1, 208 (249), wonach maßstabsbildend sogar „Wertungen, die im Rechtsbewusstsein der konkreten Rechtsgemeinschaft lebendig sind“ herangezogen werden können; ferner BVerfGE 4, 31 (41); 51, 222 (249), hierzu und im Folgenden auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252 f.). 395 BVerfGE 59, 119 (125); H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 31. 396 Vgl. BVerfGE 41, 399 (421). 397 BVerfGE 51, 222 (249) m. w. N.; Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253). 398 Vgl. etwa § 3 Abs. 1 S. 2 Brandenburgisches Landeswahlgesetz i. d. F. der Bekannt­ machung v. 28.1.2004 (GVBl. S. 30) zu den Privilegierungstatbeständen nationaler Minderheiten (Sorben / Wenden); ähnlich § 3 Abs. 1 S. 2 Landeswahlgesetz (Schleswig-Holstein) i. d. F. der Bekanntmachung v. 7.10.1991, für die dänische Minderheit, dazu vgl. etwa BVerfGE 6, 84 (97 f.). 399 Dazu eingehend Murswiek, in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (103 ff.). 400 BVerfGE 95, 408 (418) mit Zitat.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Seither rechnet das Bundesverfassungsgericht explizit etwa „die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele“401 zu den eine Differenzierung im Anwendungsbereich der Gleichheit der Wahl grundsätzlich tragenden Schranken. Zu diesen Zielen zähle etwa die „Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung“ oder auch die „Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes“.402 Mit diesen Formeln wird allerdings immer noch nicht recht klar, was zwingende Gründe gegenüber allgemeinen legitimen Zwecken qualifiziert. Insbesondere helfen die hergebrachten Floskeln wie „die Waage halten“403, das Abstellen auf die konkrete Eingriffsintensität einer Regelung404 oder gar der Hinweis auf die „gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis“405 inhaltlich kaum weiter.406 Die Unschärfen setzen sich in der eben erwähnten Grundmandatsentscheidung des Zweiten Senats vom 10. April 1997 fort, in der das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf ältere Entscheidungen, teilweise noch des Ersten Senats,407 wahlrechtliche Differenzierungen auch durch „zureichende“, „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“ gerechtfertigt sah.408 Diese „eigenartige Auslegung des zwingenden Grundes“409 fand auch Verwendung in späteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.410 Teile der Literatur sahen hierin eine bedenkliche Aufweichung des „zwingenden Grundes“.411 Andererseits ist nicht eindeutig, ob dem in der Grundmandatsentscheidung erwähnten „zureichenden Grund“ ein eigenständiger materieller Gehalt zukommt412 oder ob er heute lediglich im Wege sprachlicher Vereinfachung den Oberbegriff für die zuvor als Maßstab gesetzten „legitimen“ oder „zwingenden Gründe“ bildet. Für die zuletzt genannte Variante spricht etwa die Entscheidung zum Auslandsdeutschenwahlrecht vom 4. Juli 2012, die bei gleichlautender Begriffsverwendung 401 Vgl. etwa BVerfGE 13, 243 (248); 51, 222 (236); 95, 408 (418); darauf Bezug nehmend BVerfGE 120, 82 (107); 129, 300 (320 f.); 135, 259 (287 Rn. 53). 402 Vgl. BVerfGE 95, 408 (419); 120, 82 (107); 132, 39 (50 Rn. 32). 403 Vgl. z. B. BVerfGE 71, 91 (96); 95, 408 (418). 404 So etwa bei BVerfGE 71, 81 (96). 405 BVerfGE 1, 208 (249); 82, 322 (338); 93, 373 (376 f.). 406 Zum Verdacht der Formelhaftigkeit des besonderen rechtfertigenden zwingenden Grundes vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33; Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253). 407 Vgl. insbesondere Verweis auf BVerfGE 1, 208 (248). 408 Vgl. BVerfGE 95, 408 (419), mit Verweis auf BVerfGE 1, 208 (248); 6, 84 (92). 409 Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33 mit Fn. 120. 410 So etwa in BVerfGE 120, 82 (107) – Kieler Sperrklausel; BVerfGE 121, 266 (297 f.) – kommunale Wählervereinigung; uneinheitlich gebraucht bei BVerfGE 132, 39 ff. Hier ist zunächst die Rede von „besondere[n], sachlich legitimierten [Gründen], vgl. ebd., S. 48 Rn. 25. Später wird darauf erkannt, dass die die Ungleichbehandlung bewirkende konkrete Differenzierung nicht durch einen „zureichenden Grund“ legitimiert werden könne, vgl. ebd., S. 51 Rn. 35. 411 Vgl. Heinzen, DVBl. 1997, S. 744 (747); Lege, Jura 1998, S. 462 (469). 412 In diese Richtung geht BVerfGE 120, 82 (107) – Kieler Sperrklausel; in der die „zureichenden Gründe“ eindeutig von den „legitimen Gründen“ abgrenzt werden („daneben auch“). Die gleiche Formulierung benutzt BVerfGE 121, 266 (297 f.) – kommunale Wählervereinigung.

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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(„zureichender Grund“) einen Verweis auf die ältere Judikatur nicht enthält,413 während sie zuvor  – mit Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung unterlegt – vom „besonderen, sachlich legitimierten Grund“ spricht.414 Zudem verlangt das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Grundmandatsentscheidung, dass Wahlrechtsbeschränkungen durch die Verfassung legitimiert sein müssen. Auch dies deutet eher auf eine Stärkung des Rechtfertigungsniveaus von Ungleichbehandlungen im Wahlrecht hin.415 Mit einem Kammerbeschluss vom 25. Juli 1997 hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls die für die Wahlrechtsgleichheit entwickelte Rechtfertigungslehre insgesamt auch für die Allgemeinheit der Wahl bestätigt.416 Dies geschah in der „zutreffenden Erkenntnis“, dass zwischen Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl „nur ein gradueller, nicht hingegen ein qualitativer Unterschied besteht.“417 Die Allgemeinheit der Wahl fordert Gleichheit bezüglich der Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden, die Wahlrechtsgleichheit die Ausübung von aktiven und passivem Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise.418 Gleichzeitig verbietet der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl den vollständigen Ausschluss von Staatsbürgern von der Wahl, während die Wahlrechtsgleichheit Differenzierungen bei der Stimmgewichtung grundsätzlich untersagt, damit der Einfluss aller Wählergruppen gleichermaßen gewährleistet ist. 3. Zwischenergebnis Nach Auswertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmung des „zwingenden Grundes“ im Wahlrecht steht bis hierhin zumindest fest, dass mit der Anknüpfung an die streng formale Gleichheit des Wahlvolkes von vornherein jedenfalls jene Differenzierungsziele ausscheiden, die etwa auf persönliche Eigenschaften der Wähler selbst abstellen.419 Darüber hinaus anerkennt das Bundesverfassungsgericht für den Gesetzgeber seit jeher einen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze. Seine Grenzen sind indes nur schwer bestimmbar. Denn sowohl mit der Formel des „zwingenden Grundes“ als auch mit der Beschränkung auf den „Sachbereich der Wahlen“ wurden unbestimmte Rechtsbegriffe geschaffen, deren Inhalt nahezu 413

Vgl. bei BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 35). BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25). 415 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 104 f. 416 BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207; seither wird die Rechtsprechung zur Wahlrechtsgleichheit für die Allgemeinheit der Wahl stets mitzitiert, vgl. etwa BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 24, 25). 417 Vgl. dazu und im Folgenden Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 88 mit Zitaten. 418 Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 90; darauf Bezug nehmend auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 88 f; Blumenwitz, Wahlrecht, S. 85. 419 Vgl. dazu oben Erster Teil 3. Kapitel A, mit Nachweisen der älteren Rechtsprechung bei Fn. 338. 414

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

beliebig ausgefüllt werden könnte, solange die Verfassung diesen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht irgendwie legitimiert.420 Rang und Gewicht der zwingenden Gründe sind im Sachbereich der Wahlen also nach wie vor unklar und bedürfen der Klärung.421 Andernfalls können die Grenzen der dem Gesetzgeber in Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Regelungsbefugnis nicht hinreichend konkret bestimmt werden. II. Von der Rechtsprechung anerkannte „zwingende Gründe“ für die wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklauseln Auf der Basis der gesetzgeberischen Erwägungen422 und dem bislang entwickelten Verständnis zu den „zwingenden Gründen“ sieht das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklausel ihrem Grundgedanken nach von Beginn an als mit der Verfassung vereinbar an. Die dafürsprechenden „zwingenden Gründe“ hat das Gericht in enger Anlehnung an die gesetzgeberische Entwicklung stets konkret benannt. Es sind dies die deutsche Teilung, die wahlrechtliche Tradition und schließlich auch die Funktionen der Wahl. 1. Deutsche Teilung – grundlegend BVerfGE 5, 2 ff. Die deutsche Teilung als zwingender Grund für die Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl durch Sesshaftigkeitsklauseln war schon seit der frühen Rechtsprechung anerkannt.423 In seiner für dieses Argument grundlegenden Entscheidung im Fall Schmidt-Wittmack stellte das Bundesverfassungsgericht heraus, dass aufgrund der „de facto“-Teilung Deutschlands, „das Merkmal der deutschen Staatsangehörigkeit als Anknüpfungspunkt nicht aus[reicht]“. Zudem sei der Bundestag das „Repräsentationsorgan der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Bevölkerung; sein Wirkungsraum beschränkt sich auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes“.424 Dieses Argument spielt im wiedervereinigten Deutschland naturgemäß keine Rolle mehr.

420

Kritik auch bei Heintzen, DVBl. 1997, S. 744 (747). Dazu unten Erster Teil 4. Kapitel B. 422 Vgl. zur Entwicklung der Gesetzeslage oben Erster Teil 2. Kapitel A. I–III. 423 BVerfGE 5, 2 (6); BVerfGE 36, 139 (142); 40, 11 (33 f.); auch BVerwGE 51, 69 (77). 424 Zitate bei BVerfGE 5, 2 (6). 421

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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2. Tradition – grundlegend BVerfGE 36, 139 ff. und BVerfGE 58, 202 ff. Für die Rechtfertigung einfachgesetzlicher Sesshaftigkeitsklauseln im Wahlrecht – und damit den grundsätzlichen Ausschluss aller Auslandsdeutschen – bemühte das Gericht ebenfalls früh die seiner Auffassung nach dem Wahlrecht „seit jeher“ innewohnende Bindung an den Wohnsitz. In seiner Entscheidung vom 23. Oktober 1973 formulierte es diesen Tatbestand zunächst unter Hinweis auf Art. 22 WRV und die Bestimmungen der §§ 3, 11 und 12 des Reichswahlgesetzes aus dem Jahr 1920.425 Die für das damalige Wahlrecht notwendige Eintragung in eine Wählerliste bedingte nach den genannten Vorschriften grundsätzlich den Wohnsitz im Wahlbezirk. „In Anbetracht dessen“, so folgerte das Bundesverfassungsgericht in der maßgeblichen Entscheidung, „verbietet sich die Annahme, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG habe  – im Gegensatz zu Art. 22 Satz 1 WRV  – eine Begrenzung des aktiven Wahlrechts durch das Erfordernis der Seßhaftigkeit im Wahlgebiet ausschließen wollen“.426 Später vertiefte das Gericht diesen Begründungsansatz in seinem Beschluss vom 7. Oktober 1981 mit Verweis auf die Rechtslage unter Geltung des § 7 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes aus dem Jahr 1869.427 Auch hier war zur Ausübung des Wahlrechts der Wohnsitz im Wahlbezirk erforderlich. Deshalb ergebe sich, so das Gericht, „aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes […] kein Anhalt dafür, daß eine Begrenzung des aktiven Wahlrechts durch das Erfordernis der Seßhaftigkeit im Wahlrecht ausgeschlossen werden sollte“428. So gelangte die Tradition in den Rang eines „zwingenden Grundes“.429 Auf Basis dieses Befundes benutzte das Gericht in den Folgeentscheidungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht stets die standardisierte Wendung, dass die gesetzliche Anknüpfung des Wahlrechts an den Wohnsitz im Inland „seit jeher“ zu den „traditionellen Begrenzungen im Wahlrecht“ gehöre.430 Das Traditionsargument wurde – neben der deutschen Teilung – zu einem Hauptargument für die Bindung des Wahlrechts durch Sesshaftigkeitsklauseln. Von dieser Formel rückte das Gericht erst in seiner Auslandsdeutschenentschei­ dung vom 4. Juli 2012 ab. Mit Hinweis auf die sich verändernden „jeweiligen rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen“ könnten „Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen […] nicht ohne weiteres zur Beurteilung der aktuellen

425

Gesetz v. 27.4.1920 i. d. F. v. 6.3.1924 (RGBl. I S. 159); zur historischen Rechtslage näher unten Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 426 Grundlegend BVerfGE 36, 139 (141) mit Zitat; auch BVerfGE 58, 202 (205); 67, 146 (148); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 427 Gesetz v. 31.5.1869 (NBGBl. S. 145); näher unten Zweiter Teil 6. Kapitel B. 428 BVerfGE 58, 202 (205) mit Zitat. 429 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 69. 430 BVerfGE 67, 146 (148); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690), abgeschwächt bei BVerfGE 132, 39 (41 Rn. 4).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Rechtslage herangezogen werden“. An dieser Stelle benennt es ausdrücklich auch die Entscheidungen, die bislang auf das Traditionsargument gegründet waren.431 Allerdings hatte das Gericht die Notwendigkeit der Überprüfung und ggf. Anpassung von Beschränkungsgründen im Wahlrecht schon zuvor verschiedentlich herausgestellt.432 Doch bedeutete das nie eine endgültige Abkehr von seinen bereits entwickelten Argumentationsmustern. In der erwähnten Entscheidung zum Auslandsdeutschenwahlrecht hingegen fehlt der für das Traditionsargument typische Hinweis auf die „traditionelle Begrenzung“ der Allgemeinheit der Wahl durch Sesshaftigkeitsklauseln gänzlich.433 Dies deutet zumindest darauf hin, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln künftig nicht mehr ausdrücklich am Herkommen des Wahlrechts orientieren will. Der einstmals primär aus der Historie bemühte Rechtfertigungsansatz befindet sich gegenwärtig also auf dem Rückzug. Neuere Entwicklungen in der Wahlrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigen dies. Im Zuge der verfassungsrechtlichen Beurteilung des in § 13 Nr. 2 BWahlG a. F. verankerten Wahlrechtsausschlusses wegen geistiger Gebrechen verwirft das Gericht das Traditionsargument erstmals ausdrücklich und konstatiert: „Traditionalität ist kein von der Verfassung legitimierter Grund.“434 3. Funktionen der Wahl – Grundlegend BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 f.; BVerfGE 132, 39 ff. In seiner Kammerentscheidung vom 2. November 1990 verwies das Gericht demgegenüber noch darauf, dass das Erfordernis der Sesshaftigkeit im Wahlgebiet zu den traditionellen Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl gehöre, die der Verfassungsgeber aus früheren Rechtsordnungen vorgefunden habe und das Wahlrecht seit jeher präge.435 Für die Ausnahmen vom Sesshaftigkeitserfordernis in Bezug auf das Wahlrecht von Auslandsdeutschen nach § 12 Abs. 2 BWahlG 1985 hatte das Gericht hier aber zugleich einen neuen Weg beschritten. Erstmals stellte es ausdrücklich darauf ab, dass die „zur Stimmabgabe berufenen Aktivbürger“ mit den „politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland hinreichend vertraut“ sein müssten, um am demokratischen Willensbildungsprozess teilhaben zu dürfen. Denn das „Recht

431

BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31), mit  – hier wörtlich wiedergegebenem  – Verweis auf: „BVerfGE 36, 139 [141 ff.]; 58, 202 [205 ff.]; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats v. 2. November 1990 – 2 BvR 1266/09 –, NJW 1991, S. 689 [690]“. 432 Vgl. etwa BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (167); 21, 200 (204); 59, 119 (125); 123, 39 (75). 433 Für das Bundestagswahlrecht zuletzt ausdrücklich formuliert von BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); für das Kommunalwahlrecht (Stadtverordnetenversammlung) obergerichtlich zuletzt formuliert von VGH Kassel, Urt. v. 12.11.2009, -8 A 1621/08, Rn. 62, -juris. 434 BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 93 mit Zitat. 435 BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690).

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung“ äußere „sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung“.436 Allein bei den hinreichend mit den Verhältnissen vertrauten Aktivbürgern lägen „objektive Merkmale“ vor, „die es gewährleistet erscheinen lassen, daß sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken“ könnten.437 Mit Verweis auf die Gesetzgebungsmaterialien legitimierte das Gericht so die typisierte Entscheidung des Gesetzgebers im Hinblick auf die Fortzugsfristen. Demnach habe sich der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Art und Weise von der Erwägung leiten lassen, „dass als wahlberechtigte ‚Aktivbürger‘ nur Deutsche qualifiziert werden können, bei denen objektive Merkmale vorliegen, die es gewährleistet erscheinen lassen, dass sie am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken.“ Dafür sei ein mindestens dreimonatiger Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeswahlgesetzes unerlässlich.438 Nach der weitgehenden Liberalisierung des Auslandsdeutschenwahlrechts durch das BWahlRÄndG 2008 fixierte das Gericht die Ratio dieses zunächst vorsichtigen Ansatzes sodann in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012439 und baute sie weiter aus.440 Rechtfertigender Differenzierungsgrund bei der Wahlzugangsberechtigung innerhalb unterschiedlicher Gruppen von Auslandsdeutschen sei die „Kommunikationsfunktion der Wahl“. Sie leite sich aus dem mit der demokratischen Wahl verfolgten Ziel der „Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang“ ab.441 Zwar ist dieser Ansatz für das Wahlrecht, insbesondere für die gleichheitliche Ausgestaltung des Wahlsystems, nicht gänzlich neu.442 Auffällig ist aber die Ausführlichkeit, mit der das Gericht nun das Bild von der lebendigen Demokratie zeichnet, die von der „freien und offenen Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten“ auch über den Wahlakt hinaus lebe.443 Der „beständige Dialog zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften“ erweise sich als „gleichermaßen wichtig für die Legitimität demokratischer Ordnung“ wie der „Wahlakt selbst“. Die dauernde „Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk“ sei zudem vom freien Abgeordnetenmandat „ganz bewusst“ mit eingeschlossen.444 Folglich sei der Ausschluss jener Deutschen vom Wahlrecht zulässig,

436

Vgl. bereits BVerfGE 20, 56 (98); 44, 125 (139 f.), zuletzt BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 33). BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 438 Verweis auf BR-Dr. 198/82, S. 19, vgl. BVerfG, NJW 1991, S. 689 (690). 439 BVerfGE 132, 39 ff. 440 Vgl. Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (62 Rn. 61); Horn, in: Gornig / ders. / ​ Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (75). 441 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32) mit Zitat; bestätigt in BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 44. 442 Die Wahl als Integrationsvorgang beschrieben schon bei BVerfGE 6, 84 (92 f.); 24, 300 (341); 51, 222 (236); 71, 81 (97); 95, 408 (418 ff.). 443 Vgl. Germelmann, Jura 2014, S. 310 (317). 444 BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 33) mit Zitat; zuvor BVerfGE 118, 277 (353). 437

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

bei denen „die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße“ bestehe.445 Damit impliziert das Gericht zunächst die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Sesshaftigkeitsklausel aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG. Im Anschluss hieran identifiziert das Gericht zwei Gruppen von Auslandsdeutschen, denen die durch das BWahlRÄndG 2008 geschaffene Rechtslage nicht hinreichend gerecht werde. Zum einen jene, die entweder „unmittelbar nach der Geburt mindestens drei Monate im Bundesgebiet ansässig waren, dann mit ihren Eltern die Bundesrepublik Deutschland verlassen haben und nun nach Erreichen des 18. Lebensjahres das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag […] besitzen“. Zum anderen solche, die „die Bundesrepublik Deutschland schon vor so langer Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhältnissen keine Entsprechung mehr finden“446. Für eine mögliche Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts erteilte das Gericht den insoweit unmissverständlichen Hinweis, zu den früher geltenden strengeren Beschränkungen durch Fortzugsfristen und zur Aufnahme eines der politischen Reife entsprechenden Mindestalters zurückzukehren.447 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass das Gericht eine Aufforderung zur Neuregelung nicht eigens tenorierte, es also auch den völligen Ausschluss von Auslandsdeutschen vom Wahlrecht zum Deutschen Bundestag hinzunehmen bereit war.448 Trotzdem entsprach der Gesetzgeber der gerichtlichen „Anregung“ zur Neuausgestaltung des Auslandsdeutschenwahlrechts mit Erlass des 21. BWahlGÄndG 2013.449

D. Auffassungen in der Literatur zum „zwingenden Grund“ Während die Übereinstimmungen zwischen Bundesverfassungsgericht und dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum zur Reichweite der Schutzgewährleistung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl wie gezeigt relativ hoch sind,450 fällt der Befund hinsichtlich der Zulässigkeit von gesetzlichen Einschränkungen wesentlich differenzierter aus.

445

BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 34) mit Zitat; ebenso BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 45. 446 BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 45) mit Zitaten. 447 BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47). 448 Vgl. auch Heydt, DÖV 2012, S. 974 (975); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (9). 449 Vgl. zum Inhalt der gegenwärtigen Rechtslage oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 2.; zur Analyse der konkreten Normtatbestände vgl. unten Erster Teil 6. Kapitel B. 450 Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel A.

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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I. Grundlegende Tendenzen Zwar ist man sich über die grundlegende Notwendigkeit „zwingender Gründe“ zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Allgemeinheit oder der Gleichheit der Wahl einig.451 Die konkreten Anforderungen an diese Gründe werden – soweit dazu überhaupt Stellung bezogen wird –452 aber unterschiedlich beurteilt. Es können zwei Grundrichtungen ausgemacht werden. Die erste Grundrichtung tendiert eher zu einer extensiven Auslegung des zwingenden Grundes und damit zu einem weiten Regelungsspielraum des Gesetz­gebers im Sachbereich der Wahlen. Demnach sehen einige Autoren in der Formel des „zwingenden Grundes“ jeden „anerkennenswerten, wichtigen Grund“.453 In diese Richtung geht auch der Ansatz, die zwingenden Gründe „aus der Staatspraxis“ abzuleiten, sich „an der politischen Wirklichkeit“ zu orientieren454 oder, wie Walter Pauly vorschlägt, das Differenzierungsverbot in Abkehr vom „radikalisierten Gleichheitssatz“ auf persönliche Eigenschaften der Wähler zu reduzieren und Einschränkungen, die „wählerspezifisch und politisch richtungsneutral“ sind, generell zuzulassen.455 Nach Hans H. Klein seien die Formulierungen in der Grundmandatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dahingehend zu verstehen, „dass sie den auch für die Anerkennung ‚zwingender Gründe‘ bestehenden, weit bemessenen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers umschreiben, den das BVerfG zu achten“456 habe. Schließlich spricht sich etwa Joachim Lege explizit 451

Vgl. etwa Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 52; ohne Einschränkung H. Meyer HStR3 III, § 46 Rn. 31, bzgl. Gleichheit der Wahl; ebenso Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50): „streng schematische“ Anwendung; diesen Befund teilt auch Blumenwitz, Wahlrecht, S. 71. 452 Keine nähere Spezifizierung etwa bei Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 52; ebenso Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 18. 453 Zurückgehend auf v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 7; übernommen von Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 304); in diese Richtung wohl auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 23: „besonderer rechtfertigender Grund […] kann in einer speziellen verfassungsrechtlichen Vorschrift enthalten sein“ (Hervorhebung vom Verfasser); „sachlich geboten“ bei Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 40; bekräftigt auch bei Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 79 f.; anders P. Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 129: „Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das dem betroffenen Wahlrechtsgrundsatz die Waage halten kann.“ 454 So Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 28, mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere BVerfGE 95, 408 (418); ähnlich und mit Verweis auf die Rechtsprechung Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 GG Rn. 52. 455 Vgl. Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). Diese Auffassung setzt schon bei einem reduzierten Schutzniveau zur Allgemeinheit der Wahl an und führt die Abschwächung auf der Rechtfertigungsebene durch eine erhebliche Ausweitung gesetzgeberischer Differenzierungsmöglichkeiten weiter fort. 456 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 86 a. E., Hervorhebung im Original.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

für eine Aufgabe der Rechtsprechung zu den zwingenden Gründen aus und will stattdessen „zureichende“ oder „staatspolitisch legitime“ Gründe genügen lassen, die „sachlich einleuchten“.457 Die andere Richtung misst den zwingenden Gründen ein höheres Gewicht bei. Die die gesetzgeberischen Wahlrechtsbeschränkungen tragenden zwingenden Gründe müssten sich, etwa nach Auffassung Marten Breuers oder Siegfried Magieras, „aus der Grundentscheidung der Verfassung“ selbst ergeben.458 Damit seien Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl ihrerseits beschränkt auf „verfassungsrangige Differenzierungstitel“459 bzw. auf andere „verfassungsrechtlich geschützte Positionen“.460 Diese und ähnliche Formulierungen461 sollen die Wahlrechtsgrundsätze vor einem zu weitreichenden gesetzgeberischen Gestaltungsopportunismus schützen. Hans Meyer will gar nur solche Gründe gelten lassen, die „denknotwendig mit dem Charakter der Wahl verbunden sind“.462 Eine Aufweichung erfährt diese enge Auffassung wiederum durch Walter Leisner, der neben „nur verfassungsrechtlichen Gründen“ mit Verweis auf das Bundesverfassungsgericht auch „andere zwingende Gründe“ aus dem einfachen Gesetzesrecht zulassen will.463 Einer klaren Verortung entzieht sich auch Joachim Henkel, der Ausnahmen nur aus „sachlich zwingenden Gründen“ für zulässig hält und deshalb „dem Ermessen des Gesetzgebers […] enge Grenzen gezogen“ sieht. Gleichzeitig sei es zulässig, dass „der Gesetzgeber jedoch das Wahlrecht von Bedingungen abhängig macht, die jeder Staatsbürger erfüllen“ könne. Damit sei „dem Grundsatz der allgemeinen Wahl Genüge getan“.464 457 Vgl. Lege, Jura 1998, S. 462 (469). Das Begriffsverständnis ist hier eher weit zu verstehen und hat mit der in der Rspr. des Bundesverfassungsgerichtes gelegentlich verwendeten Terminologie „zureichender Grund“ (vgl. etwa auch bei BVerfGE 132, 39 [51 Rn. 35]) wohl nur noch wenig gemein. 458 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 158; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 83. 459 So etwa Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 402 mit Zitat. 460 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65; Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 21: „Beschränkungen […] nur zu Gunsten anderer verfassungsrecht­ licher Rechtsgüter zulässig“, zur entgegengesetzten Auffassung in der 2. Aufl. vgl. oben Fn. 453. 461 Vgl. etwa bei Gramlich, JA 1986, S. 129 (131 f.): Berücksichtigung „nicht minder bedeutsamer Bestimmungen (des Verfassungsrechts)“; Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50): Einschränkungen nur insoweit, als „Verfassung dies zulässt“; ders., in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (99 f.): „zwingende verfassungsrechtliche Gründe“; Germelmann, Jura 2014, S. 310 (318, 319): „verfassungsrechtliche Basis“; in diese Richtung wohl auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (472). 462 Vgl. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 31. 463 Leisner, in: Sodan (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 27 mit Verweis auf BVerfGE 28, 220 (225) mit Zitat. 464 Vgl. sämtliche Zitate bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5); ähnlich auch Erichsen, Jura 1983, S. 635 (636) und Silberkuhl, in: Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 6 mit Verweis auf BVerfGE 71, 94.

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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II. Diversität innerhalb der grundlegenden Tendenzen Auch im Hinblick auf die Beschränkung durch Sesshaftigkeitsklauseln zeigt sich bei den Vertretern der jeweiligen Grundrichtungen kein konsistentes Bild. Insbesondere die Teile der Literatur, die eher für eine strenge Auslegung der zwingenden Gründe plädieren,465 ziehen hinsichtlich der Zulässigkeit der Wohnsitzbindung im Wahlrecht uneinheitliche Schlüsse. Teilweise steht man den wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklauseln insgesamt kritisch gegenüber.466 Dieser Teil stellt im Wesentlichen auf den dynamisch offenen Charakter des Wahlrechts467 oder – mehr oder weniger konkret – den „Wandel der Lebensverhältnisse“ ab.468 Andere folgen dem Bundesverfassungsgericht in der Zulässigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln zumindest im Ergebnis.469 Jene, die sich für eine extensive Auslegung des „zwingenden Grundes“ aussprechen, befürworten überwiegend die Verfassungsmäßigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,470 teils sogar ohne kritische Auseinandersetzung mit den dort angeführten Argumenten.471 Um die Diversität des Meinungsbildes genauer zu zeichnen, bietet es sich an, im Folgenden die verschiedenen Auffassungen anhand der von der Rechtsprechung herausgearbeiteten „zwingenden Gründe“ zu gruppieren. 1. Rezeption des Traditionsarguments Das Traditionsargument des Bundesverfassungsgerichts wurde von Teilen der Literatur übernommen.472 Insbesondere Bodo Pieroth anerkennt mit dem Bundesverfassungsgericht das „Herkommen“ bzw. die „Tradition“ wahlrechtlicher 465

Vgl. oben Fn. 458–461. Vgl. Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23; H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 5; Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (77 f., 90 f.). 467 So H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 2: „Forderung nach allgemeinen Wahlen hat von Hause aus einen dynamischer Charakter“. 468 Allgemein formuliert bei Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23; konkreter Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78 f.), der die Bedeutung moderner Kommunikation für die informierte Mitwirkung herausstellt. 469 Vgl. ohne Begründung Leisner, in: Sodan (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 27; nach vertiefter Auseinandersetzung Blumenwitz, Wahlrecht, S. 82; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74; zweifelnd aber ders. / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (11 f., 22). 470 Vgl. Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 121; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 13; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (245 f.). 471 Badura, in: Kahl / Waldorf / Walter (Hrsg.), BK-GG, Anh. zu Art. 38: BWahlG Rn. 10; H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 92; Silberkuhl, in: Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 6; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 27. 472 Vgl. etwa Erichsen, Jura 1983, S. 635 (636); Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 23, 26; Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5; Starck, HStR3 III, § 33 Rn. 32; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 304); ebenso Spies, Schranken, S. 55 ff., m. w. N. für historische Sesshaftigkeitsregelungen im Reichswahlrecht seit 1848 wie auch aus den Wahlgesetzen der Länder. 466

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Sesshaftigkeitsklauseln als „zwingenden Grund“.473 Doch ein einheitliches Meinungsbild besteht nicht. Im Gegenteil: Etwaige Zweifel an der Tragfähigkeit der historischen Begründung werden teilweise auch von den Vertretern einer extensiven Auslegung des zwingenden Grundes geteilt. Mittlerweile trifft der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach gezogene Verweis auf die wahlrechtliche Tradition als zwingenden Grund für die „seit jeher“ grund­ legend bestehende Möglichkeit zur Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl sowohl bei Befürwortern wie Gegnern der Sesshaftigkeitsklausel und auch allgemein auf grundlegende Kritik.474 So warnt etwa Walter Leisner vor „offener Sklerose“ und „Zementierung“ der Verfassung durch die Versteinerung eines bestimmten technischen Zustandes niederrangigen Rechts.475 Peter Häberle begreift den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1973476 zur traditionellen Begrenzung der Allgemeinheit der Wahl durch das Erfordernis der Sesshaftigkeit als „Negativbeispiel für eine rein historische, zum verfassungsimmanenten ‚Selbstwert‘ stilisierte Auslegung“.477 Er und später auch Dieter Blumenwitz verweisen mit Bezug auf das Traditionsargument beim Wahlrecht auf die Notwendigkeit, die konkreten „Seit-jeher-Argumentationen“ einer sachlich jeweils neuen Überprüfung an der Verfassung zu unterziehen.478 Ebenso hält Wolfgang Schreiber die verfassungsgerichtliche Argumentation aus dem Beschluss vom 23. Oktober 1973 zur Rechtfertigung der Inlandsbindung im Wege zwingender historischer Tradition für nicht befriedigend. Es fehle an Ausführungen sowohl zur Idee und Institution der parlamentarisch repräsentativen Demokratie im Sinne der Grundentscheidungen der Verfassung sowie zu den Grundsätzen und zur Bedeutung des Wahlrechts als eines fundamentalen staatsbürgerlichen Rechts.479 2. Rezeption von Wahlziel und Wahlfunktion Bevor das Bundesverfassungsgericht die demokratische Integrationsfunktion von Wahlen mit seiner Kammerentscheidung aus dem Jahr 1990480 in den Kanon der zwingenden Gründe aufgenommen hatte, erkannte schon Joachim Henkel, dass sich die „Kontrolle der Regierten und ihre Einflußnahme auf die Regieren 473

Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 27. Als zwingender Grund abgelehnt bei Blumenwitz, Wahlrecht, S. 75; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 94 ff.; H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 3 mit Fn. 9; allgemein gegen das Traditionsargument in der Rechtsprechung Blankenagel, Tradition, S. 211 f.; Germelmann, Jura 2014, S. 310 (318); Häberle, ZfP 21 (1974), 111 (126); Leisner, Verfassungsmäßigkeit, S. 43 f. 475 Leisner, Verfassungsmäßigkeit, S. 43 f. 476 BVerfGE 36, 132 ff. 477 Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (126). 478 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 95; Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (126 mit Fn. 97); ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 95 f. 479 Vgl. Schreiber, DÖV 1974, S. 829 (830). 480 BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 474

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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den“ in einer Demokratie „nicht allein durch die Stimmabgabe bei den Wahlen, sondern auch durch unmittelbare oder mittelbare Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten während einer Wahlperiode“ vollziehe. Deswegen könnten Deutsche im Ausland „dazu im Allgemeinen nichts oder nur wenig beitragen“.481 Nach der „Einführung“ eines Auslandsdeutschenwahlrechts durch das 7. BWahlGÄndG 1985 machte Wolfgang Schreiber geltend, dass die „Beteiligung an Wahlen Bestandteil des ständigen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung vom Staatsvolk zu den Verfassungsorganen hin“ sei. Dieser ständige Prozess setze die „kommunikative Teilnahme“ voraus. Staatsbürgern, die nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland lebten, sei „dies grundsätzlich nur beschränkt und, je länger sie außerhalb des Bundesgebietes leben, immer weniger möglich“.482 Die Qualifikation von Auslandsdeutschen als „Aktivbürger“ sei deshalb nur solange gerechtfertigt, als es „gewährleistet erscheint“, dass jene „aufgrund persönlicher oder sachlicher Verbindung zu ihrem Heimatstaat“ am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken können. Dabei unterstellt er  – wie die maßgebliche Gesetzesbegründung483 auch – „daß die früher gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse noch eine gewisse Zeit fortwirken“ und dieser Personenkreis währenddessen „auch von außerhalb noch am politischen Geschehen Anteil“ nehme.484 Diese in der Rechtsprechung mit „Integrationsfunktion“ und „Kommunikationsfunktion“ bezeichneten besonderen Zielsetzungen demokratischer Wahlen485 sind auch im heutigen Schrifttum als Rechtfertigungsgrund für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln überwiegend anerkannt.486 Soweit ersichtlich, besteht diese Anerkennung aber unabhängig von der Positionierung für eine restriktive oder extensive Auslegung des zwingenden Grundes. Ebenfalls nicht immer eindeutig ist die verwendete Terminologie. So sprechen 481

Vgl. Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8 f.) mit Zitat. Anders hingegen noch Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5, der um die gleiche Zeit die deutsche Teilung als hauptmaßgeblichen Grund für die Sesshaftigkeitsklausel gesehen hat und den Ausnahmetatbestand (§ 12 Abs. 2 BWahlG a. F.) mit der damals vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 36, 139 ff. anerkannten Privilegierung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes rechtfertigte, vgl. ders., ebd., Rn. 12. 482 Vgl. Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1434) mit Zitaten. In einem früheren Beitrag meldete Schreiber gegen die Einführung umfassenden Auslandsdeutschenwahlrechts mit Blick auf „den demokratischen Sinn der Wahl“ „verfassungsrechtliche Bedenken an“, vgl. ders., DÖV 1974, S. 829 (831). 483 Vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 10. 484 Schreiber, NJW 1985, S. 1433 (1434) mit Zitaten. 485 Vgl. zurückgehend auf R. Smend, Verfassungsrecht, S. 119 ff. (154); vgl. auch bei BVerfGE 6, 84 (92 f.); 24, 300 (341); 51, 222 (236); 71, 81 (97); 95, 408 (418 ff.). Die Kommunikationsfunktion als Unterfall der wahlrechtlichen Integrationsfunktion genannt bei BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32). 486 Vgl. aktuell etwa P. Müller, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 126; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 13; H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 69; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246); kritisch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 177 ff., 186.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

etwa Martin Kriele und Martin Morlok insbesondere im Zusammenhang mit der Wahlrechtsgleichheit vom „Wahlziel der Funktionsfähigkeit des Parlaments“ als grundrechtsunmittelbarer Schranke,487 ohne dies auf andere „Wahlziele“ allgemein auszuweiten. Generell von „Wahlzwecken“ spricht in anderem Zusammenhang Hans Meyer.488 Joachim Henkel ist hingegen Stichwortgeber für den vom Bundesverfassungsgericht für die Allgemeinheit der Wahl übernommenen Topos489 von den „Funktionen der Wahl“.490 Eine Minderheit im Schrifttum stellt demgegenüber den im Sinne der „Legitimationsfunktion der Wahl“ bewirkten Verantwortungszusammenhang im Wahlrecht heraus.491 Die eigentliche Rechtfertigung einer wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel sei darin zu sehen – und dem entsprächen auch die gesetzgeberischen Erwägungen –, dass sie „ein Mindestmaß an realer Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland wahren soll“.492 Dazu gehöre, dass die „Konsequenzen des eigenen Entscheidungsverhaltens“ von „Wähler[n] wie Gewählte[n]“ zu tragen seien. „Je öfter und weiter formelle Zugehörigkeit […] und materielle Betroffenheit von der Staatsgewalt, auf die mit der Wahlentscheidung Einfluss genommen wird, auseinanderfallen“, desto mehr entspräche es daher „dem Sinn demokratischer Wahlen, die Wahlberechtigung nicht allein an die formelle Zugehörigkeit, sondern darüber hinaus daran anzuknüpfen, dass die Wählenden mit ihrer Wahlentscheidung auf die politische Gestaltung eigener, nicht fremder, Lebensverhältnisse Einfluss nehmen“.493 3. Weitere Auffassungen zu den zwingenden Gründen Eine etwas andere Sicht der Dinge wird von Ingo v. Münch in die Diskussion eingebracht. Er gilt zunächst als Urheber der von Teilen der Literatur übernommenen Anschauung, dass als „zwingender Grund“ jeder „anerkennenswerte wichtige Grund“ in Betracht komme.494 Die daraufhin teilweise gezogenen Schlussfolgerungen zur Anerkennung bestimmter Gründe zur Rechtfertigung der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG teilt v. Münch selbst aber nicht. 487 Kriele, HStR1 V, § 110 Rn. 67; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 101; als „Zweck“ bezeichnet bei Morlok, ebd., Rn. 107; „Wahlziel“ bei BVerfGE 95, 408 (418); dem folgend auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253). 488 H. Meyer, Wahlsystem, S. 121. 489 BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); BVerfGE 132, 39 (50 (32). 490 Vgl. Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8); später auch Frenz, ZRP 1994, S. 91 (93 f.); Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78 f.). 491 Zurückgehend auf das Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (60 ff., 66 Rn. 66) mit Verweis auf BVerfGE 44, 125 (142); vgl. auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (473 ff.). 492 Vgl. Sondervotum Lübbe-Wolff, ebd., S. 64 Rn. 63 mit Verweis auf BT-Drs. 9/1913, S. 10, 14, BT-Drs. 10/2834, S. 27 und BT-Drs. 13/9686, S. 5. 493 Vgl. Sondervotum Lübbe-Wolff, ebd., S. 66 Rn. 66 mit sämtlichen Zitaten. 494 Vgl. oben Nachweis bei Fn. 453.

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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Insbesondere die „Kommunikationsfunktion der Wahl“ begreift er nicht als hinreichend tauglichen Differenzierungsgrund.495 Die „anerkennenswerten wichtigen Gründe“ seien aus seiner Sicht vielmehr allein die folgenden drei: „1. Die geringere Betroffenheit der Auslandsdeutschen durch die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze: da die Gebietshoheit der Bundesrepublik Deutschland auf das Bundesgebiet beschränkt ist, […] wirken viele Gesetze – wegen der Personalhoheit: nicht alle Gesetze – nicht oder nur wenig auf Auslandsdeutsche ein […], 2. die Gefahr von Interessen-(Loyalitäts-)Konflikten, die z. B. bei Gegensätzen zwischen Interessen der Bundesrepublik und des Aufenthaltsstaates des Auslandsdeutschen auftreten; 3. die Vermeidung von Wahlkämpfen im Ausland, die zu außenpolitischen Verwicklungen führen könnten.“496 Diese Auffassung traf in der übrigen Literatur zumindest teilweise auf Zustimmung. So meint etwa Thomas Spies, dass „[n]ur derjenige, der die Folgen seiner politischen Entscheidung mittragen müsse, sich letztere auch genügend überlege“.497 Joachim Henkel fügte mit Blick auf die demokratischen Kontrollfunktionen des Volkes an, dass zu den Regierten nur zählen könne, wer durch die Maßnahme der Regierenden betroffen sei. Er unterstützt auch das Argument bezüglich der Gefahr kollidierender Staatsbürgerpflichten.498 In der Rechtsprechung aber fand diese Anknüpfung an die zuerst bei v. Münch formulierten Tatbestände keine Aufnahme. Vielmehr lässt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012 ausdrücklich offen, „ob der vollständige oder teilweise Ausschluss von Auslandsdeutschen vom aktiven Wahlrecht unter Verweis auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten oder potenziellen Interessen- oder Loyalitätskonflikten gerechtfertigt werden“ könne.499 Angeregt durch das Sondervotum der Richterin Gertrude Lübbe-Wolff erlangt das Kriterium der Betroffenheit gleichwohl zumindest bei Teilen der neueren Literatur500 erneut Aufmerksamkeit. Über diese Argumente hinaus werden schließlich teilweise auch die Erfordernisse der Wahltechnik als zwingender Grund genannt. Hier diene die Inlandsbeschränkung des Wahlrechts zumindest auch dazu, die doppelte Ausübung des Stimmrechts verwaltungspraktisch zu verhindern.501

495

v. Münch, in: ders / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11. v. Münch, in: ders / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11, Hervorhebung im Original. 497 Vgl. Spies, Schranken, S. 62. 498 Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8 f.). 499 BVerfGE 132, 39 (52 Rn. 38). 500 Vgl. BVerfGE 132, 39 (60 Rn. 59 ff.); darauf Bezug nehmend etwa Felten, DÖV 2013, S. 466 (473 ff.). 501 So Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74 mit Verweis auf die Rspr. zum Auslandsdeutschenwahlrecht bis zur Kammerentscheidung BVerfG, NJW 1991, S. 689 f. in Fn. 186; ebenso Spies, Schranken, S. 62. 496

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

4. Auswertung und offene Fragen Nach diesem Meinungsüberblick bleibt hier festzuhalten, dass sich eine all­ gemeine Tendenz für oder gegen eine restriktive bzw. extensive Auslegung der „zwingenden Gründe“ zur verfassungsmäßigen Rechtfertigung von Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl nicht ausmachen lässt. Erschwerend tritt hinzu, dass auch die Vertreter einer restriktiven Auslegung, wonach die Rechtfertigung allein durch verfassungsrangige Rechtsgüter erfolgen soll, keine klare inhaltliche Abgrenzung zur Gegenauffassung vornehmen, die von einem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Sachbereich der Wahlen ausgeht. Sehr deutlich wird dieses Dilemma exemplarisch an den Ausführungen von Martin Morlok und Peter Müller. So erkennt Morlok als Vertreter einer vorsichtigen Interpretation der „zwingenden Gründe“502 zunächst zwar an, dass „keine Bestimmung im Grundgesetz die Wohnsitznahme im Bundesgebiet verlangt oder zur Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts macht“. Sodann führt er aber aus, dass trotzdem „die Seßhaftigkeit im Bundesgebiet als Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts gemacht werden“ könne.503 Er begründet seine Auffassung damit, dass „die Ausübung des Wahlrechts eine gewisse Vertrautheit mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik“ voraussetze. Zum Beleg dafür verweist Morlok auf die hier bereits vorgestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In diese Richtung stößt auch P. Müller, der in der im Jahr 2018 erschienenen Neuauflage des Grundgesetzkommentar von Herman v. Mangoldt, Friedrich Klein und Christian Starck Beschränkungen des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl nur durch konkurrierende Verfassungswerte gerechtfertigt sieht.504 P. Müller bezieht damit die Gegenposition zu der von Norbert Achterberg und Martin Schulte noch in der Vorauflage des Kommentars im Jahr 2010 vertretenen Auffassung, wonach bereits jeder anerkennenswerte wichtige Grund für Beschränkungen im Wahlrecht ausreichend505 sein soll. Wie in der Vorauflage hält allerdings auch P. Müller die Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG für mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl vereinbar,506 allerdings nun mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl. Zum eben dargestellten Meinungsbild ist zunächst kritisch anzumerken, dass die Rechtsprechung das Wohnsitzerfordernis, wie gesehen, nicht als formelles Wahlausübungskriterium verstanden hat, sondern stets und zutreffend als ma 502

Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65. Sämtliche Zitate bei Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74, Hervorhebung durch den Verfasser. In diese Richtung auch H. Meyer, JZ 2016, S. 121 (125). 504 Vgl. P. Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 129. 505 Dies., in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120. 506 Vgl. P.  Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 132 mit Fn. 376; ebenso Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 121. 503

3. Kap.: Rechtfertigungsansätze in Rechtsprechung und Literatur

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terielles Ausschlusskriterium der Wahlberechtigung erkennt. Darüber hinaus zeigen die eben dargestellten Auffassungen, dass die Sesshaftigkeitsklausel als Differenzierungskriterium zur Verwirklichung der Wahlziele bzw. zu dem „Sinn demokratischer Wahlen“ von Vertretern beider Lager anerkannt wird,507 also unabhängig davon, ob sich die „zwingenden Gründe“ unmittelbar aus Rechtsgütern der Verfassung herleiten lassen müssen oder ob darüber hinaus schon jeder anerkennenswerte wichtige Grund hinreichend sei. In diesem Zusammenhang muss freilich die Ablehnung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl als „zwingender Grund“ bei v. Münch trotz seines diesbezüglich eher weiten Begriffsverständnis (jeder anerkennenswert wichtige Grund) überraschen.508 Warum aber sogar bei einem großzügigen Verständnis der zwingenden Gründe gerade dieses Argument nicht tragend sein soll, obgleich es selbst bei einigen Vertretern der „engen Lehre“ zumindest grundsätzlich anerkannt ist, wird nicht deutlich.509 So ist die Fixierung der jeweiligen Positionen zur Reichweite der Rechtfertigungsformel für die Zulässigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln aus „zwingenden Gründen“ nahezu unmöglich – und damit auch unbehelflich. III. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich daher an dieser Stelle festhalten, dass die jeweilige Auffassung in der Literatur dazu, ob der jede wahlrechtliche Differenzierung tragende „zwingende Grund“ allein den Schutz verfassungsrechtlich fundierter Rechtsgüter zu seinem Gegenstand haben muss oder ob es schon ausreicht, wenn er „anerkennenswert und wichtig“ sei, in der Sache überhaupt keinen Einfluss darauf hat, welche Gründe konkret hinreichen, Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl zu rechtfertigen. An der Behandlung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl wird das Dilemma deutlich. Diese wird zwar von der überwiegenden Mehrheit der Literatur in Übereinstimmung mit der neueren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als möglicher „zwingender Grund“ anerkannt. Ein konkreter Zusammenhang zur jeweils konkreten Lehrmeinung zur Reichweite zwingender Gründe ist aber nicht ersichtlich. Darüber hinaus offenbart sich eine weitere Unklarheit. An keiner Stelle wird von den jeweiligen Vertretern näher ausgeführt, ob und, wenn ja, wie weit die „Vertrautheit mit den Verhältnissen“ überhaupt vom Demokratieprinzip selbst verallgemeinerungsfähig voraus­

507 So neben Morlok etwa auch von Blumenwitz, Wahlrecht, S. 75 ff. Beide stehen für eine strenge Auslegung des Begriffs „zwingender Grund“, im Übrigen vgl. Nachweise bei Fn. 486. 508 Vgl. oben, Nachweis bei Fn. 495. Die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen steht in engem Zusammenhang mit der Kommunikationsfunktion der Wahl, vgl. nur BT-Drs. 17/11820, S. 4 f.; ebenso 9/1913, S. 10. 509 Ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 178 mit Fn. 944: „schwer verständlich, warum v. Münch […] dieses Kriterium als ein nicht hinreichendes bezeichnet“ (Hervorhebung im Original).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

gesetzt wird. Das diesbezügliche Problembewusstsein tritt nur selten an den Tag.510 Insbesondere auf diese Fragen ist daher bei der Bewertung der Integrations- und Kommunikationsfunktion als Wahlziel zur Rechtfertigung von Sesshaftigkeitsklauseln noch näher einzugehen.511

E. Zwischenergebnis Während über die positive Umschreibung der im Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verankerten Garantie der Wahlteilhabe grundsätzlich aller Staatsbürger in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Einigkeit besteht, ist die von der Rechtsprechung entwickelte Formel vom zwingenden Grund als Rechtfertigungstatbestand wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln aus sich heraus nicht eindeutig. Sie lässt schon keine Rückschlüsse auf die dogmatische Anknüpfung an den sie umgebenden verfassungsrechtlichen und „textlichen“ Kontext zu. Offen ist insbesondere die konkrete Reichweite der Normsetzungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Wahlzugangsberechtigung einerseits, bei der Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze andererseits.512 Einigkeit besteht insoweit dahingehend, dass gruppenspezifische Merkmale keine tauglichen Anknüpfungspunkte für Wahlrechtsbeschränkungen bilden können. Darüber hinaus aber bleibt völlig im Dunkeln, welche konkreten Gründe zur Einschränkung des Wahlrechts auf der Basis der bislang geübten Formelpraxis vom „zwingenden Grund“ herangezogen werden dürfen. Hier ist insbesondere der Umgang mit den maßgeblichen Begriffen unklar. Zwar lassen sich in der Rechtswissenschaft prinzipiell zwei Lager ausmachen. Die Vertreter einer restriktiven Gestaltungsbefugnis wollen zur Einschränkung des Wahlrechts nur Gründe von Verfassungsrang gelten lassen. Die Gegenauffassung erachtet demgegenüber jeden „anerkennenswert wichtigen Grund“ für diesbezüglich ausreichend. Die Bestimmung der Wortbedeutungen ist jedoch diffus. Aus der jeweiligen Grundentscheidung für die eine oder die andere Auslegungsvariante lässt sich nicht entnehmen, wie sich die jeweilige Zuordnung bei der Beurteilung konkreter Rechtfertigungsgründe inhaltlich auswirkt. Eine begriffliche Abgrenzung erfolgt allein über die Aufzählung der bisher für zulässig erachteten Beschränkungsgründe im Einzelfall und entbehrt damit jeder dogmatischen Nachvollziehbarkeit. Weiter besteht in Literatur und Rechtsprechung zumindest überwiegend Einigkeit darüber, dass die mit der Wahl verbundenen Ziele und Funktionen Eingang in die Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen finden können. Konkret identi 510 In diese Richtung auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (474); zweifelnd auch Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 304). 511 Vgl. dazu unten Erster Teil 5. Kapitel C. 512 Der in BVerfGE 132, 39 (47 f. Rn. 25), erstmals mit dem Umkehrschluss aus Art. 38 Abs. 2 GG zur Festsetzung des Wahlalters unternommene Erklärungsversuch überzeugt aus sich heraus jedenfalls nicht, näher vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 3. b).

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

101

fiziert wurden die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl sowie die Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Über diesen funktionsbezogenen Ansatz hinaus aber herrscht Unsicherheit und Dissens sowohl über die Reichweite der gesetzgeberischen Differenzierungsbefugnis als auch über die Bestimmung weiterer einschränkender Gründe. Schlussendlich überhaupt nicht geklärt sind Inhalt und dogmatische Grundlage der wiederum nahezu einhellig513 befürworteten Anknüpfung des aktiven Wahlrechts an die „Vertrautheit mit den Verhältnissen“ als gesetzgeberischem Grund- und Leitgedanken. All diese Fragen bedürfen nachstehend einer eingehenderen Begutachtung. 4. Kapitel

Grundlegende Bewertung und Kritik A. Allgemeinheit der Wahl Die hier wesentlichen Elemente der Garantie der Allgemeinheit der Wahl wurden bereits oben ausgeleuchtet.514 Hinsichtlich der Bewertung der o. g. Defi­ nitionsansätze ist der neueren Rechtsprechung und den Stimmen in der Literatur zuzustimmen, wonach der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl das verfassungsrechtliche Gebot enthält, dass „alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben sollen können“.515 Die in dieser Formal enthaltene positive Umschreibung des Kreises der Wahlberechtigten bringt besser und umfassender als die negativ formulierten Abgrenzungsversuche zum Ausdruck, dass die Allgemeinheit der Wahl definiert ist als die Gleichheit bezüglich der Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden.516 Das schließt auch den gleichen Zugang zur Wahl mit ein.517 Die frühen Abgrenzungsversuche des Bundesverfassungsgerichts reichen je für sich hingegen nicht aus, den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl präzise zu bestimmen. So ist die Unterscheidung nach gruppenspezifischen Merkmalen518 zwar auch aktuell noch relevant, greift für eine allgemeinverbindliche Definition jedoch zu kurz, wie das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen auch selbst anerkannt hat. Das später in der Rechtsprechung statuierte „Verbot des Ausschlusses von Staatsbürgern über-

513

Soweit ersichtlich stellte sich dem nur v. Münch, in: ders / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11, ausdrücklich entgegen. 514 Oben Erster Teil 3. Kapitel A. 515 So etwa BVerfGE 51, 222 (234); 78, 350 (357); 85, 264 (315); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 68. 516 So auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 13. 517 Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 19; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81; Blumenwitz, Wahlrecht, S. 85. 518 Vgl. BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166 f.).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

haupt“519 fordert vom Gesetzgeber nur ein einfaches Unterlassen.520 Demgegenüber geht die aktuelle Rechtsprechung davon aus, dass der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl die aktive und passive Wahlberechtigung grundsätzlich aller Staatsbürger gewährleistet.521 Diese Formulierung verhilft dem tragenden Gedanken der Allgemeinheit der Wahl, nämlich die „Sicherung der vom Demokratieprinzip vorausgesetzten Egalität der Staatsbürger“522 am besten zur Geltung.523 Gleichzeitig verdeutlicht sie für den Gesetzgeber den erhöhten Rechtfertigungsdruck, soweit er den dauerhaft im Ausland lebenden Deutschen die Wahlteilnahme zum Deutschen Bundestag in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG grundsätzlich versagt. Im Folgenden ist die personale Reichweite der Gewährleistung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl weiter zu konkretisieren (I.). Im Zuge dessen sind auch die oben bereits aufgeworfenen Fragen524 zum Verhältnis der Begriffe Staatsangehöriger und Staatsbürger und deren Bezug zur Wohnsitzbindung als Wahlrechtsbedingung zu klären. Daran anschließend wird geprüft, ob die Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG den vom Bundesverfassungsgericht formulierten „gruppenspezifischen Charakter“ in sich trägt und möglicherweise schon deshalb mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unvereinbar ist (II). I. Beschränkung des Wahlrechts auf deutsche Staatsbürger Die bislang in den Blick genommenen Definitionsansätze zur Allgemeinheit der Wahl beziehen deren sachlichen Schutz nicht auf deutsche Staatsangehörige oder Statusdeutsche i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG,525 sondern auf „Staatsbürger“. Die vorwiegend in der Rechtsprechung,526 teilweise auch in der Literatur,527 im Zusammenhang mit der Allgemeinheit der Wahl gebrauchte Terminologie führt zu der Frage, ob die Unterscheidung von Staatsbürgern und Staatsangehörigen (resp. „Deutscher“) für das Wahlrecht der dauerhaft im Ausland lebenden Deutschen zum Deutschen Bundestag erheblich ist (1.) und ob dem Wohnsitz im Inland dabei möglicherweise Bedeutung zukommt (2.).

519

BVerfGE 36, 139 (141). BVerfGE 12, 139 (142); kritisch auch Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (101 f.). 521 So etwa BVerfGE 51, 222 (234); 78, 350 (357); 82, 322 (337); 85, 264 (315). 522 Vgl. BVerfGE 99, 1 (13); 132, 39 (47 Rn. 24). 523 Auf dieses Begründungsdefizit in den früheren Entscheidungen bereits hinweisend Schreiber, DÖV 1974, S. 829 (830). 524 Erster Teil 3. Kapitel A. II. 525 Zum Unterschied beider Begriffe H. Meyer, JZ 2016, S. 121 (123). 526 Vgl. etwa BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205); 99, 1 (14); 132, 39 (47 Rn. 24). 527 Vgl. insbesondere Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 59; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 68; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 303 f.); auch Breer, Mitwirkung, S. 48 f. 520

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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1. Staatsangehöriger und Staatsbürger In früheren Rechtsordnungen war die Staatsbürgerschaft von der Staatsan­ gehörigkeit teilweise selbstverständlich getrennt. Letztere vermittelte dem Einzelnen ganz generell die Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk und bezeichnete damit die Eigenschaft, zum Mitgliedsverband eines Staates zu gehören.528 Die Staatsbürgerschaft war demgegenüber „der allgemeine Staatsstand“, der „die politische und die Staatswillensbildung aktiv betreibt“. So ist der Staatsbürger in „staats­ systematischer Hinsicht […] Konstitutions- und Integrationselement des politischen Gemeinwesens in seiner konkreten Form.“529 Gemeint ist der „Inbegriff konkret umschriebener Rechte oder, seltener, auch Pflichten, der Eingeborenen eine Vorrechtstellung vor Fremden garantiert“.530 Damit ist die Staatsbürgerschaft „das konkrete Rechtsinstitut, durch das der einzelne Staatsangehörige in den konkreten Wirkungszusammenhang des Staates mitwirkend mit einbezogen“ wird. Die Staatsangehörigkeit ist also „eine selbstverständliche Grundvoraussetzung der Staatsbürgerschaft“.531 Dieses hergebrachte Begriffsverständnis vom „Staatsbürger“, dem „Citoyen“, geht auf Immanuel Kant zurück, der die mit der Staatsbürgerschaft verbundene „Aktivbürgerschaft“ allein als Teilhabe an der Staatswillensbildung begriffen hat.532 Auch das Wahlrecht kam demnach nur den Staatsbürgern zu. Im Grundgesetz und den Verfassungen der Länder erfährt der Staatsbürgerbegriff teilweise eine andere Bedeutung. Hier wird er mit der Staatsangehörigkeit oft synonym verwendet. So soll insbesondere Art. 33 Abs. 1 GG nicht nur republikanische, sondern sämtliche Rechte und Pflichten eines Deutschen umfassen, um die Gleichbehandlung in den Ländern zu gewährleisten.533 Die synonyme Verwendung von Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit fand sich auch schon in Art. 3 Abs. 1 der Reichsverfassung vom 16. April 1871.534 Demgegenüber unterscheidet etwa die Verfassung des Freistaats Bayern vom 2. Dezember 1946535 in ihren Art. 6 und 7 zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Letztere kommt hier nicht durch staatlichen Hoheitsakt, sondern automatisch beim Eintritt 528

Zu den insoweit differenzierten Anschauungen vgl. Renner, in: Hailbronner / ders. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht4, Grundlagen C, Rn. 2 ff.; andere sehen in der Staatsangehörigkeit lediglich ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis des Einzelnen zu seinem Staat, vgl. etwa Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 16 Rn. 10, 13. Die genaue Qualifizierung der Angehörigenbeziehung ist für die vorliegende Bearbeitung aber unerheblich. 529 Vgl. mit Zitaten Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 56. 530 Vgl. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 179 mit Zitat. 531 Vgl. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 56, 57. 532 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46. Daran knüpft auch das Verständnis der Aktivbürgerschaft unter Geltung von Art. 1 WRV an, vgl. Sartorius, in: Anschütz / T homa (Hrsg.), Handbuch I, § 24 S. 281. 533 Vgl. Badura, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 33 Rn. 6; Sachs, AöR 108 (1983), S. 68 (76 f.) m. w. N. 534 RGBl. S. 63, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 261 (Nr. 218), Hinweis auch bei Sachs, AöR 108 (1983), S. 68 (76); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 147. 535 GVBl. S. 333 ff.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

normativ vorbestimmter Umstände, in Bayern etwa die Vollendung des 21. Lebensjahres, zustande. Von staatsbürgerlichen Rechten spricht auch Art. 74 der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946536 sowie Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953.537 Auch wenn das Grundgesetz eine Trennung zwischen der bloß „schlichten“ Mitgliedschaft im Staatsverband und dem daraus erwachsenden „staatsbürgerlichen Gesamtstatus“ an keiner Stelle ausdrücklich unternimmt, werden neben dem Wahlrecht des Art. 38 GG auch die Amtsfähigkeit nach Art. 33 Abs. 2 GG der „Staatsbürgerschaft“ zugerechnet.538 Letztlich ist eine eindeutige Kontinuität im Verständnis der Staatsbürgerschaft in den verschiedenen Verfassungsordnungen wie aufgezeigt nicht greifbar. Deshalb muss die sinngebende Bedeutung des Staatsbürgerbegriffs im Wahlrecht anhand der einschlägigen Verfassungsnormen im Grundgesetz eigens herausgearbeitet werden. Das Subjekt jedweder demokratischen Staatsordnung ist „das Volk“. Im Hinblick auf die demokratische Legitimation stehen die Bestimmungen des Art. 38 Abs. 1 GG und des Art. 20 Abs. 2 GG in einem engen Zusammenhang. Allein „das Volk“ des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist Träger der Staatsgewalt und Quelle ihrer Legitimation.539 Es ist dies das verfasste deutsche Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland, bestehend aus der Gesamtheit aller Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG.540 Damit sind alle deutschen Staatsangehörigen Träger der Staatsgewalt, und zwar unabhängig von deren Wohnsitz oder Aufenthalt im In- oder im Ausland. Doch antwortet dieser Befund noch nicht auf die Frage nach dem Verhältnis von Staatsangehörigen und Staatsbürgern im Wahlrecht. Denn ohne Zweifel gehören etwa auch alle unter Achtzehnjährigen sowie die unter Kuratel stehenden Deutschen zum deutschen Volk i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Über die Rolle der Staatsbürgereigenschaft im Wahlrecht könnte allein die Regel über die Ausübung jener Staatsgewalt541 Aufschluss geben. Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG übt „das Volk“ die Staatsgewalt namentlich durch „Wahlen und Abstimmungen“ aus. Artikel 38 Abs. 2 GG selbst konzentriert die aktive Wahlberechtigung und damit die Mitwirkungsbefugnis an der Ausübung der Staatsgewalt von vornherein auf alle über achtzehnjährigen deutschen Staatsangehörigen. § 13 BWahlG formuliert darüber hinaus weitere Kriterien zum Ausschluss bestimmter Gruppen vom Wahl-

536

GVBl. I S. 229, berichtigt GVBl. 1947, S. 106. GVBl. S. 173. 538 Vgl. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 57. 539 Vgl. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 28; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 20 Rn. 4. 540 BVerfGE 83, 37 (51); ebenso Breer, Mitwirkung, S. 69; Böckenförde, HStR3 II, § 24 Rn. 26; Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 208; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 148. 541 Breer, Mitwirkung, S. 63. 537

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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recht.542 Diese Konkretisierungen wirken auf das mit der Ausübung der Staatsgewalt betraute „Volk“ nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zurück. Die unmittelbare Mitwirkung des Volkes an der Formung des Staatswillens geschieht ausschließlich im Rahmen der durch ein geordnetes Wahlverfahren konstituierten rechtsförmigen Entscheidung.543 Hieran ist von vornherein nicht jeder Deutsche teilhabeberechtigt. Damit lässt sich jedenfalls festhalten, dass der jeweilige Personenkreis des in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG angesprochenen „Volkes“ nicht identisch, sondern allenfalls teilidentisch ist.544 Wegen der unterschiedlichen Regelungsgehalte beider Sätze schließt sich die weitergehende Frage an, ob die Sätze 1 und 2 des Art. 20 Abs. 2 GG in Bezug auf das Wahlrecht von unterschiedlichen Volksbegriffen ausgehen. Wenn zwischen Trägerschaft der Staatsgewalt und Ausübung der Staatsgewalt begrifflich zu trennen ist, so könnte sich Satz 2 im Unterschied zu Satz 1 nur auf jenen Teil des deutschen Staatsvolkes beziehen, dem die politischen, namentlich staatsbürgerlichen Rechte zustehen, mithin: die statusrechtlich „Aktivbürger“ sind.545 Damit würde Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Trägerschaft der Staatsgewalt (jeder Deutsche) regeln, während Satz 2 deren Ausübung durch das Volk als Staatsorgan in Wahlen bestimmt (jeder Aktivbürger).546 Dennoch käme dem einschränkenden Volksbegriff des Satz 2 im Zusammenhang mit der Volkseigenschaft nach Satz 1 zumindest qualitativ keine eigenständige Wirkung zu. Der aktivbürgerschaftliche Status ist an die Wahlberechtigung geknüpft. Deren Voraussetzungen sind in Art. 38 Abs. 2 GG grundlegend geregelt. Genau genommen handelt es sich bei Art. 38 Abs. 2 GG also gar nicht um eine Einschränkung des Wahlrechts. Das allgemeine Wahlrecht ist vielmehr ein grundrechtsähnliches Recht, das von vornherein begrenzt ist. Die verfassungsrechtlichen „Wahlrechtsbegrenzungen“ der Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Art. 38 Abs. 2 GG gehen in der Bestimmung des spezifisch wahlrechtlichen

542

Wenngleich diese bezogen auf § 13 Nr. 2 und 3 a. F. BWahlG vom Bundesverfassungsgericht jüngst beanstandet worden sind, vgl. oben, Fn. 95. 543 Isensee, HStR3 II, § 15 Rn. 157. 544 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 150; in diese Richtung auch Badura, AöR 97 (1972), S. 1 (5). 545 Grzeszick, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. III, Art. 20 II Rn. 79 mit Verweis auf BVerfGE 68, 1 (88); H. H.  Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 140; Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 20 Rn. 24; Schreiber, DVBl. 2004, S. 1341 (1344 f.); ungenau bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (6), der dem „repräsentierten Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG“ die Rolle des „pouvoir constituant“ zuschreibt, das mit dem „Volk“ „in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG als Inhaber des pouvoir constituté (Wahlvolk)“ nicht identisch sei (Hervorhebung im Original). Eine solche Auslegung der Vorschrift ist abzulehnen. Auch Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG hat nicht das „verfassungsgebende Volk“ im Blick, sondern das bereits „verfasste Volk“. 546 Vgl. statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 86, 94; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 28; Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 148 ff.

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Begriffs „Staatsbürger“ vollständig auf.547 Mithin setzt das Wahlrecht die Aktivbürgerschaft nicht voraus, sondern konstituiert diese unmittelbar selbst. Damit ist aber noch kein eigenständiger Volksbegriff geschaffen.548 Soweit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die „Aktivform des Volkssouveräns“ in den Blick nimmt, konkretisiert er Satz 1 im Hinblick auf die grundlegende Entscheidungsbefähigung des Staatsvolkes als Träger der Staatsgewalt. So erfährt der Grundsatz der Volkssouveränität nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG (nur) seine nähere Ausgestaltung.549 Doch ist allein die Bestimmung dieser Entscheidungsbefähigung Gegenstand des Wahlrechtsartikels. Der Zweck der Wahlgrundsätze liegt in der „Realisierung der Volkssouveränität“550. Damit kann sich auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl von vornherein nur auf den aktivbürgerschaftlichen Status i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG beziehen.551 2. Staatsbürgerschaft und Wohnsitz im Inland An dieser Stelle erhebt sich die Frage, ob die Staatsbürgerschaft, auf die sich der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl bezieht, neben dem Wahlalter auch durch einen räumlichen Bezug zum Inland konstituiert wird. Zwar gibt es keine Verfassungsnorm, die die Wohnsitznahme im Bundesgebiet verlangt oder zur Ausübung des Wahlrechts bedingt.552 Dennoch könnte sich die Notwendigkeit eines Inlandsbezugs im Hinblick auf die staatsbürgerliche Gewährleistung des Wahlrechts aus unabweisbaren Gehalten des Demokratieprinzips ergeben. Dieser Gedanke kann mit Blick auf die Diskussion um das Minderjährigenwahlrecht erhellt werden, die im Zusammenhang mit der Gleichheit der Wahl553 geführt wird. Das in Art. 38 Abs. 2 GG statuierte Wahlalter ist in seinem Bestand zwar verfassungsrechtlich garantiert, jedoch einer Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht grundsätzlich entzogen. Es hat nicht Teil an dem gemäß Art. 79 Abs. 3 GG gewährleisteten „unantastbaren Kerngehalt“554 des Demokratieprinzips. Dieser Befund wird selbst von den Kritikern eines Kinder- und Familienwahlrechts über-

547

Ebenso Breer, Mitwirkung, S. 48 f.; Schroeder, JZ 2003, S. 917 (919); Oebbecke, JZ 2004, S. 987 (988). 548 Anders Schreiber, DVBl. 2004, S. 1341 (1345): „unterschiedliche Volksbegriffe“. 549 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 93; in diese Richtung auch Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 206. 550 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 93; vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), ebd., Art. 38 Rn. 68. 551 Breer, Mitwirkung, S. 48, a. A. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 150, 152. 552 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74. 553 Oebbecke, JZ 2004, S. 987 (988). 554 Insoweit legt das Bundesverfassungsgericht Art. 79 Abs. 3 GG im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Norm eng aus, vgl. BVerfGE 30, 1 (24); 84, 90 (121); 94, 49 (103).

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wiegend anerkannt555 und bedarf angesichts der Zielstellung dieser Untersuchung keiner näheren Erörterung. Dennoch lassen sich aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG Gehalte entnehmen, die auch ohne eine verfassungsrechtliche Vorgabe ein gesetzliches Mindestwahlalter erfordern. Dazu zählt etwa der mit der Wahl bewirkte Legitimationszusammenhang zwischen Volk und Staatsorganen.556 Ein solcher geriete in arge Bedrängnis, wenn ein Teil der zur Wahl Berechtigten typischerweise gar nicht in der Lage wäre, sich am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen. Das Bundesverfassungsgericht erachtet deshalb u. a. die freie und möglichst gut informierte öffentliche Meinung für den Bestand eines demokratischen Staates für unabdingbar. Die freie Diskussion sei das eigentliche Fundament der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung.557 Dementsprechend setze das demokratische Prinzip die politische Einsichtsfähigkeit des Wahlvolkes voraus,558 die ungeachtet jeder positivrechtlichen Sicherung in der Verfassung oder im BWahlG mittels Mindestwahlalter erst zur Stimmabgabe befähigt.559 Dieser Befund wird hier in anderen Zusammenhängen noch genauer auseinandergesetzt.560 An dieser Stelle bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die in Art. 38 Abs. 2 GG verankerte Altersbeschränkung wiewohl auch jede verfassungsrechtliche oder gesetzgeberische Neuregelung zum Wahlalter kein Selbstzweck ist, sondern für die Verwirklichung des durch die Wahl bewirkten demokratischen Legitimationszusammenhangs unabdingbar sein muss. Eine Übertragung dieser Grundsätze auf das Erfordernis eines Inlandswohnsitzes als immanente Bedingung der wahlrechtlichen Staatsbürgereigenschaft, auf die sich die Allgemeinheit der Wahl bezieht, kommt hingegen nicht in Betracht. Während das Wahlalter mit der Sicherung der für die demokratische Wahl erforderlichen politischen Reife des Wahlvolkes nach hier vertretener Auffassung schlechthin konstituierend für die wahlrechtliche Staatsbürgerschaft ist,561 trifft dies auf den festen Wohnsitz im Inland nicht zu. Insbesondere der Bestand des demokratischen Legitimationszusammenhangs zwischen Volk und Staatsorgan reicht über die Landesgrenzen hinaus und ist nicht zwingend vom festen und dauerhaften Wohnsitz im Inland abhängig. Der gelegentliche Hinweis auf die Betroffenheit

555

Vgl. etwa Schroeder, JZ 2003, S. 917 (920 f.); Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (44 f.); jeweils m. w. N. auch Oebbecke, JZ 2004, S. 987 (988 f.); Wernsmann, Der Staat 44 (2005), S. 44 (56 f.). 556 BVerfGE 89, 155 (185); dazu näher Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 83; Badura, HStR3 II, § 25 Rn. 27 ff., 34 f. 557 BVerfGE 27, 71 (81); 35, 292 (221); 90, 1 (21). 558 Schroeder, JZ 2003, S. 917 (921). 559 BVerfGE 42, 312 (340 f.); Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 45. 560 Vgl. zur Integrationsfunktion der Wahl unten Erster Teil 5. Kapitel C. I.; Wahlalter zur Sicherung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland Erster Teil 5. Kapitel E. II. 1. 561 Vgl. wie eben Erster Teil 4. Kapitel A. I. 1.

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von inländischen Hoheitsakten als Legitimationsbedingung der Wahl562 geht fehl. Einzuwenden ist, dass die Pflicht zur Befolgung staatlicher Normen nicht durch die Zuerkennung politischer Mitwirkungsrechte kompensiert wird, sondern durch den Schutz, den die Rechtsordnung jedem von der Hoheitsgewalt Betroffenen gewährt.563 Der dauerhafte Auslandsaufenthalt deutscher Staatsangehöriger ändert grundsätzlich auch nichts an deren politischer Einsichtsfähigkeit und Reife, was im Zuge der Diskussion um das Wahlalter den Ausschlag gab. Davon zu trennen ist freilich die an anderer Stelle zu klärende Frage,564 ob der Gesetzgeber an die politische Kommunikations- und Teilhabemöglichkeit mittels einer Sesshaftigkeitsklausel gesteigerte Anforderungen stellen darf, die im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl als ein zwingender Beschränkungsgrund gerechtfertigt sein könnten. Dass sich der Schutz der Allgemeinheit der Wahl jedoch von vornherein nur auf die im Inland sesshaften Staatsbürger beziehen soll, findet im Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG keine Stütze und wird soweit ersichtlich auch nirgends vertreten. 3. Zwischenergebnis Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gewährleistet das materielle Wahlrecht aller Deutschen, die am Wahltag das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Dabei spricht die Verfassung nirgends das Erfordernis eines dauernden Inlandswohnsitzes oder -aufenthalts aus, um in den Genuss des Wahlrechts zu gelangen.565 In der Konsequenz enthält auch der wahlrechtliche Begriff des Staatsbürgers keine weitergehende Beschränkung als die, die er durch Art. 38 Abs. 2 GG selbst erfährt. Dies ist auch folgerichtig, da andernfalls die Gefahr bestünde, über die Verwendung eines nach weiteren Merkmalen qualifizierten Staatsbürgerbegriffes bereits auf Schutzbereichsebene der Allgemeinheit der Wahl Einschränkungen zu legitimieren, die dem Erfordernis der „zwingenden Gründe“ auf Rechtfertigungsebene nicht standhalten könnten. Jegliche weitere wahlrechtliche Differenzierung der Deutschen mit aktivbürgerschaftlichen Status durch den Gesetzgeber, bedarf jeweils eines konkreten qualifizierten Grundes. Für die dauerhaft im Ausland lebenden Deutschen gilt insofern nichts anderes. Die Staatsbürgerschaft nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 38 Abs. 2 GG wird solange durch den Fortzug in das Ausland nicht beeinträchtigt, wie die Staatsangehörigkeit nach Art. 116 Abs. 1 GG und den einfachgesetzlichen Vorschriften des

562

Vgl. etwa m. w. N. Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (7); zur Diskussion auch Schroeder, JZ 2003, S. 917 (921). 563 Isensee, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (94); Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (44). 564 Vgl. dazu ausführlich unten Erster Teil 5. Kapitel. 565 Jedenfalls in Bezug zur Ausübung des Wahlrechts Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74.

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Staatsangehörigkeitsgesetzes noch besteht.566 Ein besonderer räumlicher Bezug der Staatsbürgereigenschaft zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland wird durch das Grundgesetz nirgends konstituiert oder vorausgesetzt. So erfüllen auch die dauerhaft im Ausland sesshaften Deutschen die in der Verfassung niedergelegten Wahlrechtsvoraussetzungen und stehen damit aus verfassungsrechtlicher Sicht den inlandsdeutschen Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland prinzipiell gleich. II. Wohnsitzklauseln als verbotene gruppenspezifische Differenzierung? Im Weiteren ist der Frage nachzugehen, ob die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG statuierte Wohnsitzklausel ein gruppenspezifisches Merkmal ist, das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl von vornherein nicht rechtfertigungsfähig wäre. Demnach ist es dem Gesetzgeber verboten, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen vom Wahlrecht auszuschließen.567 Diese Aussage traf wegen ihrer unklaren Kennzeichnung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl in der rechtswissenschaftlichen Literatur, wie dargelegt, auf Kritik und spielt in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht jedenfalls keine zentrale Rolle mehr.568 Allerdings ist auf zwei Punkte hinzuweisen, die zunächst bei der Einordnung dieser Verfassungsrechtsprechung behilflich sein könnten (1), bevor Rückschlüsse auf die wahlrechtliche Sesshaftigkeit gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zu ziehen sind (2). 1. Aussage des Verbots gruppenspezifischer Merkmale im Wahlrecht Das an den Gesetzgeber adressierte Verbot, bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Wahlrecht nach gruppenspezifischen Merkmalen auszuschließen, impliziert zunächst das bloß formale Verständnis eines gleichen Wahlrechts für alle Bürger, das aus der Zugehörigkeit zum Staatsvolk resultiert und im Grundsatz weder weitere Voraussetzungen noch weitere Differenzierungen zulässt.569 Im Anwen 566 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den mit Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts v. 15.7.1999 (BGBl. I S. 1618) neu eingeführten Generationenschnitt gemäß § 4 Abs. 4 StAG, wonach der Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit für die Kindergeneration der nach dem 31.12.1999 im Ausland geborenen deutschen Elterngeneration ein Tätigwerden vor den zuständigen Auslandsvertretungen erfordert, vgl. dazu näher unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 2. b). 567 Vgl. BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166 f.); 58, 202 (205); 59, 119 (125). 568 Gramlich, JA 1986, S. 129 (131); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 143; näher Erster Teil 3. Kapitel A. I. 569 BVerfGE 6, 84 (91); 11, 351 (361); 12, 10 (25); Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GRKommentar, Art. 38 Rn. 19.

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dungsbereich des Allgemeinheitsgrundsatzes der Wahl kommt jedem Staatsbürger gleicher Rang und Wert zu. Niemand darf also etwa wegen seiner Rasse, seiner Religion, seines Bildungsstandes oder seiner Besitz- und Einkommensverhältnisse vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Dem Gesetzgeber ist es daher etwa auch verwehrt, die Wahlberechtigung vom Vorhandensein von Grundbesitz abhängig zu machen oder an die Veranlagung zur Einkommensteuer zu binden.570 Das Verbot gruppenspezifischer Merkmale im Wahlrecht bringt daher insoweit zum Ausdruck, dass unter Geltung eines allgemeinen Wahlrechts die Einführung eines Zensuswahlrechts von vornherein ausscheidet.571 Des Weiteren fallen die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die dem Gesetzgeber die Anknüpfung des Wahlrechts an gruppenspezifische Merkmale untersagten, in eine Zeit, in der die Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts den Grundsatz der Gleichheit der Wahl noch als Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes behandelte. Demnach war jeder Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 GG zugleich auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG.572 Diese Rechtsprechung, die das Bundesverfassungsgericht mit Entscheidung vom 16. Juli 1998573 ausdrücklich aufgegeben hat, wird hier erst im Rahmen der verfassungsgerichtlich anerkannten Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht relevant und dort vertiefend erörtert.574 Einstweilen aber gilt es, den Bezug der gruppenspezifischen Merkmale zum Wahlrecht auch im Lichte der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes einzuordnen. Denn es ist unverkennbar, dass das wahlrechtliche Diskriminierungsverbot in die gleiche Richtung wirkt wie die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Verbotsgründe für gesetzgeberische Ungleichbehandlungen,575 die auch bei der Rechtfertigungsprüfung im Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes relevant werden können.576 Demnach darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Norm ist eine Negation der Erfahrung von Entrechtungen, Diskriminierungen und Vernichtungen während der nationalsozialistischen Herrschaft und nimmt gleichzeitig die besondere Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem 570

Erichsen, Jura 1983, S. 635 (637). Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 87; Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 303 f.); so auch für das Weimarer Wahlrecht Jacobi, in: FG Schmidt, S. 59 (64, 84); den Allgemeinheitsgrundsatz der Wahl auch heute noch auf das Diskriminierungsverbot beschränkend, Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 1. 572 BVerfGE 12, 10 (25). 573 BVerfGE 99, 1 ff. 574 Siehe unten Erster Teil 4. Kapitel B. I. 2. 575 Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 304); Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 19. 576 BVerfGE 124, 199 (220); 130, 240 (254). Demnach fällt die Intensität der Rechtfertigungsprüfung umso höher aus, je mehr sich die konkret herangezogenen Verbotsgründe denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern. 571

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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Zweiten Weltkrieg auf.577 Die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale sind unmittelbar an der Person haftende Gründe;578 darauf basierende gesetzgeberische Ungleichbehandlungen ziehen stets zumindest verschärfte Rechtfertigungsanforderungen nach sich.579 Das trifft gemäß Art. 3 Abs. 1 GG auch auf nicht ausdrücklich erwähnte personenbezogene Differenzierungsmerkmale zu, jedenfalls in dem Maße, wie sie sich denjenigen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG annähern.580 In formalisierter Art und Weise gilt dies auch im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl, soweit das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen vom Wahlrecht aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verbietet.581 Das konsequente Verbot, auf persönliche Eigenschaften der Wähler, einschließlich ihrer parteipolitischen Präferenzen, abzustellen, liefert die entscheidende Steigerung der Anforderungen an die Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen.582 Dem Gesetzgeber sind wahlrechtliche Differenzierungen nach den in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten oder ähnlichen personen- oder gruppenbezogenen Merkmalen von vornherein verwehrt.583 2. Sesshaftigkeit als verbotenes persönliches Merkmal? Gemessen daran sind wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklauseln grundsätzlich nicht zu den verbotenen gruppenspezifischen Merkmalen zu zählen. Gemeinhin ist anerkannt, dass der Wohnsitz im Wahlrecht kein spezifisch personen- oder gruppenbezogenes Kriterium i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt.584 Vielmehr gibt die durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Autonomie der Persönlichkeit das Recht eines jeden Wahlberechtigten, selbst darüber zu entscheiden, wo er seinen Wohnsitz nimmt.585 Damit tragen Wohnsitzklauseln im Wahlrecht den Charakter objektiver Zulassungsschranken,586 die ihrerseits wiederum kein Selbstzweck sind, sondern der Sicherung konkreter Wahlfunktionen dienen sollen.587 Zu 577 Boysen, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 3 Rn. 116; Krieger, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art.  3 Rn.  53. 578 Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 54. 579 BVerfGE 88, 87 (97); 95, 267 (317); Kingreen / Poscher, Staatsrecht II, § 11 III 2 Rn. 537; zur Diskussion um die Reichweite der Verbotswirkung (Anknüpfungsverbot oder Begründungsverbot), vgl. Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), Art. 3 Rn. 239 ff. m. w. N. 580 Vgl. Kingreen / Poscher, Staatsrecht II, § 11 III 2 Rn. 538; Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (254). 581 Vgl. BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166 f.); 58, 202 (205); 59, 119 (125); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81. 582 Vgl. Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (254). 583 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 88; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 87; Silberkuhl, in: Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 6. 584 So auch BVerfGE 7, 63 (72): allgemeine, sachlich bestimmte Voraussetzung. 585 Würtenberger / Seelhorst, ThürVBl. 1998, S. 49 (51). 586 Davon geht auch die Gesetzesbegründung zum 21. BWahlGÄndG 2013 aus, vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 4 f. 587 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 3.

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diesen zählt das Bundesverfassungsgericht die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes oder die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung.588 Teilweise wird den wahlrechtlichen Wohnsitzklauseln zudem eine Sicherungsfunktion im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachstimmabgabe zugewiesen.589 Unbeschadet der noch eigens zu klärenden Fragen, inwieweit die Wahlziele taugliche Schranken der Wahlberechtigung darstellen und ob ein wahlrechtliches Wohnsitzerfordernis unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen geeignet und erforderlich ist, diese und weitere Funktionen im Wahlrecht zu erfüllen,590 besteht ihr Sicherungsanspruch zumindest unabhängig vom Bestand spezifischer Wählereigenschaften, sondern betrifft alle deutschen Staatsbürger gleichermaßen. Dies ist im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl grundsätzlich zulässig. Schon der Staatsgerichtshof sah den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verwirklicht, wenn die Wahlbeteiligung nicht von Voraussetzungen abhängt, die nicht jeder Deutsche im wahlfähigen Alter erfüllen könne.591 Wählerunspezifische und politisch richtungsneutrale Differenzierungsziele fallen daher grundsätzlich nicht ins Gewicht.592 Demnach ist das Verbot der Anwendung gruppenspezifischer Merkmale im Wahlrecht für die mit der Wohnsitzklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG bewirkte Differenzierung unerheblich, weil es rein formal gesehen jedem wahlfähigen Deutschen zumindest möglich ist, diese Voraussetzung zu erfüllen. Als objektives Kriterium kam und kommt die Wohnsitzklausel gegenüber allen Wählergruppen gleichermaßen zur Anwendung.593 Mithin fehlt ihr der das Zensuswahlrecht kennzeichnende gruppenspezifische „politische“, „wirtschaftliche“ oder „soziale“ Charakter. Eine andere Sicht der Dinge könnte sich nur daraus ergeben, dass mit dem wahlrechtlichen Wohnsitzerfordernis zumindest mittelbar doch nach persönlichen Eigenschaften bestimmter Wählergruppen differenziert wird. Das käme möglicherweise etwa dann zum Tragen, wenn der Gesetzgeber mit der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG statuierten Wohnsitzklausel inzident Anforderungen aufstellt, die über das verfassungsrechtlich gebotene Maß hinaus an die individuelle politische Einsichtsfähigkeit und Reife der Aktivbürger bei Abgabe der Wahlentscheidung anknüpfen. Das könnte jedenfalls dann angenommen werden, wenn dem dauerhaft im Ausland wohnhaften Deutschen die politische Einsichtsfähigkeit mangels 588

BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (320 f.); 132, 39 (50 Rn. 32), vgl. auch oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 3. 589 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 70. 590 Dazu näher Erster Teil 5. Kapitel C und D. 591 Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH I, S. 329 (338); 341 (349); 398 (407); ebenso Silberkuhl, in: Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 6. 592 Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (254). Davon scharf zu trennen ist freilich die Frage nach den weiteren verfassungsrechtlichen Anforderungen wählerneutraler, d. h. allgemeiner Differenzierungsziele zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen. 593 Darauf auch hinweisend Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5); s. a. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 87.

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festem Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland typischerweise abgesprochen, dem dauerhaft im Inland lebenden Deutschen typischerweise zugesprochen wird. Das Bundesverfassungsgericht hielt eine derartige Sichtweise allerdings für unproblematisch. In seiner Entscheidung vom 4. Juli 2012 war es gar bereit, den unumschränkten Ausschluss aller Auslandsdeutschen vom Wahlrecht hinzunehmen,594 nachdem es den durch das BWahlRGÄndG 2008 erweiterten Ausnahmetatbestand vom Erfordernis der Sesshaftigkeit zum Wahlzeitpunkt mit Hinweis auf die Kommunikationsfunktion der Wahl ohne weitere Aufforderung an den Gesetzgeber zur Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts für verfassungswidrig erklärte.595 Eine nach politischer Einsichtsfähigkeit und Reife differenzierende Zuerkennung des Wahlrechts könnte demnach zumindest in jene Nähe gerückt werden, die der Allgemeinheitsgrundsatz der Wahl mit dem Verbot der Einführung eines beschränkten Wahlrechts gerade nicht billigt. Für eine vollständige Beurteilung dessen bedürfte es jedoch auch der Einbeziehung der in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG geregelten Durchbrechungen des Sesshaftigkeitserfordernisses, an denen sich gerade zeigt, dass der Gesetzgeber den Auslandsdeutschen die politische Einsichtsfähigkeit, soweit er sie im Wahlrecht für erheblich hält, nicht per se allein des Wohnsitzes zum Zeitpunkt der Wahl wegen absprechen will. Als maßgeblich erachtet der Gesetzgeber vielmehr den zurückliegenden Fortzugszeitraum, in dem seiner Auffassung nach die einmal gewonnenen Erfahrungen und Verbindungen der Staatsbürger zur Bundesrepublik Deutschland nur eine gewisse Zeit fortwirken würden.596 Schon in früheren Entscheidungen billigte das Bundesverfassungsgericht die darin zum Ausdruck gebrachte Annahme des Gesetzgebers, die für das Wahlrecht erforderliche Vertrautheit des Wählers stelle sich objektiv erst nach einem ununterbrochenen Mindestaufenthalt innerhalb der Bundesrepublik Deutschland ein.597 Dabei offenbart die Entwicklung des Bundeswahlrechts den dynamischen Charakter des Allgemeinheitsgrundsatzes der Wahl, der angesichts verbesserter Kommunikationsmöglichkeiten bis zur Neuregelung durch das 21. BWahlGÄndG 2013 durch den sukzessiven Abbau der Wahlrechtsbeschränkungen der dauerhaft im Ausland lebenden Deutschen gekennzeichnet war.598 Des Weiteren ist es nicht per se ausgeschlossen, dass für die Stimmabgabe bei Bundestagswahlen eine gewisse politische Vertrautheit bzw. Einsichtsfähigkeit der Aktivbürger vorausgesetzt wird. Das macht die Verfassung selbst, wie die Bestimmung in Art. 38 Abs. 2 GG zum Wahlalter zeigt, deutlich.599 Ob der Gesetzgeber im Anwendungsbereich der 594 Heydt, DÖV 2012, S. 974 (975); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (9); Wallrabenstein, JÖR 66 (2018), S. 431 (438). 595 BVerfGE 132, 39 (54 Rn. 43 ff.). 596 Vgl. BT-Drs. 16/11820, S. 5; ebenso bereits BT-Drs. 10/2834, S. 23 f.; 9/1913, S. 10; ebenso Blumenwitz, Wahlrecht, S. 42 f. 597 BVerfGE 132, 39 (54 Rn. 41); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 598 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (63 Rn. 63); H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 2; siehe auch oben Erster Teil 2. Kapitel A. 599 BVerfGE 42, 312 (340 f.); Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 45; s. o. Erster Teil 4. Kapitel A. I. 2.

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Allgemeinheit der Wahl also befugt ist, aus verfassungsrechtlichen Legitimationsgründen mittels Wohnsitzklausel eine möglicherweise gesteigerte politische Befähigung der Wähler zu sichern, ist daher keine ausschließliche Frage des Differenzierungsverbots nach gruppenspezifischen Merkmalen, sondern eine der verfassungsrechtlichen Abwägung widerstreitender Rechtsgüter, die naturgemäß auf Rechtfertigungsebene beantwortet werden muss. III. Zusammenfassung Der personale Schutzumfang der Allgemeinheit der Wahl ist wegen seiner Funktion zur Sicherung des egalitären demokratischen Prinzips umfassend zu verstehen. Er bezieht sich auf jeden deutschen Staatsbürger, also deutsche Staatsangehörige, die zum Zeitpunkt der Wahl das achtzehnte Lebensjahr überschritten haben. Dieser Schutz nimmt auch solche über achtzehnjährigen Deutschen nicht aus, die ihren Wohnsitz zum Zeitpunkt der Wahl dauerhaft im Ausland genommen haben. Jegliche Versuche, den Schutzbereich der Allgemeinheit der Wahl insoweit von vornherein aufzuweichen, sind daher abzulehnen. Der gleiche Zugang zum aktiven wie zum passiven Wahlrecht ist die tragende Säule bei der Verwirklichung demokratisch legitimierter Staatsgewalt.600 Nicht nur verbietet der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl dem Gesetzgeber den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsteile aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen diskriminierenden Gründen vom Wahlrecht oder seiner Ausübung.601 Er fordert darüber hinaus, dass jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben kann.602 Der zugrunde zu legende Maßstab des Wahlrechtsgrundsatzes könnte also auf folgende Formel verdichtet werden: Die Allgemeinheit der Wahl sichert, wie die Gleichheit der Wahl, die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger i. S. d. Art. 38 Abs. 2 GG. Die Gleichbehandlung aller Staatsbürger bezüglich der Fähigkeit, zu wählen und gewählt zu werden, ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbürgt die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsbürger. Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen, oder sonstigen diskriminierenden Gründen603 von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen, und 600 Vgl. BVerfGE 99, 1 (3); 132, 32 (47 Rn. 24); ähnlich auch Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120. 601 BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205); Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 19; Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). 602 BVerfGE 28, 220 (225); 36, 139 (141); 58, 202 (205); vgl. auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 68. 603 So Formulierungsvorschlag von Badura, in: Kahl / Waldorf / Walter (Hrsg.), BK-GG, Anh. zu Art. 38: BWahlG Rn. 9, um den „offenen Charakter“ dieser Aufzählung deutlich zu machen; dem zustimmend Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 88; Pieroth, in: Jarass / ders, GG, Art. 38 Rn. 13.

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fordert, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können. Daran gemessen ist auch die Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG relevant. Sie statuiert für die Betroffenen ein zusätzliches Erfordernis, das der Aktivbürgerschaft gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 38 Abs. 2 GG fremd ist. Die Verfassung bindet den aktivbürgerschaftlichen Status nicht an den Inlandswohnsitz oder -aufenthalt. Indes enthält das Sesshaftigkeitserfordernis keine im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl von vornherein verbotene gruppenspezifische Differenzierung nach politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen. Vielmehr soll sie die verfassungsrechtlich anerkannten Wahlziele und -funktionen gruppenunabhängig sichern und gewährleisten, wobei unbeschadet dessen zu klären bleibt, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze insoweit hinreichend beachtet hat.

B. Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sind für den Gesetzgeber der verfassungsrechtliche Maßstab für Beschränkungen im Wahlrecht. Der Gesetzgeber darf die Wahlrechtsgrundsätze nur einschränken, wenn dies zur Sicherung „zwingender Gründe“ geeignet und erforderlich ist.604 Das gilt allemal für den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Doch wird die Frage nach der zulässigen Reichweite von Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl in Rechtsprechung und Literatur, wie gezeigt,605 uneinheitlich beantwortet. Hier fällt auf, dass die im Schrifttum zuweilen zu beobachtende Übernahme der vom Bundesverfassungsgericht gebrauchten Begriffe nicht selten zu unreflektiert erfolgt. Der Ausgangspunkt zulässiger Einschränkung kann nicht allein anhand allgemeiner Kriterien aus dem „dynamischen Charakter des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl“ aufgrund einer „sich dauernd ändernden Sach- und Rechtsentwicklung“ abgeleitet werden,606 sondern muss zunächst in der Verfassung selbst verortet sein.607 Nur die Verfassung gibt Antwort auf die grundsätzliche Reichweite des gesetzgeberischen Regelungsspielraums bei Wahlrechtsbeschränkungen. Der Gesetzgeber kann in die vom Bundesverfassungsgericht nahegelegte Sachprüfung zu den Auswirkungen neuerer rechtlicher und tatsächlicher Entwicklungen mit Bezug auf das Wahlrecht von Auslandsdeutschen608 überhaupt erst dann eintreten, wenn die grundsätzlichen 604

Vgl. BVerfGE 95, 335 (376) m. w. N. zur st. Rspr. Vgl. für die Rechtsprechung oben Erster Teil 3. Kapitel C. I. und für die Literaturauf­ fassungen oben Erster Teil 3. Kapitel D. I. 606 So aber mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Briefwahl sinngemäß Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 84; ihm folgend Germelmann, Jura 2014, S. 310 (318). 607 In diese Richtung auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253); Gramlich, JA 1986, S. 129 (131); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 152. 608 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31, 57 Rn. 50). 605

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Anforderungen an die die Differenzierungen im Wahlrecht tragenden Gründe geklärt sind. Dafür ist zunächst die Rechtsprechung zur Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht auszuwerten (I.), bevor Rang und Gewicht der „zwingenden Gründe“ zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen konkretisiert werden können (II.). Daran anknüpfend ist zu klären, welche Rechtsgüter zur wirksamen Beschränkung der Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl in Betracht kommen (III.). Schließlich ist der Blick auf die Funktion und die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht anerkannten und regelmäßig durchgeführten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wahlrecht zu richten (IV.). I. Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht Eine erste Annäherung an die Beantwortung der Frage nach den Anforderungen der „zwingenden Gründe“ soll im Folgenden anhand der Analyse der Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht unternommen werden. 1. Argumentationsfolge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Begründung von Wahlrechtsbeschrän­ kungen lässt sich in den Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts zwischenzeitlich ein standardisiertes Muster erkennen. Zunächst erklärt sich das Bundesverfassungsgericht zum egalitären Prinzip der Demokratie, das vom Grundsatz der Allgemeinheit wie auch der Gleichheit als „wesentliche Grundlage der Staatsordnung“ gesichert werde und bezüglich der Fähigkeit, zu wählen und gewählt zu werden, als spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes in streng formaler Weise zur Entfaltung komme.609 Zugleich bekräftigt das Bundesverfassungsgericht stets, dass die Wahlrechtsgrundsätze trotzdem „keinem absoluten Differenzierungsverbot“ unterliegen.610 Aufgrund des streng formalen Charakters verbleibe dem Gesetzgeber im Wahlrecht aber grundsätzlich nur ein enger (Aus-)Gestaltungsspielraum.611 Sodann verlässt das Gericht den „Schranken-

609

Vgl. beispielhaft BVerfGE 99, 1 (13); 120, 82 (102); 132, 39 (47 Rn. 24), jeweils m. w. N. aus der älteren Rspr.; jüngst bekräftigt in BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, jurisRn. 43. 610 Vgl. BVerfGE 95, 408 (417 f.); 99, 1 (9). 611 St. Rspr.; vgl. jeweils m. w. N. statt vieler BVerfGE 129, 300 (320), für die Wahlrechtsgleichheit; BVerfGE 132, 39 (47 Rn. 25), für die Allgemeinheit der Wahl. Die gelegentlich anzutreffende Formulierung eines „weiten“ Gestaltungsspielraums (so etwa BVerfGE 59, 119 [124]), dürfte ausschließlich die Gesamtgestaltung des Wahlverfahrens betreffen, so auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33 mit Fn. 123.

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bereich“ der Wahlrechtsgrundsätze und leitet ohne Weiteres in die Bestimmung der die Differenzierung tragenden rechtfertigenden Gründe über. Doch ist zu vermerken, dass hier eine Lücke besteht. Denn die Frage, nach welcher verfassungsrechtlichen Maßgabe sich die Einschränkbarkeit des Allgemeinheitsgrundsatzes in schrankendogmatischer Hinsicht bestimmt, d. h. welchem Schrankenregime der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt, ist vom Gericht nicht eigens herausgearbeitet. Die früher gelegentlich gebrauchten Hinweise auf „[lebendige] Wertungen […] im Rechtsbewusstsein der konkreten Rechtsgemeinschaft“, nach denen sich der „Grad“ der zulässigen Differenzierungen „bestimmt“612, oder zur möglichen Rolle „gefestigte[r] Rechtsüberzeugungen und Rechtspraxis“613 finden sich in den aktuellen Entscheidungen zum Wahlrecht nicht mehr. Im Beschluss zum Auslandsdeutschenwahlrecht vom 4. Juli 2012 ­äußert sich das Gericht aber dahingehend, dass sich aus den in Art. 38 Abs. 2 GG geregelten Altersgrenzen „nicht [ergibt], dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen“ dürfe.614 Doch auch diese negativ gezogene Schlussfolgerung, die ihresgleichen in der vorherigen Wahlrechtsprechung sucht und in den Urteilsanmerkungen615 bislang nicht berücksichtigt wurde, sagt allein aus, dass nach Auffassung des Gerichts aus der vom Verfassungsgeber gesetzten Festlegung eines Wahlalters noch nicht auf einen in der Verfassung angelegten abschließenden Charakter der Bestimmung bzw. Zuerkennung des Wahlrechts geschlossen werden könne. Sie gibt hingegen keine Antwort auf die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen und Grenzen jede gesetzgeberische Differenzierung im Sachbereich der Wahlen unterliegt. Dem soll weiter unten (Ziff. II.) genauer nachgegangen werden. Zuvor wird die Betrachtung der grundlegenden Begründungslinien des Gerichts aber fortgesetzt. Denn hieraus könnten ggf. Rückschlüsse auf die nach wie vor noch offenen Schrankenanforderungen gezogen werden. An den Schrankenbereich anknüpfend bezeichnet das Gericht die von ihm benannten „Gründe“ entsprechend den hier hervorgebrachten Erkenntnissen als „zureichend“, „legitim“ oder „zwingend“. Hierauf folgt häufig eine ebenfalls standardisierte nähere Beschreibung solcher Gründe. Die diesbezüglichen Textbausteine werden freilich nicht immer einheitlich verwendet. So nimmt das Gericht zuletzt in seiner Entscheidung vom 26. Februar 2014 zur 3 %-Hürde des § 2 Abs. 7 EuWG zur Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments etwa die prominente Formulierung aus seiner Grundmandatsentscheidung vom 10. April 1997 auf und sieht Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit durch Gründe gerecht 612

Vgl. zurückgehend auf BVerfGE 1, 208 (247 ff.), zuletzt BVerfGE 14, 121 (135), ähnlich aber BVerfGE 82, 322 (338). 613 BVerfGE 121, 266 (298); 124, 1 (19 f.). 614 Vgl. BVerfGE 132, 39 (47 f. Rn. 25). 615 Vgl. etwa Germelmann, Jura 2014, S. 310 ff.; Heydt, DÖV 2012, S. 974 ff.; Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 ff.; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246 ff.); Felten, DÖV 2013, S. 466 ff.

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fertigt, „die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten“ kann.616 In seiner Entscheidung explizit zum Auslandsdeutschenwahlrecht vom 4. Juli 2012 konstatiert das Gericht demgegenüber, dass „Differenzierungen hinsichtlich der aktiven und passiven Wahlberechtigung […] nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind.“617 Dabei findet die zuletzt genannte Formulierung trotz der angegebenen Fundstellennachweise in der früheren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in dieser Form kein Vorbild. Denn die Fundangaben beziehen sich allein auf den Maßstab der zuvor zitierten Grundmandatsentscheidung. Tatsächlich verzichten die älteren Entscheidungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht gänzlich auf die nähere Beschreibung des „zwingenden Grundes“ zur Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl.618 Der materielle Begriffsinhalt wurde dort entweder nur anhand einer beispielhaften Aufzählung von bereits judizierten Einschränkungen gewonnen619 oder negativ durch die Benennung verbotener Ausschlusskriterien bestimmt.620 Der diesbezügliche Verweis könnte die neue Formulierung in der Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012 daher nicht tragen. Indem das Gericht für das Auslandsdeutschenwahlrecht und sohin für die zwingenden Gründe zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl überwiegend Bezug auf die judizierte Begriffsbestimmung zur Gleichheit der Wahl nimmt, liegt es aber zumindest nahe anzunehmen, dass jedenfalls hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtfertigung von Einschränkungen von Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zumindest begrifflich keine substanziellen Unterschiede bestehen. Diese Annahme wird bestätigt durch die vom Gericht stets betonte enge Verknüpfung von Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl mit der streng formalen Ausprägung des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes durch das Demokratieprinzip.621 Unbeschadet dessen aber bleibt festzuhalten, dass die jeweiligen Urteilsgründe bis hierhin keine befriedigende Antwort auf den Umfang der Differenzierungsbefugnis des Gesetzgeber im Wahlrecht geben.

616 Vgl. BVerfGE 135, 259 (286 Rn. 53). Diese Formulierung verwendeten neben BVerfGE 95, 408 (419) – Grundmandatsklausel; auch BVerfGE 1, 208 (248) – 7,5 %-Klausel zu WahlG SH 1950; BVerfGE 6, 84 (92) – 5 %-Klausel zu BWahlG 1956; BVerfGE 121, 266 (287) – Überhangmandate; BVerfGE 124, 1 (19)  – Nachwahl Dresden; BVerfGE 129, 300 (320)  – 5 %-Klausel Europawahl; auch BVerfGE 130, 212 (227 f.) – Wahlkreiseinteilung, und BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207 – Höchstaltersgrenze Bürgermeisterwahl, vgl. aber Fn. 617. 617 Vgl. BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25) mit Verweis auf BVerfGE 42, 312 (340) – Abgeordnetenmandat (kirchliches Amt); BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207 – Höchstaltersgrenze Kommunalwahl und BVerfGE 130, 212 (227) – Wahlkreiseinteilung; ebenso BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 43 – Ausschluss vom Wahlrecht. 618 Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel A. I. 619 BVerfGE 36, 139 (141) mit Verweis auf BVerfGE 28, 220 (225). 620 BVerfGE 58, 202 (205), verboten sind demnach Differenzierungen aufgrund „politische[r], wirtschaftliche[r] oder soziale[r] Gründe“. 621 BVerfGE 99, 1 (13); 139, 39 (47 Rn. 24); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 71.

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2. Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG? Bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Differenzierungsbefugnis im Wahlrecht griff das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen gelegentlich auch auf Art. 3 Abs. 1 GG zurück.622 Diese Rechtsprechung hat das Gericht zwischenzeitlich aufgegeben, wie sogleich zu zeigen sein wird. Trotzdem soll auf sie an dieser Stelle kurz eingegangen werden. Die in ihr vorgenommene Abgrenzung zum allgemeinen Gleichheitssatz könnte konkretere Anhaltspunkte zur Reichweite der gesetzgeberischen Differenzierungsbefugnis im Anwendungsbereich der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl liefern. Mit einer von Gerhard Leibholz  – seinerzeit Mitglied im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts  – bereits Ende 1920 entwickelten Konstruktion beurteilte das Gericht gesetzliche Wahlrechtsbeschränkungen zunächst anhand der Vorgaben des allgemeinen Gleichheitssatzes.623 Demnach sei „der Grundsatz der Gleichheit der Wahl […] ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes“. Deshalb enthalte „jeder Verstoß gegen diesen Wahlrechtsgrundsatz zugleich auch eine Verletzung des […] Art. 3 Abs. 1 GG“624. Nach Leibholz stelle die formal zu deutende Wahlrechtsgleichheit zwar eine „authentische verfassungskräftige Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes“ dar. Dieser behalte darüber hinaus „trotzdem seine regulative und letzthin übergeordnete Bedeutung“ gegenüber der Wahlrechtsgleichheit und überlagere „seine konkreten, ihn autoritativ interpretierenden Formalisierungen“.625 Tatsächlich behandelte die Rechtsprechung des Zweiten Senats den wahlrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG bis weit in die 1990er Jahre als uneingeschränkten Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass der Satz von der Wahlrechtsgleichheit durch eine gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz weit stärkere Formalisierung charakterisiert sei und insofern eine selbstständige Entwicklung genommen habe. Nur die „regulative und letzthin übergeordnete Bedeutung“ des allgemeinen Gleichheitssatzes mache „verständlich, dass die Wahlrechtsgleichheit trotz ihrer […] ‚radikalen‘ Formalisierung unter gewissen Voraussetzungen überhaupt durchbrochen werden“ dürfe.626 Mit der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Wahlrecht öffnete das Bundesverfassungsgericht gleichsam die zuvor unter Geltung des Weimarer Reichs-

622

BVerfGE 4, 375 (382); 13, 243 (247). Vgl. etwa BVerfGE 12, 10 (25); 28, 220 (225); 41, 399 (413); 58, 177 (190); 71, 81 (94); 85, 148 (157). 624 Vgl. mit Zitat BVerfGE 12, 10 (25). 625 So Leibholz, in: ders. (Hrsg.), Strukturprobleme, S. 41 (44); zurückgehend auf ders., JW 1929, S. 3042 f; auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5); aus der Rechtsprechung vgl. etwa BVerfGE 58, 177 (190); 60, 162 (167); 71, 81 (94); 85, 148 (157); kritisch Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81); H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33; auch in der Vorauflage ders. HStR 2 II, § 38 Rn. 24. 626 BVerfGE 4, 375 (383) mit Zitat; ebenso BVerfGE 13, 243 (246 f.). 623

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wahlrechts vom Reichsstaatsgerichtshof streng begriffene Formalisierung,627 die für Durchbrechungen kaum Raum gelassen hatte.628 Der Gefahr einer übermäßigen Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit suchte das Gericht sodann mit dem Erfordernis einer „besonderen Rechtfertigung“ entgegenzuwirken.629 Teile der Literatur stützten diese Auffassung mit dem Argument, dass die Grundstrukturen von Wahlrechtsgleichheit und allgemeinem Gleichheitssatz weitgehend identisch seien.630 Dies traf jedenfalls auf den grundlegenden Gewährleistungsinhalt beider Normen „im Sachbereich der Wahlen“ zu.631 Unbeschadet dessen hatte die Anbindung der Wahlrechtsgleichheit an den allgemeinen Gleichheitssatz auch prozessuale Wirkung im Hinblick auf die Geltend­ machung von Wahlrechtsverletzungen im Bereich der Landes- und Kommunal­ wahlen. Diese konnten durch die Betroffenen allein auf der Basis des Art. 38 Abs. 1 GG nicht mittels Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, da Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG mangels Anwendbarkeit in den Ländern632 dort keinerlei subjektive Rechtswirkungen zugunsten des Einzelnen entfaltet.633 Wenngleich die Wahlgrundsätze über Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG auch für die Länder objektiv verbindlich sind, vermitteln sie dem Einzelnen keine mittels Verfassungsbeschwerde rügefähigen Rechtspositionen.634 Artikel 3 Abs. 1 GG hatte diese Lücke im Zusammenhang mit der Leibholz’schen These systematisch geschlossen. Die Lehre von der regulativen und letzthin übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes erfuhr allerdings nicht unerhebliche Kritik. Wie die überwiegende Mehrheit des Schrifttums durchaus zu Recht hervorhebt, eröffnet ein derart weitreichendes Verständnis von Art. 3 Abs. 1 GG bei der Auslegung des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes die Möglichkeit, auf Wertungen zurückzugreifen, die im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz zwar verfassungsmäßig, im Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit – gerade wegen deren Formalisierungscharakter – aber verfassungswidrig wären.635 Zudem hebt etwa Dietrich Murswiek den fundamentalen Unterschied zwischen den stringent und schematisch ausgestal 627 Vgl. RStGH, RGZ 124, 1 (12); 128, 9 (11); dazu Jacobi, in: FG Schmidt, S. 59 (72): „abso­ lute Gleichheit“; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81). 628 Nenstiel, Wahlrechtsentwicklung, S. 134 ff.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 90. 629 BVerfGE 4, 375 (383); Erfordernis eines „besonderen rechtfertigenden Grundes“ bei BVerfGE 13, 343 (247), Hervorhebung durch den Verfasser. 630 Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (250 f.); Ennuschat, VR 1999, S. 12; Lenz, NJW 1999, S. 34. 631 Vgl. Rinck, in: FS Geiger, S. 677 (691); so auch das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, wenn es von der Wahlrechtsgleichheit als „spezialgesetzlich normierte Ausprägung der vom Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 allgemein gewährleisteten Gleichheit der Bürger“ spricht, vgl. BVerfGE 99, 1 (10). Zudem wird von der Rechtsprechung durchgängig ein „Sachbereich der Wahlen“ angenommen, vgl. etwa BVerfGE 6, 84 (91); 78, 350 (357). 632 Vgl. statt vieler Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 7. 633 Vgl. Lenz, NJW 1999, S. 34; Sachs, JuS 2000, S. 79. 634 Vgl. dazu Lenz, NJW 1999, S. 34; Sachs, JuS 2000, S. 79; zum Verhältnis von Wahlprüfungsbeschwerde und Verfassungsbeschwerde vgl. auch H. Lang, DÖV 1999, S. 712 (715 ff.). 635 Vgl. statt vieler H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (80 f.).

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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teten Gleichheitssätzen der Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 und Art. 21 GG gegenüber der relativen Geltung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG hervor.636 Die jeweiligen Grundansätze beider Gleichheitsartikel seien so verschieden, dass eine schlichte Übernahme der allgemeinen Gleichheitsgedanken des Art. 3 Abs. 1 GG in den durch das Demokratieprinzip streng formalisierten Gleichheitsgedanken im Wahlrecht letztlich auszuschließen sei.637 Das Bundesverfassungsgericht reagierte auf die im Schrifttum geäußerten Bedenken und gab seine Haltung zur regulativen und übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Wahlrecht mit seiner Entscheidung vom 16. Juli 1998 ausdrücklich auf.638 Nunmehr sei – so das Gericht – „im Anwendungsbereich der speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssätze der Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zurückzugreifen“.639 In der Entscheidung begründet das Gericht die Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung in erster Linie mit systematischen Erwägungen. Zuvörderst gewährleiste das Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG die Eigenständigkeit der Verfassungsbereiche von Bund und Ländern. Die Länder hätten so die Möglichkeit, „den subjektiven Schutz des Wahlrechts zu ihre[n] Volksvertretungen in Ausübung dieses Rechts auf Selbstorganisation auszugestalten und durch die Gerichtsbarkeit des Landes zu gewährleisten“.640 Daneben könne Art. 3 Abs. 1 GG nur den übergeordneten subjektiven Rechtschutz für die Gleichheit der Wahl schaffen, die Verletzung anderer Wahlrechtsgrundsätze bei Wahlen zu den Landesparlamenten wäre einer Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht ohnehin seit jeher entzogen gewesen. Es bestehe aber kein spezifisches Vorrangverhältnis hinsichtlich der allgemeinen und gleichen Wahl gegenüber den anderen Wahlrechtsgrundsätzen.641 Schließlich hebt das Gericht auch die aus historischer Perspektive belegte Verschiedenheit zwischen der Wahlrechtsgleichheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz hervor.642 Die Literatur hat der Rechtsprechungsänderung überwiegend Zustimmung entgegengebracht.643 Nicht von der Hand zu weisen sind zudem pragmatische Überlegungen, denen das Bundesverfassungsgericht mit der Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes im Wahlrecht gefolgt ist. Denn mit der Entkopplung der Wahlrechtsgleichheit von Art. 3 Abs. 1 GG war der Weg 636

Vgl. Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50). In diesem Sinne auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 32 f.; Roth, DVBl. 1998, S. 214 (216 f.); Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81); v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG3, Bd. 2, Art. 38 Rn. 50. 638 BVerfGE 99, 1 ff. 639 BVerfGE 99, 1 (10). 640 Vgl. BVerfGE 99, 1 (12). 641 Vgl. BVerfGE 99, 1 (12 f.). 642 BVerfGE 99, 1 (13), vgl. insgesamt auch Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81); Roth, DVBl. 1998, S. 214 (216 f.). 643 Vgl. etwa Lenz, NJW 1999, S. 34; Sachs, JuS 2000, S. 79 (80); hinsichtlich des nunmehr verkürzten Rechtsschutzes differenzierend H. Lang, DÖV 1999, S. 712 (713 ff.). 637

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der Verfassungsbeschwerde bei Gleichheitsverletzungen im Bereich des Landeswahlrechts versperrt. Wegen der auf Bundestagswahlen beschränkten Anwendbarkeit der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG fehlt in den Ländern nunmehr ein rügefähiges Recht. Eine analoge Anwendung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auf Wahlen in den Ländern oder den Kommunen ist ausgeschlossen.644 Tatsächlich hatte die zusätzliche Zuständigkeit für das Wahlrecht zu sechzehn Landtagen, zu Kommunalvertretungen sowie für Volksbegehren und -entscheide in den Ländern in nicht unerheblichem Maße zur Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen.645 Mit der Entkoppelung des Wahlrechts von Art. 3 Abs. 1 GG wurde somit auch politisch Abhilfe geschaffen. Als Ideengeber für die Entscheidung gilt der Bericht der vom damaligen Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig eingesetzten Entlastungskommission,646 der insbesondere die Eigenständigkeit der Länder betont und auf die grundsätzliche Eigenständigkeit der Verfassungsräume von Bund und Ländern abstellte.647 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Juli 1998 scheidet also ein Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG bei der Beurteilung gesetzlicher Wahlrechtsbeschränkungen aus.648 Es bleibt damit bei der im Wahlrecht streng formalen Gleichbehandlung,649 wobei das Gericht aber, wie gesagt, in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Literatur betont, dass die Wahlrechtsgleichheit trotzdem keinem absoluten Differenzierungsverbot unterliegt.650 3. Zwischenergebnis Die vorstehende Analyse hat ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber für Differenzierungen im Anwendungsbereich der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum zuerkennt. Die strenge Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit (und auch der Allgemeinheit der Wahl) wird nicht (mehr) durch eine „regulative und letzthin übergeordnete Bedeutung“ des Art. 3 Abs. 1 GG im Wahlrecht zugunsten eines erweiterten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers durchbrochen. Die konkrete 644

Vgl. Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81); Ennuschat, VR 1999, S. 12 mit Fn. 7; Roth, DVBl. 1998, S. 214 (217). 645 Vgl. Breuer, BayVBl. 1999, S. 207 (210); ebenso Lenz, NJW 1999, S. 34. 646 Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, Bericht der vom Bundesminister der Justiz eingesetzten Kommission, 1998, S. 126. 647 Dieser Gedanke wird von BVerfGE 99, 1 (11 f.), freilich ohne den zitierten Bericht zu nennen, aufgegriffen und sohin auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestellt; dazu ausführlich auch H. Lang, DÖV 1999, S. 712 ff. 648 St. Rspr. seit BVerfGE 99, 1 ff.; zustimmend auch die h. L., vgl. statt vieler H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33; Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 Rn. 49. 649 BVerfGE 11, 266 (272); 85, 148 (157); 95, 408 (418); 99, 1 (13); 99, 69 (77 f.); 132, 39 (47 Rn. 25). 650 BVerfGE 120, 82 (106); 129, 300 (320); 132, 39 (47 Rn. 25).

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Reichweite dieses Spielraums bleibt dogmatisch allerdings ungeklärt. In den Urteilsgründen verknüpft das Gericht bislang jeweils nur die Bedeutungen der von ihm streng egalitär verstandenen Wahlrechtsgleichheit einerseits und die Gründe für die Differenzierungsmaßnahmen andererseits durch die floskelhaften Attribute „legitim“ oder „zwingend“. Diese geben über die schrankendogmatische Verankerung und Qualität der die Differenzierungen im Wahlrecht tragenden Gründe jedoch aus sich heraus kaum Auskunft.651 II. Schrankenbestimmung im Wahlrecht Mangels konkreterer Vorgaben in der bis hierhin analysierten Rechtsprechung ist die Reichweite der grundsätzlich anerkannten Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Wahlrecht unter Hinzuziehung weiterer verfassungsrechtlicher Bestimmungen vorzunehmen. In Betracht kommt zunächst die Annahme eines Gesetzes- oder Regelungsvorbehalts nach Art. 38 Abs. 3 GG (1.). Erweist sich dieser Weg als nicht zielführend, müssten die gebotenen Anforderungen an die wahlrechtlichen Schrankenbestimmungen gemäß dem Grundsatz der Einheit der Verfassung im Ausgleich widerstreitender Verfassungsgüter ermittelt werden (2.). Daran anschließend ist zum Problem der gerichtlichen Kontrolle Stellung zu beziehen (3.). 1. Gesetzes- oder Regelungsvorbehalt des Art. 38 Abs. 3 GG Als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt zur Beurteilung des gesetzlichen Differenzierungsspielraums im Anwendungsbereich der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl kommt zunächst Art. 38 Abs. 3 GG in Betracht.652 Hiernach regelt ein Bundesgesetz „das Nähere“ zu den in Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltenen Vorgaben. Zwangsläufig drängt sich hier ein Vergleich mit der grundsätzlichen Einschränkbarkeit von Grundrechten durch grundrechtliche Gesetzesvorbehalte auf. In diesen Fällen ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich gestattet, in bestehende Grundrechte durch oder aufgrund eines Gesetzes, das verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, einzugreifen.653 Mit einer Übertragung dieser Grundsätze auf den Wahlrechtsartikel ginge in der Tat ein außerordentlich weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einher. Denn Gesetzesvorbehalte verhelfen nicht allein verfassungsrangigen Rechtsgütern zur Geltung, sondern können grundsätzlich jede von der – ihrerseits verfassungsmäßigen – Rechtsordnung geschützte Rechtsposition in den Abwägungsprozess zur Einschränkbarkeit von Grund 651

Kritisiert auch von Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253). Vgl. zum Folgenden Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 152 ff. 653 Zur allgemeinen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch Gesetzgebungsvorbehalte vgl. Kingreen / Poscher, Staatsrecht II, § 6 Rn. 304 ff.; ausführlich Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, § 80 I 1 (S. 369 ff.). 652

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rechten mit einbeziehen.654 In diese Richtung hat zunächst auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts für das Wahlrecht entschieden, indem er Art. 38 Abs. 3 GG im Zusammenhang mit seiner Vorgängernorm aus Art. 22 Abs. 2 WRV als „verfassungsrechtlich ausreichende Grundlage“ genannt hatte.655 Im Kern hat der Erste Senat so der großzügigen Rechtsprechung656 des Reichsstaatsgerichtshofs657 zunächst zur Gültigkeit auch in der Bundesrepublik Deutschland verholfen. Dagegen hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung vom 2. Dezember 1949 aus Art. 38 Abs. 3 GG keinen klassisch grundrechtlichen Gesetzgebungsvorbehalt abgeleitet. Die Formulierung „das Nähere“ unterscheide sich von den üblichen Formulierungen zur Beschränkung von Grundrechten.658 Sohin könne sich die „Ermächtigung“ auch nur auf den Erlass „ergänzender Bestimmungen“ beschränken, die insbesondere die Wahlrechtsgrundsätze weitestgehend zur unumschränkten Geltung verhelfen sollen, diese aber nicht selbst beschränken dürften.659 In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung der ähnlichen Formulierung in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG660 folgte später der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auch in seiner Wahlrechtsprechung diesem Verständnis.661 Die Befugnis des Gesetzgebers gemäß Art. 38 Abs. 3 GG beschränkt sich damit auf den Erlass von Ausführungsgesetzen, ohne die Vorgaben der Verfassung ihrem Gehalt nach antasten zu dürfen. In der Literatur fand dies überwiegend Zustimmung.662 In jüngerer Zeit erfährt dieser Gedanke zumindest in Teilen der Literatur wieder eine gewisse Relativierung. Zu nennen ist hier insbesondere die Untersuchung von Bernd Crzeszick und Heinrich Lang aus dem Jahr 2012 zum 19. Gesetz zur Änderung des Bundestagswahlrechts. In Art. 38 Abs. 3 GG gehe es ihrer Auffassung nach „nicht allein um die Einräumung einer Gesetzgebungskompetenz im überkommenen Sinne“. Vielmehr handele es sich um die „Befugnis“ des Gesetz­

654

So etwa bzgl. der Allgemeinen Handlungsfreiheit BVerfGE 6, 32 (36 ff.) – Elfesurteil, allgemein auch Epping, Grundrechte, Rn. 573. Auf die Bedeutungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der konkreten Grundrechtsfunktion soll hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu aber näher BVerfGE ebd. 655 Vgl. etwa BVerfGE 3, 19 (24); 3, 383 (394); 5, 77 (81). 656 Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel C. I. 1. 657 RStGH, Entscheidung v. 17.2.1930, – StGH 12/28, RGZ 128, abgedruckt bei Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH IV, S. 132 (139 ff.). 658 Dazu mit weiten Nachweisen aus der Reichspublizistik Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, § 80 I 2 (S. 378 mit Fn. 32). 659 Vgl. BayVGHE 2, 181 (207). 660 Vgl. BVerfGE 12, 45 (53); 28, 243 (259); 48, 127 (163); 69, 1 (23). 661 Vgl. etwa BVerfGE 95, 335 (349). 662 Vgl. P. Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 3 Rn. 186; ebenso in der Vorauflage: Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 3 Rn. 157; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 154; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 121; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, § 80 I 2 (S. 378); Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 105.

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gebers zur „Schaffung materiellen Verfassungsrechts“.663 Dies wirke sich auf den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Beurteilung gesetzgeberischer Einschränkungsbefugnis im Wahlrecht nach Maßgabe „zwingender Gründe“ aus. Nach näherer Auseinandersetzung mit den Formeln des Bundesverfassungsgerichts zu den „zwingenden Gründen“ kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass eine „Tendenz der Rechtsprechung, das Vorliegen eines ‚zwingenden Grundes‘ künftig an strengeren Maßstäben zu messen, […] nicht erkennbar“ sei.664 In der Konsequenz bedeute dies, dass die herangezogenen Gründe zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen nicht mit dem Gewicht versehen sein müssten, wie dies für Eingriffe in vorbehaltlos gewährte Grundrechte erforderlich sei.665 Wenngleich nicht ausdrücklich ausgesprochen, kommt Art. 38 Abs. 3 GG in dieser Sicht die Wirkung eines klassisch-grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltes zu. Dem wird hier nicht gefolgt. Zustimmung verdient die vom Zweiten Senat vertretene und in der Literatur überwiegend gestützte Auffassung. Artikel 38 Abs. 3 GG ist allein kein hinreichend tauglicher Anknüpfungspunkt zur Beurteilung des dem Gesetzgeber im Wahlrecht zur Verfügung stehenden Differenzierungsspielraums. Die Norm enthält zwar selbst keine inhaltliche Einschränkung. Dennoch ist der Gesetzgeber deshalb noch nicht befugt, die vom Verfassungsgeber bereits entschiedenen Grundprinzipien in ihrem Bestand einschränken zu dürfen. Dies legt nicht nur der verschiedene Wortlaut „das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ gegenüber den bei den Grundrechten formulierten einfachen Gesetzesvorbehalten „durch Gesetz“ bzw. „durch oder aufgrund eines Gesetzes“ nahe. Auch die Bedeutung des Wahlrechts in der Verfassung spricht für diese Auslegung. Zwar hat der Verfassungsgeber keine Vorgaben für ein konkretes Wahlsystem gemacht, so dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, diese bewusste Lücke zu schließen. Doch hat er mindestens durch Art. 38 Abs. 1 und 2 GG festgelegt, welche Grundsätze jegliches Wahlsystem einschließlich seiner konkreten Ausgestaltung666 zu beachten hat. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Wahlrechtsprechung gelegentlich verwendete Feststellung, wonach sich aus der Festlegung von Altersgrenzen in Art. 38 Abs. 2 GG nicht ergebe, „dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen“667 dürfe, ändert an diesem Befund nichts. Diese Aussage bringt daher auch keine neue Erkenntnis. Zum einen hat sich das Gericht bei der Beurteilung einfachgesetzlicher Zulassungskriterien durch die verfassungsrechtliche Festlegung des Wahlalters bislang ohnehin nicht irritieren 663

Vgl. dies. Wahlrecht, S. 19 f., 77 ff. Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 79. 665 Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 78 f. 666 Vgl. ähnlich auch Butzer, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 38 GG Rn. 84: „Gesamtmaterie des Bundestagswahlrechts“. 667 BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25); ebenso BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, jurisRn. 43. 664

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lassen. Zum anderen wurde die vom Gericht ausgeschlossene Sperrwirkung des Art. 38 Abs. 2 GG in dieser Reichweite im Schrifttum – soweit ersichtlich – noch nirgends vertreten. Artikel 38 Abs. 2 GG schließt im Hinblick auf die Festlegung des Wahlalters allenfalls ein im Bundeswahlgesetz verankertes MinderjährigenWahlrecht aus.668 Allerdings ist die Befugnis des Gesetzgebers anzuerkennen, in der näheren Bestimmung des Wahlrechts teilweise materielles Verfassungsrecht zu entwickeln.669 Dem Grunde nach handelt es sich um ein Privileg des Verfassungsgebers, das er dem Gesetzgeber gemäß Art. 38 Abs. 3 GG zur weiteren Ausgestaltung übertragen hat. Richtigerweise besteht dieses Privileg aber nur im Hinblick auf die nähere Bestimmung des geltenden Wahlsystems durch Bundesgesetz.670 Die Frage nach der gesetzlichen Zulassung Einzelner zur Wahl selbst ist davon strikt zu trennen. Gleichwohl bleibt die strikte Bindung des Gesetzgebers an verfassungsrechtliche Vorgaben von der an ihn übertragenen Verantwortung, mit der Bestimmung des Wahlsystems materielles Verfassungsrecht zu gestalten, unberührt. Zwar muss die vom Verfassungsgeber offengelassene Lücke geschlossen werden, um dem in der Verfassung angelegten demokratischen Prinzip zur Entfaltung zu verhelfen. Deswegen wird der einfache Gesetzgeber aber nicht selbst in den Rang des Verfassungsgebers gestellt. Insbesondere finden die für den Erlass und für die Änderung von Bundesgesetzen geltenden Art. 76 und 77 GG einschließlich der Mehrheitsregelung für die Beschlussfassung nach Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG Anwendung. So kann also auch ein Wahlgesetz mit einfacher Abstimmungsmehrheit geändert werden.671 Dies gilt für das in § 6 BWahlG festgelegte Wahlsystem gleicher­maßen wie für die Entscheidung über die individuellen Wahlzugangsvoraussetzungen nach den §§ 12 und 13 BWahlG. Diesen Aspekt stellt die Untersuchung von Grzeszick und Lang zumindest im Rahmen der Auseinandersetzung mit Art. 38 Abs. 3 GG672 zu wenig heraus. Wenngleich die Untersuchung nur die Bewertung des vom Gesetzgeber konzipierten Wahlsystems zum Gegenstand hat, führt die Verallgemeinerung der Überlegungen zum materiellen Verfassungsrecht letztlich insgesamt zu einer Relativierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum im Sachbereich der Wahlen.673 Gerade um dem vorzubeugen, lässt sich zwar sagen, dass Art. 38 Abs. 3 GG nicht bloß eine „Ermächtigung“ im Sinne einer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes enthält, sondern einen verbindlichen „Gesetzgebungsauftrag“ bzw. „Regelungsauftrag“674 668 Vgl. dazu Schreiber, DVBl. 2004, S. 1341 ff.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 129. 669 Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 105; Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 19. 670 BVerfGE 95, 335 (349); Maurer, Staatsrecht I, § 13 Rn. 18; allein darauf bezieht sich auch die Untersuchung von Grzeszick und Lang, vgl. dies., Wahlrecht, S. 13 ff. 671 Vgl. allgemein Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 42 Rn. 3 ff. 672 Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 19 ff. 673 Grzeszick / L ang, Wahlrecht, S. 78 ff. 674 Vgl. etwa BVerfGE 95, 335 (349).

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an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Wahlrechts, namentlich bezogen auf die Festlegung des Wahlsystems. Außerhalb dessen bleibt aber kein Raum für einen gesetzgeberischen Gestaltungsfreiraum derart, materielles Verfassungsrecht über die verfassungsrechtlichen Grenzen hinaus zu setzen. Diese Grenzen sind in Art. 38 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. dem Demokratieprinzip enthalten und einer gesetzgeberischen Modifikation entzogen. Dem eminenten Rang des Wahlrechts würde es zuwiderlaufen, könnte der Gesetzgeber Wahlrechtsbeschränkungen allein auf Basis des Art. 38 Abs. 3 GG rechtfertigen. Die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit wie auch der Allgemeinheit der Wahl stehen unter keinem „allgemeinen“ Gesetzesvorbehalt.675 So scheidet Art. 38 Abs. 3 GG als Anknüpfung zur Bestimmung des gesetzgeberischen Regelungsspielraums bei der Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze aus. 2. Einheit der Verfassung Kommt Art. 38 Abs. 3 GG als Schrankenbestimmung im Wahlrecht also nicht in Betracht, könnten gesetzliche Wahlrechtsbeschränkungen gemäß dem allgemeinen Grundsatz der „Einheit der Verfassung“676 nur noch dadurch gerechtfertigt werden, dass sie in Fällen der Kollision mit einer anderen verfassungsrechtlich geschützten Position unabdingbar sind, um beiden konkurrierenden Rechtswerten zur größtmöglichen Entfaltung zu verhelfen.677 In diese Richtung geht der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts in seiner Grundmandatsentscheidung vom 10. April 1997, die – freilich unter dem Stichwort „zwingende“ Gründe – neben der „Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten“ auch „sonstige Gründe“ anerkennt, die „durch die Verfassung legitimiert und von einigem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann“678. Ebenfalls darauf zielt eine weitere Entscheidung des Bundes­ verfassungsgerichts vom 20. Juli 1998, die das freie Mandat „durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt“ sieht.679 Diese und ähnliche Formulierungen werden in nachfolgenden Entscheidungen des Gerichts häufiger aufgegriffen.680 Nachdem die bisherigen Versuche zur Bestimmung der Schrankenanforderung im Wahlrecht keinen Erfolg brachten, können diese Formeln nur in dem Sinne verstanden werden, dass sie das Erfordernis verfassungsunmittelbarer Schranken

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So auch Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50). BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 49, 24 (56); st. Rspr.; grundlegend auch Hesse, Grundzüge, § 1 Rn. 20, § 2 Rn. 71. 677 Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65. 678 BVerfGE 95, 408 (418); ebenso BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207. 679 BVerfGE 99, 19 (32). 680 Vgl. etwa für das freie Mandat: BVerfGE 118, 277 (324) – Nebeneinkünfte; BVerfGE 134, 141 (179 Rn. 111 f.) – Fall Ramelow, jeweils m. w. N. aus der Rspr.; im Übrigen vgl. oben Fn. 370–378. 676

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bezeichnen.681 Insbesondere die Urteilsgründe der Grundmandatsentscheidung verdeutlichen erstmals, dass die Wahlziele auf der vorgelagerten Ebene der Zulässigkeit von Wahlrechtsbeschränkungen überhaupt nur dann erheblich sind, soweit sie unmittelbar aus den Grundsätzen des demokratischen Prinzips abgeleitet werden können. Das ist auch sachgerecht, weil alle darüber hinausgehenden Einschränkungsversuche der Wahlrechtsgrundsätze der Bedeutung und dem Wesen der demokratischen Wahl im repräsentativen Regierungssystem als fundamentales staatsbürgerliches Recht682 nicht gerecht werden können. Im Hinblick auf die Einschränkung des freien Mandates wird diese Rechtsauffassung jedenfalls expressis verbis bestätigt.683 Die in dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gebrachten Vorgaben werden auch von jenen Stimmen in der Literatur anerkannt, die in enger verfassungsrechtlicher Verknüpfung mit dem Attribut der „Verfassungsrangigkeit“ für eine restriktive Auslegung des Begriffs „zwingende Gründe“ plädieren.684 Jeder diesen Befund relativierende Versuch, die Gründe für eine Rechtfertigung auch unterhalb verfassungsrangiger Belange zu suchen, ist abzulehnen. Dabei lässt sich feststellen, dass die Auffassungen im Schrifttum, die an die „zwingenden Gründe“ keine zu strengen Anforderungen stellen wollen, wenn sie überhaupt einen Fundstellennachweis für ihre These angeführt haben,685 überwiegend jene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts heranziehen, in denen von einem „weiten“ gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum die Rede ist.686 Andere heben auf Entscheidungen ab, die ihrer Terminologie nach dem Gesetzgeber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum zugestehen, in der Rechtfertigungsbegründung 681 Ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 156. Dabei ist der Wortgebrauch nicht immer einheitlich. 682 Schreiber, DÖV 1974, S. 829 (830). 683 So zu Recht Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 159; mit Verweis auf konkrete Verfassungsgebote auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 44; allgemeiner Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 53: „besondere rechtfertigende Gründe“. 684 So insbesondere Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65, 72; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 158. 685 Denn dies ist nicht immer so. Norbert Achterberg und Martin Schulte, vgl. dies., in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120, oder etwa Ingo v. Münch, vgl. ders., in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG 3, Bd. 2, Art. 38 Rn. 8, auf den sich auch Stern, Staatsrecht I, § 10 II 3 (S. 304) beruft, belegen ihre Annahme, dass als zwingender Grund „jeder anerkennenswerte wichtige Grund“ ausreiche, an keiner Stelle. 686 Diese Beobachtung macht auch Blumenwitz, Wahlrecht, S. 72. So knüpft etwa Lege, Jura 1998, S. 462 (469), seine Grundsatzkritik unmittelbar an BVerfGE 95, 335 (Überhangmandate) und BVerfGE 95, 408 (Grundmandatsklausel); ferner mit zahlreichen Verweisen Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 11. Dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze „allgemein“ einen weiten Gestaltungsspielraum zusprechend auch Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 80 mit Verweis u. a. auf BVerfGE 59, 119 (124) – Briefwahl; BVerfGE 95, 335 (349) – Überhangmandate; BVerfGE 97, 317 (328) – Überhangmandate (Nachfolger). Vgl. ferner etwa BVerfGE 131, 316 (334 f.) – Überhangmandate; BVerfG, NVwZ 2012, S. 161 (Die PARTEI). Dies gelte aber „nur stark eingeschränkt“ für die Wahlrechtsgleichheit, vgl. Magiera, ebd.

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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aber von einer Begrenzung auf die von der Verfassung legitimierten Ziele nicht ausdrücklich ausgehen.687 Doch trägt die von Teilen der Literatur unternommene Aufweichung nicht, wonach unter „zwingenden Gründen“ auch „anerkennenswerte wichtige Gründe“ zu verstehen seien.688 Denn eine Begrenzung auf die von der Verfassung selbst geschützten Ziele wird hierdurch gerade nicht erkennbar. Auch der noch weitergehende Ansatz etwa von Lege, wonach schon „zureichende“ oder „staatspolitisch legitime“ Gründe ausreichen sollen,689 kann insoweit keine Zustimmung finden. Lege vermischt die abstrakte Rahmensetzung des Bundesverfassungsgerichts, die eben jenen strengen Maßstab zu erkennen gibt, zu sehr mit der darauf folgenden Anwendung dieses Maßstabes auf den konkreten Einzelfall.690 Der von Walter Pauly691 eingebrachte Vorschlag, die zwingenden Gründe nur durch den Ausschluss bestimmter Differenzierungsziele, namentlich persönlicher Eigenschaften der Wähler als Rechtfertigungsgrund negativ abzugrenzen, es aber dem Gesetzgeber im Übrigen anheimzustellen „wählerunspezifisch und richtungsneutral“ einzugreifen, solange die konkreten Beschränkungen zur Zweckerreichung nur geeignet und erforderlich seien, verdient ebenfalls keine Zustimmung. Diese Auffassung wird allenfalls noch durch die ältere Wahlrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts getragen, die unter Verzicht auf eine konkrete Definition der zwingenden Gründe die Anknüpfung an personenbezogene Eigenschaften ausschließt.692 Diese Rechtsprechung ist aber spätestens seit der Grundmandatsentscheidung aus dem Jahr 1997 überholt. Darüber hinaus lässt der Ansatz unbeachtet, dass die zur Erfüllung von Wahlzwecken geeigneten und erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen unter alleinigem Ausschluss personenbezogener Differenzierungen keineswegs nur richtungsneutral sind, sondern, das wird etwa am Beispiel der Sperrklausel deutlich, gezielt gegen Konkurrenten eingesetzt werden könnten.693 Soweit gesetzgeberische Regelungen im Wahlrecht in Rede stehen, die sich nicht auf die Ausgestaltung des Wahlsystems beziehen, sondern den grundlegenden Zugang zur Wahl überhaupt zum Gegenstand haben, ist auch nicht erkennbar, weshalb hier eine Beschränkung der die konkrete Regelung rechtfertigenden Gründe auf ausschließlich verfassungsrangige Rechtsgüter für den Gesetzgeber zu einer 687 Deutlich etwa bei Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252) mit Verweis auf die Sperrklauseljudikatur des Bundesverfassungsgerichts aus BVerfGE 1, 208 (249) sowie BVerfGE 4, 31 (41); 51, 222 (249). 688 Vgl. oben, Nachweise bei Fn. 453. 689 Ders., Jura 1998, S. 462 (469). 690 Zur insoweit besonderen Begründungstechnik des Bundesverfassungsgerichts vgl. anschaulich Lepsius, in: Jestaedt / ders. / Möllers (Hrsg.), Gericht, S. 159 (168 ff.). 691 Ders., AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). 692 Vgl. etwa noch BVerfGE 36, 138 (141); 58, 202 (205). Wobei auch hier zu bemerken ist, dass spätere Entscheidungen zum allgemeinen Gleichheitssatz personenbezogene Differenzierungen nur als Beispiel für eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung herangezogen haben, vgl. etwa BVerfGE 71, 39 (58 f.); ähnlich BVerfGE 76, 256 (329 f.); 93, 386 (397). 693 So auch Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 54.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

„Überdehnung der ihm verfassungsrechtlich vorgegeben Pflichten“ führen soll.694 Möglicherweise zu weitgehend ist der Vorschlag H. Meyers,695 der nur Gründe anerkennen will, die „denknotwendig mit dem Charakter der Wahl verbunden sind“.696 Diese Auffassung ist aber noch vor dem Hintergrund der vom Bundesverfassungsgericht ursprünglich angenommenen Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Wahlrecht697 zu sehen. Durch die Begrenzung der gesetzgeberischen Anknüpfungspunkte auf den Sachbereich der Wahl verleiht H. Meyer der Wahlrechtsgleichheit gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz Kontur.698 Im Übrigen liegt in der Formulierung H. Meyers eine Beschränkung zumindest auf Gründe zur Verwirklichung des demokratischen Prinzips durchaus nahe.699 Das entspricht letztlich auch den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die zwingenden Gründe im Wahlrecht stellt. Denn jedenfalls sind die vom Bundesverfassungsgericht angeführten unmittelbaren Schranken zur Integrationsfunktion und der Funktionsfähigkeit des Parlaments aus dem Demokratieprinzip abgeleitet.700 3. Das Problem der gerichtlichen Kontrolle Tatsächlich aber können sich die Vertreter einer extensiven Auslegung des „zwingenden Grundes“ darauf berufen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in der Praxis selbst nicht immer an seine eigenen, generalisiert formulierten Vorgaben hält. So wird die Beschränkung der gesetzgeberischen Beschränkbarkeit der Wahlrechtsgrundsätze auf die im Demokratieprinzip angelegten Erfordernisse im Zusammenhang mit den zwingenden Gründen zwar in fast jeder Entscheidung wiederholt.701 Jedoch lässt sich das Gericht hierdurch nicht davon abhalten, die einzelnen „Funktionen“ sowohl der Wahl als auch des Parlaments begrifflich derart aufzuladen, dass eine Begrenzung auf die ursprünglich verfassungsrechtlich legitimierten Vorgaben kaum noch nachvollziehbar geleistet werden kann.702 Diese 694

So aber Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252 mit Fn. 99), der diese Befürchtung im Zusammenhang mit der Überhangmandatsentscheidung (BVerfGE 95, 335 ff.) zwar in spezifisch wahlsystemimmanente Fragestellung anspricht, eine alleinige Beschränkung darauf aber nicht zu erkennen gibt. 695 Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 31. 696 So jedenfalls Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 158. 697 Vgl. dazu oben Erster Teil 4. Kapitel B. I. 2. 698 H. Meyer, HStR3 III, § 38 Rn. 32 f. 699 Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50); ähnlich Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (250, 253). 700 Dies anerkennt für die Funktionsfähigkeit des Parlaments ausdrücklich auch H. Meyer bei der Auseinandersetzung mit der Sperrklauselproblematik, vgl. ders., HStR3 III, § 46 Rn. 40: „einzig seriöses Argument“. 701 Vgl. oben Nachweise bei Fn. 732. 702 Vgl. Kritik etwa bei Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65; ebenso Heintzen, DVBl. 1997, S. 744 (747); auch H. Meyer hält bzgl. der Sperrklauselregelungen im Wahlrecht eine Überprüfung der gesetzgeberischen Maßnahmen zur Erfüllung der verfassungsrangigen Ziele anhand einer Realanalyse für geboten, vgl. ders., HStR3 III, § 46 Rn. 40. Eine solche wurde, soweit ersichtlich, noch nicht durchgeführt, wobei die Sperrklauseljudikatur

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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Ausweitung setzt sich bei der gerichtlichen Kontrolldichte fort. Einerseits sei der Differenzierungsspielraum zwar eng bemessen, andererseits sei es aber Sache des Gesetzgebers, über Differenzierungen aus verfassungslegitimierten Erwägungen zu entscheiden.703 Dabei sei eine stete Anpassung der gesetzlichen Beschränkungen an die tatsächlichen Verhältnisse nötig.704 Damit werden dem Gesetzgeber aber zwangsläufig weitere Prognose- und Einschätzungsspielräume eröffnet, die das Gericht wiederum nur auf die Einhaltung äußerster Grenzen überprüfen will. Auch wenn damit grundsätzlich keine größeren Gestaltungsspielräume gegenüber der Verfassung konstituiert werden,705 bleibt die richterliche Kontrolldichte stets hinter dem zuvor fixierten Prüfungsmaßstab zurück.706 Dies ist zwar grundsätzlich ein der gesetzgeberischen Erstinterpretation geschuldeter Umstand, der im System der Gewaltenteilung Bestand hat.707 Dennoch hat das Gericht gerade im Recht der Wahlteilhabe umfassend auf eine enge verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers hinzuwirken. Dass aber die im jeweiligen Einzelfall vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Kontrolldichte noch dem engen verfassungsrechtlichen Spielraum zur Einschränkbarkeit der Wahlrechtsgrundsätze entspricht, wird in den Entscheidungsgründen kaum deutlich gemacht. Im Gegenteil: Die diesbezüglichen Einschätzungsbefugnisse des Gesetzgebers fasst das Gericht eher weit. Namentlich dürfe der Gesetzgeber von einer „möglichst breiten, alle Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung“ ausgehen.708 Ferner gilt, dass sich der Gesetzgeber bei seinen Einschätzungen und Bewertungen „nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren“ habe.709 Diese Formulierungen geben aber kaum eine Antwort auf die Frage, welche Reichweite der gesetzgeberische Gestaltungsspielraums im Sachbereich der Wahlen hat, sondern bleiben im Ungefähren. Mangels näherer Einschränkungen drängt sich der Eindruck auf, dass der Gesetzgeber die ursprünglich aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten „Wahlziele“ zumindest im Hinblick auf das Auslandsdeutschenwahlrecht nahezu beliebig deuten darf, solange er die Notwendigkeit des Ausschlusses von bestimmten Gruppen von Auslandsdeutschen anhand der tatsächlichen Verhältnisse nur hinreichend plausibel erklären kann.710 des Senats als gefestigt betrachtet werden kann. Jedenfalls werden die darauf abstellenden Wahlanfechtungssachen regelmäßig mit Hinweis auf die bisher festgestellte Vereinbarkeit mit der Verfassung insoweit als unzulässig abgewiesen, vgl. etwa Beschl. v. 31.1.2012, – 2 BvC 11/11 – juris, bestätigt; ebenfalls Beschl. v. 18.10.2011, – 2 BvC 8/11 – juris. 703 Insbesondere die von Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252 mit Fn. 99), hier in Fn. 687, angeführten Entscheidungen prägen diesen Inhalt. 704 Vgl. etwa BVerfGE 58, 202 (207 f.); 132, 39 (50 Rn. 30). 705 Germelmann, Jura 2014, S. 310 (318). 706 Dazu ausführlich Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 504 f. 707 Vgl. Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 505. 708 St. Rspr.; BVerfGE 116, 164 (182 f.); 122, 210 (233); 126, 268 (279). 709 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (321); 132, 39 (49 Rn. 29). 710 Vgl. Germelmann, Jura 2014, S. 310 (317 und 318): „verfassungspolitische Beliebigkeit“; dies belegt teilweise auch die Entwicklung des Auslandsdeutschenwahlrechts seit seinen Anfängen, vgl. dazu Erster Teil 2. Kapitel A.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass bei Regelungen, die die Bedingun­ gen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit in eigener Sache tätig wird und daher die Gefahr besteht, dass sie sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des Machterhalts leiten lässt.711 Gerade dieses in der Wahlgesetzgebung nahezu unauflösliche Strukturproblem macht eine intensivierte verfassungsgerichtliche Kontrolle im Hinblick auf die Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen im Wahlrecht erforderlich.712 Die strikte Weigerung des Gerichts, generell gültige Leitsätze für den Regelungsbereich der Wahlberechtigung aufzustellen,713 sondern stattdessen – dies ist insbesondere in den neueren Entscheidungen erkennbar – mit Hinweis auf die sich ständig ändernden Rahmenbedingungen darauf zu rekurrieren, dass „Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen […] nicht ohne Weiteres zur Beurteilung der aktuellen Rechtslage herangezogen werden“714 können, erlaubt es dagegen nicht nur dem Gesetz­ geber, sondern auch dem Gericht selbst, jeweils neue Begründungsstrukturen je nach Lage des Einzelfalls herzustellen. Dies bestärkt den betrüblichen Eindruck der nur formelhaften Verwendung bestimmter Textbausteine erneut.715 Als „vornehmstes Recht der Staatsbürgerschaft“716 und wegen seiner legitimierenden Funktion der Staatsgewalt müsste gerade dem Wahlrecht – unabhängig von politisch motivierten Interessen, denen sich auch das Bundesverfassungsgericht nicht immer entzieht717 –, in seiner Beachtung oberste Priorität eingeräumt werden. Für die Ausgestaltung des Wahlrechts ist daher eine enge Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung zu fordern, die das Bundesverfassungsgericht in geeigneter Weise zu gewährleisten hat. Dies wird nicht nur durch eine weiterreichende Kontrolldichte von gesetzgeberischen Handlungen im Sachbereich der Wahlen erreicht. Im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl ist vielmehr auch die Formulierung klarer und einheitlicher Kriterien notwendig, an denen sich der Gesetzgeber verbindlich zu orientieren hat. Die in der neueren Senatsrechtsprechung zu bemerkende Tendenz zur Aufweichung der geltenden Anforderungen

711

Vgl. P. Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 129; ebenso H. Meyer, HStR3 III, § 45 Rn. 37. 712 Dafür auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 180; Germelmann, Jura 2014, S. 310 (318, 319). 713 Vgl. oben, Nachweise bei Fn. 776. 714 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31). 715 Insbesondere fügt sich etwa BVerfGE 132, 39 ff. nicht in die bisherige zumindest einigermaßen konsequente Wahlrechtsprechung des Zweiten Senats ein, vgl. zu dieser Einschätzung auch Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (60 f. Rn. 61); ebenso Germelmann, Jura 2014, S. 310 (317), der gleichwohl eine grundlegende Abkehr der bisherigen Rechtsprechung noch nicht erkennen will, vgl. ebd., S. 321. 716 So BVerfGE 1, 14 (33). 717 Vgl. dazu Analyse bei Möllers, in: Jestaedt / Lepsius / ders. (Hrsg.), Gericht, S. 281 (313 ff., 320 ff.).

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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an die Einschränkbarkeit von Wahlrechtsgrundsätzen718 begegnet daher grundlegenden Bedenken. 4. Zwischenergebnis Artikel 38 Abs. 3 GG ist für die Bestimmung des Differenzierungsmaßstabs im Wahlrecht unbehelflich. Diese Norm enthält nur einen reinen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, jedoch keinen allgemeinen Gesetzesvorbehalt zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen. Deshalb gibt Art. 38 Abs. 3 GG auch keine Auskunft darüber, welche Kriterien an die Rechtfertigung von gesetzlichen Differenzierungen im Wahlrecht zu stellen sind. Vielmehr steht nach der vorstehenden Analyse fest, dass gesetzliche Einschränkungen der Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl nur zum Schutz von verfassungsrangigen Rechtsgütern gerechtfertigt werden können. Insoweit werden die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG normtextlich vorbehaltlos garantiert.719 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Seit seiner Entscheidung zur Grundmandatsklausel vom 10. April 1997720 beurteilt das Gericht die Reichweite der gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnisse mit Wirkung für die Wahlrechtsgrundsätze unmittelbar anhand der Verfassung. Bei richtiger Auslegung werden die standardisierten Formulierungen zu den Anforderungen an die die Wahlrechtsbeschränkungen rechtfertigenden Gründe durchgängig von diesen beiden Faktoren getragen: „durch die Verfassung legitimiert“ und von ihrem Gewicht her „der Wahlrechtsgleichheit die Waage“ haltend.721 Damit betont das Bundesverfassungsgericht die Strenge des Kontrollmaßstabes stärker als noch zuvor, als der Kreis möglicher Einschränkungsgründe noch nicht auf verfassungsrangige Gründe beschränkt war. Angesichts dessen besteht kein Unterschied mehr zur Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht.722 III. Ziele und Funktionen der Wahl als verfassungsunmittelbare Schranken Der bis hierhin erarbeitete Befund führt zu der Frage, welche verfassungs­ unmittelbaren Schranken die einzelnen Grundsätze des Wahlrechts näher ausformen und ihrerseits beschränken. Die Antwort ist naheliegend: Wenn das Wahlrecht und damit insbesondere die allgemeine Wahlrechtsgleichheit direkte Ausprägung 718 Das betrifft insbesondere die Erwägung in der Auslandsdeutschenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2012 zur relativen Geltung vormaliger Aussagen des Gerichts bei der Beurteilung von Wahlrechtsbeschränkungen, BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 31). 719 Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 36. 720 BVerfGE 95, 408 (418 ff.). 721 Vgl. zuletzt BVerfGE 135, 259 (286 Rn. 53) – 3 %-Klausel Europawahl. 722 So auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 65.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

des demokratischen Prinzips sind,723 kann auch die Beschränkbarkeit des Wahlrechts nur aus den Vorgaben und der Reichweite jenes Prinzips selbst her gedacht werden.724 Konkret ist die im demokratischen Prinzip verankerte Stabilität und Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems als verfassungsunmittelbare Schranke der Wahlrechtsgrundsätze auszumachen,725 zu der auch die Legitimationsfunktion der Wahl zählt.726 Das ergibt sich aus der folgenden Überlegung: Das Grundgesetz schreibt Wahlen zu Volksvertretungen vor. Angesichts der in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Konzeption der parlamentarischen Demokratie, wonach die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, aber nur in Parlamentswahlen vom Volk selbst ausgeübt wird, ist es im Sinne des der Wahlrechtsgleichheit zugrunde liegenden Demokratiegedankens notwendig, dass nicht nur die das Volk repräsentierenden Organe,727 sondern auch die Wahlen selbst die ihnen nach anderen Verfassungsvorschriften zukommenden Funktionen effektiv erfüllen können. Anders kann demokratisch legitimierte Staatsgewalt nicht wirksam werden, und die Wahlen zur deutschen Volksvertretung wären unsinnig.728 Insoweit sichert auch der gleichheitliche Wahlzugang729 die angemessene Repräsentation der im Volk vorhandenen gewichtigen Anliegen in der gewählten Volksvertretung. Dementsprechend müssen die gesetzgeberischen Ziele, mit denen Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze gerechtfertigt werden sollen, ihrerseits dem Schutz und der Entfaltung anderer Rechtsgüter dienen, die der Aufrechterhaltung des in den Wahlrechtsgrundsätzen zum Ausdruck gebrachten parlamentarischen Repräsentationsprinzips zugeordnet werden können. Als einschlägiges Verfassungsgut kommt hier deshalb die demokratische Funktion der Wahl bei der Willensbildung des Volkes als besondere Ausprägung des Demokratieprinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG in Betracht.730 Das Bundesverfassungsgericht nennt in diesem Zusammenhang731 stets die Aufgabe und Funktion der jeweiligen Volksvertretung sowie die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes.732 Diese Ziele stehen nicht isoliert, sondern beziehen sich alle 723

So BVerfGE 41, 399 (413); 69, 92 (106); Stern, Staatsrecht I, § 18 II 5 (S. 606). Ähnlich auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 31. 725 Darauf stellt auch die Gesetzesbegründung zur Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts im Jahr 1985 ab, vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 10 f.; ebenso Felten, DÖV 2013, S. 466 (474 f.). 726 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 68; Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 8. 727 Vgl. Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50); in diese Richtung auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (250, 253). 728 Vgl. Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50). 729 Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81; Blumenwitz, Wahlrecht, S. 85. 730 Vgl. Germelmann, Jura 2014, S. 310 (315); Grzeszick, Jura 2014, S. 1110 (1116). 731 Zu weiteren verfassungsunmittelbaren Schranken, etwa betreffend Wahlalter, Indemnitätsvorschriften sowie die Beschränkbarkeit der passiven Wahlberechtigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes vgl. m. w. N. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 66. 732 Vgl. BVerfGE 95, 408 (418) mit Verweis auf BVerfGE 6, 84 (92 f.) und BVerfGE 71, 81 (97) für die Integrationsfunktion der Wahl, und mit Verweis auf die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung auf BVerfGE 4, 31 (40); 51, 222 (236), 82, 322 (338). Diese Ziele werden in späteren Entscheidungen wiederholt, vgl. etwa BVerfGE 120, 82 724

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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auf den maßgebenden Grund der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG,733 wie die nachfolgenden Erwägungen verdeutlichen sollen. 1. Aufgabe und Funktion der Volksvertretung als Subjekt demokratischer Legitimation Wie gerade dargelegt, geht die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG „vom Volke“ aus, wird von diesem nach Satz 2 jedoch nur bei Wahlen zum Deutschen Bundestag734 selbst unmittelbar ausgeübt.735 Ziel der Wahl ist die Legitimation der besonderen Organe, denen die Ausübung der Staatsgewalt im Übrigen anvertraut ist. Wegen dieser besonderen Legitimationsfunktion findet gerade die Wahlrechtsgleichheit ihre Entsprechung in der Ausgestaltung des freien Abgeordnetenmandats nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, das wiederum in engem Zusammenhang mit der zentralen Aufgabe der Volksvertretung steht, nämlich i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG Staatsgewalt nach demokratischen Grundsätzen auszuüben. Allein deshalb schließt Art. 38 GG solche Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit nicht aus, die notwendig sind, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments als demokratisch legitimiertes Staatsorgan zu gewährleisten.736 Nichts anderes gilt für den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, soweit er die notwendige Grundlage möglichst breiter demokratischer Legitimation aufseiten des Wahlvolkes erst stiftet. Allein in diesem Sinne ist die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung hier von Belang. Nach Maßgabe dessen baut die Demokratie und damit auch ihre Verwirklichung durch die individuelle Inanspruchnahme politischer Mitwirkungsrechte auf der Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger auf.737 Diese sind durch den Gesetzgeber zu gewährleisten. Die „egalitäre“ Komponente des Demokratieprinzips besteht gerade darin, „die Stimmen aller Staatsbürger unbeschadet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede gleich“ zu behandeln.738 Differenzierungen in (107) – Kieler Sperrklausel; BVerfGE 121, 108 (122) – kommunale Wählervereinigung; 129, 300 (320 f.) – Sperrklausel; 132, 39 (50 Rn. 32) – Wahlberechtigung Auslandsdeutscher. 733 Ähnlich Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50). 734 Der ebenfalls genannten „Abstimmung“ als direkt der Aktivbürgerschaft innewohnende Entscheidungsbefugnis über Sachfragen kommt angesichts der zuvörderst repräsentativ-parlamentarischen Prägung unseres Demokratieprinzips keine praktische Relevanz zu, vgl. dazu ausführlich Engelken, DÖV 2013, S. 301 ff. 735 Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 20 Rn. 24; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 28; damit korrespondierend Magiera, in: ebd., Art. 38 Rn. 73. 736 Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50). 737 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 18 I 4 (S. 594 ff.) und § 18 II 5 (S. 613 ff.); Böckenförde, HStR3 II, § 24 Rn. 35 ff., 41 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 16. 738 BVerfGE 82, 322 (337), zurückgehend auf BVerfGE 6, 84 (91); ähnlich BVerfGE 69, 92 (106).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

der Wahlzugangsberechtigung sind daher grundsätzlich unzulässig,739 soweit eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht besteht. So sind nicht nur personen­ bezogene Differenzierungsziele ausgeschlossen,740 auch sachliche Differenzierungen scheiden aus, wenn sie dem Abgleich mit den strengen egalitär-demokratischen Anforderungen des Demokratieprinzips nicht standhalten. Die Verwirklichung der mit dem Demokratieprinzip zwingend einhergehenden „Herrschaft des Volkes“ nach dem egalitären Modell liefert damit sowohl die Legitimation gesetzgeberischen Handelns im Wahlrecht wie auch gleichzeitig seine Grenze. 2. Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang und Kommunikationsfunktion der Wahl Zu den Gründen, die Differenzierungen im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen können, zählt das Bundesverfassungsgericht die Kommunikationsfunktion der Wahl.741 Es leitet diese Wahlfunktion als Unterfall des Wahlziels, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern,742 unmittelbar aus dem Demokratieprinzip ab.743 Diese Erwägung geht davon aus, dass die repräsentative Demokratie zur „effektiven Integration“ des Staatsvolkes durch Wahlen744 einen vorhergehenden, prinzipiell offenen Kommunikations- und Willensbildungsprozess voraussetzt. Dies betrifft sowohl die Entstehung einer politischen Entscheidung wie auch ihre öffentliche Begleitung in Form von (nicht nur parlamentarischer) Kontrolle, Kritik und nötigenfalls Revision.745 Das Bundesverfassungsgericht kleidet dies regelmäßig in folgende Formel: „Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung.“746 Damit gemeint ist letztlich nichts anderes, als dass der beständige Dialog zwischen Parlament und den gesellschaftlichen Kräften für die Legitimität des repräsentativen Regierungssystems ebenso essenziell ist wie der Wahlakt selbst. Das verdeutlicht, dass jeder demokratischen Ordnung notwendig ein „Prozesscharakter“ innewohnt, der wiederum durch ein vielschichtiges und komplexes Wechselspiel zwischen Wählern und Gewählten, Bürgern und staatlichen Instanzen von 739

Vgl. Böckenförde, HStR3 II, § 24 Rn. 42. Darauf aber beschränkend Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). 741 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32); BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, – 2 BvC 62/14, juris-Rn. 44. 742 Anerkannt außerdem bei BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (320 f.). 743 Vgl. Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447). 744 BVerfGE 95, 408 (420). 745 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 77; Badura, HStR3 II, § 25 Rn. 31, 35, 41. 746 Vgl. BVerfGE 20, 56 (98); 69, 315 (346); 132, 39 (51 Rn. 33). 740

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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entsprechenden Rückkopplungseffekten gekennzeichnet ist.747 Das Wahlergebnis bildet schließlich das gesellschaftliche Meinungsbild im Parlament ab und bewirkt so die Integration des Staatsvolkes. Mit den Wahlen werden die politischen Kräfte im Volk identifiziert, um zu verhindern, dass gewichtige Anliegen von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben.748 Die demokratische Teilhabe des Einzelnen hört nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aber nicht bei der Stimmabgabe zum Wahltermin auf, sondern erstreckt sich weit darüber hinaus auf die gesamte Legislaturperiode. Hier bilden insbesondere die Kommunikationsgrundrechte, etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Vereinigungs-. und Versammlungsfreiheit sowie das Petitionsrecht,749 die tragenden Säulen im Meinungs- und Willensbildungsprozess des Volkes. Dem Abgeordneten kommt demgegenüber eine doppelte Mittlerfunktion zu; einerseits im Hinblick auf die Einbringung der aus dem Volk an ihn herangetragenen Belange in das Parlament, andererseits hinsichtlich der Kommunikation der im Parlament getroffenen Entscheidungen nach außen.750 Dem muss auch der Wahlgesetzgeber Rechnung tragen, indem er das Wahlrecht, namentlich die materielle Wahlberechtigung auch in strenger Orientierung an der Funktion des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes ausgestaltet. 3. Zwischenergebnis Die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes einschließlich der Kommunikationsfunktion der Wahl sowie die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung sind für die Legitimationsfunktion der Wahl und damit für die Aufrechterhaltung des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verankerten Prinzips der parlamentarischen Repräsentation unerlässlich. Diese mit den Parlamentswahlen verbundenen Ziele bilden grundsätzlich zulässige Schranken, die gesetzliche Differenzierungen im Anwendungsbereich der Wahlrechtsgleichheit und der Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen können.

747 BVerfGE 85, 264 (284); 134, 141 (172 f. Rn. 95); näher auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 77. 748 Vgl. P. Müller, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG7, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 126; Grzeszick, in: Stern / Becker (Hrsg.), GR-Kommentar, Art. 38 Rn. 8. 749 Näher Dolde, Rechte, S. 26 ff.; Schmitt Glaeser, HStR3 III, § 38 Rn. 13 ff. 750 Dazu näher unten Erster Teil 5. Kapitel C. I. 1.

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IV. Verhältnismäßigkeit Stehen die zulässigen, das heißt die von der Verfassung zugelassenen gesetzgeberischen Handlungsziele (namentlich die Ziele und Funktionen der Wahl) grundsätzlich fest, bleiben weitere Anforderungen zu klären, an denen sich die jeweiligen gesetzgeberischen Maßnahmen für die Erreichung jener Ziele messen lassen müssen. 1. Hintergrund der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wahlrecht Seit der Grundmandatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 1997 verlangt das Gericht, dass die differenzierenden Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sind.751 Damit ist eine weitere Stellschraube angesprochen, die es ermöglicht, auf die Reichweite der Verfassungsbindung des Gesetzgebers Einfluss zu nehmen. Entgegen den vom Gericht selbst angeführten Rechtsprechungsverweisen752 kann sich die in der Grundmandatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts erstmals durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung im Anwendungsbereich der Wahlrechtsgleichheit auf keinerlei Vorbilder stützen.753 Insbesondere die in das Grundmandatsurteil mit einbezogene Entscheidung vom 22. Oktober 1985 zu den Zwangsmitgliedschaften in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts754 befasst sich unter dem Regime des allgemeinen Gleichheitssatzes zwar u. a. mit dem Begriff der „Eingriffsintensität“ und der als „neue Formel“ bekannt gewordenen Rechtsprechung des Ersten Senats zu Art. 3 Abs. 1 GG, dies jedoch für den „Sachbereich der Wahlen im Arbeits- und Sozialwesen“.755 Steht ein allgemeiner Gleichheitsverstoß in Rede, bestimmt das Gericht seither die Grenzen aus Art. 3 Abs. 1 GG „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen“ unterschiedlich. Sie reichen von einem „bloßen Willkürverbot“ bis hin zu einer „strengen Bindung an die Verhältnismäßigkeit“.756 Grundsätzlich gilt ein strenger, an den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab bei Ungleichbehandlungen, die „an Persönlichkeitsmerkmale anknüpfen“, mithin personenbezogener Art sind.757 Für sach- oder verhaltensbe 751

BVerfGE 95, 408 (418 f.), ebenso BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207; BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 27). 752 Verwiesen wird auf BVerfGE 6, 84 (94); 51, 222 (238); 71, 81 (96). 753 Wie hier Ennuschat, VR 1999, 12 (13); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 105; a. A. Lenz, NJW 1997, S. 1534 (1535). 754 BVerfGE 71, 81 (96). 755 Vgl. grundlegend BVerfGE 55, 72 (89); seither st. Rspr.: BVerfGE 60, 329 (346); 88, 89 (97); 91, 389 (401); 95, 267 (317). 756 Vgl. BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22); 91, 346 (362); 91, 389 (401); 92, 365 (407); 93, 99 (111); 95, 267 (316). 757 BVerfGE 129, 49 (69) mit Zitat; vgl. auch BVerfGE 82, 126 (146); 88, 87 (97); 95, 267 (317).

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zogene Differenzierungen beschränkt sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle hingegen regelmäßig auf das Vorliegen evidenter Unsachlichkeit als Willkürprüfung, ohne das Verhältnismäßigkeitsprinzip einzubeziehen.758 Dabei handelt es sich keineswegs um starre und abstrakte Kategorien. Zwischen den Stufen bestehen vielmehr Abstufungen und Unterscheidungen „nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen“.759 Die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist danach umso eher geboten, „je weniger die Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind“.760 Weil das Bundesverfassungsgericht diese und ähnliche Begriffe auch in der Grundmandatsentscheidung verwendet hatte, verwundert es nicht, dass von Teilen der Literatur zunächst angenommen wurde, dass der Zweite Senat die offen ausgestalteten Rechtfertigungsgrundsätze des allgemeinen Gleichheitssatzes in seine Wahlrechtsjudikatur implementiert habe.761 Die Konsequenz dessen aber wäre, dass das durch das Demokratieprinzip zunächst hergestellte Primat streng egalitärer Gleichheit im Wahlrecht mit seinem von vornherein „begrenzteren“ Gestaltungsspielraum durch die Anwendung der „neuen Formel“ derart aufgebrochen würde, dass sich die spezielle wahlrechtliche Gleichheit nur noch in unwesentlichen Nuancen762 vom allgemeinen Gleichheitssatz unterscheiden würde. Ein derartiges Verständnis knüpft zwanglos an die von Gerhard Leibholz entwickelte und oben auseinandergesetzte Lehre von der regulativen und übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Sachbereich der Wahlen an.763 Ungeachtet seiner Entscheidung vom 16. Juli 1998764, wonach die Anwendung des allgemeinen Gleichheitsgedankens bei der speziellen Wahlrechtsgleichheit entfallen war,765 hält das Bundesverfassungsgericht jedoch zumindest an der in der „neuen Formel“ zum Ausdruck gebrachten spezifischen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Grundsatz bis heute fest. Es bestehen allerdings Modifikationen. So hat der Zweite Senat die konkrete Unterscheidung zwischen sach- und personengebundenen Wahlrechtsdifferenzierungen des Ersten Senats nicht mit übernommen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung findet seit der Entscheidung vom 16. Juli 1998 vielmehr auch bei gesetzlichen Differenzierungen im Wahlrecht nach rein sachbezogenen Gründen statt.766 Personenbezogene Anknüpfungspunkte werden in der Rechtsprechung des Senats im Wahlrecht wie oben festgestellt von vornherein aus 758

BVerfGE 88, 87 (97); 91, 346 (363); 116, 135 (161); 118, 79 (101); 133, 1 (22 Rn. 66). BVerfGE 91, 346 (363); 129, 49 (68 f.); 130, 131 (142); 133, 1 (14 Rn. 45). 760 BVerfGE 99, 367 (388); 111, 160 (169 f.); 129, 49 (69); 133, 1 (14 Rn. 45). 761 So etwa Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252); Ennuschat, VR 1999, 12 (13). 762 Ähnlich H. Meyer, HStR3 III, § 38 Rn. 32 f. Das einzige Abgrenzungskriterium wäre dann allenfalls das Erfordernis, dass die Differenzierung an den „Sachbereich der Wahlen“ anknüpft. 763 Dazu auch oben Erster Teil 4. Kapitel B. I. 2. 764 BVerfGE 99, 1 ff. 765 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel B. I. 2. 766 BVerfGE 95, 408 (418), ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 107, anders Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (254). 759

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geschlossen.767 Indessen entfällt eine nochmalige Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) nach Zumutbarkeitskriterien.768 So behält die wahlrechtliche Gleichheit gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz in gewisser Weise ihren aus dem Demokratieprinzip herrührenden gesteigerten Schutzgehalt. Im Sinne der Grundrechtsdogmatik erfüllt die Verhältnismäßigkeitskontrolle die Funktion, der Einschränkbarkeit eines Grundrechts auf der Rechtfertigungsebene Grenzen (Schranken-Schranke) zu setzen. Gerade im Hinblick auf den im Wahlrecht festgestellten notwendigen Ausgleich widerstreitender Verfassungswerte769 ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sinnvoll und geboten. Auch in der Literatur wird die Verhältnismäßigkeit bei der Beurteilung von Wahlrechtsbeschränkungen diskutiert.770 Soweit ersichtlich, wendet sich niemand explizit gegen die Einbeziehung von Verhältnismäßigkeitserwägungen sowohl bei der Bestimmung des zwingenden Grundes selbst als auch bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Maßnahmen zur Zweckerreichung. Freilich werden diese Aspekte nur selten ausdrücklich angesprochen oder gar terminologisch voneinander getrennt.771 Hinsichtlich der Beurteilung konkreter Ungleichbehandlungen im Wahlrecht greifen die meisten Autoren auf die vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Begriffe der Geeignetheit und Erforderlichkeit zurück.772 Aufgrund der insoweit mehrfach nachgewiesenen773 normstrukturellen Ähnlichkeit der Wahlrechtsgleichheit und der Allgemeinheit der Wahl mit den Freiheitsrechten bestehen jedenfalls grundsätzlich keine Bedenken gegen die Verknüpfung von Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung auch im Wahlrecht.

767

Vgl. BVerfGE 71, 39 (58 f.); 76, 256 (329 f.); 93, 386 (397); vgl. auch oben Erster Teil 4. Kapitel  A. II. 1. 768 Vgl. zum Begriff Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 7 (S. 861 ff.). 769 Oben Erster Teil 4. Kapitel B. II. 4. 770 Vgl. etwa bei BVerfGE 121, 266 (297 f.); 124, 1 (19); 129, 300 (320); ebenso bei Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 105; Ennuschat, VR 1999, S. 13 (14); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 98. 771 Kriterien ausdrücklich erwähnt und behandelt etwa bei Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (252 ff.); Ennuschat, VR 1999, S. 13 (14); Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 98, jeweils für die Gleichheit der Wahl; für die Allgemeinheit der Wahl vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 105 ff.; Sachs, JuS 2013, S. 376 ff.; H. Lang, ZRP 2013, S. 133 (135 mit Fn. 23); Germelmann, Jura 2014, S. 310 (317 f.). 772 Vgl. etwa Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (73 ff.); ders., in: FS Wagner, S. 356 ff.; Germelmann, Jura 2014, S. 310 (317 f.); Felten, DÖV 2013, S. 466 (470 ff.); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (9). 773 Vgl. Wenner, Sperrklauseln, S. 227 f.; überzeugend nachgewiesen auch von Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 164 f.

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2. Bestimmung der zwingenden Gründe und Verhältnismäßigkeitsprüfung Bis hierhin stehen die von der Rechtsprechung und Literatur angestellten Überlegungen zur Durchführung einer (modifizierten) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sachbereich der Wahlen scheinbar noch losgelöst von der zuvor erarbeiteten Formel des zwingenden Grundes. Die Erfordernisse der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung zur Verwirklichung eines legitimen Zwecks fallen typischerweise in den Bereich der Schrankenbeschränkung im Sinne des „rechtsstaatlichen Übermaßverbots“774. In der Tendenz ist aber erkennbar, dass die vom Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an die „neue Formel“ durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf die eigentliche Bestimmung der „legitimen“ oder „zwingenden Gründe“ selbst angewendet werden kann und muss. Diese These wird durch die folgende Überlegung gestützt: Schon die Bestimmung des gesetzgeberischen Regelungsspielraums im Wahlrecht selbst läuft auf eine Abwägung hinaus.775 Gerade der gesetzgeberischen Entscheidung darüber, welche konkreten Gründe die Wahlrechtsgrundsätze einzuschränken in der Lage sein sollen, liegt dem jeweils konkreten Fall776 bereits ein Abwägungsvorgang zugrunde, der die Reichweite des gesetzgeberischen Differenzierungsspielraums erst bestimmt. In der prominenten Formulierung des Gerichts, das „Gewicht“ dieses Grundes müsse den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Grundsätze der Wahl „die Waage halten“ können, kommt ganz deutlich die Abwägung der Gründe gegenüber dem Gewicht der Allgemeinheit der Wahl zum Tragen.777 Anders gewendet: Der Gesetzgeber hat jedwede Beschränkung der Allgemeinheit der Wahl unter die Prämisse zu stellen, dass sie den zulässigen verfassungsrechtlichen Schranken des Wahlrechts genügt, namentlich die oben herausgearbeiteten Ziele und Funktionen der Wahl befördert. Nur Regelungen zur Konkretisierung solcher Gründe sind sodann auf der Ebene der SchrankenSchranken einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem wahlrechtlichen Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit zugänglich. Insgesamt erfolgt die Zuordnung der Wahlrechtsgrundsätze und der wahlrechtsbeschränkenden Rechtsgüter mit der Bestimmung der „zwingenden Gründe“ auf Schrankenebene und der mittels der auf Rechtfertigungsebene durchzuführenden 774

Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 105; allgemein Osterloh / Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 15 f. 775 Ennuschat, VR 1999, S. 12 (13). 776 Dass der Zweite Senat dazu tendiert, den Prüfungsmaßstab „nicht abstrakt und allgemein“ festzustellen, sondern diesen „nur stets in Bezug auf die Eigenart des konkreten Sachbereichs“ bestimmt, ist unter Verfassungsjuristen mittlerweile hinlänglich bekannt, vgl. etwa BVerfGE 90, 145 (196); in Bezug auf die Änderung tatsächlicher Rahmenbedingungen vgl. auch BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 30 f.). 777 Ähnlich Ennuschat, VR 1999, S. 12 (13), der aber vom Element der „Angemessenheit“ spricht.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Verhältnismäßigkeitsprüfung der konkreten gesetzlichen Regelung nach den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit.778 Angesichts der formalen Strenge der Wahlrechtsgleichheit sind dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze allerdings enge Grenzen gezogen.779 Dementsprechend findet eine Prüfung der Angemessenheit jedenfalls im Sinne des rechtsstaatlichen Übermaßverbots nicht statt, um dem im Wahlrecht zum Ausdruck gebrachten egalitären Prinzip des demokratischen Prinzips im Wahlrecht hinreichend Geltung zu verschaffen.780 Diese „Relation“781 aber hat mit der schlichten Anwendung der „neuen Formel“ im Sinne des „rechtsstaatlichen Übermaßverbots“ auf der wahlrechtlichen Rechtfertigungsebene nichts zu tun, weil sich der Abwägungsvorgang auf Schrankenebene allein auf die Ermittlung der zwingenden Gründe selbst bezieht. Demgegenüber lässt sich die Geeignetheit und Erforderlichkeit der gesetzlichen Regelung nur unter Bezugnahme auf einen bereits festgestellten und im Sachbereich der Wahlen legitimen Zweck überprüfen.782 Die „Angemessenheit“, die hier in der Formulierung „der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten“ zum Tragen kommt, bestimmt allein das Gewicht der vom Gesetzgeber konkret verfolgten Zwecke einerseits gegenüber dem Gewicht der mit Verfassungsrang ausgestatteten Wahlrechtsgrundsätze andererseits. Für die Anwendung der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist insoweit kein Raum.

C. Zwischenergebnis Die Aufgabe der vorstehenden Analyse bestand darin, die für die weitere Untersuchung maßgeblichen Parameter zu identifizieren. In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass der Gebrauch der Begriffe sowohl hinsichtlich der Maßstabsbildung auf Schrankenebene als auch im Hinblick auf die konkret zulässigen Rechtfertigungstatbestände oft uneinheitlich und teilweise lückenhaft erfolgte. Demgegenüber gilt es wie folgt festzuhalten:

778

In diesem Sinne auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 166 f. Denn darauf stellte das Gericht trotz unterschiedlicher Formulierungen in so gut wie allen wahlrechtlichen Entscheidungen ab, in denen die Zulässigkeit des Wahlsystems an sich nicht zur Debatte gestanden hat, vgl. BVerfGE 44, 125 (146); 57, 43 (56); 69, 92 (106); 71, 81 (96); aktuell BVerfGE 132, 39 (48 Rn. 25); ebenso H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 33 mit Verweis auf BVerfGE 69, 92 (106); i. E. auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 108. 780 In diese Richtung auch Ennuschat, VR 1999, S. 12 (13); so erklärt sich auch das von Sachs, Jus 2013, S. 376 (377) angesprochene Fehlen einer „Angemessenheitsprüfung“ in der Auslandsdeutschenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 132, 39 ff. und BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 f. 781 Vgl. Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 72; ähnlich auch Sondervotum Henschel, BVerfGE 78, 38 (56), zur konkreten Anwendung vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel. 782 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, Vorb. Rn. 146; Schulze-Fielitz, in: ebd., Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaatsprinzip) Rn. 181. 779

4. Kap.: Grundlegende Bewertung und Kritik

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1. Für die Allgemeinheit der Wahl wurde herausgearbeitet, dass deren Schutzumfang wegen der Sicherungsfunktion egalitär demokratischer Teilhabe am Prozess der Legitimation zur Staatsgewalt weit zu begreifen ist. Dabei schließen sich die bisherigen Interpretationsansätze der einerseits negativen Abgrenzung durch die Benennung verbotener Differenzierungsziele und andererseits der positiven Feststellung umfassender Schutzgewährleistung für jeden wahlberechtigten Staatsangehörigen als Staatsbürger nicht aus. Als Maßstab gilt die oben herausgearbeitete Formel, nach der die Allgemeinheit der Wahl die aktive und passive Wahlberechtigung aller Staatsbürger in gleicher Weise verbürgt.783 2. Die Wahlrechtsgleichheit ist eine strikt formale Gleichheit. Ebensolches gilt für den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl.784 Die Allgemeinheit und die Gleichheit der Wahl sind die aus dem demokratischen Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Anforderungen, an der die konkrete Ausgestaltung des gesamten Wahlrechts einschließlich der gesetzlichen Wahlzugangsberechtigung zu messen ist.785 Anders als beim allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sind deshalb nicht alle gesetzlichen Differenzierungen zulässig, die sachlich begründbar und somit nicht willkürlich sind. Von den Wahlrechtsgrundsätzen abweichende wahlrechtliche Bevorzugungen oder Benachteiligungen sind viel eher nur dann rechtfertigungsfähig, wenn die sie tragenden Gründe ebenfalls aus der Verfassung herrühren.786 Darüber hinausgehende gesetzgeberische Zwecksetzungen kommen zur Einschränkung der genannten Wahlrechtsgrundsätze nicht in Betracht. Für die Sicherung und Ausgestaltung der mit dem Wahlrecht kollidierenden legitimen Belange bleibt dem Gesetzgeber innerhalb des von ihm gewählten Wahlsystems nur ein eng bemessener Gestaltungsspielraum. 3. Wahlrechtsbeschränkungen können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die ihre Wurzel in der Sicherung eines Verfassungsprinzips finden, das dem Gewicht der Wahlrechtsgrundsätze „die Waage halten“ kann. Die die gesetzgeberi­ schen Differenzierungen im Wahlrecht rechtfertigenden Gründe sind also insoweit als „zwingend“ zu bezeichnen, als sie verfassungsrangigen Rechtsgütern zur Geltung verhelfen. Demgegenüber nicht erforderlich ist, dass die Verfassung deren Verwirklichung „zwingend“ gebietet. An dieser Terminologie des „zwingenden Grundes“787 sollte daher festgehalten werden.788 Soweit demgegenüber von „legitimen“ Gründen gesprochen wird,789 ist dieser Begriff dementsprechend eng aus 783

Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. Vgl. für die Übertragung der Maßgaben auf die Allgemeinheit der Wahl BVerfG, NVwZ 1997, S. 1207; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, Art. 38 Rn. 3 f. 785 Vgl. Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 20 Rn. 20. 786 Vgl. auch Murswiek, in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (99). 787 Vgl. BVerfGE 1, 208 (248 f.); übernommen von BVerfGE 12, 10 (25) für die zwingenden Gründe; BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 132, 39 (48 Rn. 25) für die Anforderungen dieser Gründe gegenüber den Wahlrechtsgrundsätzen. 788 Dafür auch Heintzen, DVBl. 1997, S. 744 (747). 789 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 132, 39 (48 Rn. 25). 784

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

zulegen. Begriffliche Relativierungen bei gleichzeitiger Ausdehnung möglicher sachlich-inhaltlicher Rechtfertigungsansätze zur Sicherung nichtverfassungsrangiger Rechtsgüter sind entschieden abzulehnen. 4. Zu den legitimen bzw. zwingenden Gründen zählt die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems nach dem Bild des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 GG einschließlich der damit unabdingbar verknüpften Legitimationswirkung durch Volkswahlen. Ausfluss dieser unmittelbar im Demokratieprinzip verorteten Schranke der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl ist die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl, wie auch der ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz der Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments.790 Neben den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen halten diese aus der Verfassung abgeleiteten Rechtsgüter der Wahlrechtsgleichheit wie auch der Allgemeinheit der Wahl bildlich gesprochen „die Waage“ und kommen daher zur Rechtfertigung gesetzgeberischer Differenzierungen bei der Wahlberechtigung grundsätzlich in Betracht. 5. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen. Die differenzierende Regelung muss aber ihrerseits zur Sicherung des legitimen Ziels geeignet und erforderlich sein. Eine Prüfung der Angemessenheit findet auf der Ebene der Schranken-Schranken jedoch nicht statt, um den formalen Charakter der Allgemeinheit der Wahl zu gewährleisten. Die materielle Abwägung zwischen dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und den die gesetzliche Wahlrechtsbeschränkung tragenden Zielen erfolgt vielmehr bereits bei der Bestimmung des zwingenden Grundes auf Schrankenebene. Insgesamt handelt es sich hierbei um eine spezifisch wahlrechtliche Zuordnung zum Ausgleich der widerstreitenden Belange, die weder mit der „neuen Formel“ im Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes noch mit der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Grundsätzen des rechtsstaatlichen Übermaßverbots vergleichbar ist. 5. Kapitel

Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit der für die Sesshaftigkeitsklausel als „zwingend“ angesehenen Gründe Die vorstehenden Ausführungen haben ergeben, dass gesetzgeberische Differenzierungen in Sachen der Wahlberechtigung nur durch gleichgewichtige Gründe von Verfassungsrang („zwingende Gründe“) gerechtfertigt werden können. Dass gilt auch für die Beurteilung der gesetzlichen Wohnsitzklausel gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG im Wahlrecht. Bei der schwierigen „Harmonisierung gegenläufig 790

Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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scheinender Verfassungsinhalte“791 gilt es, die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter in der Problemlösung einander so zuzuordnen, dass jedes von ihnen möglichst Wirklichkeit gewinnt. Im Kollisionsfall darf nicht in vorschneller „Güterabwägung“ oder gar abstrakter „Werteabwägung“ eines auf Kosten des anderen realisiert werden. „Vielmehr stellt das Prinzip der Einheit der Verfassung die Aufgabe der Optimierung: beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirkung gelangen können. Die Grenzziehungen müssen daher im jeweiligen konkreten Falle verhältnismäßig sein; sie dürfen nicht weitergehen, als es notwendig ist, um den Ausgleich beider Rechtsgüter herzustellen.“792 Die Anwendung dieser Maßgabe kommt nicht nur beim Widerstreit zweier echter Grundrechte zum Tragen, sondern auch bei Konflikten eines Grundrechts bzw. grundrechtsgleichen Rechts mit einem Rechtswert von Verfassungsrang.793 Im Folgenden sind die vom Bundesverfassungsgericht und der Literatur zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl durch Sesshaftigkeitsklauseln jeweils herangezogenen und für zulässig befundenen Gründe nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen auf ihre Tragfähigkeit hin zu untersuchen. Dies betrifft neben den oben bereits positiv aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten Funktionen der Wahl bei der Willensbildung des Volkes auch andere „Gründe“, mit denen die Rechtsprechung die Zulässigkeit wahlrechtlicher Sesshaftigkeitsklauseln in der Vergangenheit gerechtfertigt hat.

A. Deutsche Teilung Zu früheren Zeiten war u. a. die deutsche Teilung als Rechtfertigungsgrund für die Zulässigkeit von Sesshaftigkeitsklauseln anerkannt.794 Im wiedervereinigten Deutschland spielt sie als wahlrechtsbeschränkender Rechtfertigungsgrund jedoch keine Rolle mehr. Ausweislich der obigen Analyse zur Entwicklung des Wahlrechts in der Bundesrepublik kam dem Argument der deutschen Teilung echte Bedeutung nur bei Erlass der ersten beiden Bundeswahlgesetze zu.795 Insofern können die Fragen danach, ob der deutschen Teilung als rechtfertigendem Grund im Wahlrecht zunächst überhaupt Verfassungsrang zugekommen ist796 und, falls dies bejaht würde, ob die Ausschließung der auf dem Gebiet der damaligen DDR lebenden deutschen Staatsangehörigen vom Wahlrecht zum Deutschen Bundes 791

Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 50. Zitate bei Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 72. 793 Vgl. etwa BVerfGE 89, 214 (232); 93, 1 (21); Stern, in: ders., Staatsrecht III/2, § 82 IV 2 (S. 658); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 167. 794 Vgl. etwa BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (142); 40, 11 (33 f.); auch BVerwGE 51, 69 (77); Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5. 795 Vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. und II.; anders Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5. 796 Schon dies ist zumindest zweifelhaft, Blumenwitz, Wahlrecht, S, 77, spricht im Zusammenhang mit BVerfGE 5, 2 ff. – Schmidt-Wittmack, zutreffend von „deutschlandpolitischen Überlegungen“ und „verfassungspolitischen Gründen“. 792

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

tag nicht auch über formelle Wohnsitzerfordernisse nach der Bundeswahlordnung hätte ebenso effektiv erreicht werden können, hier unbeantwortet bleiben. Allemal aber überzeugt die im Zuge des Teilungsarguments vorgebrachte Überlegung von Joachim Henkel, das Wahlrecht beschränke sich wegen der ausschließlich territorial wirkenden Staatsgewalt auf die im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Deutschen,797 nicht. Soweit die deutsche Teilung in der Vergangenheit als wahlrechtlicher Differenzierungsgrund anerkannt wurde, implizierte dies gerade die grundsätzliche Geltung von Art. 38 Abs. 1 GG auch für die Gebiete der ehemaligen DDR. Zudem macht auch die im Wahlrecht geltende Grundrechtsbindung der Staatsgewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG in grenzüberschreitenden Zusammenhängen nicht an der Staatsgrenze halt. Das gilt gleichermaßen für die Beschränkung von Grundrechten (und grundrechtsgleichen Rechten) durch deutsche Hoheitsgewalt im Ausland. Dementsprechend findet die gelegentliche Annahme einer „abgeschwächten Grundrechtsgeltung“798 in Fällen von Auslandsbezug im Grundgesetz allenfalls insoweit eine Stütze, als die Grundrechtsdurchsetzung im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts und bestehender völkerrechtlicher Verträge nur unter Abwägung von grundrechtsgeschützten Interessen einerseits und politischem Gesamtinteresse gegenüber der Völkergemeinschaft und dem Vertragspartner andererseits erreichbar ist. Dabei unterliegt aber auch völkerrechtliches Handeln grundrechtlichen Bindungen.799 Im Ergebnis gilt für das Wahlrecht gemäß Art. 38 GG nichts anderes.

B. Tradition Die obige Analyse der Rechtsprechung hat zudem ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht zumindest in den früheren Entscheidungen regelmäßig auch auf die „traditionelle Anknüpfung“ des Wahlrechts an Sesshaftigkeitsklauseln in früheren Rechtsordnungen abgestellt hat. „Seit jeher“, so das Gericht, sei das Wahlrecht grundsätzlich auf die Inlandsdeutschen beschränkt gewesen.800 An dieser Stelle soll kurz verweilt werden, denn auch wenn das Gericht vom Traditionsargument in seiner Entscheidung vom 29. Januar 2019 zu § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG a. F. erstmals ausdrücklich abgerückt ist,801 spielte die Tradition in der vorherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung insgesamt keine nur untergeordnete Rolle.

797

Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (7 f.). Vgl. etwa Stern, Staatsrecht III/1, § 72 V 5 (S. 1231). 799 Die Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) besteht dabei ungeachtet der Frage, wo die deutsche Staatsgewalt ausgeübt wird, vgl. Payandeh, DVBl. 2016, S. 1073 (1074 f.) m. w. N. 800 Vgl. insbesondere BVerfGE 36, 139 (141 f.); 58, 202 (205), hier war dies sogar das tragende Hauptargument; ebenfalls u. a. darauf abgestellt bei BVerfG, NJW 1991, S. 689 (690). 801 Vgl. oben Fn. 434. 798

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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I. Bedeutung des Traditionsarguments in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Neben den Entscheidungen zur Inlandsbindung des Wahlrechts wurde die Tradi­ tion vom Bundesverfassungsgericht bislang auch in anderen Rechtsgebieten oft jedenfalls als Zusatzargument herangezogen.802 Dabei hat sich freilich keine umfassende Theorie zur Rezeption von Tradition in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt. Wenn und soweit – die Kriterien der Inanspruchnahme sind insoweit unklar  – seitens des Bundesverfassungsgerichts in diese Richtung argumentiert wird, kann von „relativer Geltung“ oder „grundgesetzkonformer Traditionsgeltung“ gesprochen werden.803 Dabei geht das Gericht über die anerkannte Auslegungsmethode der „historischen Auslegung“ oder „genetischen Interpretation“ zur Erforschung des Sinngehalts eines Rechtssatzes hinaus. Erstere ermittelt den Rechtssatz in seiner Geschichtlichkeit und seiner historischen Verwurzelung in entstehungsgeschichtlicher Hinsicht. Letztere forscht insbesondere nach Vorarbeiten, Entwürfen, Motiven und Verhandlungen im Rahmen der Gesetzesberatung.804 Dem Traditionsargument kommt demgegenüber aber in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts partieller Eigenwert zu. Nicht nur dient es – wie etwa die „historische“ oder „genetische“ Auslegung – der bloßen Bestätigung der durch die anderen anerkannten Auslegungsmethoden gefundenen Rechtsüberzeugung.805 Teilweise findet die konkrete Entscheidung im Traditionsargument ihre alleinige Stütze.806 Um die Tradition im Hinblick auf eine aktuelle und konkrete Fallgestaltung zur Entfaltung zu bringen, knüpft das Bundesverfassungsgericht notwendigerweise an Tatbestände an, die weit vor Geltung der konkret zu untersuchenden Rechtsnorm bestanden haben. Diese „kulturell-historische Auslegung“807 erinnert zumindest in Teilen an das historische Methodenmodell808 von Friedrich Carl von Savigny,809 das nicht den Willen des Gesetzgebers zum 802

Z. B. Gerichtsbesetzung: BVerfGE 4, 387 (406); Lumbalpunktion: BVerfGE 16, 194 (198); Adelsnamen: BVerfGE 17, 99 (107); Redezeitbeschränkungen: BVerfGE 10, 4 (17); Gerichtsöffentlichkeit: BVerfGE 4, 74 (94); Witwenrente: BVerfGE 17, 1 (20); Unterhaltspflichten: BVerfGE 17, 38 (53); Richterbesoldung: BVerfGE 26, 141 (155); Inkompatibilität von Ehegatten im Gemeinderat: BVerfGE 93, 373 (379 f.). 803 So Blankenagel, Tradition, S. 36. 804 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 4 III 1 (S. 126). 805 Vgl. grundlegend BVerfGE 1, 299 (312); bestätigt und fortgeführt durch BVerfGE 8, 274 (307); 11, 126 (131); 47, 109 (127); 53, 135 (147). 806 BVerfGE 36, 139 (141 f.); ebenso Nachweise bei Erichsen, Jura 1983, S. 635 (638). 807 Begriff bei Blankenagel, Tradition, S. 154. 808 Zur historischen Rechtschule v. Savignys vgl. allgemein Larenz, Methodenlehre, S. 6, 12 ff. 809 In Teilen deshalb, weil sich v. Savigny zunächst ausdrücklich gegen die richterliche Rechtsfortbildung gewandt hat: „Eine Vervolkommnung des Gesetzes ist zwar möglich, allein bloß dem Gesetzgeber, nie durch den Richter darf sie vorgenommen werden“ vgl. ders., Kollegschrift aus dem Winter 1802, S. 43, zitiert nach Larenz, Methodenlehre, S. 13. Erst später wird diese enge Auffassung durch v. Savigny selbst korrigiert und im Rahmen seiner Institutslehre eine organische, das heißt entwicklungs- und kulturhistorische Betrachtungsweise, „die

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Maßstab macht, sondern darauf abzielt zu ergründen, „was dem Recht“ durch ein „Gesetz neu eingefügt worden ist“810. Freilich ist dies für die „Traditionsrechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts an keiner Stelle hinreichend dokumentiert und muss hier offen bleiben. II. Tradition als verfassungsunmittelbare Schranke? Unabhängig von der genauen dogmatischen Qualifikation ist die diffuse Hereinnahme kulturell historischer Regelmäßigkeiten unter dem Aspekt der Rationalität und Nachvollziehbarkeit in der juristischen Begründung zur Entscheidung aktueller Fallgestaltungen nicht unproblematisch. Zum einen wird die tiefschichtige Erkenntnis von Tradition – betreffend Selektion von Geschichte, kollektiver Identität und / oder Kultur811 – nur insoweit zu deren Element, als es das Bundesverfassungsgericht dafür hält. Das Gericht wird so teilweise selbst zum Historiker und implementiert geschichtliche Ereignisse und Gegebenheiten mitunter beliebig812 in die aktuell zu untersuchenden gültigen Rechtssätze. Zum anderen besteht die Gefahr, historische Rechtssitten oder Tatbestände in den Stand absoluter Unveränderlichkeit zu erheben. Bei strenger Anwendung hätte dies prinzipiell die zwingende Bindung des heutigen Gesetzgebers an eine von ihm „vorgefundene“813 einfache Gesetzeslage zur Folge. Diese Bindung beschreibt letztlich das Primat des bisher dagewesenen Rechts gegenüber dem neu zu erkennenden Recht. Zudem ist der Begriff der Tradition auch im Hinblick auf seine zeitliche Reichweite äußerst relativ.814 Es ist gerade unklar, ob ein aus Tradition zu rechtfertigender Rechtssatz an eine unmittelbar vorgelagerte Rechtslage anzuknüpfen hat oder ob die – jedenfalls nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – legalisierende Wirkung aus der Gesamtanschauung der praktischen Natur der Rechtsverhältnisse und ihrer Urbilder hervorgeht“, eingeführt, vgl. Larenz, ebd., S. 17 mit Zitaten. Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung ist heute selbstverständlich anerkannt. Allein gesetzgeberische Grundsatzentscheidungen sind richterlicher Rechtsfortbildung mit Blick auf die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende Gewaltenteilung entzogen, vgl. zum Maßstab grundlegend BVerfGE 82, 6 (11 ff.); BVerfGE 122, 248 (257 ff.). 810 Vgl. v. Savigny, System I, S. 214 mit Zitaten. Mit der „historischen“ Auslegungsmethode von heute ist diese savignysche Auslegungslehre also nicht identisch. 811 Vgl. Blankenagel, Tradition, S. 254. 812 Zur Kritik an der Objektivität historischer Darstellung vgl. allgemein schon bei Goethe, Faust 1. Teil, Nacht, Z. 575–579: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit | Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. | Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, | Das ist im Grund der Herren eigner Geist, | In dem die Zeiten sich bespiegeln.“; bezogen auf die Implementierung in die juristische Analyse vgl. bei Blankenagel, Tradition, S. 100 f. m. w. N. aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung; für den Bereich des Auslandsdeutschenwahlrechts nachgewiesen auch bei Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 96 f. 813 Vgl. z. B. Formulierung bei BVerfGE 58, 202 (205). 814 Vgl. auch Blankenagel, Tradition, S. 36. Dass „seit jeher“ und „traditionell“ vom Bundesverfassungsgericht bzgl. des Wahlrechts nahezu synonym gebraucht werden, zeigt auch die Formulierung bei BVerfGE 58, 202 (205).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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der Tradition sich erst dann zu einer solchen formt, wenn eine Rechtslage über einen längeren Zeitraum, ggf. sogar über mehrere Epochen in ihrem Kerngehalt unverändert besteht und vom Gesetzgeber nunmehr hieran in authentischer oder modifizierter Art und Weise angeknüpft wird. Wegen der Anfälligkeit jeder historischen Betrachtung für die Beliebigkeit ihrer Interpretation ist den Kritikern des Traditionsarguments815 hier zu folgen. Die Qualität eines rechtfertigenden Grundes für Wahlrechtsbeschränkungen käme der Tradition nach hier dargelegter Auffassung nur dann zu, wenn sie sich direkt aus einem Verfassungssatz, insbesondere dem Demokratieprinzip, konkret ableiten ließe. Dies ist nicht der Fall. Das heutige Demokratieverständnis des Grundgesetzes, basierend auf der uneingeschränkten Geltung der Volkssouveränität bei prinzipiell begrenzten Befugnissen der Staatsgewalt, ist grundsätzlich eigenständiger Natur816 und gerade in Abkehr von der brüchigen Konstruktion etwa der WRV oder anderer früherer Rechtsordnungen entwickelt worden.817 Ihm wohnt also keine zwingende Anknüpfung an überkommene oder tradierte normative Rechtsüberzeugungen vor Geltung des Grundgesetzes inne. Wenn man im Übrigen mit Alexander Blankenagel davon ausgeht, dass die Geltung von Tradition „nur dort unproblematisch [ist], wo sie nicht hinterfragt wird“,818 wird deren Selbstverständlichkeit mit jeder Klage zum Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt.819 Ferner entbehrt die „traditionell“ zwingende Bindung der materiellen Wahlberechtigung an den Inlandswohnsitz der rechtssystematischen Anschlussfähigkeit. Denn in den älteren Wahlgesetzen betraf das Sesshaftigkeitserfordernis nicht das aktive materielle Wahlrecht selbst, sondern nur dessen (formelle) Ausübungsmodalität.820 Ferner formulierte der Parlamentarische Rat für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt, also auch für das Wahlrecht, neue Grundlagen, ohne diese mit einer zwingenden Notwendigkeit „aus der Tradition heraus“ zu rechtfertigen. Die in den Beratungen des Wahlrechtsausschusses und des Parlamentarischen Rats zahlreich entwickelten Regelungsvorschläge821 knüpften im Hinblick auf die wahlrechtliche Inlandsbindung nur sehr entfernt an historische Gesetze an. Insofern ist auch mit der Aussage des Bundesverfassungsgerichts in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 23. Oktober 1973822 (es „verbietet sich die Annahme, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG habe […] eine 815

Vgl. Nachweise oben Fn. 474. Dazu Grimm, HStR3 I, § 1 Rn. 30 ff. 817 Vgl. Mußgnug, HStR3 I, § 8 Rn. 42, zu den Grundentscheidungen des Parlamentarischen Rates vgl. ebd., Rn. 52 ff. 818 Vgl. Blankenagel, Tradition, S. 211 f. mit Zitat. 819 So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 95 ff. 820 Dies stellt sogar das Bundesverfassungsgericht selbst heraus, vgl. BVerfGE 36, 139 (142); zum Unterschied der Rechtslage unter Geltung des Grundgesetzes vgl. auch grundlegende Analyse Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 27 ff., sowie Feststellung ebd., S. 58. 821 Vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 1. 822 BVerfGE 36, 139 (142). 816

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Begrenzung des aktiven Wahlrechts durch Seßhaftigkeit im Wahlgebiet ausschließen wollen“) nicht viel gewonnen. Allenfalls ist damit bestätigt, dass sich Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG hinsichtlich der vom Gericht in seiner Begründung einbezogenen historischen Wahlgesetze823 zur Inlandsbindung zumindest ausdrücklich nicht verhält. Für eine weitergehende Wertung für oder gegen den Inlandsbezug bieten jedenfalls die Protokolle der Verfassungsberatungen keinerlei Anhaltspunkte.824 Aus dieser Position zum „Schweigen der Verfassung“825 ist freilich die positive Schlussziehung des Gerichts dahin, dass allein deshalb gegen die wahlrechtliche Sesshaftigkeit umgekehrt „keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken“ bestünden,826 unzureichend. Doch selbst wenn die Schöpfer des Grundgesetzes das Sesshaftigkeitserfordernis in Art. 38 GG gleichsam mental vorausgesetzt hätten, so genügt auch hier der bloße Verweis auf „traditionelle Gründe“ nicht. Denn diese müssten – so gesehen  – konsequenterweise die Einbeziehung weiterer historischer Wahlrechtsschranken ebenfalls gebieten. So waren etwa im 19. Jahrhundert traditionell auch Frauen vom „allgemeinen Wahlrecht“ (Art. 22 Abs. 1 WRV) ausgeschlossen, ohne dass hierin ein Wahlrechtsverstoß gesehen worden wäre.827 Gleiches gilt jeweils für den Besitzzensus und die Erfüllung eines Steuerzensus als Wahlzugangs- bzw. -berechtigungsvoraussetzung oder für den Bezug von „Armenunterstützung“ als Wahlausschlusskriterium vorvergangener Wahlgesetze.828 All dies zeigt, dass die Heranziehung von „Traditionen“ vergangener Rechtsordnungen für die Rechtfertigung konkreter Wahlrechtsbeschränkungen durch Sesshaftigkeitsklauseln unter Geltung des Grundgesetzes keine verfassungsrechtliche Grundlage findet. Es ist daher zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung die wahlrechtliche Inlandsbindung nicht mehr an traditionelle Vorgaben knüpft und dieses Argument auch nicht mehr erwähnt.829

823

Den unmittelbaren Bezug stellt das Gericht zu Art. 22 S. 1 WRV her, vgl. BVerfGE 36, 139 (142). 824 Vgl. dazu oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 2. 825 Vgl. Blumenwitz, Wahlrecht, S. 77. 826 BVerfGE 36, 139 (142). 827 Laband, Staatsrecht I, § 34 (S. 310); näher auch Heepe, Jura 1989, S. 232 ff. 828 Vgl. dazu etwa Spies, Schranken, S. 117 ff. (zur „Unselbständigkeit“), S. 122 ff. (wegen Armenunterstützung) mit zahlreichen Gesetzesnachweisen zur Rechtslage in den Ländern; hingewiesen sei auch auf das preußische „Dreiklassenwahlrecht“, dass das Stimmgewicht nach Steuerlast differenzierte, näher auch Stern, Staatsrecht I, § 10 I 2 (S. 292). 829 Vgl. BVerfGE 132, 39 ff., zur Abkehr vom Traditionsargument in der Rechtsprechung oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 2. Hingegen stellt eine aktuelle Beschlussempfehlung des WahlprE v. 26.6.2014, WP 144/1, BT-Drs. 18/1810, S. 191 (200), mit Verweis auf die ältere Rechtsprechung just darauf ab, dass das Sesshaftigkeitserfordernis in § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BWG „Ausdruck der traditionellen Inlandsbindung des Bundestagswahlrechts und als solches verfassungsrechtlich unbedenklich“ sei.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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III. Möglicher Einfluss traditioneller Betrachtung auf das heutige Wahlrechtsverständnis Doch ist damit nur eine Seite der Medaille beleuchtet worden. Die Verwerfung des Traditionsargumentes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlrecht ist grundsätzlich richtig, soweit es – wie hier bislang dargestellt – um die bloße Ausgestaltung von Normen oder Normtexten geht, die mit dem schlichten Verweis auf ihre vormalige Existenz um ihrer selbst willen unverändert oder nur unwesentlich modifiziert übernommen werden sollen. Nichts ist damit aber über die mögliche Fortgeltung des hinter einer solchen (historischen) Norm stehenden Sinns und Zwecks gesagt. Ein solcher ist auch über die Gegenwart hinaus einer historischen und juristischen Analyse zugänglich.830 Dies gerade dann, wenn damit Aufschluss darüber gegeben werden kann, ob und, wenn ja, inwieweit ein historischer Zweckgedanke auch heute noch Einfluss auf die geltende Rechtslage entfalten könnte oder im Gegenteil: nicht mehr entfalten dürfte. Dies gilt erst recht, wenn es sich um so grundlegende Normen wie die des Wahlrechts handelt. Bei aller berechtigten Kritik, die das Traditionsargument für die Rechtfertigung von wahlrechtlichen Inlandsklauseln auf sich gezogen hat, trifft dies also auf eine weit größere Dimension historischer Betrachtung nicht zu. Denn wenngleich die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine Demokratie unter neuen Vorzeichen haben schaffen wollen, knüpften sie sachgedanklich zwangsläufig an bisherige Rechtsentwicklungen an. Dies betrifft insbesondere das historisch gewachsene Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung, das gerade für die demokratisch strukturierte Staatsform essenziell ist.831 So ist auch das parlamentarische Wahlrecht anerkanntermaßen keine Erfindung des Grundgesetzes. Vielmehr blickt der Parlamentarismus auf eine sehr viel tiefere Geschichte zurück.832 Wenn man also annimmt, dass „der Staat“, konkret die Bundesrepublik Deutschland, „seine konkrete Gestalt der Geschichte verdankt, daher zumindest auch aus der Geschichte heraus zu verstehen ist“833, und seine Verfassung ebenso eine historisch geprägte Schöpfung ist,834 so gilt dies auch und gerade für den Charakter des allgemeinen Wahlrechts. Der fraktionslose Abgeordnete Stegner formulierte diesen Umstand im Jahr 1955 wie folgt: „Ein Wahlgesetz ist nur zu verstehen aus der Geschichte des Staatslebens überhaupt, aus der Geschichte und Wesensart der politischen Parteien und aus der Verfassungswirklichkeit eines jeden Staates heraus.“835 Dem wird hier zugestimmt. 830

Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 328 f. Vgl. dazu eingehend Starck, HStR3 III, § 33 Rn. 2, 4 ff., 9 ff.; auch Sommermann, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 1 Rn. 87. 832 Vgl. dazu Überblick bei Brenner, HStR3 III, § 44 Rn. 1 ff. 833 Vgl. mit Zitat Blankenagel, Tradition, S. 212, ebenso Fiedler, Staatskontinuität, S. 111, 121; Wege, Recht, S. 69. 834 Vgl. Blankenagel, Tradition, S. 212. 835 Vgl. Abg. Stegner (fraktionslos), Sten.Ber. 2.WP/94. Sitzung v. 6.7.1955, S. 5344. 831

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

So könnte also durchaus danach gefragt werden, was tatsächlich hinter den von der Rechtsprechung und von Teilen der Literatur so leichtfertig übernommenen Rechtssätzen aus der Kaiserzeit gestanden hat. Dieser Frage widmet sich der zweite Teil der Untersuchung. Möglicherweise ergeben sich hier Anhaltspunkte, die die gegenwärtige Diskussion um die Bestimmungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht in einem anderen Licht erscheinen lassen.

C. Funktionen der Wahl Einstweilen ist der Blick jedoch wieder auf die Bewertung der gegenwärtigen Haltungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von wahlrechtlichen Wohnsitzklauseln zu richten. Hier wurden zuletzt jeweils die mit der Wahl verbundenen Ziele bzw. die Wahlfunktionen als Rechtfertigungsgründe zur Einschränkbarkeit der Allgemeinheit der Wahl herausgearbeitet. Wie festgestellt, ist dabei die Terminologie nicht immer einheitlich verwendet worden.836 Doch ist nicht erkennbar, dass an die vom Bundesverfassungsgericht und der Literatur formulierten „Wahlziele“, „Wahlzwecke“ bzw. „Wahlfunktionen“ oder „Funktionen der Wahl“ inhaltlich unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Sie werden in der gegenwärtigen Diskussion vielmehr synonym gebraucht.837 Das aber verwischt die nuancierten Bedeutungsunterschiede der Begriffe. So ist etwa die Konstitution eines funktionsfähigen Parlaments allemal ein positives Ziel einer jeden Wahl,838 was prinzipiell Einschränkungen bezüglich etwa der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen könnte. Als (Haupt-)Zweck einer Wahl steht – jedenfalls unter verfassungsjuristischen Gesichtspunkten – die demokratische Legitimation der von den gewählten Volksvertretern ausgehenden und abgeleiteten Staatsgewalt im Vordergrund.839 Soweit die höchstrichterliche Rechtsprechung die freie und offene Kommunikation zwischen 836

Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel D. II. 2. So soll das Bundesverfassungsgericht etwa die Kommunikationsfunktion der Wahl aus dem „Wahlziel, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes“ zu sichern, als „Unterfall“ abgeleitet haben, vgl. Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447); andere sprechen in diesem Zusammenhang von der Kommunikationsfunktion als eine der „wesentlichen Funktionen des Wahlaktes“, vgl. H. Lang, ZRP 2013, S. 133 (135); die Kommunikationsfunktion selbst teils als Funktion, teils als Wahlziel fassend etwa Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 169, S. 177; ähnlich für die Integrationsfunktion bei Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 53 mit Fn. 155. 838 So ausdrücklich auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 53, mit Verweis auf die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 28: „fähige Mehrheiten“; mit Blick auf die Regierungsbildung H. Meyer, HStR3 III, § 45 Rn. 6; in diese Richtung auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253); H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 69, hingegen als „Zweckbestimmung“ bezeichnet ebd., Rn. 74. 839 Vereinzelt wird auch von „legitimierender Wirkung der Wahl“ gesprochen, vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 106; als „Funktion“ bezeichnet bei H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 68. 837

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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den Regierenden und den Regierten den „Funktionen der Wahl“ zuordnet, handelt es sich grundsätzlich um einen außerhalb jedweder Wahlhandlung stehenden Belang. Hier ist der Prozess der politischen Willensbildung und der Tätigkeit eines Bundestagsabgeordneten während der gesamten Legislaturperiode berührt.840 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bewirkt eine positive Teilhabe dann beim Einzelnen ein gewisses Maß an Möglichkeit und Fähigkeit, politische Vorgänge einzuordnen, um am Wahltag eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen. Doch ist jedenfalls die freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten während der Legislaturperiode, die das Bundesverfassungsgericht voraussetzt, damit sich „Demokratie“ nicht in einem „rein formalen Zurechnungsprinzip“ erschöpft,841 vom Wahlvorgang oder der Stimmabgabe selbst zunächst gar nicht erfasst. Sie stünde damit also streng genommen auch außerhalb der eben beschriebenen „Wahlziele“ und „Wahlzwecke“. Der Bezug zum eigentlichen Wahlvorgang ist demnach klärungsbedürftig. I. Integrationsfunktion und Kommunikationsfunktion der Wahl als verfassungsunmittelbare Schranke der Wahlzugangsberechtigung Entsprechend den obigen Maßgaben für die Rechtfertigung von Einschränkungen der Allgemeinheit und die Gleichheit der Wahl842 gilt es an dieser Stelle zu prüfen, inwiefern die vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl als verfassungsunmittelbare Schranke für Einschränkungen der Wahlberechtigung in Betracht kommt. Dem geht zunächst eine allgemeine Darstellung zur Bedeutung der Responsivität im Integrationsprozess des Staatsvolkes voraus (1.), bevor der verfassungsrechtliche Bezug zur Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl herausgearbeitet wird (2.). Anhand dessen ist sodann zu beurteilen, ob und inwieweit die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl als „zwingender Grund“ der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl die Waage halten kann (3.).

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BVerfGE 20, 56 (98); 69, 315 (346); 132, 39 (50 f. Rn. 33); statt vieler auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 76, 77. 841 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 33) mit Verweis auf Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II (Vorauflage), Art. 20 (Demokratie) Rn. 82 f. 842 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel B.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

1. Integration durch ständige Wechselwirkung gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildungsprozesse Es ist für die vorliegende Betrachtung im Grunde unerheblich, ob der Kommunikationsfunktion der Wahl als Wahlziel oder Wahlfunktion eine eigenständige Bedeutung zukommt843 oder ob sie einen „Unterfall“ des übergeordneten Wahlziels „Integrationsfunktion der Wahl“844 darstellt. Entscheidend ist ihr jeweiliger Bezug zur Demokratie, aus der sie abgeleitet ist. Wenn sich der Prozess der staatlichen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht,845 muss zwischen der Formung des politischen Willens im gesellschaftlichen Bereich und der Äußerung des konkreten „Staatswillens“ unterschieden werden. Nur dann, wenn das Volk als Verfassungs- oder Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen selbst Staatsgewalt ausübt, fällt die Äußerung des Volkswillens mit der Willensbildung des Staates zusammen.846 Jenseits des Wahlakts erfordert die Verwirklichung des demokratischen Prinzips den freien und offenen Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung des Volkes im Vorfeld oder begleitend zur parlamentarischen Willensbildung. So setzt auch das Bundesverfassungsgericht für das Funktionieren einer Demokratie eine „ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen“ voraus, „in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt“.847 Dieser Volkswillensbildungsprozess wird durch die Kommunikationsrechte, insbesondere die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und vor allem durch das in Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistete Recht der freien Meinungsäußerung, die Presse-, Rundfunk-, Fernseh- und Filmfreiheit sowie die Informationsfreiheit gesichert.848 Die beteiligten Kräfte definieren zunächst ausschließlich im gesellschaftlichen Bereich die Faktoren der Meinungsbildung und bewirken die „Vorformung des politischen Willens“.849 Hier kommt den politischen Parteien die in Art. 21 GG ausdrücklich anerkannte und unverzichtbare Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu.

843

In die Richtung gehen wohl Teile der Lehre, vgl. H. Lang, ZRP 2013, S. 133 (135); H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 68. 844 In diese Richtung BVerfGE 132, 39 (59 Rn. 33); ebenso Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447). 845 Vgl. BVerfGE 20, 56 (99); 44, 125 (140); 69, 315 (346); 132, 39 (41 Rn. 33). 846 BVerfGE 8, 104 (112 ff.); 20, 56 (98). 847 BVerfGE 97, 350 (369); 89, 155 (171 ff.). 848 Vgl. BVerfGE 20, 56 (97); 44, 125 (139); 50, 234 (240); 52, 283 (296); 59, 231 (265 f.); 77, 65 (74); 90, 27 (31 f.); 118, 277 (353); Stern, Staatsrecht I, § 18 II 5 (S. 615); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 177. 849 BVerfGE 44, 125 ff.; Hesse, Grundzüge, § 5 Rn. 149, 151; in diese Richtung auch Badura, AöR 97 (1972), S. 1: „Materialität des politischen Prozesses“.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

155

Auf staatlicher Ebene findet dies sein Gegenstück in der täglichen Arbeit und Funktion des Abgeordneten nach dem Leitbild des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Dieses ist ein in der Staatsorganisation wahrgenommenes öffentliches Amt.850 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer langen Reihe von Entscheidungen Umfang und Bedeutung des freien Abgeordnetenmandates dezidiert herausgearbeitet und geprägt. So gewährleistet das freie Mandat die freie Willensbildung der Abgeordneten und die freie Kommunikation zwischen den Abgeordneten und den Wählern.851 Das Gebot freier Willensbildung des Abgeordneten steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der freiheitlichen Demokratie.852 Die politische Willensbildung vollzieht sich hierbei in kontinuierlicher und vielfältiger Wechselwirkung, die ihren primären Ausgangspunkt in den nichtparlamentarischen gesellschaftlichen Bereichen hat. Dem freien gesellschaftlich-politischen Diskurs kommt hier maßgebliche Bedeutung zu. Nicht zuletzt deshalb erhebt der Verfassungsstaat des Grundgesetzes das Öffentlichkeitsprinzip zum allgemeinen Strukturelement des Staatsaufbaus853 und schafft so „jene Möglichkeit für öffentliche Diskussion der allgemeinen Angelegenheiten, die Voraussetzung ist für ein öffentliches Leben, für individuelle und gesellschaftliche Freiheit auch in und durch Öffentlichkeit“.854 Dem Abgeordneten kommt bei alldem eine Transformationswirkung zu.855 Er sammelt und strukturiert die unterschiedlichen politischen Auffassungen und Interessen, die an ihn herangetragen werden und entscheidet, ob, wie und mit welcher Priorität er sich bemüht, sie in staatliche Entscheidungen umzusetzen, indem er sie in die Willensbildung von Partei, Fraktion und Parlament überführt. Umgekehrt ist es seine Aufgabe, den guten Sinn der im Parlament getroffenen politischen Entscheidungen zu vermitteln oder bessere Alternativen aufzuzeigen und für sie zu werben.856 Er ist so Verbindungsglied zwischen Parlament und Bürger. Repräsentation erfordert Vermittlung von Informationsströmen in doppelter Richtung.857 Um diese beständig zu erhalten, gehört es zu den Hauptaufgaben des Mandatsträgers, engen Kontakt mit der Partei, den Verbänden und den nicht organisierten Bürgern zu halten.858 Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG liegt also das Bild eines Abgeordneten zugrunde, der im Parlament durch Plenar- und Ausschusssitzungen, in der Fraktion und Partei durch Sitzungen und inhaltliche Arbeit sowie im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit durch Veranstaltungen der

850

BVerfGE 112, 118 (134); 118, 227 (328). BVerfGE 134, 141 (172 Rn. 92). 852 BVerfGE 44, 125 (138 ff.); 134, 141 (172 Rn. 94); Stern, Staatsrecht I, § 18 II 5 (S. 619). 853 Zu verweisen ist hier insbesondere auf die Parlamentsöffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1, 52 Abs. 3 S. 3 GG) oder die öffentliche Verkündung von Gesetzen (Art. 82 Abs. 1 GG), vgl. Horn, VVDStRL 68 (2009), S.413 (423). 854 Vgl. mit Zitat Horn, VVDStRL 68 (2009), S.413 (422 f.). 855 Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 143. 856 BVerfGE 104, 310 (329 f.); 130, 318 (342). 857 Vgl. Benda, ZParl. 1978, S. 510 (513). 858 Vgl. auch H. Meyer, in: VVDStRL 33 (1975), S. 69 (95). 851

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

verschiedensten Art, nicht zuletzt durch Wahlvorbereitungen und Wahlversammlungen eingebunden ist.859 So wirken in der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes politisches Programm und Verhalten der Staatsorgane unablässig auf die Willensbildung des Volkes ein und sind selbst Gegenstand der Meinungsbildung des Volkes; Meinungen aus dem Volk, häufig vorgeformt und gebündelt vor allem in den politischen Parteien, in Verbänden und Massenmedien, wirken wiederum auf die Willensbildung in den Staatsorganen ein. Regierung und Opposition sowie die sie tragenden politischen Kräfte im Parlament werden bei ihrem Verhalten stets auch die Wählerinnen und Wähler im Blick haben. Dies alles ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht.860 2. Funktionen von Wahlen zum Deutschen Bundestag bei der politischen Willensbildung Im Folgenden ist zu klären, in welcher Beziehung das aufgezeigte responsive Moment der demokratischen Willensbildung im Parlament während der Legislaturperiode zur Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl steht. Nur wenn und soweit diese vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Wahlfunktion861 den demokratischen Willensbildungsprozess zu sichern vermag, kommt sie als taugliche Schranke zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen in Betracht. a) „Integrationsfunktion“ von Wahlen Im politischen Prozess der freiheitlichen Demokratie kommt den Wahlen zunächst die Rolle der Entscheidungsbildung zu. Diese entscheidende Rolle von Wahlen in parlamentarischen Systemen wurde schon früh herausgestellt. Rudolf Smend bemerkte zum „ersten Sinn“ von „Wahlen, parlamentarischen Verhandlungen, Kabinettsbildungen, Volksabstimmungen“ das Folgende: „Sie alle sind integrierende Funktionen.“ Sie „integrieren, d. h. schaffen zu ihrem Teile die jeweilige politische Individualität des Volksganzen und damit die Voraussetzung für sein rechtlich fassbares, inhaltlich gutes oder schlechtes Tätigwerden“. Dabei sei Integration jener „Kernvorgang des staatlichen Lebens“, der den Staat „von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt“, leben lässt.862 Heute werden andere Begriffe 859

So auch BVerfGE 40, 296 (312); 134, 141 (173 f. Rn. 96). BVerfGE 44, 125 (139 f.); so auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8). 861 Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 3. 862 Vgl. R. Smend, Verfassungsrecht, S. 119 ff. (136, 154) mit Zitaten. Die Metapher geht zurück auf einen von Renan am 11. März 1882 an der Sorbonne gehaltenen Vortrag: „Qu’est-ce qu’une nation?“, abgedruckt in: Heiss / Johler (Hrsg.), Was ist eine Nation?, S. 41 (57). 860

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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genutzt, die jedoch eine ähnliche Bedeutung aufweisen. So spricht man von „Vertrauen“863, „Inklusion aller Herrschaftsbetroffenen“864 oder vom Parlament als „Schaufenster hin zur Öffentlichkeit“865. Das Bundesverfassungsgericht machte sich dies für das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zu Eigen. Demnach bewirke die Wahl, „den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden“. Dabei habe der Gesetzgeber durch die Ausgestaltung des Wahlsystems „die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherzustellen“ und zu verhindern, „dass gewichtige Anliegen im Volke von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben“.866 Diesen Worten liegt zunächst ein Verständnis von politischer Teilhabe zugrunde, wonach das Wahlrecht zuvörderst ein Abbild der jeweils aktuell gewichtigen gesellschaftlichen Kräfte in der Volksvertretung schaffen solle.867 Unter Geltung des Grundgesetzes hat der Gesetzgeber zudem die „Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehend integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich“ zu bringen.868 Zwar ist es nicht erforderlich, dass sich alle Bevölkerungsgruppen spiegelbildlich abgebildet im Parlament wiederfinden.869 Jedoch schließt der parlamentarische Willensbildungsprozess die angemessene Beteiligung gesellschaftlicher Minderheiten oder nicht so gewichtiger Anliegen im Volke mit ein.870 Es obliegt dabei dem Gesetzgeber, im Wege der gesetzlichen Ausgestaltung des Wahlrechts einschließlich der Wahlzugangsbedingungen zumindest die Voraussetzungen der Integration aller lebendigen Kräfte des Volkes bei der parlamentarischen Willensbildung zu schaffen. Allerdings bewirken Wahlakt und Wahlergebnis die Überführung des politischen Willens vom Volk auf das Parlament äußerlich betrachtet „nur“ in formeller Hinsicht. Die wirkliche „Integration“ der gesellschaftlichen Kräfte erfolgt letztlich nicht durch den Wahlakt selbst, sondern durch den Meinungsbildungsprozess im Wege der oben dargelegten vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Parlament 863

Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 18 II 5 (S. 616 f. mit Fn. 193). So etwa Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 19; in diese Richtung auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8). Die Formulierung „alle die von der Herrschaft ‚betroffenen‘ […]“ ist ungenau, da daraus eine ausdrückliche Begrenzung des Wahlrechts auf Staatsangehörige nicht hervor geht; an anderer Stelle stellen beide Autoren die Begrenzung des Wahlrechts auf Staatsangehörige freilich nicht in Frage, vgl. Trute, ebd., Art. 38 Rn. 22; Henkel, ebd., S. 1. 865 Groh, DVBl. 2012, S. 1064 (1068). 866 So ausdrücklich BVerfGE 95, 408 (419) m. w. N. 867 Zum Ausdruck gebracht zuerst bei Schelling, Vorlesungen, S. 376 f. und S. 378 f.; näher Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 152 ff.; vgl. auch v. Held, Grundzüge, §§ 250 ff. insbesondere § 253. 868 BVerfGE 95, 408 (420). 869 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 48 Rn. 25. 870 Zu den Grenzen vgl. Murswiek, in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (106 ff.). 864

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

und Volk während einer Legislaturperiode.871 Denn die demokratische Ordnung ist durch ihren wahlaktübergreifenden Prozesscharakter gekennzeichnet, dem ein komplexes und vielseitiges Wechselspiel zwischen Wählern und Gewählten, Bürgern und staatlichen Instanzen mit entsprechenden Rückkopplungseffekten innewohnt. Erst das prozedurale Modell der parlamentarischen Entscheidungsfindung bildet die Vielfalt der Interessen und Überzeugungen des Volkes ab. Das regt die Kompromissbildung zwischen den im Parlament vertretenen gesellschaftlichen Kräften an und befördert die Gemeinwohlhaltigkeit der Entscheidungen. Das Prozedurale bringt die materielle Legitimität einer parlamentarischen Entscheidung hervor.872 Damit korrespondieren auch die jüngeren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, wonach sich der „beständige kritische Dialog zwischen dem Parlament und den gesellschaftlichen Kräften“ für die „Legitimität demokratischer Ordnung“ „als gleichermaßen wichtig“ erweist wie der „Wahlakt selbst“.873 Daher dürfte es die Funktion der Wahl insgesamt überzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die laufende Legislaturperiode zugleich meint, demokratische Wahlen sicherten den „Charakter der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“.874 Vielmehr ist die Wahl in ihrer Gesamtheit (nur) das rechtsförmliche Verfahren zur grundlegenden Bestimmung der gesellschaftlichen Mehrheiten im Parlament.875 Der Einfluss des Volkes im Vorgang der Wahl reicht formal nicht über die Erteilung des Mandats hinaus.876 Damit steht nicht in Abrede, dass die Wahl die Aufgabe hat, den „politischen Willen“ der Wählerschaft möglichst wirklichkeitsgetreu abzubilden. Die Funktion der Wahl wird daher treffend in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass sie der „effektiven Integration des Staatsvolks dient“.877 Soweit also das Bundesverfassungsgericht dem Wahlakt selbst eine in Bezug zum Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl abwägungsrelevante Integrationsfunktion zuspricht,878 könnte das allenfalls in folgendem Sinne überzeugen: Das „Volk“ i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist keine handlungsfähige Entität, die in der Lage wäre, einen einheitlichen Willen zu bilden und zu äußern. Tatsächlich ist das Volk als Träger der Souveränität eine politisch heterogene Größe. Es kennt unterschiedliche Auffassungen und divergierende, oft miteinander rivalisierende 871

Badura, HStR3 II, § 25 Rn. 29; Murswiek, in: Gornig / Horn / ders. (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 95 (102 f.). 872 Vgl. Morlok, in: ders. / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 3 Rn. 75. 873 Vgl. BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 33) mit Zitat; ebenso Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 77. 874 So aber formuliert bei BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 32 f.), dazu Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447). 875 Ähnlich H. Meyer, Wahlsystem, S. 16. 876 Hesse, Grundzüge, § 15 Rn. 603; Isensee, HStR3 II, § 15 Rn. 157. 877 BVerfGE 95, 508 (420) mit Zitat (Hervorhebung vom Verfasser). 878 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32): „Integrationsvorgang“; auch BVerfGE 95, 408 (420): „Integrative Repräsentanz“; ferner BVerfGE 71, 81 (97); 51, 222 (236); 24, 300 (341); 6, 84 (92 f.).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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Interessen der einzelnen Volksglieder.879 Der „Volkswille“ kommt daher überhaupt erst durch ein institutionelles Arrangement der Einzelwillen zustande. Diesem Umstand trägt das in Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Prinzip der Repräsentation Rechnung. Der Repräsentationsbegriff wird im vorliegenden Zusammenhang insoweit bedeutsam,880 als das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag die benötigte Institution ist, durch die das Volk befähigt wird, seinen politischen Willen kundzutun. Dabei kommt zunächst dem Wahlsystem die entscheidende Rolle zu, den politischen Willen der Volksglieder möglichst wirklichkeitsnah abzubilden. Aber auch die gesetzgeberische Entscheidung darüber, wer überhaupt berechtigt ist, an Wahlen teilzunehmen, nimmt Einfluss auf das Wahlergebnis und damit auf die im Parlament vertretenen Volksbelange. Bei alldem wird die in der parlamentarischen Repräsentation zum Ausdruck gebrachte (politische) Einheit des Volkes881 allein durch den rechtsförmigen Wahlvorgang bewirkt und artikuliert. In der individuellen Stimmabgabe nimmt die Integration des im gewählten Parlament repräsentierten Staatsvolkes seinen Ausgangspunkt. Das amtliche Wahlergebnis bildet die Grundlage für die parlamentarischen Mehrheiten zur Staatswillensbildung während der Legislaturperiode. Das Ziel der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung kann für die Rechtfertigung von Beschränkungen im Wahlrecht im vorliegenden Zusammenhang daher nur insoweit bedeutsam sein, als die Ausgestaltung der Wahlberechtigung den Anforderungen der wirklichkeitsgetreuen Abbildung des Wählerwillens genügen muss. Dies geschieht nicht nur durch ein den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit Rechnung tragendes Wahlsystem.882 Von ebensolcher Bedeutung ist die Ausgestaltung der Wahlzugangsberechtigung im Sinne der Allgemeinheit der Wahl. Es geht hier um die Gewährung der politischen Einflusschancen des gesamten Volkes, und zwar ungeachtet der sozialen Schichtung, der Gruppenzugehörigkeit oder sonstiger möglicher Differenzierungsmerkmale.883 Nur in diesem Verständnis könnte das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche „Integrations- und Kommunikationsfunktion“ als Differenzierungsgrund im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl884 fruchtbar machen. Denn in diesem Sinne beschreibt die Integrationsfunktion der Wahl einen abwägungsfähigen Belang, der unmittelbar im demokratischen Prinzip des Grundgesetzes wurzelt und somit dem Gewicht der Allgemeinheit der Wahl die Waage zu halten vermag.

879

Vgl. Morlok, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, S. 559 (578). Zur Bedeutungsvielfalt und einzelnen Ausprägungen der demokratischen Repräsentation vgl. m. w. N. Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 26 ff. 881 BVerfGE 95, 408 (420); C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 206 f.; Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 9 f.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 53. 882 BVerfGE 95, 408 (419); H. Meyer, HStR3 III, § 45 Rn. 22 ff. 883 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. II. 1. 884 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32). 880

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

b) „Kommunikationsfunktion“ von Wahlen Im Zuge der Integration des Staatsvolkes durch Wahlen kommt die Kommunikationsfunktion der Wahl zum Tragen. Demnach ist die durch das Wahlrecht bewirkte effektive Integration des Staatsvolkes maßgeblich vom vorhergehenden kommunikativen Prozess zwischen Bürgern, gesellschaftlichen Kräften und Repräsentanten aus Parlament und Regierung abhängig. Dementsprechend kommt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein Ausschluss vom Wahlrecht in Betracht, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen sei, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße bestehe.885 Von Teilen der Literatur wird insoweit der Vergleich zum Wahlrechtsausschluss Minderjähriger gemäß Art. 38 Abs. 2 GG, § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG sowie unter Betreuung stehender Personen gemäß § 13 Nr. 2 BWahlG a. F. bemüht.886 Diesen Vorschriften liegt die Annahme zugrunde, dass politische Mündigkeit und damit die Fähigkeit einer bewussten und reflektierten Teilhabe am politischen Kommunikationsprozess vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahres regelmäßig noch nicht bestehe887 oder im Falle der Bestellung eines Betreuers nicht mehr in ausreichendem Maße gegeben sei.888 In dieser Rechtsprechung liegt auch für die Rechtfertigung zum grundsätz­lichen Ausschluss Auslandsdeutscher vom Wahlrecht eine gewisse Kontinuität. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der reflektierten Wahlteilhabe stellte das Gericht in seiner Entscheidung vom 2. November 1990889 erstmals890 und mit Bezug auf die Gesetzgebungsmaterialien891 zum BWahlG 1985 noch allgemein auf „objektive Merkmale“ ab, die es „gewährleistet erscheinen lassen, dass [wahlberechtigte Aktivbürger] am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken“. Die Entscheidungsgründe, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012 anführt, konkretisieren diesen Ansatz und fokussieren den allgemeinen Kommunikationsprozess und die mit ihm verbundene Integrationswirkung des einzelnen Bürgers im Sinne des „beständigen Dialogs zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften“ während

885 BVerfGE 42, 312 (340 f.); 132, 39 (51 Rn. 34); BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 45. 886 Vgl. dazu und im folgenden Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 178. 887 BT-Drs. VI/304 v. 27.2.1970, S. 4; BVerfGE 42, 312 (340 f.); BVerfG (Kammer), NVwZ 2002, S. 69 f. 888 BT-Drs. 11/4528 S. 188 f.; BVerfGE; 36, 139 (141 f.); 67, 146 (147 f.); Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (252 ff.). Mit Beschluss v. 29.1.2019 (2 BvC 62/14) beanstandete das Bundesverfassungsgericht die Ausgestaltung von § 13 Nr. 2 BWahlG a. F. und stellte die Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung fest, vgl. oben Fn. 95. 889 BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 890 Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (75). 891 BR-Drs. 198/82 S. 19.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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einer Legislaturperiode.892 Demnach sieht das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss bestimmter Wählergruppen vom Wahlrecht als gerechtfertigt an, bei denen ein Mindestmaß an kontinuierlicher Befassung und Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen kaum gelingen könne. Diese Wählergruppen seien typischerweise nicht imstande, am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen teilzuhaben und so eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen. Es fehle ihnen an dem für die reflektierte Wahlentscheidung notwendigen Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland.893 Diese Wählergruppen hätten daher auch nicht Teil an der Integration des Staatsvolkes durch Wahlen. 3. Bewertung Es besteht kein Zweifel daran, dass die vom Bundesverfassungsgericht in den Blick genommene effektive Integration des Staatsvolkes von der Responsivität des gesellschaftlich-demokratischen Prozesses abhängig ist.894 Dies bedingt die Möglichkeit der kommunikativen Teilhabe der Staatsbürger an der staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildung.895 Dennoch haben die obigen Erwägungen ergeben, dass die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl für die Beurteilung von Wahlrechtsbeschränkungen nur insoweit relevant werden kann, als der Wahlvorgang als solcher betroffen ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012 seinen Blick maßgeblich auf den politischen und gesellschaftlichen Dialog während der Legislaturperiode richtet, ist damit zunächst die im Wege der Parlamentsöffentlichkeit und der Responsivität bewirkte inhaltliche Legitimität einer parlamentarischen Entscheidung896 angesprochen. Diese hat mit der Ausgestaltung der Teilhabebedingungen an der Wahl jedoch nichts zu tun und kann für die Bestimmung der zwingenden Gründe zur Rechtfertigung von Wahlzugangsbeschränkungen daher kein tragender Aspekt sein.897 Anders liegt es jedoch, wenn und soweit das Bundesverfassungsgericht aktuell der Auffassung ist, dass bestimmte Wählergruppen zur Integration des Staatsvolkes bei Wahlen von vornherein nichts beitragen und deren Beteiligung an der Bundestagswahl deshalb das hervorzubringende Abbild des politischen Wähler 892 BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 33); ebenso BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, jurisRn. 45. 893 BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 40 ff.); ebenso BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); zum Erfordernis der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen im Wahlrecht vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. 894 Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 33. 895 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 76. 896 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 42 Rn. 28 f. 897 So im Ergebnis auch Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 39, 66 Rn. 65: „Erwägungen zu Kommunikationsgesichtspunkten“ gehen „am Sinn demokratischer Wahlen […] vorbei“.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

willens verfälschen könnte.898 Zu jenen Wählergruppen zählt das Gericht diejenigen Auslandsdeutschen, die sich zu einem Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben, in dem sie die notwendige Vertrautheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen mangels hinreichender Reife und Einsichtsfähigkeit nicht erwerben konnten, oder die Bundesrepublik Deutschland vor so langer Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhältnissen keine Entsprechung mehr finden.899 In diesem Zusammenhang betont das Bundesverfassungsgericht, dass sich die Demokratie nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen soll, sondern die freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt. Demokratie lebe zuerst von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung.900 Gleiches gelte für die reflektierte Teilhabe an Wahlen zum Deutschen Bundestag. Das Gericht verknüpft die Möglichkeit der reflektierten Wahlteilhabe mit der Kommunikationsfunktion der Wahl insofern, als es für die reflektierte Stimmabgabe zumindest die Möglichkeit an kontinuierlicher Befassung und Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen voraussetzt.901 Mit der auf die Wahlentscheidung fokussierten „Kommunikationsfunktion der Wahl“ wird die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems im Hinblick auf die effektive Integration des Staatsvolks durch Wahlen ohne Zweifel nicht unerheblich gestärkt.902 Diese Wahlfunktion dient auch der Sicherung und Aufrechterhaltung des repräsentativen Regierungssystems insbesondere im Hinblick auf die Legitimationsfunktion der Wahl. Das Ergebnis der reflektierten Stimmabgabe bei der Wahl zum Deutschen Bundestag soll letztlich ein Parlament hervorbringen, das die verschiedenen Anliegen im Volk hinreichend widerspiegelt. Insoweit wurzeln die vom Bundesverfassungsgericht mit der Kommunikationsfunktion der Wahl umschriebenen Anforderungen an die politische Teilhabe des Staatsbürgers unmittelbar im demokratischen Prinzip des Grundgesetzes.903 Die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl steht daher mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht nur auf der gleichen verfassungsrechtlichen Stufe. In der hier gefundenen Ausprägung (Verknüpfung der Integrations- und Kommunikationsfunktion mit dem Wahlakt) sind sie im Hinblick auf die effektive Integration des Staatsvolkes von einigem Gewicht und halten dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl „die Waage“. Insoweit bildet die Integra-

898

Die zuletzt genannte Fallgruppe hat das Gericht für sog. „Grenzgänger“ angenommen, BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 45). 899 BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 45). 900 BVerfGE 123, 267 (358 Rn. 250). 901 BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 45). 902 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. a). 903 So auch Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447); diesen Ansatz in Bezug auf § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG a. F. bestätigend BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 88.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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tions- und Kommunikationsfunktion der Wahl eine taugliche Schranke für das Zugangsrecht zur Wahl.904 4. Zwischenergebnis Soweit das Bundesverfassungsgericht die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl als Wahlrechtsschranke („zwingenden Grund“) zur Rechtfertigung von gesetzgeberischen Eingriffen in die Grundsätze der Allgemeinheit der Wahl fruchtbar machen will, ist dies nur im Hinblick auf den konkreten Wahlvorgang möglich. Die Integrationsfunktion der Wahl reicht nur soweit, wie die Ausgestaltung der Wahlberechtigung den Anforderungen der wirklichkeitsgetreuen Abbildung des Wählerwillens im Parlament zu genügen hat, die das Wahlergebnis hervorbringt. Im Hinblick auf die effektive Integration des Staatsvolkes durch Wahlen verlangt die Kommunikationsfunktion der Wahl vom Wähler die hinreichende Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen. Das setzt voraus, dass der Wähler in der Lage ist, sich mit dem politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland zu befassen und auseinanderzusetzen.905 Ein solcher Standpunkt betrifft die effektive Integration des Staatsvolks in das repräsentative Regierungssystem und ist aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes abgeleitet. Die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl steht damit auf einer Stufe mit dem Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl und kommt daher als taugliche Schranke zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen in Betracht. Darüber hinaus kann der vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene „beständige Dialog zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften“, der sich für die Legitimität demokratischer Ordnung als genauso wichtig erweist wie der Wahlakt selbst,906 durch die gesetzgeberische Ausgestaltung der Wahlzugangsberechtigung nicht gewährleistet werden. Insoweit werden die Anforderungen an die Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze überspannt, so dass eine gesetzliche Beschränkung der Wahlrechtsgrundsätze unter Berufung auf die Sicherung des beständigen Dialogs zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften ausgeschlossen ist.

904

Ebenso Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 177. Zur in diesem Zusammenhang vom Bundesverfassungsgericht geforderten „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ als Bedingung für die Kommunikationsfunktion der Wahl BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 41), vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. 906 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 77. 905

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

II. Sesshaftigkeitsklauseln als geeignete und erforderliche Mittel zur Erfüllung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl? Somit ist im Weiteren zu prüfen, ob die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG enthaltene Inlandsklausel in ihrer konkreten Ausgestaltung geeignet und erforderlich ist, die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl in Bezug auf den Wahlakt hinreichend zu verwirklichen. Es liegt am Gesetzgeber, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen.907 Angesichts der Bedeutung des Wahlrechts und der Strenge demokratischer Egalität besteht für den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze allerdings nur ein eng begrenzter Bewertungsspielraum,908 der im Hinblick auf die Einhaltung der verfassungsmäßigen Schranken im Wahlrecht überprüfbar ist. Im Rahmen seines Beurteilungsspielraums ist der Gesetzgeber aber befugt, Vereinfachungen und Typisierungen vornehmen.909 Das bedeutet, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung Lebenssachverhalte im Hinblick auf wesentliche Gemeinsamkeiten normativ zusammenfassen und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt oder absehbar sind, generalisierend vernachlässigen darf, solange er realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legt und keinen atypischen Fall als Leitbild wählt.910 Nach diesen Vorgaben bemisst sich im Folgenden auch die Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG. Die wahlrechtliche Sesshaftigkeit hat den Zweck, die für die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung nach Auffassung des Gesetzgebers beim Aktivbürger erforderliche Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland herzustellen. Damit soll zugleich die Teilhabe des Wahlvolkes am politischen Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen typischerweise gesichert werden.911 Dieser Zweck soll die zuvor beschriebene und als zulässige Schrankenbestimmung ausgemachte Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl sichern,912 soweit diese sich im Wahlakt realisiert. Er ist sohin verfassungsrechtlich legitim.913

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BVerfGE 95, 408 (420); 121, 266 (303). Vgl. dazu oben Erster Teil 4. Kapitel B. II. 2. 909 BVerfGE 82, 159 (185 f.); 96, 1 (6); 132, 39 (49 Rn. 28); BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14, juris-Rn. 48. 910 BVerfGE 84, 348 (359); 87, 234 (255); 96, 1 (6); 132, 39 (49 Rn. 29). 911 BT-Drs. 15/6015, S. 7 f.; 16/7461, S. 16; 17/11820, S. 3, 4 f.; ThürVerfGH 1998, S. 525 (526); Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74; Schreiber, NJW 1998, S. 492 (494). 912 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 4. 913 BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (10). 908

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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1. Geeignetheit Die gesetzliche Beschränkung der Wahlteilhabe auf im Inland Sesshafte – und damit der gesetzliche Ausschluss von Auslandsdeutschen vom Wahlrecht – müsste zunächst geeignet sein, die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl zu sichern. Eine Regelung ist geeignet, den legitimen Zweck zu erfüllen, wenn sie zu dessen Verwirklichung beiträgt.914 Unbestreitbar gilt, dass mithilfe des festen und dauerhaften Wohnsitzes im Inland die kommunikative Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess in der Bundesrepublik typischerweise gestärkt wird. Dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschen steht – neben dem eigenen persönlichen Erleben – das gesamte Angebot moderner Massenmedien zur Verfügung, um sich über die politischen, sozialen und kulturellen Vorgänge im Inland zu informieren.915 Dies trifft auch auf den vom Gesetzgeber in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG vorgesehenen Mindestaufenthaltszeitraum für die Herstellung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen zu. Es kann allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass der nur dreimonatige Inlandsaufenthalt für die Herstellung einer politischen Vertrautheit mit der Bundesrepublik Deutschland „eher knapp bemessen“916 ist. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass auch ein kurzer Aufenthaltszeitraum innerhalb der Landesgrenzen die kommunikative Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess typischerweise zumindest eher fördert als der ununterbrochene dauerhafte Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland. 2. Erforderlichkeit Die in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG verankerte Sesshaftigkeitsklausel müsste überdies erforderlich sein. Eine Regelung ist erforderlich, wenn sie unter mehreren für die Verwirklichung des angestrebten Zwecks in Betracht kommenden, gleichermaßen geeigneten Maßnahmen die am geringsten belastende Maßnahme darstellt.917 Angesichts der Möglichkeiten der Information und Kommunikation über das Internet und moderne Informationsmedien ist es allerdings fraglich, ob der permanente Inlandswohnsitz als erforderlich angesehen werden muss, um die Möglichkeit kommunikativer Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland typischerweise zu gewährleisten. Insofern sind die realen Bedingungen der Kommunikation im Zeitalter der neuen Medien für die 914 BVerfGE 67, 157 (173); 90, 145 (172); Degenhart, Staatsrecht I, § 4 Rn. 419; Kingreen  / ​ ­Poscher, Staatsrecht II, § 6 IV 4 Rn. 334. 915 So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 180. 916 BVerfGE 132, 39 (54 Rn. 41); ebenfalls H. Meyer, Stellungnahme zum Wahlrecht der Auslandsdeutschen, BT-Drs. 17/11820, Innenausschuss des Bundestages, Ausschuss-Drs. 14(4)634. 917 Vgl. Degenhart, Staatsrecht I, § 4 Rn. 419.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Beurteilung der Erforderlichkeit der von den Sesshaftigkeitsklauseln im Wahlrecht verfolgten Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl von Belang. Bereits eine summarische Betrachtung ergibt, dass die neueren Entwicklungen wirtschaftlicher Expansion bzw. Verlagerung von Unternehmensstätten und der technische Fortschritt in der Kommunikationstechnologie für den Einzelnen die Notwendigkeit eines bestimmten dauerhaften Standortes relativiert. Auch Teile der deutschen Gesellschaft nehmen seit Jahren die zahlreichen Möglichkeiten internationaler Freizügigkeit und Migration in nicht unerheblichem Maße wahr.918 Das wirkt sich – zumal in einer zunehmend vernetzten Welt –919 auf die Wirklichkeit von Informations- und Kommunikationsvorgängen aus. Insbesondere die modernen Kommunikationsformen des Internets und der zahlreichen Social-Media-Dienste wie auch die schon länger bestehenden Möglichkeiten der Satellitentechnik920 erlauben heute die zeitgleiche und realistische Nachrichtenübermittlung an und von jedem Ort der Welt.921 Es ist offenkundig, dass sich auch die Mandatsträger dieser neuen Entwicklung bereits längst angenommen haben922 und die neuen Medien zur Publikation politischer Meinungen extensiv nutzen. So unterhält etwa die Bundesregierung einen eigenen Kanal auf YouTube923 und die Kanzlerin führt Bürgerdialoge per Videokonferenz im Internet.924 Hingewiesen sei außerdem auf die Internetauftritte der politischen Parteien. Auch verfügen nahezu alle Bundestagsabgeordneten, darüber hinaus jede im Bundestag vertretene Fraktion und sogar die Gesetzgebungsorgane auf Bundes- und Landesebene als solche heute über mindestens ein offizielles Facebook-Profil sowie einen Twitter-Account. Überdies sind annähernd alle deutschen Medien über das Internet erreichbar.925 Insgesamt überformt die digitale Netzwelt die Kommunikationsstrukturen der gesamten Ge-

918

Vgl. Policy Paper im Auftrag der Bertelsmann Stiftung: Abschied vom Einwanderungsland Deutschland? Die Migration Hochqualifizierter im europäischen und internationalem Vergleich, 2010, S. 7. 919 Zum digitalisierten Raum als Rechtsproblem vgl. Gärditz, Der Staat 54 (2015), S. 113 ff. 920 Hier ist der Gesetzgeber bereits aktiv geworden, vgl. dazu etwa Gesetz über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts „Deutsche Welle“ v. 16.12.1997, BGBl. I S. 3094. 921 So auch Einschätzung von Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 181 f. mit weiteren Beispielen; Germelmann, Jura 2014, S. 310 (319); Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (77). 922 Vgl. Bericht v. 17.10.2005 des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung, BT-Drs. 15/6015, S. 7, 107 ff., unter der Überschrift: „Das Internet – eine neue Form politischer Öffentlichkeit?“; ebenso schon Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ v. 22.6.1998, BT-Drs. 13/11004, S. 79 f. 923 Abrufbar unter https://www.youtube.com/user/bundesregierung (zuletzt abgerufen am 16.7.2019). 924 Vgl. https://dialog-ueber-deutschland.bundeskanzlerin.de/DE/00-Homepage/homepage_ node.html (zuletzt abgerufen am 16.7.2019). 925 Vgl. auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (474); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 180 ff.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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sellschaft. Insbesondere die neuen sozialen Medien und die daraus entspringende „Netzöffentlichkeit“ bilden heute einen integralen Bestandteil der vielfältigen Formen der öffentlichen Meinungsbildung.926 Dieser Entwicklung mag man im Hinblick auf ihre präformierende Wirkung auf den gegenseitigen Meinungsbildungsprozess im Einzelnen kritisch gegenüberstehen.927 Unstreitig aber handelt es sich bei der digitalen Entwicklung, anders als zu früherer Zeit,928 nicht mehr um ein Randphänomen. Vielmehr hat sie die Mitte der demokratischen Öffentlichkeit längst erreicht. Mit Ausnahme vielleicht der Polarkappen ist nahezu jede Region der Welt informationstechnisch erschlossen. Solchem gesellschaftlich-technischen Wandel hat sich der Gesetzgeber anzunehmen und in seiner Rechtsetzung ausreichend Rechnung zu tragen.929 Der vorstehende Befund entspricht auch der Einschätzung des Gesetzgebers in Bezug auf die Ausweitung des Wahlrechts für Deutsche mit Wohnsitz im Ausland. So war die fortschreitende Entwicklung moderner Kommunikation schon im Jahr 2007 die tragende Erwägung des Gesetzgebers zur Aufgabe der vorherigen Fortzugsfristen für Auslandsdeutsche,930 was wiederum das Bundesverfassungsgericht in der diese Gesetzesänderung kassierenden Entscheidung nicht davon abhielt, das genaue Gegenteil zu behaupten.931 Indessen hat das Bundesverfassungsgericht den gesetzgeberischen Einschätzungs- und Bewertungsspielraum grundsätzlich zu respektieren.932 Die im Rahmen des damaligen Gesetzgebungsverfahrens durchgeführten Tatsachenfeststellungen durch den Gesetzgeber zur Verbreitung neuer

926

Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 77. Jacob / T homas, APuZ 2014, S. 35 (38); Gärditz, Der Staat 54 (2015), S. 113 (133); plakativ Boehme-Neßler, NJW 2017, S. 3031 ff. 928 Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages: „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ v. 22.6.1998, ist noch von 2 700 Bürgern die Rede, die das digitale Informationsangebot des Deutschen Bundestages täglich in Anspruch nehmen würden, vgl. BT-Drs. 13/11004, S. 78; dazu auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 181. Diese Tatsachenfeststellung liegt mittlerweile über zwei Jahrzehnte zurück! 929 Vgl. dazu eingehend Gärditz, Der Staat 54 (2015), S. 113 (126, 128 f). m. w. N.; ebenso Sacksofsky, Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am Montag dem 14. Januar 2013 zu drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – BT-Drs. 17/11819, 17/11820, 17/11821 – sowie einem Änderungsantrag – Ausschuss-Drucks. 17(4)625, S. 5. 930 Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16; ebenso Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (63 Rn. 63). 931 BVerfGE 132, 39 (53 Rn.40). Wie das Bundesverfassungsgericht mit Bezug auf BT-Drs. 16/7461, S. 16, zum Beleg des Gegenteils kommt, ist schlicht nicht nachvollziehbar, kritisiert auch bei Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (83 mit Fn. 110): „Fehlzitat!“; ebenso Wallrabenstein, JÖR 66 (2018), S. 431 (445 mit Fn. 82). Die vom Gericht an gleicher Stelle zitierte BT-Drs. 17/5260, S. 4 betreffend die Unterrichtung des Ausschusses für Kultur und Medien durch die Deutsche Welle lässt keinen Zusammenhang zu der hier streitigen Problematik erkennen. 932 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 178 f., 184. 927

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Kommunikationstechniken innerhalb der Gesellschaft933 sind nämlich nicht zu beanstanden. Im Zeitalter des Internets ist die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme grundsätzlich und überall gegeben.934 Die demgegenüber vom Bundesverfassungsgericht unter Bezug auf die Möglichkeit kommunikativer Vor-Ort-Teilnahme stets geforderte pauschal-territoriale Anbindung des Wahlrechts935 ist daher vollends überholt und wird zu Recht kritisiert.936 Zwar ist nicht in Abrede zu stellen, dass die kommunikative Teilhabe im Ausland im Einzelfall schwierig oder gar ausgeschlossen sein mag. Derartige Einzelfälle können und müssen aber bei einer typisierenden Betrachtung937 unberücksichtigt bleiben. Angesichts der beschriebenen Möglichkeiten grenzüberschreitender Informationsbeschaffung ist vielmehr typischerweise davon auszugehen, dass die Möglichkeit der informierten Teilnahme am Kommunikationsprozess in der Bundesrepublik Deutschland vom Ausland her grundsätzlich gegeben ist.938 Ein dauerhafter oder zeitweiser Aufenthalt im Inland ist zur kontinuierlichen Befassung und Auseinandersetzung der Bürger mit den politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland heute nicht mehr zwingend notwendig. Die Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist daher zur Verwirklichung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl nicht erforderlich. 3. Zwischenergebnis Die wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist zwar geeignet, aber nicht erforderlich, um die Verwirklichung der mit der Wahl verbundenen Funktion der Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten zu gewährleisten. Insbesondere berücksichtigt die aktuelle gesetzliche Regelung die 933

Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 16/7461, S. 16; s. a. allgemein Ausschussbericht (17.  Ausschuss) v.  17.10.2005, BT-Drs. 15/6015; Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages v. 22.6.1998, BT-Drs. 13/11004. 934 Vgl. bereits Begründung zum Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis90/Die Grünen zur Aufhebung der Begrenzung des aktiven Wahlrechts für Deutsche, die nicht in den Gebieten der Mitgliedstaaten des Europarates leben v. 5.6.1997, BT-Drs. 13/7864, S. 3. 935 St. Rspr. seit BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 936 Vgl. Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 74; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 180 ff.; ­Sacksofsky, Stellungnahme v. 9.1.2013 zur Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am Montag, den 14. Januar 2013 zu drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Innenausschuss des Bundestages, Ausschuss-Drs. 17(4)634 B, S. 5: „überholt“; Felten, DÖV 2013, S. 466 (469, 473, 474 f.): „anachronistischer Rechtfertigungsgrund“, „Plausibilität vollständig verloren“; Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (77); ders. in: FS Wagner, S. 343 (358); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (12); Germelmann, Jura 2014, S. 310 (319). 937 BVerfG (Kammer), NVwZ 1997, S. 1207; BVerfGE 30, 227 (249); 124, 1 (23); BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29); oben Erster Teil 5. Kapitel C. II. 938 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 183.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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tatsächliche Entwicklung der kommunikativen Verhältnisse nicht. Kommunikation findet heute gerade nicht mehr, auch nicht typischerweise, ausschließlich vor Ort statt. Dies haben auch die Feststellungen des Gesetzgebers im Zuge der nahezu vollständigen Gleichstellung der Auslandsdeutschen mit den Inlandsdeutschen durch das BWahlRÄndG 2008 ergeben.939 Demnach ist die Möglichkeit kommunikativer Teilnahme im Zeitalter des Internets grundsätzlich und überall gegeben. Die gesetzgeberische Einschätzung erweist sich nach wie vor als richtig und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zudem hat auch die mediale Direktvernetzung zwischen Wählern und den politischen Mandats- und Funktionsträgern auf der Bundesebene längst ihren etablierten Platz in der Kommunikation eingenommen. Diese erfolgt in Echtzeit und ist grundsätzlich nicht an einen bestimmten Standort gebunden. Der Ausschluss jener Deutschen vom Wahlrecht, die einen konkreten Ortsbezug nicht aufweisen, ist jedenfalls mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht als Wahlzugangsvoraussetzung formulierte „[hinreichende] Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen“940 schon lange nicht mehr plausibel.941 Im Gegenteil: Angesichts der technischen Möglichkeiten hängt die Teilnahme am Kommunikationsprozess heute nicht von der Sesshaftigkeit im Inland, sondern allein vom politischen Interesse des Bürgers ab, das allerdings typischerweise jedem Staatsbürger unterstellt werden muss.942 Insgesamt ist das in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG verankerte Sesshaftigkeitserfordernis verfassungsrechtlich daher nicht gerechtfertigt. III. Weitere Bedenken gegen die Sesshaftigkeitsklausel Darüber hinaus ist auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen, der im Rahmen der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Sesshaftigkeitsklausel gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG erheblich ist. Für die Allgemeinheit der Wahl kann die Integration des Staatsvolkes wie festgestellt nur insoweit von Belang sein, als durch den Wahlakt sichergestellt ist, dass der politische Wille der Wählerschaft im Deutschen Bundestag wirklichkeitsnah abgebildet wird.943 Allerdings ist es auch nach diesem eingeschränkten Verständnis der wahlrechtlichen Integrationsfunktion, soweit sie als Rechtfertigung für Einschränkungen der allgemeinen Wahlberechtigung tragend sein soll, nicht ausgeschlossen, dass die effektive Integration der Wählerschaft durch Wahlen ihrerseits an Bedingungen geknüpft ist, die sich u. a. auch auf die Wahlzugangsberechtigung auswirken könnten. So hält das Bundesverfassungsgericht gerade die Möglichkeit zu einer reflektierten (informierten) Wahlentscheidung für unabdingbar dafür, dass die Wahl ihre Integrationsfunk 939 Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16; ebenso Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (63 Rn. 63). 940 Zitat BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 34), Hervorhebung durch Verfasser. 941 So auch Horn, in: FS Wagner, S. 343 (358); Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (12). 942 Felten, DÖV 2013, S. 466 (474). 943 Vgl. Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. a).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

tion erfüllen kann.944 Die Abgabe einer informierten Wahlentscheidung setzt aus Sicht des Gerichts wiederum die Möglichkeit der kommunikativen Teilhabe am politischen Geschehen voraus. Insoweit bestünde ein enger wechselseitiger Zusammenhang zwischen wahlrechtlicher Integration und Kommunikation. Das Bundesverfassungsgericht sieht die „Integrationsfunktion“ der Wahl erst dann als hinreichend verwirklicht, wenn der Wahlgesetzgeber die Beteiligung (nur) der typischerweise945 informierten Bürger sicherstellt, also jener Bürger, die typischerweise mit den „politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland hinreichend vertraut sind“.946 Die politische Vertrautheit beim Wähler ist aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts also notwendige (Vor-)Bedingung dafür, den politischen Meinungsbildungsprozess informiert zu verfolgen, um so bei den Wahlen eine reflektierte Wahlentscheidung abgeben zu können. Dazu muss der Bürger in die Lage versetzt werden, sich ein Urteil über die politisch erheblichen Fragen zu bilden.947 In diesem Zusammenhang verweist das Bundesverfassungsgericht zum einen ausdrücklich auf die „Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften“.948 Zum anderen verknüpft das Gericht mit dem Begriff des Wahlbürgers dessen Fähigkeit und Möglichkeit, am politischen Geschehen im Sinne des Grundgedankens einer lebendigen Demokratie teilzunehmen.949 Offenkundig geht das Bundesverfassungsgericht also davon aus, dass von den Betroffenen ein gewisses Verständnis über die Bedeutung und Tragweite einer Wahl verlangt werden müsse.950 Personen mit dauerhaften Wohnsitz im Ausland wird dieses Verständnis entsprechend der oben skizzierten Regelungssystematik951 grundsätzlich abgesprochen. Dies ist im Hinblick auf die Rechtfertigung von wahlrechtlichen Sesshaftigkeitsklauseln allerdings höchst anfechtbar. Wenn die Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG die politische Integration des Staatsvolkes dadurch fördern will, dass mit ihr eine informierte und reflektierte Wahlrechtsausübung 944 BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 33), dazu Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447 f.); angedeutet schon bei BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 945 Die Möglichkeit der Typisierung auch im Hinblick auf die Informiertheit und Vertrautheit der Wählerschaft anerkennend BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29, 56 Rn. 49). 946 BVerfGE 132, 39 (51 Rn. 33 f.; 53 Rn. 40); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690); zu den Anforderungen vgl. auch oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 3. 947 Vgl. Hesse, Grundzüge, § 5 Rn. 152. 948 BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 33) mit Nachweisen aus der Rspr., die bislang aber zu keinem Bezug zum Auslandsdeutschenwahlrecht gestanden hat. Vorlage für die Formulierung war die diesbezüglich nahezu gleichlautende Formulierung bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II (Vorauflage), Art. 20 (Demokratie) Rn. 83. 949 Vgl. ähnliche Interpretation bei Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (447): „Rückkopplung wiederum bedingt, dass die zur Wahl berufenen Staatsbürger dazu imstande sind, am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess mitzuwirken“; auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (76). 950 Schönhagen, KritV 2016, S. 350 (358). 951 Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1. a).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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gewährleistet werden soll,952 dann wird damit die Wahlberechtigung an die subjektive Fähigkeit und Möglichkeit des Einzelnen zur Mitwirkung am politischen Wahlgeschehen gebunden. Mithin knüpft der Gesetzgeber das individuelle Wahlrecht mit der Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht nur an eine eigenständige materielle Anforderung. Der Einzelne hat diese außerdem – anders als die sich aus der Verfassung ergebenden eher formellen Wahlrechtsvoraussetzungen der deutschen Staatsangehörigkeit und des Wahlalters – nicht nur am Wahltag selbst, sondern zeitlich auch und gerade vor und außerhalb der Wahl zu erfüllen. Das ist wie dargelegt schon nicht von der – ausschließlich an den Wahlakt knüpfenden – Integrationsfunktion der Wahl erfasst.953 Überdies steht zweifelsfrei fest, dass eine Selektion im Wahlrecht nach persönlichen Eigenschaften der Wähler nach politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Kriterien ausgeschlossen ist.954 Dementsprechend werden etwa das Erreichen eines bestimmten Bildungsabschlusses oder allgemeine Wahleignungs- oder Wissenstests als Wahlberechtigungs- bzw. Wahlzulassungsvoraussetzung allgemein für demokratiewidrig und unzulässig gehalten. Desgleichen ist anerkannt, dass das Wahlrecht nicht nur die Freiheit beinhaltet, eine demokratische, vernünftige Entscheidung zu treffen. Ebenso das Nichtwählen, das ungültige Wählen und vor allem das unvernünftige Wählen sind als geschützt anzusehen.955 Personen, die keine Kenntnis des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland und der Tragweite ihrer Wahl haben, sind gleichermaßen berechtigt, zu wählen.956 Angesichts dieser Einwände ist es auch nachvollziehbar, wieso das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle neuerdings einen besonderen Begründungsaufwand zur Bedeutung der Responsivität im parlamentarischen Regierungssystem betreibt.957 Dabei wird der Zusammenhang von reflektierter politischer Beteiligung, Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland und der nicht zuletzt auch durch Wahlen bewirkten „Integration des Staatsvolkes“ in der Literatur soweit ersichtlich nirgends in Frage gestellt.958 Dennoch bleibt unklar, woraus der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht die daraus geschlussfolgerte Einschränkung der Wahlberechtigung durch eine Sesshaftigkeitsklausel dogmatisch konkret ableiten will. Denn der das Wahlrecht nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG innehabende Staatsangehörige ist bereits der Staatsbürger, von dem nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und vermittelt über das Staatsorgan „Volk“ alle Staatsgewalt ausgeht. 952

Vgl. BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 40 f.) mit Verweis auf Gesetzesbegründung zum BWahlRÄndG 2008, BT-Drs. 9/1913, S. 10 f. An dieser Auffassung hat der Gesetzgeber auch bei Erlass des 21. BWahlGÄndG 2013 festgehalten, vgl. BT-Drs.17/11820, S. 4 f. 953 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. a). 954 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. II. 1. 955 Palleit, Wahlrecht, S. 13. 956 Schönhagen, KritV 2016, S. 350 (359). 957 Vgl. insbesondere bei BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29). 958 Vgl. dazu die Auffassungen in der Literatur zu den Wahlzielen oben Erster Teil 3. Kapitel  D. II. 2.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Hier kann auf die obige Differenzierung zwischen schlichter Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft verwiesen werden.959 Wie festgestellt, ist der Status der Staatsbürgerschaft, also der Aktivbürgerschaft, die das verfassungsrechtliche Wahlrecht zur Voraussetzung hat, mit dem kumulativen Vorliegen der Deutscheneigenschaft und dem Erreichen des Wahlalters von Verfassungs wegen gegeben.960 Der Begriff „Bürgerschaft“ trägt damit bereits das politische Element in sich.961 Allerdings muss noch eigens untersucht werden, ob in der Staatsbürgereigenschaft die für die verfassungsrechtliche Zuerkennung des Wahlrechts erforderlichen Voraussetzungen bereits abschließend enthalten sind.962 Nur wenn diese Frage verneint werden sollte, stünde zu prüfen,963 inwieweit und auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage der Gesetzgeber berechtigt ist, die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen für die Zuerkennung der Wahlberechtigung zusätzlich zu fordern und auszugestalten. IV. Zusammenfassung Die Wohnsitzklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG kann nicht unter Hinweis auf die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl gerechtfertigt werden. Die genannten Wahlfunktionen der Wahl kommen als zwingende Gründe im Sinne der Wahlrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung von Einschränkungen im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl zwar in Betracht, soweit jene Wahlfunktion in Bezug zum konkreten Wahlakt steht. Demnach ist die Möglichkeit, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen, für die Wahlteilnahme unabdingbar. Die Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist allerdings angesichts des voranschreitenden technischen Fortschritts in der Kommunikationstechnologie auch eingedenk einer dem Gesetzgeber im Wahlrecht eingeräumten Befugnis zur Typisierung nicht erforderlich, um dieses Wahlziel zu sichern. Damit scheidet die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl als taugliches Differenzierungskriterium zur Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts mittels der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG geregelten Sesshaftigkeitsklausel aus. Überdies bestehen Bedenken gegen die Verknüpfung des Wahlrechts mit dem Wohnsitz im Hinblick auf die im Demokratieprinzip verankerte streng formale Wahlrechtsgleichheit zur Sicherung der egalitären Teilhabe des Wahlvolkes an Wahlen. Der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht statuieren die wahlrechtliche Sesshaftigkeit zur Bedingung einer für die reflektierte Wahlentscheidung erforderlichen Einsichtsfähigkeit und Reife. Dies steht in einem nicht un 959

Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. I. 1. So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 150. 961 Dazu vgl. näher Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 56 f. 962 Vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 3. 963 Siehe unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 2. 960

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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erheblichen Spannungsverhältnis zur Staatsbürgereigenschaft der Wähler, die gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 38 Abs. 2 GG bei deutschen Staatsangehörigen mit Erreichen des Wahlalters als erfüllt gilt und den Einzelnen zur politischen Mitbestimmung befähigt.964 Nur wenn in der Staatsbürgereigenschaft die für die verfassungsrechtliche Zuerkennung des Wahlrechts erforderlichen Voraussetzungen nicht abschließend enthalten sein sollten, bleibt zu prüfen, ob der Gesetzgeber weitere Anforderungen an die Wahlzugangsberechtigung stellen darf. In Rede steht das gesetzgeberisch geforderte Kriterium der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen, auf das in diesem Kapitel unter E. näher eingegangen wird.965

D. Herstellung eines Verantwortungszusammenhangs Zuvor ist der Blick jedoch noch auf einen anderen Ansatz zu richten, mit dem der Bestand der wahlrechtlichen Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG gerechtfertigt werden könnte. Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2012 zum Auslandsdeutschenwahlrecht stellt das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff966 erstmals den mit der Wahl verbundenen „Verantwortungszusammenhang“ gegenüber der Kommunikationsfunktion der Wahl als eigenen, ihrer Auffassung nach „grundlegenderen“ Rechtfertigungstatbestand heraus. Wörtlich heißt es: „Kommunikation ist für die Demokratie in der Tat essenziell. Was den Zusammenhang, der durch demokratische Wahlen etabliert wird und etabliert werden soll, angeht, ist aber nicht der Kommunikationszusammenhang, sondern der Verantwortungszusammenhang […] der grundlegendere – ein Verantwortungszusammenhang der wirklichen, ernsten Art, in dem nicht nur Worte zu wechseln, sondern auch, von Wählern wie Gewählten, Konsequenzen des eigenen Entscheidungsverhaltens zu tragen sind. Erst durch ihn wird der demokratische Kommunikationszusammenhang überhaupt gestiftet. Je öfter und weiter formelle Zugehörigkeit – in Deutschland der Deutschenstatus gemäß Art. 116 Abs. 1 GG – und materielle Betroffenheit von der Staatsgewalt, auf die mit der Wahlentscheidung Einfluss genommen wird, auseinanderfallen, desto mehr entspricht es daher dem Sinn demokratischer Wahlen, die Wahlberechtigung nicht allein an die formelle Zugehörigkeit, sondern darüber hinaus daran zu knüpfen, dass die Wählenden mit ihrer Wahlentscheidung auf die politische Gestaltung eigener, nicht fremder, Lebensverhältnisse Einfluss nehmen.“967 Diese Auffassung lehnt die Heranziehung der wahlrechtlichen Integrations- und Kommunikationsfunktion als verfassungsrechtliche Schranke der Allgemeinheit 964

Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. I. Vgl. unten Erster Teil 5. Kapitel E. II. 3. 966 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (60 ff.). 967 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66). 965

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

der Wahl zur Rechtfertigung von Wahlzugangsbeschränkungen durch Sesshaftig­ keitsklauseln ab.968 Der „zwingende Grund“ zur Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen durch die dreimonatige Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG sei eher darin zu finden, dass die dauerhaft im Ausland sesshaften Staatsangehörigen „typischerweise keinerlei Bindung zum deutschen Staat“ hätten, ihre Staatsangehörigkeit daher zu einer „leeren Hülse“ geworden sei und gewissermaßen an „Effektivität verloren“ habe. Der Ausschluss von Auslandsdeutschen, die zu keinem Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft wohnhaft waren, trage daher dem Umstand Rechnung, „dass ihre demokratische Teilhabe in einen Widerspruch zur Demokratie als Selbstbestimmung des Volkes trete und als Fremdbestimmung von außen verstanden werden könne“.969 Das von Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum in Ansatz gebrachte Verständnis des „wahlrechtlichen Verantwortungszusammenhangs“ fand in der neueren Wahlrechtsdiskussion bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2012 soweit ersichtlich kein Vorbild. Es knüpft aber an ältere Überlegungen an, die das Wahlrecht insbesondere von der Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten sowie dem Bestand staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten abhängig machen wollten.970 Deren Relevanz für die Rechtfertigung des Ausschlusses von Auslandsdeutschen vom Wahlrecht wird allerdings in der Literatur weithin skeptisch beurteilt;971 vom Bundesverfassungsgericht hingegen offengelassen.972 Insofern muss zunächst geklärt werden, inwieweit der „wahlrechtliche“ Verantwortungszusammenhang nach dem Verständnis von Lübbe-Wolff als taugliche Schranke für den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl überhaupt in Betracht kommen kann (I.), bevor geprüft wird, ob die Sesshaftigkeit geeignet und erforderlich ist, das mit dem Verantwortungszusammenhang einhergehende legitime Ziel zu erfüllen (II.).

968

Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (63 f. Rn. 63; 66 Rn. 66); Felten, DÖV 2013, S. 466 (474). 969 Felten, DÖV 2013, S. 466 (473, 475) mit Zitaten (Hervorhebung im Original); Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66). 970 So etwa bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8 f.); ebenso Spieß, Schranken, S. 62; v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11. 971 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 170, 172; Sacksofsky, in: Morlok / ​Schliesky / ​ Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 6 Rn. 36; vgl. auch bereits Isensee, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (94). 972 BVerfGE 132, 39 (52 Rn. 38).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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I. Verantwortungszusammenhang als verfassungsunmittelbare Schranke der Wahlzugangsberechtigung 1. Strukturelle Zuordnung zu den demokratischen Wahlfunktionen Seinem Inhalt nach ist der Verantwortungszusammenhang im Bereich der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns verortet.973 Im Hinblick auf die Inlandsbindung des Wahlrechts wurde er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang allerdings nicht angeführt. Soweit ersichtlich findet er ausdrücklich erstmals im Jahr 1977 im Zusammenhang mit wahlrechtswidriger Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung Erwähnung. Hiernach sei „[d]er Staat des Grundgesetzes […] der Entscheidungs- und Verantwortungszusammenhang […] vermittels dessen sich das Volk nach der Idee der Selbstbestimmung aller in Freiheit und unter der Anforderung der Gerechtigkeit seine Ordnung, insbesondere seine positive Rechtsordnung als verbindliche Sollensordnung setzt“.974 Darüber hinaus hat die Richterin Lübbe-Wolff den Verantwortungszusammenhang in einem weiteren Sondervotum für die uneingeschränkte Geltung des innerparlamentarischen Mehrheitsprinzips bei der Besetzung des Vermittlungsausschusses des Bundestages herangezogen.975 Die Mehrheitsverhältnisse seien für „den demokratischen Verantwortungszusammenhang das wichtigste Element des abzubildenden Stärkeverhältnisses der Fraktionen“976. Auch erwähnt das prominente Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts die „Verantwortungszusammenhänge“ mit Blick auf die mangelnde Transparenz bei der Zuordnung von Entscheidungen zu bestimmten verantwortlich Handelnden in supranationalen Staatsgebilden.977 Zuletzt wurde der Begriff bei der Klärung zur Reichweite parlamentarischer Fragerechte im Zusammenhang mit Kriegswaffenlieferungen verwendet. Hier stand die Geheimhaltung von Informationen aufgrund Sperrvermerks mit der Kontrollfunktion der parlamentarischen Öffentlichkeit in Widerstreit. Zwar sei der formale Zurechnungszusammenhang zwischen Regierung und Parlament gewahrt, wenn das Parlament unter Anwendung der Geheimschutzordnung informiert werde. Der „weitere Verantwortungszusammenhang zum Volk“ sei jedoch insoweit unterbrochen.978 Auch in der Literatur fand der Verantwortungszusammenhang als Rechtfertigungstatbestand für Ungleichbehandlungen im Wahlrecht bislang kaum Be 973

So jedenfalls die überwiegende Auffassung, vgl. statt vieler Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 19; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 84; Schliesky, LKV 2005, S. 89 (94). 974 BVerfGE 44, 125 (142). 975 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 112, 118 (155); kritisch zu dieser Auffassung J. Lang, NJW 2005, S. 189 (190 f.). 976 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 112, 118 (155). 977 Vgl. BVerfGE 123, 267 (356 f.). 978 BVerfG, NVwZ 2014, S. 1652 (1663).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

achtung.979 Dies mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass der Begriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang entweder eher innere Verantwortungsverhältnisse der Staatsgewalten unter bzw. zueinander konturierte980 oder ganz allgemein im Zusammenhang mit dem demokratischen Legitimationsgedanken im Sinne einer ununterbrochenen Rückführbarkeit staatlichen Handelns zum Staatsvolk gestanden hatte.981 Von der h. M. wird der Verantwortungszusammenhang jedenfalls oft im zuletzt genannten Sinne verwendet,982 dort aber selten eigens ausbuchstabiert, sondern als vom Demokratieprinzip bereits gestiftet oder sogar als vorausgesetzt betrachtet. So steht etwa Dieter Grimm der Tatsache kritisch gegenüber, dass die Verwaltung „ihr Handlungsprogramm“ nur noch „scheinbar vom Gesetzgeber“ empfange, während sie „sich in Wirklichkeit weitgehend selbst“ steuere, sobald sie über die gesetzliche Bindung hinaus eigene administrative Strategien zur Bewältigung konkreter Einzelfälle formt. Die Verwaltung sei aber gerade nicht in den „demokratischen Verantwortungszusammenhang“ zwischen Parlament und Staatsvolk mit einbezogen.983 In seiner Besprechung des Lissabon-Urteils resümiert Frank Schorkopf zur „Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane“, dass der Bundestag mit seinem neuen Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag seinen diesbezüglichen „Verantwortungszusammenhang angenommen“ habe.984 In einem gänzlich anderen Zusammenhang, nämlich der Staatsverschuldung, wird der Begriff bei Astrid Mayer diskutiert. Mayer hebt hier unter dem Begriffspaar „Zurechnungs- und Verantwortungszusammenhang“ insgesamt auf die „Achtung der Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen“ ab985 und meint damit die mit der Kreditfinanzierung von Staatsaufgaben verbundene Verschiebung der Lasten auf künftige Generationen deutscher Staatsangehöriger. Schon dieser Überblick zeigt die vielfältige Verwendung, die der Begriff des Verantwortungszusammenhangs erfährt. Unstreitig steht er aber zumindest auch in einem engen Verhältnis zum Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG. Lübbe-Wolff kehrt das bisherige Sinnverständnis in ihrem Sondervotum zum Auslandsdeutschenwahlrecht986 979

Kritisch zur Notwendigkeit einer „Staatstheorie“ des Gerichts im Zusammenhang mit Wahlwerbung Zuck, NJW 1977, S. 1054 zu BVerfGE 44, 125 (142); kein Hinweis bei J. Lang, NJW 2005, S. 189 (190 f.) zu BVerfGE 112, 118 (155); Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8), ordnet der „Kontrolle der Regierenden durch die Regierten“ einen gewissen Verantwortungszusammenhang zwar zu, buchstabiert ihn aber dafür nicht eigens aus. 980 Deutlich etwa im vorerwähnten Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 112, 118 (155) – innerparlamentarisches Mehrheitsprinzip; zum Teil auch BVerfGE 123, 267 (356 f.) – Lissabon; als eigene Ausprägung des Verantwortungszusammenhangs auch in der Literatur anerkannt, vgl. Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 19. 981 BVerfGE 44, 125 (142)  – Öffentlichkeitsarbeit im Wahlkampf; BVerfG, NVwZ 2014, S. 1652 (1663) – Öffentlichkeit des parlamentarischen Fragerecht bzgl. Waffenlieferung. 982 Vgl. oben Nachweis bei Fn. 973. 983 Vgl. Grimm, NJW 1989, S. 1305 (1309). 984 Schorkopf, EuZW 2009, S. 718 (723). 985 Vgl. A. Mayer, Schuldenbremse, S. 137 f. mit Zitat. 986 Vgl. oben Fn. 966.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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freilich um. Sie fragt nicht nach der ununterbrochenen Rückführbarkeit allen amtlichen Handelns auf das Volk, sondern umgekehrt nach der Verantwortung der zur Stimmabgabe berechtigten Wähler für künftiges staatliches Handeln.987 Deshalb sieht sie die Wahl – als grundlegenden Legitimationsakt für die Träger der Staatsgewalt – zugleich als Herstellungs- und Bewirkungsrecht des in der Verantwortung für künftiges Regierungshandeln stehenden Wahlvolks.988 Gewiss ist die periodische Neuwahl der Mitglieder der Volksvertretung durch das Volk eigener Ausdruck demokratischer Verantwortlichkeit und Verantwortungsübernahme des Staatsvolkes.989 So verstanden steht der Verantwortungszusammenhang also in der Tat strukturell in enger Beziehung zu den Wahlfunktionen. Der in diesem Kontext verwendete Begriff ist im Hinblick auf die konkreten Funktionen des Wahlrechts gleichwohl noch zu unscharf. 2. Anpassungen an Reichweite und Inhalt des Wahlrechts Resultierend aus dem Umstand, dass für die Differenzierung im Wahlrecht allein zwingende, ausschließlich mit Verfassungsrang ausgestattete Gründe in Betracht kommen,990 bedarf der Begriff noch weiterer Konkretisierung. Eine Präzisierung dahingehend, dass der Verantwortungszusammenhang im Wahlrecht allein das Verhältnis des Staatsvolkes als Legitimationssubjekt zu den gewählten Vertretern der parlamentarischen Volksvertretung zum Gegenstand hat, führt zu einer Schärfung des Bedeutungsinhalts. Insbesondere können Gesichtspunkte der allgemeinen späteren Betroffenheit durch Maßnahmen der gewählten Staatsorgane keine Rolle spielen, um einen demokratischen Verantwortungszusammenhang zu konstituieren. Denn staatliches Handeln wirkt nicht nur in die Rechtssphäre der Deutschen hinein, sondern gestaltet Sachzusammenhänge darüber hinaus auch für die im Zuständigkeitsbereich der staatlichen Gewalt lebende Gesamtbevölkerung.991 Die Parlamentswahl ist hingegen verfassungsrechtlich ein Rechtsakt des Staatsvolkes; das Wahlrecht ist allein dem Staatsvolk i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vorbehalten.992 Mithin kann allein gesagt werden, dass die „demokratische Grundlegitimation der Staatsgewalt, die die Volkswahl herstellt, […] zugleich den materiellen Verantwortungszusammenhang von Staatsvolk und Staatsorganen für den Inhalt 987

In diesem Sinne verstanden wohl auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (475). Im Ausgangspunkt zustimmend Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78). 989 Vgl. Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 19. 990 Vgl. dazu oben Erster Teil 4. Kapitel B. II. 2. 991 Vgl. dazu auch Isensee, KritV 1987, S. 300 (304 f.); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 172; offengelassen bei BVerfGE 132, 39 (52 f. Rn. 38); Horn, in: FS Wagner, S. 343 (359 f.). Für die Einbeziehung von Betroffenheitserwägungen aber Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 65; 70 f. Rn. 70); insbesondere im Hinblick auf Grenzpendler, vgl. dies., ZParl. 1977, 439 (447). 992 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. I. 988

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

des politischen Handelns und Entscheidens“ begründet. Es ist die Staatsangehörigkeit dasjenige „personenrechtliche Band“, das die Bürger „in die politische Verantwortung nimmt und deshalb den Grund bildet für ihre staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte, auch und gerade für das vornehmste Bürgerrecht des Wahlrechts“.993 Allein mit dieser Einschränkung kann der Aussage Lübbe-Wolffs über den Verantwortungszusammenhang insofern zugestimmt werden, dass erst „durch ihn […] der demokratische Kommunikationszusammenhang überhaupt gestiftet [wird]“994. Nur so verstanden kann dem demokratischen Verantwortungszusammenhang ein verfassungsunmittelbar relevantes Gewicht zukommen, das den Wahlrechtsgrundsätzen „die Waage“ hält995 und so als „zwingender Grund“ für Differenzierungen der Allgemeinheit der Wahl grundsätzlich in Betracht kommt.996 Alles andere, insbesondere die Verknüpfung der demokratischen Verantwortung des Einzelnen in Ausübung seines Wahlrechts mit seiner individuellen Betroffenheit durch hoheitliches Handeln während der sich anschließenden Legislaturperiode, begegnet indessen unter demokratieverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erheblichen Einwänden.997 II. Sesshaftigkeitsklauseln als taugliche Mittel zur Herstellung des demokratischen Verantwortungszusammenhangs? Wie schon bei der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl ist daher auch insoweit nach der Tauglichkeit des gesetzgeberischen Mittels in Gestalt der Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG auf die Erfüllung des legitimen Ziels, also der Sicherung des Verantwortungszusammenhangs durch allgemeine Volkswahlen, zu fragen. 1. Geeignetheit Die wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklausel ist zur Erfüllung des legitimen Ziels geeignet, wenn sie zum demokratischen Verantwortungszusammenhang zwischen Staatsvolk und Staatsorganen zumindest fördernd beiträgt.998 Ob die Sesshaftigkeitsklausel zur Verwirklichung dieses legitimen Ziels beiträgt, hängt maßgeblich vom zeitlichen Bezugspunkt ab, von dem an der Verantwortungszusammenhang 993

Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78 mit Zitaten); vgl. auch Isensee, HStR3 II, § 15 Rn. 121. 994 Zitat bei Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (60 Rn. 66). 995 BVerfGE 95, 408 (418). 996 Vgl. auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (474 f.), jedoch mit teils angreifbarer Ausführung zur Erheblichkeit im vorangegangenen Gesetzgebungsverfahren in der Sache, vgl. oben Fn. 298. 997 Dazu näher unten Erster Teil 5. Kapitel D. II. 2. 998 Zur Definition der Geeignetheit vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. II. 1.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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wirksam wird. „Verantwortung“ zu übernehmen bedeutet allgemein, die künftigen Folgen für eigenes Handeln zu tragen. Dies gilt ebenso für das Wahlrecht. Wenn damit jedwede demokratische Wahlhandlung ihre Legitimationswirkung erst für künftige Herrschaft und nicht für vergangene entfalten kann,999 trifft dies notwendigerweise auch auf die mit der Wahl verknüpfte Verantwortungsfunktion zu. Der Zurechnungs- und Legitimationszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird durch die Parlamentswahl erst hergestellt.1000 So kann auch der mit der Wahlhandlung hergestellte Verantwortungszusammenhang notwendigerweise nur zukunftsbezogen verstanden werden,1001 und zwar, nach Maßgabe der Verfassung, in periodisch begrenzter1002 Weise. Doch insofern ist die Geeignetheit von Sesshaftigkeitsklauseln schwerlich anzunehmen. Selbst wenn es zutrifft, dass der Verantwortungszusammenhang gegenüber der Kommunikationsfunktion der grundlegendere sei,1003 rechtfertigt das deshalb noch nicht das Erfordernis eines mindestens dreimonatigen Inlandsaufenthaltes zum Zeitpunkt der Wahlentscheidung. Es fehlt an einer plausiblen Korrelation zwischen Vorwahlaufenthalt und dem durch die Wahl gestifteten Legitimations- und Verantwortungszusammenhang. Denn das eine steht mit dem anderen in keiner plausiblen Funktionsbeziehung. Die „Autorisation der Leitungsorgane“ erfolgt in einem demokratischen System nicht nur im Wahlakt; es bedarf vielmehr einer „stetigen politischen Rückbeziehung des Handelns der Leitungsorgane auf das Volk und seine Willensäußerungen“.1004 Es bleibt unerklärlich, inwiefern es für die Wahlberechtigung auf einen Vorwahlwohnsitz im Inland bzw. für Auslandsdeutsche auf einen inländischen Vorfortzugsaufenthalt ankommt. Denn die demokratische Verantwortungsgemeinschaft bezieht sich notwendig auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit.1005 Das kann selbst dann nicht in Abrede gestellt werden, wenn man mit Lübbe-Wolff und entgegen hier vertretener Ansicht1006 auf Betroffenheit abstellt. Der mit den Wahlen bewirkte demokratische Verantwortungszusammenhang kann demnach nicht durch einen dreimonatigen Vorwahlaufenthalt gesichert werden. Die Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist deshalb nicht geeignet, die wahlrechtliche Verantwortungsgemeinschaft zu sichern.

999

Herrschaft auf Zeit: BVerfGE 8, 104 (114). Vgl. H. H. Klein, in: Maunz  /  Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 68; Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 9. 1001 So auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 2 mit Fn. 7. 1002 Brocker, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 39 GG Rn. 2. 1003 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66). 1004 Vgl. Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 19 mit Zitaten (Hervorhebung vom Verfasser). 1005 Ebenso Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78); ders, in: FS Wagner, S. 343 (359). 1006 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel D. I. 1. 1000

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

2. Schleichende Konturierung eines neuen Prinzips So scheint letztlich gar nicht recht nachvollziehbar, weshalb die Richterin Lübbe-​Wolff mit Hinweis auf den „mit der Wahl verbundenen Verantwortungszusammenhang“ für die Beibehaltung eines Mindestwohnsitzzeitraumes vor der Wahl plädiert.1007 Eine Erklärung bildet aber möglicherweise „ihr ganz anderes Verständnis jenes Verantwortungszusammenhangs“1008, das „der wirklichen, ernsten Art, in dem nicht nur Worte zu wechseln, sondern auch, von Wählern wie Gewählten, Konsequenzen des eigenen Entscheidungsverhaltens zu tragen sind“1009. Es ist dies ein bislang eigenes Verständnis, dass die Richterin in die Verfassungsrechtsprechung zu integrieren sucht.1010 Lübbe-Wolff wendet sich damit implizit gegen das vom aktuellen wie vom historischen Gesetzgeber stets formulierte Erfordernis der Zugehörigkeit zum Staatsvolk1011 als notwendige Bedingung zur Ausübung des Wahlrechts. Mit dem Verweis auf das Erfordernis der Sesshaftigkeit aus Herrschaftsbetroffenheit würde die Staatsangehörigkeit ihre Eigenschaft als Alleinstellungsmerkmal für die politische Teilhabe auf Bundesebene verlieren. Damit wäre die Tür für die wahlrechtliche Integration auch der im Bundesgebiet lebenden Nichtdeutschen aufgestoßen.1012 Damit wird jene Nähe berührt, die das Auslandsdeutschenwahlrecht zur Problematik des Ausländerwahlrechts aufweist. Das Betroffenheitskriterium wird insbesondere von Befürwortern des Ausländerwahlrechts gerade im Wahlrecht in den Fokus der Betrachtung gestellt.1013 Und in der Tat misst auch das Bundesverfassungsgericht dem Aspekt der Herrschaftsbetroffenheit eine gewisse Bedeutung bei. Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts in Schleswig-Holstein1014 konstatierte das Gericht, dass es die Auffassung, es „entspreche der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen Inhabern politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen

1007

Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (68 Rn. 68). So Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (78) mit Zitat. 1009 Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 66) mit Zitat. 1010 Die diesbezüglichen Ausführungen von Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8), vgl. Fn. 979, dienen Lübbe-Wolff jedenfalls nicht als Vorlage. 1011 Vgl. etwa für das Wahlrecht des deutschen Kaiserreiches vgl. Art. 2 Verfassung des Deutschen Reiches, v. 16.4.1871 (RGBl. S. 63), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 261 (218); zuvor vgl. Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes v. 31.5.1869 (NBGBl. S. 145), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), ebd., Nr. 209 (190), dazu auch Hatschek, Parlamentsrecht I, § 33, S. 274; für die Weimarer Republik vgl. § 1 Reichswahlgesetz v. 27.4.1920 (RGBl. 1920, S. 627); vgl. auch Kelsen, Demokratie, S. 53 ff., 65 f.: „Nation als Kultur- und Sprachgemeinschaft“; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 226 ff. 1012 Vgl. m. w. N. Lübbe-Wolff, ZAR 2007, S. 121 (122 f.). 1013 Vgl. Referate von Walter, in: VVDStRL 72 (2013), S. 7 (32 ff.) und (kritisch) Gärditz, in: ebd., S. 49 (95, 104). 1014 Art. 1 Nr. 1 G zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes (SH) v. 21.2.1989. 1008

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herzustellen“1015, für „im Ausgangspunkt zutreffend“ halte.1016 Für den Sachbereich der Wahlen aber habe „Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG […] nicht zum Inhalt, daß sich die Entscheidungen der Staatsgewalt von den jeweils Betroffenen her zu legitimieren“ haben.1017 Im Lissabon-Urteil bekräftigt das Bundesverfassungsgericht diese Position mit dem Hinweis auf die mitgliedstaatliche Möglichkeit zur Differenzierung aufgrund der Staatsangehörigkeit: „Das Wahlrecht in den Mitgliedstaaten zu den jeweiligen Vertretungskörperschaften oberhalb der Kommunalebene ist weiterhin den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten […].“1018 Damit verwirft das Gericht das Kriterium der Betroffenheit zwar nicht gänzlich. Jedoch verortet es den Zielgedanken, „eine Kongruenz zwischen den Inhabern aktivbürgerschaftlicher Rechte und den dauerhaft der deutschen Staatsgewalt Unterworfenen herzustellen“, in der entsprechenden Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts und stellt sich damit gegen eine „isolierte Verleihung des Wahlrechts“ aus Betroffenheitsgesichtspunkten.1019 Dies gilt für Landtags- und Bundestagswahlen uneingeschränkt und gleichermaßen bis heute. Entfiele nun aber die wahlrechtliche Inlandsbindung, würde die Forderung nach einem Ausländerwahlrecht noch zusätzlich an verfassungsrechtlichem Rückhalt verlieren. Denn diese sucht ihre Rechtfertigung gerade in der Unterworfenheit der nichtdeutschen Bevölkerungsteile unter die deutsche Staatsgewalt zu finden,1020 die einen Gebietsaufenthalt zwingend voraussetzt. Aus dem Sondervotum wird freilich, das sei eingeräumt, nicht mit Sicherheit klar, ob danach die Betroffenheit als Kriterium des Wahlrechts neben oder zusätzlich zur Staatsangehörigkeit oder an ihrer statt verstanden und profiliert wird. Das ist vorliegend aber unerheblich, denn am Fehlen einer wirksamen Funktionsbeziehung zwischen dem gesetzlichen Mindestaufenthalt vor der Wahl und dem Verantwortungszusammenhang nach der Wahl ändert dies nichts.

1015 So etwa Gesetzesbegründung zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts v. 16.3.1999, BT-Drs. 14/533, S. 11; Referat Walter, in: VVDStRL 72 (2013), S. 7 (32). 1016 Vgl. BVerfGE 83, 37 (52); darauf Bezug nehmend Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (70 f. Rn. 70). 1017 BVerfGE 83, 37 (51); ebenso StGH Bremen, DVBl. 2014, S. 1248 (1250); kritisch zu beiden Entscheidungen H. Meyer, JZ 2016, S. 121 ff. 1018 BVerfGE 123, 267 (405 f. Rn. 350). 1019 Zitate bei BVerfGE 83, 37 (51); darauf Bezug nehmend BT-Drs. 14/533, S. 11; ebenso StGH Bremen, DVBl. 2014, S. 1248 (1252); vgl. zur Diskussion Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 171; Depenheuer, in: Gornig / Horn / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 39 ff. (45, 51). 1020 Vgl. etwa Dolde, Rechte, S. 77 f.; Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (79); Zuleeg, KritV 1987, S. 322 (323 f.).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

III. Zusammenfassung Der durch den Wahlakt herzustellende Verantwortungszusammenhang zwischen dem deutschen Staatsvolk und den Staatsorganen gehört zum normativen Programm des demokratischen Prinzips. Seine Verwirklichung kann daher die Grundlage legitimer Einschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze, insbesondere der Allgemeinheit der Wahl, sein. Jedoch bietet die konkrete gesetzgeberische Ausgestaltung, namentlich die wahlrechtliche Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht die Gewähr, diesen Zweck im Wahlrecht zu erfüllen. Der nach der Sesshaftigkeitsklausel zwingend vorgeschriebene dreimonatige Mindestaufenthalt vor der Wahl steht in keiner sachlichen Beziehung zum wahlrechtlichen Zurechnungszusammenhang von Stimmabgabe und Verantwortung. Soweit der Verantwortungszusammenhang von Lübbe-Wolff hingegen in den Zusammenhang mit der Betroffenheit des Einzelnen von staatlichem Handeln gestellt wird, wandelt sich die Sesshaftigkeit von einer Einschränkung zum Grund des Wahlrechts, der neben oder anstelle der Staatsbürgerschaft tritt. Doch selbst dann ist die wahlrechtliche Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht geeignet, den legitimen Zweck zu erfüllen. Es fehlt nach wie vor an einer relevanten Funktionsbeziehung zwischen zwingendem Wohnsitzaufenthalt vor der Wahl und dem demokratischen Verantwortungszusammenhang nach der Wahl.

E. Vertrautheit mit den Verhältnissen I. Vertrautheit als tragende Zweckbestimmung Als Rechtfertigungsgrund für die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG enthaltene Wohnsitzklausel kommt ferner die Sicherung der für die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung erforderlichen politischen Vertrautheit der Wähler in Betracht. Es ist unverkennbar, dass sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht für die Verwirklichung der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl von der Notwendigkeit ausgehen, dass vom Einzelnen ein „Mindestmaß an persönlicher und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland“ zu fordern sei.1021 Die Integration des Staatsvolkes durch Wahlen1022 setze den Bestand einer informierten Öffentlichkeit voraus, die in der Lage ist, eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen (Kommunika-

1021 Vgl. für die Kommunikationsfunktion der Wahl schon BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690) mit Verweis auf BR-Drs, 198/82, S. 19; BVerfG (Kammer), NVwZ 1993, S. 55 (zum bay. Kommunalwahlrecht); BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 41) mit Verweis auf BT-Drs. 9/1913, S. 10 f; dazu Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (450). Dem auch für den Verantwortungszusammenhang zustimmend, Sondervotum LübbeWolff, BVerfGE 132, 39 (64 Rn. 63). 1022 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. a).

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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tionsfunktion der Wahl)1023. Die dazu erforderliche Möglichkeit der Teilhabe am politischen Kommunikationsprozess bedingt nach Auffassung des Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts wiederum ein Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern wird die Vertrautheit – trotz teilweise unterschiedlicher Terminologie – zum maßgeblichen Sicherungszweck der Beschränkung des Wahlrechts durch Sesshaftigkeitsklauseln.1024 So wird auch in § 12 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BWahlG deutlich, dass Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der „eigentliche“ Grundtatbestand der Wahlberechtigung ist. Hiernach ist – abweichend vom Grundsatz der Sesshaftigkeit gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG – zur Wahl berechtigt, wer „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben“ hat „und von ihnen betroffen“ ist. Dieser als Auffangregel1025 in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG eingeführte Tatbestand beschreibt letztlich nichts anderes, als die vom Bundesverfassungsgericht bereits formulierten Anforderungen an die reflektierte politische Teilhabe, die mittels der Sesshaftigkeit im Wahlgebiet zum Wahltag (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG) oder – in den Grenzen des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG – in einem früheren Zeitraum, im Hinblick auf die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl gesichert werden sollen.1026 Die Verknüpfung des Wahlrechts mit der Vertrautheit der politischen Verhältnisse war die Reaktion des Gesetzgebers darauf, dass sich die über das Abstammungsprinzip vermittelte Staatsangehörigkeit auf nachfolgende Generationen der Auslandsdeutschen forterbt, ohne dass jene im Ausland geborene Generation darüber hinaus einen irgendwie gearteten Bezug zur Bundesrepublik Deutschland hätte.1027 Deswegen bestünde bei den im Ausland sesshaften Staatsangehörigen die Gefahr, dass deren Ausübung des Wahlrechts für das im Inland lebende deutsche Volk kein Akt demokratischer Selbstbestimmung, sondern ein Akt demokratischer Fremdbestimmung über andere sei.1028 Um dies zu verhindern, müsse sichergestellt werden, dass jene auch langjährig im Ausland wohnhaften Staatsangehörigen noch Verbindungen an die Bundesrepublik Deutschland hätten, also „die deutsche res publica“ auch weiterhin „zu ihrer Sache“ machten.1029 Dies 1023

Vgl. BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 41); näher oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. b). Vgl. neben den eben genannten Nachweisen BT-Drs. 10/2834, S. 27: „Mindestmaß einer Bindung zum Heimatstaat“; BT-Drs. 13/9686, S. 5: „besonderer Bezug zur Bundesrepublik Deutschland“; BT-Drs. 17/11820, S. 5: „Vertrautheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen“. Dass diese Erwägung in der Geschichte des bundesrepublikanischen Wahlrechts tatsächlich schon sehr viel älter ist, zeigen auch die obigen Ausführungen Erster Teil 2. Kapitel A. I. 2, II. 1 und 2 c) zum ersten deutschen Wahlgesetze unter Geltung des Grundgesetzes; ebenso Blumenwitz, Wahlrecht, S. 88; Dolde, Rechte, S. 77. 1025 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 29. 1026 Vgl. zur Normstruktur oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1027 BT-Drs. 17/11820, S. 3 u. 5 f.; im Hinblick auf die reflektierte Stimmabgabe zum Ausdruck kommend bei BT-Drs. 9/1913, S. 10. 1028 In diese Richtung auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (8 f.). 1029 Vgl. dazu Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (64 Rn. 64) mit Zitat (Hervorhebung im Original). 1024

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

sei „typischerweise“ erst nach einem „längerfristigen ununterbrochenen Aufenthalt im Inland [anzunehmen]“.1030 In der Literatur traf diese vom Gesetzgeber formulierte Funktion von Sesshaftigkeitsklauseln überwiegend auf Zustimmung.1031 Doch soll die Vertrautheit nicht nur durch Sesshaftigkeit im Bundesgebiet typischerweise realisiert werden können. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG spricht das aktive Wahlrecht auch Deutschen im Ausland zu, die „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik erworben haben“. Unverkennbar steht die Formulierung „aus anderen Gründen“ in direktem Verhältnis zur Nr. 1 der Norm, die im Umkehrschluss die „politische Vertrautheit“ durch das Mindestalter und die Fortzugsfrist typischerweise sichert. So kehrt sich der gedankliche Sinn der Grundsatzregelung zum normativen Tatbestand der Ausnahmeregelung.1032 Ob nun die für das Wahlrecht explizit verlangte Vertrautheit durch Sesshaftigkeit als Regelfall oder aus anderen Gründen als Ausnahmefall hergestellt sein soll, bleibt für deren Charakter als tragender Gedanke der wahlrechtlichen Beschränkung durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG unerheblich. Jedenfalls rückt der Gesetzgeber die Forderung nach einem „Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland“ in unmittelbare Korrelation zur Verwirklichung der mit der Wahl verbundenen Integrationsund Kommunikationsfunktion bzw. dem mit der Wahl verknüpften Legitimations- und Verantwortungszusammenhang.1033 Spätestens die Neufassung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG durch das 21. BWahlGÄndG 2013 macht überdies deutlich, dass die „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ das gleiche meint, wie die „Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung“. Die in diesen Begriffen zum Ausdruck gebrachten Anforderungen sollen mit der Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG gesichert werden, um die vom Gesetzgeber in den Blick genommene Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl zu gewährleisten.

1030

Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 4. Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 13; Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246); Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 5; Spies, Schranken, S. 66; H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 92; anders Felten, DÖV 2013, S. 466 (474); kritisch auch H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 2 mit Fn. 7. 1032 Vgl. Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (86). 1033 BT-Drs. 9/1913, S. 10, 14; BT-Drs. 13/9686, S. 5; BT-Drs. 17/11820, S. 4 f. 1031

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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II. Vertrautheit und Demokratieprinzip Ungeachtet des ganz grundsätzlichen Befundes, dass die Funktionstüchtigkeit eines demokratisch repräsentativen Staates ein Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit der Deutschen mit den politischen Verhältnissen voraussetzt,1034 bleibt klärungsbedürftig, ob diese in § 12 Abs. 2 Satz  1 Nr. 2 BWahlG verlangte Vertrautheit als notwendige Bedingung, also als immanenter Faktor der Integrationsund Kommunikationsfunktion der Wahl angenommen werden kann und daher an der verfassungsrechtlichen Ableitung aus dem Demokratieprinzip teil hat, die der Allgemeinheit der Wahl als „zwingender Grund“ „die Waage hält“. Dass der Gesetzgeber genau das annimmt, konfrontiert mit der Frage, ob andere verfassungsrechtliche Ausprägungen des demokratischen Prinzips, die sich unmittelbar auf das aktive Wahlrecht beziehen, die nach § 12 BWahlG eigens geregelte und vorausgesetzte „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ bereits abschließend ausformen. Wäre dies der Fall, könnten auf der Ebene des Wahlrechts keine weitergehenden Vertrautheitsanforderungen gestellt werden. Die Sicherung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen könnte demnach bereits in der verfassungsrechtlichen Begrenzung zum Wahlalter wie auch in der vom Wahlrecht vorausgesetzten Staatsangehörigkeit vollständig aufgegangen sein. 1. Wahlalter, Art. 38 Abs. 2 GG Neben der verfassungsrechtlichen Zuerkennung des Wahlrechts (nur) für Staatsangehörige bestimmt auch die in Art. 38 Abs. 2 GG für das aktive Wahlrecht vorgenommene Festlegung des Wahlalters, wer sich auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl berufen kann.1035 In der altersmäßigen Begrenzung liegt kein Widerspruch zu der in Art. 20 Abs. 2 GG konstituierten Volkssouveränität. Denn das von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in die Trägerschaft aller Staatsgewalt gesetzte gesamte Staatsvolk (alle Staatsangehörigen) ist, wie dargelegt,1036 von dem insbe 1034

Zu den Strukturbedingungen repräsentativer Demokratie Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 10, 13, 33: „Allein der bei allen Beteiligten vorhandene Wille zur Einheit […] ist nicht ausreichend“, hinzutreten müsse „unter allen Umständen auch eine Entscheidungs- und Wirkungseinheit“. Daneben setzte Repräsentation „das Bestehen einer spezifisch außerjuristischen Beziehung“ zwischen Repräsentierten und Repräsentanten voraus, das sich „auf Zutrauen gründet und darin manifestiert“. 1035 Vgl. BVerfGE 122, 304 (309): „Altersgrenze ist an den Wahlrechtsgrundsätzen […] nicht zu messen, weil sie […] auf gleicher Rangebene wie diese geregelt sind“; ebenso Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 103; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 9. Hingegen begreifen BVerfGE 36, 139 (141); 42, 312 (341); 48, 64 (82) die Altersgrenze eher als Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze. Gänzlich anders Knödler, ZParl. 1996, S. 553 (563 f.), der das Wahlalter mit Blick auf die Zulassung eines Kinderwahlrechts in unzulässiger Weise als Wahlausübungsregelung versteht und die Wahlberechtigung hierdurch nicht berührt sieht, dagegen zu Recht Schroeder, JZ 2003, S. 917 (919). 1036 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. I.

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sondere mit dem Wahlrecht ausgestatteten Volk als Aktivbürgerschaft des Satz 2 (Staatsbürger) verschieden. Der Zweck der Wahlrechtsbegrenzung auf Staatsbürger steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Funktionsweise freiheitlicher Demokratien. Dies gilt gerade im Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen vielfältigen Wechselwirkungen zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Willensbildung.1037 Wenn Wahlen auf einen öffentlichen, nach Möglichkeit mit rationalen Argumenten geführten Diskurs zwischen Wählern und zu Wählenden zurückführbar sein sollen, dann setzt das subjektive Wahlrecht die Fähigkeit voraus, an einem solchen Kommunikationsprozess mit einigem Verständnis teilzunehmen.1038 Dieser Gedanke trat schon bei den ersten Beratungen im Wahlrechtsausschuss zur Vorbereitung des BWahlG 1949 als leitend hervor. Fraktionsübergreifend war man sich einig, dass vom Wähler ein gewisser Grad an eigener Auffassungsgabe, die Fähigkeit eigener Meinungsbildung sowie eine „gewisse politische Reife“ verlangt werden müsse.1039 Sohin beruht das Mindestwahlalter auf der Verfassungserwartung der Demokratie,1040 dass ab diesem Zeitpunkt typischerweise1041 jene politische Reife gegeben ist, die für eine verständige und reflektierte Teilhabe an der demokratischen Wahl der Volksvertretung bürgt.1042 Von diesen Erwägungen ließ sich auch der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der mit Art. 38 Abs. 2 GG korrespondierenden Altersbeschränkung in § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG leiten.1043 So steht zumindest für den Zweck der Altersgrenze fest, 1037

BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 33 f.); näher oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 1. Vgl. Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (45) m. w. N.; H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 142; Mußgnug, in: FS Roellecke, S. 165 (173). 1039 Vgl. dazu etwa die Redenbeiträge der Abg. Paul (KPD), Walter (CDU / CSU) und Dr. Becker (FDP) in der 5. Sitzung am 29.9.1948, abgedruckt in: Parl.Rat VI, S. 114 f. Umstritten war freilich das konkrete Alter, ab wann all dies vorausgesetzt werden konnte. Hier, wie auch im späteren Verfassungsentwurf hat sich der Vorschlag des Ausschussvorsitzenden Dr. Becker mit der Anknüpfung des Wahlalters an die Volljährigkeit durchgesetzt, die zum Zeitpunkt der Beratungen bei Vollendung des 21. Lebensjahres gelegen hatte. 1040 Vgl. dazu Böckenförde, HStR3 II, § 24 Rn. 58 ff. 1041 Auch hier gilt die gesetzgeberische Berechtigung, Regeln nach Maßgabe typisierender Annahmen zu treffen, vgl. BVerfGE 132, 39 (49 Rn. 29); Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (45); Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (85). 1042 Vgl. dazu Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zu BT-Drs. VI/304 v. 27.2.1970, S. 4, sowie Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses (5. Ausschuss) über den von der Fraktion der CDU / CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Herabsetzung des Wahlalters v. 3.6.1970, BT-Drs. VI/873, S. 2 f., die jeweils auf drei diesbezügliche und dort zitierte Studien des Psychologen Professor Dr. Jaide abheben; zustimmend H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 142; Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 9. Das verfassungsändernde Gesetz trat am 6.8.1970 in Kraft (BGBl. I S. 1161). 1043 Vgl. dazu Begründung des Gesetzentwurfs der CDU / CSU-Fraktion v. 14.9.1969, BTDrs. VI/70, S. 2. Der Gesetzentwurf wurde bereits im Zuge der Herabsetzung des Wahlalters in Art. 38 Abs. 2 GG (Art. 1 Nr. 1 des Entwurfs) durch das 27. Verfassungsänderungsgesetz (Fn. 1042) eingebracht, auf Vorschlag des Rechtsausschusses aber im Hinblick auf die im Gesetzentwurf gleichzeitig zum Gegenstand gemachte Änderung des Bundeswahlgesetzes (Art. 1 Nr. 2 des Entwurfs) separat behandelt. Die Herabsetzung des Wahlalters auf achtzehn Jahre erfolgte schließlich mit Gesetz v. 3.7.1972 (BGBl. I S. 1061, 1534), die Regierungsbegründung 1038

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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dass diese die typischerweise zu erwartende intellektuelle Reife und den für jede Wahlentscheidung notwendigen gesellschaftlichen Erfahrungshorizont und Wirklichkeitsbezug der Aktivbürgerschaft sichern soll.1044 2. Staatsangehörigkeit, Art. 16 und 116 Abs. 1 GG Neben das Wahlalter tritt zudem die Deutscheneigenschaft als verfassungsrechtliche Voraussetzung der Aktivbürgerschaft. Deren essenzielle Bedeutung für das Wahlrecht wurde bereits mehrfach herausgestellt. Doch gilt es, den konkreten Inhalt der die Deutscheneigenschaft begründenden Staatsangehörigkeit näher zu betrachten. Die Staatsangehörigkeit drückt ganz grundsätzlich die rechtliche Zugehörigkeit eines Menschen zu einem bestimmten Staat aus.1045 Die Regelungen und Entscheidungen darüber, wer Staatsangehöriger ist, sind für den Staat von substanzieller, nicht nur technischer Bedeutung.1046 Ihre Funktion wird dementsprechend zuvörderst darin gesehen, die „verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit“ herzustellen.1047 Das Wahlrecht wiederum ist staatsbürgerliches Recht. Wenn jedoch das Wahlrecht des Einzelnen direkte Folge der personalen Staatsangehörigkeit ist, liegt die grundsätzliche Übertragung ihrer zugrundeliegenden Prinzipien auch für das Wahlrecht nahe, jedenfalls insoweit die Staatsangehörigkeit von Voraussetzungen abhängt, die auch im Wahlrecht eine erhebliche Rolle spielen.1048 Anknüpfungspunkt für die Staatsangehörigkeit sind Art. 116 Abs. 1 GG und Art. 16 GG. Die Verfassungsnorm des Art. 116 Abs. 1 GG definiert den Begriff des Deutschen einheitlich für alle Normen des Grundgesetzes, die auf die Deutscheneigenschaft Bezug nehmen.1049 Artikel 16 Abs. 1 GG hingegen regelt den verfassungsrechtlichen Rahmen zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Auf einfachgesetzlicher Ebene werden Erwerb und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Staatsangehörigkeitsgesetz normiert, das auf das Reichs- und (BT-Drs. VI/3395) äußerte sich zwar nicht explizit zur Herabsetzung des Wahlalters, doch nimmt zumindest der Ausschussbericht (BT-Drs. VI/3482) in seine allgemeinen Erwägungen auf die Verfassungsänderung Bezug, vgl. ebd., S. 1. So ist hier von denselben Erwägungen auszugehen, vgl. auch Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 9 m. w. N. (dort Fn. 95). 1044 Vgl. Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (45). Im Hinblick auf die medizinischen Erkenntnisse zur Adoleszenz dürfte die Vollendung des 18. Lebensjahres die absolute Untergrenze darstellen, vgl. dazu m. w. N. Mußgnug, in: FS Roellecke, S. 165 (171); ausführlich Hoffmann-Lange / de Rijke, ZParl. 1996, S. 572 ff. (577). 1045 Vgl. BVerfGE 37. 217 (241); Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1. 1046 Vgl. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 50. 1047 BVerfGE 116, 24 (44); 135, 48 (61 Rn. 28; 78 Rn. 78); auch BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, S. 441 (442). 1048 Auch der Gesetzgeber geht von der engen Verknüpfung von Integration und Teilhabe an der demokratisch politischen Willensbildung aus, vgl. BT-Drs. 14/533, S. 12. 1049 Vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 116 Rn. 1.

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Staatsangehörigkeitsgesetz [RuStAG] vom 22. Juli 1913 (StAG)1050 zurückgeht. Für die vorliegende Problematik sind die Erwerbstatbestände von Belang. Zu untersuchen ist, inwieweit hier bereits Erwägungen der „Vertrautheit“ des Einzelnen mit den politischen Verhältnissen eine Rolle spielen. a) Vertrautheitsbedingungen beim klassischen Erwerb der Staatsangehörigkeit Neben den sog. „Status-Deutschen“ zählen die deutschen Staatsangehörigen zu den Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG. Insoweit hängt die Bestimmung der Staatsangehörigkeit vom Staatsangehörigkeitsrecht ab, das im jeweiligen Anwendungszeitpunkt gilt.1051 Bei der Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts bestehen allerdings einige grundlegende äußere Schranken, die zu achten sind. Eine davon statuiert das Völkerrecht. Hiernach müssen die Erwerbstatbestände die Eigenarten der Staatsangehörigkeit berücksichtigen. Zu diesen Eigenarten zählt das Bundesverfassungsgericht eine „nähere tatsächliche Beziehung“ zwischen dem betreffenden Bürger und dem betreffenden Staat.1052 Auch im Schrifttum herrscht die Auffassung vor, dass die völkerrechtliche Wirksamkeit einer innerstaatlich verliehenen Staatsangehörigkeit eine „nähere“ oder „engere persönliche Beziehung“ voraussetzt.1053 Somit bedingt das Staatsangehörigkeitsrecht schon in Abgrenzung der Zugehörigkeiten zueinander1054 eine gewisse innere Verbindung des Einzelnen zu seinem Staat.1055 Dementsprechend erwartet die Bundesrepublik Deutschland eine gewisse kulturelle Homogenität1056 und die soziale Integration ihrer Bürger, was bereits bei den Erwerbs- und Verlusttatbeständen zum Ausdruck gelangt.1057 Die vom Bundesverfassungsgericht judizierte Maßgabe einer bestimmten tatsächlichen Beziehung zwischen Staatsangehörigen und Staat beeinflusst auch die gesetzgeberische Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit. Das gilt sowohl hinsichtlich des Inhalts der mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Rechte des deutschen Staatsangehörigen gegenüber dem Staat als auch mit Blick 1050

RGBl. S. 583. BVerfGE 37, 217 (218); auch BVerfGE 1, 322 (328 f.); „Gesetzesvorbehalt ist insoweit ein Vorbehalt sui generis“, vgl. ferner Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 116 Rn. 1. 1052 Vgl. BVerfGE 1, 322 (329). 1053 Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 16 Rn. 1; Hailbronner, in: ders. u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, Grundlagen Rn. 21 (S. 43); H. v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 33; Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 51. 1054 Vgl. näher H. v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 33. 1055 Vgl. IGH, Report 1955, 4 (23): „echte Verbindung“ (genuine connection). 1056 Eine solche Erwartung ist durchaus zulässig. Das Grundgesetz ist diesbezüglich keineswegs indifferent ausgestaltet, sondern signalisiert bestimmte Grundvorstellungen, vgl. Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 16 Rn. 10 a. E.; dezidiert eher ablehnend Lübbe-Wolff, ZAR 2007, S. 121 (124 ff.). 1057 Vgl. m. w. N. Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (2). 1051

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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auf die objektiv-rechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit als konstituierendes Element der demographischen (und demokratischen) Ordnung.1058 Davon bleibt auch das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nicht unberührt, ist dieses doch verfassungsrechtlich von vornherein auf den Kreis der deutschen Staatsangehörigen beschränkt.1059 Ob und inwieweit der Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit beim Wähler die für die reflektierte Wahlbeteiligung geforderte Vertrautheit mit den Verhältnissen typischerweise bereits gewährleistet, wird nachstehend anhand der beiden grundlegenden Erwerbsarten der deutschen Staatsangehörigkeit, nämlich der Geburt (ausgeformt durch § 3 Nr. 1 i. V. m. § 4 StAG) und der behördlichen Zuerkennung durch Einbürgerung (ausgeformt durch § 3 Nr. 5 i. V. m. §§ 8–16, 40b und 40c StAG),1060 ermittelt. aa) Erwerb durch Einbürgerung (Naturalisation) Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen für die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit durch Behördenakt (insbesondere § 10 StAG) knüpfen neben einer zwingenden Voraufenthaltsdauer von grundsätzlich acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts (Abs. 1 Satz 1) an Voraussetzungen an, die einen gewissen, schon erreichten Integrationsgrad umschreiben. So muss der Betroffene insbesondere über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache (Abs. 1 Satz 1 Nr. 6) und über Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland (Abs. 1 Satz 1 Nr. 7) verfügen.1061 Letztere werden seit dem Jahr 2007 „in der Regel“ (Abs. 5)1062 durch einen amtlichen Einbürgerungstest in Form eines staatsbürgerlichen Wissensquiz mit Multiple-Choice-Antworten nachgewiesen, der u. a. Fragen zur deutschen Geschichte sowie zum Regierungssystem, zum Teil auch bundeslandspezifisch, zu seinem Gegenstand hat.1063 Dem Test geht ein Curriculum von 60 Unterrichtseinheiten á 45 Minuten voraus, das mit seinen Lerneinheiten „Leben in der Demokratie“ (im Orientierungskurs: „Politik in der Demokratie“), „Geschichte und Verantwortung“ und „Mensch und Gesellschaft“1064 nahezu den 1058

Vgl. Hailbronner, in: ders. u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, Grundlagen Rn. 4 (S. 29 f.). 1059 Näher oben Erster Teil 4. Kapitel A. I. 1060 Das schließt die rechtliche Erheblichkeit anderer Erwerbstatbestände (§ 3 Nr. 2–4 StAG) freilich nicht aus; für die hier zu diskutierende Problematik sind sie jedoch von nachrangiger Bedeutung. 1061 Näher Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (2). 1062 Im Umkehrschluss ist der Test zwar nicht verpflichtend, vgl. insoweit BT-Drs. 16/5107, S. 13, hat sich jedoch als Wissensnachweis nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 StAG etabliert. 1063 Die aus dem europäischen Recht rührenden Vorgaben wurden mit Art. 5 Nr. 7 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union v. 19.8.2007 (BGBl. I S. 1970), in das StAG eingearbeitet. Am 5.8.2008 erließ der Bundesminister des Inneren auf Grundlage des neu eingefügten § 10 Abs. 7 StAG die Einbürgerungstestverordnung (EinbTestV – BGBl. I S. 1649). 1064 Vgl. Ziff. II. 2) der Anl. 2 zur EinbTestV.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

gesamten Bereich der allgemeinen Gesellschaftskunde abdeckt. Ziel dieses Unterrichts ist die „Vermittlung staatsbürgerlichen Grundwissens sowie der Grundsätze und Werte der deutschen Verfassung“.1065 Wer mit Bestehen des Tests und Erfüllung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen als integriert gilt1066 und wenn kein Ausschlussgrund nach § 11 StAG vorliegt,1067 hat der Formulierung des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG zufolge einen Anspruch auf Einbürgerung. Daneben kann die Einbürgerung bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 10 Abs. 3 StAG bereits nach sieben bzw. – „bei besonderen Integrationsleistungen“ – nach sechs Jahren erfolgen, so dass in diesen Fällen nur ein Anspruch auf Ausübung fehlerfreien Ermessens durch die zuständige Behörde besteht.1068 Die Einbürgerung ist bedingungsfeindlich.1069 Sie gewährleistet damit die Inhaberschaft aller staatsbürgerlichen Rechte ohne Unterschied auf die Erwerbsart des so erlangten Status.1070 Der Test wie auch die Ausgestaltung der übrigen Einbürgerungsvoraussetzungen sind also kein Selbstzweck. Sie sollen die Integrationsfähigkeit des designierten Staatsbürgers begründen und belegen, um so die von der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor geforderte relative Homogenität des deutschen Staatsvolkes zu gewährleisten. Bestätigt wird dies durch die Möglichkeit der vorzeitigen Einbürgerung, die einen „statusrechtlichen Anreiz für entsprechende Integrationsbemühungen“ darstellt.1071

1065

Vgl. „übergreifende Zielvorstellungen“ unter Ziff. I. der Anl. 2 zur EinbTestV. Diese würden sich in den zum Teil sehr spezifischen Fragen des Einbürgerungstests zum deutschen Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses niederschlagen (abgedruckt in Anl. 1 zur ­EinbTestV). Die Fragebögen für die Einbürgerungstests werden aus den in der Anl. 1 der EinbTestV zur Auswahl gestellten insgesamt 310 Fragen (300 allgemeine Fragen und für jedes Bundesland nochmal je zehn spezifische Fragen) entwickelt. Der sechzigminütige Test gilt als bestanden, wenn 17 der 33 Fragen richtig beantwortet wurden, vgl. § 1 Abs. 2 und Abs. 3 EinbTestV; grundlegend kritisch zum Einbürgerungstest, Hanschmann, ZAR 2008, S. 388. 1066 Zu nennen ist hierbei etwa das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG); die wirtschaftliche Integration, das heißt kein Empfang von Sozialleistungen (Nr. 3); Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit (Nr. 4); strafrechtliche Unbescholtenheit (Nr. 5). 1067 Die Vorschrift dient der Sicherung der für die Einbürgerung erforderlichen Verfassungstreue nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG und soll bei tatsächlichen Anhaltspunkten des Gegenteils die Einbürgerung etwa von PKK-Aktivisten oder radikalen Islamisten auch dann verhindern, wenn solche Bestrebungen nicht sicher nachgewiesen werden können, vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/533, S. 18 f.; speziell zur Versagung der Einbürgerung eines PKK-Anhängers VGH BW, DVBl. 2003, S. 84. 1068 Vgl. näher Hailbronner / Hecker, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 10 StAG Rn. 78. 1069 Hailbronner / Hecker, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 10 StAG Rn. 8. 1070 Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (18 ff.): „gleichberechtigte Zugehörigkeit aller Staatsangehöriger“. 1071 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/7387, S. 108; dazu auch Hailbronner / Hecker, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 10 StAG Rn. 78.

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Das Einbürgerungsverfahren nach deutschem Staatsangehörigkeitsrecht folgt demnach dem Modell, dass die Einbürgerung am Ende eines erfolgreichen Integrationsverlaufs steht.1072 Angesichts der Einbürgerungsvoraussetzungen, insbesondere des mehrjährigen Mindestaufenthalts und des nach der Einbürgerungstestverordnung1073 vorgesehenen Einbürgerungstests, ist offensichtlich, dass der auch für die Ausübung des Wahlrechts als staatsbürgerliches Recht erforderliche Integrationszusammenhang, ausgedrückt durch die „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“, bei eingebürgerten Staatsangehörigen aus normativer Sicht bereits gegeben ist. Sohin steht de lege lata fest, dass die durch Naturalisation eingebürgerten Staatsangehörigen das auch für das Wahlrecht geforderte typisierte „Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ bereits besitzen. Dieses Ergebnis wird auch durch § 14 StAG gestützt, der die Einbürgerung von Ausländern ohne gewöhnlichen Aufenthalt im Inland erlaubt, wenn Bindungen an Deutschland bestehen, die eine Einbürgerung rechtfertigen und die sonstigen Voraussetzungen der §§ 8 und 9 des StAG erfüllt sind.1074 bb) Erwerb durch Abstammung (ius sanguinis) Selbstredend gehören dem weit größeren Teil der Staatsangehörigen im In- und Ausland jene Deutschen an, die ihren Staatsangehörigkeitsstatus keiner behördlichen Entscheidung aufgrund eines vorausgegangenen Integrations- und Einbürgerungsverfahrens verdanken, sondern diesen nach dem Prinzip der Abstammung (Ius-sanguinis-Prinzip) von Geburt an erworben haben. Denn mit der Geburt erwirbt ein Kind eines deutschen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 1 StAG dessen deutsche Staatsangehörigkeit; dies zunächst auch unabhängig vom Geburtsort und vom dauernden Aufenthalt der Eltern (dazu aber sogleich). Beim Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt kann es freilich der Natur der Sache nach nicht um die Manifestierung einer abgeschlossenen Integrationsleistung gehen. In Rede steht vielmehr eine für die Zukunft positive Integrationsprognose. Der Gesetzgeber geht hier von der Vermutung für die Integration aufgrund des Aufwachsens in einer deutschen Familie in Deutschland aus.1075 Dies zeigt sich auch an der neueren Einschränkung des Ius-sanguinis-Erwerbs bei Geburt im Ausland. So wird gemäß § 4 Abs. 4 StAG die Staatsangehörigkeit nicht mehr automatisch durch Geburt im Ausland erworben, wenn schon die deutschen Eltern nach dem 31. Dezember 1999 im Ausland geboren wurden. Hier sieht der Gesetzgeber den sonst konstatierten Integrationszusammenhang erschüttert.1076 1072

Vgl. Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (3). Vgl. Fn. 1063. 1074 Vgl. näher Hailbronner / Hecker, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 14 StAG Rn. 4. 1075 Vgl. BT-Drs. 14/533, S. 14; jüngst auch deutlich bei BT-Drs. 18/1312, S. 8. 1076 Vgl. Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (4). 1073

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Für alle anderen Fälle vermutet der Gesetzgeber die durch die Staatsangehörigkeit vermittelte1077 innere Verbindung des Einzelnen zum deutschen Staat, und zwar unabhängig davon, ob jener seinen Wohnsitz dauerhaft im In- oder Ausland genommen hat oder nicht. Dies gilt konsequenterweise auch und gerade für jene deutschen Staatsangehörigen, die als Abkömmlinge deutscher Eltern in erster Generation im Ausland geboren wurden. Das Aufwachsen in einer deutschen Familie, deren Elternteile einst in der Bundesrepublik Deutschland aufwuchsen, lässt eine unproblematische Eingewöhnung der Abkömmlinge in deutsche Lebensverhältnisse typischerweise immerhin noch erwarten. Erst für die darauffolgende wiederum im Ausland geborene Kindergeneration hält der Gesetzgeber diese Regelvermutung nicht mehr aufrecht. Er kehrt sie insoweit um, als er davon ausgeht, dass Auslandsdeutsche, die nach dem Stichtag im Ausland geboren sind, eine derartige Verbindung, die sie an ihr Kind weitergeben könnten, typischerweise nicht mehr aufweisen (sog. Generationenschnitt).1078 Diese Umkehrung ist mit Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (StARG)1079 in das Staatsangehörigkeitsrecht eingebracht worden. Sie stellt eine Abkehr des bis dahin in Deutschland seit Einführung des RuStAG im Jahr 1913 uneingeschränkt geltenden Abstammungsprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht dar und hebt als Korrektiv deutlicher als zuvor auf das Ziel der Integration durch das Bestehen einer inneren Verbindung des (auswärts lebenden) deutschen Staatsangehörigen mit seinem Heimatstaat ab.1080 Um den durch § 4 Abs. 4 Satz 1 StAG bewirkten Generationenschnitt zu verhindern, muss der – nach 1999 im Ausland geborene – deutsche Elternteil innerhalb eines Jahres nach der Niederkunft gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 StAG bei der Deutschen Auslandsvertretung einen Antrag gemäß § 36 PStG auf Beurkundung der Geburt1081 stellen. Mit diesem Antrag gibt der antragstellende Elternteil das Fortbestehen von Bindungen an Deutschland kund, was die vom StAG geforderte künftige Integration des im Ausland geborenen Kindes in die deutschen Lebensverhältnisse typischerweise erwarten lässt. Nach Beurkundung der Geburt durch die zuständige Auslandsvertretung steht der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit von Geburt an fest.1082 Damit wird auch in diesen Fällen des Staatsangehörigkeits-

1077

BT-Drs. 14/533, S. 14. Vgl. BT-Drs. 14/533, S. 12 und 14: „fehlender Bezug zum Staatsgebiet“. 1079 BGBl. I S. 1618. 1080 Vgl. Kau, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 4 StAG Rn. 6 und 48; in diese Richtung auch Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 53. 1081 Der Antrag auf Beurkundung der Geburt löst die bis zum Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht vom 8.12.2010 (BGBl. I. S. 1864) bestehende Möglichkeit der Geburtsanzeige bei der zuständigen Auslandsvertretung ab. Die Gesetzesänderung erfolgte vor dem Hintergrund einer umfassenden Novellierung und dem danach einheitlich vorgesehenen Antrag nach § 36 PStG (BT-Drs. 17/2279) als Folgeänderung. 1082 Zum Verfahren im Einzelnen vgl. Kau, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 4 StAG Rn. 61, 69. 1078

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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erwerbs1083 das für die spätere Aktivbürgerschaft erforderliche „Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ für die in zweiter Generation im Ausland geborenen Auslandsdeutschen ebenfalls gesetzlich vermutet. b) Berücksichtigung neuerer Entwicklung bei Erwerb durch Geburt im Inland (ius soli) Die aktuelle Entwicklung im Staatsangehörigkeitsrecht bestätigt den vorwiegend an Integrationsmerkmale anknüpfenden Erwerb der Staatsangehörigkeit. Denn mit § 4 Abs. 3 StAG wird in Deutschland erstmals seit Bestehen eines einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ergänzend das Ius-soli-Prinzip, also das Geburtsortprinzip eingeführt. Hiernach erwirbt ein im Inland geborenes und aufgewachsenes Kind ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. Damit soll die Integration der hier aufwachsenden Kinder ausländischer Eltern in die deutschen Lebensverhältnisse verbessert werden; zugleich wird langfristig die Kongruenz zwischen dauernder inländischer Wohnbevölkerung und Staatsvolk angestrebt.1084 Dies nimmt auch ausdrücklich die Mehrstaatigkeit beim Ius-soli-Erwerb in Kauf. Denn für die Ius-soli-Deutschen entfällt nach der jüngsten Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts die gemäß § 29 StAG a. F. bei Mehrfachstaatsangehörigkeiten grundsätzlich gegebene Optionspflicht, wenn sie im Inland aufgewachsen sind.1085 Doch schon zuvor war die Optionspflicht nur eine bloße Formalie, da die Betroffenen nach § 29 Abs. 4 a. F. i. V. m. § 12 Abs. 2, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung geltend machen konnten. Der aktuelle § 29 Abs. 5 StAG räumt den Ius-soli-Deutschen jetzt das Recht ein, schon bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auf Antrag durch die zuständige Behörde verbindlich feststellen zu lassen, dass sie nicht der Optionspflicht unterliegen. Für die gemäß § 29 Abs. 1a StAG nicht im Inland aufgewachsenen Ius-soli-Kinder (§§ 4 Abs. 3 StAG) bleibt es hingegen bei der

1083 Als Erwerbstatbestand qualifiziert bei Kau, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 4 StAG Rn. 69. 1084 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/533, S. 18; bestätigt durch BT-Drs. 18/1312, S. 8: „enge Bindung an Deutschland entwickelt“. 1085 Vgl. Art. 1 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes v. 13.11.2014 (BGBl. I S. 1714 ff.). Nach der derzeit geltenden Fassung (§ 29 Abs. 1a S. 1 Nr. 1–3 StAG) ist im Inland aufgewachsen, wer sich bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres acht Jahre in Deutschland gewöhnlich aufgehalten hat (Nr. 1), davon sechs Jahre eine inländische Schule besuchte (Nr. 2) oder alternativ über einen inländischen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Gemäß § 29 Abs. 1a S. 2 StAG gilt als im Inland aufgewachsen auch, wer im Einzelfall einen vergleichbar engen Bezug zu Deutschland hat und für den die Optionspflicht nach den Umständen des Falles eine besondere Härte bedeuten würde.

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Optionspflicht nach § 29 Abs. 1 StAG.1086 Die Vereinbarkeit dieser innerhalb der Gruppe der Einbürgerungswilligen ungleichen Behandlung mit dem Verfassungsrecht, insbesondere vor dem Hintergrund der Verlässlichkeit und Gleichheit der Staatsangehörigkeit, ist umstritten, wird aber überwiegend bejaht.1087 c) Schlussfolgerung für das Wahlrecht Unbeschadet der verwaltungsrechtlichen und technischen Einzelheiten bleibt der Grundgedanke des geltenden Staatsangehörigkeitsrechts mit Blick auf die vorliegende Untersuchung wie folgt festzuhalten: Es geht um die Bekräftigung der Integration der Betroffenen in das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland.1088 Freilich, der Begriff der Integration ist vielschichtig und wird nur allzu leicht als politisches Kampfwerkzeug ge- bzw. missbraucht.1089 Hier geht es aber unabhängig von konkreten Integrationszielen zunächst um die Feststellung einer inneren Verbundenheit des Einzelnen mit dem Staat, die stets durch eine gewisse Vertrautheit vermittelt wird. Dies wird nicht nur an den hohen Hürden der Erwerbsvoraussetzungen nach § 10 StAG für Ausländer deutlich.1090 Auch das Ius-sanguinis-Prinzip geht letztlich von dieser Prämisse aus. Dieses gilt gerade deshalb nicht mehr wie ehedem unbeschränkt. Es lässt Modifizierungen zu, zum einen durch die teilweise Ergänzung durch das Ius-soli-Prinzip bei in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kindern ausländischer Eltern, zum anderen durch den Generationenschnitt bei den in zweiter Generation im Ausland geborenen Kindern deutscher Eltern. Beide Veränderungen müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Sie stellen nicht nur die Inlandsgeburt des Kindes nichtdeutscher Eltern der Abstammung von Deutschen anhand einer Integrationsvermutung gleich, sondern begrenzen, genauer: erschweren den Abstammungserwerb konsequenterweise auch beim Fortfall einer derartigen Vermutung.1091 Doch greift der dem Staatsangehörigkeitsrecht innewohnende Integrationsgedanke nach wie vor für die im Ausland geborenen Deutschen der ersten Generation; ihnen wird gesetzlich immerhin von vornherein die Möglichkeit zur erfolgreichen Integration noch zugebilligt. 1086

Vgl. Wortlaut Abs. 1 S. 1: „Optionspflichtig ist, wer 1. die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 3 […] erworben hat [und] 2. nicht nach Absatz 1a im Inland aufgewachsen ist […]“. 1087 Vgl. bei Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (25 mit Fn. 117) mit kritischer Analyse; kritisch zur Plausibilität des Optionsmodells auch Niesten-Dietrich, ZAR 2012, S. 85 (88 f.). 1088 BT-Drs. 15/533, S. 14; differenzierend Niesten-Dietrich, ZAR 2012, S. 85 (88). 1089 Zur Kritik vgl. jeweils mit Beispielen Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (10 f.); Niesten-Dietrich, ZAR 2012, S. 85 ff. 1090 So auch Niesten-Dietrich, ZAR 2012, S. 85 (89, 90). 1091 Vgl. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 53; Kau, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 4 StAG Rn. 6. Damit ist auch die in Ziff. 2.3 der Einbürgerungsrichtlinie v. 5.12.1977 (GVBl. 1978, S. 16) enthaltene Feststellung, der zufolge die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei (bestätigt durch BVerfGE 49, 168 [186]), wohl überholt, vgl. Grawert, ebd.

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Auf die Zuerkennung der Wahlberechtigung gespiegelt stellt der Gesetzgeber auf dieselben Erwägungen ab. Er fordert vom Wähler ein „Mindestmaß an Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland“, damit dieser in der Lage ist, informiert an der politischen Willensbildung mitzuwirken, um schließlich eine reflektierte Wahlentscheidung treffen zu können.1092 So wie jene „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ bei eingebürgerten Staatsangehörigen aus normativer Sicht bereits gegeben ist,1093 gilt dies nach dem Vorstehenden in typisierter Form auch für die im Ausland geborenen Ius sanguinis-Deutschen. Andernfalls hätte der Gesetzgeber die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts missachtet, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit stets zumindest typischerweise eine „nähere tatsächliche Beziehung“ zwischen Bürger und Staat zum Ausdruck zu bringen habe.1094 Spätestens der mit der Neufassung des § 4 Abs. 4 StAG bewirkte Generationenschnitt nimmt diese verfassungsgerichtliche Vorgabe aktiv auf.1095 Diese Wertungen des Gesetzgebers – sowohl bei der bisherigen1096 als auch der aktuellen Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts – müssen im Hinblick auf die Ausübung verfassungsrechtlich garantierter staatsbürgerlicher Rechte in gleicher Weise zur Geltung kommen. Die Staatsangehörigkeit, wie auch immer erworben, kennzeichnet den Einzelnen als zur Bundesrepublik Deutschland zugehörig. Dafür kommt es aus der maßgeblichen Sicht des Verfassungsrechts nicht darauf an, ob eine Staatsangehörigkeit „effektiv“ oder „ineffektiv“ ausgeübt wird.1097 Hier gilt der Grundsatz, dass diejenigen Grundrechte, die nur Deutschen zustehen, für alle Deutschen gelten, auch unabhängig von einem möglichen Bestand einer weiteren Staatsangehörigkeit.1098 Wenn das Staatsangehörigkeitsrecht aber von der jeweils gleichberechtigten Zugehörigkeit aller Staatsangehörigen ausgeht,1099 ist diese typischerweise auch durch eine vergleichbare innere Verbindung des Einzelnen zum 1092

Vgl. mit Zitat BT-Drs. 17/11820, S. 5; BT-Drs. 9/1913, S. 10. Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel E. II. 2. a) aa). 1094 Vgl. BVerfGE 1, 322 (329). 1095 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/533, S. 11 ff., vgl. auch oben Erster Teil 5. Kapitel  E. II. 2. b). 1096 Auch hier stand der Nähecharakter des Einzelnen zum Staat im Vordergrund, vgl. etwa BVerfGE 37, 217 (243): „Staatsangehörigkeit dokumentiere eine dauernde persönliche Verbundenheit mit diesem Staat“; vgl. ferner zur Integrationsfunktion der Staatsangehörigkeit die Regierungsbegründungen zum Entwurf eines vierten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit, BT-Drs. 9/1574 S. 4; ebenso zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Staatsangehörigkeitsrechts, BT-Drs. 12/5684, S. 6, wenngleich einzuräumen ist, dass dieser durch die nahezu unbeschränkte Fortvererbung auch auf Auslandsdeutsche und anderer Regelungen mit erheblichen Plausibilitätsproblemen zu kämpfen hatte, vgl. dazu etwa H. v. Mangoldt, StAZ 1994, S. 33 (35). 1097 In diese Richtung aber Felten, DÖV 2013, S. 466 (473). 1098 Zurückgehend auf RGSt 49, S. 373 (374); BGHZ 75, S. 32 (42); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 257 f. m. w. N.; H. v. Mangoldt, JZ 1993, S. 965 (973); Stern, Staatsrecht I, § 8 I 3 a (S. 255). 1099 Vgl. auch Sturm, FamRZ 1974, S. 617 (622); Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (18 f.). 1093

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Heimatstaat gekennzeichnet.1100 Und solange die deutsche Staatsangehörigkeit den Bestand dieser „inneren Verbindung“ unabhängig vom dauernden Aufenthaltsort typischerweise indiziert, kann diese dem Einzelnen bei Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte nicht kurzerhand mit Hinweis just auf diesen Aufenthaltsort wieder abgesprochen werden. Genau das bewirkt aber die Sesshaftigkeitsklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ebenso wie das Erfordernis eines erneuten Nachweises der Vertrautheit für Auslandsdeutsche gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG. Eine hiervon abweichende Bewertung ist unweigerlich mit zwei Problemfeldern konfrontiert. Erstens wäre nicht erkennbar, inwieweit sich das normative Konzept der „wahlrechtlichen Vertrautheit“ in § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 BWahlG von der ebenfalls normativ ausgeformten Erwartungshaltung des Gesetzgebers zur inneren Verbundenheit des Einzelnen mit dem Staat unterscheidet, die bereits mit der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Angesichts der strengeren Sicherungsanforderungen (Sesshaftigkeit im Wahlgebiet) müsste es sich ja im Falle des Wahlrechts um ein „Mehr“ an Vertrautheit handeln; um eine „quali­ tativ höhere“ Beziehung des Bürgers zur Bundesrepublik Deutschland, als dies die Staatsangehörigkeit zum Inhalt hätte. Eine diesbezügliche Abgrenzung wird von den Befürwortern des wahlrechtlichen Wohnsitzerfordernisses soweit ersichtlich nirgends vorgenommen. Auch die Gesetzgebungsmaterialien geben darüber keine Auskunft.1101 Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht gebilligten kurzen Dauer von drei Monaten bleibt aber völlig konturenlos, was im Wahlrecht überhaupt mit politischer Vertrautheit gemeint sein soll,1102 geschweige denn, worin der Unterschied zu der mit der Staatsangehörigkeit typischerweise zum Ausdruck gebrachten „näheren tatsächlichen Beziehung“ des Bürgers zum Staat1103 bestehen soll. Zweitens bewirkt eine wahlrechtliche Differenzierung zwischen (vermeintlich) besonders mit der Bundesrepublik Deutschland vertrauten und nicht so vertrauten Staatsangehörigen eine Staatsangehörigkeit „unterschiedlicher Klasse und Güte“; eine solche mit und eine solche ohne anknüpfende Wahlberechtigung.1104 Abstufungen im staatsbürgerlichen Status (Rechtsverhältnis) liefen jedoch dem demokratischen Prinzip zuwider, das sich nach Art. 20 Abs. 2 GG auf das Staatsvolk als einheitliche Legitimationsquelle der deutschen Staatsgewalt stützt. Im Postulat der 1100 Vgl. IGH, Report 1955, 4 (23); BVerfGE 116, 24 (44); 135, 48 (61 Rn. 28; 78 Rn. 78); auch BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, S. 441 (442). 1101 In der Begründung zum BWahlGÄndG 2013 wird lediglich auf die Passage in BVerfGE 132, 39 (54 Rn. 42) rekurriert, wonach der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen dürfe, „dass das Staatsangehörigkeitsrecht im Wesentlichen auf dem ‚ius sanguinis‘ beruht“, vgl. BTDrs. 17/11820, S. 3. Diese Einschätzung ist nach der Einfügung des Generationenschnitts in § 4 Abs. 4 StAG zumindest anfechtbar. 1102 So auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (474); zur Bestimmtheit des § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG vgl. unten Erster Teil 6. Kapitel B. II. 1. 1103 Vgl. BVerfGE 1, 322 (329). 1104 Vgl. Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (80) mit Zitat.

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politischen Gleichheit aller Staatsbürger und der egalitären Mitentscheidungsbefugnis aller Bürger schlägt sich dieser Gedanke nieder,1105 der zusätzlich in Art. 16 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantiert ist.1106 Jedenfalls im Hinblick auf die Ausübung des aktivbürgerschaftlichen Status im Wahlrecht muss sich der Gesetzgeber an seine diesen Status begründenden Wertungen im Staatsangehörigkeitsgesetz binden lassen, wenn er die Staatsangehörigkeit an ihrer „innerstaatlich vornehmsten Stelle“ nicht entsubstantiieren will.1107 3. Weitere demokratiebedingte Vertrautheitsanforderungen? a) Wahlalter und Staatsangehörigkeit als hinreichend typisierte Bedingung Setzt man das Wahlalter und die Staatsangehörigkeit in nähere Beziehung zur kommunikativen und verantwortungsvollen Teilhabe des Aktivbürgers in einer lebendigen Demokratie, ergibt sich folgendes Bild: Die Festlegung des Wahlalters sichert zunächst die typischerweise mit Vollendung des 18. Lebensjahres zu erwartende Verstandesreife zur Möglichkeit der intellektuellen Teilnahme am demokratischen Kommunikations- und gesellschaftlichen Willensbildungsprozess.1108 Der Staatsangehörigkeit kommt darüber hinaus die grundlegende integrationsstiftende Bedeutung zu.1109 Sie begründet die hinreichende Vermutung für die qua Status typischerweise bestehende individuelle Verbundenheit des Einzelnen zu seinem Heimatstaat.1110 So ist die für das Wahlrecht geforderte Fähigkeit zur Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung typischerweise bereits in den Vorgaben des Wahlalters und der Staatsangehörigkeit enthalten. Dies gilt nach den dargelegten verfassungsmäßigen Wertungen des Staatsangehörigkeitsrechts zum Bestand der Deutscheneigenschaften unabhängig vom gewöhnlichen Aufenthaltsort im In- oder Ausland. Beide Erfordernisse stehen zur Verwirklichung der mit dem Demokratieprinzip einhergehenden Integrations-, Kommunikations- sowie Legitimations- und Verantwortungszusammenhänge in einer sich ergänzenden Beziehung. Unter Berücksichtigung eines streng egalitären Demokratiebegriffs liegt das für die Erfüllung der Wahlfunktionen notwendige „Mindestmaß an Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland“ deshalb bereits typischerweise mit den Voraussetzungen des Wahlalters und der Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsangehörige vor. Dies ist der realitätsgerechte „typische

1105 BVerfGE 34, 81 (98); Butzke, NJW 1999, S. 2769 (2771); in diese Richtung auch Wallrabenstein, JÖR 66 (2018), S. 431 (456). 1106 Vgl. näher Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (18 f.); Butzke, NJW 1999, S. 2769 (2771). 1107 Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (80) mit Zitat. 1108 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 142. 1109 Vgl. Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 12. 1110 Vgl. Kau, in: Hailbronner u. a. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht6, § 4 StAG Rn. 6 und 48.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Fall“.1111 Zusätzlichen Sicherungsmechanismen, wie etwa der Sicherung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland durch einen zwingenden Mindestaufenthalt vor der Wahl, ist damit grundsätzlich der Boden entzogen. Dem Befund steht allerdings die erklärte Ansicht des Bundesverfassungsgerichts entgegen, wonach sich aus den in Art. 38 Abs. 2 GG festgelegten Altersgrenzen nicht ergeben würde, „dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen dürfte“.1112 Dass es sich hierbei um ein neues Argument in der Wahlrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt, wurde im Zuge der Untersuchung schon an anderer Stelle vermerkt.1113 Dessen inhaltliche Tragfähigkeit erscheint indes äußerst zweifelhaft. Denn es ist gerade nicht ersichtlich, weshalb die von Art. 38 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 1 und 2 Satz 2 GG, Art. 116 Abs. 1 GG i. V. m. dem Staatsangehörigkeitsrecht getroffenen Wertungen durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG sowie – in seiner aktuellen Ausgestaltung – in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG im Hinblick auf die Wahlzulassung pauschaliert „verschärft“ werden dürften, um eine zusätzliche, wiederum typisierte „Vertrautheit“ des Einzelnen durch den Nachweis eines gewissen Mindestaufenthaltes zu sichern. Das Grundgesetz enthält, wie festgestellt, keine Bestimmung über die Wohnsitznahme im Bundesgebiet oder ähnliches zur Herstellung einer solchen „Vertrautheit“.1114 Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf den nicht abschließenden Charakter des Art. 38 Abs. 2 GG stiftet insoweit auch eher Verwirrung, weil er zur Reichweite der gesetzgeberischen Befugnis, den Wahlzugang im Interesse der einschlägigen Wahlziele zu beschränken, nichts beiträgt. Im Gegenteil läge nun die Annahme nicht fern, dass der Gesetzgeber – unbeschadet der zwingenden Altersfestlegung in Art. 38 Abs. 2 GG – jene Gruppen von Staatsbürgern vom Wahlrecht ausschließen dürfte, die nach seiner Meinung – also der Meinung der (Abstimmungs-)Mehrheit im Deutschen Bundestag – die für die Abgabe einer reflektierten Wahlteilhabe erforderliche Vertrautheit typischerweise nicht besäßen. Tatsächlich hindert Art. 38 Abs. 2 GG den Gesetzgeber zwar nicht prinzipiell, weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl zu treffen, wohl aber insoweit, wie diese Norm zum Mindestwahlalter weitere Bestimmungen ausschließt, die die Zulassung zur Wahl von noch darüber hinausgehenden Anforderungen an die persönliche Reife und politische Vertrautheit des Wählers abhängig machen. Art. 38 Abs. 2 GG enthält insoweit eine abschließende Anforderung und verwehrt es dem Gesetzgeber, in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis aus Art. 38 Abs. 3 GG die mit der Festlegung des Mindestwahlalters bezweckte Sicherung einer reflektierten Wahlentscheidung noch zu verschärfen. 1111

Vgl. BVerfGE 82, 159 (185 f.); 96, 1 (6); 132, 39 (49 Rn. 29). BVerfGE 132, 39 (47 f. Rn. 25); bestätigt in BVerfG, Beschl. v. 29.1.2019, -2 BvC 62/14 juris-Rn. 43. 1113 S. o. Erster Teil 4. Kapitel B. I. 1. 1114 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel A. I. 2. 1112

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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b) Typisierung als demokratische Maßgebung für Wahlrechtsbeschränkungen Eine weitere Überlegung tritt hinzu. Die Wahlberechtigung an die zusätzliche Voraussetzung einer gewährleisteten Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen zu binden, macht notwendig die Festlegung von Kriterien erforderlich, nach denen die Vertrautheit zu bestimmen ist. Eine Prüfung aber, die im Einzelfall danach fragt, ob jemand trotz Staatsangehörigkeit und Erfüllung des Mindestwahlalters tatsächlich in der Lage ist, eine reflektierte Wahlentscheidung abzugeben, ist offensichtlich ausgeschlossen. Das widerspricht nicht nur dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, sondern auch der verfassungsrechtlichen Maßgabe, die Vertrautheit eines jeden über achtzehnjährigen Staatsbürgers nach streng egalitär konzipierten Kriterien zu gewährleisten. Selbst wenn also die Ergebnisse individueller „Wahlbefähigungstests“ auch bei wahlberechtigten Inländern so manche Ernüchterung hervorrufen dürften, wären sie für die Begründung der individuellen Wahlzugangsberechtigung unstreitig unerheblich. Das Gebot der demokratischen Egalität schlägt sich vielmehr auch und gerade im Wahlzulassungsrecht nieder. Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts mit dem Ziel, reflektierte Wahlentscheidungen zu gewährleisten, können daher nur insoweit rechtfertigungsfähig sein, wie sie Bedingungen oder Anforderungen verlangen, die generell oder jedenfalls typischerweise zu diesem Ziel beitragen. Demnach wird man die Befugnis des Gesetzgebers zur Typisierung (im Massenverfahren)1115 gleichzeitig als eine Bedingung gesetzgeberischer Gestaltungsoptionen im Wahlrecht zu erkennen haben. Denn allein dies trägt den verfassungsrangigen Wertungen des Demokratieprinzips zur gleichheitlichen Teilhabe aller Berechtigten Rechnung. Auch bliebe mit dieser Ausgestaltungsbedingung der das Wahlrecht prägende formale Charakter1116 kein bloßes Lippenbekenntnis.1117 Die „Formalisierung des Wahlrechts“ erschöpft sich in diesem Zusammenhang nicht in einem bloß „formalen Zurechnungsprinzip“,1118 sondern erhält konkrete Konturen. Unter der aus dem Demokratieprinzip abgeleiteten Maßgabe zur egalitären Teilhabe aller Staatsbürger verdichtet sich die (bloße) Befugnis zur Typisierung im Wahlrecht1119 zur streng formalen Gleichbehandlung und verwehrt es dem Gesetzgeber, auf den Einzelfall abzustellen. Dem trägt das StAG und das BWahlG im Übrigen Rechnung. Denn letztlich beruht der zuvor beschriebene Integrations- und

1115

Vgl. BVerfGE 30, 227 (249); 124, 1 (23); 132, 39 (49 Rn. 29); Breuer, NVwZ 2002, S. 43

(45).

1116

Magiera, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81. So auch Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (66 Rn. 65). 1118 Anders BVerfGE 132, 39 (50 f. Rn. 33). 1119 BVerfGE 82, 159 (185 f.); 96, 1 (6); 132, 39 (49 Rn. 28). 1117

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Verantwortungszusammenhang sowohl im StAG als auch im BWahlG1120 ebenfalls auf typischen Betrachtungen und Wertungen. Daran gemessen überschreitet der Gesetzgeber mit den in § 12 BWahlG verankerten Vertrautheitstatbeständen seine gesetzgeberischen Gestaltungsoptionen. Denn die Regelungen verfehlen die eben beschriebenen Anforderungen zur streng formalen Gleichbehandlung aller Staatsbürger bei der Zuerkennung des Wahlrechts. Zwar wohnt den in § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG enthaltenen Sesshaftigkeitsklauseln eine gewisse Typisierung inne; dies jedoch gerade nicht – im Sinne der demokratischen Egalität – in Bezug auf alle Staatsbürger. Denn der dreimonatige Inlandswohnsitz, ob nun am Wahltag oder zu einem früheren Zeitpunkt, vermag auch nach Maßgabe einer typisierten Betrachtung keine taugliche Abgrenzung hinsichtlich des Bestands einer für die reflektierte Wahlteilhabe erforderlichen politischen Vertrautheit zu schaffen. In einer Zeit nahezu weltweit fortschreitender Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilität und Vernetzung wird die Fixierung auf den innerstaatlichen Wohnsitz als maßgebliches Integrations- und Kommunikationsmerkmal der „politischen Wirklichkeit“, die der Gesetzgeber bei typisierten Beurteilung der Wahlzugangsbedingungen zu Grunde zu legen hat,1121 wie dargelegt1122 nicht mehr gerecht und erscheint willkürlich, weil sich mithilfe der Wohnsitzbeschränkung gerade nicht mehr verlässlich jene Personen vom Wahlrecht ausschließen lassen, die generell oder typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verfügen. Auch die besondere durch das 21. BWahlGÄndG 2013 geschaffene Auffangbzw. Härteklausel in § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG, zu deren Erlass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 4. Juli 2012 angeraten hatte, lässt die egalitären Vorgaben im Wahlrecht von vornherein außer Acht. Dem Regelungszweck entsprechend seien auch die vormals vom Auslandsdeutschenwahlrecht ausgeschlossenen „Grenzgänger“1123 in den Ausnahmetatbestand einzubeziehen, weil diese wegen ihrer Berufstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland oder durch ihr Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen in erheb­ lichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilnähmen1124 und daher – gemäß dem Wortlaut der Norm – aus „anderen Gründen persönlich und unmittelbar“ mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland vertraut (und von diesen betroffen) wären. Begreift man die Befugnis zur Typisierung im Wahlrecht wie hier nicht (nur) als rechtliches Können, sondern gleichzeitig als Bedingung oder Maßgabe des gesetzgeberischen 1120

Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel E. II. 1 und 2. Vgl. oben, Nachweise bei Fn. 709. 1122 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. II. 2. 1123 Dazu BVerfGE 110, 412 (415). 1124 Vgl. BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 49); dazu auch unten Erster Teil 6. Kapitel B. I. 1121

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

201

Spielraums bei der Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze, so wird dem auch eine solche Regelung in keiner Weise mehr gerecht. Der Gesetzgeber ignoriert in dieser Bestimmung vielmehr die typisierten Annahmen bei der Zuerkennung der allgemeinen Wahlberechtigung und verlangt von den zuständigen Wahlbehörden eine konkrete Einzelfallprüfung, nämlich über den Grad der politischen Vertrautheit einer konkreten Person aufgrund ihrer tatsächlichen Verbindungen zur Bundesrepublik Deutschland.1125 Von einer typisierten Betrachtung kann hier keine Rede mehr sein.1126 Insgesamt widerspricht daher die vom Bundesverfassungsgericht gebilligte gesetzgeberische Forderung nach einer zusätzlichen Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen den demokratischen Anforderungen an die typisierte Ausgestaltung des allgemeinen Wahlrechts. c) Passives Wahlrecht und Wohnsitzbindung Angesichts der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1, Art. 38 Abs. 2 GG statuierten verfassungsrechtlichen Bedingungen des Wahlrechts und den typisierten Wertungen des Gesetzgebers bei der Zuerkennung der Staatsangehörigkeit verbleibt für eine zusätzliche Beschränkung der Wahlberechtigung durch eine Wohnsitzklausel zur Sicherung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen keine verfassungsrechtliche Grundlage. Dieser Befund wird durch die Regelungen zum passiven Wahlrecht bestärkt. Wie oben aufgezeigt,1127 formulieren die einfach gesetzlichen Regelungen zur Wählbarkeit in § 15 BWahlG im Unterschied zum aktiven Wahlrecht keinerlei eigene Anforderungen an einen dauernden Inlandswohnsitz. Die ursprüngliche Einschränkung des passiven Wahlrechts durch die mittelbare Anknüpfung an die Inlandsklausel der aktiven Wahlberechtigung unter Geltung des BWahlG 1949 und BWahlG 19531128 wurde durch das insoweit heute noch gültige Bundeswahlgesetz von 1956 beseitigt. Die Wählbarkeit ist seither nicht mehr an die Wahlberechtigung und damit an die Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG gebunden, sondern folgt in § 16 BWahlG gegenüber der Wahlberechtigung eigenen Voraussetzungen. Ausdrücklicher Zweck der Abkehr war, „auch den außerhalb des Bundesgebietes wohnenden Deutschen eine Kandidatur zu ermöglichen“.1129 An dieser Wertung hat sich im Wahlrecht bis dato nichts geändert.1130 Angesichts des demgegenüber tragenden Zweckgedankens, der zur Rechtfertigung der Inlandsbindung im aktiven Wahlrecht vorgebracht wird, muss die 1125

Vgl. auch Kritik der Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum, BVerfGE 132, 39 (68 ff. Rn. 68 ff. insbesondere Rn. 69); geteilt auch von Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (451 f.). 1126 Vgl. dazu näher die Untersuchung zu § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG, unten Erster Teil 6. Kapitel  B. II. 1127 Erster Teil 2. Kapitel B. 1128 Näher, oben Erster Teil 2. Kapitel B. I. 1129 Vgl. BT-Drs. II/1272, sowie Bericht des Wahlausschusses, zu BT-Drs. 2206, § 16. 1130 Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 15 Rn. 2.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

diesbezügliche Ausgestaltung im passiven Wahlrecht überraschen. Gerade für Mandatsbewerber müsste doch sowohl die Fähigkeit, am Kommunikations- und Volkswillensbildungsprozess teilzunehmen, mindestens in einem ebensolchen Maße wichtig und bedeutsam sein, wie dies für Aktivwähler vorausgesetzt wird.1131 Wenngleich zuzugeben ist, dass eine Kandidatur von Auslandsdeutschen bislang kaum relevant geworden ist,1132 bleibt doch festzuhalten, dass die materielle Ausgestaltung des passiven Wahlrechts jedenfalls neben dem Bestand der Staatsangehörigkeit und der Vollendung des Wählbarkeitsalters keine weiteren Vertrautheitsanforderungen kennt. Der im Verhältnis zur aktiven Wahlberechtigung damit offene Wertungswiderspruch zur Ausgestaltung des passiven Wahlrechts verdichtet sich unter Berücksichtigung der Genese des Wählbarkeitsalters. Die Verfassung bestimmt das Wählbarkeitsalter nicht direkt, sondern hebt auf die Erlangung der Volljährigkeit ab.1133 Mit Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung der Volljährigkeit vom 31. Juli 19741134 hat der Gesetzgeber die Volljährigkeit (§ 2 BGB) auf die Vollendung des 18. Lebensjahres festgesetzt. Im Einklang mit dieser Rechtslage knüpft auch § 15 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG das Wählbarkeitsalter an die Vollendung des 18. Lebensjahres. Die gesetzgeberischen Erwägungen zur Festlegung des Wählbarkeitsalters sind dieselben, wie die zu den materiellen Vertrautheitsanforderungen im aktiven Wahlrecht.1135 Denn ausdrücklich erachtet der Gesetzgeber die für die Wählbarkeit erforderliche Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen typischerweise bereits mit Erreichen des Wählbarkeitsalters für ausreichend gewährleistet,1136 ohne aber weitere Anforderungen, etwa in Gestalt eines Sesshaftigkeitserfordernisses in Betracht gezogen zu haben. Der damit verbundene Wertungsunterschied zum aktiven Wahlrecht ist angesichts mindestens identischer Vertrautheitsanforderungen nicht mehr nachvollziehbar.1137 1131 So zur Problematik der Überhangmandate BVerfGE 7, 63 (75); 16, 130 (140); 79, 169 (171 f.); mit Blick auf das Verhältnis zum Auslandsdeutschenwahlrecht auch Spies, Schranken, S. 64; Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (80 f.); ders., in: FS Wagner, S. 343 (358). 1132 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 66; Spies, Schranken, S. 64. 1133 Dazu vgl. Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 104. Die vormalige in der Verfassung geregelte Altersgrenze von 25 Jahren wurde mit Art. 1 Nr. 2 des 27. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes v. 31.7.1970 (BGBl. I S. 1161), durch den Begriff „Volljährigkeit“ ersetzt. 1134 BGBl. I S. 1713. 1135 Vgl. zu den Erwägungen des Wahlalters des aktiven Wahlrechts BT-Drs. VI/304, S. 4 (oben Fn. 1042) sowie H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 38 Rn. 142; zu den Erwägungen des Wählbarkeitsalters Gesetzesbegründung zum Entwurf Gesetzes zur Neuregelung der Volljährigkeit (Fn. 1134), BT-Drs. 7/117, S. 7. Jeweils geht es um Integrationsvermögen und Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen in der Gesellschaft. 1136 So ausdrücklich Regierungsbegründung BT-Drs. 14/3764 zum Wegfall der einjährigen Karenzzeit bei neu Eingebürgerten durch Art. 1 Nr. 3 des. 15. Gesetz zur Änderung des BWahlG v. 27.4.2001 (BGBl. I S. 698), dazu auch oben Erster Teil 2. Kapitel B. II. 2. 1137 Dazu auch unten Zweiter Teil 8. Kapitel B.

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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III. Zusammenfassung Die Sicherung der gesetzgeberisch in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG geforderten Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ist nach den Wertungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht die eigentliche Zweckbestimmung der Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG. Nur wer typischerweise mit den politischen Verhältnissen im Staat vertraut sei, könne sich informiert an der politischen Willensbildung beteiligen und zum Zeitpunkt der Wahl eine reflektierte Wahlentscheidung treffen. Dies sei wiederum die Bedingung, um die demokratische Integration des Staatsvolkes, soweit sie im Wahlakt bereits zum Ausdruck kommt,1138 hinreichend zu gewährleisten. Die Richtigkeit dieser These wurde hier nicht in Zweifel gezogen. Zu klären war aber, ob der Gesetzgeber die Bedingungen, die diese Vertrautheit sichern sollen, im Zuge der aktiven Wahlberechtigung regeln durfte. Die Untersuchung hat ergeben, dass die „Vertrautheitsbedingungen“ im Wahlrecht bereits durch die Verfassungsregel zum Wahlalter in Art. 38 Abs. 2 GG und durch die grundlegenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit hinreichend gewährleistet werden. So sichert das Wahlalter in typisierter Weise die intellektuelle Reife des Wählers. Die Staatsangehörigkeit dokumentiert die tiefere Beziehung des Wählers zur Bundesrepublik Deutschland, die sich entsprechend der völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht auf einen rein formalen Zweckzusammenhang beschränken darf. Diese Anforderungen werden mit der aktuellen Ausgestaltung der Erwerbs- und Verlusttatbestände der Staatsangehörigkeit im StAG hinreichend erfüllt. Die Vertrautheitsvermutung gilt, solange die Staatsangehörigkeit beim Wähler Bestand hat, unabhängig vom dauernden Wohnsitz- oder Aufenthaltsort im In- oder im Ausland. Über diese Vorgaben hinaus ist es dem Gesetzgeber verwehrt, im BWahlG mit Verweis auf weitere Vertrautheitsanforderungen an die politische Teilhabe der Staatsbürger Unterschiede bei der Ausübung des Wahlrechts zu statuieren. Dem steht zunächst der in Art. 16 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit entgegen. Für die Ausübung des aktivbürgerschaftlichen Status im Wahlrecht bedeutet das, dass der Gesetzgeber an seine diesen Status begründenden typisierenden Wertungen im Staatsangehörigkeitsgesetz gebunden ist. Dies entspricht auch den Vorgaben, die das Demokratieprinzip an die gesetzliche Ausgestaltung der Wahlzugangsberechtigung stellt: die streng egalitäre Teilhabe grundsätzlich aller Wahlberechtigten. Zudem verdichtet sich die Befugnis zur Typisierung im Wahlrecht angesichts jener Vorgaben der demokratischen Teilhabe zur streng formalen Gleichbehandlung. Auch deshalb ist es dem Gesetzgeber verwehrt, von seinen im StAG einmal getroffenen (typisierten) Annahmen bei der Zuerkennung der Staatsangehörigkeit im Wahlrecht abzuwei 1138

Dazu oben Erster Teil 5. Kapitel C. I. 2. a).

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

chen. Darüber hinaus darf der Gesetzgeber die mit der typisierten Betrachtungsweise gewonnene egalitäre Gleichbehandlung nicht durch den Erlass einer Härtefallklausel konterkarieren, die von den Wahlbehörden im Zuge der Feststellung der Wahlberechtigung konkrete Einzelfallprüfungen abverlangt. Deshalb kann weder die Grundregel zur Sesshaftigkeit in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG noch eine daran anknüpfende Härtefallklausel mit Hinweis auf die Sicherung eines Mindestmaßes an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

F. Weitere „zwingende“ Gründe Zuletzt soll auf die in der älteren Literatur gelegentlich anzutreffenden weiteren Überlegungen zu den zwingenden Gründen1139 nur noch kursorisch eingegangen werden. Der Grund dafür liegt darin, dass ihnen in der aktuellen Diskussion um das Auslandsdeutschenwahlrecht mittlerweile nur noch untergeordnete Bedeutung zukommt. In der jüngeren Wahlrechtsdiskussion hat das im Zusammenhang mit der Kontroverse um das Ausländerwahlrecht entwickelte Argument der „Rechte-Pflichten-Korrelation“ keine Bedeutung mehr. Demnach sei an der Legitimation von Herrschaftsausübung nur zu beteiligen, wem der Staat die aus der „demokratischen Solidarität“ erwachsenden „Verbandslasten“1140 aufbürden könne. Als zentral galt den Vertretern dieser Auffassung insbesondere die Wehrpflicht.1141 Auslandsdeutsche sind gemäß § 1 Abs. 2 Wehrpflichtgesetz (WPflG)1142 vom Dienst an der Waffe weitgehend freigestellt. Dass die Wehrpflicht durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften vom 28. April 20111143 ausgesetzt wurde, spielt allerdings keine Rolle, soweit die Verfechter der Rechte-Pflichten-Korrelation nicht auf die tatsächliche, sondern auf die potenzielle Wehrpflichtigkeit aus völkerrechtlicher Sicht abstellen wollen.1144 Zudem führt der ausdrückliche Ausschluss der Frauen von der Wehrpflicht – gemäß Art. 12a Abs. 1 GG können nur Männer zum Wehrdienst verpflichtet1145 werden1146  – hinsichtlich der „RechtePflichten-Korrelation“ im Wahlrecht zu Wertungswidersprüchen. Ungeachtet dessen begegnet das Argument der Rechte-Pflichten-Kollision in Bezug auf das Wahlrecht von Auslandsdeutschen ganz grundsätzlichen Bedenken. Namentlich 1139

Vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel D. II. 3. Isensee, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (94). 1141 Vgl. bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (9); Spies, Schranken, S. 62. 1142 Vom 21. Juli 1956, BGBl. I S. 651 i. d. F. der Bekanntmachung v. 15.8.2011 (BGBl. I S. 1730). 1143 BGBl. I S. 678. 1144 Vgl. etwa Ruland, JuS 1975, S. 9 (11). 1145 Die Möglichkeit eines freiwilligen Dienstes von Frauen ändert an dieser Rechtslage nichts, vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 12 Rn. 4. 1146 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Differenzierung vgl. BVerfGE 48, 127 (165); BVerfG, NJW 2006, S. 2872. 1140

5. Kap.: Verfassungsrechtliche Tragfähigkeit 

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die Wehrpflicht ist für die Zuerkennung des Wahlrechts schon deshalb kein taugliches Abgrenzungskriterium, weil das Wahlrecht nicht als „Kompensation“ für die Wehrpflicht verliehen wird.1147 Gleiches gilt für ähnliche staatsbürgerliche Lasten, zumal auch die in der Bundesrepublik dauerhaft lebenden Ausländer etwa Steuern und Sozialabgaben zu leisten haben. Die Verknüpfung von Wahlrecht und staatsbürgerlichen Pflichten, sei es Wehrpflicht, sei es Steuerlast o. Ä., nimmt unweigerlich Anleihen aus dem historischen Klassenwahlrecht, nach dem der Bestand der politischen Teilhabe von der individuellen Leistung für das Gemeinwesen abhängig war.1148 Ein derart gestuftes Wahlrechtsverständnis wäre nach heutigen Verfassungsmaßstäben evident unzulässig.1149 Ebenfalls der Diskussion um das Ausländerwahlrecht entstammt das Argument, der Ausschluss der Auslandsdeutschen vom Wahlrecht sei unter dem Gesichtspunkt möglicher Interessen- oder Loyalitätskonflikte zwingend geboten. Das setzt aber voraus, derartige Loyalitäts- und Treuepflichten im Grundgesetz überhaupt als verfassungsunmittelbare Schranken des Wahlrechts anzuerkennen.1150 Doch lässt sich aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes die Existenz allgemeiner Treuepflichten nicht ableiten.1151 Nur für bestimmte Berufsgruppen sind besondere Treuepflichten gegenüber der Verfassung teils ausdrücklich, teils impliziert geregelt, wie etwa für Hochschullehrer (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG),1152 Beamte (Art. 33 Abs. 4 und 5 GG)1153 oder Richter (Art. 98 Abs. 2 und 5 GG).1154 Darüber hinausgehende allgemeine Treuepflichten bestehen nicht. Im Gegenteil: Der einfache Bürger verfügt auch über die Freiheit, „die verfassungsmäßige Ordnung abzulehnen und sie politisch zu bekämpfen, solange er es innerhalb einer Partei, die nicht verboten ist, mit allgemein erlaubten Mitteln tut“1155. So ist die grundgesetzliche Ordnung nicht auf Interessengleichheit, sondern im Gegenteil auf Interessenvielfalt im öffentlichen Meinungskampf angelegt. Das gilt gleichermaßen für Auslandsdeutsche, mithin ein Ausschluss der Auslandsdeutschen vom aktiven Wahlrecht wegen der Gefahr von Interessen- oder Loyalitätspflichten nicht zu rechtfertigen wäre.1156

1147

Vgl. statt vieler Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 173 f. m. w. N.; auch in Bezug auf das Wahlrecht von Ausländern kritisch beurteilt von Zuleeg, DVBl. 1974, S. 341 (348). 1148 Vgl. etwa Denkschrift über die königliche Verordnung vom 30. Mai 1849 zur Einführung des Drei-Klassenwahlrechts in Preußen, abgedruckt bei Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 378 (380). 1149 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 174. 1150 Vgl. v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11. 1151 Dazu m. w. N. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 175. 1152 Vgl. Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 225 m. w. N.: „besondere Verfassungstreue“. 1153 Dazu vgl. m. w. N. Jachmann-Michel / A.-B. Kaiser, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 33 Abs. 5 Rn. 46 f. 1154 So Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art. 98 Rn. 4. 1155 BVerfGE 39, 334 (359) mit Zitat. 1156 Vgl. näher Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 175 f.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Schließlich ist noch auf den Einwand einzugehen, der den Wahlrechtsausschluss der im Ausland lebenden Deutschen wegen der drohenden Verlagerung von Wahlkämpfen in das Ausland rechtfertigen will.1157 Indes ist diese Frage für die verfassungsrechtliche Beurteilung kaum relevant. Denn die Durchführung von Wahlkämpfen im Ausland ist in erster Linie ein völkerrechtliches Problem unter dem Gesichtspunkt der jeweils zu achtenden fremdstaatlichen Gebietshoheit.1158 Dies steht aber in keiner Korrelation zur Wahlberechtigung der im Ausland lebenden Deutschen. Es ist vielmehr Sache der politischen Parteien und der Bundesrepublik Deutschland, für eine jeweils das Völkerrecht achtende Informationspolitik im Wahlkampf zu sorgen, was faktisch regelmäßig die enge Einbeziehung sowohl der Auswärtigen Ämter als auch der Verwaltungsbehörden vor Ort bedingt. Hier sind die staatlichen Verzahnungen aber vielschichtig und auch vom völkerrechtlich anerkannten Prinzip der Gegenseitigkeit geprägt. Die Frage nach der Wahlberechtigung der Auslandsbürger wird davon nicht berührt.

G. Zwischenergebnis Nach dieser Analyse bleibt festzustellen: Keiner der gegenwärtig diskutierten Ansätze zur Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts der Auslandsdeutschen aus Gründen fehlender Sesshaftigkeit wird den strengen Anforderungen des Verfassungsrechts gerecht. Soweit insbesondere der Forderung nach einem Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen zur Sicherung der demokratischen Wahlfunktionen überhaupt der notwendige Verfassungsrang, abgeleitet aus dem Demokratieprinzip zukommt, wird diesem mit den verfassungsrechtlichen Bedingungen der Wahlberechtigung, Staatsangehörigkeit und Wahlalter bereits typisierend hinreichend Rechnung getragen. Eine weitergehende gesetzgeberische Regelungs- und Einschränkungsbefugnis besteht angesichts der streng egalitären Maßgaben des demokratischen Grundsatzes im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl nicht. Außerdem hat sich gezeigt, dass die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG geregelte Wohnsitzklausel nicht in einem hinreichenden Maße dazu beiträgt, die mit der Wahl verbundenen Ziele und Funktionen zu erfüllen. Weder sichert sie die heute vielfältigen Kommunikationsbeziehungen der Bürgerinnen und Bürger mit den Regierenden, noch trägt sie realiter etwas zum legitimierenden Verantwortungszusammenhang zwischen Staatsvolk und künftiger Staatsgewalt bei. Die Anknüpfung der Wahlberechtigung an einen vormaligen Inlandsaufenthalt zu dem Zweck der Herstellung eines Mindestmaßes an Vertrautheit mit dem politischen System findet somit keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Sie weicht auch in nicht mehr nachvollziehbarer Weise von der gegenwärtigen Ausgestaltung des passiven Wahlrechts ab. So bleibt die wahlrechtliche Inlandsbindung ein diffuses 1157

So v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG2, Bd. 2, Art. 38 Rn. 11. Dazu näher Larsen, in: Gornig / Horn (Hrsg.), Souveränität, S. 241 (250 ff.).

1158

6. Kap.: Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung 

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und anachronistisches Rechtskonstrukt, ohne hinreichende Basis in der geltenden Verfassungslage. 6. Kapitel

Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung des Wahlrechts vom 27. April 2013 An dieser Stelle will nun der Blick auf die gesetzliche Umsetzung der bis eben herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerichtet werden. Während der Grundsatz der Sesshaftigkeit nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG seinem Inhalt nach seit Bestehen im Wesentlichen nur terminologische Änderungen erfahren hat, wurde der diesbezügliche Ausnahmetatbestand in § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG durch das 21. BWahlGÄndG 2013 neu gefasst. Die Neufassung muss sich allerdings eini­gen kritischen Einwänden stellen. Zuvor jedoch ist es angezeigt, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dieser gesetzlichen Änderung zu beleuchten.

A. Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber im Wahlrecht Gemäß Art. 38 Abs. 3 GG ist es am Gesetzgeber, das Nähere zu den in Art. 38 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen Grundregeln zu bestimmen. Insoweit verfügt der Gesetzgeber über einen Prognose- und Gestaltungsspielraum,1159 der jedoch nur die Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Rahmens und nicht davon abweichende Regelungen gestattet. In diesen Grenzen ist die nähere Bestimmung des Wahlrechts jedoch ein Akt autonomer Rechtssetzung. Es erscheint zunächst schon fraglich, ob der Gesetzgeber des 21. BWahlGÄndG 2013 tatsächlich den ihm in Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Regelungsauftrag im Sinne autonomer, also souveräner Entscheidungsgewalt wahrgenommen hat. Die aktuelle Neuregelung war erforderlich geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht zuvor die gültige Regelung aus dem Jahr 2008 mit Urteil vom 4. Juli 2012 für verfassungswidrig und daher nichtig erklärt hatte.1160 Zwar hat der Gesetzgeber nach Aufhebung des § 12 Abs. 2 BWahlG a. F. mit dem 21. BWahlGÄndG 2013 formal eine Regelung entworfen und so eine auf ihn zurückzuführende Entscheidung zur Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts getroffen. Bei der Lektüre der Gesetzesbegründung1161 drängt sich jedoch unvermittelt der Eindruck 1159

Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 14 und 40. Vgl. dazu BVerfGE 132, 39 ff.; zum BWahlG i. d. F. v. 17.3.2008 (BGBl. I S. 394 ff.), vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. III. 3. 1161 Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 3 ff. 1160

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

fremdbestimmten Handelns auf.1162 Hier hat der Gesetzgeber weite Teile der Begründung des Urteils vom 4. Juli 2012 wörtlich oder sinngemäß mit Hinweis auf die „Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts“ zitiert und übernommen.1163 In der parlamentarischen Debatte um das Änderungsgesetz kam dies auch ganz unverhohlen zum Ausdruck. Der den Gesetzentwurf mittragende Abgeordnete Wolfgang Wieland (Bündnis 90/Die Grünen) etwa resümierte in der parlamentarischen Beratung vom 14. Dezember 2012: „Die Lösung war relativ simpel: Wir nehmen den Text dieser Entscheidung und schreiben ihn wörtlich in einen Gesetzentwurf nach dem Motto ‚Sie werden sich das nächste Mal nicht selber für verfassungswidrig erklären‘.“1164 Doch ist es nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der Gesetzgeber selbst, der erstrangig zur Interpretation der Verfassung berufen ist.1165 Nach der im Zusammenhang mit Art. 80 Abs. 1 GG entwickelten „Wesentlichkeitsdoktrin“ sind die für das Gemeinwesen wesentlichen und von der Verfassung nicht entschiedenen Angelegenheiten dem Parlamentsvorbehalt unterworfen und damit vom Gesetzgeber zu regeln.1166 Wegen der besonderen Bedeutung für das Gemeinwesen zählt zu diesen Angelegenheiten auch das Wahlrecht.1167 Wenngleich die Wesentlichkeitsdoktrin in erster Linie das Verhältnis zwischen Gesetz- und Verordnungsgeber betrifft,1168 wirkt sie selbstverständlich auch im Verhältnis des Gesetzgebers zum Bundesverfassungsgericht. Artikel 20 Abs. 3 GG bestimmt zwar die Bindung der Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung; der Auslegung dieser Ordnung durch das Bundesverfassungsgericht hat der Gesetzgeber jedoch selbstbestimmt zu entsprechen.1169 Der mit diesem Privileg des ersten Zugriffs verbundenen Verantwortung darf sich der Gesetzgeber nicht im Blick auf eine zunehmende bundesver-

1162 Dass dies kein Einzelfall ist, belegen u. a. die zahlreichen Nachweise bei Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit, 33 f. 1163 Das gilt insbesondere für die in BVerfGE 132, 39 (54 Rn. 42) enthaltene Anregung, zu früheren Fortzugsfristen zurückzukehren und überdies ein Mindestalter einzuführen, die der Gesetzgeber in § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BWahlG unverändert umgesetzt hat; zur Kritik am Zustandekommen der aktuellen Neuregelung vgl. Felten, DÖV 2013, S. 466 (469) und Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (80 ff.): „Gesetzgebung im Kopiermodus“. 1164 Vgl. Plenarprotokoll Nr. 17/215 v. 14.12.2012, S. 26524 (A). 1165 BVerfGE 101, 158 (236); zurückhaltender Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, § 1 Rn. 33. 1166 BVerfGE 49, 89 (126); 77, 170 (230 f.).; 109, 29 (37); 121, 103 (18 ff.); vgl. auch Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2 Art. 80 Abs. 1 Rn. 32. 1167 Dies ergibt sich schon aus Art. 38 Abs. 3 GG, wenngleich der Gesetzgeber die Regelung näherer Einzelheiten auf den Verordnungsgeber delegieren darf, vgl. Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 120; Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 80 Abs. 1 Rn. 33 mit Verweis auf BVerfGE 123, 39 ff. – Wahlautomat und Öffentlichkeit der Wahl. 1168 Vgl. Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, Art. 80 Abs. 1 Rn. 33. 1169 Näher BVerfGE 77, 84 (103 f.); 112, 268 (277); vgl. auch Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, § 1 Rn. 12 mit Bezug auf § 31 Abs. 1 BVerfGG.

6. Kap.: Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung 

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fassungsgerichtliche Kompensation1170 oder gar Substitution entziehen. Die Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts durch das 21. BWahlGÄndG 2013 ist indessen ein Paradebeispiel für die schleichende und subtile Verschiebung gesetzgeberischer Interpretations- und Entscheidungshoheit hin zum Bundesverfassungsgericht.1171 Für das konkrete Gesetzgebungsverfahren ist es zwar nachvollziehbar, dass dem Gesetzgeber nicht daran gelegen ist, nochmals von einem Karlsruher Richterspruch in Sachen Wahlrecht in die Schranken gewiesen zu werden, nachdem er im Zusammenhang mit der Neuregelung des Sitzverteilungsverfahrens im Wahlrecht nach § 6 BWahlG1172 bereits mehrfach gerügt wurde.1173 Die Konsequenz dessen kann aber nicht in der schlichten Übernahme von ihrer Natur nach unverbindlichen Gesetzgebungsvorschlägen des Bundesverfassungsgerichts („könnte der Gesetzgeber“) liegen, zumal die vom Gesetzgeber erlassene Neuregelung über die Lösung des eigentlichen Problems, nämlich der ursprünglichen Normfassung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG (a. F.) weit hinausgeht (dazu sogleich). Aber auch das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenzordnung des Grundgesetzes zu wahren und nicht durch zu weitgehende Richtersprüche zu konterkarieren. In eben jener Respektbekundung stellt das Bundesverfassungsgericht u. a. regelmäßig heraus, dass es zu Zweckmäßigkeitserwägungen innerhalb des zu ach 1170 Vgl. Darstellungen von Roellecke, in: VVDStRL 34 (1976), S. 7 (14 ff.); Starck, in: ebd., S. 46 (74 ff.).; Grimm, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Studien II, S. 83 (98); zu den Grenzen verfassungsgerichtlicher Beurteilung vgl. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, Art. 93 Rn. 37 ff.; zur Notwendigkeit einer streitbaren Verfassungsgerichtsbarkeit für die Demokratie J. Müller, in: VVDStRL 39 (1981), S. 53 (93 f.); kritisch zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht und Überhangmandaten v. 25.7.2012 = BVerfGE 131, 316 ff., vgl. Haag, ZParl. 2012, S. 658 ff. 1171 Aus früheren Entscheidungen auch beobachtet von Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 35 f. 1172 Hier hatte das Gericht das erst wenige Monate zuvor reformierte Sitzverteilungsverfahren im Wahlrecht (19. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 25.11.2011, BGBl. I S. 2313) – § 6 BWahlG, deren ältere Fassung (17. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 11.3.2005, BGBl. I S. 674) nach der Entscheidung des Gerichts v. 3.7.2008 = BVerfGE 121, 266 ff., bereits als verfassungswidrig gerügt wurde  – mit Entscheidung v. 25.7.2012 = BVerfGE 131, 316 ff., abermals für mit der Verfassung unvereinbar und nichtig erklärt (vgl. ebd., Tenor II.1.). In dem sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren erwies sich der Gesetzgeber als Getriebener des Bundesverfassungsgerichts, was der fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf BT-Drs. 17/11819, S. 4 f. zum später erlassenen 22. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes v. 3.5.2013 (BGBl. I S. 1082), sowie der das Gesetzgebungsverfahren begleitenden Presseberichterstattung deutlich zu erkennen gab, vgl. Berichterstattung F. A. Z. Nr. 171 v. 25.7.2012, S. 2; F. A.Z Nr. 172 v. 26.7.2012, S. 1, S. 3 und 10; Rossmann, Der Bundestag wird größer, in: SZ Nr. 247 v. 25.10.2012, S. 5; Janisch, Von der Achtung zur Ächtung, in: SZ Nr. 248 v. 26.7.2012, S. 2; Anger, Das neue Wahlrecht bis Herbst 2013, in: Handelsblatt Nr. 143 v. 26.7.2012, S. 4. 1173 Im Rahmen der mündlichen Urteilsverkündung zum Sitzverteilungsverfahren am 25.7.2012 bezeichnete der seinerzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle das Ergebnis der bisherigen Bemühungen des Gesetzgebers trotz der „großzügig bemessenen Übergangsfrist“ von drei Jahren als „ernüchternd“, vgl. Scheidges, Ohrfeige für die Unbelehrbaren, in: Handelsblatt Nr. 143 v. 26.7.2012, S. 8.

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tenden gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes keine Stellung bezieht.1174 Zu Recht stellt der Prozessvertreter der dem Urteil vom 4. Juli 2012 vorausgehenden Wahlprüfungsbeschwerde, Volker Heydt, daher mit einigem Erstaunen fest,1175 dass sich das Bundesverfassungsgericht hier nicht an den allgemeinen prozessrechtlichen Grundsatz ne ultra petita1176 gehalten habe, sondern, wie dargelegt,1177 die gesamte Vorschrift für mit der Verfassung unvereinbar erklärte. Die so künstlich geschaffene Regelungslücke im deutschen Auslandsdeutschenwahlrecht füllte das Bundesverfassungsgericht inhaltlich gleich selbst, indem es einen eigenen Regelungsvorschlag kreierte. Dass die Formulierung nicht nur bloße Rahmenvorgabe, sondern selbst auch bereits Zweckmäßigkeitselemente der Ausgestaltung enthält, wird bereits aus den Urteilsgründen selbst deutlich. Indem das Gericht den Vorschlag zusätzlich unter den Obersatz einer der Allgemeinheit der Wahl „besser entsprechenden Typisierung ohne unverhältnismäßigen Aufwand“1178 stellt und im weiteren konkrete Vorschläge liefert, sind, wie Hans-Detlef Horn treffend hervorhebt, die „Grenzen der institutionellen Zuständigkeit des Gerichts im Verhältnis von Recht und Politik mindestens strapaziert, wenn nicht gar ignoriert“.1179 Hierin liegt eine nicht unerhebliche Gefahr. Denn diese Art judical activism ist auf Dauer geeignet, die Grenzen des grundgesetzlichen Kompetenzgefüges zwischen Verfassungsjustiz und Gesetzgeber nicht unerheblich zu verschieben. Trotz der ihm von der Verfassung verliehenen besonderen Funktion bleibt das Bundesverfassungsgericht in erster Linie ein Gericht; es unterliegt damit auch den Grenzen staatlicher Gerichtsbarkeit.1180 In anderen Zusammenhängen bedürfen staatliche Beschränkungen von (Grund-)Rechten der Rechtfertigung und das Bundesverfassungsgericht ist zur Kontrolle der Einschränkungen, nicht ihrer Sicherung berufen.1181 Bei der verfassungsrichterlichen Beurteilung von gesetzlichen Beschränkungen im Wahlrecht gilt nichts anderes. Es steht dem Bundesverfassungsgericht sohin nicht an, sich im Sachbereich der Wahlrecht vom obersten Hüter1182 zum Herrn der Verfassung1183 aufzuschwingen. Der Gesetzgeber ist also gut beraten, sich seiner ebenfalls herausgehobenen organschaftlichen Stellung im Kompetenzgefüge der Verfassung erneut bewusst zu werden und selbstbewusst danach zu handeln.

1174

Vgl. BVerfGE 59, 119 (124 f.); 95, 408 (420); 123, 39 (71). Vgl. Heydt, DÖV 2012, S. 974 (975). 1176 Ebenfalls überschritten etwa bei BVerfGE 130, 240 ff. – Bayrisches Landeserziehungsgeldgesetz, dazu Sachs, JuS 2013, S. 89 (91). 1177 Vgl. m. w. N. auch oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1. c). 1178 BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47). 1179 Vgl. auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (82). 1180 Näher Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 9 ff. 1181 Vgl. Wallrabenstein, JÖR 66 (2018), S. 431 (447). 1182 BVerfGE 40, 88 (93 f.). 1183 Pointiert Holtfort, Vorgänge 37 (1979), S. 64 (73); in diese Richtung auch Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 11. 1175

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B. Bedenken gegen die Neuregelung Diese ganz grundsätzliche Kritik hielte sich noch im Rahmen, wenn die am 27. April 2013 als 21. BWahlGÄndG 2013 verabschiedete Regelung, wenn schon nicht im Sinne einer autonomen Entscheidung des Gesetzgebers, so doch wenigstens inhaltlich den oben erörterten verfassungsmäßigen Vorgaben, insbesondere der Allgemeinheit der Wahl, entspräche und den offenen Sachverhalt einer verlässlichen und zeitgemäßen Klärung zuzuführen beabsichtigt hätte. Doch hat der Gesetzgeber die Chance verstreichen lassen, das Recht der Wahlberechtigung zu modernisieren und von seiner hier als verfassungswidrig identifizierten Territorialbindung zu befreien. Auch das 21. BWahlGÄndG lässt die Grundregel des dreimonatigen Wohnsitznachweises im Inland (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG) unberührt. Vielmehr wurde mit § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG n. F. ein Ausnahmetatbestand geschaffen,1184 der hinsichtlich der festgelegten Fortzugsfrist für Auslandsdeutsche (Nr. 1) in mancher Hinsicht an die restriktiven Wahlrechtsbeschränkungen vor der Reformgesetzgebung des Jahres 2007 erinnert1185 und darüber hinaus (in Nr. 2) seinem Sinngedanken erstmals tatbestandlich als konkrete Ausnahmeregel festlegt. Mit der Beibehaltung des Sesshaftigkeitsprinzips im Wahlrecht richtet sich die gesamte Wucht der im vorherigen Kapitel geübten Kritik weiterhin gegen die Grundnorm des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG. Doch auch die konkrete Fassung der Ausnahmeregelung nach § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG begegnet darüber hinaus noch weiteren Einwänden, auf die jetzt eingegangen werden soll. I. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG knüpft die Wahlberechtigung Auslandsdeutscher an eine 25-jährige Fortzugsfrist. Damit vermag sich diese Neuregelung in die jahrzehntelange deutsche Wahlrechtsentstehung1186 nicht ohne weiteres einzufügen. Denn der dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl innewohnende dynamische Charakter führte in der Gesetzgebung letzthin zu einer immer weiteren Ausdehnung des Wahlrechts für Auslandsdeutsche.1187 Von dieser Dynamik hat sich der Gesetzgeber mit Erlass der Neuregelung verabschiedet. Daneben hat der Gesetzgeber mit der Einführung eines Mindestalters von 14 Jahren als Anknüpfungspunkt zur Berechnung jener Fortzugsfrist wahlrechtlich gesehen Neuland betreten. 1184

Zum Normaufbau und Systematik vgl. oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1. Vgl. dazu oben Erster Teil 2. Kapitel A. III. 3. 1186 Begriff vorausgesetzt bei BVerfGE 95, 408 (423); BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1187 Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 2. Diese These wird durch die tatsächliche historische Entwicklung des Bundeswahlgesetzes seit seinen Anfängen zumindest bis zum Jahr 2008 bestätigt, vgl. dazu oben Erster Teil 2. Kapitel. 1185

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1. Fortzugsfrist Wie schon bei § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG1188 erheben sich auch im Hinblick auf die neugefasste Ausnahmebestimmung in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG die­selben Zweifel an der Erforderlichkeit eines dreimonatigen Aufenthalts in der Bundes­ republik Deutschland nach Vollendung des 14. Lebensjahres, der zum Zeitpunkt der Wahl nicht länger als 25 Jahre zurückliegen darf. Ausweislich der Gesetzes­ begründung solle mit dieser Regel sichergestellt werden, dass nur Auslandsdeutsche an der Wahl zum Deutschen Bundestag teilnehmen, bei denen angenommen werden könne, dass die einmal gewonnenen Erfahrungen und Eindrücke typischerweise noch bestünden und deshalb eine informierte Mitwirkung am politischen Kommunikationsprozess noch gewährleistet erscheine.1189 Diese Erwägung, die bereits dem Entwurf des 6. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zugrunde lag1190 und mit Erlass des 7. BWahlGÄndG 1985 in § 12 Abs. 2 BWahlG durch die Einfügung einer zunächst zehnjährigen, später fünfundzwanzigjährigen1191 Fortzugsfrist für die im europäischen Ausland ansässigen Deutschen umgesetzt wurde,1192 hatte bis zum Erlass des BWahlRÄndG 2008 vom 17. März 2008 grundsätzlich Bestand. Den Fortfall der Fortzugsfrist durch das BWahlRÄndG 2008 stützte der damalige Gesetzgeber noch maßgeblich auf den Fortschritt neuer Kommunikationsmittel.1193 Die diesbezüglichen Entwicklungsschritte in Gesetzgebung und Rechtsprechung wurden hier bereits hinreichend dargelegt.1194 Im Hinblick auf die Wiedereinführung der Fortzugsfrist durch das 21. ­BWahl​ GÄndG 2013 auf Anraten des Bundesverfassungsgerichts stand der Gesetzgeber allerdings vor einem Dilemma. Weil verlässliche Studien über diese Tatsachenfrage1195 weitgehend1196 fehlten, konnte der Gesetzgeber die Notwendigkeit von Fortzugsfristen aktuell wie auch bisher nur auf die nicht näher begründete „An 1188

Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel C. II. 2. Vgl. BT-Drs. 17/11820 S. 5. 1190 BT-Drs. 9/1913 S. 10. 1191 Eingefügt durch das 14. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 20. April 1998 (BGBl. I S. 706.). 1192 Vgl. zu den Hintergründen oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 2. b). 1193 Vgl. BT-Drs. 16/7461, S. 16; insoweit mit den Verweisen auf BT-Drs. 13/9686, S. 5; 15/6015, S. 7; 16/7461, S. 16 und 17/5260, S. 4, überwiegend fehlinterpretiert bei BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 40). 1194 Vgl. oben Erster Teil 2. Kapitel A. III. 3 sowie im Einzelnen Erster Teil 5. Kapitel C. II. 2. 1195 Zum Einfluss des Realbereiches auf die Transformation in Recht durch Rechtsnormen vgl. Hoffmann-Riem, Die Verwaltung 2016, S. 1 (4) m. w. N. 1196 Vgl. hierzu obige Nachweise unter Fn. 922. Der in BT-Drs. 15/6015 veröffentlichte Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung zur Thematik „Internet und Demokratie“ – Abschlussbericht zum TA-Projekt „Analyse netzbasierter Kommunikation unter kulturellen Aspekten“ vom 17.10.2005 auf S. 107 gelangt unter der Rubrik: „Das Internet – eine neue Form politischer Öffentlichkeit“ zu dem Ergebnis, dass „das Internet bisher die bestehenden Strukturen nicht wesentlich verändert [hat]“. An anderer Stelle – „Interaktion zwischen Staat und Bürger“, S. 109 – bekräftigt der Bericht jedoch die erweiterten Möglichkeiten direkter Interaktion zwischen Staat (Parlament, Regierung und Administration) und Bürgern. 1189

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nahme“ stützen, dass die „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ ein relatives und mit der Zeit abnehmendes Gut sei.1197 Insoweit ist dem Gesetzgeber für die rechtliche Würdigung grundsätzlich ein nur auf seine Grenzen hin gerichtlich überprüfbarer Prognose- und Beurteilungsspielraum einzuräumen.1198 Der plötzliche „Sinneswandel“ in den zugrunde gelegten Annahmen und damit die Rückkehr zur Rechtslage vor dem 17. März 2008 wäre innerhalb dieses Beurteilungsrahmens und nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien1199 gleichwohl nur dann nachvollziehbar, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung zur früheren Abschaffung der Fortzugsfristen entweder infolge einer Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen entfallen wäre oder sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose insofern als irrig erwiesen hätte. Der vom Gesetzgeber unter dem 11. Dezember 2007 als Begründung zum Wegfall der Fortzugsfristen herangezogene „Fortschritt technischer Kommunikation“ ist aber nach wie vor ungebrochen und hat sich in den zurückliegenden Jahren sogar noch verstärkt. Es liegt gar die vorsichtige Vermutung nahe, dass die aktuell auf dem Markt befindlichen Kommunikationsmittel im In- wie im Ausland eine noch intensivere Auseinandersetzung mit den politischen und tatsächlichen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, als dies zum Zeitpunkt der Gesetzesbegründung aus dem Jahr 2007 der Fall gewesen ist.1200 Hieraus folgt, dass die Tatsachengrundlage, auf welche der Gesetzgeber den Wegfall der Fortzugsfristen – nach hier vertretener Auffassung zu Recht – stützen konnte, zum jetzigen Zeitpunkt noch tragfähiger geworden und im Hinblick auf die normative Verfassungsrechtfertigung gerade nicht entfallen ist. Dass sich die diesbezügliche Prognose zur Auswirkung des technischen Fortschritts auf die Kommunikationsfunktion der Wahl und die Eignung zur Bewahrung politischer Vertrautheit auf Basis der ihr im Jahr 2007 zugrunde liegenden Verhältnisse nach der zwischenzeitlichen Durchführung von nur einer einzigen Bundestagswahl1201 als irrig erwiesen haben soll und gerade hieraus ein gesetzgeberisches Handeln erforderlich Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Bericht bereits über 10 Jahre alt ist und sich der Ausschuss überdies selbst der mangelnden empirischen Basis bewusst war, vgl. S. 107. 1197 Vgl. aktuell BT-Drs. 17/11820, S. 5 „kann unterstellt werden, dass früher im Inland gewonnene Einsichten und Erfahrungen […] noch eine gewisse Zeit fortwirken“; ebenso BT-Drs. 13/9686, S. 5 „Regelung geht von der Annahme aus, daß die Zehnjahresfrist ein tragfähiges Indiz für die Loslösung Auslandsdeutscher von der Bundesrepublik Deutschland ist“ und BTDrs. 10/2834, S. 24 „kann unterstellt werden, dass die früher gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse noch eine gewisse Zeit fortwirken […]“; identische Formulierung auch bei BT-Drs. 9/1913, S. 10, Fortwirkung „kann unterstellt werden“. 1198 BVerfGE 59, 119 (124 f.); 95, 408 (420); 123, 39 (71); ebenso Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (83 f.). 1199 Vgl. BVerfGE 73, 40 (94); 82, 322 (338 f.); 107, 286 (294 f.); 120, 82 (108); 129, 300 (321 f.); zuletzt BVerfGE 132, 39 (57 Rn. 50). 1200 Vgl. auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (84). 1201 Wahl zum 17. Deutschen Bundestag v. 27.9.2009, vgl. Anordnung des Bundeswahlleiters über die Bundestagswahl v. 8.1.2009, BGBl. I S. 2, 8.

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geworden sei, behauptet soweit ersichtlich derzeit niemand.1202 Eine Veranlassung des Gesetzgebers zur Wiedereinführung einer Fortzugsfrist als Wahlrechtsbedingung ist daher nicht ersichtlich. Die aktuelle Gesetzesbegründung kann sich deshalb auch nur formal auf die Begründung des Gesetzentwurfs vom 7. Dezember 19821203 berufen, welcher die erstmalige Einführung einer Fortzugsfrist vorgesehen hatte und mit Erlass des 7. BWahlGÄndG 1985 in Gesetzesrecht umgesetzt wurde.1204 Dort unterstellte der Gesetzgeber, dass die durch den Inlandsaufenthalt gewonnenen Einsichten „noch eine gewisse Zeit fortwirken“. So erscheine die „Möglichkeit informierter Mitwirkung am politischen Willensbildungsprozess noch gewährleistet“.1205 Auch das Bundesverfassungsgericht, so die Gesetzesbegründung 2013, habe diese Erwägung in seinem Richterspruch aus dem Jahr 2012 gebilligt.1206 Das Argument der gegenüber dem Jahre 1982 nunmehr erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten taucht in diesem Zusammenhang zwar wieder auf, wird jedoch zur Rechtfertigung der bloß 25-jährigen Frist herangezogen.1207 Ein Verzicht auf die grundsätzliche Fristnotwendigkeit komme demgegenüber nicht mehr in Betracht.1208 Tatsächlich nimmt das Bundesverfassungsgericht zu diesem Problemkreis aber kaum Stellung. Es behauptet lediglich, wiederum ohne näheren Beleg, dass ein in allzu langer Vergangenheit liegender Vorfortzugsaufenthalt eine „‚Nähe‘ zum politischen Geschehen im Sinne einer […] Einbindung in das demokratische Geschehen nicht zu indizieren“ vermag. Die damals erworbenen eigenen Erfahrungen fänden dann in der Gegenwart „keine Entsprechung mehr“.1209 Daher sei, so das Bundesverfassungsgericht, ein insofern unbefristetes Auslandsdeutschenwahlrecht mit dem Normzweck nicht mehr zu vereinbaren.1210 Der Gesetzgeber könne dem durch die Wiedereinführung einer Fortzugsfrist begegnen.1211 Es muss freilich bezweifelt werden, ob dieser Passus im Urteil vom 4. Juli 2012 bereits allein für den Gesetzgeber Veranlassung genug sein kann, eine einmal aufgestellte und sich bis heute nicht als irrig erwiesene Annahme bei gleichbleibender oder gar fortgeschrittener Tatsachenlage im Rahmen des eröffneten Prognoseund Gestaltungsspielraums vergangenheitsorientiert wieder abzuändern. Denn die diesbezüglichen Erwägungen des Gerichts waren für den Entscheidungstenor zur Altregelung gar nicht erheblich gewesen. Es handelt sich hier vielmehr um 1202

Das Bundesverfassungsgericht mahnt den Gesetzgeber aber zu einer eindringlicheren Analyse auf die mit dem Wegfall der Fortzugsfrist verbundenen Folgen für Ungleichbehandlung und Typisierung, vgl. BVerfGE 132, 39 (55 f. Rn. 46). 1203 Vgl. BT-Drs. 9/1913, S. 10. 1204 Vgl. zu den Hintergründen oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 2. b). 1205 BT-Drs. 9/1913, S. 10, damals noch begrenzt auf 10 Jahre. 1206 BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1207 Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1208 So aber noch Gesetzesbegründung zum BWahlRÄndG 2008, BT-Drs. 16/7461, S. 16. 1209 Vgl. BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 45) mit Zitaten. 1210 Vgl. BVerfGE 132, 39 (55 Rn. 44). 1211 BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47).

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ein obiter dictum zur möglichen Ausgestaltung der Rechtslage de lege ferenda. Für die Kassation der Regelung aus dem BWahlRÄndG 2008 ausschlaggebend war vielmehr die vom Gericht an anderer Stelle gerügte willkürliche Gleich- bzw. Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen von Auslandsdeutschen. Hier habe der Gesetzgeber die Grenzen des ihm eingeräumten Gestaltungsspielraums überschritten.1212 Diese Auffassung ist unter dem Regime der grundsätzlichen, mit dem Belang der persönlichen Vertrautheit begründeten Sesshaftigkeitsbedingung im Wahlrecht zwar durchaus konsequent. Trotzdem hätte sich das Gericht hier eingehender mit den Auswirkungen moderner Kommunikationsmittel zur Bildung, Festigung und Vertiefung des geforderten Mindestmaßes an wahlrechtlicher Vertrautheit beschäftigen müssen, um die darüber hinaus im Urteil zum Ausdruck gebrachten Hinweise zur Ausgestaltung der künftigen Rechtslage auch gegenüber dem Gesetzgeber zu substantiieren. Eine diesbezügliche Auseinandersetzung fehlt jedoch gänzlich. Insoweit stehen sich hier lediglich zwei unsubstantiierte Annahmen zur Relativität der einmal erlangten „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ gegenüber. Deren Wertigkeit kann sich im gesetzgeberischen Abwägungsprozess freilich nicht allein danach bestimmen, dass dem Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Gesetzgeber die Befugnis zur Letztinterpretation der Verfassung1213 zukommt. Im Gegenteil: Just an dieser Stelle hätte das Gericht den gesetzgeberischen Prognosespielraum beachten müssen. Den hatte der Gesetzgeber mit den Erwägungen zum Erlass des BWahlRÄndG 2008 jedenfalls zugunsten der permanenten Möglichkeit informierter Mitwirkung auf Basis neuer Informations- und Kommunikationstechnologien hinreichend ausgefüllt. Hingegen ist die Übernahme des vergangenheitsorientierten Ansatzes des Bundesverfassungsgerichts im 21. BWahlGÄndG 2013 willkürlich gewählt, gerade weil es bis dato für die „Fortwirkung“ der „im Inland gewonnenen Einsichten und Erfahrungen“1214 keinerlei stichhaltige Tatsachengrundlage gibt. 2. Mindestaltersgrenze Auch die erstmalige Einführung einer Altersgrenze in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG erging nicht in gesetzgeberischer Eigeninitiative. Sie entspringt ebenso einer verfassungsgerichtlichen Empfehlung, wonach dem „Umstand, dass die Vertrautheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen eine gewisse Reife und Einsichtsfähigkeit voraussetzt“, durch die „Aufnahme einer zusätzlichen Altersgrenze Rechnung getragen werden [könnte]“1215. Ihr Zweck liegt im Wesentlichen darin zu verhindern, dass ein früherer Lebensabschnitt im Kindesalter zum ent 1212 BVerfGE 132, 39 (54 f., Rn. 43 ff.); Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246); im Einzelnen vgl. oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 3. 1213 Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, § 1 Rn. 10 und 16. 1214 Zitate bei BT-Drs. 17/11820 S. 5. 1215 Vgl. BVerfGE 132, 39 (56 Rn. 47).

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scheidenden Kriterium für die Wahlberechtigung wird, in dem das für die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung geforderte Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen mangels hinreichender Reife und Einsichtsfähigkeit typischerweise noch nicht erworben werden konnte.1216 Darauf hatte jedenfalls das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG a. F. maßgeblich gestützt.1217 Der Gesetzgeber nimmt die maßgebliche Reife- und Einsichtsgrenze im Zusammenhang mit der Möglichkeit zum Erwerb der für das spätere Wahlrecht erforderlichen Vertrautheit mit den Verhältnissen nunmehr bei Vollendung des 14. Lebensjahres an. Dies orientiert sich an den bestehenden Regelungen zur Strafmündigkeit nach § 19 Strafgesetzbuch oder der Religionsmündigkeit aus § 5 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung.1218 Die für eigenverantwortliche Entscheidungen maßgebliche Reife und Einsichtsfähigkeit sei auch hier jeweils mit der Vollendung des 14. Lebensjahres typischerweise gewährleistet. Nimmt man die dem Reformgesetz zugrunde liegenden Erwägungen zum Maßstab, erscheint die Einführung der Altersgrenze konsequent. Sie wird den hintergründigen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts, das Wahlrecht (zumindest auch) maßgeblich an die qualifizierte Vertrautheit des Wählers mit den politischen Verhältnissen zu knüpfen, gerecht. In diesem Sinne verstanden, verstößt § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG im Hinblick auf die Festsetzung des Mindestalters auch nicht gegen Art. 38 Abs. 2 GG.1219 Zwar stellt das Wahlalter des § 38 Abs. 2 GG wie dargelegt1220 ebenfalls konkrete Erwartungen an die politische Einsichtsfähigkeit der Wahlberechtigten. Doch beide Regelungen verfolgen unterschiedliche Zielrichtungen. Während Art. 38 Abs. 2 GG die Demokratiemündigkeit des Wahlberechtigten am Wahltag sichert, will § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG lediglich die gesetzliche Prämisse plausibilisieren, dass ein früherer Inlandswohnsitz des im Ausland lebenden Deutschen eine anhaltende „Nähe“ zu den politischen Verhältnissen typischerweise indiziert.1221 Daran gemessen dürfte sich die Einführung des Mindestalters in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG zumindest noch im Rahmen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums bewegen. II. § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG Auch die Nr. 2 der neu gefassten Vorschrift begegnet in seiner Ausgestaltung erheblichen Bedenken. Hiernach sind Auslandsdeutsche, die nicht oder nicht mehr unter die Ausnahmeregelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG fallen, bei 1216

Vgl. Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 28. Vgl. oben Fn. 1213. 1218 Vgl. Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1219 A. A. vgl. Felten, DÖV 2013, S. 466 (470 f.). 1220 Vgl. dazu oben Erster Teil 5. Kapitel E. II. 1. 1221 Vgl. Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (86). 1217

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Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen wahlberechtigt, wenn sie „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Hiermit hat sich der Gesetzgeber den Wertungen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich jener Deutschen angeschlossen, die zum Wahltag zwar nicht in Deutschland ansässig sind, aber dennoch auf andere Weise einen hinreichenden Bezug zu den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik typischerweise entwickelt haben.1222 Dies sei namentlich anzunehmen bei „Grenzgängern“ oder den sonst „durch ihr Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik“ teilnehmenden Deutschen.1223 Der Ausnahmetatbestand ist ein Novum in der bundesdeutschen Wahlrechtsgeschichte. Zum ersten Mal wird der hinter der Inlandsbindung stehende Sinn und Zweck, nämlich die Notwendigkeit einer gewissen Vertrautheit mit den Verhältnissen zur Sicherung konkreter Wahlfunktionen in eigenes Gesetzesrecht gegossen und damit zum normativen Auffangtatbestand erhoben. Nr. 2 knüpft in diesem Zusammenhang nicht an einen Mindestaufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland an. Vielmehr müsse jene wahlrechtliche Vertrautheit (und außerdem die Betroffenheit) beim Wähler tatsächlich, dem Wortlaut der Norm nach „persönlich und unmittelbar“ am Wahltag (noch) vorliegen. Die hier hergestellte Rückbindung an die Idee einer demokratischen Teilhabeberechtigung aufgrund aktueller Betroffenheit von politischen Entscheidungen folgt der oben aufgezeigten Grundlinie des Sondervotums der Richterin Lübbe-Wolff.1224 1. Rechtsstaatlicher Grundsatz der Bestimmtheit Das Erfordernis eines konkreten Mindestmaßes an Vertrautheit mit den poli­ tischen Verhältnissen ist nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG nunmehr eigene Zugangsbedingung zum Wahlrecht. Zuvor war das wahlrechtliche Vertrautheitserfordernis allein der implizite Gedanke zur Rechtfertigung der Sesshaftigkeitsklausel nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG und seiner Ausnahmebestimmung in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG. Der Wandel eines in diesem Sinne einfachen Begriffes zum Rechtsbegriff bedarf inhaltlicher Ausfüllung, insbesondere messbarer und justiziabler Anknüpfungspunkte.1225 Maßgeblich sind die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Anforderungen an die hinreichende Bestimmtheit einer 1222

Vgl. auch Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (246). Vgl. BVerfGE 132, 39 (56 f. Rn. 49) mit Zitat; darauf Bezug nehmend BT-Drs. 17/11820 S. 5. Der Gesetzestext entspricht nahezu der Formulierung des Verfassungsgerichts, ebd.: „Denn das Erfordernis eines früheren Aufenthaltes im Bundesgebiet bewirkt zu gleich, dass Auslandsdeutsche, die […] typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut oder betroffen sind […] vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen bleiben […]“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 1224 Näher dazu oben Erster Teil 5. Kapitel D. I.; so auch Germelmann, Jura 2014, S. 310 (321 f.); Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (60 ff. Rn. 59 ff.). 1225 BVerfGE 110, 33 (53 ff.). 1223

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Gesetzesnorm.1226 Hiernach müssen gesetzliche Tatbestände nach „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ derart präzise gefasst sein, dass der Regelungsinhalt für die Normadressaten, für den einzelnen Bürger ebenso wie für die Rechtsanwender, „voraussehbar und berechenbar“ wird.1227 Dies gilt unter dem streng egalitär ausgestalteten Regime der Allgemeinheit der Wahl und der politischen Selbstbestimmung des Einzelnen in verschärfter Weise.1228 Der Bürger muss deshalb bereits aus der Gesetzesnorm mit hinreichender Sicherheit erkennen können, ob er wahlberechtigt ist oder nicht.1229 Freilich schließt das die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Wahlrecht nicht kategorisch aus. Jedoch sind Rechtsvorschriften stets so präzise zu formulieren, wie dies im Hinblick auf die Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist.1230 Damit geht notwendig einher, dass die begriffliche Grenzziehung nicht dem Ermessen der ausführenden Verwaltungsbehörden überlassen bleiben darf.1231 Dies gilt entgegen einiger Teile der Literatur auch im Bereich des Auslandsdeutschenwahlrechts. Der Einwand, die Eingriffsintensität der Regelung sei hier aufgrund geringerer Betroffenheit der Auslandsdeutschen reduziert,1232 verfängt nicht. Denn dies bedingte eine unzulässige Aufwertung des Betroffenheitsgesichtspunktes bei der gesetzgeberischen Zuerkennung originär staatsbürgerlicher Rechte. Die Unterscheidung zwischen effektiver und nicht effektiver Staatsangehörigkeit ist im öffentlichen Recht, zumal im Verfassungsrecht, bei der Beurteilung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten aber unerheblich.1233 Zudem ist das Vertrautheitskriterium jedenfalls in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG als gesetzliches Tatbestandsmerkmal ausgestaltet und muss daher den strengen Anforderungen des rechtsstaatlich-demokratischen Bestimmtheitsgrundsatzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG genügen.1234 Allenfalls unvermeidbare, auch nicht mithilfe der anerkannten Auslegungsregeln überwindbare Unklarheiten in Randbereichen sind von Verfassungs wegen hinzunehmen.1235 Diesen Maßgaben hat sich die Neuregelung zu stellen. Sehr schnell wird klar, dass der Bedeutungsinhalt der „aus anderen Gründen“ erworbenen „Vertrautheit 1226

Vgl. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 77, 126. Vgl. BVerfGE 56, 1 (12); 108, 52 (75); 110, 33 (53 f.); Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 83. 1228 Oben Erster Teil 4. Kapitel C; siehe auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (472). 1229 Vgl. BVerfGE 37, 132 (142); 102, 254 (337); 103, 332 (384). 1230 St. Rspr. etwa BVerfGE 93, 213 (238); 102, 254 (337); ebenso Horn, in: Gornig / ders. / ​ Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (86). 1231 Vgl. BVerfGE 6, 32 (42); 20, 150 (158); 80, 137 (161); 110, 33 (54 f.); 114, 1 (53). 1232 So Grzeszick, ZG 2014, S. 239 (247); ders., Stellungnahme zu den Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – BT-Drs. 17/11819, 17/821, 17/11820 – Innenausschuss des Bundestages, Ausschuss-Drs. 17(4)634 E (ohne Seitenzahl), Ziff. D. I. 3. 1233 Vgl. dazu oben Nachwiese bei Fn. 1099. 1234 So auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (472). 1235 Vgl. BVerfGE 78, 205 (213); 103, 332 (384); Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (87). 1227

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mit den politischen Verhältnissen“ im Zusammenhang mit dem deutschen Wahlrecht jedweder greifbaren Präzision entbehrt.1236 Der Einzelne vermag der Regelung gerade nicht zu entnehmen, welche Voraussetzungen er konkret in seiner Person zu erfüllen hat, um wahlberechtigt zu sein. Begriffsindizierende und -ausfüllende Rechtsprechung gibt es naturgemäß nicht. Eine derartige Konkretisierung ist im Wahlverfahren auch nicht herbeizuführen, weil die Möglichkeiten der gerichtlichen Überprüfung der Wahlberechtigung vor Stimmabgabe von vornherein begrenzt sind. Nach § 49 BWahlG kann die wahlbehördliche Versagung der Wahlzulassung vor der Wahl nur in einem behördlichen Einspruchs- und Beschwerdeverfahren einer nachträglichen Überprüfung zugeführt werden. Die Überprüfung durch den Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages und später durch das Bundesverfassungsgericht kann erst im Wege des Wahlprüfungsverfahrens (Art 41 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. §§ 1 ff. WahlPrG, § 48 Abs. 1 BVerfGG) nach der Wahl erfolgen.1237 Jedenfalls nach gegenwärtigen Stand dürfte die in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG enthaltene Forderung nach einem „Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ einer rechtssicheren Auslegung nicht zugänglich sein. Dies gilt zumal angesichts der an anderer Stelle herausgearbeiteten Notwendigkeit zur Unterscheidung zwischen wahlrechtlicher Vertrautheit und der mit der Staatsangehörigkeit typischerweise zum Ausdruck gebrachten Verbundenheit zum Heimatstaat.1238 Auch die Gesetzesbegründung ist diesbezüglich nur bedingt erhellend. Der Gesetzgeber stellt hier konkrete Fallgruppen auf, in denen „nach Einzelfall und aufgrund eigener Erfahrung“ angenommen werden können soll, dass die zum Zwecke der Integrationsfunktion der Wahl gebotene Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen bestehe.1239 Hiernach solle ein „rein passives Konsumverhalten deutscher Medien“ nicht ausreichen.1240 Konkret werden – dann wiederum in allgemeiner Form – bezeichnet: „u. a. Ortskräfte mit deutscher Staatsangehörigkeit an deutschen Auslandsvertretungen“, „deutsche Mitarbeiter an Goetheinstituten“, an „deutschen geisteswissenschaftlichen Instituten im Ausland“, an „deutschen Auslandsschulen“, bei den „Auslandsbüros der politischen Stiftungen“, der „deutschen Entwicklungsarbeit“ oder der „Außenhandelskammer“ sowie „Korrespondenten deutscher Medien“. Ausdrücklich auf das Bundesverfassungsgericht beruft sich der 1236 Das dürfte auch dem Gesetzgeber selbst bewusst gewesen sein. Darauf deuten jedenfalls die Ausführungen des Abg. Wolfgang Wieland (Bündnis 90/Die Grünen) in der parlamentarischen Beratung v. 14.12.2012: „Unser Vorschlag ist, was Normenunklarheit angeht, nicht zu übertreffen, das muss man deutlich sagen“, Plenarprotokoll über die 215. Sitzung des 17. Bundestages, S. 26524 (C). 1237 Vgl. näher Felten, DÖV 2013, S. 466 (472); Pautsch / Müller-Törok, ZParl. 2016, S. 851 (855 ff.); ähnlich auch m. w. N. Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (87). 1238 Oben Erster Teil 5. Kapitel E. II. 2. c). 1239 Vgl. hierzu und im Folgenden BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1240 Bestätigt in Beschlussempfehlung des WahlprE v. 8.5.2014, WP 110/13, BT-Drs. 18/1710, S. 203 (205).

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Gesetzgeber auch bei der Einbeziehung von Grenzpendlern mit Wohnsitz im Ausland, „zumeist nahe der Bundesgrenze“, die ihre Arbeits- und Dienstleistung im Inland erbringen. Ebenso unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht sollen in Verbänden, Parteien und „sonstigen Organisationen“ engagierte Auslandsdeutsche, die wiederum in „erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland teilnehmen“, aktiv wahlberechtigt sein.1241 Die Aufzählung ist aber nicht abschließend.1242 Hier freilich, das hat bereits das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff zutreffend herausgestellt,1243 bestehen derart mannigfaltige Sachverhaltskonstellationen, dass die Gewährung oder Verweigerung der Wahlberechtigung gleichwohl letzten Endes von einer wertenden Einzelfallprüfung und -entscheidung durch die Wahlbehörden abhängt.1244 Mit dieser Neuregelung wird nicht nur von einem Teil der Staatsbürger für die Wahlteilnahme mehr verlangt als von Deutschen nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG, die wegen ihres Wohnsitzes für die Wahlberechtigung überhaupt keine konkrete Vertrautheit mit dem politischen Geschehen nachweisen müssen. Die konkrete Aufgabenzuweisung zur Prüfung der zahlreichen und im Einzelfall unklaren Fallgestaltungen an die gemeindlichen Wahlbehörden übersteigt auch deren Kompetenz im Gefüge unterschiedlicher Verwaltungsräume. Die grundlegende Zuweisung der Prüfung der Wahlberechtigung und Eintragung in das Wählerverzeichnis an die Gemeindebehörden nach § 16 Abs. 7 BWO muss im Lichte ihrer Stellung im organisatorischen Gesamtgefüge betrachtet werden. Im Zusammenhang mit dem Vollzug des Bundeswahlgesetzes bilden die Gemeinden bloß funktionsbezogene Hilfsorgane des Bundes, deren Eigenverantwortlichkeit sich im Wesentlichen auf organisatorische Tätigkeiten beschränkt.1245 Eine Prüfung der Wahlberechtigung in dem Umfange, wie sie dem Gesetzgeber nunmehr vorschwebt, überschreitet die Grenzen dieser eher formalen Prüfung der Wahlberechtigung anhand der Einwohnermeldedaten deutlich. Im Einzelfall ist etwa nicht klar, ob die bloße Arbeitssuche in Deutschland für die Herstellung der erforder­ lichen Vertrautheit ausreicht. Im Dunkeln bleibt auch, wie lange ein Arbeitsverhältnis bestehen muss, ob nur nachgewiesene Mitgliedschaften in Parteien oder nur 1241

Vgl. sämtliche Zitate bei BT-Drs. 17/11820, S. 5 f. Eine ganz ähnliche Aufzählung enthielt bereits die Gesetzesbegründung zur Einführung des 7. BWahlGÄndG 1985, BT-Drs. 9/1913, S. 10. Hier stand noch die Fünfjahresfrist in Rede, die für die genannte Personengruppe „die typische Obergrenze eines ersten beruflichen ‚auswärtigen‘ Aufenthalts“ ist. 1242 Darauf deutet schon der Zusatz „u. a.“ in der Gesetzesbegründung, ebd., S. 5 letzte Zeile hin, ebenso Felten, DÖV 2013, S. 466 (472). 1243 Vgl. BVerfGE 132, 39 (67 Rn. 67, 68 f. Rn. 69). 1244 Ebenso Sacksofsky, Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am Montag dem 14. Januar 2013 zu drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – BT-Drs. 17/11819, 17/11821, 17/11820 – sowie einem Änderungsantrag – Ausschuss-Drucks. 17(4)625, S. 6; Felten, DÖV 2013, 466 (472); Horn, in: Gornig  / ​ ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (89). 1245 Zur Stellung der Gemeinden als Wahlbehörden vgl. näher Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, Einführung Rn. 43.

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in bestimmten politischen oder politisch nahestehenden Vereinen hinreichen oder bereits die Mitwirkung im Dackelzüchter- oder Karnevalsverein1246 die Teilnahme „am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland […] im erheblichen Umfang“1247 begründet und so das „Mindestmaß an politischer Vertrautheit“ indiziert.1248 Die Beurteilung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen „nach Einzelfall“ ist eine wertende und damit inhaltliche Entscheidung, die sich für die Wahlbehörden keineswegs schon aus den Meldedaten der Betroffenen ergibt. Mangels gesetzlicher Konkretisierung obliegt den Gemeinden nahezu die gesamte Entscheidungsfreiheit darüber, ob bei dieser Gruppe Auslandsdeutscher im Einzelfall die Wahlberechtigungsvoraussetzungen vorliegen oder nicht. Der Bundeswahlleiter hebt gemäß den „Anwendungshinweisen zu § 12 Absatz 2 Nr. 2 BWG“ des Bundesministeriums des Inneren zwar ausdrücklich hervor, dass die Entscheidung über die Wahlberechtigung gerade nicht im Ermessen der Gemeinde liege.1249 Doch dies ist nur für die Anwendung auf der Rechtsfolgenseite zutreffend. Zuvor müssen auf Tatbestandsebene die Wahlzugangsvoraussetzungen sicher ermittelt werden, was im Zusammenhang mit § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG u. a. den konkreten Nachweis der Vertrautheit im Einzelfall bedingt. Es ist aber nicht hinnehmbar, die Zuerkennung des Wahlrechts als dem zentralen politischen Mitwirkungsrecht der Staatsbürger jeweils von einer Einzelfallprüfung durch die Exekutive abhängig zu machen, deren Ergebnis wegen des unklaren Wortlauts in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG für den Einzelnen nicht vorhersehbar ist. Dem Maßstab des Bestimmtheitsgebotes genügt diese Vorschrift nicht.1250

1246

Vgl. Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (69 Rn. 69). BT-Drs. 17/11820, S. 5 f. 1248 Vgl. näher Felten, DÖV 2013, S. 466 (472 f.), der in Bezug auf die Grenzpendler und sonstige „engagierte“ Auslandsstaatsbürger zu Recht auf die erheblichen Unsicherheiten bei der Normanwendung im Einzelnen hinweist; ähnlich Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (11). Hier helfen auch die „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz 2 Nr. 2 BWG“ des Bundesministeriums des Inneren nicht weiter, die im Wesentlichen auf die „Vergleichbarkeit“ der konkreten Fallgestaltung mit den Anforderungen des § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BWahlG abstellen und in diesem Zusammenhang zahlreiche weitere mögliche Fallgruppen bilden, dazu näher unten Erster Teil 6. Kapitel B. II. 4. Die Anwendungshinweise können auf der Internetseite des Bundeswahlleiters (www.bundeswahlleiter.de) abgerufen werden (zuletzt abgerufen am 16.7.2019). 1249 Vgl. ebd. (Fn. 1249), S. 4; ausdrücklich bestätigt durch Beschlussempfehlung des WahlprE v. 8.5.2014, WP 110/13, BT-Drs. 18/1710, S. 203 (206). 1250 So auch Felten, DÖV 2013, 466 (472); Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (89 f.); zweifelnd auch Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (452) mit Fn. 96; zweifelnd auch Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 26. 1247

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

2. Unterschiedliche Vertrautheitsanforderungen nach Nr. 2 gegenüber Nr. 1? Der Normtext des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG wirft noch weitere Fragen auf. Denn neben der fehlenden Bestimmtheit des Begriffes „Vertrautheit“ ist aus der Norm auch nicht ersichtlich, in welchem Maße diese, wie auch immer geartete „Vertrautheit“ beim Einzelnen vorliegen soll. Klar ist nur, dass die Vertrautheit abweichend vom Regelfall „persönlich und unmittelbar“ vom Wahlberechtigten erworben sein muss. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass die Vertrautheit – im Gegensatz zu Nr. 1, bei der diese bei Vorliegen der Voraussetzungen unwiderleglich vermutet wird – im Einzelfall aufgrund eigener Anschauung und Erfahrung konkret nachzuweisen ist.1251 Damit gehen die Anforderungen zum Nachweis der Wahlrechtsvoraussetzungen im konkreten Einzelfall eklatant auch über die im Wahlrecht geltenden Bedingungen zur Typisierung hinaus. Wie dargelegt beschreibt die Zulässigkeit typisierender Betrachtungsweisen noch hier vertretener Auffassung auch gleichzeitig die äußerste Grenze der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit im Wahlrecht. Die Regelung von Einzelfallgestaltungen ist angesichts der formal streng zu handhabenden Gleichbehandlung der Wahlberechtigten beim Zugang zur Wahl ausgeschlossen.1252 Bei Geltung eines egalitären Demokratieverständnisses darf eine das materielle Wahlrecht begründende gesetzliche Norm deshalb gerade nicht die politische Vertrautheit „aus sonstigen Gründen“ nach Lage des Einzelfalls fordern. Gleiches gilt für die daran tatbestandlich angeschlossene Bedingung der individuellen Betroffenheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland. Neben den erheblichen Auslegungsschwierigkeiten ist an dieser Stelle explizit auch darauf hinzuweisen, dass nicht einmal das Bundesverfassungsgericht die Ausgestaltung der „Härteklausel“1253 in der hier vorliegenden Form gefordert hatte. Es hat dem Gesetzgeber vielmehr nahegelegt, „Auslandsdeutsche, die […] typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut und von ihnen betroffen sind“ entgegen der älteren Regelung als Wahlberechtigte anzuerkennen.1254 Unmissverständlich betont das Gericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine typisierende Regelung.1255 Dem ist der Gesetzgeber nicht nachgekommen. Vielmehr gibt er gerade hier die typisierende Betrachtungsweise zugunsten einer einzelfallbezogenen Prüfung der Wahlrechtsvoraussetzungen auf. Der Nachweis konkret materieller Gründe gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG ist aber weit schwieriger zu erfüllen als die melderechtlich-formal nachvollziehbare Tatsache eines gegenwärtigen oder früheren Wohnsitzes oder Aufenthaltes im Inland ge 1251 So ausdrücklich BT-Drs. 17/11820, S. 5, vgl. oben Nachweis bei Fn. 363; zur Nachweispflicht vgl. auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (87). 1252 Vgl. dazu bereits Erster Teil 5. Kapitel E. II. 3. b). 1253 Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (451 f.). 1254 Zitat bei BVerfGE 132, 39 (56 f. Rn. 49). 1255 Vgl. ebenso Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 26.

6. Kap.: Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung 

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mäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 oder Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG.1256 Für diese Ungleichbehandlung unter den potenziell Wahlberechtigten  – innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BWahlG) ebenso wie in der Gesamtheit aller Inlands- und Auslandsdeutschen (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 BWahlG) – fehlt es an einem rechtfertigenden Grund. Denn die mit dem wahlrechtlichen Sesshaftigkeitserfordernis bezweckte Sicherung der Vertrautheit des Wählers mit den politischen Verhältnissen bildet bereits das Kriterium der Ungleichbehandlung und fällt daher als mögliche Rechtfertigung aus.1257 Angesichts der im Wahlrecht gebotenen Typisierung der Sachverhalte und des insoweit eng begrenzten gesetzgeberischen Regelungsspielraums1258 kann es – entgegen dem gesetzgeberischen Vorschlag zur Prüfung im Einzelfall – daher nicht auf konkrete subjektive Kenntnis oder gar Empfindung des Einzelnen ankommen. Ferner wird sich auch schwerlich nachweisen lassen, in welcher Art die Betroffenen am politischen Leben teilnehmen, zumal in den Fällen der Mitgliedschaft in besonderen Organisationen laut Gesetzesbegründung sogar die Teilnahme in „erheblichen Umfang“ gefordert ist, um die wahlrechtliche Vertrautheit zu indizieren. Mit seiner Forderung nach einem Nachweis konkreter Vertrautheit überspannt der Gesetzgeber insgesamt seine Regelungsmöglichkeiten. Daran ändern auch die Relativierungsversuche in der Gesetzesbegründung nichts, wonach die Einbeziehung von Auslandsdeutschen außerhalb der Nr. 1 „verfassungsrechtlich geboten“ sein kann, „soweit sie tatsächlich typischerweise mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland vertraut und von ihnen betroffen sind […]“.1259 Eine aufgrund konkret nachzuweisender Umstände „tatsächlich typischerweise“ angenommene Vertrautheit ist begrifflich bereits in sich widersprüchlich. 3. Betroffenheit als eigenständiges Vertrautheitskriterium In diesem wie auch dem nun folgenden Zusammenhang unterläuft dem Gesetzgeber aber auch ein Systembruch. Denn neben der bislang nicht normierten Vertrautheit wird neuerlich auch – in der 2. Alternative des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG – die Betroffenheit des Einzelnen von den „politischen Verhältnissen“ vorausgesetzt. Betroffenheitsgesichtspunkte, was auch immer im Sachbereich der Wahlen hierunter zu verstehen sei,1260 sind im demokratischen Rechtsstaat kein Kriterium für die Zuerkennung politischer Rechte zur Wahl der Volksvertre 1256

Vgl. Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (87). Vgl. ebd., S. 88. 1258 So auch Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (453). 1259 Vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 5. 1260 Ein Auslandsdeutscher, der von der deutschen Strafjustiz im Ausland verfolgt wird (internationale Strafverfolgung), ist ebenso ein von deutschen Verhältnissen „Betroffener“, wenngleich der Gesetzgeber diese Gruppe bei der Neuregelung freilich nicht im Blick gehabt haben dürfte. 1257

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

tung.1261 Hingegen wird bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen und damit die Möglichkeit der informierten Mitwirkung an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland typischerweise (noch) indiziert;1262 auf Betroffenheitsgesichtspunkte kommt es dem Gesetzgeber hier also gerade nicht an. Die hiermit entstehenden Wertungsdifferenzen innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BWahlG zur Beurteilung der individuellen Wahlzugangsberechtigung finden im geltenden Recht keine Stütze. Es ist überdies auch insgesamt nicht nachvollziehbar, warum Auslandsdeutsche, deren Fortzug nach dem 14. Lebensjahr länger als 25 Jahre zurückliegt, für die Zuerkennung ihrer Wahlberechtigung über die Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit hinaus die Betroffenheit von den politischen Verhältnissen glaubhaft machen müssen.1263 Allein das Band der Staatsangehörigkeit, als personale Dauerbeziehung ausgestaltet, hat im Zusammenhang mit Mensch, Volk und Staat eine substantielle, nicht nur technische Bedeutung.1264 Dies ist im Sachbereich der Wahlen nach hier vertretener Auffassung Ausweis der Betroffenheit genug, teilen doch jene Auslandsdeutschen ebenso nicht minder das Schicksal ihres deutschen Staates, unabhängig davon, wo sie sich zum Wahlzeitpunkt befinden. Das Erfordernis einer darüber hinausgehenden Betroffenheit, etwa durch Finanz- oder gar Strafverfolgungsbehörden, zur Feststellung einer individuellen Integration in das politische Geschehen, wird dem vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellten typisierenden Charakter des Wahlrechts nicht gerecht. Eine Unterscheidung zwischen typischerweise noch informierten und konkret betroffenen Auslandsdeutschen im Wahlrecht missachtet daher den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. So haben auch die Wahlbehörden dem Kriterium der Betroffenheit in verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes im Einzelfall keine Beachtung zu schenken.1265 4. Probleme auf Anwendungsebene Nur der Vollständigkeit halber ist für die Anwendungsebene auf das Folgende hinzuweisen: Setzt man den Wortlaut des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG in den Kontext der Gesetzesbegründung, so zeigt sich, dass der Gesetzgeber die im Einzelfall nachzuweisende eigene und unmittelbare Vertrautheit in erster Linie an die Ausübung eines bestimmten Berufes im Ausland knüpft, der in einer bestimmten Weise in Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland steht. Hier sei auf die Auf 1261 In diese Richtung zielt aber das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (64 Rn. 64 und 66, Rn. 66), dazu auch ausgeführt oben Erster Teil 5. Kapitel D. II. 2. 1262 BT-Drs. 17/11820, S. 4 f. 1263 Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/11820, S. 4 ff.) äußert sich dazu jedenfalls nicht explizit. 1264 Vgl. Isensee, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49 (91 ff.). 1265 Ebenso Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (90).

6. Kap.: Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung 

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zählung in der Gesetzesbegründung verwiesen, wonach insbesondere Ortskräfte deutscher Auslandsvertretungen, Mitarbeiter an Goetheinstituten, Auslandsbüros politischer Stiftungen etc. „wahlberechtigt sein […] können“.1266 Freilich verhält sich der Gesetzgeber hier „geschickt“, indem er auf die entsprechende Nennung von Regelbeispielen im Gesetz verzichtet und auch die beispielhafte Aufzählung in der Begründung nicht als abschließend verstanden wissen will („unter anderem“). Trotzdem gerät jedenfalls die gesetzgeberische Intention in jene nicht ungefährliche Nähe, die an anderer Stelle bereits wegen verfassungsrechtlicher Bedenken überwunden geglaubt schien: nämlich die Anknüpfung des Wahlrechts an subjektive, in der Person des Wählers liegende Kriterien.1267 Die Privilegierung nur bestimmter Berufsgruppen kommt einem solch unzulässigen persönlichen Differenzierungskriterium zumindest nahe.1268 Deshalb stellen die „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz 2 Nr. 2 BWG“ des Bundesministeriums des Inneren in erster Linie auch nicht auf die berufsspezifische Aufzählung in der Gesetzesbegründung ab, sondern auf die Vergleichbarkeit der Fallgruppen zu Nr. 1. Die Aufzählung in der Gesetzesbegründung sei kein „Katalog“, sondern verdeutliche lediglich Beispiele, „in denen eine persönliche und unmittelbare Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland […] aus anderen, mit dem Grundtatbestand vergleichbaren Gründen nahe liegt“.1269 Tatsächlich fügen die „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz 2 Satz 2 BWG“ eigene Fallgruppen hinzu, bei denen er die „Nähe zum Tatbestand des § 12 Absatz 2 Nr. 1 BWG“ unabhängig vom Beruf annimmt. So komme die „Vergleichbarkeit“ „typischerweise in Frage“, wenn die unwiderlegliche Vermutung nur deshalb nicht greife, weil „eines der Tatbestandsmerkmale des § 12 Absatz 2 Nr. 1 BWG teilweise, aber nicht vollständig erfüllt“ sei. Dies sei etwa bei geringfügiger Überschreitung der Fortzugsfrist oder Unterschreitung des Mindestalters bzw. der Mindestfrist der Fall. Als „Beispiele“ werden genannt ein Deutscher, der nach Schulbesuch „mit 12 Jahren in das Ausland gezogen“ sei oder ein seit 26 Jahren im Ausland lebender „Rentner“, der „einen Bezug zu Deutschland durch regelmäßige, jeweils weniger als 3 Monate dauernde Deutschlandbesuche oder eine (nicht meldepflichtige) Ferienwohnung in Deutschland aufrechterhalten“ habe.1270 Daneben werden Spezifizierungen bei

1266

BT-Drs. 17/11820, S. 5. Vgl. BVerfGE 12, 139 (142); 15, 165 (166 f.); 36, 139 (141); auch Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (253 f.). Der Gesetzgeber verzichtete seit Erlass des 7. BWahlGÄndG 1985 bislang bewusst auf „personengruppenbezogene“ Differenzierung, vgl. Bericht der Abg. Kiehm, Krei und Dr. Hirsch, BT-Drs. 10/2834, S. 24. 1268 Kritisch auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (19 ff.); Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81 und 101 f.); v. Münch, in: ders. / Kunig (Hrsg.), GG3, Bd. 2, Art. 38 Rn. 48; Achterberg / Schulte, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), GG6, Bd. 2, Art. 38 Abs. 1 Rn. 120. 1269 Vgl. „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz 2 Nr. 2 BWG“ (Fn. 1249), S. 1 f. (Hervorhebung im Original). 1270 Sämtliche Zitate bei „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz 2 Nr. 2 BWG“, ebd., S. 2, Ziff. 1 (Hervorhebung im Original). Wie diese Regelmäßigkeit im Einzelfall aber nachgewiesen werden soll, erscheint sehr fraglich. 1267

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Grenzgängern und bei einem Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen vorgenommen.1271 So besehen mag man auf Anwendungsebene den strengen Anforderungen zulässiger Differenzierungskriterien gerade noch Rechnung tragen. Doch sticht ins Auge, dass die vom Bundesministerium des Inneren ergangenen „Anwendungshinweise zu § 12 Absatz. 2 Nr. 2 BWG“ inhaltlich in Spannung zur rechtsstaatlichen Geltung des Vorrangs und des Vorbehalts einer gesetzlichen Regelung (Art. 20 Abs. 3 GG) geraten. Unter dem Postulat der „Vergleichbarkeit“ modifiziert die Exekutive die gesetzgeberische Regel des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG teilweise wieder, indem sie auf der Basis einer Rechtsnorm (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG), die für sich schon den verfassungsmäßigen Anforderungen an die Bestimmtheit nicht genügt,1272 zugunsten einzelner Auslandsdeutscher im Wege einer Verwaltungsvorschrift eigenmächtig Relativierungen an der in Nr. 1 festgelegten Fortzugsfrist, dem Mindestalter und -aufenthalt „im Einzelfall“ vornimmt. Selbst wenn die gesetzgeberische Formulierung „aus anderen Gründen“ in der Nr. 2 gleichzeitig eine Ermächtigung zur großzügigen Anwendung der Nr. 1 im Einzelfall enthalten sollte,1273 genügt dieser dann nahezu beliebige Gesetzesvollzug zugunsten Einzelner keinesfalls den Kriterien streng egalitärer Teilhabe an der politischen Mitbestimmung aller. Hier stellen sich auf Tatsachenebene schwierige Abgrenzungsfragen vor dem Hintergrund des formalisierten Gleichbehandlungsgrundsatzes, zu deren Beantwortung der Gesetzgeber keine typisierenden Vorgaben gemacht hat und die auch nicht allein im Wege der juristischen Auslegungsmethoden genügend sicher zu beantworten sind. Die im Nachgang zur Bundestagswahl 2013 zahlreich erhobenen Eingaben deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Polen an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages bestätigen jedenfalls bereits jetzt erhebliche Defizite beim Vollzug des neugefassten § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG.1274 Dies wird noch dadurch verstärkt, dass etwa die fehlerhafte Nichteintragung eines im Ausland lebenden Deutschen ins Wählerverzeichnis nur mittels einer Wahlprüfungsbeschwerde rügefähig ist. Deren Erfolg knüpft der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages in Anerkennung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts1275 materiell u. a. stets an die Mandatsrelevanz, also der Möglichkeit, dass sich der Wahlfehler auf die Sitzverteilung im Bundestag ausgewirkt hat oder auswirken könnte.1276 Weil dies aber in der soeben dargestellten oder in ähnlichen Konstellation regelmäßig nicht der

1271

Vgl. ebd., S. 2 f. (Ziff. 2 und 3). Vgl. oben Erster Teil 6. Kapitel B. II. 1. 1273 Weder dem zugrundeliegenden Urteil (BVerfGE 132, 39 ff.), noch der maßgeblichen Gesetzesbegründung lässt sich ein solcher Ausgestaltungshinweis entnehmen. 1274 Dementsprechend war etwa der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit zahlreichen Eingaben betreffend der Änderungen im Wahlrecht befasst, vgl. Bericht des Petitionsausschusses (2. Ausschuss), BT-Drs. 18/4990, S. 18. 1275 BVerfGE 40, 11 (29); 59, 119 (123); 121, 266 (310 f.). 1276 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. 41 Rn. 110 f. 1272

6. Kap.: Umsetzung durch das 21. Gesetz zur Änderung 

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Fall ist, bleiben tatsächlich festgestellte Fehler bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl „faktisch nicht justiziabel“.1277 III. Zusammenfassung Alles in allem fällt das Fazit wenig überraschend aus. Schon die gesetzliche Unterscheidung zwischen Inlands- und Auslandsdeutschen, die die Sesshaftigkeitsklausel nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG unternimmt, verstößt bereits gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Gleiches gilt für die Neuregelung der Ausnahmebestimmungen, die diese Unterscheidung zu ihrer maßgeblichen Grundlage gemacht hat. Darüber hinaus ist sie mit übrigem Verfassungsrecht nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG getroffene Festsetzung von Fortzugsfristen ist willkürlich. Sie beruht auf nicht mehr nachvollziehbaren Wertungen des Gesetzgebers zu der fortschreitenden technischen Entwicklung kommunikativer Vernetzung. Diese waren noch im Jahr 2007 Anlass dafür gewesen, im Bundeswahlgesetz auf Fortzugsfristen gänzlich zu verzichten und das Wahlrecht entsprechend anzupassen.1278 An dieser Tatsachengrundlage hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Derzeit sind die Möglichkeiten ortsunabhängiger Kommunikation in Echtzeit so groß wie nie. Hier hat sich der Gesetzgeber durch die gegenteiligen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts irritieren lassen, die ihrerseits aber jedweder Tatsachengrundlage entbehren. Der neu eingeführte Tatbestand des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG verstößt wegen der zu unbestimmten Begriffsfassung von „Vertrautheit“ gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Zudem laufen die in der Norm statuierten Vertrautheitsanforderungen („persönlich und unmittelbar“) ohne Not auf eine wahlrechtliche Härtefallregelung hinaus, die die mit der Typisierung bewirkte und im Wahlrecht gebotene streng formale Gleichbehandlung in Teilen wieder zunichtemacht.1279 Denn einen Nachweis der konkret erlangten Vertrautheit im Einzelfall hat nicht einmal das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2012 gefordert. Die kumulierte Anknüpfung der Wahlberechtigung an die Betroffenheit des Einzelnen mit den politischen Verhältnissen findet in der Verfassung zudem keine Stütze. Letzteres schlägt sich auch in der Anwendung des Gesetzes nieder, indem den Wahlbehörden bei Bestimmung der Tatbestandsmäßigkeit ein zu weitreichender Wertungsspielraum eingeräumt wird. Zwar werden die in der Gesetzesbegründung 1277

Vgl. mit Zitat Pautsch / Müller-Törok, ZParl. 2016, S. 851 (855 ff.). Vgl. Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts, v. 11.12.2007, BT-Drs. 16/7461, S. 16. 1279 Ebenso Mann / Pohl, in: Becker / Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung, Bd. 3, S. 435 (452). 1278

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

angeregten „Beispiele“ nicht in gleichheitswidriger Weise angewandt, sondern über das Kriterium der „Vergleichbarkeit“ mit § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG zumindest teilweise „verobjektiviert“. Gleichwohl entbehrt dies jedweder konkreten Anknüpfung im Gesetz. Bei extensiver Auslegung könnte die Wahlbehörde also § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG auch als „Korrektiv“ nutzen, um die strenge Typisierung im Wahlrecht im konkreten Einzelfall zu umgehen bzw. abzumildern. So sind aber die Entscheidungen über die Zuerkennung des Wahlrechts nicht mehr vorsehbar und daher – auch aus Gründen der nicht mehr gewährleisteten Gleichbehandlung – verfassungsrechtlich unhaltbar. 7. Kapitel

Maßgaben für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens Angesichts der bis hierhin erarbeiteten Befunde ist der Gesetzgeber gut beraten, § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BWahlG im parlamentarischen Verfahren aufzuheben. Nur so wird der verfassungsrechtlich garantierte Zugang zur Wahl allen Staatsbürgern zuteil, ohne dass der Gesetzgeber über weitere Anforderungen beschließt, die jedweder verfassungsrechtlicher Grundlage entbehren. Damit sollte auch die Aufhebung des § 12 Abs. 2 bis 5 BWahlG im Wege der Rechtsbereinigung einhergehen. Diese Vorschriften, die allesamt ihren Bezugspunkt in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG finden,1280 haben nach Fortfall der Norm keinen Sinn mehr. Die hinsichtlich des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG ebenfalls festgestellte Verfassungswidrigkeit1281 wirkt sich dann nicht mehr aus. Die Norm bedarf keiner Neuregelung. Die hier vorgeschlagene Aufhebung des § 12 Abs. 1 Nr. 2 und § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG hat auch Auswirkungen auf die näheren Regelungen zur Durchführung des Wahlverfahrens nach § 14 BWahlG i. V. m. § 16 BWO. Diese betreffen insbesondere das Wohnsitzverständnis im Wahlrecht und das Verfahren zur Eintragung in eine Wählerliste.

A. Rein formelles Wohnsitzverständnis Aufgrund der hier vorgenommenen Analyse steht fest, dass ein das aktive materielle Wahlrecht erst konstituierendes Wohnsitzverständnis vor der Verfassung keinen Bestand haben kann. Soweit Vorschriften im BWahlG und der BWO zur Regelung der Ausübung des Wahlrechts auf den Wohnsitz abheben,1282 kommt diesem Kriterium allein formeller Charakter im rein verfahrensrechtlichen Sinne zu. Konkret betrifft das die Erstellung eines Wählerverzeichnisses nach §§ 14, 17 BWahlG 1280

Trute, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG6, Bd. 1, Art. 38 Rn. 23. Erster Teil 6. Kapitel B. 1282 Dazu oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 2. 1281

7. Kap.: Maßgaben für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens

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i. V. m. §§ 14 ff. BWO. Es wird von Amts wegen (§ 17 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) und in erster Linie auf Basis der innerbehördlichen Melderegisterdaten erstellt. Die Eintragung in das Wählerverzeichnis bedingt die materielle Wahlberechtigung und berechtigt formell zur Ausübung des Wahlrechts.1283 Dem melderechtlichen Hauptwohnsitz kommt bereits hier eine hervorgehobene Bedeutung zu. Denn er ist gemäß §§ 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 Satz 1 BWO für die zuständigen Wahlbehörden der prozedurale Anknüpfungspunkt der individuellen Zuordnung des aktiv Wahlberechtigten zu einem konkreten Wahlkreis.1284 Demgemäß enthält das Wählerverzeichnis neben den Angaben über den Vor- und Zunamen sowie das Geburtsdatum auch die Angabe des für die Wahlkreiszuordnung maßgeblichen Wohnsitzes.1285 Darüber hinaus kommt dem im Wählerverzeichnis aufgeführten Wohnsitz eine weitere wichtige Funktion zu. Da grundsätzlich nur jene im Wählerverzeichnis des jeweiligen Wahlkreises gelisteten Personen ihr Wahlrecht ausüben dürfen, ist sichergestellt, dass jeder Wahlberechtigte seine Stimme nur einmal abgeben kann (vgl. § 14 Abs. 4 BWahlG). Diese notwendige Beschränkung sichert die Integrität demokratischer Wahlen.1286 In diesem eher verfahrenstechnisch verstandenen Sinne ist die Wohnsitzbestimmung im Bundeswahlrecht unbedenklich.1287 Einer Mindestwohnsitz- oder Aufenthaltsfrist bedarf es demgemäß nicht. Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt sind nur rein äußere Anknüpfungspunkte für die Eintragung in das örtliche Wählerverzeichnis. Es gilt allein ein konkreter Stichtag, den § 16 Abs. 1 BWO auf den 35. Tag vor der Wahl bestimmt hat. Dies ist nicht zu beanstanden. Derart findet die Wohnsitzbestimmung in der Tat historische Vorbilder in den vom Bundesverfassungsgericht zitierten1288 Reichswahlgesetzen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Doch die Übertragung des historischen Rechtsgedankens ist nur insoweit gerechtfertigt, als auch mit den frühen Wohnsitzbestimmungen die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe im Mittelpunkt gestanden haben könnte. Gegenwärtig wird der wahlrechtliche Wohnsitzbegriff in § 12 Abs. 3 BWahlG legaldefiniert. Wohnung i. S. d Wahlrechts ist hiernach „jeder umschlossene Raum, der zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird“. Der wahlrechtliche Wohnungsbegriff entspricht seinem Inhalt nach dem Wohnungsbegriff des Melderechts (§ 20 BMG),1289 von dem auch die BWO ausgeht. Die Wahlausübungsregelungen 1283

Näher Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 2, 5; vgl. auch oben Erster Teil 1.  Kapitel  B. II. 2.  1284 Näher oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 1. c). 1285 Dazu näher StGH Bremen, NVwZ-RR 2008, S. 660; OVG Lüneburg, DÖV 1985, S. 153 ff. 1286 Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 5. 1287 So auch Hahlen, ebd., mit Hinweis auf die in Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützte informationelle Selbstbestimmung. 1288 BVerfGE 36, 139 (141 f.); 58 202 (205), ebenso BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 1289 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 35.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

des § 14 BWahlG enthalten demgemäß keinen eigenen Hinweis auf den Wohnungsbegriff. Dass die Eintragung in das Wählerverzeichnis gemäß § 14 Abs. 2 BWahlG von Amts wegen verfahrensrechtlich regelmäßig an den melderechtlichen Wohnsitz geknüpft ist, offenbart erst § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWO. Mit Fortfall der Definition in § 12 Abs. 3 BWahlG infolge der hier wegen Verfassungswidrigkeit geforderten Aufhebung des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ist es erforderlich, den wahlrechtlichen Wohnsitzbegriff mit unverändertem Bedeutungsgehalt den Vorschriften der BWO zur Eintragung in das Wählerverzeichnis hinzuzufügen, um die Übernahme des melderechtlichen Wohnsitzbegriffes im Bundestagswahlrecht zu dokumentieren. Am Charakter des wahlrechtlichen Wohnsitzbegriffes ändert sich dadurch nichts. Dieser orientiert sich – wie im Melderecht – an rein tatsächlichen Vorgängen, ist also mit dem Wohnsitzbegriff des § 7 BGB nicht identisch.

B. Antragserfordernis Um an der Bundestagswahl teilnehmen zu dürfen, müssen wahlberechtigte Auslandsdeutsche schon nach aktueller Rechtslage gemäß § 16 Abs. 2 Nr. 2 BWO einen Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis stellen. Die Antragspflicht wird in § 16 BWO auch auf weitere Wählergruppen ausgedehnt. So sind auf Antrag jene Staatsbürger einzutragen, die sich, ohne eine Wohnung innezuhaben, im Wahlgebiet sonst gewöhnlich aufhalten (§ 16 Abs. 2 Nr. 1 lit. b) BWO), zum Stichtag infolge eines strafrechtlichen Urteils in einer Justizvollzuganstalt befinden (§ 16 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) BWO) oder im Ausland sesshaft sind (§ 16 Abs. 2 Nr. 2 BWO). Das Antragserfordernis ergibt sich insbesondere aus praktischen Erwägungen, wonach die Behörde in diesen Fällen regelmäßig nicht in der Lage ist, den tatsächlichen Aufenthalt zum Wahltag amtlich festzustellen.1290 In der Praxis wird der erfolgreiche Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis zugleich als Antrag auf Erteilung eines Wahlscheins gedeutet; mit dem Wahlschein werden sodann automatisch die Briefwahlunterlagen zugesandt.1291 An der Antragspflicht muss auch nach Wegfall der Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG festgehalten werden, weil den Wahlbehörden eine zustellungsfähige Adresse der im Ausland wohnhaften Deutschen regelmäßig nicht vorliegt. Zwar sind die Auslandsdeutschen bei Fortzug ins Ausland gegenüber ihrer Wohnsitzgemeinde gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 BMG verpflichtet, sich abzumelden.1292 Eine darüber hinausgehende Meldepflicht, etwa im Hinblick auf die Wohnanschrift im Zielland, besteht nach aktueller Rechtslage jedoch nicht. Dies gilt sowohl für den Erstbezug einer Wohnung im Ausland wie auch für alle weiteren dauerhaften Wohnortwechsel. Zudem erfolgt bei einem Wegzug ohne Abmel­ 1290

Ebenso Prüfbericht des Bundesministeriums des Inneren an den Bundestag v. 14.5.2008, BT-Drs. 16/9253, S. 3 und 4. 1291 Vgl. Mohamed, DÖV 2017, S. 890 (891). 1292 VG Köln, Urt. v. 19.3.2014, – 10 K 3483/13 (juris).

7. Kap.: Maßgaben für die Ausgestaltung des Wahlverfahrens

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dung ins Ausland eine melderechtliche Rückmeldung der aufnehmenden ausländischen Gebietskörperschaft an deutsche Meldebehörden regelmäßig nicht.1293 Eine Eintragung von Amtswegen gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) BWO kommt insoweit nicht in Betracht. Das zieht eine Anpassung des § 16 Abs. 2 Nr. 2 BWO nach sich, der de lege lata noch Bezug auf § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG nimmt. Dieser Bezug entfällt mit Wegfall des § 12 Abs. 2 BWahlG. Die Antragspflicht bezieht sich nunmehr auf alle wahlberechtigten Deutschen gemäß § 12 Abs. 1 BWahlG, die am Wahltag ihren Wohnsitz oder dauerhaften Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben und nicht nach § 16 Abs. 1 1 Nr. 1 BWO von Amts wegen in das Wählerverzeichnis einzutragen sind.1294 Der förmliche Antrag1295 ist wie bisher an die Gemeindebehörde zu richten, in deren Bezirk der letzte im Inland gemeldete Hauptwohnsitz bestanden hat.1296 Hier erfolgt auch die Stimmabgabe, in der Regel durch Briefwahl. Allein im Hinblick auf Auslandsdeutsche, die zu keinem Zeitpunkt einen meldepflichtigen Wohnsitz in der Bundesrepublik innehatten, ist die Bestimmung der zuständigen Wahl­behörde problematisch. Will man jene Auslandsdeutschen nicht in einem besonderen Wahlkreis konzentrieren, kommt als zuständige Wahlbehörde nur die Gemeinde in Betracht, in der die direkten Vorfahren des betreffenden Auslandsdeutschen ihren letzten Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt vor ihrem Fortzug ins Ausland hatten. Insgesamt wird durch die Anknüpfung an die unmittelbaren oder – im Falle der bereits dauerhaft im Ausland sesshaften Zweit- und ggf. Folgegenerationen deutscher Staatsbürger – mittelbaren Fortzugsgemeinden eine Streuung der im Ausland lebenden Wahlberechtigten erreicht und damit eine Konzentration auf einen Wahlkreis oder wenige Wahlkreise vermieden.1297 Teile der jüngeren Literatur schlagen alternativ die Einrichtung von Auslandswahlkreisen vor.1298 Auch dieser Vorschlag, der dem französischen Wahlrecht entstammt,1299 ist für das deutsche Auslandsdeutschenwahlrecht durchaus diskussionswürdig. Eine freie Wahl der Wahlgemeinde für Auslandsdeutsche ist hingegen abzulehnen. Das fortbestehende Antragserfordernis kommt schließlich auch all jenen Stimmen entgegen, die das aktive Wahlrecht entgegen hier vertretener Auffassung von einer unmittelbar erworbenen Vertrautheit abhängig machen wollen. Das Antragserfordernis bedeutet, dass jeder Auslandsdeutsche zur Möglichkeit der Ausübung seines Wahlrechts zunächst selbst initiativ werden muss. Tut er dies nicht oder wen 1293

VG München, Urt. v. 3.7.1998, -M 7 K 96.5750, juris-Rn. 56; Mohamed, DÖV 2017, S. 890 (891). 1294 Etwa weil im Inland noch eine weitere Wohnung gemeldet ist, § 16 Abs. 1 Nr. 1 BWO. 1295 § 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1 BWO i. V. m. Formblatt nach Anl. 2 zu § 18 Abs. 5 BWO. 1296 Vgl. oben Erster Teil 1. Kapitel B. II. 2. Davon geht auch die Gesetzesbegründung zum 21. BWahlGÄndG 2013 aus, vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 6. 1297 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 31. 1298 Vgl. Mohamed, DÖV 2017, S. 890 (897); ebenso Morlok / Bäcker, MIP 2013, S. 5 (12). 1299 Näher Braillat, in: Gornig / Horn / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 195 ff.

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

det er sich an eine unzuständige Stelle, ist das zu seinem Nachteil.1300 Ungeachtet dessen werden die Auslandsbürger zwar frühzeitig und vielfältig sowohl von den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland1301 als auch von den zuständigen Behörden der Bundesregierung1302 über die Möglichkeit ihrer Wahlteilnahme informiert. Die Verantwortung für den rechtzeitigen Zugang sowohl des Antrags auf Eintragung in die Wählerliste1303 als auch der von den Wahlbehörden übersandten1304 Wahlunterlagen1305 trägt jeder Auslandsdeutsche selbst. Dementsprechend ist die Wahlbeteiligung von Auslandsdeutschen gemessen an der Anzahl der potenziell wahlberechtigten Auslandsbürger gering. Angesichts des mit der Wahlhandlung verbundenen Aufwandes, der vom Einzelnen aus dem Ausland jeweils zu leisten ist, streiten dennoch die besseren Gründe für die typisierende Annahme, dass jeder, der an der Wahl teilnimmt bzw. teilnehmen will, eben gerade dadurch sein Interesse an den politischen Verhältnissen in Deutschland zum Ausdruck bringt, dass er diesen Aufwand auf sich nimmt.1306 Etwaige Randunschärfen sind zugunsten der Allgemeinheit der Wahl insoweit hinzunehmen.

1300 Vgl. dazu Beschlussempfehlung des WahlprE v. 8.5.2014, -WP 74/13, BT-Drs. 18/1710, S. 137 f. 1301 Die diesbezüglichen Verpflichtungen der Auslandsvertretungen zur Bekanntmachung des Wahltermins regelt § 20 Abs. 2 BWO. 1302 Vgl. dazu näher Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 31: Hier sind insbesondere die Informationen des Bundes-Presseamtes hervorzuheben, die ebenfalls über die deutschen Auslandsvertretungen, Außenhandelskammern, Goethe-Instituten im Ausland und sonstigen Einrichtungen mit Auslandsbezug via Printmedien oder Internet erfolgen; ebenfalls veröffentlicht der Bundeswahlleiter sowohl im Internet als auch im Bundesanzeiger entsprechende Informationen, etwa BAnz. Nr. 117 v. 26.6.2005, S. 9674; Nr. 159 v. 24.8.2005, S. 12812 und Nr. 165 v. 1.9.2005, S. 13144. 1303 Vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 BWO: „schriftlich bis spätestens zum 21. Tage vor der Wahl“. 1304 Geregelt in § 28 Abs. 4 S. 1 BWO: Versendung an Wohnanschrift (zudem vgl. S. 4: Luftpost bei Wahl aus außereuropäischem Gebiet). 1305 Hier wird die Stimmabgabe regelmäßig durch Briefwahl (§ 66 Abs. 1 BWO) erfolgen, vgl. dazu auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 184 f. Die Stimmabgabe ist nur bei rechtzeitigem Posteingang in der zuständigen Wahlbehörde gültig. Hier gilt § 47 Abs. 1 BWO, wonach auch die Briefwahlunterlagen der zuständigen Stelle spätestens am Wahltag, Punkt 18:00 Uhr vorliegen müssen. 1306 So auch Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (80 f.); ebenso Sacksofsky, Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am Montag dem 14. Januar 2013 zu drei Gesetzentwürfen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes – BT-Drs. 17/11819, 17/11821, 17/11820 – sowie einem Änderungsantrag – Ausschuss-Drucks. 17(4)625, S. 5; dies., in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 6 Rn. 36. In diese Richtung geht auch Ziff. 1 der Empfehlung der Europäischen Kommission v. 29.1.2014, wonach die Verbundenheit mit den heimatlichen politischen Verhältnissen jedenfalls für EU-Bürger auch mit einem – ggf. regelmäßig zu wiederholenden – Antrag auf Verbleib im Wählerverzeichnis nachgewiesen werden könne, ABl.EU 2014 L 32/34, und Mitteilung v. 29.1.2014, COM (2014) Nr. 33.

Ergebnisse des Ersten Teils

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Ergebnisse des Ersten Teils I. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Tragfähigkeit der in der gegenwärtigen Diskussion vorgebrachten Argumente zum Auslandsdeutschenwahlrecht war zunächst der tatsächliche Befund zur Entwicklung und zum Stand der aktuellen Rechtslage. 1. § 12 BWahlG differenziert zum Wahlzeitpunkt innerhalb der Gruppe der Wahlberechtigten im Wege eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen solchen mit Sesshaftigkeit im Inland und solchen mit Sesshaftigkeit im Ausland. Im Grundsatz wahlberechtigt sind nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nur jene – von Verfassungs wegen wahlberechtigten – Deutschen, die am Wahltag seit mindestens drei Monaten innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik sesshaft sind. Dagegen sind alle Auslandsdeutschen im Grundsatz vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ihnen wird das Wahlrecht nur unter den in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG geregelten Einschränkungen als Ausnahmetatbestand zugesprochen. Diese Differenzierung kennt die Verfassung indessen nicht. Das Regel-Ausnahme-Prinzip in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Wahlrechts für Deutsche mit und ohne Wohnsitz im Inland prägt die bundesdeutsche Wahlgesetzgebung unter Geltung des Art. 38 Abs. 1 GG von Beginn an. Der Entwicklung der Wahlgesetzgebung wohnt allerdings eine eigene Dynamik inne, die durch die schrittweise Öffnung des Ausnahmetatbestandes zur Zuerkennung der Wahlberechtigung auch der im Ausland sesshaften Deutschen gekennzeichnet ist, bis zum Erlass des 21. Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2013. Tatsächlich ist eine stetige Zunahme der insoweit betroffenen Fallzahlen zu vermerken, so dass das Stimmgewicht der durch Auslandsdeutsche abgegebenen Stimmen vom Gesetzgeber nicht ignoriert werden kann. Er ist gehalten, dem Phänomen des Auslandsdeutschen durch geeignete Regelungen der Wahlberechtigung Rechnung zu tragen. 2. Es liegt gemäß Art. 38 Abs. 3 GG beim Gesetzgeber, die nähere Ausgestaltung des Wahlrechts vorzunehmen. Neben der Entscheidung für ein verbindliches Wahlsystem betrifft dies auch die nähere Bestimmung der aktiven und passiven materiellen Wahlberechtigung sowie die formelle Seite des Wahlverfahrens. Bei der Bestimmung und Ausgestaltung der Wahlberechtigung hat der Gesetzgeber die in der Verfassung verankerten Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu beachten, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden müssen. Jegliche Einschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze bedürfen also der Rechtfertigung. 3. Die vom Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Zuerkennung der aktiven Wahlberechtigung vorgenommene Differenzierung zwischen In- und Auslandsdeutschen wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ge-

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

billigt. Dabei ist das ursprünglich ausschlaggebende, späterhin zumindest als Zusatzargument gebrauchte traditionelle Verständnis der wahlrechtlichen Differenzierung zwischen In- und Auslandsdeutschen in Rechtsprechung und Gesetzgebung aktuell im Rückzug begriffen. Vielmehr legte der Gesetzgeber der Unterscheidung zwischen In- und Auslandsdeutschen im Wahlrecht – früher als von der Rechtsprechung angenommen – die Notwendigkeit einer über den äußeren Status der Staatsangehörigkeit hinausgehenden inneren Verbindung des Einzelnen zur Bundesrepublik Deutschland als Alleinstellungsmerkmal der aktiven Wahlberechtigung zugrunde. Dies fand zunächst Ausdruck in der dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis inhärenten Heimatbindung zur Abgrenzung zwischen sonstigen Auslandsdeutschen und der zum Wahlrecht zugelassenen deutschen Staatsbediensteten, die sich nur aufgrund dienstlicher Weisung im Ausland befunden hatten. Mit der allgemeinen Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts durch das 7. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. März 1985 trat die „Heimatbindung“ als Wahlzugangserfordernis zugunsten der in der Gesetzesbegründung neu formulierten, typisierten Vertrautheitsanforderung zurück. Das Bundesverfassungsgericht griff dieses Argument erst nach dem Fall der Mauer auf und machte es seither für wahlrechtliche Differenzierungen zur Grundlage seiner Beurteilung. Hingegen spielen Aussagen der früheren Rechtsprechung dahingehend keine Rolle mehr, dass der Bundestag das Repräsentationsorgan lediglich der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Deutschen sei. Soweit Teile der Literatur zur Rechtfertigung der gesetzlichen Differenzierung zwischen In- und Auslandsdeutschen im Wahlrecht auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, dem Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten oder potenzielle Interessen- oder Loyalitätskonflikte verweisen, werden diese Positionen vom Gesetzgeber wie auch vom Bundesverfassungsgericht gegenwärtig unbeachtet gelassen.

II. Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Differenzierungen bei der Wahlzugangsberechtigung arbeitete die Untersuchung das Folgende heraus: 1. Der Grundsatz der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl ist ein von der Verfassung vorbehaltlos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht. Heute ist von einem umfassend verstandenen Begriffsverständnis der Allgemeinheit der Wahl auszugehen. Das bedeutet, dass grundsätzlich jeder Deutsche den gleichen Zugang zur Wahl hat und jeder sein Wahlrecht in gleicher Weise ausüben können soll. Die verfassungsrechtlichen Regelungen zum Wahlalter und zum Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG konkretisieren diesen Grundsatz und bestimmen, wer sich auf ihn berufen kann. Dabei bindet der Grundsatz der Allgemein-

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heit der Wahl die Wahlberechtigung nicht an einen dauerhaften Inlandsaufenthalt der Staatsbürger. 2. Bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Differenzierungsbefugnis im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl kommt ein Rückgriff auf eine das Wahlrecht angeblich schlechthin überlagernde Geltung des Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Betracht. Artikel 3 Abs. 1 GG ist neben dem formalisierten Grundsatz der Gleichheit im Wahlrecht nicht anwendbar. Gleiches gilt auch in Bezug auf den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Trotzdem unterliegen die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl keinem absoluten Differenzierungsverbot. Bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlberechtigung ist der Gesetzgeber befugt, unter Berücksichtigung der Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge der demokratischen Egalität seinem Bewertungsspielraum setzen, Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen, solange er realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legt. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgrundsätze, dass dem Gesetzgeber bei deren Ausgestaltung nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt. Die Grenzen dieses Differenzierungsspielraums sind aus der Verfassung selbst zu ermitteln. 3. Artikel 38 Abs. 3 GG kommt als Schrankenbefugnis des Gesetzgebers zur wahlrechtlichen Ungleichbehandlung nicht in Betracht. Er enthält nur einen reinen Regelungs- bzw. Ausgestaltungsvorbehalt und keinen klassischen grundrechtlichen Gesetzgebungsvorbehalt. Allein der Schutz und die Aufrechterhaltung verfassungsunmittelbarer Rechtsgüter verbleiben als taugliche Schranken der Wahlrechtsgrundsätze. Hierzu sind die mit der Wahl verfolgten Ziele zu rechnen, die wiederum aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes selbst herrühren. Nur die diese Ziele tragenden Gründe vermögen der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl jeweils „die Waage zu halten“. Allein in diesem Verhältnis findet der von Verfassungs wegen gebotene Ausgleich zur jeweils bestmöglichen Verwirklichung der widerstreitenden Verfassungsgüter Raum und Anwendung. Nach zutreffender Auslegung ist an die Rechtfertigung von Beschränkungen ein strenger Maßstab anzulegen, den die Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in der Formel des „zwingenden Grundes“ gefunden hat. Eine demgegenüber erweiternde Auslegung des Ersten Senats sowie von Teilen der Literatur, die „jeden anerkennenswerten wichtigen Grund“ für ausreichend hält oder die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers negativ nur durch den Ausschluss der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Verbotskriterien bestimmen will, ist mangels Anknüpfung im geltenden Verfassungsrecht abzulehnen. 4. Das restriktive Rechtfertigungsverständnis geht allerdings nicht soweit, dass die Verfassung die konkrete rechtliche Ungleichbehandlung positiv zwingend verlangen müsste; die Differenzierung also dann nicht rechtfertigungsfähig wäre, wenn sie nicht „zwingend“ verfassungsrechtlich geboten sei. Dennoch ist die Differenzierungsbefugnis des Gesetzgebers im Sachbereich der Wahlen nur auf die Verwirklichung der mit den Wahlrechtsgrundsätzen gleichrangigen Rechtsgüter

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beschränkt. Für die aktive materielle Wahlberechtigung scheiden daher von vornherein gesetzgeberische Differenzierungsgründe aus, die nicht in der Verfassung wurzeln. Das betrifft namentlich die Rechtfertigung von Wahlrechtsbeschränkungen aus einer dem Bundeswahlgesetz vorgelagerten und von ihm übernommenen Tradition der Wohnsitzbindung des Wahlrechts. Gleiches gilt für völkerrechtliche Gründe der territorialen Souveränität und Gebietshoheit sowie für Gründe der Wahltechnik. 5. Zu den mit dem Grundsatz der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl gleichrangigen Rechtsgütern zählt grundsätzlich die aus dem Demokratieprinzip abgeleitete Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems in seinen Ausprägungen der mit den demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Zum zuerst genannten Ziel gehört die Sicherung der Kommunikationsfunktion der Wahl. Im Hinblick auf Einschränkungen der Wahlzugangsberechtigung erlangen die vorgenannten Verfassungsgüter Schrankenwirkung aber nur insoweit, als sie die Sicherung der Integration des Staatsvolkes durch den Wahlakt selbst betreffen. In diesem Sinne kommt ein Ausschluss vom Wahlrecht grundsätzlich dann in Betracht, wenn der Wähler mangels hinreichender Möglichkeit zur Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung am Integrationsvorgang durch Wahlen typischerweise nicht effektiv teilnehmen kann. Für die Sicherung und Aufrechterhaltung der in einer Demokratie daneben notwendigen gesellschaftlichen Integration, die im Wesentlichen die Teilhabe des Bürgers an der politischen Willensbildung während der Legislaturperiode bedingt und durch den beständigen Dialog zwischen Parlament und gesellschaftlichen Kräften zum Ausdruck gelangt, ist die Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl hingegen unerheblich. 6. Außerdem verdichtet sich die dem Gesetzgeber im Sachbereich der Wahlen eröffnete Möglichkeit zur Typisierung unter dem Eindruck des demokratischen Gebots der streng formalen Gleichbehandlung im Wahlrecht zur Grenze seiner gestalterischen Handlungsbefugnis. Damit ist der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht nur befugt, sondern verpflichtet, Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen. Wegen der Pflicht zur streng formalen Gleichbehandlung ist es dem Gesetzgeber zudem nicht nur verwehrt, konkrete Bedingungen zu schaffen, die über das egalitär-demokratische Verständnis des Staatsbürgers, so wie es die Verfassung geformt und gebildet hat, hinausgehen. Sondern es bedeutet auch, dass die in diesem Zusammenhang bereits vom Verfassungsgeber getroffenen Wertungen zur Staatsbürgerschaft vom Gesetzgeber nicht beliebig vernachlässigt oder negiert werden können. Das schließt es aus, dass der Gesetzgeber im Anwendungsbereich der Allgemeinheit der Wahl auf Härtefallklauseln zurückgreift, die den Wahlbehörden bei Prüfung der individuellen Wahlzugangsberechtigung materielle Wertungsspielräume für Einzelfallentscheidungen eröffnen.

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III. Gemessen an diesem strengen Differenzierungsmaßstab ist der grundsätzliche Ausschluss der Auslandsdeutschen vom Wahlrecht nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG nicht gerechtfertigt. 1. Es ist nicht erforderlich, dass die aktuelle gesetzliche Ausgestaltung die mit der Wahl verbundene Integration des Staatsvolkes und ihre Kommunikationsfunktion verwirklicht. Das ist deshalb nicht erforderlich, weil der dauerhafte Wohnsitz nicht allein („zwingend“) die Bedingungen gewährleistet, unter denen eine reflektierte Stimmabgabe möglich wird. Die mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Entwicklungen im modernen Informations- und Kommunikationsbereich, mit der noch im Jahr 2007 die nahezu vollständige Gleichstellung der Auslandsdeutschen mit den Inlandsdeutschen gesetzgeberisch gerechtfertigt worden war, verwehren die Begründung zur Notwendigkeit eines bestimmten, dauerhaft verorteten räumlichen Aufenthalts im Inland für die informierte Teilhabe an der politischen Willensbildung des Volkes. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeiten der neuen Medien für die Ausgestaltung des Ausnahmetatbestandes in der Vergangenheit zutreffend erkannt und mit Erlass des Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts vom 17. März 2008 entsprechend berücksichtigt. Die mit dem 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2013 bewirkte Rückkehr zur Rechtslage vor dem Jahr 2008 durch die (Wieder-)Einführung von Fortzugsfristen lässt diese evident zutreffende Einschätzung außer Acht. 2. Soweit neuerdings Gesichtspunkte des „demokratischen Verantwortungszusammenhangs“ zur Rechtfertigung der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG enthaltenen Differenzierung von Inlands- und Auslandsdeutschen im Wahlrecht plausibel gemacht werden, kann dies im Sachbereich der Wahlen überhaupt nur unter der Bedingung Bestand haben, dass in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben und unabhängig von jeglicher individuellen Betroffenheit von staatlichem Handeln allein das Staatsvolk als Legitimationssubjekt zu den gewählten Vertretern der parlamentarischen Volksvertretung angesprochen ist. Alles andere führte zu einer nicht hinnehmbaren Verschiebung von Volkssouveränität zur „Bevölkerungssouveränität“. Selbst ein so verstandener demokratischer Verantwortungszusammenhang vermag die am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt orientierte gesetzgeberische Differenzierung zwischen Inlands- und Auslandsdeutschen im Wahlrecht nicht zu tragen. Denn gerade der Verantwortungszusammenhang muss zukunftsbezogen verstanden werden, so dass das gesetzgeberische Erfordernis des dreimonatigen ununterbrochenen Mindestaufenthaltes im Zeitraum vor der Wahl dazu in keinen plausiblen Zusammenhang zu bringen ist. 3. Soweit die Wahl als Integrationsvorgang beim Wähler die individuelle Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland erfordert, ist es dem Gesetzgeber versagt, zur Sicherung dieser Vertrautheit wahlrechtsbeschränkende Regelungen aufzustellen, die über das verfassungsrechtliche

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

Verständnis des Staatsbürgers hinausgehen. Der aktuell in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG geregelte Ausnahmetatbestand zum Erfordernis eines Mindestmaßes an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland beim Wähler ist nach der Konzeption des Gesetzgebers der eigentliche Grundtatbestand der Wahlberechtigung in § 12 Abs. 1 BWahlG. Nur wer typischerweise mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland vertraut sei, könne informiert am politischen Kommunikationsprozess zwischen Regierenden und Regierten teilnehmen und durch die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung am Integrationsvorgang des Staatsvolkes durch Wahlen teilhaben. Der feste Wohnsitz bzw. der dauernde Aufenthalt am Wahltag (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG) oder zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) sei als objektives Kriterium geeignet, das Bestehen der für die reflektierte Wahlteilhabe gesetzlich für erforderlich gehaltenen Vertrautheit nach außen zu dokumentieren. 4. Im Sachbereich der Wahlen hat der Verfassungsgeber indes selbst die notwendigen Vorkehrungen getroffen, um den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern. Dies betrifft nicht nur die Beschränkung des Wahlrechts auf über achtzehnjährige Deutsche. Auch der deutschen Staatsangehörigkeit misst die Verfassung eine substanzielle, nicht nur technische Bedeutung bei. So ist die Beschränkung des Wahlrechts auf über achtzehnjährige deutsche Staatsangehörige, mithin auf „Staatsbürger“ i. S. d. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, für die Abgabe einer reflektierten Stimmabgabe hinreichend. Wegen der strengen demokratischen Egalität bei der Zulassung zum Wahlrecht eines jeden Wahlbürgers ist die Tatsache der politischen Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland beim Wähler in typisierter Weise bereits dann anzunehmen, wenn er die von der Verfassung vorgegebenen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Wahlrechts erfüllt. 5. Die Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit entspricht den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen, wonach die Staatsangehörigkeit nicht nur eine funktionale Zuordnung, sondern auch eine materielle Bindung des Staatsangehörigen zu seinem Heimatstaat bewirken soll. So wird das Bestehen der politischen Vertrautheit bei Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Naturalisation bereits tatbestandlich voraussetzt und bei Erwerb durch Geburt nach Maßgabe der aktuellen Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts gesetzlich prognostiziert. Eine im Wahlrecht differenzierende Betrachtung zwischen den Erwerbsarten der Staatsangehörigkeit widerspricht dem Grundsatz der einheitlichen Staatsangehörigkeit und ist dem Gesetzgeber deshalb verwehrt. Daneben sichert die Festlegung des Wahlalters in Art. 38 Abs. 2 GG das zur Abgabe der reflektierten Wahlentscheidung erforderliche Mindestmaß an intellektueller Reife beim Wähler. So verbleibt für die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zusätzliche wahlrechtliche Differenzierung aufgrund des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes keine verfassungsrechtliche Grundlage mehr. Will der

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Gesetzgeber das Wahlrecht der Deutschen im Ausland einschränken, hat er also das Staatsangehörigkeitsrecht entsprechend auszugestalten. Erste Tendenzen in diese Richtung sind bereits mit dem Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 erkennbar. IV. Auch die Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts in § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG durch das 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2013 hält ganz überwiegend den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand. Zunächst richten sich die gegen § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG vorgebrachten Einwände auch gegen die Neufassung des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG durch das 21. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2013. Die Neufassung ist außerdem aus den folgenden Gründen verfassungswidrig: 1. Der Tatbestand ist zu unbestimmt gefasst. Er überlässt es den Wahlbehörden, tatbestandliche Wertungen vorzunehmen, die weder die Verfassung vorsieht oder zulässt noch das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Denn hier reicht nicht mehr die nur typisierte Annahme zum Bestehen eines Mindestmaßes an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland für die Zuerkennung der Wahlberechtigung aus. Gefordert ist vielmehr der konkrete und individuelle Nachweis über den Bestand des für die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung erforderlichen Mindestmaßes einer solchen Vertrautheit. Die unbestimmte Fassung des Wahlrechtstatbestandes steht mit dem formal egalitären Prinzip im Wahlrecht nicht mehr im Einklang. In der Praxis führt der faktische Wertungsspielraum der Wahlbehörden auf Tatbestandsebene zu bedenklichen Spannungen mit dem rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG, indem es den Wahlbehörden erlaubt sein soll, Vergleichsgruppen zu bilden, bei denen die individuellen Wahlrechtsvoraussetzungen trotz Abweichung von § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG noch vorliegen sollen. Dies führt aus Sicht des Bürgers zu nicht mehr vorhersehbaren Entscheidungen über die individuelle Zuerkennung des aktiven Wahlrechts. Soweit der Tatbestand zusätzlich auf die Betroffenheit des Einzelnen durch die deutsche Staatsgewalt abstellt, widerspricht das dem Prinzip der Volkssouveränität nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. 2. Auch ein Vergleich mit der rechtlichen Ausgestaltung der passiven Wahlberechtigung offenbart erhebliche Wertungsunterschiede. Mit Ausnahme einer kurzen Dauer Anfang der 1950er Jahre war für die passive Wahlberechtigung zu keinem Zeitpunkt der Wohnsitz als vertrautheitsstiftende Zugangsvoraussetzung zum Wahlrecht gesetzlich vorausgesetzt. Der Gesetzgeber anerkannte das insoweit von der Verfassung bereits vorgegebene Leitbild des Staatsbürgers und hielt es für die Zuerkennung der Wählbarkeit bis heute in jeder Hinsicht für ausreichend. Dementsprechend vermutet der Gesetzgeber die für die Übernahme politischer Ämter erforderliche Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen bei den Kan-

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1. Teil: Wahlrecht und Inlandsbindung aus verfassungsrechtlicher Sicht 

didaten bereits mit deren Eintritt in die Volljährigkeit. Zwar darf der Gesetzgeber an die Beurteilung der Wählbarkeit andere Maßstäbe anlegen als an die aktive Wahlberechtigung, soweit zwingende Gründe des Verfassungsrechts dies rechtfertigen. Gegenüber der gesetzgeberischen Einschätzung zu den Anforderungen an die Wählbarkeit gerät die Anordnung der Sesshaftigkeit im Wahlgebiet für die aktive Wahlberechtigung aber in akute Erklärungsnot. Denn anders als im aktiven Wahlrecht orientiert sich die Wählbarkeit einzig am Tatbestand der individuellen Staatsbürgerschaft. Der sich hier offenbarende Wertungswiderspruch zur aktiven Wahlberechtigung ist unauflöslich. 3. Nur die zusätzliche Einführung eines Mindestalters von 14 Jahren für die Anerkennung eines früheren Wohnsitzes (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG) entspricht zunächst der in der historischen Betrachtung festgestellten und zunehmend verdichteten Begründungslinie des Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts. Zumindest soll das Mindestalter die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung sichern, indem verlangt wird, dass die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland auf eigenem, reflexionsfähigem Erleben vor dem Fortzug beruht.

V. Wegen der erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ist der Gesetzgeber gut beraten, § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG im Rahmen eines parlamentarischen Verfahrens aufzuheben. 1. In der Folge der Aufhebung verlieren alle weiteren Vorschriften des § 12 BWahlG, die das Sesshaftigkeitsprinzip näher ausgestalten, ihren normativen Anknüpfungspunkt. Sie sind im Wege der Rechtsbereinigung ebenfalls aufzuheben. Dies trifft insbesondere für den  – ebenfalls verfassungswidrigen  – § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG zu. Dem Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsprinzip kommt damit auch im Rahmen der Durchführung des Wahlverfahrens keinerlei konstitutive Relevanz mehr zu. In diesem Sinne sind die Vorgaben zur Eintragung in das Wählerverzeichnis nach §§ 14, 17 BWahlG i. V. m. §§ 14 ff., insbesondere § 16 BWO, anzupassen. Im Rahmen der Anpassung ist die bislang in § 12 Abs. 3 BWahlG getroffene Legaldefinition des Wohnsitzes, die dem Melderecht entspricht, den Vorschriften zur Eintragung in das Wählerverzeichnis hinzuzufügen. 2. Auf das bislang bereits bestehende Antragserfordernis kann auch bei Fortfall des § 12 Abs. 2 BWahlG aus zwingenden wahlorganisatorischen Gründen nicht verzichtet werden. Der Antrag ist bei der Fortzugsgemeinde oder deren Rechtsnachfolgerin zu stellen. Besteht eine solche mangels früheren Wohnsitzes oder Aufenthalts des Einzelnen in der Bundesrepublik Deutschland nicht, ist der Antrag auf Eintragung in die Wählerliste bei der deutschen Gemeinde zu stellen, in der die vorangegangenen Generationen des Betreffenden in gerader Linie ihren

Ergebnisse des Ersten Teils

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ursprünglichen Wohnsitz hatten. Hier erfolgt auch die Stimmabgabe, für deren Rechtzeitigkeit der Antragsteller selbst verantwortlich ist. VI. Damit ist jener Teil der Untersuchung abgeschlossen, der sich der wahlrechtlichen Inlandsbindung über das aktuell geltende Recht genähert hat. Alles in allem steht fest, dass das gegenwärtig im Wahlrecht herrschende Paradigma der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen zur Rechtfertigung einer wahlrechtlichen Differenzierung zwischen Inlands- und Auslandsbürgern im Bundeswahlgesetz vor dem Verfassungsrecht der Demokratie keinen Bestand haben kann. Im Weiteren soll aber der Frage nachgegangen werden, ob dem aktuellen Wahlrecht insofern ein nachhallendes, historisch überkommenes Moment innewohnt, in dem ein anachronistisches, den Grundvorstellungen demokratischer Verfassungsstaatlichkeit zuwiderlaufendes Verständnis fortwirkt. Dies ist Aufgabe und Gegenstand des nun folgenden Zweiten Teils.

Zweiter   Teil 2.

Traditionsargument und historisches Wahlrecht 1. Kapitel

Gang der weiteren Untersuchung A. Gründe für eine historische Untersuchung der wahlrechtlichen Inlandsklauseln Zur verfassungsrechtlichen Sanktionierung des Sesshaftigkeitserfordernisses für das Wahlrecht bemühte das Bundesverfassungsgericht seit seiner Entscheidung vom 23. Oktober 19731307 auch die „Tradition“ als Rechtfertigungsgrund.1308 Man mag sich über die methodische Bedeutung des Traditionsarguments im Einzelfall uneinig sein.1309 Die Bejahung eines „zwingenden Grundes“ zum grundsätzlichen Ausschluss der Auslandsdeutschen vom Wahlrecht wurde vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls bis zur Kammerentscheidung vom 6. August 19901310 nahezu ausschließlich damit begründet, dass frühere Rechtsordnungen das Wahlrecht auch an den konkreten Wohnsitz bzw. Aufenthaltsort geknüpft hatten. So bestechend das Traditionsargument auf den ersten Blick scheint, so unklar und verschwommen bleiben die konkreten Anknüpfungspunkte im Falle des Bundeswahlrechts. Der Parlamentarische Rat hatte sich nämlich für das Wohnsitzprinzip in erster Linie wegen der sich abzeichnenden deutschen Teilung ausgesprochen.1311 Dass hier also tatsächlich eine altdeutsche „Tradition“ übernommen und fortgesetzt wurde, lässt sich den Beratungsprotokollen zum Erlass des BWahlG 1949 nicht entnehmen. An dieser Stelle ist deshalb eine Erklärung angebracht, warum und in welcher Weise sich die vorliegende Arbeit über relativ breiten Raum nun der Geschichte des Wahlrechts zuwendet: Die folgende Betrachtung knüpft an die Erwägungen des Ersten Teils im 5. Kapitel B. III. an und richtet ihren Blick auf die Entwicklung des historischen Wahlrechts, wie es mit den ersten Deutschen Verfassungen im Frühkonstitutionalismus des frühen 19. Jahrhunderts seinen Ausgangspunkt 1307

Vgl. BVerfGE 36, 139 (141 f.); angedeutet bereits bei BVerfGE 5, 1 (6). Vgl. insbesondere BVerfGE 36, 139 (141); 67, 146 (148); „traditionelle Begrenzungen“ bei BVerfGE 58, 202 (205), näher oben Erster Teil 3. Kapitel C. II. 2. 1309 Abgegrenzt auch bei Blankenagel, Tradition, S. 36; vgl. allgemein zur Auseinandersetzung über das Rangverhältnis der Auslegungsmethoden auch Stern, in: ders., Staatsrecht III/2, § 95 II 2 b ε (S. 1666 f.) m. w. N. der Lehrmeinungen. 1310 Vgl. BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 f. 1311 Vgl. dazu oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 1. und 2. 1308

1. Kap.: Gang der weiteren Untersuchung

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genommen hat. Ziel dieses Untersuchungsabschnitts ist es, zu ermitteln, ob und wo sich die verfassungsgeschichtlichen Wurzeln für die gegenwärtige Wahlrechtsvoraussetzung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen auffinden lassen, die durch das grundsätzliche Erfordernis der Sesshaftigkeit des Wählers im Inland gesichert werden soll. Dazu ist zuerst der zeitliche Rahmen der Untersuchung zu bestimmen. Zweitens ist es erforderlich, die rechtlichen Bindungen, die das damalige Wahlrecht im Hinblick auf die Erforderlichkeit des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes für die Wahlberechtigten enthalten hatte, zu identifizieren und offenzulegen, bevor  – drittens  – Ableitungen oder Parallelen zum heute geltenden wahlrechtlichen Inlandserfordernis nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG getroffen werden. Im Zuge der Untersuchung wird sich erweisen, dass auch die Wohnsitzbindung im historischen Wahlrecht rechtlichen und auch gesellschaftlichen Dynamiken ausgesetzt war, die zu einer immer weiteren Ausdehnung der Stimmberechtigung führten. Wie aber schon Marten Breuer in seiner im Jahr 2001 erschienenen Untersuchung zum Auslandsdeutschenwahlrecht aufgezeigt hat, werden diese Dynamiken erst über einen längeren Zeitraum hinweg erkennbar und auch nur dann, wenn man sich nicht von vornherein auf die Frage nach der Beteiligung Auslandsdeutscher beschränkt, sondern die Inlandsbevölkerung in die Überlegungen miteinbezieht.1312 Bevor insoweit der Gang der Untersuchung im Einzelnen skizziert wird (siehe sogleich unter C.), soll zunächst unter B. der zeitliche Bezugsrahmen herausgestellt werden, in dem sich die Untersuchung über die nächsten Kapitel hinweg erstreckt.

B. Reichweite der historischen Untersuchung zu den wahlrechtlichen Inlandsklauseln Wie bereits oben festgestellt, lässt sich die Reichweite des Traditionsarguments im Wahlrecht nicht nur der Sache nach, sondern auch zeitlich kaum präzise bestimmen.1313 Soweit insbesondere Karl-Ludwig Strelen im derzeit führenden Standardwerk zum Wahlrecht1314 ausführt, dass das Bundeswahlgesetz in „Über­ einstimmung mit den Wahlgesetzen seit den Anfängen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“1315 das „aktive Wahlrecht grundsätzlich an die Sesshaftigkeit der Staatsbürger“ knüpft, so ist dies zumindest missverständlich. Denn wo die Anfänge des parlamentarischen Wahlrechts im deutschen Raum liegen, bleibt im Dunkeln. So muss der maßgebliche Untersuchungszeitraum also gesondert herausgearbeitet und bestimmt werden. 1312

Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 26. Vgl. näher Erster Teil 5. Kapitel B. II. 1314 Vgl. Buchbesprechung von Holste, NVwZ 2014, S. 42. 1315 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 11; nachfolgende Zitate ebd.; vgl. identische Formulierung auch in der Vorauflage bei Schreiber, BWahlG8, § 12 Rn. 11. 1313

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Der am weitesten zurückreichende Vergangenheitsbezug des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Sesshaftigkeitserfordernis erfolgte in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1981.1316 Hier rekurrierte das Gericht auf § 7 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 18691317 (RWahlG 1869). Dieses entsprach in Aufbau und Inhalt weitgehend seinem Vorbild des im Rahmen der Frankfurter Nationalversammlung erlassenen Wahlgesetzes vom 12. April 18491318 (RWahlG 1849).1319 Auch die gegenwärtigen literarischen Erwägungen zur traditionellen Legitimation des heute geltenden wahlrechtlichen Sesshaftigkeitserfordernisses greifen frühestens auf die Revolutionsjahre 1848/1849 zurück.1320 Und in der Tat wurde das Sesshaftigkeitserfordernis im Zusammenhang mit dem aktiven Wahlrecht im Zuge der in der Frankfurter Nationalversammlung durchgeführten Plenarberatungen lebhaft diskutiert.1321 Doch gab es im deutschen Raum bereits zuvor Bestimmungen zum Wahlrecht. Von einem Recht zur Wahl im Sinne einer „Freiheit der Auswahl“ der Person, einhergehend mit der Möglichkeit der eigenverantwortlichen Stimmabgabe im Sinne einer „Wahlfreiheit“1322, kann seit der Zeit der französischen Revolution im Jahr 1789 gesprochen werden. Diese beeinflusste auch die sich in den deutschen Territorien vollzogenen Verfassungsentwicklungen im sog. Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, beginnend ab dem Wendejahr 1806.1323 Insbesondere die nach dem Jahr 1815 entstandenen süddeutschen Verfassungen enthielten bereits alle den Gedanken der „Repräsentation“ des Volkes und begriffen den Abgeordneten als „Volksvertreter“.1324 So sind die im Rahmen der Paulskirchendebatten geführten Auseinandersetzungen der teilnehmenden Abgeordneten nicht etwa (nur) Beginn einer neuen, sondern vielmehr (auch) Fortsetzung der in den deutschen Territorien vorangegangenen (Verfassungs-)Entwicklung.1325 Die Ergebnisse der Verhandlungen stifteten unbe 1316

BVerfGE 58, 202 (205). NBGBl. S. 145. 1318 RGBl. S. 79. 1319 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 34; Gramlich, JA 1986, S. 129 (130). 1320 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 27 ff.; ebenso bei Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (mit Fn. 39). 1321 Vgl. etwa Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 748 f., insbesondere Anträge der Abg. Zachariä und Wernher v. 4.7.1848; ferner vgl. Wortmeldung Abg. Riesser v. 26.2.1849, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429. 1322 Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1; S. 5; in diese Richtung auch Heun, Der Staat 45 (2006), S. 365 (375 f.). 1323 Vgl. ähnlich Leeb, Wahlrecht I, S. 35. 1324 Ausgehend von der Verfassung Württembergs für viele Konstitutionen verallgemeinernd Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 290; ebenso Brandt, Parlamentarismus, S. 32; näher Schöneberge, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht § 1 Rn. 22 ff.; allgemein Lousse, in: Rausch (Hrsg.), Grundlagen I, S. 278 (285 f.); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 38 Rn. 5. 1325 Zu Recht spricht etwa G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S. 415, von einem „Wendepunkt“ durch das Jahr 1848. 1317

1. Kap.: Gang der weiteren Untersuchung

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stritten in vielfacher Weise neue und unumkehrbare Tatbestände, insbesondere was das Bewusstsein von Individualität und Freiheit anbelangte. Doch mussten die Beratungen auch die Entwicklungen im Vormärz und darüber hinaus verarbeiten, auf die hier noch im Einzelnen einzugehen sein wird. Dies gilt allemal für das materiell eng beschränkte und nur mittelbar ausgestaltete Wahlrecht in den Einzelstaaten.1326 Deshalb findet das im Jahr 1848/49 formulierte und im Jahr 1869 im Norddeutschen Bund in Geltung getretene Wahlrecht seine rechtsgedanklichen Ursprünge nicht ausschließlich im Jahre 1848/1849. Seine Wurzeln reichen etwa ein Vierteljahrhundert weiter zurück und basieren auf der Verfassungsbewegung des Frühkonstitutionalismus. Diese ebnete im Zusammenhang mit der tatsächlichen Rechtsentwicklung den Weg zu dem in den Paulskirchenverhandlungen gezeigten (Staats-)Rechtsverständnis und zur Rolle des Wahlrechts in den neu konzeptionierten Verfassungsstaaten.1327 Diese Rückbindung der Paulskirchenverfassung sowie des RWahlG 1849 wird nicht nur von der heutigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen seiner „seit-jeher“-Argumentation ignoriert. Auch die staatswissenschaftliche Literatur nimmt hierauf keinen hinreichenden Bezug.1328 Doch müssen die genannten frühkonstitutionellen Einflüsse mitgedacht werden, um aus der historischen Betrachtung im Hinblick auf die Bedingungen und den Bestand wahlrechtlicher Inlandsklauseln befriedigende Erkenntnisse ziehen zu können. Gerade die Untersuchungsergebnisse der Arbeit von Marten Breuer erhärten die Annahme zur Notwendigkeit einer umfassenderen Betrachtung des historischen Wahlrechts, und zwar – anders als bislang geschehen – über den Zeitpunkt des Frankfurter Reichswahlrechts hinaus. Breuer hat die historischen Vorschriften zum Wahlrecht, beginnend mit dem RWahlG 1849, systematisch auf das Sesshaftigkeitsprinzip hin untersucht und so nachweisen können, dass dieses in der Ausprägung, die es im RWahlG 1849 gefunden hatte, in der nachfolgenden Wahlgesetzgebung des Reiches bis in die Weimarer Republik hinein – wenngleich nur als formelles Wahlausübungskriterium – Bestand hatte.1329 Doch den letztmaßgeblichen Legitimationsgrund der wahlrechtlichen Sesshaftigkeit konnte er allenfalls erahnen. Den knapp eintausend Seiten umfassenden und von Franz Wigard auf Beschluss der Nationalversammlung im Jahr 1849 herausgegebenen Plenarprotokollen entnahm Breuer ein Zitat, das seiner Auffassung nach die Aufnahme der formellen Inlandsbindung seit 1849 erkläre. Der „feste Wohnsitz am Wahltag“ sei, so Breuer,1330 in den vorausgehenden Beratungen damit begründet worden, dass „dem fest Ansässigen ‚die natürlichen Verhältnisse, die Bedürfnisse der staatlichen 1326

Statt vieler Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 290. Für die Grundrechte ausdrücklich festgestellt von Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, Vor Art. 1 Rn. 53. Aufgrund des engen Zusammenhangs von Teilhaberechten und Freiheitsrechten gilt gleiches auch für das Wahlrecht. 1328 Kritisch etwa im Hinblick auf die Herkunft der Freiheitsrechte auch Hilker, Grundrechte, S. 19 und S. 362. 1329 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 27 ff., zusammenfassend S. 80 f. 1330 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 30. 1327

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Gesamtheit klarer und gegenwärtiger sein werden, als Dem, welcher eine solche Anschauung der Verhältnisse nicht hat‘“. Er bezieht sich damit auf den Redebeitrag eines Abgeordneten der Paulskirchenversammlung, der am 26. Februar 1849 kurz vor der entscheidenden Abstimmung über das Reichswahlgesetz das Wort ergriffen hatte.1331 Breuer selbst sah sich aber nicht veranlasst, dessen Begründung zum Sesshaftigkeitserfordernis auf Validität zu überprüfen. Wie hier1332 hielt er die auf Tradition beruhende Rechtfertigung von Ungleich­behandlungen im Wahlrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits als solches für nicht überzeugend.1333 Sollte sich seine These aber als wahr erweisen und die Vertrautheit mit den Verhältnissen seit der Verabschiedung des RWahlG 1849 tatsächlich der maßgebende Grund für die Wohnsitzbindung des Wahlrechts am Wahltag gewesen sein, so wären die Auswirkungen auf das heutige Wahlrechtsverständnis womöglich nicht unerheblich. Denn dann wäre im Zuge einer neuerlichen verfassungsrechtlichen Beurteilung zur Inlandsbindung im Wahlrecht ggf. auch zu erwägen, ob das Vertrautheitskriterium mit dem Begriff der „Wahl“ in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG „seit jeher“ in einem derart engen, womöglich sogar unauflöslichen Zusammenhang stünde, dass auch der bundesdeutsche Gesetzgeber allen Grund oder sogar die Pflicht hätte, den wahlrechtlichen Vertrautheitstatbestand durch geeignete Regelungen über die hier allein als maßgeblich erachteten Kriterien des Wahlalters und der Staatsangehörigkeit1334 hinaus zu regeln und zu sichern.

C. Gang der Untersuchung zum historischen Wahlrecht Zur Klärung der aufgeworfenen Fragen muss also zunächst an die Zeit vor der revolutionären Wahlrechtsentwicklung angeknüpft werden. Erst die Einbeziehung dieser vorangegangenen Entwicklungen kann verlässlich die Frage beantworten, ob und in welcher Art und Weise das Erfordernis des Wohnsitzes oder des tatsächlichen Aufenthaltes „im Inland“ zum Zeitpunkt der Wahl tatsächlich „seit jeher“ im deutschen Raum Bestand hatte, und darüber hinaus, ob und in welcher Weise der Wohnsitz zur Sicherung der „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ auch heute noch im Wahlrecht Bedeutung beanspruchen könnte. Nach einer kurzen Ausleuchtung der historischen Begleitumstände werden deshalb die das aktive und passive Wahlrecht begründenden Normen der Süddeutschen Verfassungsstaaten und Kurhessen in den Blick genommen und auf das wahlrechtliche Territorialprinzip hin analysiert (2. Kapitel). Die Länderauswahl erfolgt aufgrund der anerkannten Prägekraft der Süddeutschen Verfassungsstaaten und Kurhessens für die gesamte Verfassungsentwicklung im deutschen Raum.1335 Die hier gefundenen Ergebnisse 1331

Abg. Riesser, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429. Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel B. II. 1333 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 99. 1334 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel E. III. 1335 Zur Vorreiterrolle dieser Staaten im Wahlrecht vgl. auch Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 24. 1332

2. Kap.: Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus 

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werden sodann mit den in dieser Zeit vorherrschenden Anschauungen von Staat und Gesellschaft hinsichtlich der Ausübung von (staatsbürgerlichen) Rechten abgeglichen (3. Kapitel), bevor das 4. Kapitel die Rechtsentwicklung im Gemeindebürger-, dem Gewerbe- und dem Staatsangehörigkeitsrecht in den Blick nimmt, soweit das frühkonstitutionelle Wahlrecht der Einzelstaaten tatbestandlich jeweils an den Bestand dieser Rechte beim Wähler anknüpft. Gegenstand des 5. Kapitel ist sodann die Behandlung der Wahlrechtsfrage im Rahmen der Paulskirchenversammlung und der mit ihr einhergehende Übergang vom beschränkten zum „allgemeinen und gleichen Wahlrecht“1336. Daran anschließend setzt die Untersuchung ihre Analyse zum Bestand des Sesshaftigkeitsprinzips anhand der wahlrechtlichen Normen im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik fort (6 Kapitel). Sodann ist der Blick wieder auf die gegenwärtige Rechtslage gerichtet, indem in der Konfrontation mit den gewonnenen verfassungsgeschichtlichen Erkenntnissen Schlussfolgerungen für die Deutung der Wohnsitzbindung im Bundeswahlrecht gezogen werden (7. Kapitel). Einige abschließende Kontrollüberlegungen im 8. Kapitel runden die Untersuchung ab. 2. Kapitel

Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus – eine Bestandsaufnahme Die Zeit des deutschen Konstitutionalismus beschreibt den Übergang vom Absolutismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts zur parlamentarischen Monarchie des ausgehenden 19./Anfang 20. Jahrhunderts. Sie wird für die deutsche Verfassungsgeschichte für die Jahre 1806 bis 1918 verortet.1337 Eine kursorische Betrachtung der konstitutionellen Anfänge soll den Hintergrund ausleuchten, vor dem die Entstehung und Entwicklung des individuellen Wahlrechts in den deutschen Territorien einsetzt.

A. Historische Hintergründe zu den Anfängen und zur Entwicklung des Wahlrechts im Frühkonstitutionalismus Das Wahlrecht im Staat ist ein politisches Recht. Es wird stets durch besonderen Rechts- oder Staatsakt konstituiert. Die Idee der nicht nur insoweit geschriebenen Konstitution geht zurück auf die Ideen der französischen Revolution und fand ihre erste Gestalt in der napoleonischen Konsulatsverfassung Frankreichs 1336

Vgl. Braunias, Wahlrecht I, S. 81. Der Ausschluss von Frauen, Strafgefangen und weiteren Bevölkerungsgruppen ändert an diesem Befund grundsätzlich nichts, vgl. m. w. N. Heepe, Jura 1989, S. 232 (235). 1337 H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. IV, Art. § 38 Rn. 15 f.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

vom 13. Dezember  1799. Die Notwendigkeit neuer Verfassungen, insbesondere in Frankreich, resultierte aus dem Untergang der alten Ordnung. Sie war durch die Revolution gestürzt worden, ohne dass eine gültige Nachfolgeordnung zum Tragen kam. Vielmehr waren es faktische bzw. provisorische Verhältnisse, die im Interesse der jeweiligen Gewalthaber für verbindlich zu erklären waren. Die französische Konsulatsverfassung war jedoch mehr Aushängeschild als tatsächliches Abbild der französischen Verfassungswirklichkeit. Neben der sich unter ihr entwickelnden Diktatur des Ersten Konsuls und des Kaisers verkümmerten die im Verfassungstext niedergelegten Gewährleistungen angeborener Individualrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum samt der ihnen innewohnenden Dynamik der Forderungen nach politischer Freiheit und Gleichheit.1338 Immerhin aber vermochte die Verfassung eine Restauration des alten französischen feudal-klerikalen Privilegien-Staates1339 zu verhindern.1340 I. Konstitutionelle Anfänge unter Napoleon nach dem Untergang des alten Reiches Schon die „Constitution des Königreichs Westphalen“ vom 15. November 18071341, die erste geschriebene Verfassung ihrer Art im deutschen Raum, folgte dem auf Aktivbürgerschaft beruhenden Repräsentationsbegriff des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Verfassungsurkunde wurde in Paris ausgearbeitet und orientierte sich am Beispiel der französischen Konsulatsverfassung von 1799.1342 Die durchweg vermögenden Volksvertreter wurden in einem mehrstufigen, indirekten Wahlverfahren bestimmt und wirkten an der Gesetzgebung mit beratender Stimme mit. Der unter Napoleon im Königreich Westphalen errichtete Konstitutionalismus1343 stellte auch für die übrigen deutschen Königreiche die erste Stufe konstitutionellen Wirkens dar. Beginnend mit den bayerischen Reformbewegungen des Jahres 18081344 unter Federführung von Maximilian Graf von Monteglas ahmten auch weitere 1338 Vgl. zur Durchsetzung der Fürstenprimas und absoluten Monarchie in den Rheinbundstaaten m. w. N. Mußgnug, Der Staat 46 (2007), S. 249 (264 f.). 1339 Differenzierend, Aeppli, Wahlrecht, S. 42 ff. 1340 Näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 88. 1341 Königreich Westfalen: „Königliches Decret vom 7ten December 1807, wodurch die Publikation der Constitution des Königreichs Westfalen [Verfassung v. 15.11.1807] verordnet wird“. 1342 Vgl. Aeppli, Wahlrecht, S. 60. 1343 Die oktroyierte Verfassung v. 15.11./7.12.1807, die Napoleon dem Königreich Westphalen gab, entsprach ganz dem französischen Modell. Der König vereinigte die Staatsgewalt als oberster Träger allein auf sich. Sein beratendes Gremium war der Staatsrat, bestehend aus vom König bestimmten Vertretern des Hochadels. Die Regierungsgeschäfte übernahm das vom König berufene Ministerium. Das Königreich Westphalen erhielt hinsichtlich seines Münzwesens, Militär, (Polizei-)Verwaltung und Gerichtswesen vorwiegend französische Strukturen, die sich während der Rheinbundzeit bis zu deren Niedergang im Jahr 1813 als segensreich erwiesen haben, vgl. näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 89. 1344 Verfassungsurkunde v. 1.5.1808, verkündet am 25.5.1808 (RegBl. 1808 Sp. 985), in Kraft ab dem 1.10.1808, vgl. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 155 mit Fn. 1.

2. Kap.: Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus 

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deutsche Staaten den napoleonischen Konstitutionalismus nach, indem sie sich der Herrschaft des unter Napoleon kreierten Rheinbundes1345 unterwarfen. Hier kam auch der Entstehung einer streng hierarchisch gegliederten Staatsbürokratie eine prägende Rolle zu. Unabhängig von der historischen Herrschaftsgliederung wurden Strukturen geschaffen, die in der Lage waren, nicht nur Westphalen und Berg, sondern später auch die zahllosen mediatisierten Territorien in den süddeutschen Staaten jeweils zu einem Ganzen zusammenzufügen.1346 Freilich diente sie zu Zeiten der napoleonischen Ära dem Adel als Garant zur Sicherung der vormals bestehenden sozialen Hierarchie. Sie ebnete aber auch den Weg zur Zentralisierung des Verwaltungsaufbaus in den nachkommenden Epochen.1347 Die hiermit im Zusammenhang durchgeführten Verwaltungs- und Rechtsreformen sind bleibender Verdienst der Rheinbundstaaten und galten als Vorbild für die in den übrigen Territorien entstandenen Administrationen.1348 II. Wiener Kongress und die Frage nach dem Souverän Der Niederlage Napoleons im Russlandfeldzug des Jahres 1813, die auch den Niedergang des napoleonischen Konstitutionalismus zur Folge hatte, schloss sich der Konstitutionalismus unter Herrschaft des staatenbündisch konstituierten Deutschen Bundes1349 an. Sein Zentralorgan, der Deutsche Bundestag mit Sitz in Frankfurt, war als Gesandtenkongress der deutschen Fürsten keine parlamentarische Repräsentation des Volkes.1350 Doch waren die Fürsten auf Anordnung des Art. 13 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 18151351, später konkretisiert durch Art. 57 der Wiener Schlussakte vom 15. Mai 18201352, zur Einführung einer landständischen Verfassung verpflichtet. Unklar war in diesem Zusammenhang der Begriff „landständisch“ bzw. der ihm innewohnende Charakter der „Repräsentation“. Während vor allem Österreich und Preußen diese Bestimmung dahingehend zu nutzen suchten, statt der Etablierung liberal demokratischer Repräsentation

1345

Die Rheinbund-Akte wurde am 12.7.1806 in Paris vom französischem Außenminister Charles Maurice de Talleyrand und 16 deutschen Monarchen unterzeichnet. Vgl. zur Entstehung und Auswirkung des Rheinbund ausführlich Mußgnug, Der Staat 46 (2007), S. 249 ff. 1346 Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 28 S. 211. 1347 Hölzle, in: Hofmann (Hrsg.), Entstehung, S. 262 (268 ff.). Insbesondere die Einteilung in Landkreise und Bezirke fand hier ihre eigentlichen Vorläufer, dazu Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 28 S. 211. 1348 Ebenso Mußgnug, Der Staat 46 (2007), S. 267; vgl. für Bayern und die Bestrebungen des Staatsministers Monteglas Leeb, Wahlrecht I, S. 31. 1349 Abgeleitet aus Art. 35 der Wiener Schlussakte, vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 8 Rn. 259; näher, insbesondere hinsichtlich deren Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt auseinandergesetzt bei Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 663 ff. 1350 Vgl. Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 1 Rn. 25. 1351 Abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 30 (Nr. 29). 1352 Abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 31 (Nr. 30).

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

die Wiederherstellung des altständischen Verfassungswesens voranzubringen,1353 waren insbesondere die in den süddeutschen Staaten erlassenen und mit vorwiegend volksrepräsentativen Elementen durchwobenen Verfassungen Bayerns,1354 ­Badens,1355 Württembergs,1356 des Großherzogtums Hessen1357 und später auch Kurhessens1358 vom Gedanken des Frühliberalismus, also der politischen Bewegung unter dem Einfluss französischer und angelsächsischer Vorbilder nach 1815 geprägt.1359 Kennzeichnend dafür war insbesondere die in den süddeutschen Staaten flächendeckende Einführung eines Kammersystems. Ausweislich der Verfassungstexte vereinigten die gewählten Vertreter der Zweiten Kammer die Repräsentation des gesamten Volkes1360 gegenüber dem Staatsoberhaupt auf sich.1361 Das Modell der Volksvertretung war hier nicht nur ein formelles Zugeständnis an den liberalen Zeitgeist, sondern verfolgte jedenfalls konzeptionell das Ziel, mit den Wahlen eine engere Bindung zwischen Volk und Regierung herzustellen und so den teilweise maroden Staatskredit zu konsolidieren.1362

1353

Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 29 S. 220; Podlech, in: Brunner / W. Conze / Kosel­ leck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe V, S. 509 (534). 1354 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818 (GBl. S. 101 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 53 (Nr. 51). 1355 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818 (StRegBl. 1818, S. 101 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 54 (Nr. 52/53). 1356 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819 (StRegBl. 1819, S. 634 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 55 (Nr. 53/54). 1357 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820 (Hessisches Regierungsblatt 1820, S. 535 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 56 (vor 1806 Hessen-Darmstadt). 1358 Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen v. 5.1.1831 (Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 1 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 58 (vor 1806 Hessen-Kassel). 1359 Vgl. Faber, Der Staat 14 (1975), S. 201 (209). 1360 G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S. 107; im Einzelnen vgl. etwa § 48 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818: „Die Ständemitglieder sind berufen, über die Gegenstände ihrer Berathungen nach eigener Überzeugung abzustimmen“; § 155 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819: „Der Gewählte ist als Abgeordnete nicht des einzelnen Wahlbezirks, sondern des ganzen Landes anzusehen“; der Schwureid zur Eröffnung der Ständeversammlung im Großherzogtum Hessen nach Art. 88 Abs. 2 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 12.12.1820 lautet: „nach bester, eigener, durch keinen Auftrag bestimmter Überzeugung“ zu handeln; ähnlich auch die Eidesformel nach Titel VII § 25 Verfassung für das Königreich Bayern v. 26.5.1818, wonach die Abgeordneten die Beratungen „nur des ganzen Landes allgemeinen Wohl und Beste ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Klassen nach [ihrer] inneren Überzeugung“ zu führen hatten; § 73 Verfassungsurkunde für Kurhessen v. 5.1.1831 (GVS, S. 1 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 58 (Nr. 56): „Die Abgeordneten sind nicht an Vorschriften eines Auftrags gebunden, sondern geben ihre Abstimmungen, gemäß den Pflichten gegen ihren Landesfürsten und ihrer Mitbürger überhaupt, nach ihrer eigenen Überzeugung, wie es vor Gott und ihrem Gewissen zu verantworten gedenken.“ 1361 Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 8; Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 341 und 642 f. 1362 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 317; Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 23 f.

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Den liberalen Bestrebungen entgegentretend beauftragte Fürst von Metternich im Jahr 1819 seinen Publizisten Friedrich Gentz mit einer einschränkenden Interpretation des Art. 13 der Bundesakte. In seiner Karlsbader Denkschrift „Über den Unterschied zwischen den landständischen und den Repräsentativ-Verfassungen“1363 führte Gentz aus: „Landständische Verfassungen sind die, in welchen Mitglieder oder Abgeordnete durch sich selbst bestehender Körperschaften ein Recht der Teilnahme an der Staatsgesetzgebung überhaupt oder einzelnen Zweigen derselben die Mitberatung, Zustimmung, Gegenvorstellung, oder in irgendeiner anderen verfassungsmäßig bestimmten Form ausüben. Das Wort landständische Verfassung hat, solange es eine deutsche Sprache und Geschichte gibt, nie eine andere Bedeutung gehabt, und es konnte daher auch im 13. Artikel der Bundesakte keine andere gemeint sein. Repräsentativ-Verfassungen hingegen sind solche, wo die zur unmittelbaren Theilnahme an der Gesetzgebung und zur unmittelbaren Teilnahme an den wichtigsten Geschäften der Staatsverwaltung bestimmten Personen, nicht die Gerechtsame und das Interesse einzelner Stände, oder doch dies nicht ausschließend zu vertreten, sondern die Gesamtmasse des Volkes vorzustellen berufen sind […].“ Weiter heißt es zum „Grundcharakter“ beider Verfassungen: „Landständische Verfassungen ruhen auf der natürlichen Grundlage einer wohlgeordneten bürgerlichen Gesellschaft, in welcher ständische Verhältnisse und ständische Rechte aus der eigenthümlichen Stellung der Klassen und Korporationen, auf denen sie haften, hervorgegangen, und im Laufe der Zeiten gesetzlich modificiert, ohne Verkürzung der wesentlichen Landesherrlichen Rechte bestehen. Repräsentativ-Verfassungen sind stets in letzter Instanz auf dem verkehrten Begriff von einer ‚obersten Souveränität‘ des Volkes gegründet und führen auf diesen Begriff, wie sorgfältig er auch versteckt werden mag, nothwendig zurück. Daher sind landständische Verfassungen ihrer Natur nach, der Erhaltung aller wahren positiven Rechte und aller wahren im Staat möglichen Freiheiten günstig. Repressentativ-Verfassungen hingegen haben die beständige Tendenz, das Phantom der sogenannten Volksfreiheit (d. h. der allgemeinen Willkür) an die Stelle der bürgerlichen Ordnung und Subordination, und den Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte, oder, was um nichts besser ist, allgemeine Gleichheit vor dem Rechte, an die Stelle der unvertilgbaren, von Gott selbst gestifteten Standes- und Rechtsunterschiede zu setzen. […].“ Die Gentz’sche Interpretation des Art. 13 der Bundesakte fand im Rahmen der Karlsbader Konferenz vom 6. bis 31. August 18191364 bei den anwesenden Staatsmännern der süddeutschen Staaten im Ergebnis zwar keine Mehrheit,1365 doch gelang es von Metternich immerhin, die einzelstaatlichen liberalen Konstitutio 1363

Abgedruckt bei Klüber / Welcker, Wichtige Urkunden, S. 213 ff. Hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 30 S. 231. 1365 Maßgeblich scheiterte es am Widerstand Württembergs, dessen Vertreter Graf Wintzin­ gerode das demokratische Prinzip und Fundament der Verfassungen Bayerns, Badens und Württembergs eindringlich betonte, vgl., Klüber / Welcker, Wichtige Urkunden, S. 253; ebenso Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 12 m. w. N. 1364

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nalisierungsbestrebungen mit der Durchsetzung des „monarchischen Prinzips“ im Art. 57 der Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820 wirksam zu beschränken. Demnach musste „die gesammte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben“. Der „Souverain“ könne „durch eine landständische Verfassung nur in Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden“1366. Dies dämmte die bürgerliche Verfassungsbewegung immerhin soweit ein, dass von 1819 an bis zur Julirevolution im Jahr 1830 in den deutschen Territorien nur noch vereinzelt Repräsentativ-Verfassungen entstanden sind. Die von anderen deutschen Ländern in diesem Jahrzehnt geschaffenen Verfassungen beruhten auf einer weitgehenden Wiederherstellung altständischer Verhältnisse.1367 Dennoch sah sich der Primat der in der Person des Herrschers vereinigten unumschränkten Staatsgewalt durch den Erlass von Verfassungen nicht unerheblich in Frage gestellt. Der Preis für die notwendig gewordene Integration zumindest der besitzenden Schichten in das Staatswesen1368 lag in deren, in der Verfassung abgesicherten Ansprüchen auf politische Beteiligung. Unter Fortgeltung des monarchischen Prinzips bedeutete dieser Umstand zwar rein formal keinen Souveränitätsverlust, da die Herrscher nach wie vor Inhaber aller Staatsgewalt geblieben waren.1369 Im Hinblick auf deren Ausübung war dieser nunmehr aber von der Mitwirkung der in den Zweiten Kammern versammelten Ständevertreter abhängig. Wie sich herausstellen sollte, konstituierte die Trennung zwischen Inhaberschaft und Ausübung der Staatsgewalt,1370 zumal im Hinblick auf die Änderung oder Aufhebung der einmal erlassenen Verfassung, eine für den Monarchen erhebliche Beschränkung seines Souveränitätsanspruchs. Einmal gewährt, war das Staatsoberhaupt „im Dualismus gefangen und verfangen“, indem es fortan auf die gesetzgeberische Mitwirkung der „Volksvertretung“ angewiesen war.1371 War die zentrale Funktion der Gesetzgebung auch im Übrigen somit sowohl den Landständen als auch dem Monarchen durch die Verfassung gemeinschaftlich anvertraut, schloss dies diesbezügliche Alleingänge monarchisch-absolutistischer Natur nunmehr kategorisch aus.

1366

Abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 31 (Nr. 30); näher Stern, Staatsrecht V, § 126 IV 2 (S. 212). 1367 Vgl. zum Ganzen Badura, HStR3 II, § 25 Rn. 23 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 645. 1368 Obenaus, in: B. Vogel (Hrsg.), Reformen, S. 244 (251 ff.). 1369 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht und Völkerrecht I, S. 60. 1370 Heun, Der Staat 45 (2006), S. 365 (379); Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 1 Rn. 26. 1371 Vgl. Zitate bei Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 25; ausführlich v. Mohl, Staatsrecht und Völkerrecht I, S. 49 ff.

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III. Zusammenfassung Im Ergebnis war der durch den Wiener Kongress geordnete Frühkonstitutio­ nalismus zwar geprägt vom Bestreben, die bislang ständischen Verhältnisse zu reformieren. Gleichzeitig aber suchte er, einen offenen revolutionären Bruch mit dem fürstlichen Obrigkeitsstaat und der überkommenen gesellschaftlichen Ordnung zu vermeiden.1372 Die Träger der alten Ordnung waren als relevante politische Kräfte noch vorhanden. So blieb der Monarch Inhaber aller Staatsgewalt,1373 musste sich aber den verfassungsrechtlich verbürgten Mitwirkungsbefugnissen der privilegierten Ständevertreter beugen. Dieser für die damaligen Verfechter eines reinen repräsentativen Verfassungssystems zweifelsohne ernüchternde Befund darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grundlagen eines Übergangs von dem im vorrestaurativen Zeitalter entwickelten und lange Zeit geltenden personengebundenen Staatsverständnisses zum Territorialstaat in diesem Zeitabschnitt angelegt sind. Das schließt nicht nur die grundsätzliche Anerkennung des Rechts auf das vom Territorialstaat beherrschte Gebiet mit ein.1374 Die Epoche vor der gescheiterten Revolution um das Jahr 1848 legte vielmehr auch die Grundlagen für eine dualistische Machtverteilung in einem konstitutionellen System, das sich dann erst jenseits der Bewegung von 1848 und nach dem Ausgang des preußischen Konflikts in Deutschland befestigte.1375

B. Die Rolle der Landstände im monarchisch konstituierten Verfassungsstaat Bevor in diesem historischen Kontext auf die Wahlberechtigung im Einzelnen eingegangen wird, ist es erforderlich, einen Blick auf die Institution zu werfen, auf die das Wahlergebnis Einfluss haben soll: die sog. „Volkskammern“, wie sie infolge der Deutschen Bundesakte und der Wiener Schlussakte Eingang in die Verfassungswirklichkeit der Länder gefunden haben. Die Volkskammern fungierten als parlamentarische Vertretung des ganzen Landes. In ihnen versammelten sich die gewählten Vertreter der sog. Landstände. Der Begriff „Landstände“ vereinte dabei keineswegs alle Standesklassen nach alter Ständeordnung.1376 Landstände stellten lediglich eine Repräsentation der in den Einzelstaaten jeweils bevorrechtigten Stände dar.1377 Was ein Landstand war, geht

1372

Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 281. Vgl. Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 15. 1374 So Siegrist, Hoheitsakte, S. 8. 1375 Vgl. Scheuner, in: Bosl (Hrsg.), Parlamentarismus, S. 297 (302). 1376 Durch Art. 8 des Westfälischen Friedens endgültig legalisiert, vgl. Dickmann, Westfälische Frieden, S. 325 ff. 1377 Vgl. schon G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  106. 1373

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bis heute1378 auf die Definition Johann Jacob Mosers aus dem Jahr 1769 zurück, der wie folgt formulierte: „Land-Stände seynd und heisset das Corpus derjenigen Untertanen, welche krafft der Landes-Freyheiten und Herkommens, von den Landes-Herren in gewissen Landes-Angelegenheiten um ihren Rath oder auch Bewilligung ausgesprochen werden müssen, auch sonsten mancherley des Landes Wohlfahrt betreffenden Sachen zu dirigieren, zu veranstalten oder doch dabey e­ twas zu sagen haben.“1379 Ausgehend von dieser Definition hat Moser aus der von ihm gesichteten historisch-politischen Literatur und den aus einer Vielzahl von Einzelurkunden abgeleiteten tatsächlichen Gebräuchen die Mitspracherechte bestimmter Untertanen bzw. Bevölkerungsschichten über bestimmte Angelegenheiten beim seinerzeit formal absolutistisch herrschenden Landesherrn des 18. Jahrhunderts in den Territorien untersucht und systematisiert. Fast überall gehörten zu den Mitsprachebefugten1380 seiner Auffassung nach stets der hohe Adel, die Geistlichkeit und die Ritterschaft. Je nach Region kamen auch noch – teils alternativ, teils kumulativ – die Städte und die Bauernschaft und weitere korporativ verfasste Institutionen, namentlich etwa Universitäten oder Klöster, hinzu.1381 Moser kam also bereits im Jahr 1769 zu dem Ergebnis, dass in mehr als zwei Dritteln des Reiches faktisch nach dem Prinzip einer nach seiner Definition existenten landständischen Verfassung regiert wurde.1382 Schon dort war es an den privilegierten Bevölkerungsschichten, in korporativer Organisation die Gesamtheit, das Land oder das Reich gegenüber dem Herrscher zu vertreten. Etwas moderner formulierte der Staatsrechtslehrer Karl von Rotteck: „Landstände sind ein das gesamte zum Staat vereinte Volk (oder einen Teil desselben) vorstellender […] Ausschuß, beauftragt, die Rechte dieses Volkes (oder Volksteils) gegenüber der Regierung auszuüben.“ Er macht deutlich, dass Landstände seiner Auffassung nach nicht selbst mit Regierungsaufgaben betraut sein können, sondern „Volksrepräsentanten gegenüber der Regierung“ sind.1383 Ähnlich den historischen Reichsständen waren Landstände also Zusammenschlüsse bevorzugter Gruppen oder Klassen von Landesangehörigen, die in einer Ständeversammlung ein eigenes verfassungsrechtliches Organ besaßen und an der politischen Willensbildung beteiligt waren.1384 Unter dem Regime der Bundesakte wirkten die historischen Traditionen in den landständischen Verfassungen fort. Im Unterschied zu früher traten die Abgeordneten aber nicht mehr in getrennten Kurien zusammen, sondern in zwei getrennten Kammern. In der ersten Kammer versammelten sich 1378

Vgl. K. Krüger, Landständische Verfassung, S. 33. Moser, Staats-Recht XIII, S. 322. 1380 Zur Reichweite dieser Befugnisse vgl. m. w. N. Scheuner, in: Bosl (Hrsg.), Parlamentarismus, S. 297 (315 f.). Zu nennen sind etwa die Bereiche: Steuerbewilligung; Gesetzgebung in grundlegenden Fragen sowie Mitsprache bei grundlegenden Territorialbelangen des Landes, etwa Vormundschaften, Landesveräußerungen, Teilung oder Wechsel der Dynastie. 1381 Vgl. auch Stern, Staatsrecht I, § 10 I 2 (S. 290 f.). 1382 Näher K. Krüger, Landständische Verfassung, S. 33 ff. 1383 Vgl. v. Rotteck, Landstände, S. 18, 19. 1384 Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 4 Rn. 110. 1379

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in der Regel der hohe und der grundbesitzende Adel, teilweise auch Vertreter der Kirchen und der Universitäten sowie einige vom Monarchen persönlich berufene Mitglieder.1385 Sie amtierten teils dynastisch, teils kraft Wahl. In der zweiten Kammer vereinten sich die gewählten Repräsentanten des gebildeten und besitzenden Bürgertums.1386 Diese dem englischen Modell entlehnte Doppelung bewahrte mit der überwiegend aristokratisch besetzten ersten Kammer einen Restbestand althergebrachter Privilegien im konstitutionellen Staat einerseits; dem bürgerlich-repräsentativen Element der zweiten Kammer wurde andererseits eine „beharrende, retardierende Kraft“ entgegengesetzt.1387 Gestärkt durch die teilweise historisch erlangten Privilegien und die nunmehr zusätzliche Legitimation durch eine Wahl, lehnten die Vertreter der Landstände es aber zunehmend ab, sich herrschaftlicher Willkür auszuliefern.1388 In den Ständeversammlungen bürgerten sich nunmehr freies Mandat und Mehrheitsprinzip ein. Allenfalls in den Formen der Verhandlung, bei Einberufung, Schließung oder fürstlicher Ernennung von Kammerpräsidenten zeigten sich noch manche Anklänge an die ältere ständische Periode.1389 In diesem Zusammenhang darf freilich nicht unerwähnt bleiben, dass auch zu Zeiten des Frühkonstitutionalismus jedwede Reform oder Verfassung, ob landständisch oder repräsentativ, kein Verdienst des Bürgertums, der Gesellschaft oder sonst einer gegen die Obrigkeit gerichteten Kraft gewesen ist. Vielmehr war die Einrichtung von Verfassungen – ob nun im Wege von Oktroi oder Vereinbarung1390 durch „Verfassungsvertrag“ zwischen dem Fürsten und einer bestehenden oder

1385 Vgl. Titel VI § 2 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern 26.5.1818; § 27 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818; § 129 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; Art. 52 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820. 1386 Vgl. Titel VI §§ 7, 9 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern 26.5.1818; § 33 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818; § 133 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; Art. 53 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820. 1387 Näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 341; Stern, Staatsrecht V, § 126 IV 4 (S. 233). 1388 Vgl. Lousse, in: Rausch (Hrsg.), Grundlagen I, S. 278 (292). 1389 Vgl. Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 1 Rn. 27. 1390 So z. B. Vorrede der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819: „[…] so ist endlich durch höchste Entschließung und allerunterthänigste Gegenerklärung eine vollkommen beiderseitige Vereinigung über folgende Punkte zustande gekommen.“; Vorrede der Verfassungsurkunde für Sachen v. 4.9.1831 (SGV 1831 S. 241 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 59 (Nr. 57): „[…] thun hiermit kund, daß Wir […] die Verfassung Unseres Landes, mit Beirath und Zustimmung der Stände, in nachfolgenden Maße geordnet haben.“ Die einleitenden Bemerkungen der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820 machen aus ihrem Charakter der Verfassung als Oktroy der Obrigkeit keinen Hehl: „Nach dem Wir die […] geäußerten Wünsche Unserer getreuen Stände über die constitutionellen Bestimmungen vorgenommen und in Beziehung auf die selben Unsere Entschließungen gefasst haben […] verordnen [Wir] daher Folgendes als Die Verfassung des Großherzogthums“. Gemäß Art. 110 Verfassungsurkunde für das Großherzogthum Hessen werden Abänderungen und Erläuterungen an die „Einwilligung beider Kammern“ geknüpft.

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zu diesem Zweck konstituierten Ständeversammlung des Landes1391 – der Staatsspitze teilweise selbst Werkzeug, ihrem Regiment durch den Bonus der Konstitution zumindest den Anschein einer fortschrittlichen Legitimation gegenüber ihren Untertanen zu verschaffen. Treffend hat Rainer Wahl formuliert, dass „die rechtzeitige Reform von oben […] die Eroberung des Staates durch die Gesellschaft [ersparte]“. Sie „ließ aber gerade deshalb den traditionellen Staat und seine Bürokratie als eigene dauerhaft fortwirkende Machtfaktoren bestehen, sie begründete eine Trennung von Staat und Gesellschaft“.1392 Insbesondere die in den Jahren 1818 bis 1820 installierten Repräsentativ-Verfassungen der infolge verschiedentlicher Gebietszuwächse1393 in ihren Grenzen neu geschaffenen Südstaaten Baden, Bayern, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Kurhessen1394 waren für die süddeutschen Herrscher in erster Linie Integrationsgarant der bis dahin zersplitterten Bevölkerung unterschiedlichster Gebietsteile. Im Zuge dynastischer Selbstbehauptung der Herrscher gab es kein wirksameres Mittel zur Integration der Bevölkerung als die Bildung volksgewählter Vertretungskörperschaften, um in jedem der aus zahllosen Gebietsteilen neu geschaffenen Länder den gemeinsamen Staatssinn zu wecken und einen politischen Gesamtwillen zu formen.1395 Zudem versicherten sie sich so der Staatstreue seitens der besitzenden Schichten. Mit der inneren Zusammenführung staatlicher Herrschaft ging auch das Ziel äußerer staatlicher Souveränität einher, dem bislang keine verbindende Tradition anhaftete.1396 Bestimmend war nicht zuletzt auch das Bestreben, einer verfassungsmäßigen Konstitution des Deutschen Bundes zuvorzukommen, solange der Begriff der landständischen Verfassung aus Art. 13 der Bundesakte noch nicht verbindlich bestimmt war. Aller Interventionsbefugnis der Ständeversammlung zur Sicherung der Verfassung zum Trotz gingen die obrigkeitlichen Zugeständnisse zur Einrichtung einer zweiten Kammer nicht so weit, dass diese eigenständige politische Rechte im Sinne einer echten Teilhabe für sich beanspruchen konnte. Die geforderte Repräsentation der Nation,1397 die sich selbstbestimmt Gesetze geben könnte, die Hoheit 1391 Vgl. Nachweise bei Fn. 1391; näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 318; auch Brandt, in: Kirsch / Schiera (Hrsg.), Konstitutionalismus, S. 102: „vereinbarte Verfassung“ als „Vereinbarung zwischen monarchischer Regierung und zur Politik der Regierung bekehrten Stände“, kritisch zum Begriff der Vereinbarung C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 63 f. 1392 Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 15; ähnlich auch ders., Der Staat 18 (1979), S. 321 (323). 1393 Zu erwähnen sind hier insbesondere Gebietszuwächse aufgrund der in §§ 2, 5, 6 und 7 des Reichsdeputationshauptbeschlusses v. 1803 näher bezeichneten Abfindungsleistungen, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 1 und der Wiener Verhandlung 1815. 1394 Zu den einzelnen Gebietserweiterungen der genannten Staaten vgl. näher, S. 315 f. 1395 So Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 317; in diese Richtung auch Becker, DÖV 1957, S. 740; Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 11 f. m. w. N.; Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 15 m. w. N. Zur daneben bestehenden Ergänzungsfunktion der Volksrepräsentation zur Staatsbürokratie vgl. Huber, ebd.; wenngleich an der Vorhersehbarkeit der Integrationswirkung zweifelnd, i. E. zustimmend auch Brandt, in: Kirsch / Schiera (Hrsg.), Konstitutionalismus, S. 100. 1396 Vgl. Brandt, in: Kirsch / Schiera (Hrsg.), Konstitutionalismus, S. 100. 1397 So etwa v. Rotteck, Landstände, S. 19 f., 27, 31.

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über Steuerbewilligungen innehätte und auf die Festsetzung der Staatsaufgaben gegenüber der Regierung maßgeblichen Einfluss ausüben könnte, blieb in der Frühzeit der Verfassungsbewegung noch Fiktion. Denn die herrschenden Gewalten waren sich hinsichtlich des Anspruchs auf politische Teilhabe der im „Dritten Stand“ erscheinenden Nation einig, dieser Entwicklung entgegenzuwirken oder zumindest auf solche Arrangements hinzuarbeiten, die zwar den Zeitgeist äußerlich befriedigten, die essenziellen Positionen aber unberührt ließen.1398 Zurückgehend auf die Definition Mosers1399 und ganz im Sinne des monarchischen Prinzips waren die Landstände also keine eigenständigen Gesetzgebungsorgane, sondern nur deren Teilhaber. Die Befugnisse der Vertreter der allgemeinen Landstände waren von vornherein begrenzt auf „Hilfe und Rat“1400. Der württembergische Staatsminister Robert von Mohl bekräftigte dies im Hinblick auf die Regierungsgewalt auch für die nach 1815 entstandenen Verfassungen in den deutschen Einzelstaaten. „Von einem positiven Mitregieren, namentlich von einer Theilnahme der Stände in der Verwaltung, ist nirgends die Rede, und jeder Versuch zu einem solchen Eingriffe in die fürstlichen Rechte würde um so mehr mit Entschiedenheit und Entrüstung zurückgewiesen werden, als auch die Grundgesetze des Bundes die wesentliche Handhabung der Staatsgewalt durch die monarchischen Bundesglieder und die nur controlirende Stellung der Stände zur allgemeinen Vorschrift erhebt.“1401 Die zahlreichen „Verfassungsvereinbarungen“ lösten die Frage nach dem Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt sohin nicht zugunsten eines neuen Souveräns, dem Volk. Sie bedeuteten allenfalls einen auf Landesherrlichkeit beruhenden Kompromiss, der den Konfliktfall mehr oder weniger unentschieden ließ.1402 Just dieser Konflikt äußerte sich aber besonders, wenn es um die Reichweite der politischen Mitwirkungsbefugnis bei Verfassungsänderungen ging. Die Benennung dieser Reichweite avancierte so zum eigentlich integrationsstiftenden Moment, um die mit den teils einseitig verordneten Verfassungen einhergehenden Widersprüche der Legitimation auszugleichen.

C. Die frühe Wahlrechtsentwicklung, dargestellt am Wahlrecht der süddeutschen Territorien Bei der juristischen Beurteilung politischer Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes ist auf die normativen Vorgaben der konstitutionellen Verfassungen zurückzugreifen. Der normativ verbürgte Grad der politischen Mitbestimmung wird im aktiven und passiven Wahlrecht deutlich. Die Entwicklung in den einzelnen deutschen Ländern verlief diesbezüglich uneinheitlich und mit mannigfaltiger 1398

Vgl. Stolleis, Geschichte II, S. 109 f. Vgl. oben S. 270 mit Fn. 1380. 1400 Lousse, in: Rausch (Hrsg.), Grundlagen I, S. 278 (292). 1401 Vgl. ders., Staatsrecht I, S. 50. 1402 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 63. 1399

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Ausprägung.1403 Doch gibt es Territorien, die abstrahiert von der konkreten Landund Herrschersituation Verfassungen geschaffen haben, welche unserem heutigen Verständnis repräsentativer Elemente noch am ehesten entsprechen. In diesem Zusammenhang kamen die süddeutschen Verfassungen, insbesondere diejenigen von Bayern, Baden und Württemberg, später auch die von Kurhessen,1404 dem Modell klassischer Konstitution am nächsten. Diese überragten in ihrer politischen Bedeutung die gleichzeitig mit ihnen entstandenen Verfassungen der übrigen mittleren und kleineren Länder.1405 Deshalb nimmt die Untersuchung zur Rechtslage des konstitutionellen Wahlrechts im Wesentlichen die vorgenannten Verfassungen der großen Länder zum Ausgangspunkt. I. Historisches Wahlrecht in Bayern Das Königreich Bayern erhielt seine erste Verfassung noch in rheinbündischer Zeit am 1. Mai 1808.1406 Doch blieben ihre „pseudo-repräsentativen Einrichtungen“ unter Staatsminister Monteglas selbst unter dem Eindruck der Wiener Konferenz unausgeführt.1407 Erst nach dessen Sturz am 2. Februar 1817 erhielt die Verfassungsarbeit neuen Schub. Am 26. Mai 1818 setzte der bayerische König die Verfassung ohne Mitwirkung einer Volksvertretung in Kraft. Zusammen mit der Verfassung wurden zehn verfassungsergänzende Edikte (Beilagen I bis X) ausgefertigt und verkündet,1408 darunter auch das Edikt über die Ständeversammlung vom 26. Mai 18181409 (Ständeedikt), in dem die näheren Einzelheiten zum Wahlrecht geregelt waren. Die normativen Grundentscheidungen aus Verfassung und Ständeedikt votierten für ein Klassenwahlrecht mit insgesamt fünf Klassen, das im Hinblick auf die Wahl der Deputierten dem französischen Vorbild entsprechend überwiegend ein mehrstufiges und damit indirektes Wahlverfahren vorsah.1410 Eine Direktwahl war nur für die Grundbesitzer mit gutsherrlicher Gerichtsbarkeit eingeräumt, die nicht Sitz und Stimme in der ersten Kammer hatten (Klasse I).1411 Die aktive Teilhabe der Wahlberechtigten beschränkte sich im Übrigen auf die sog. „Urwahl“ zur Bestimmung von Wahlmännern.1412 Die Klassenteilung geschah in erster Linie, um den als systemtragend identifizierten, aber zahlenmäßig weit 1403

Vgl. Hofmann, in: ders. (Hrsg.), Entstehung, S. 293. Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 24. 1405 Einschätzung ebenfalls bei Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 319. 1406 Vgl. oben Zweiter Teil 2. Kapitel A. I. 1407 Zu den Gründen vgl. näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 321 f.; ausführlich Leeb, Wahlrecht I, S. 36 ff. 1408 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 322. 1409 Edict über die Stände-Versammlung v. 26.5.1818, VU Beil. X (GBl, S. 349), abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht II, Dok-Nr. 375 (S. 1490 ff.). 1410 Vgl. G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  113. 1411 Vgl. VU Beil. X Titel I, §§ 14–17, näher Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 211 f. 1412 Titel VI § 10 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818; VU Beil. X Titel I, § 14 ff. 1404

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unterlegenen Ständen eine gewichtige eigene Vertretung in der Kammer und den Schutz vor der Majorisierung durch andere Stände zu garantieren.1413 1. Aktives Wahlrecht Die Bayerische Verfassung von 1818 regelte die Grundlagen des aktiven Wahlrechts im Titel IV (Von allgemeinen Rechten und Pflichten) sowie im Titel VI (Von der Stände-Versammlung). Die einzige, ausdrücklich für alle geltende Voraussetzung für die aktive Teilnahme an der Urwahl war ein Mindestalter von 25 Jahren.1414 Alle anderen Bedingungen wurden für die einzelnen Wahlklassen getrennt festgelegt. Doch lassen sich aus den Bestimmungen einige Grundzüge herleiten, die gleichermaßen für alle Wahlklassen galten.1415 So ergibt sich etwa aus Titel VI § 11 der Verfassung, dass von vornherein nur die im Urwahlbezirk wohnhaften und ansässigen männlichen Angehörigen der jeweils in der Zweiten Kammer repräsentierten Klassen, namentlich also die Mitglieder der jeweils überhaupt vertretenen Landstände berechtigt waren, an der Bildung der Zweiten Kammer aktiv teilzuhaben. Daneben setzt die aktive Wahlberechtigung gemäß Titel IV § 3 der Verfassung das „Bayerische Staats-Bürgerrecht“ voraus, das durch das Indigenat bedingt war (Titel IV § 2 der Verfassung). Das Indigenat war mit der Staatsangehörigkeit nicht identisch,1416 sondern erforderte zusätzlich die Volljährigkeit und die Ansässigkeit im Königreich mit besteuertem Grundbesitz oder Gewerbe. Die Erlangung des Indigenats richtete sich wiederum nach der I. Verfassungsbeilage, dem Edict über das Indigenat vom 26. Mai 1818.1417 Die Ansässigkeit im Urwahlbezirk,1418 die in Bayern sowohl Voraussetzung für die Erlangung des Indigenats wie auch, jedenfalls für die meisten Klassen, des aktiven Wahlrechts gewesen war, setzte tatbestandlich demnach die rechtliche oder wirtschaftliche Selbstständigkeit voraus. Neben diesen Grundentscheidungen divergierten die Wahlrechtsvoraussetzungen innerhalb der einzelnen Klassen zum Teil erheblich. So wurde die Wahlberech­ tigung etwa für die Grundeigentümer ohne gutsherrliche Gerichtsbarkeit (Klasse V) 1413

Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 206 f. Vgl. Titel IV § 3 lit. a)  Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818; VU Beil. X, Titel I § 13. 1415 Vgl. Leeb, Wahlrecht I, S. 69. 1416 Zu den Schwierigkeiten der unterschiedlichen Begriffsvarianten in den Verfassungen und Gesetzen der Einzelstaaten vgl. ausführlich m. w. N. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 174 ff.; bei § 19 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819 „Staatsbürger“. Hier sind die Begriffe Staatsbürger und Staatsangehöriger synonym gebraucht, vgl. ders., ebd., S. 177. Die im Titel IV § 2 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818 gebrauchte Wendung: „Staatsbürgerrecht bedingt durch das Indigenat“ grenzt hingegen vom Staatsangehörigen ab, so ders., ebd., a. A. etwa Makarov, Allgemeine Lehren, S. 8 mit Fn. 4. 1417 Vgl. dazu §§ 2, 3 Edict über das Indigenat v. 26.5.1818 (GBl. S. 141), abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht II, Dok-Nr. 376 (S. 1407) = VU Beil. I. 1418 Die Urwahlbezirke waren (mit Ausnahme der Städte und Märkte), mit den Regierungsbezirken identisch, vgl. §§ 14, 17 Ständeedikt. 1414

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zusätzlich von einem Steuerzensus in Höhe von insgesamt drei Gulden (Steuersimplum) abhängig gemacht.1419 Diese Klasse wählte in mehreren zeitlich und räumlich streng voneinander getrennten Phasen (Titel I §§ 27 bis 39 Ständeedikt): nämlich der Urwahl zur Ernennung der Wahlmänner und der eigentlichen Wahl der Ab­geordneten durch die Wahlmänner.1420 Bei den Klassen­vertretern der Städte und Gemeinden (Klasse IV) wählten nur der Magistrat und die Gemeindebevollmächtigten die Abgeordneten direkt.1421 Bezogen auf diese Standesklasse konnte von einem allgemeinen Wahlrecht also kaum die Rede sein.1422 Hintergrund der Bestimmung war die Forderung nach einem bei den Mitgliedern der Vertretungskörperschaften bereits bestehenden „Gefühl für Institutionen“ und einem „Verständnis“ für das öffentliche Amt.1423 Von wirtschaftlichen Voraussetzungen gänzlich freigestellt waren die Klasse der Universitäten (Klasse II) und der Geistlichen (Klasse III), deren Standesvertreter in der Zweiten Kammer ausschließlich den Bildungssektor bzw. die katholische oder protestantische Kirche repräsentierten.1424 Die in den Standesklassen teils gesondert zu wählenden Wahlmänner mussten bereits die Voraussetzungen für die Tätigkeit als Abgeordneter (dazu sogleich) erfüllen.1425 Insgesamt ließ das so beschränkte Wahlrecht mithin von vornherein nur eine sehr kleine, äußerst privilegierte Bevölkerungsgruppe an der personellen Konstitution der Zweiten Kammer teilhaben. 2. Passives Wahlrecht Die passiven Wahlrechtsvoraussetzungen waren gegenüber der ohnehin schon restriktiven Zuerkennung der aktiven Wahlberechtigung noch enger ausgestaltet. Auch hier kann zwischen allgemeinen und besonderen Wählbarkeitsvoraussetzungen unterschieden werden. Nach Titel  VI § 12 der Verfassung musste jeder Wahlmann und jeder Abgeordnete „ohne Rücksicht auf Standes- oder Dienst-Verhältnisse ein selbstständiger Staatsbürger seyn, welcher das dreißigste Lebensjahr zurückgelegt hat und den freyen Genuß eines solchen im betreffenden Bezirke oder Orte gelegenen Vermögens besitzt, welches seinen unabhängigen Unterhalt sichert, und durch die im Edicte festgesetzte Größe der jährlichen Versteuerung bestimmt wird. Er muß sich zu einer der drey christlichen Religionen erkennen und darf niemals einer Special-Untersuchung wegen Verbrechen oder Vergehen unterlegen haben, wovon er nicht gänzlich freygesprochen worden ist“. Die Festsetzung des Wählbarkeitsalters auf die Vollendung des 30. Lebensjahres limitierte

1419

VU Beil. X, Titel I § 29. Vgl. näher Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 212. 1421 Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 1407. 1422 So auch G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  121. 1423 Vgl. bei Braunias, Wahlrecht II, S. 112. 1424 Näher Leeb, Wahlrecht I, S. 78. 1425 G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  121; Leeb, Wahlrecht I, S. 70. 1420

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den Kreis der wählbaren Personen weiter erheblich.1426 Der Ausschluss von Frauen war selbstverständlich und auch die weiteren Wählbarkeitsbeschränkungen, namentlich die strafrechtliche Unbescholtenheit sowie die zwingende konfessionelle Zugehörigkeit, lagen auf der Linie nahezu aller Verfassungen im Vormärz.1427 Das zu berücksichtigende Grundvermögen im Wahlbezirk musste über die Sicherung des eigenen Unterhalts hinaus auch zu einer durch das Ständeedikt der Höhe nach festgeschriebenen jährlichen Steuerleistung herangezogen werden können.1428 Der sohin obligatorische Zensus war hier höher festgesetzt und richtete sich nach dem Simplum von Häuser- und Rustikalsteuer in Höhe von zehn Gulden oder eines für die dritte Hauptklasse der Gewerbesteuern festgesetzten Betrages von dreißig bis vierzig Gulden oder einer Gesamtsumme beider Steuern, welche dem angegebenen Betrag der dritten Hauptklasse der Gewerbesteuer entsprach.1429 Diesem Steuererfordernis genügten gerade einmal 3,25 % der dort beheimateten Familienvorstände. In den Städten und Märkten waren sogar kaum mehr als 0,7 % der Bevölkerung überhaupt wählbar.1430 Zudem stellte § 8 lit. e des Ständeedikts sicher, dass nur jene Staatsbürger wahlfähig waren, die sich zum Zeitpunkt der Wahl seit mindestens drei Jahren im Besitz des wahlrechtlich berücksichtigungsfähigen Grundeigentums oder Gewerbebetriebs befunden haben. Diese enge Bindung der Wahl an einen regionalen oder lokalen Rahmen hatte zum Ziel, eine gewisse Bodenständigkeit und Verankerung des Wahlmannes bzw. des Abgeordneten mit seinem Wahlkreis oder seiner Stadt zu garantieren und so ein „persönlich-patriarchalisch-ethisches Band um Wähler und Gewählte“ zu bilden.1431 3. Wahlrecht und Territorialität Auf die weiteren Differenzierungen innerhalb der Standesklassen braucht an dieser Stelle nicht eingegangen werden.1432 Das dem bayerischen Wahlrecht zugrundeliegende Prinzip wird bereits nach diesem Überblick deutlich. Es war mit Ausnahme der Standesvertreter der Universitäten und der Prälaten in erster Linie geprägt von den in der Ansässigkeit und den in weiteren Einschränkungen zum Ausdruck gekommenen Steuer- und Besitzzensus von nicht unerheblichem Grundund Gewerbeeigentum, der für die Eigenschaft als politisch aktiv wie passiv legitimierter Staatsbürger das integrationsstiftende Moment bildete. Im Hinblick auf 1426

Leeb, Wahlrecht I, S. 51. Leeb, Wahlrecht I, S. 66. Die Einschränkung hinsichtlich der strafrechtlichen Unbescholtenheit barg für die Verwaltung erheblich Missbrauchspotential, unliebsame Kandidaten vom Wahlrecht auszuschließen. Denn für den Wahlrechtsausschluss genügte bereits die Durchführung eines Strafverfahrens, unabhängig von deren Ausgang. 1428 Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 210. 1429 Vgl. VU Beil. I Titel I § 8 lit. d; G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  121. 1430 Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht II, S. 211; ähnlich Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 127. 1431 Vgl. Leeb, Wahlrecht I, S. 68. 1432 Dazu ausführlich Leeb, Wahlrecht I, S. 74 ff. 1427

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

die Territorialität des Wahlrechts kann zudem festgestellt werden, dass die diesbezüglich über die Ansässigkeit vermittelten Anforderungen das aktive wie das passive Wahlrecht in unterschiedlichem Maße prägten. Während die aktive Wahlberechtigung die Ansässigkeit, kombiniert mit bestimmten Zensusbestimmungen, ohne zeitliche Bedingung voraussetzte, war Letztere, also eine bestimmte Dauer der Ansässigkeit, tragendes Wählbarkeitskriterium, um damit eine enge lokale Verbindung des Deputierten zu seinem Wahlkreis herzustellen.1433 An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass die sowohl von der aktiven wie passiven Wahlberechtigung vorausgesetzte und über besteuerten Grundbesitz oder Selbstständigkeit vermittelte Ansässigkeit, die sie flankierenden Zensusbestimmungen sowie die für die Wählbarkeit erforderliche zeitliche Mindestfrist der Ansässigkeit je einen eigenständigen materiellen Gehalt mit jeweils unterschiedlicher Stoßrichtung in sich tragen. Hierauf ist an anderer Stelle zurückzukommen.1434 II. Historisches Wahlrecht in Baden Die infolge erheblicher Landgewinne nach dem Umbruchjahr 1803 sehr heterogene Gebietsstruktur Badens erschwerte eine staatsrechtliche Unitarisierung des badischen Königreichs erheblich. Um die Staatseinheit zu gewinnen, war es ausgeschlossen, an die überkommenen landständischen Traditionen des untergegangenen Reiches anzuknüpfen, die sich in Einzelteilen noch in vielfältiger Gestalt fanden.1435 Hinzu traten die unverhohlenen Versuche Bayerns, Teile der infolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 an Baden gegangenen Gebiete der Kurpfalz zurückzuerlangen,1436 die wiederum mit den erheblichen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Erbfolge des Herrscherhauses Zähringen in Zusammenhang standen.1437 Angesichts der politisch prekären Lage war die Sicherung der badischen Staatlichkeit durch eine Repräsentativ-Verfassung ein dringendes Gebot. Die bereits im Haus- und Familienstatut vom 4. Oktober 18171438 festgeschriebene Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des badischen Königreiches in allen Teilen wurde in § 3 der Badischen Verfassung1439 wiederholt. Auch die Erbfolge (§ 2 Hausund Familienstatut) erlangte über § 4 der Verfassung als sog. „Hausgesetz“ eigenen Verfassungsrang. Großherzog Karl setzte die Verfassung am 22. August 1818, 1433 Diese gegenüber dem aktiven Wahlrecht gesteigerten Wahlrechtsbeschränkungen waren für das Wählbarkeitsverständnis auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht untypisch, vgl. Braunias, Wahlrecht II, S. 110 f. 1434 Näher insbesondere zum Begriff der Ansässigkeit unten Zweiter Teil 4. Kapitel B. II. 1435 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 323. 1436 Abgeleitet aus Art. 3 des Allianzvertrags von Ried v. 8.10.1813 zwischen Österreich und Bayern, abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht I, Dok-Nr. 16, dazu näher m. w. N. und rechtlicher Einschätzung bei Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 325. 1437 Näher Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 388. 1438 Abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht I, Dok-Nr. 208. 1439 Vom 22.8.1818 (StRegBl. S. 101 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 54. (Nr. 52/52), S. 172 ff.

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wenige Monate vor seinem Tod, in Kraft. Sie erfuhr über die Landesgrenzen Badens hinaus schließlich verbindliche Anerkennung.1440 Neben der Verklammerung von Staat und Monarchen war es erklärtes Ziel des Großherzogs, die Monarchie an das Volk und umgekehrt das Volk durch die in der Verfassung vorgesehenen Kammerwahlen an die Monarchie zu binden. Die Vollendung seiner Bestrebungen erlebte er freilich nicht mehr. Nach dem Tode Karls am 8. Dezember 1818 setzte sein Erbnachfolger Großherzog Ludwig sein Schaffen mit dem Erlass der Badischen Wahlordnung vom 23. Dezember 18181441 (WO-Baden) fort.1442 Das Kernstück der Repräsentativ-Verfassung bildete der Abschnitt III über die Ständeversammlung nach dem gemäß § 26 der Verfassung konstituierten landständischen Zweikammersystem. 1. Aktives Wahlrecht Die Wahlen zur Zweiten Kammer waren ähnlich wie in Bayern indirekt ausgestaltet. Es wurden Wahlmänner gewählt, die gemäß § 34 der Verfassung ihrerseits wiederum Abgeordnete zu wählen hatten. An den Urwahlen konnten gemäß § 36 der Verfassung alle männlichen badischen Staatsbürger, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten und das an Ansässigkeit und Grundeigentum gekoppelte Gemeindebürgerrecht im „Wahldistrict“1443 besaßen oder dort ein öffentliches Amt bekleideten, teilnehmen, sofern sie nicht (§ 35) der Ersten Kammer angehörten oder zu ihr wahlberechtigt waren. Die weiteren Einzelheiten regelte die Badische Wahlordnung, von der die hier relevanten Vorschriften genannt werden sollen.1444 § 43 Nr. 3 WO-Baden wiederholt die verfassungsrechtliche Anordnung des § 36 und schließt vom Wahlrecht positiv „bloße Hintersassen, Gewerbsgehülfen, Gesinde, Bedienstete usw.“, namentlich also alle unselbstständigen bzw. in Abhängigkeit befindlichen Personen aus. Einen gesonderten Besitz- oder Steuerzensus kannte das aktive Wahlrecht zur Zweiten Kammer in Baden zwar nicht, jedoch bewirkte die ausschließliche Anknüpfung des aktiven Wahlrechts an ein bestehendes Gemeindebürgerrecht den Ausschluss all jener besitzenden selbstständigen Staatsbürger, die das Gemeindebürgerrecht nicht innehatten oder sich andernorts niedergelassen hatten.1445 Denn die Gemeindeordnungen Badens trennten bis zum Erlass der Gemeindeordnung vom 31. Dezember 18311446 zwischen Gemeinde- und bloßen Schutzbürgern. Zudem war das Gemeindebürgerrecht wie nahezu überall wiede-

1440

Näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 325 f. StRegBl. S. 173 ff., abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht I, Dok-Nr. 213. 1442 Dazu näher Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 327. 1443 „Wahldistrict“ war jeder Ort mit eigenem Gericht und wenigstens 250 Einwohnern (§ 38 der Verfassung). 1444 Vgl. für eine umfassende Darstellung des badischen Wahlrechts Hörner, Wahlen, S. 64 ff. 1445 Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 402. 1446 StRegBl. 1832 S. 81. 1441

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rum an einen bestimmten Grundbesitz und Steuerzensus gebunden.1447 Eine im süddeutschen Konstitutionalismus einmalige Ausnahme bildete aber die Zulassung von öffentlichen Beamten zur Stimmabgabe, auch soweit sie kein Grundeigentum innehatten.1448 Insgesamt besaßen das Wahlrecht so immerhin fast 17 % der Bevölkerung; ein im zeitgenössischen Deutschland kaum noch einmal erreichter Wert.1449 2. Passives Wahlrecht Für die Wählbarkeit als Wahlmann galten gemäß § 36 der Verfassung lediglich die Voraussetzungen der aktiven Wahlberechtigung. Es wurden insgesamt 2.500 Wahlmänner gewählt, die ihrerseits die Abgeordneten zu wählen hatten.1450 Die Einteilung der Wahlkreise begünstigte die Städte, auf die nur 9,6 % der Einwohner Badens entfielen, aber teilweise bis zu drei zu wählende Mandatsträger stellen durften.1451 Als Abgeordneter wählbar waren gemäß § 37 der Verfassungsurkunde sowie § 65 [Abs. 1] WO-Baden ohne Rücksicht auf den Wohnort nur die männ­ lichen badischen Staatsbürger, die das 30. Lebensjahr vollendet hatten, eine der drei christlichen Konfessionen angehörten und in dem Grund-, Häuser- und Gewerbesteuerkataster wenigstens mit einem Kapital von 10.000 Gulden eingetragen waren oder eine jährliche lebenslängliche Rente von wenigstens 1.500 Gulden von einem Stamm- oder Lehnsgutsbesitz oder eine fixe Besoldung oder Kirchenpfründe von gleichem Betrag als Staats- oder Kirchendiener bezogen. 3. Wahlrecht und Territorialität Ungeachtet dieser Einschränkungen waren die Bestimmungen über die Zusammensetzung der Zweiten Kammer im zeitgenössischen Vergleich durchaus modern. Denn eine unmittelbare lokale Bindung, wie sie das bayerische Wahlrecht kannte, gab es in Baden nicht. Insbesondere konnten die Kandidaten das an mehreren Orten in Güter, Häuser und Gewerbesteuerkataster eingetragene und zu versteuernde Kapital gemäß § 65 [Abs. 3] WO-Baden zusammenzählen. Im Übrigen aber war

1447

Vgl. dazu unten Zweiter Teil 4. Kapitel A. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 345. 1449 Vgl. Hörner, Wahlen, S. 129; Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 402. 1450 Hier sahen die §§ 37 ff. der Badischen Wahlordnung je „Wahldistrict“ ein nach Einwohnerzahl und Ortsgröße bestimmtes Vertretungsverhältnis vor. So wählten etwa „größere Orte“ (750 Einwohner oder mehr) „je auf 500 Seelen einen“ für je 250 weitere Seelen einen weiteren Wahlmann, mindestens aber 32 Wahlmänner (§ 39). Mehrere Ortschaften, die für sich die entsprechenden Einwohnerzahlen jeweils nicht erreichten, wurden mit dem nächstgelegenen „Wahldistrict“ vereinigt (§ 40). In den Städten kam auf je 300 Einwohner ein Wahlmann, für je 150 weitere Einwohner ein weiterer Wahlmann (§ 41). 1451 Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 401. 1448

2. Kap.: Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus 

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die lokale Bindung über das für die aktive und passive Wahlberechtigung vorausgesetzte Gemeindebürgerrecht gesichert. III. Historisches Wahlrecht in Württemberg Die konstitutionelle Verfassungsbewegung Württembergs sah sich ebenfalls in einer schwierigen Ausgangssituation, im Unterschied zu Baden und Bayern jedoch unter umgekehrtem Vorzeichen. Die Gemeinsamkeit lag in den erheblichen Gebietszuwächsen, die in den Jahren 1803 bis 1805 zu einer Verdreifachung des württembergischen Territorialbesitzes führten. Die Einigung des Landes durch eine Repräsentativ-Verfassung war nach den vorangegangenen Umbrüchen der einzig gangbare Weg, die teils versprengten Gebietsteile organisatorisch zusammenzuführen. Doch hatten sich die bevorrechtigten Stände aus Geistlichkeit und der bürgerlichen Oberschicht unter Geltung des „guten alten Rechts“, das König Friedrich im Jahr 1805 einseitig und endgültig aufgehoben hatte, zu einer „bürgerlich-theologischen Oligarchie“1452 entwickelt, die nach Maßgabe altständischer Privilegien des alten Reiches noch bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein ihren maßgeblichen Einfluss auf die königliche Regierungsarbeit hatte sichern können.1453 Obgleich nunmehr als absolutistischer Herrscher handelnd, scheiterte die von König Friedrich am 15. März 1815 beabsichtigte Proklamation eines Verfassungsgesetzes am einmütigen Widerstand des Ständeregiments im gerade einberufenen Gesamtwürttembergischen Landtag.1454 Dabei war die Forderung der Ständevertreter auf mehr Mitbestimmung freilich nicht vom Geist moderner demokratisch-konstitutioneller Staatlichkeit getragen, sondern stützte sich im Wesentlichen auf die Verteidigung altständischer Rechte und Privilegien.1455 Friedrich schreckte vor dem allgemeinen Widerstand zurück und trat zusammen mit dem Landtag in schwierige und sehr zähe Verhandlungen über eine landständische Verfassung ein. Erst nach mehreren Rückschlägen und einer königlich verordneten Neuwahl des Landtages am 13. Juli 1819, die eine regierungsfreundlichere Mehrheit hervorbrachte,1456 mündeten die Verhandlungen in den zwischen Monarch und Landtag einvernehmlichen Erlass1457 der Württembergischen Verfassung vom 25. September 1819.1458 Die Verfassung schrieb das monarchische Prinzip zur 1452

Vgl. v. Treitschke, Deutsche Geschichte II, S. 295. Vgl. zu den Einzelheiten Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 329 f.; Ingelmann, in: Brie  / ​ Fleischmann (Hrsg.), Abhandlungen, S. 148. 1454 Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 284. 1455 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 332; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 285. 1456 Zu den jeweiligen Positionen und Entwicklungen Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 331 ff. 1457 Insofern handelt es sich bei der Württembergischen Verfassung im Unterschied zu vielen anderen Verfassungen um einen echten Verfassungsvertrag, vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 284. 1458 Vgl. oben Fn. 1357. 1453

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Einheit der Staatsgewalt beim König in § 4 verbindlich fest. Der aus zwei Kammern bestehende Landtag (§§ 128 ff., 133 der Verfassung) war die parlamentarische Vertretung des ganzen Landes. Für die gewählten Abgeordneten der Zweiten Kammer galt im Gegensatz zu früher das Prinzip der Gesamtrepräsentation (§ 155 der Verfassung). Der Landtag wirkte an der Gesetzgebung mit (§§ 88 f., 172 der Verfassung), kontrollierte die Verwaltung (§§ 195, 199 der Verfassung) und hatte das Recht der Steuerbewilligung inne. Die Verfassung regelte das Wahlrecht zur Zweiten Kammer in ihren §§ 133 bis 163 abschließend, ohne weitere ausführende Bestimmungen.1459 1. Aktives Wahlrecht Das aktive Wahlrecht war gemäß § 137 der Verfassung auf „besteuerte Bürger jeder einzelnen Gemeinde“ beschränkt. Es waren ausschließlich die männlichen volljährigen Bürger wahlberechtigt (§ 142 der Verfassung). Von dem Begriff „besteuert“ war nur die ordentliche direkte Staatssteuer erfasst, namentlich also nur die Grundsteuer.1460 Bloß indirekte Abgaben oder die Kapital- und Einkommensteuer als außerordentliche Steuern sowie allgemeine Amts- und Gemeindeumlagen berücksichtigte das Zensuswahlrecht nicht.1461 Das Bürgerrecht bezog sich – wie in Baden – auf das gemeindliche Bürgerrecht. Zudem forderte § 142 der Verfassungsurkunde zur „Ausübung des Wahlrechts jeder Art“ die allgemeinen persönlichen Eigenschaften, die der Abgeordnete gemäß § 132 der Verfassung selbst haben musste. Diese waren im Wesentlichen die Zugehörigkeit zu einem der drei in Württemberg anerkannten christlichen Glaubensbekenntnisse, das württembergische Staatsbürgerrecht und die strafrechtliche Unbescholtenheit. Zudem forderte die Verfassung wie überall die Freiheit von Konkurs und Vormundschaft.1462 Freilich war der unmittelbare Einfluss der Wahlberechtigten auf die Zusammensetzung der Zweiten Kammer verhältnismäßig gering, denn auch in Württemberg bestand das Prinzip der indirekten Wahl. Zwischen den Wählern und der Volksvertretung stand also die mit der Bestimmung der Abgeordneten betraute Schicht der Wahlmänner, deren Zahl ein Siebtel der Gesamtzahl der stimmfähigen Bürger ausmachte (§ 138 der Verfassung). Davon aber wurden zwei Drittel von vornherein und ohne Wahl von denjenigen Personen der Wahlbezirke mit dem höchsten Grundsteueraufkommen des nächstvorhergegangenen Finanzjahres gebildet (§§ 139 bis 141 der Verfassung).1463 Nur das letzte Drittel wurde von den Bürgern gewählt. Gemessen an der Einwohnerzahl Württembergs war dies im Hinblick auf die bürger­ lichen Mitwirkungsbefugnisse trotzdem noch überdurchschnittlich, denn jedes der 1459

Vgl. Übersicht bei Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 203. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 332. 1461 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 336, Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 9 Rn. 290. 1462 M. w. N. zu anderen Verfassungsbestimmungen G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  116 f. mit Fn. 1 auf S. 117. 1463 Näher v. Mohl, Staatsrecht I, S. 336; Brandt, Parlamentarismus, S. 51. 1460

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63 Oberämter hatte insgesamt zwischen 600 und 800 Wahlmänner zu stellen.1464 Außerdem war der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung in Württemberg mit 13 bis 14 % relativ hoch. Tatsächlich entsprach das normative Wahlrecht Württembergs eher der vorhandenen Sozialstruktur als anderswo. Es waren die ländlichen Kleineigner, namentlich also die ländlichen Haus- und Grundbesitzer sowie gewerbliche Mittelständler, die unter den Berechtigten den dominierenden Anteil bildeten.1465 2. Passives Wahlrecht Im Hinblick auf die Wählbarkeit sowohl als Wahlmann als auch als Abgeordneter bestanden gegenüber dem Steuerzensus beim aktiven Wahlrecht keinerlei zusätzliche Erfordernisse. Der Einfluss der wohlhabenderen Schichten wurde aber durch die Ausgestaltung des indirekten Wahlrechts weitgehend dadurch gesichert, dass – wie gesagt – zwei Drittel der Wahlmänner einer Gemeinde höchstbesteuerte Bürger sein mussten.1466 Die Anknüpfung des passiven Wahlrechts an die Zugehörigkeit der Kandidaten zu einem Stadt- oder Gemeindeverband sicherte einerseits eine relativ zuverlässige Repräsentation der jeweils gehobenen Bevölkerungsschichten in den einzelnen württembergischen Gebietskörperschaften. Andererseits gab sie im Gegensatz zu anderen Verfassungen bewusst keine Gewähr dafür, dass die Zweite Kammer tatsächlich mit einem homogenen wohlhabenden Bürgerstand besetzt werden konnte. Denn wie wohl die Städte und Gemeinden selbst finanziell ganz unterschiedlich ausgestattet waren, waren auch die wohlhabenden Bürgerschichten innerhalb Württembergs ungleich verteilt. So war es also nicht ausgeschlossen, dass dem Höchstbesteuerten einer ärmeren Gemeinde die Wählbarkeit zugesprochen wurde, dem weit Wohlhabenderen einer reichen Stadt das Wahlrecht hingegen nicht. Entgegen der hiergegen von Robert von Mohl heftig erhobenen Kritik an den seiner Meinung nach unzweckmäßigen Wahlrechtsvorschriften,1467 bewirkte die Zuerkennung politischer Teilhaberechte an die in den einzelnen Gebietskörperschaften jeweils wohlhabenden Bevölkerungsschichten die von der Monarchie angestrebte staatliche Integration der Bürger in das Land relativ erfolgreich,1468 sodass die württembergische Verfassung und das darin verankerte Wahlrecht über lange Jahre hinweg insgesamt als besonders fortschrittlich gelten konnten.

1464 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 337; nach Brandt, Parlamentarismus, S. 49 mit Fn. 4, betrug die Zahl der Urwähler etwa 200.000, die der Wahlmänner etwa 30.000. 1465 Vgl. Brandt, Parlamentarismus, S. 52. 1466 Vgl. G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  123. 1467 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335 ff. 1468 Vgl. zur Ausgangssituation Zweiter Teil 2. Kapitel C. III.

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3. Wahlrecht und Territorialität Die Verklammerung von Wahlrecht und Territorialität kam auch im Königreich Württemberg deutlich zum Tragen.1469 Das aktive Wahlrecht war ausschließlich den direkt besteuerten Bürgern zuerkannt worden. Da es damals in Württemberg nur die Grundsteuer als direkte Steuer gab, war auch hier das Wahlrecht mit dem Grundbesitz verbunden. Eine weitere Territorialbindung außerhalb der Zensusbedingung ergab sich daraus, dass die Verfassung neben dem württembergischen Staatsbürgerrecht (§ 135) für die aktive Wahlberechtigung teilweise auch das gemeindliche Bürgerrecht zur Voraussetzung erklärte (§ 137) und zudem schon die Staatsbürgerschaft an den durch eine Gebietskörperschaft vermittelten Bürgerschaftsstatus gekoppelt war;1470 diese Bürgerschaft einer Gemeinde knüpfte ebenso an einen bestimmten Grundbesitz an. IV. Zusammenfassung In den verschiedenen Verfassungen des Vormärz finden sich im Wesentlichen dieselben Voraussetzungen für die Zuerkennung des individuellen Wahlrechts, nur in teils unterschiedlicher Ausprägung.1471 Soweit die Verfassungen selbst sowie die sie ausführenden Edikte oder Gesetze Wohnsitzregelungen im Zusammenhang mit dem Wahlrecht trafen, hatten sie alle eines gemein: das Erfordernis der „Ansässigkeit“, etwa „im Wahlsdisrict als Bürger“ oder „in der Gemeinde“1472, war durchweg jeweils dem Abschnitt von Regelungen zugeordnet, in dem die aktive Wahlberechtigung zur jeweils Zweiten Kammer überhaupt erst begründet wurde. Der Charakter dieser Voraussetzungen als Bedingungen der materiellen Wahlrechtsfähigkeit des Einzelnen ist in diesen Regelungen offenbar. So wird in vielen Fällen die Ansässigkeit in einem Zug mit der Staatsangehörigkeit oder dem Wahlalter genannt. In den einzelstaatlichen Verfassungen war die Ansässigkeit oder der Grundbesitz im Wahlbezirk neben den sonstigen grundlegenden Voraussetzungen zum aktiven Stimmrecht, also insbesondere die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres, der Besitz des Indigenats oder der Status eines selbstständigen Staatsbürgers, unumstritten.1473 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch andere Territorien die Notwendigkeit eines bestimmten Ortsbezugs im Wahlrecht in ihren Verfassungen oder den sie ausführenden Gesetzen vorgegeben hatten.1474 1469

Vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 345. Vgl. §§ 62, 63 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819. Zum Prinzip des Erstbestimmungsrechts staatlicher Zugehörigkeit durch die Städte und Gemeinden in der Frühzeit vgl. auch Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (6). 1471 Zu diesem Befund gelangt auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, § 38 Rn. 8. 1472 Vgl. III. § 36 Verfassungsurkunde des Großherzogtums Baden v. 22.8.1818. 1473 Vgl. näher zur Ausgestaltung Leeb, Wahlrecht I, S. 39 und S. 69 jeweils m. w. N. Dort insbesondere Bezug nehmend auf das Wohnsitzerfordernis der Wahlberechtigten. 1474 So statuierte z. B. die Verfassungsurkunde für das Königreich Hannover vom 6.8.1840 für die Deputierten der 2. Kammer in § 93 Nr. 3 ein allgemeines Wohnsitzerfordernis. Im aus 1470

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D. Die Wahlrechtsentwicklung im Vormärz bis zur Revolution 1848/1849 I. Allgemeine Konfliktlage im Vormärz War die Emanzipation der territorialen Staatlichkeit von den vorherigen feudalen Strukturen zunächst eher schleppend und innerhalb der deutschen Territorien uneinheitlich vonstattengegangen, bewirkte der Zusammenschluss der Einzelstaaten zum Deutschen Bund und der Auftrag des Art. 13 der Wiener Schlussakte zur verpflichtenden Einführung einer landständischen Verfassung eine Beschleunigung staatlicher Konstitution. Das beim Übergang zur Repräsentativ-Verfassung überall in den süddeutschen Staaten eingeführte Zweikammersystem1475 war ein Ausdruck der neu geformten Staatlichkeit zur Integration ihrer Angehörigen.1476 Die unter Napoleon in den Rheinbundstaaten bereits installierte Bürokratie hielt nunmehr insbesondere in den süddeutschen Staaten, aber auch in Preußen und Österreich, Einkehr. Die nationalen Regierungssysteme schafften die Grundlage zur Einrichtung von Staatsministerien und etablierten ein professionelles Beamtentum. Nicht der Landesherr, sondern in erster Linie die Staatsminister wie auch die sonstigen Staatsdiener waren jetzt regelmäßig für die Durchsetzung der Verfassung einschließlich ihrer ausführenden Vorschriften gegenüber ihren Adressaten verantwortlich.1477 Dies befeuerte zunehmend auch ein egalitäres Verständnis von Rechtsanwendung innerhalb eines gebietlich radizierten Zuständigkeitsbereiches. Neben der parlamentarischen Repräsentation war es auch der Aufbau des Ämterwesens einschließlich der Institutionalisierung territorialer Räte, die die Konzeption der Landeshoheit im territorialherrschaftlichen Sinne verwirklichten.1478 Doch die durch die Karlsbader Beschlüsse im Sinne Metternichs geschaffene äußere Ordnung war in deren Inneren brüchig. Der in den landständischen Verfassungen verarbeitete und geregelte Dualismus zwischen Krone und Volk blieb mit der in ihm enthaltenen „substantiellen Asymmetrie“1479 zugunsten des Monarchen führenden Wahlgesetz v. 6.11.1840 (abgedruckt bei Pölitz, Verfassungen, S. 220 ff.) war das Wohnsitz- bzw. Ansässigkeitserfordernis jeweils bei den Wahlvorschriften der einzelnen Korporationen geregelt (vgl. § 17 ff. Wahlgesetz Königreich Hannover). Die Ansässigkeit im Sinne eines Erfordernisses zur „Wohnberechtigung“ zur aktiven Wahlberechtigung fand ausdrücklich erst in der Verfassungsurkunde v. 5.9.1848 allgemeinen Eingang in die positive Rechtswirklichkeit, vgl. auch Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 147 mit weiteren Quellennachweisen. 1475 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 341, vgl. auch näher oben, S. 15. Die legitime Existenz von Volksvertretungen war in den Verfassungsstaaten des Deutschen Bundes nach 1830 unbestritten, vgl. Stolleis, Geschichte II, S. 109. 1476 Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 15. 1477 Vgl. Titel X, § 4 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818; für die Großherzogtümer Hessen und Baden waren nur die Minister für den Vollzug der Verfassung verantwortlich, vgl. § 7 Abs. 2 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818 und Art. 109 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820. 1478 Stern, Staatsrecht V, § 125 II 4 (S. 89). 1479 Wahl, HStR3 I, § 2 Rn. 25; Stolleis, Geschichte II, S. 119.

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unvollständig, so dass alles von der tatsächlichen Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in den Einzelstaaten abhing. Diese hatten sich nicht nur mit den grenzüberschreitenden Expansionsbemühungen von Wirtschaft und Technik auseinanderzusetzen. Angesichts einer auf Bürgerfreiheit und Demokratie drängenden erstarkten bürgerlichen Bewegung sah sich die konstitutionelle Monarchie in ihrem teils noch spätabsolutistischen Verständnis1480 verschärft Anfechtungen aus der Bevölkerung ausgesetzt. Anlass für Auseinandersetzungen gaben zum einen die Kompetenzen der „Landstände“ bzw. „Kammern“.1481 Insbesondere legten die Monarchen die Vorschriften der von ihnen geschaffenen unliebsamen Verfassungen nicht selten beliebig aus. In diesem Zusammenhang stellte sich für die Volksvertretungen im 19. Jahrhundert verstärkt die Frage, wie sie den monarchischen Einfluss auf Fragen der Zusammensetzung der volksvertretenden Körperschaft gering halten konnten.1482 Darüber hinaus befriedigte die Zeitgenossen auch die Arbeit des Deutschen Bundes selbst nicht. Der allgemeine Unwille wurde durch seine zahlreichen Beschlüsse zur Unterdrückung von Handlungsfreiheiten erregt, insbesondere der freien Presse, das Verbot aller Volksversammlungen, politischen Vereine und Reden, sowie über seine seit 1819 erlassenen Ausnahmegesetze, namentlich der Zensur oder der Bestellung von Regierungsbevollmächtigten an den Universitäten.1483 Den restaurativen Kräften und Standesinteressen wurde so weiter und teilweise entgegen der geltenden Verfassungslage ganz im Sinne des monarchischen Prinzips Vorschub geleistet. Angesichts der sich in der Gesellschaft verstärkenden Säkularisierung und der aus einer erneuerten Grundposition zum freiheitlichen Individualismus zwischenzeitlich abgeleiteten politischen sozioökonomischen Forderungen1484 ist es nicht verwunderlich, dass die rückschrittliche Entwicklung einen Gegendruck erzeugte, der im aufkommenden Frühliberalismus seine Zeit gefunden hatte. Die radikaldemokratische und nationalliberale Opposition konnte mit den Regelungen zur Letztverbindlichkeit des monarchischen Prinzips zwar unterdrückt, nicht aber ausgeschaltet werden.1485 Getragen von der französischen Juli-Revolution (1830) formierte sich seit Beginn des Jahres 1832 auch die bislang unterdrückte Nationalbewegung wieder öffentlich sichtbarer. Leuchtturm dieser politischen Bewegungen war das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. Die dort gehaltenen radikalen Reden mit ihren nationalen und demokratischen Forderungen stießen nicht nur auf Zustimmung der wohl mehr als zwanzigtausend Teilnehmer, sondern fanden auch großen Widerhall in der süddeutschen Bevölkerung.1486 Der Deutsche Bund 1480

Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 337; Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 29 Rn. 20 mit Hinweis auf den „hannoverschen Verfassungskonflikt“; dazu eingehend Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 92 ff. 1481 Vgl. Stolleis, Geschichte II, S. 109 f. 1482 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 53. 1483 Dazu Arndt, Staatsrecht, S. 11. 1484 Vgl. näher Faber, Der Staat 14 (1975), S. 201 und 205 f. 1485 Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 8 Rn. 269. 1486 Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 79.

2. Kap.: Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus 

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reagierte auf das Hambacher Fest mit weiteren Unterdrückungsmaßnahmen. Zu nennen sind etwa die Bundesbeschlüsse über „Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde“ vom 28. Juni 18321487 und 5. Juli 1832,1488 die insbesondere die Verhandlungen der Ständeversammlungen unter verstärkte Überwachung stellten, die freie Rede innerhalb und außerhalb der Ständevertretung massiv beschränkten, die Zensur verschärft und jedwede politische Vereinigung verboten hatten. Doch stieß der so erneut demonstrierte monomonarchische Obrigkeitsanspruch in der zunehmend seiner selbst bewusst werdenden bürgerlichen Gesellschaft auf Widerstand,1489 der die revolutionären Bewegungen gegen die bisherigen restaurativen Strukturen des Deutschen Bundes bereits ankündigte. Der insbesondere im Frankfurter Wachensturm vom 3. April 18331490 offenbar gewordene revolutionäre Radikalismus galt den Landesherren als Bestätigung für die im Repräsentativsystem angelegten Unzulänglichkeiten. Um den um Freiheit und Einheit kämpfenden Bewegungen vollständig Herr zu werden, sah sich der Deutsche Bund auf Initiative von Metternichs unter anderem veranlasst, das nach wie vor gültige monarchische Prinzip im Schlussprotokoll der Wiener Konferenzen von 1834 erneut zu bekräftigen: „Das […] Grundprinzip des deutschen Bundes, gemäß welchem die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben muß und der Souverän durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden kann, ist in seinem vollen Umfange unverletzt zu erhalten. Jede demselben widerstrebende, auf eine Teilung der Staatsgewalt zielende Behauptung ist unvereinbar mit dem Staatsrecht der im deutschen Bunde vereinigten Staaten und kann bei keiner deutschen Verfassung in Anwendung kommen.“1491 Demgemäß wurde die Unteilbarkeit der Staatsgewalt proklamiert und die Befugnisse der Stände auf mehreren Ebenen, insbesondere im Bereich des Budgetrechts, eingeschränkt. Die Pressefreiheit wurde empfindlich verkürzt,1492 Universitäten und Gerichte stärker unter staatliche Kontrolle gestellt.1493

1487 „Die sechs Artikel“. Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland v. 28.6.1832. Protokolle der deutschen Bundesversammlung 1832, 22. Sitzung, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 44 (Nr. 42). 1488 Die zehn Artikel“. Zweiter Bundesbeschluss „über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde v. 5.7.1832. Protokolle der deutschen Bundesversammlung 1832, 24. Sitzung, § 231, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 45 (Nr. 43). 1489 Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 30 S. 232. 1490 Dazu näher Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 164 ff. 1491 Art. 1 des Schlußprotokolls der Wiener Ministerkonferenz v. 12.6.1834, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 47 (Nr. 45). 1492 Art. 28 ff., 32, 36 f. Schlußprotokoll der Wiener Ministerkonferenz v. 12.6.1834. 1493 Art. 38–56 sowie Art. 57 Schlußprotokoll der Wiener Ministerkonferenz v. 12.6.1834.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

II. Bedeutung für die Verfassungsentwicklung am Beispiel Kurhessens Ein weiterer Grund für die von der Wiener Konferenz ausgehenden Restriktionen war die Verfassungsentwicklung einiger Territorien ab dem Jahr 1830. Auf diese hatte das Erstarken der demokratischen Bewegung gravierende Auswirkungen. Das bereits teilweise in den Volkskammern repräsentierte und auch außerhalb zunehmend erstarkende Bildungs- und Besitzbürgertum beanspruchte gegenüber der Obrigkeit insgesamt mehr politische Teilhabe als zuvor. Besonders deutlich wurde dies am kurhessischen Verfassungskonflikt der Jahre 1830 ff. Angestoßen von einer in der breiten Bevölkerung auf Ablehnung stoßenden Liaison des Landesherrn Kurfürst Wilhelm II. mit seiner Maitresse, der Gräfin Reichenbach, begehrte die Bürgerliche Bewegung auf gegen Korruption, Misswirtschaft und königliche Willkür.1494 Infolge der teils revolutionären Erhebungen breiter Schichten war der Landesherr gezwungen, mit den Ständen am 5. Januar 1831 eine Verfassungs­ vereinbarung zu treffen,1495 die den oppositionellen Forderungen entsprechend nicht mehr vom altständischen Privilegienstaat geprägt wurde, sondern vielmehr den Geist der liberal-demokratischen Gesinnung seiner Zeit atmete. So war die kurhessische Verfassung unter den Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus die fortschrittlichste ihrer Art.1496 Die Stellung und Verantwortung der Minister wurde durch die Pflicht zur Gegenzeichnung königlicher Exekutivakte gestärkt. Die Abgeordneten hatten ein freies Mandat inne und besaßen Immunität. Im Hinblick auf die Befugnisse der gewählten Kammer besaßen die kurhessischen Stände gemeinsam mit dem Kurfürsten die volle Gesetzgebungskompetenz (Art. 95 Abs. 1) und waren so nicht mehr wie noch zuvor auf „Hilfe und Rat“ beschränkt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Verfassungen kam den Ständevertretern auch das Recht der Gesetzesinitiative zu (Art. 97). Daneben hatte die Kammer das Steuerbewilligungsrecht (Art. 98), das Recht zur Bewilligung der Veräußerung von Staatsvermögen und zur Aufnahme von Staatsschulden (Art. 142) und das Budgetrecht (Art. 144), also das Recht zur Bewilligung des jeweils für drei Jahre aufzustellenden Haushaltsvorschlages.1497 Für die hiesige Problematik gilt es zu untersuchen, ob sich das in der Verfassung von 1833 zum Ausdruck gekommene Verständnis hinsichtlich der neu gewonnenen Befugnisse der Ständevertretung auch auf die Ausgestaltung der Wahlberechtigung auswirkte.

1494

Zu den Hintergründen vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 63 ff. GVS. S. 1 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 58 (Nr. 56). 1496 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 68. 1497 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 69. 1495

2. Kap.: Das Wahlrecht im deutschen Frühkonstitutionalismus 

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1. Aktives Wahlrecht Die Ständeversammlung Kurhessens war nach dem Einkammersystem aufgebaut. Neben den Prinzen des kurfürstlichen Hauses gehörten der Kammer gemäß § 63 der Verfassung u. a. eine Reihe von Abgeordneten des ehemals reichsun­ mittelbaren Adels und der Ritterschaft, ferner je 16 Abgeordnete der Städte und der Landbezirke an. Die näheren Einzelheiten regelte das Wahlgesetz vom 16. Februar 1831.1498 Waren die Befugnisse der Standesvertreter, wie eben dargestellt, weiter gefasst worden, änderte sich an den Wahlzugangsvoraussetzungen im Vergleich zu den frühen deutschen Wahlgesetzen jedoch kaum etwas. Auch das Wahlrecht Kurhessens nach 1831 war indirekt ausgestaltet. Nach wie vor sprach man der großen Masse die für eine Wahl zeitgenössisch geforderte politische Verständigkeit und Einsicht ab.1499 Zur Urwahl berechtigt waren ausschließlich die über dreißig­ jährigen männlichen Gemeindebürger mit Ortsbürgerrecht, die sich im Besitz eines Wohnhauses oder Grundstückes im Wahlbezirk befanden.1500 Die Anforderungen an die Wahlmänner waren gegenüber der aktiven Wahlberechtigung nach wie vor enger gefasst. Denn als solche kamen ähnlich wie in Württemberg nur die aktiv wahlberechtigten, höchstbesteuerten Gemeindebürger mit bestimmtem Mindesteinkommen oder Staatsbesitz in Betracht. Die großbürgerliche Prägung des Vormärz, die nach wie vor von der Ungleichheit der Menschen, freilich nicht getrennt nach Klassen, sondern anknüpfend an deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Unabhängigkeit, ausging, kam hier deutlich zum Vorschein. Von vornherein vom aktiven wie passiven Wahlrecht gemäß § 67 der Verfassung ausdrücklich ausgeschlossen waren strafrechtlich Verurteilte, unter Kuratel stehende und insolvente Gemeindebürger. 2. Passives Wahlrecht Hinsichtlich der passiven Wahlberechtigung stellte die Kurhessische Verfassung unterschiedliche Anforderungen. Relevant sind hier die jeweils sechzehn zu wählenden Vertreter der Städte (§ 63 Nr. 10) und Landbezirke (§ 63 Nr. 11).1501 Nach § 64 der Verfassung mussten acht der städtischen Abgeordneten in ihren Heimatstädten Mitglieder des Magistrats oder solche Einwohner sein, „welche als Mitglieder der Bürger-Ausschüsse zum zweiten Male gewählt worden sind, oder ein Vermögen von mindestens sechstausend Thalern besitzen, oder ein sicheres und ständiges Einkommen von vierhundert Thalern jährlich genießen oder monat 1498

GVS. S. 33 ff. Vgl. Murhard, Verfassungsurkunde, S. 302. 1500 Vgl. Übersicht bei Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 192. 1501 Die genaue Zusammensetzung der in den Stadt- und Landbezirken zu wählenden Abgeordneten war später geregelt im „Gesetz, die Zusammensetzung der Ständeversammlung und die Wahl der Landtagsabgeordneten betreffend v. 5.4.1849 (GVS. S. 37), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 248 ff. mit Fn. 12. 1499

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

lich einen Thaler zwölf Gr. an öffentlichen ständigen Abgaben entrichten“. Diese Anforderungen werden im Kurhessischen Wahlgesetz wiederholt.1502 Eine ähnliche Regelung enthielt § 65 der Verfassung für die acht Abgeordneten der Landbezirke. Diese mussten „entweder so viel Grundeigenthum besitzen, daß es ihnen an eigentlicher Grundsteuer wenigstens zwei Thaler monatlich erträgt […] oder mindestens fünftausend Thaler im Vermögen haben und zugleich die Landwirtschaft als Haupterwerbsquelle betreiben“. Alle anderen vermögenden Bürger, die die Landwirtschaft nicht als Haupterwerbsquelle betrieben, blieben vom passiven Wahlrecht kategorisch ausgeschlossen.1503 Die jeweils übrigen acht Abgeordneten konnten aus dem Kreis der aktiv Wahlberechtigten gewählt werden, die gemäß § 67 der Verfassung nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Der verstärkte Einfluss des zwischenzeitlich erstarkten Wirtschaftsbürgertums wird in der Ausgestaltung des Wahlrechts durchaus berücksichtigt. Das Kriterium der wirtschaftlichen Selbstständigkeit wurde in der Verfassung mehr betont als die strikte Trennung der Repräsentanten nach „Ständen“. Den Einfluss wohlhabender Landwirte konnte das kurhessische Wahlrecht dennoch zur Genüge sichern. Es begegnete vonseiten konservativer Kräfte deswegen auch nicht unerheblicher Kritik, weil sie „dem Vertrauen des Volkes so wenig wie möglich Schranken“ setzten und „nur absolut Unfähige aus der Ständeversammlung ausschließen“ habe wollen. Im Vergleich zu den älteren Höchstbesteuertenregelungen des Landes Württemberg1504 sei das kurhessische Wahlrecht ein Rückschritt gewesen.1505 3. Wahlrecht und Territorialität So ergaben sich im Hinblick auf die Ausgestaltung des aktiven und pas­siven Wahlrechts trotz veränderter Umstände und Stellung der Volksvertretung gegenüber den früheren Verfassungen keine gravierenden Änderungen. Die Anknüpfung an das gemeindliche Bürgerrecht wiewohl auch die jeweils gesondert geregelten Anforderungen an Zensus und Grundbesitz beim aktiven wie passiven Wahlrecht, insbesondere die gesetzlichen Tatbestände zum Betrieb eines landwirtschaftlichen Gewerbes bei der Wahl der Landschaftsvertreter (§ 65 der Verfassung), knüpften das Wahlrecht nach wie vor an Boden und Grundbesitz. Es waren auch hier grundsätzlich nur die als systemtragend identifizierten Bevölkerungsteile der Besitzenden und Vermögenden,1506 die zum Wahlrecht zugelassen waren. Die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge und Veränderungen in Kurhessen wirkten sich jedenfalls im Vormärz noch nicht auf die Gesetzgebung zum Wahlrecht aus.

1502

Vgl. näher Murhard, Verfassungsurkunde, S. 304. Murhard, Verfassungsurkunde, S. 304. 1504 Vgl. Zweiter Teil 2. Kapitel C. III. 2. 1505 So jedenfalls Murhard, Verfassungsurkunde, S. 305. Das Kurhessische Wahlgesetz (1831) wurde trotz der Kritik erst durch Gesetz v. 5.4.1849 (GVS. S. 37) geändert. 1506 Braunias, Wahlrecht II, S. 23. 1503

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

275

E. Zwischenergebnis Die tatsächliche Rechtslage zeigte die Beschränkung des Wahlrechts auf die besitzenden Klassen. Dies betraf die frühen Regelungen der ersten konstituierten Verfassungen nach dem Jahr 1818 und blieb auch ungeachtet verschiedentlicher Umwälzungen nach den Jahren 1830 ff. in den großen Territorien so erhalten. Stets knüpfte das Wahlrecht unmittelbar oder mittelbar an den Grundbesitz als tragende Säule politischer Mitbestimmung an. Es war darüber hinaus geprägt von unterschiedlichen Zensusbestimmungen, die den Kreis der Wahlberechtigten weiter einengten. Die Beschränkungen sicherten dem besitzenden und gebildeten Bürgertum in den Repräsentationskörperschaften durchweg einen überragenden Einfluss. So verstanden auch die führenden Repräsentanten der liberalen Bewegung unter dem Begriff „Volk“ fast ausschließlich nur das gebildete und besitzende Bürgertum.1507 Ein allgemeines und gleiches Wahlrecht gab es in den Wahlgesetzen zur Zeit der frühen Konstitutionen der Jahre 1818 bis 1820 jedenfalls nicht. Auch die von der französischen Julirevolution des Jahres 1830 angestoßenen und geprägten politischen Umwälzungen ließen die Rechtslage zum Wahlrecht unberührt, insbesondere unterblieb eine Ausdehnung der Wahlzugangsberechtigung auf nichtbesitzende Schichten. Angesichts der veränderten politischen Umstände wirkt dies zunächst erstaunlich. Doch findet sich eine Erklärung möglicherweise in der zeitgenössischen Anschauung von politischer Mitbestimmung im Staat, auf die im folgenden Kapitel einzugehen ist.1508 3. Kapitel

Vorstellungen von Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie – eine Annäherung Worin lag also der Grund dieser selbstverständlichen Anknüpfung des Wahlrechts an Grundvermögen und Steuerleistung? Dieser Frage spüren die folgenden Überlegungen nach, welche die herrschenden Lehrmeinungen zur aktiven und passiven Wahlberechtigung seit den Anfängen nach der französischen Revolution zu ihrem Gegenstand machen und auf deren Abbild in der historischen Rechtswirklichkeit im frühkonstitutionellen Wahlrecht hin untersuchen.

1507

Vgl. Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 196. Vgl. unten Zweiter Teil 3. Kapitel B.

1508

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

A. Politische Teilhabe im Lichte der Freiheitsbewegung im beginnenden 19. Jahrhundert Während sich die neuere rechtshistorische Literatur hauptsächlich den ineinander verschränkten Lehren über die Freiheiten des älteren und neueren Naturrechts widmet und die damit einhergehende Entwicklung der unveräußerlichen Freiheitsrechte des Einzelnen im Verhältnis zum Staat diskutiert,1509 fällt der Befund bei der Frage nach der politischen Teilhabe der „freien Glieder“ für die Zeit des Frühkonstitutionalismus eher dürftig aus. Schon im Jahr 1892 beklagt Georg Jellinek leidvoll, dass die „Terminologie […] in diesem Punkte [Anm.: gemeint ist der Begriff der politischen Rechte] schwankend wie in der ganzen Materie“ sei.1510 Die Gründe für die eher zurückhaltende Behandlung der „Wahlrechtsfrage“ dürften verschiedene Wurzeln haben. Bereits in den um das Jahr 1789 geführten Debatten der Konstituante zur Verfassungsgebung in Frankreich erschien sie als lediglich sekundäres Problem und wurde überwiegend auf der Ebene des Verwaltungsrechts reflektiert, etwa im Zusammenhang mit der Form und Zusammensetzung der künftigen Legislative oder als eines der zahlreichen Verwaltungspro­ bleme, zu denen auch die Bestimmung der Aktivbürger und Wahlmänner gezählt wurde. Nur wenige erkannten ihre grundsätzlich-demokratische Sprengkraft.1511 Dabei zielten politische Teilhaberechte damals wie heute nicht auf die Abwehr ungerechtfertigter hoheitlicher oder obrigkeitlicher Eingriffshandlungen. Vielmehr bewirkten und bewirken sie einen Einbruch des Einzelnen in die Sphäre des Staates.1512 Außerdem liegt es angesichts der bisher beleuchteten Entwicklungen der historischen Rechtswirklichkeit nahe, anzunehmen, dass die restaurativen Anstrengungen der Landesherren ihren Beitrag dazu leisteten, das Bewusstsein für Fragen der politischen Teilhabe des Volkes in der gesellschaftlichen Diskussion gering zu halten. Überdies ließen die gefestigten ständischen Privilegien wie auch die Entwicklung einer professionalisierten Verwaltung für einen grundlegenden Systemwechsel zugunsten egalitärer Volks- oder Individualteilhabe kein wesentliches Bedürfnis erkennen. Für eine Politisierung der Bürgerschaft gab es keinen Bedarf und infolgedessen auch keinen Raum. Eine klassenlose teilhabeberechtigte Gesellschaft konnte naturgemäß nicht unmittelbar aus der ständisch gebundenen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts hervorgehen.1513 Es blieb daher vorerst bei der vorherrschenden Ordnung, die nicht die Wertgleichheit aller popagierte, sondern mit der rechtlichen Unterscheidung nach Standesklassen und Grundver 1509

Vgl. Hilker, Grundrechte (2005); Kröger, Grundrechtsentwicklung (1998); Link, in: Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte, S. 215 ff.; Grimm, in: ebd., S. 234 ff.; Klippel, in: ebd., S. 269 ff.; ders., Politische Freiheit; Dann, in: Kirsch / Schiera (Hrsg.), Konstitutionalismus, S. 125 ff.; zum Befund der älteren deutschen Literatur aus dem 19. Jahrhundert, vgl. Grimm, a. a. O., S. 235 mit Verweis auf die Arbeit von Friedrich Giese, Die Grundrechte, Tübingen 1905. 1510 Vgl. ders., System, S. 133. 1511 Kläy, Zensuswahlrecht, S. 78 f. 1512 Vgl. Braunias, Wahlrecht II, S. 5. 1513 Aeppli, Wahlrecht, S. 102 f.

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

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mögen die grundsätzliche Ungleichheit der Individuen in politicis determinierte. Ein solches Gesellschaftsverständnis wirkte maßgeblich auf die Antwort der Frage nach der Befähigung zur Teilhabe an der Volks- und Staatswillensbildung ein.1514 Politische Teilhabe war damit zunächst nur den in den Ständen vereinigten Personengruppen vorbehalten. Wenngleich dies nicht der Vorstellung von einer voluntativen „Identität von Regierung und Regierten“ Rousseau’scher Prägung entsprach, kündigte sich hier das neuzeitliche Demokratiemodell immerhin insofern bereits an, als auch hier dieselben Personen einerseits als Mitglieder der regierenden Körperschaft Teilhaber an der Staatsgewalt, andererseits als Individuen Untertanen derselben gewesen sind.1515 Dennoch gründeten sich die vormaligen, land- und reichsständischen politischen Mitwirkungsrechte geistig vor allem auf die jeweils zwischen Regenten und Ständevertretern in den Jahrhunderten zuvor ausgehandelten Wahlkapitulationen.1516 Die Legitimation der jeweiligen Ständevertreter durch gemeine Wahlen war in den deutschen Territorien bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts hingegen nicht vorgesehen.1517 An dieses im Einzelnen stark ausgeprägte und verfestigte Strukturgefüge hatten die geschriebenen Konstitutionen des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen, um es später überwinden zu können.

B. Bedingungen politischer Mitwirkung Die Beschränkung politischer Mitwirkung auf Standesangehörige blieb jedoch in der Frühzeit der Verfassungsbewegung nicht ohne geistigen Widerstand. Im Schwung eines neu gewonnenen Freiheitsbegriffes etablierten sich theoretische Ansätze zur Konstruktion eines neuen Staatsverständnisses. Die Frage nach der Mitwirkung an der Gesetzgebung lag in deren Brennpunkt. Auch und gerade die tatsächlichen Umbrüche und revolutionären Erscheinungen, namentlich im Vormärz, gingen an den deutschen bürgerlichen Staatstheoretikern, die sich mit dem Wahlrecht befassten, nicht spurlos vorüber. Das besitzende Großbürgertum sah hier seine Zeit gekommen, das Joch des noch fortwirkenden Ständestaates abzuschütteln. Die diesbezüglichen Entwicklungen sind bereits eingehend erforscht.1518 Die nachstehenden Ausführungen orientieren sich an den bislang gewonnenen Befunden und verdeutlichen die wichtigsten Strömungen im ausdifferenzierten Meinungsbild zum Verhältnis der Untertanen zum Staat. 1514

Dazu vgl. m. w. N. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 209. Schulze, Lehrbuch I, S. 33. 1516 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 4 Rn. 102; zur Bedeutung der Wahl­ kapitulationen in Deutschland näher Burgdorf, in: Kirsch / Schiera (Hrsg.), Konstitutionalismus, S. 65 ff. 1517 Vgl. z. B. für Bayern Leeb, Wahlrecht I, S. 35. 1518 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchungen von Aeppli, Wahlrecht, S. 71 ff.; Braunias, Wahlrecht II, S. 1 ff.; Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 11 ff.; Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 22 ff., 131 ff.; Spies, Schranken, S. 1 ff. Zur Entwicklung nach den Ereignissen um 1848 vgl. Gagel, Wahlrechtsfrage, S. 7 ff. 1515

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

I. Historische Schule und Traditionalisten 1. Justus Möser Mit Blick auf die längst nicht mehr zu vernachlässigende Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft auf der Grundlage des Privateigentums in England und Frankreich entwickelte sich in Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts / ​beginnenden 19. Jahrhunderts, begründet von ihrem Hauptvertreter, dem Osnabrücker Staatsmann, Historiker und Publizisten Justus Möser, eine Doktrin, welche die Grund- bzw. Landeigentümer in den Vordergrund rückte, indem ihnen hinsichtlich der politischen Teilhabe eine Vorrangstellung eingeräumt werden sollte. Urbild der staatlichen Gemeinschaft nach Justus Möser war demnach der Zusammenschluss aller Landeigentümer, welche „als Compagnie“ vereinigt „jeder nach dem Verhältnis seines Mansus1519 zu gemeinsamen Vortheil und Schaden berechtigt und verpflichtet“1520 sind. Abzugrenzen hiervon seien die „Knechte“, die eine solche Actie nicht besitzen.1521 Diese sollten ebenso wenig die Vorteile wie die Lasten eines Bürgers haben. Unter den Vorteilen verstand Möser u. a. die „Stimmbarkeit“, also das Recht zur stimmberechtigten Teilnahme an der Versammlung der Staatsangehörigen.1522 Er begründete dies aus vorwiegend historischem Blickwinkel, indem er der Begriffsentwicklung des „Eigenthums“, dem „advocatiam“1523 nachspürte. Möser bezog sich vor allem auf die Entwicklungen im Früh- und Hochmittelalter. Dort besaßen politische Mitspracherechte, wenn überhaupt, allein die Grundeigentümer.1524 So begriff auch Möser die Entwicklung der Menschheit als Geschichte der Landeigentümer.1525 Im Zuge der aufkommenden Naturrechtslehren1526 erkannte er, dass die Entwicklung der westlichen Welt vorwiegend auf ihr Privateigentum gegründet war.1527 Er sah dadurch sein Votum für eine aus Landständen zusammengeschlossenen Urgesellschaft auf der Grundlage des Landeigentums bestätigt. In der Konsequenz könne das Stimmrecht auch nicht dem Adel vorbehalten bleiben. Im Gegenteil: Unabhängig von Herkunft und Abstammung solle das Stimmrecht 1519

„Man kann den Mansus ein ganzes Wehrgut nennen, hier zu Lande heißt es ein Vollerbe; Halb = und Viertelerbe sind Coupons, oder Theile des Loses, oder Mansus“ (Hervorhebung im Original), vgl. Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 143 (147); dazu Schmelzeisen, ZRG GA 97 (1980), S. 254 ff., insbesondere S. 256 f. 1520 Vgl. Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 143 (147). Je nachdem, ob der Landeigentümer viel oder wenig Land besitzt sei er ein „ganzer, halber oder viertel Actionist“, vgl. ebd. 1521 Vgl. Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 143 (144).; näher Schmelzeisen, ZRG GA 97 (1980), S. 254 (261). 1522 Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 157 (158): Nach Auffassung Aepplis folgt das Stimmrecht bei Möser aus dem Steuerbewilligungsrecht, vgl. ders., Wahlrecht, S. 51. 1523 Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 157 (158 f.). 1524 Ähnlich auch Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 23. 1525 Vgl. Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 286 f. 1526 Zum Einschlag des Naturrechts bei Möser vgl. Schmelzeisen, ZRG GA, 1980, S. 254 (255). 1527 Möser, in: Welker (Hrsg.), Schriften, S. 157 (158).

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

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allen Grundeigentümern nach Maßgabe ihres Einbringens zugestanden werden.1528 Die landständischen Verfassungen kamen für dieses Verständnis durchaus als tauglicher Anknüpfungspunkt in Betracht. Die Ständevertreter sah Möser in Anlehnung an den geltenden Gedanken der „Repräsentation der Eigentümer bei allen Steuerbewilligungen“ als Repräsentanten „des Ganzen“.1529 2. August Wilhelm Rehberg Ähnlich formulierte auch der im Dienste des Königreichs Hannover stehende „Geheime Canzleysecretair“ August Wilhelm Rehberg. Auch er sah die Ausübung politischer Macht bei den Landeigentümern als Repräsentanten der Bevölkerung, denn „[d]ie Repräsentation des gesamten Landeigenthums durch die Gutsherren beruht auf so guten Gründen […], dass alle Speculationen über mögliche Verbesserungen […] abgewiesen werden mögen. In einigen deutschen Staaten giebt es aber Vereine, die der Geburt mehr Ansprüche einräumen, als ihr […] zugestanden werden können“1530. Wie Möser ist auch Rehberg der Überzeugung gewesen, dass die Ausübung politischer Rechte allein auf die durch ein erhebliches Landeigentum privilegierte Gruppe beschränkt bleiben müsse. Der „grosse Haufe von Menschen, der zu arm und zu roh ist, [muss] ganz ausgeschlossen werden“.1531 Damit idealisierte Rehberg den altständisch-germanischen Landeigentümerstaat, welcher die Ideen der französischen Revolution bekämpfte.1532 Gleichzeitig aber sei der französische Absolutismus gerade die Ursache der durch die Französische Revolution aufgezeigten gesellschaftlichen Krise gewesen. Möser und Rehberg gingen von der Überlegenheit der aus dem Grundeigentum erwachsenen ständischen Freiheiten aus und beklagten deren Zerstörung durch den Absolutismus.1533 Zwar ist nicht zu verkennen, dass sich die Ansätze Mösers und Rehbergs in Bezug auf die Bindung politischer Teilhabe an das „Eigentum“ auf den ersten Blick nicht wesentlich von den Vorgaben aus der Verfassung Frankreichs unterscheiden. Zurückgehend auf Marquise de Condorcet etablierte sich die Begriffsbedeutung des „Citoyen“ zunächst nicht in einem umfassenden Sinne, sondern bezeichnete nur eine bestimmte Gruppe staatszugehöriger Menschen, die Grundbesitzer. Nur diese hätten ein Interesse an dem durch Gesellschaftsvertrag konstituierten Staat.1534

1528

Vgl. Aeppli, Wahlrecht, S. 51 m. w. N. Zitiert nach Göttsching, Der Staat 22 (1983), S. 33 (46); vertiefend ebd., dort Fn. 43. 1530 Vgl. A.-W. Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution, Bd. 2, Hannover u. a. 1793, S. 49, zitiert nach Aeppli, Wahlrecht, S. 54. 1531 Vgl. A.-W. Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution, Bd. 2, Hannover u. a. 1793, S. 134 f., zitiert nach Aeppli, Wahlrecht, S. 54. 1532 Vgl. Riedel, in: Brunner / W.  Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe  I, S. 672 (688). 1533 Vgl. v. Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, S. 67. 1534 Aeppli, Wahlrecht, S. 31. 1529

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Dennoch sind die Eigentumsbegriffe von Möser und Rehberg nicht dieselben, die die französischen und deutschen Konstitutionen verwendet hatten. Denn das historische Landeigentum deutscher Landen ist, im Gegensatz zum Verständnis der übrigen aufgeklärten westlichen Welt, nicht frei veräußerlich gewesen.1535 Dieser Umstand war beiden Staatstheoretikern bewusst. Sie waren davon überzeugt, dass das alte (und damit unveräußerliche) Landeigentum „in einer substantiellen Verbindung zu seinem Träger stehe und damit auch eine qualitativ höhere Art sozialer Verhaltensweisen geschaffen habe als der moderne, frei veräußerliche Besitz“.1536 So galt allein für den Besitz des unveräußerlichen Landeigentums, dass die „zu gleicher Reihe verpflichteten Untertanen ein gleiches und allemal ein ziemliches Eigentum im Staat haben müssen, welches demselben auf den Notfall zur Sicherheit verhaftet bleibt“.1537 Dies entspricht, wenngleich auf anderer Grundlage, insoweit wiederum altständischen Prinzipien der vorabsolutistischen Gesellschaft. 3. Bewertung Die Anhänger der historischen Schule gingen bei der Entfaltung ihrer Wahlrechtslehren von der Voraussetzung aus, dass die spätmittelalterlichen Landstände die geschichtliche Form der Volksvertretung gewesen seien. Doch vertraten die alten Landstände zu keiner Zeit das Volk im Staat. Das von den Vertretern der Traditionalisten vorgeschlagene Wahlrecht ging noch nicht vom Individuum als solchem aus, sondern stellte die Stände als natürliche Gemeinschaft innerhalb des Staatsorganismus in den Fokus. Die Gewichtung des Stimmrechts orientierte sich dabei aber nicht an der Zahl der Mitglieder, sondern an der gewachsenen Bedeutung der jeweiligen Stände für das Ganze nach Maßgabe des Landeigentums.1538 So sollte zwar die Privilegierung des Geburtsadels zugunsten der politischen Repräsentation der Landeigentümer überwunden werden. Doch blieb die historisch begründete Rückbesinnung auf ein altständisches Verfassungsmodell hinter der Rechts- und Verfassungswirklichkeit im Wahlrecht unter Geltung der konstitutionellen Verfassungen nach 1815 zurück. Denn die Wahlvorschriften zur 2. Kammer setzten zur individuellen Wahlteilhabe, wie gesehen,1539 kein ungeteiltes (auf altständischen Privilegien beruhendes) Landeigentum mehr voraus, sondern knüpften an den Grundbesitz im bürgerlich-rechtlichen Sinne an, der seiner Natur nach stets übertragbar war.

1535

Schmelzeisen, ZRG GA, 1980, S. 254 (259). Vgl. mit Zitat U. Vogel, Kritik, S. 161. 1537 Zitiert nach Schmelzeisen, ZRG GA 97 (1980), S. 254 (259). 1538 Vgl. Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 8. 1539 Vgl. insbesondere Darstellung oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. I.–IV. 1536

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

281

II. Rationalistische Wahlrechtstheorie Während die historische Lehre in erster Linie die tatsächlichen Verhältnisse des Mittelalters zu ihrem Gegenstand machte, standen die Verfechter der rationalistischen Wahlrechtstheorie bereits mehr unter dem Eindruck des konstitutionellen Staatsdenkens. Als Teil der rationalistischen Staatstheorie akzeptierten ihre Vertreter jedenfalls prinzipiell keine Unterschiede zwischen den Ständen und den übrigen Untertanen. Dem liegt die Französische Revolution mit ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte voraus. Das dort zugrunde gelegte Souveränitätsverständnis sei gleichbedeutend mit dem „Gesamtwillen, folglich der Inbegriff des gesamten Staatsvereins […]“.1540 Das Gesetz sei der Ausdruck des allgemeinen Willens. Aus der natürlichen und naturrechtlichen Gleichheit der Individuen folge hiernach das allgemeine Stimmrecht, wobei jeder Bürger das Recht habe, an der Bildung dieses Willens teilzunehmen.1541 Gleichwohl könne und müsse im Hinblick auf die Eignung zur politischen Teilhabe differenziert werden. 1. Karl von Rotteck und Immanuel Kant Im deutschen Raum fand diese Auffassung durchaus breite Anhängerschaft. Insbesondere der Staatswissenschaftler Karl von Rotteck sowie der Königsberger Philosoph Immanuel Kant beschäftigten sich vertieft mit Fragen zur politischen Teilhabe. Im Hinblick auf die konkrete Aufgabe des Wahlrechts legten beide dabei jedoch bestimmte einschränkende Maßstäbe an die aktive Wahlberechtigung an. Das Bestimmungsrecht darüber, wer Teil der Volksvertretung sein solle, könne nicht jedermann zufallen, wolle man einen Missbrauch der Wahlstimme aus Abhängigkeit oder Uneinsichtigkeit des Einzelnen vermeiden.1542 Die Herrschaft der Massen durch das allgemeine Wahlrecht galt für von Rotteck als Herrschaft der Unvernunft. Aufgabe des Wahlrechts nach von Rotteck sei es daher zunächst, die „Elite des Volkes“ zu finden, um sodann mit dieser Elite ein wirksames Korrektiv gegen die vom Zufall der Begabung und dem Kenntnisstand abhängige Willkürherrschaft des Fürsten zu bilden.1543 Innerhalb der gebildeten stimmberechtigten Elite solle aber jede Stimme grundsätzlich gleichen Wert haben. Fraglich waren allein die Kriterien nach denen die geeigneten Individuen bestimmt werden konnten. Ähnlich wie Möser erkennt hier auch von Rotteck den Grundbesitz als maß­ gebliches Indiz und „unwiderruflichen Grund“ zur Inanspruchnahme von Regierungsrechten an, jedoch nicht in seiner tradierten Gestalt als historisches Landeigentum, sondern in seiner frei veräußerlichen Form. Der freie Grundbesitz sei 1540

Vgl. v. Rotteck / v. Aretin, Staatsrecht I/1, § 2 (S. 147). Vgl. R. Smend, Maßstäbe, S. 4. 1542 Näher v. Rotteck, Landstände, S. 45 f. 1543 Vgl. v. Rotteck, Landstände, S. 41, 54 ff.; zusammenfassend R. Smend, Maßstäbe, S. 4 f.; vgl. auch allgemein ders., in: FG Karl Bergbohm, S. 278 (282). 1541

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

unter den Privatrechten im Staat das wichtigste und zugleich jenes, das schon nach dem natürlichen Staatsrecht die Hauptbedingung oder den triftigsten Grund für den Anspruch auf politische Selbstständigkeit, mithin den geeignetsten Maßstab der Stimmberechtigung enthalte und gebe.1544 Denn nur der Besitzende hätte die finanziellen Mittel und die Möglichkeit zur Entfaltung einer kritischen Persönlichkeit. So sei auch jede „constitutionelle Monarchie […] ihrem Wesen nach repräsentativ, d. h. den sämtlichen Staatsbürgern werden ihre Rechte auf Erreichung des Staatszwecks dadurch garantiert, daß sie theils durch aus ihrer Mitte mit voller Freiheit von Zeit zu Zeit neu erwählten Vertreter vornehmlich bei der Gesetz­gebung und Besteuerung durch Vorschläge oder Verweigerung mitwirken, und daß auf solche Art alle Elemente der Kraft und des Wohlstandes der Nation, Grund- und Kapitalbesitz, Zunft- und Gewerbefleiß, Sittlichkeit, Einsicht und Geistesbildung, kurz alle in den verschiedenen Ständen, Klassen, Beschäftigungsarten des Volkes liegende Interessen bei Behandlung jener für Alle wichtigen Angelegenheit repräsentiert werden“.1545 Gerade das Eigentum war damit als Ausdruck natürlicher Freiheit anerkannt. Es entsprach als Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum des Bürgertums zugleich dem Staatsinteresse.1546 Insofern spricht sich von Rotteck für einen Census als Vorbedingung des Wahlrechts aus, der es gewährleistet, dass die politische Teilhabe nur auf die wirtschaftlich selbstständigen Individuen im Staat beschränkt bleibe.1547 „Kleinere Grundbesitzer, d. i. freie Bauern, welche also nicht Grundholde eines Grundherrn sind, Pächter, Zins- und Lehnbauern oder gar persönlich dienstbare Kolonnen“ seien daher von der „landständischen Vertretungsbefugnis ausgeschlossen und insofern auch nicht berechtigt, über deren Zusammensetzung mitzuentscheiden.“1548 Diese bestehende und zur damaligen Zeit gesellschaftlich akzeptierte Lehre von der Ungleichheit der Menschen in Bezug auf die Ausübung politischer Rechte zeigt sich auch deutlich in der Kant’schen Rechtsphilosophie.1549 In Divergenz zum historischen Ansatz Mösers sprach sich Kant jedoch ausdrücklich gegen einen Vergleich der politischen Teilnahmerechte mit Aktionärsrechten aus. Anknüpfungspunkt für die Zahl der Stimmfähigen sei nicht die Größe der Besitzungen, sondern die Köpfe derer, die im Besitzstand stünden.1550 Nicht jedoch allein der Grundbesitz, sondern vielmehr das daraus erwachsende selbstständige Glied des 1544

Vgl. v. Rotteck, Landstände, S. 53. So v. Rotteck / v. Aretin, Staatsrecht I/1, § 3 (S. 159) mit Zitat. 1546 Vgl. v. Rotteck / v. Aretin, Staatsrecht II/3, § 7 (S. 169) mit Zitat; näher auch Hilker, Grundrechte, S. 122 m. w. N. 1547 Vgl. mit Verweis auf Johann Christoph Freiherr v. Aretin, Staatslexikon, 1. Aufl. Bd. III, S. 366 ff. insbesondere S. 381; G.  Meyer / G.  Jellinek, Wahlrecht, S. 414; später spricht sich v. Rotteck zumindest für ein anteiliges Stimmrecht der „kleinen Grundbesitzer“ aus vgl. ders. / v. ­Aretin, Staatsrecht II/3, § 9 (S. 178). 1548 Vgl. v. Rotteck, Landstände, S. 52 f. 1549 Zum überragenden Einfluss Kants auf den liberalen Freiheitsgedanken“ vgl. Mager, in: Brunner / W. Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe V, S. 549 (608). 1550 Kant, Gemeinspruch, S. 28. 1545

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

283

Gemeinwesens als Bürger sei tauglich, Mitgesetzgeber zu sein.1551 Die „Selbstständigkeit“, die zur Teilnahme am Gemeinwesen und damit zur Wahlberechtigung qualifiziere, grenzte Kant neben „natürlicher Qualität“ (kein Kind und kein Weib) anhand wirtschaftlicher Unabhängigkeit ab. Die Frucht derselben, also das aus Selbstständigkeit bzw. wirtschaftlicher Unabhängigkeit erlangte Eigentum, könne indes über den Grund- bzw. Landbesitz hinaus vielfältiger Herkunft sein. Jedes Handwerk, sonstige (Handels-)Gewerbe oder jede schöne Kunst berechtigten gleichermaßen zur politischen Teilhabe wie auch die gelehrte Wissenschaft.1552 Kant erkannte zwar nur diesen Schichten den Status eines vollwertigen Staatsbürgers zu, innerhalb dieser Gruppe verschaffte er aber dem Gleichheitspostulat aller Geltung, indem jeder nur zur Abgabe einer Stimme berechtigt sei.1553 Den Personen außerhalb dieses Kreises, den abhängig Beschäftigten, benannt als die sog. „Schutzgenossen“, sollte die politische Mitwirkung nach Auffassung Kants hingegen grundsätzlich verwehrt bleiben.1554 Zwar widerspricht auch diese Differenzierung prinzipiell der ganz im Sinne der Gleichheit formulierten Egalität aller Menschen. Dem aber begegnete Kant, indem er zwischen diesen Gruppen ein von Staats wegen gewährleistetes durchlässiges System forderte. So müsse jedes Glied zu jeder Stufe eines Standes gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und Glück hinbringen könne.1555 Das impliziert auch die grundsätzliche Möglichkeit und Chance zum Eigentumserwerb aller Individuen unabhängig von Stand und Herkommen. In diesem Bild komme der freiheitliche Leistungsgedanke des selbstständigen und daher mündigen Bürgers in einem funktionierenden Staatswesen am besten zum Ausdruck, so dass auch der Kant’sche Staat von den „Besitzbürgern getragen“ werde, die im Gegensatz zu den lohnabhängigen Schutzgenossen allein stimmberechtigte Staatsbürger seien.1556 2. Karl August zum Bach Insbesondere der Ansatz Immanuel Kants wurde vom Rheinländer und Juristen Karl August zum Bach weitergedacht. Er legte gegenüber der Kant’schen Anschauung einen fortentwickelten Maßstab bei der Berechtigung zur Mitwirkung des Einzelnen an der Zusammensetzung der Volksvertretung an. Der Kölner Jurist erklärte im Jahr 1817 in seinen „Ideen über Recht, Staat, Staatsgewalt, Staatsverfassung und Volksvertretung“ wie Kant die Freiheit des Individuums zum Ziel des Staates, der sie allein möglich mache.1557 Er definierte die individuelle 1551

Kant, Gemeinspruch, S. 26. Vgl. Kant, Gemeinspruch, S. 27. 1553 Vgl. Kant, Gemeinspruch, S. 28; ebenso Heydenreich, Grundsätze I, S. 120. 1554 Vgl. näher Aeppli, Wahlrecht, S. 57. 1555 Vgl. Kant, Gemeinspruch, S. 28; näher auch Aeppli, Wahlrecht, S. 58; Saage, NPL 17 (1972), S. 168. 1556 Saage, NPL 17 (1972), S. 168 (169 f.). 1557 Vgl. z. Bach, Ideen I, S. 45. 1552

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Freiheit in Anlehnung an Kants Metaphysik der Sitten (§ 46) als Zustand, in dem der Mensch allein Gesetzen unterworfen sei, die den allgemeinen Sittengesetzen entsprechen.1558 So erscheint auch der Ausschluss bestimmter Bevölkerungsteile von der politischen Mitbestimmung im Staat nicht als Unfreiheit. Insbesondere für die passive Wahlberechtigung sei der Ausschluss vielmehr notwendig, um mit ihm die Teilhabe allein der zur reflektierten sittlichen Selbstbestimmung fähigen Glieder des Volkes zu sichern. Dazu aber müsse das Sittengesetz überhaupt erkannt und zur Maxime des eigenen Handelns gemacht werden.1559 So forderte zum Bach von den Volksvertretern Unabhängigkeit und Einsicht;1560 Bedingungen also, die Kant bereits für die Zulassung zum aktiven Wahlrecht formulierte und auch vom württembergischen Staatsminister Robert von Mohl vertreten wurden.1561 Unter Berücksichtigung des historisch gewachsenen Bildes des Grundeigentums erkannte zum Bach das passive Wahlrecht aber nicht nur den Eigentümern der großen Güter aus Urproduktion zu, sondern auch den erfolgreichen industriellen und kommerziellen Produzenten, was insbesondere den Interessen des rheinischen Bürgertums1562 mit naturgemäß geringem Grundbesitz nahekam. Mit Blick auf seinen rheinischen Hintergrund focht er dafür, den produktiven Einsatz des eigenen Vermögens zum Gegenstand der Beurteilung zu machen, ob jemand die Fähigkeit zur Bekleidung politischer Ämter habe. Denn wer sein Vermögen nicht produktiv zu nutzen verstünde, sei auch für das Amt des Abgeordneten ungeeignet.1563 Umgekehrt habe der wirtschaftlich Erfolgreiche seine Sittlichkeit und Mündigkeit (Kant) hinreichend unter Beweis gestellt. Zusätzlich weist zum Bach darauf hin, dass die Fabrikanten und Kaufleute im Wesentlichen einen größeren Beitrag zu den Staatseinnahmen leisteten als die Großgrundbesitzer. Die nach diesen Maßgaben ausgewählten Mitglieder privilegierter Gruppen hätten genug Überblick und Urteilskraft, den Staat zu lenken.1564 Für das aktive Wahlrecht proklamierte zum Bach demgegenüber als einer der Wenigen das allgemeine Wahlrecht, das mit Ausnahme von Frauen, Kindern und Geisteskranken u. a. für die Beteiligung der wirtschaftlich Abhängigen streite. Denn gerade jene Staatsbürger, die durch die Sorge für ihren Lebensunterhalt voll in Anspruch genommen sind, müssten, wenn schon nicht über sich selbst bestimmend, eine andere Person ihres Vertrauens berufen dürfen, welche eben jene Fähigkeit aufgrund Unabhängigkeit und Persönlichkeitsbildung zur Volksvertretung zukomme. Vertrauen könne aber nur der schenken, der selbst gewählt habe. Darum müsse „das Volk in der möglichsten Allgemeinheit zur Teilnahme an der Bildung der Repräsentation zugezogen werden“.1565 1558

Vgl. z. Bach, Ideen I, Einleitung, S. IV. Vgl. mit weiteren Nachweisen Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 11. 1560 Vgl. z. Bach, Ideen I, S. 116. 1561 Vgl. Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 11; v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335. 1562 Vgl. Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 13. 1563 Vgl. z. Bach, Ideen I, S. 113 f., 119 f. 1564 Vgl. z. Bach, Ideen I, S. 117; Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 12. 1565 Vgl. z. Bach, Ideen I, S. 109 ff. 1559

3. Kap.: Mitbestimmung im Staat der konstitutionellen Monarchie  

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3. Johann Friedrich Benzenberg Im so verstandenen Sinne kam auch bei anderen Autoren wieder das Bild vom Staat als Aktiengesellschaft zum Tragen. In Anlehnung an die insoweit noch vorsichtigeren Ansätze zum Bachs sprach sich insbesondere der „rheinische liberale“1566 Physiker und Publizist Johann Friedrich Benzenberg im Jahr 1817 deutlicher dafür aus, dass die Bildung der Volksvertretung zum „gesellschaftlichen Zustand“ passen müsse, indem sich in ihr der „Schwerpunkt aller geistigen und physischen Kräfte“ des Volkes befinde. Die breite Bevölkerungsschicht hingegen gelange „nirgends zu der moralischen Mündigkeit, daß es die ihm durch Natur und Vernunft zukommenden Rechte selbst außüben könnte“. Die unmündige große Masse müsse also durch die Vernunft der Mündigen vertreten werden, denn jene seien die eigentlichen Repräsentanten des Volkes.1567 Für das Rheinland verortete Benzenberg den Schwerpunkt und die moralische Kraft beim Mittelstand, anerkannte aber den Umstand, dass andernorts der Adel und das Grundeigentum erheblich mehr Einfluss auf sich vereinten. Dennoch zog er den Schluss, dass „die großen Aktionäre auch das meiste zu sagen haben, eben weil sie auch das meiste zu tragen haben“.1568 Insofern proklamierte er ein Zensussystem, das die unterschiedlichen Stufen der Wählbarkeit berücksichtigen sollte. Er knüpfte dieses (auch in den Rheinstaaten) unbeschadet aller Differenzierungen an das Vorhandensein von Grundbesitz, der nach mittelalterlichem Vorbild zur Mitwirkung in der Volksvertretung legitimierte.1569 Den so gebildeten Kammern gestand er gegenüber der monarchisch regierten Zentralgewalt jedoch nur beratende Funktion zu.1570 4. Bewertung Zweifelsohne gehört die rationale Wahlrechtslehre schon ob ihrer prominenten Fürsprecher zu den damals populärsten, wenngleich zur Zeit der beginnenden Verfassungsentwicklung noch nicht unbedingt führenden. Das allgemeine Wahlrecht, dass zunächst aus der naturrechtlichen Gleichheit aller Individuen als Vernunft­wesen und Partner des Gesellschaftsvertrages begründet werden konnte, musste den meisten Vertretern der rationalistischen Staatsauffassung aber bedenklich erscheinen.1571 Sie folgten eher einem mechanischen Modell, indem sie ein nach rationalen Erwägungen gebildetes Korrektiv zur monarchischen Staatsspitze einforderten, da die Staatspitze ihrer dienenden Aufgabe im Staat aufgrund 1566

Vgl. Gollwitzer, in: Biographie II, S. 60. Vgl. Benzenberg, Wünsche und Hoffnungen, S. 18 ff.; näher m. w. N. Boberach, Wahlrechtsfragen S. 21 f.; Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 78 m. w. N. 1568 Benzenberg, Provinzial-Verfassung I, S. 187 f. 1569 Kritisch auseinandergesetzt und mit ablehnender Haltung Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 23 f. 1570 Vgl. bei Gollwitzer, in: Biographie II, S. 60. 1571 Vgl. Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 9. 1567

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mangelnder Einsicht oder bewusster Willkür nicht immer befriedigend gerecht werde. So erhielt das Wahlrecht nicht den Charakter allgemeiner Menschen- oder Bürgerrechte, sondern war allein jenen vorbehalten, die voraussichtlich zu einer zweckmäßigen Wahl für befähigt gehalten wurden. Das waren allein die besitzenden und vermögenden Bevölkerungsschichten. Die Anschauung ist demnach stark individualistisch geprägt, wie Rudolf Smend in seiner im Jahr 1912 veröffentlichten amtlichen Antrittsrede treffend hervorhob. Demnach werden die „politischen Machtverhältnisse […] aufgelöst in Beziehungen zwischen den herrschenden Indivi­duen und den einzelnen Mitgliedern der Volksvertretung. Und diese Beziehungen werden zurückgeführt auf die individuellen Maßstäbe von Gut und Böse, wahr und falsch.“1572 Dem lag insgesamt ein Selektionsprinzip zugrunde, das richtig bemessen zur Wahl des besten Individuums führen müsse. Der angewendete Maßstab war der durch Erwerb und Bildung erlangte Grad an sittlich-mündiger Reife, die zur gleichheitlichen Teilhabe an der politischen Mitbestimmung aller „Staatsbürger“ berechtige. In dem Glauben, dass das Individuum, je freier und unabhängiger es sich entwickeln könne, um so charaktervoller und patriotischer, um so gebildeter und einsichtiger werden müsse, wird für das Besitz- und Bildungs­ bürgertum entsprechend seiner sozialen Stellung der Anspruch auf mehr Mitsprache formuliert.1573 Jene hätten im Allgemeinen auch das für die politische Mitbestimmung erforderliche Interesse an der Beständigkeit des Staatswesens.1574 Diese Anschauung fand namentlich in der Verfassungsurkunde des Königreichs Bayern vom 26. Mai 1818 ihren ausdrücklichen Niederschlag, wenn sie es in der Präambel als die Aufgabe der Stände bezeichnet „die Weisheit der Beratung zu verstärken, ohne die Kraft der Regierung zu Schwächen“.1575 Zwar war das reine Zensuswahlrecht auch innerhalb der rationalistischen Auffassungen schon vor der Julirevolution des Jahres 1830 nicht unumstritten, was insbesondere in den Schriften Johann Friedrich Benzenbergs zum Ausdruck kam. Diese Strömung kritisierte die Fokussierung auf das grundbesitzende Bürgertum, während den sonstigen Gewerbetreibenden und Intellektuellen der aktive wie passive Zugang zur parlamentarischen Repräsentation weitgehend verwehrt werden sollte.1576 Trotzdem bestand im Wesentlichen Einigkeit darin, die aktive wie passive Wahlberechtigung an Kriterien anzuknüpfen, die die besonderen Eigenschaften der politischen Mündigkeit und Einsichtsfähigkeit durch äußere Merkmale, wie Grundbesitz, Bildung und Selbstständigkeit, zu sichern hatten.

1572

R. Smend, Maßstäbe, S. 5 mit Zitat. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 14 ff. m. w. N. 1574 Pölitz, Staatswissenschaft I, S. 384. 1575 Vgl. ebenso R. Smend, Maßstäbe, S. 18. 1576 Vgl. Benzenberg, Wünsche und Hoffnungen, S. 18 ff.; ders., Provinzial-Verfassung I, S. IX f. 1573

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III. Substrate der Organischen Staatslehre Der rationalistischen Wahlrechtstheorie wurde allerdings vorgehalten, dass der allein auf Individualität gegründete Volkswille historisch kaum Beispiele fand. Insgesamt sei der Rationalismus ungeschichtlich.1577 Zwar sei die parlamentarische Entwicklung – auch europaweit – stets von Beschränkungen des Wahlrechts ausgegangen.1578 Aber das gerade überindividuelle Wesen der volkstümlichen Bewegung, von der die Entstehung der konstitutionellen Staatsform getragen sei,1579 werde in den angelegten rationalen Maßstäben nicht hinreichend berücksichtigt.1580 Dieses Zweifels nahm sich eine Strömung an, die überwiegend als „organische Staatslehre“ bezeichnet wurde1581 und eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien in sich vereinigte.1582 Auf ihre jeweiligen Einzelheiten soll hier nicht eingegangen werden. Für die hier vorliegende Untersuchung genügt es, ihre tragenden Prinzipien zur politischen Teilhabe zu identifizieren. Die organische Staatslehre ist in ihrer naturrechtlichen und romantischen Ausprägung das Gegenmodell zur individualistisch-mechanisierten Auffassung des Staates. Nicht die Individuen lassen den Staat im Wege ihres vertraglichen Zusammenschlusses entstehen, vielmehr seien die im Staat gebundenen Individuen als Volksganzes zu begreifen.1583 Dabei sei der Staat keine bloße Abstraktion, kein willkürlicher Gedankengang zufälliger Individualzusammenschlüsse, sondern von vornherein etwas objektiv Gegebenes. So konstatiert Joseph von Held noch im Jahr 1868 in seinen Grundzügen zum Allgemeinen Staatsrecht, dass „[d]ie Lebensfähigkeit des Staates und der Grad derselben […] mit dem Recht auf Bestand juristisch nichts zu thun“ habe. In dem „concreten Bestande, in welchem sich der Charakter eines Staates einmal entwickelt hat, liegt von selbst, dass sich der zum Staat gewordene concrete Bestand auch behaupte und nach Möglichkeit bethätige; denn das juristische Recht für ihn, oder sein ganzes juristisches Recht, kommt ja nur von ihm, und da er von diesem Standpunkt aus Staat ist, so gibt es juristisch wohl Rechte neben, aber weder Recht noch Gericht über ihn“.1584 Der Staat bestehe also unabhängig von jedweder Abstraktion aus sich heraus und sei eine nicht weiter 1577 Vgl. Smend Maßstäbe, S. 6; im Hinblick auf die Beschränkung des Wahlrechts auf das besitzende Bürgertum auch Benzenberg, Wünsche und Hoffnungen, S. 20. 1578 So schon G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S. 413 f. 1579 R. Smend, Maßstäbe, S. 6; ders., Verfassungsrecht, S. 8 ff. 1580 Ähnlich Braunias, Wahlrecht II, S. 5. 1581 Zurückgehend auf Schelling, System, 1804; vgl. auch v. Held, Grundzüge, §§ 250 ff. insbesondere § 253. 1582 Vgl. näher vgl. auch Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Recht, S. 263 (265 ff.); ausgehend vom Organismus-Begriff finden sich Differenzierungen des Staates als ethischer Organismus, sittlichgeistiger Organismus, sittlich-geistige Person im Sinne des Rechts, lebendiger Organismus oder als ein auf geistiger Grundlage ruhender Organismus, vgl. ebd.; ders., in: Brunner / W. Conze / ​ Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe IV, S. 519 (589 mit Fn. ­421–425). 1583 Vgl. Schelling, Vorlesungen, S. 376 f. und S. 378 f. näher und mit weiteren Nachweisen Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 164 f. 1584 Vgl. v. Held, Grundzüge, § 213, S. 366.

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rechtfertigungsbedürftige objektive Tatsache.1585 Folgerichtig glorifiziert die organische Staatslehre die romantische Vorstellung von der Individualität „des Volkes“. Nicht der Einzelwille von zur Wahl zahlreich zugelassenen Individuen verhelfe den Volkswillen zu seiner endgültigen Gestalt. Allein das lebendige Zusammen­ wirken derjenigen Volkselemente, die „Organe der Gesamtheit sind und deren Leben und organisches Zusammenwirken der Gesamtheit ihr Leben führt“1586, bilde den Volkswillen wirklichkeitsgetreu ab. Um die Individualität des Volkes repräsentieren zu können, müsse den als qualifiziert identifizierten Organen selbst überindividueller Charakter anhaften, und zwar so, wie der lebendigen Gemeinschaft selbst. Daraus leitet Johann Kaspar Bluntschli zur Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft das folgende Prinzip ab: „Der Gesetzgebende Körper stellt das ganze Volk dar. Er ist der verhältnismäßige Auszug des gesamten Volksorganismus.“1587 Aufgabe des Wahlrechts sei es dann, die lebendigen Kräfte, aus denen sich die Gesamtheit aufbaut, in möglicher Reinheit zur Entfaltung zu bringen.1588 Insofern sei die „wichtige Frage nach der vollkommenen Regierungsform“ nicht aus der Rationalität reiner Vernunft, sondern „nur mit Rücksicht auf die Ergebnisse der Geschichte“ und unter „Rücksicht auf ein gegebenes Soll und nach örtlichen und ländlichen Verhältnissen“ zu beantworten.1589 Damit geht die organische Lehre über die eingangs dargestellte historische Schule hinaus. Zwar verlangt sie im Hinblick auf die das Volksganze prägenden „Organe der Gesamtheit“ historische Verwurzelung und ein organisches Gewachsensein.1590 Darüber hinaus müssten sie aber auch noch gegenwärtig aus ihrer Verwurzelung heraus zum lebendigen Volksganzen beitragen. Das Stück der Staats­verfassung, an dem die Abhängigkeit des Staates von den gesellschaftlichen Kräften am auffälligsten ist, sei aber das parlamentarische Wahlrecht. Weil der Staat von der Anerkennung und Zustimmung der Gesellschaft getragen sein müsse, schaffe er im Parlament ein Organ dieser Anerkennung. Nach dieser Anschau­ung 1585 Beschrieben bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 140 f., zur Kritik vgl. ebd., S. 142; der Staat als organisches Gebilde im physischen Sinne als Nuance der organischen Staatslehre bezeichnet bei ders., ebd., S. 148, vgl. hierzu auch Depenheuer, Solidarität, S. 260. 1586 Vgl. R. Smend, Maßstäbe, S. 6; vgl. dazu auch näher Badura, AöR 97 (1972), S. 1 (3 ff.). 1587 Vgl. Bluntschli, Staatslehre II, S. 56. An anderer Stelle bemängelt Bluntschli am allgemeinen Wahlrecht, dass diese „Wahlform keine Rücksicht auf die organischen Verhältnisse des Volkes [nimmt]. Sie gewährt keinerlei Bürgschaft, dass die verschiedenen Bestandteile und Interessen eine ihrer Bedeutung für die Nationalwohlfahrt gemäße Vertretung erlangen; denn weder jene noch diese werden durch die bloße, alle Bürger gleich rechnende Zahl der Wähler bestimmt.“, vgl. ders., ebd., S. 58. 1588 Vgl. Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 23 f.; zum Begriffsverständnis der Wahl als „­Methode“, um geeignete Personen für Zwecke der Repräsentation ausfindig zu machen, vgl. auch Friedrich, Verfassungsstaat, S. 309. 1589 Vgl. auch zeitgenössisch Pölitz, Staatswissenschaften I, S. 419 f. Insoweit gehöre die „Lehre von der Zweckmäßigen Regierungsform nicht dem Staatsrechte, sondern der Staatskunst“ an, vgl. ders, ebd., S. 420. 1590 Vgl. Schelling, Vorlesungen, S. 591 f.; Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 130; Depenheuer, Solidarität, S. 260.

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bestimmt allein das Wahlrecht, auf welche Schichten der Gesellschaft sich der künftige Staat stützen will.1591 Bewährungsprobe der organischen Staatsauffassung war freilich die Verortung der Souveränität in der Vorstellung eines vom Volkskörper vorgegebenen Staatsganzen. Wie bereits die ethisch-sittliche Staatsauffassung Kants berührt somit auch das organische Verständnis vom Staat in ganz praktischer Hinsicht die Stellung des Monarchen. Die Souveränität komme, darin waren sich die Vertreter der Organismustheorie des Staates einig, im Außen- wie im Innenverhältnis allein dem staatlichen Organismus selbst zu (Prinzip der Staatssouveränität).1592 Folglich stehe der Monarch nicht mehr über dem Staat und seiner Verfassung, sondern wird zu einem aus der Verfassung legitimierten bloßen Staatsorgan, wenngleich in hervorgehobener Stellung.1593 Die Volksvertretung, deren Anatomie sich im Wahlrecht spiegeln müsse, könne somit ihr eigenes, ebenfalls in der Verfassung unmittelbar begründetes Recht behaupten. So werde die Monarchie aus einer Staats- zur bloßen Regierungsform.1594 Das damit aus der organischen Staatslehre abgeleitete organische Wahlrecht zur Volksvertretung konnte sich zwar der tatsächlichen und in vielerlei Hinsicht gegenläufigen Entwicklung des Aufstiegs eines selbstbewussten Bürgertums seit der Französischen Revolution nicht verschließen. Allerdings hat das seinerzeitige geschichtliche Verfassungsleben diese Wahlrechtstheorie ihrerseits nicht hinreichend verarbeitet. So suchte man wiederum unter Begründung auf die Geschichte nach den eigentlichen Trägern des Staates.1595 Dabei kamen ausschließlich die aus der Historie erwachsenen und nach wie vor lebendigen Komponenten des Volksganzen in Betracht. So wurde bis zuletzt diese Trägerschaft wiederum beim Grundbesitz identifiziert, da Grund und Boden als von der Natur hervorgebracht die einzig wirtschaftlich erheblichen Faktoren eines Landes seien.1596 Erst mit dem festen Besitz „komme bürgerliche Gesellschaft, bürgerliches Gesetz und Verfassung“1597. In diesem Punkt bestand die eigentliche Übereinstimmung nahezu aller Anschauungen zum Wahlrecht.

1591

Vgl. Badura, AöR 97 (1972), S. 1 (5). Näher Boldt, in: Brunner / W. Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe VI, S. 128 (142 f.). 1593 Gerber, Rechte, S. 16 f. 1594 Näher Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Recht, S. 263 (264 und 266 f.). 1595 Vgl. R. Smend, Maßstäbe, S. 6. 1596 Vgl. näher Boberach, Wahlrechtsfragen, S. 20 f. m. w. N., insbesondere auf die durchaus ambivalenten Auffassungen Benzenbergs, der zuletzt nicht nur historische Gründe für die Anknüpfung am Grundbesitz anführte, sondern, wie Möser, den Vergleich zu anderen Staaten wie England und Frankreich führte; vgl. zu den historisierenden Einflüssen vgl. auch Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 29 Rn. 16. 1597 Zitat bei Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 255. 1592

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

IV. Zusammenfassung Die hier vorgestellten Vertreter und Theorien bestätigen also im Wesentlichen den normativen Befund zur Ausgestaltung des frühkonstitutionellen Wahlrechts.1598 Durchweg wurde von den Abgeordneten ein auf der Basis von Grundbesitz erwirtschaftetes Eigentum gefordert, das ihnen eine unabhängige sozialökonomische Stellung sichern und sie damit vor der Gefahr der Bestechung bewahren sollte.1599 Aus Sicht der Traditionalisten brachte die Beschränkung der Wählbarkeit vorrangig auf vermögende Grundbesitzer die enge Verbindung von privatem Grundbesitz mit dem Staatsgebiet zum Ausdruck.1600 Ausgehend von dieser Anschauung ist es „nur eine Nuance“, wenn das Gewicht weniger auf die geschichtliche Begründung, sondern vielmehr auf die zutreffende Erfassung der gegenwärtigen Berufsstände in der Wählerschaft verlagert wird.1601 So verorten die Vertreter der rationalistischen Theorie den Grund der für die Einsetzung in politische Ämter erforderlichen Verstandesreife und Sittlichkeit in der individuellen wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die zwar nicht nur, aber doch im Wesentlichen durch Grundbesitz und Vermögen indiziert war. Denn nur so war der damaligen Anschauung entsprechend die für die Amtsführung erforderliche Einsicht, Kenntnis, Erfahrung und Gesinnung indiziert. Die an den Grundbesitz geknüpften Anforderungen der Wählbarkeit sollten auch vom Wähler verlangt werden dürfen.1602 Die zunehmend lauter werdende Forderung des vermögenden Bürgertums ohne oder mit nur geringem Grundbesitz nach politischer Teilhabe fand zwar zunehmend Anhängerschaft in der Staatslehre, schlug sich aber in der geltenden Rechtswirklichkeit des Frühkonstitutiona­ lismus noch nicht hinreichend nieder.1603 Trotz unterschiedlicher Auffassungen zur Funktion und Ausgestaltung eines geordneten Staatswesens und des Wahlrechts, knüpfte der überwiegende Teil der herrschenden Lehrmeinungen im Hinblick auf die Bestimmung der aktiven wie auch passiven Wahlberechtigung an den Grund und Boden als Berechtigungsmerkmal an. So war auch die deutliche Tendenz erkennbar, dass das bereits im Frühkonstitutionalismus entwickelte Proletariat von vornherein von jeder politischen Mitbestimmung fernzuhalten sei.1604 Mit Ausnahme einiger radikallinker Forderungen1605 fehlte selbst in den revolutionären Schriften die Idee des allgemeinen Stimmrechts.1606 Dieses wurde vielmehr als

1598

Vgl. dazu oben Zweiter Teil 2. Kapitel E. Vgl. Kläy, Zensuswahlrecht, S. 69 und 70. 1600 Vgl. Braunias, Wahlrecht II, S. 91 f. 1601 Vgl. mit Zitat R. Smend, Maßstäbe, S. 7. 1602 So v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335 mit Zitaten. 1603 Vgl. oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. IV. 1604 Vgl. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 14. 1605 Vgl. etwa Veröffentlichungen in der Rheinische Zeitung Nr. 156 v. 5.6.1842 und Nr. 286 v. 13.10.1842, zitiert nach Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 17 mit Fn. 2 und 3. 1606 Differenzierend aber Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 7 f., 16 f. 1599

4. Kap.: Grundbesitz und Ansässigkeit 

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„unzulässig“ gebrandmarkt, so dass all jene vom Wahlrecht auszuschließen seien, die „vom Tagelohne“ und vom „zufälligen Verdienst leben“1607.

C. Zwischenergebnis Der zeitgenössischen Anschauung entsprechend konnte Träger politischer Rechte und Pflichten in erster Linie nur der sich durch Einsicht, Erkenntnis und Unabhängigkeit auszeichnende Untertan sein. Übereinstimmend wurden diese Eigenschaften bei den grundbesitzenden Schichten identifiziert. Es galt der Grundsatz: Erst mit dem festen Besitz entsteht bürgerliche Gesellschaft, bürgerliches Gesetz und Verfassung.1608 Verschiedentlich ausdifferenziert durch Zensusbedingungen und das Erfordernis der Selbstständigkeit vermittelte also erst der nicht unerhebliche Besitz von Grundeigentum die ehrliche und wahre Freiheit, die zur unabhängigen Stimmabgabe befähigen sollte. Und für die Ausübung politischer Ämter galt das noch in verschärftem Maße.1609 4. Kapitel

Grundbesitz und Ansässigkeit als Mehrfachbedingung bürgerlicher Freiheit in den konstitutionellen Rechtsordnungen der Einzelstaaten Mit der vorstehenden Darstellung konnte zumindest ein Schlaglicht auf die Entwicklung und das hintergründige Verständnis politischer Mitwirkungsbefugnisse im Frühkonstitutionalismus geworfen werden. Die Untersuchung hat die hervorgehobene Bedeutung des Grundeigentums sowohl in der positivrechtlichen Ausgestaltung des Wahlrechts wie auch in dessen geistesgeschichtlichen Grundlagen festgestellt. Allerdings bildeten die konstitutionellen Normen zum Wahlrecht nirgends eine in sich vollständige und abgeschlossene Regelungseinheit. Im 2. Kapitel dieses Teils wurde vielmehr bereits herausgearbeitet, dass das individuelle Wahlrecht in den Einzelstaaten tatbestandlich – neben dem Erfordernis von Grundbesitz und Steuerleistung – vielfach auch an das Vorliegen der Stadt- oder Gemeindebürgerschaft und die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Landes gekoppelt war.1610 1607

Brendel, National-Repräsentation, S. 288 f. Vgl. Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 255. 1609 Für Bayern siehe oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. I. 2.; zu den gesteigerten Voraussetzungen bei der Wählbarkeit vgl. auch Braunias, Wahlrecht II, S. 110 f. 1610 Vgl. zu den Wahlrechtsvoraussetzungen in den Territorien oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. I.–III. und D. II.; so gilt für Bayern: Titel IV § 3 Verfassung: Staatsbürgerrecht, bedingt durch das Indigenat (Titel IV § 2 Verfassung); für Baden: § 36 Verfassung: Staats- und Gemeindebürgerrecht im Wahldistrikt; für Württemberg: § 137 Verfassung: Staats- und Gemeindebürgerrecht im Wahldistrikt. 1608

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Teilweise stand das Wahlrecht nur den (wirtschaftlich) Selbstständigen offen, wie das etwa im Wahlgesetz Kurhessens vom 16. Februar 1832 geregelt war.1611 Die direkte oder indirekte Anknüpfung an diese Tatbestände in den Wahlgesetzen macht zusätzlich deutlich, dass sich das konstitutionelle Wahlrecht schon damals in evidenter Abhängigkeit zu den durch die Verfassungen determinierten Gesellschaftsordnungen in den Territorien befunden hatte. Inwiefern der für das Wahlrecht im Wesentlichen vorausgesetzte Bestand von Grundbesitz auch für den Erwerb der Stadt- und Gemeindebürgerschaft, die Selbstständigkeit und das Staatsbürgerrecht rechtswesentlicher Bestandteil war, soll in diesem Kapitel ermittelt werden. Anhand dessen kann zusätzlich zu den im 3. Kapitel dieses Teils vorgestellten Lehren aufgezeigt werden, inwieweit der in den einzelnen Verfassungsordnungen geregelte verbindliche Zusammenhang von Territorialität und Wahlrecht bis zum Ausbruch der Revolution im Jahre 1848/1849 zeitgeschichtlich konsistent war.

A. Das Stadt- und Bürgerrecht als Bedingung lokaler Mitbestimmung Die frühkonstitutionelle Wahlberechtigung statuierte das gemeindliche Bürgerrecht vielfach zu seiner Voraussetzung.1612 Das gemeindliche Bürgerrecht findet seine normativen Grundlagen in den mannigfach ausgeprägten Gemeinde- und Kommunalordnungen der Territorien. Wenngleich die Entwicklung des „kommunalen Verfassungsrechts“ in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unterschiedlich verlaufen ist, gab es jedenfalls in den größeren deutschen Ländern jeweils ein relativ gleichlaufendes städtisches und ländliches Gemeinderecht.1613 Dazu zählten neben der preußischen Rheinprovinz oder dem Herzogtum SachsenGotha insbesondere die vier Hauptterritorien des Konstitutionalismus: die Königreiche Bayern und Württemberg, das Großherzogtum Baden sowie die Territorien Hessens.1614 Die Einheitlichkeit des Gemeinderechts findet seinen Ursprung in der im Jahr 1800 eingeführten zentralistischen französischen Kommunalverfassung mit einem „Maire“ als Bürgermeister und Verwaltungsleiter und einem gewählten Rat. Mit der Entstehung territorialer Staaten begann auch die Dezentralisation 1611 Vgl. etwa § 65 Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen v. 5.1.1831 i. V. m. Wahlgesetz v.  16.2.1831; auch die Bayerische Verfassung statuierte für die Wählbarkeit gemäß Titel VI § 12 das Erfordernis der „Selbständigkeit“; vgl. ferner Übersicht bei Sternberger /  B. Vogel (Hrsg.), Wahl, Bd. I/1, S. 192. 1612 Vgl. z. B. § 36 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818; § 137 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; näher oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. 1613 So auch Ziekow, Freizügigkeit, S. 152. 1614 Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch I, § 4 Rn. 23; ferner zu nennen sind die Gebiete Nassaus sowie der Fürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen, und Schwarzberg-Rudolstadt. In Kurhessen bestand ebenfalls ein einheitliches Gemeinderecht, jedoch mit Sonderregelungen für Stadtgemeinden, vgl. Unruh, ebd.

4. Kap.: Grundbesitz und Ansässigkeit 

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obrig­keitlicher Staatsgewalt. Die Übertragung von sachlich und örtlich begrenzten Befugnissen auf kommunale bzw. lokale Verwaltungseinheiten geschah überall zum Zwecke der Integration der territorial versprengten Bevölkerungsteile, indem die selbstverantwortliche, ehrenamtliche Beteiligung der Bürgerschaft an der öffentlichen Verwaltung auf der Kommunalebene den „Gemeinsinn und das politische Interesse des Einzelnen am Staatsganzen beleben“1615 sollte.1616 Zudem diente sie der bürokratischen Egalisierung und Verwaltungsprofessionalisierung.1617 I. Herkunft und Inhalt Die aufgrund der konstitutionellen Verfassungen ergangenen Gemeindeordnun­ gen1618 waren die normative Grundlage gemeindlicher Bürgerbeteiligung und überdies frühe Kennzeichen einer sich stark ausprägenden bürgerlichen Freiheit.1619 Insbesondere bei der Landbevölkerung hatte sich durch enge Bindungen an die lokale Obrigkeit eine Art genossenschaftliche Erledigung von lokalen Angelegenheiten erhalten, aus der eine „örtliche Gemeinschaft“ erwachsen war.1620 Vielfach ging dies einher mit bestimmten Rechten und Pflichten der Gemeindeangehörigen. Auch wurden den Städten und Gemeinden selbst, freilich unterschiedlich akzentuiert und stets unter staatlicher Oberaufsicht, erstmals bestimmte Freiheiten zur Erledigung eigener kommunaler Angelegenheiten gewährt, ohne dass dies aber deren Zugehörigkeit als Untergliederung des Territorialstaats in Frage stellte.1621 Denn unstreitig waren die Orts- und Stadtangehörigen zugleich als Angehörige des Lan 1615 So die historisch-kritische Interpretation aus BVerfGE 11, 266 (274); ferner Gern, Kommunalrecht, S. 30 Rn. 5; Becker, DÖV 1957, S. 740. 1616 Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch I, § 4 Rn. 23. 1617 Vgl. Engeli / Haus, Quellen, S. 13. 1618 Vgl. etwa für Bayern: Organisches Edict über die Bildung der Gemeinden v. 28.7.1808 (BayRS S. 2405 und 2789) sowie bayerische Verordnung, die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreiche betreffend (Gemeindeedict Bayern) v. 17.5.1818 (BayGB. Sp. 49–96), abgedruckt bei Engeli / Haus, Quellen, S. 138 ff.; Württemberg: Verwal­tungsedikt für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen (Gemeindeedict Württemberg) v. 1.3.1822 (StRegBl. S. 131 ff.), abgedruckt bei Engeli / Haus, ebd., S. 164 ff.; sowie Gesetzes über das GemeindeBürger- und Besitzrecht v. 15.4.1828 (nach Veröffentlichung der herzog­lichen Buchhandlung in Rottweil, 1831); Baden: Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden (Gemeindeverfassungsgesetz) v. 31.12.1831 (StRegBl 1832 S. 81 ff.), abgedruckt bei Engeli / Haus, ebd., S. 208 ff., sowie das Gesetz die Rechte der Gemeindebürger und der Erwerbung des Bürgerrechts betreffend (Gemeindebürgergesetz), v. 31.12.1831 (StRegBl 1832, S. 100 ff.); Kurhessen: Gemeindeordnung für die Städte und die Landgemeinden Kurhessens v. 23.10.1834 (GVS. S. 181). 1619 Vgl. Lieber, Freiheit., S. 24 f., 207 ff.; ebenso Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Hand­ buch I, § 4 Rn. 20. 1620 Näher zur Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung vgl. Gern, Kommunalrecht, S. 27 ff., zu den jeweiligen Territorien insbesondere S. 30 ff.; ebenso Überblick bei Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch I, § 4 Rn. 4 ff. 1621 Vgl. Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch I, § 4 Rn. 12 mit Fn. 17 und Verweis auf die Schriften des Freiherr von Stein.

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desherrn angesehen.1622 Die städtischen und gemeindlichen Organe hatten über die grundsätzlichen örtlichen Angelegenheiten zu beratschlagen und zu beschließen sowie die örtlichen Interessen gegenüber der staatlichen Obrigkeit zu vertreten.1623 Alle Funktionsträger oder Organe, etwa der Bürgermeister bzw. Gemeindevorsteher, und die mit besonderen Mitwirkungsrechten ausgestatteten Gemeindeausschüsse gingen aus den durch Wahl konstituierten Orts- bzw. Stadtparlamenten hervor1624 oder wurden durch die Gemeindebürger direkt gewählt.1625 – Mit diesen Vorbemerkungen nimmt die Untersuchung die jeweils jüngste Rechtsgrundlage vor der Revolution im Jahr 1848 zum Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung.1626 II. Bindung an Grundbesitz und Wohnort In Bayern blieb es auch im Vormärz bei den älteren Regelungen, die zum Erwerb des Heimatrechts grundsätzlich an den Grundbesitz und die Steuerleistung anknüpften.1627 Das Heimatrecht war Grundlage des Gemeindebürgerrechts und damit auch Voraussetzung zur wirtschaftlichen und politischen Betätigung innerhalb des Gemeindeverbandes. Aus § 11 Abs. 1 und 2 Bayerische Gemeindeordnung vom 17. Mai 1818 ergab sich, dass „Wirkliche Mitglieder […] nur diejenigen […], welche 1) in dem Bezirke derselben ihren ständigen Wohnsitz aufgeschlagen oder daselbst ein häusliches Anwesen haben und dabey 2) darin entweder besteuerte Gründe besitzen oder besteuerte Gewerbe ausüben“, sein können. Inbegriffen waren auch Haus- und Gewerbebesitzer ohne Grundvermögen, wenn sie von ihren Häusern oder Gewerben die Steuern entrichteten (§ 12 Bayerische Gemeindeordnung). Die Gemeindeglieder waren grundsätzlich berechtigt, an den Beratungen über gemeindliche Angelegenheiten teilzunehmen und kommunale Ämter zu besetzen (§ 17 Bayerische Gemeindeordnung). Für die aktive Wahlberechtigung zum Gemeindeausschuss war neben der Gemeindemitgliedschaft das „volle Staatsbürgerrecht“ vorausgesetzt (§§ 74 ff., 95 ff. Bayerische Gemeindeordnung).1628 Passiv 1622

Vgl. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 56. Vgl. z. B. § 36 Abs. 2 Gemeindeordnung Kurhessen v. 23.10.1834; ähnlich §§ 3, 4 und 9 Gemeindeedict Württemberg v. 1.3.1822. 1624 Insbesondere in Kurhessen: Gemeindeausschuss mit Aufsichtsrechten, daraus hervorgehend der Ortsvorsteher (i. d. R. der Bürgermeister) und Gemeinderat, vgl. § 38 Abs. 1 und § 40 Gemeindeordnung Kurhessen v. 23.10.1834. 1625 § 11 Gemeindeverfassungsgesetz (Baden) v. 31.12.1831; § 11, 36 f.; Gemeindeedict Württemberg v. 1.3.1822; in Bayern erfolgte die Wahl Stufenweise durch Wahlmänner, vgl. §§ 45, 74 und 75 Gemeindeedict Bayern v. 17.5.1818, näher Gern, Kommunalrecht, S. 35, Rn. 13. 1626 Zur vorherigen Entstehung und Entwicklung der Gemeindeverfassungen in den Territorien vgl. jeweils mit angegebenen Rechtsgrundlagen die Länderbetrachtungen bei Gern, Kommunalrecht, dort im 1. Kapitel, unter II., S. 30–52. 1627 Dazu auch Gern, Kommunalrecht, S. 35 Rn. 13; ähnlich § 4 Gemeindeedict Württemberg v. 1.3.1822. 1628 Näher zu dem als indirekt ausgestalteten Wahlverfahren vgl. Kotulla, Verfassungsrecht II, § 13 Rn. 1167 ff. Dort auch zur Unterscheidung zwischen Städten und Märkten einerseits sowie den Ruralgemeinden andererseits, vgl. ders., ebd., Rn. 1166, 1168. 1623

4. Kap.: Grundbesitz und Ansässigkeit 

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wahlberechtigt war nur, wer neben der Inhaberschaft des vollen Staatsbürgerrechts zum höchstbesteuerten Drittel der Einwohner gehörte (§§ 76 bis 78 Bayerische Gemeindeordnung). Die Bedingungen zum Erwerb des Heimatrechts einschließlich der damit einhergehenden politischen Mitwirkungsbefugnisse kam auch in dem am 1. Juli 1834 revidierten „Gemeindeedikt“1629 nahezu wortgleich in den dortigen §§ 2 ff. und §§ 12 ff. zum Ausdruck. Erst Art. 206 des Gesetzes, die Gemeindeordnung für die Landesteile diesseits des Rheins betreffend, vom 29. April 18691630 hatte die alte Gemeindeordnung endgültig aufgehoben. Eine ähnliche Bindung kommunaler Ämter und Funktionen an das Besitzbürgertum enthielt auch noch § 4 Gemeindeedict Württemberg vom 1. März 1822.1631 Das im Jahr 1828 erlassene Gesetz über das Gemeinde-, Bürger- und Besitzrecht1632 knüpfte für den Erhalt des Gemeindebürgerrechts gemäß seinem Art. 6 Satz 1 demgegenüber zwar nicht mehr an den Bestand von Grundbesitz an,1633 setzte aber in Art. 20 Abs. 1 trotzdem je nach Größe der Gemeinde zumindest ein nicht unerhebliches Vermögen in Höhe von 400 bis 800 Gulden voraus.1634 Mit dem Erwerb des Gemeindebürgerrechts ging gemäß Art. 3 auch der aktivbürgerschaftliche Status auf Lokalebene einher, der, so legte es Art. 42 des Gesetzes über das Gemeinde-, Bürger- und Besitzrecht (1828) fest, solange Bestand hatte, wie „jene Erfordernisse bei ihm vorhanden sind“. Eine Entkoppelung des gemeindlichen Bürgerrechts vom Vermögenszensus bewirkte erst das Gesetz betreffend einige Änderungen und Ergänzungen der Gemeindeordnung vom 6. Juli 1849,1635 das allen Gemeindeeinwohnern das kommunale Wahlrecht zusprach.1636 Auch das badische Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden1637 (nachstehend Gemeindeverfassungsgesetz) sowie das Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und über die Erwerbung des Bürgerrechts1638 (nachstehend Gemeindebürgergesetz) jeweils vom 31. Dezember 1831 sicherten weiterhin den (kommunal-)politischen Einfluss des besitzenden Bürgertums. Modern waren die Gesetze aber insofern, als § 2 Gemeindeverfassungsgesetz die damals noch geläufige Unterscheidung zwischen Orts- und Schutzbürger ausdrücklich aufgehoben hatte. Die ehemaligen Orts- und Schutzbürger bildeten nunmehr die 1629

Gesetz, die Revision der Verordnung v. 17. März 1818, die Verfassung und die Verwaltung der Gemeinden betreffend (BayGB 1834, Sp. 109 ff.). 1630 BayGB, Sp. 865 ff., abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht II, Ziff. 424, S. 1791 ff., näher auch ders., ebd. Rn. 1603. 1631 Darauf Bezug nehmend auch BVerfG, NJW 1991, S. 164. 1632 Vom 15.4.1828 mit den Ministerial-Verordnungen v. 24. und 26.4.1828, veröffentlicht in der herzoglichen Buchhandlung, Rottweil 1831. 1633 Art. 6 S. 1 des Gesetzes lautet: „Die Erwerbung des Gemeindebürger- oder Besitzrechts ist von dem Besitze eines Grundeigenthums unabhängig.“ 1634 Vgl. näher Wernher, Gemeinde-Bürgerthum, S. 52. 1635 StRegBl. S. 277 ff. 1636 Vgl. Gosewinkel, Einbürgern, S. 56. 1637 StRegBl. 1832, S. 81 ff. 1638 StRegBl. 1832, S. 117 ff.

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Klasse der Gemeindebürger, mit der Folge eines einheitlichen Gemeindebürgerrechts, welches erstmals auf die bis dahin geltenden Kriterien Grundbesitz und Gewerbe grundsätzlich verzichtete.1639 Doch trotz formalen Übergangs von der Bürger- zur Einwohnergemeinde1640 blieben die Klassenunterschiede1641 jedenfalls im Hinblick auf den „Antritt“ nach § 11 Gemeindebürgergesetz weiterhin erhalten. Mit „Antritt“ ist die Ausübung des Gemeindebürgerrechts angesprochen, für die weiterhin gesonderte persönliche und gesetzliche Voraussetzungen zu erfüllen waren. Diese lagen neben der Volljährigkeit (§ 10 Nr. 1, § 18 Abs. 1 Gemeindebürgergesetz) je nach dem Tatbestand des „Erwerbs“ des Gemeindebürgerrechts insbesondere bei einem konkreten Mindestvermögen (§§ 4 Nr. 1 i. V. m. § 10 Nr. 2 und 3; § 4 Nr. 2 i. V. m. §§ 22 Nr. 2, 23 Gemeindebürgergesetz). Bei Erwerb durch Geburt genügte der Besitz eines den Unterhalt der Familie sichernden Vermögens oder Nahrungserwerbes (§ 4 Nr. 1, § 10 Nr. 2 Gemeindebürgergesetz). Bei Erwerb durch Aufnahme war u. a. der Nachweis eines bestimmten Vermögensbestandes, welcher je nach Region zwischen dreihundert und eintausend Gulden variierte (§ 4 Nr. 2, § 22 Nr. 2, § 23 Gemeindebürgergesetz), erforderlich. Die Zuständigkeit über die Entscheidung des Erwerbs bzw. zur Aufnahme lag beim Gemeinderat (§ 15). Die Beschränkungen bildeten des „Gegengewicht“ zur Erstreckung des nahezu unterschiedslos gewährten Gemeindebürgerrechts auf die nichtbesitzenden Klassen.1642 Erst mit Erwerb und Antritt der Gemeindebürgerschaft erlangten die Betroffenen gemäß § 1 Nr. 2 Gemeindebürgergesetz und §§ 9 und 12 Gemeindeverfassungsgesetz das aktive und passive Wahlrecht zu den Gemeindeorganen, namentlich zum Bürgermeister und zum Gemeinderat. § 13 Gemeindeverfassungsgesetz beschränkte die Wählbarkeit für beide Organe insbesondere auf die über 25-jährigen Gemeindebürger (§ 13 Nr. 2 Gemeindeverfassungsgesetz). Darüber hinaus setzte die Wählbarkeit jeweils den einjährigen Bestand des Gemeindebürgerrechts voraus (§ 13 Nr. 1 Gemeindeverfassungsgesetz). Von grundsätzlich gleichen Voraussetzungen hing auch die Wählbarkeit zum Bürgerausschuss ab, der neben dem Bürgermeister und dem Gemeinderat als eigenes kommunalrechtliches Organ ausgestaltet war (§§ 9, 27 ff. Gemeindeverfassungsgesetz). Nur die Mitglieder des Bürgerausschusses mussten bestimmte Zensusbedingungen erfüllen. So setzte sich der Bürgerausschuss zu einem Drittel aus dem höchstbesteuerten Drittel der Bürgerschaft nach Ortschaftskataster, zu einem Drittel aus dem niedrigstbesteuerten Drittel der Bürgerschaft sowie zu einem Drittel aus jenen Mitgliedern der Bür 1639 Vgl. zeitgenössisch Fröhlich, Gemeindegesetze, S. 23; auch Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 34, S. 257 f. § 4 des Gemeindebürgergesetzes bestimmte den Erwerb des Gemeindebürgerrechts durch Geburt oder Annahme. Die Aufnahme konnte insbesondere von einem „guten Leumund“ (§§ 18 f. Gemeindebürgergesetz) abhängig gemacht werden. 1640 Dazu näher Gosewinkel, Einbürgern, S. 54 ff.; Hardtwig, in: Gall (Hrsg.), Stadt- und Bürgertum, S. 19 (21 ff.). 1641 Differenziert wurde weiterhin zwischen „Gemeindebürgern“, „staatsbürgerlichen Einwohnern“ und „Insassen“, vgl. Gosewinkel, Einbürgern, S. 55. 1642 Fröhlich, Gemeindegesetze, S. 24.

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gerschaft zusammen, „welche sich zwischen dem ersten und dem letzten Drittheil in der Mitte befinden“ (§ 28 Abs. 1 Gemeindeverfassungsgesetz). Die Wahl aller Organe erfolgte jeweils durch die Gemeindeversammlung (§ 11 Abs. 1 Gemeindeverfassungsgesetz), die aus allen stimmfähigen Gemeindebürgern mit festem Wohnsitz in der Gemeinde bestanden hatte (§§ 9, 36 Gemeindeverfassungsgesetz). Das so konstituierte Klassenwahlrecht wurde durch das badische Gemeindegesetz vom 25. April 18511643 in Reaktion auf die revolutionären Unruhen verfestigt1644 und in seinen Grundprinzipien auch noch in der nach dem Jahr 1870 in Baden erlassenen Gemeindeordnung weiter beibehalten.1645 Auch das in § 9 der Kurhessischen Gemeindeordnung vom 28. Oktober 1834 legal definierte „Heimatrecht“ hatte nicht mehr den Grundbesitz als originäre Voraussetzung, sondern knüpfte an die dauernde Wohnansässigkeit an. Die §§ 10 bis 12 Kurhessische Gemeindeordnung regelten insoweit abschließend die Erwerbstatbestände. Neben der Geburt konnte das Ortsbürgerrecht durch „Heirath (§ 16 Kurhessische Gemeindeordnung)“, „örtliche Guthheißung durch das zuständige Ministerium (§ 5 Kurhessische Gemeindeordnung)“ oder „Anstellung (§ 13 f. Kurhessische Gemeindeordnung)“ sowie durch „persönliche Zuweisung“ bei heimatlosen bzw. Inhabern „zweifelhafter Heimathrechte“ erworben werden.1646 Das Heimatrecht ging bei „freiwilligem Überzuge in eine andere Gemeinde“ verloren (§ 17 Kurhessische Gemeindeordnung). Was die Wahl der Gemeindevertreter anging, war ähnlich wie in Baden neben dem Heimatrecht auch die Stimmfähigkeit Voraussetzung. Die Gesamtheit der stimmfähigen Gemeindebürger wählten als Gemeindeversammlung (§ 37 Kurhessische Gemeindeordnung) gemäß § 38 Abs. 1, § 39 der Kurhessischen Gemeindeordnung die Mitglieder des Gemeindeausschusses. Im Unterschied zum badischen Gemeinderecht wählten nunmehr allein die Mitglieder des Gemeindeausschusses den Gemeinderat und den Ortsvorsteher aus der Gesamtheit der stimmfähigen Ortsbürger, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten einschließlich der Mitglieder des Gemeindeausschusses selbst. Der Ortsvorsteher musste darüber hinaus auch diverse persönliche Eigenschaften erfüllen (§ 42 Kurhessische Gemeindeordnung).1647 „Stimmfähiger Ortsbürger“ war wiederum nur jener, der bestimmte Zensusbedingungen, u. a. den Besitz eines eigenen Wohnhauses (§ 27 Nr. 1 Kurhessische Gemeindeordnung) oder eines Gewerbes (§ 27 Nr. 2 bis 4 Kurhessische Gemeindeordnung) in Person1648 nachweisen konnte 1643

StRegBl. Nr. XXXII. Vgl. Gosewinkel, Einbürgern, S. 56. 1645 Hardtwig, in: Gall (Hrsg.), Stadt- und Bürgertum, S. 19 (24). 1646 Näher auch Engeli / Haus, Quellen, S. 205. 1647 Neben der Bedingung der Unbescholtenheit und geordneter Vermögensverhältnisse waren nur Männer wählbar, die entweder über ein rechts- oder staatswissenschaftliches Studium oder langjährige Verwaltungserfahrung verfügten. 1648 Vgl. Ministerium des Inneren, Beschl. v. 18.10.1838, abgedruckt in: Gemeindeordnung v. 23.10.1834 für die Städte und die Landgemeinden Kurhessens, Kassel, 1866, S. 57. Der bloße Besitz reichte nicht aus, es bedurfte der Übertragung der etwa zu einem Wohnhaus dazugehörigen Eigentumsrechte. 1644

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und darüber hinaus auch die sog. „allgemeinen Erfordernisse“ zum Ortsbürgerrecht (§ 26 Kurhessische Gemeindeordnung) erfüllte. Die allgemeinen Erfordernisse sahen neben der im Heimatrecht zum Ausdruck kommenden Gemeindeangehörigkeit auch die Volljährigkeit, die Unbescholtenheit und Schuldenfreiheit vor. Dieser Regelungsmodus hatte in den folgenden Jahrzehnten im Wesentlichen Bestand. Erst die nach der Einverleibung Preußens im Jahr 1866 neu gebildete preußische Provinz Hessen-Nassau erließ zunächst im Jahr 1874 eine Städteordnung1649 und eine Landgemeindeordnung1650 nach preußischem Muster, welche wiederum im Jahr 1891 durch die jeweils am 4. August 1897 erlassene Städteordnung1651 und Landgemeindeordnung1652 abgelöst wurden. Hier wichen die vormaligen Beschränkungen des kommunalen Wahlrechts der Einführung des Dreiklassenwahlrechts für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung nach dem Vorbild Preußens,1653 welches bis zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch die WRV auch in den Städten und Gemeinden1654 bestanden hatte. III. Zwischenergebnis Der vorstehende Überblick hat die Bürgergemeinde als Ausgangspunkt für die Entwicklung der modernen kommunalen Selbstverwaltung identifiziert. Grundbesitz, Vermögen und Steuerleistung waren teils kumulativ, teils alternativ notwendige Bedingungen für den Erhalt des Ortsbürger- oder Gemeindebürgerrechts und damit auch für den Zugang zur aktiven und passiven kommunalpolitischen Beteiligung. Das wurde auch von der Entwicklung des frühkonstitutionellen Wahlrechts in den Territorien nachvollzogen, soweit dieses die Gemeinde- oder Stadtbürgerschaft tatbestandlich voraussetzte. Der Bestand von Grundvermögen fungierte somit oft als mehrfache Voraussetzung, indem dieses feste Bedingung sowohl für die materielle Wahlberechtigung zur Zweiten Kammer als auch für den Erwerb des gemeindlichen Bürgerrechts gewesen war. Soweit der infolge tatsächlicher Entwicklungen vereinzelt festgestellte Übergang zur Einwohnergemeinde, etwa für das Großherzogtum Baden, bereits in vormärzlicher Epoche erheblich wurde, änderte diese Entwicklung am Bestand des nach wie vor auch im Kommunalbereich im Wesentlichen herrschenden Bekenntnisses zum Besitzindividualismus nichts. Hier wurde die nach Anschauung der älteren Lehren am Grundbesitz haftende Berechtigung zur politischen Teilhabe1655 lediglich ersetzt durch einen neuen 1649

Gesetz betreffend die Städte-Ordnung für das Großherzogthum Hessen v. 16.6.1874 (PreußGS S. 603 ff.). 1650 Gesetz betreffend die Landgemeinde-Ordnung für das Großherzogthum Hessen v. 16.6.1874 (PreußGS S. 622 ff.). 1651 Städteordnung für die Provinz Hessen-Nassau v. 4.8.1897 (PreußGS S. 254 ff.). 1652 Landgemeindeordnung für die Provinz Hessen-Nassau v. 4.8.1897 (PreußGS S. 301 ff.). 1653 Näher vgl. Borchmann, DVBl. 1982, S. 1033 (1035). 1654 Bewirkt durch Art. 17 Abs. 2 WRV, vgl. auch Borchmann, DVBl. 1982, S. 1033 (1037). 1655 Vgl. oben Zweiter Teil 3. Kapitel B.

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Klassenbegriff des politischen Bürgers, der sich von den politisch Unmündigen vor allem nach Einkommen, Steuerleistung und Vermögen abgrenzte. Die Tradition der in sich relativ homogenen Bürgergemeinde bestimmte sowohl die Gemeindeverfassungen wie auch die Realität in den deutschen Städten und Gemeinden weit über den sog. Vormärz bis in das 20. Jahrhundert hinein.1656

B. Berechtigung zum Grundbesitz sowie zur Ausübung von Gewerbe Ebenfalls mit der staatlichen Wahlberechtigung eng verknüpft1657 war das Kriterium der „Selbstständigkeit“. Mit „Selbstständigkeit“ war der Betrieb eines selbstständigen Gewerbes gemeint. Das setzte für den Einzelnen die materielle Berechtigung zur wirtschaftlichen Betätigung im Gemeindegebiet voraus. Ausgangspunkt dieser Berechtigung war wiederum das – in der Regel den Grundbesitz voraussetzende – gemeindliche Bürgerrecht. Hinzu traten die bereits vormals geltenden korporativen Bedingungen zur konkreten Ausübung zahlreicher Gewerbe. Herausstechend ist hier der für das Handwerk seit dem Mittelalter bestehende Zunftzwang. Allgemein war unter einer Zunft noch im Jahr 1830 „eine Gesellschaft von Gewerbeleuten“ zu verstehen, „die zur Betreibung ihres Gewerbes ausschließend berechtigt sind und eine bestimmte gesellschaftliche Verfassung haben“.1658 Andere sprechen von einem „geographisch begrenzte[n] Zwangsverband von Betrieben des Handwerks, des Kleinhandels oder der Dienstleistungen, der in vormodernen Epochen marktordnende Aufgaben“ wahrgenommen hatte.1659 Wenngleich das im Mittelalter bewährte und schillernde Zunftwesen bereits seit dem 16. Jahrhundert im Niedergang begriffen war,1660 konnte es in den deutschen Territorien noch bis weit in das 19. Jahrhundert auf das Verständnis von Handwerk und Gewerbe einwirken. Das Verhältnis des Zunftwesens zum aufkommenden Territorialstaat war ambivalent. Die gemeindlichen und städtischen Ortsbürgerrechte, das in den Territorien sukzessive aufkommende und vereinheitlichende Gewerberecht und die tradierten Bindungen aus der Zunftverfassung ergänzten sich nur teilweise. Im Verlauf der Entwicklung dominierten vielmehr die Widersprüche. Das führte zu Konfliktsituationen zwischen landesherrlicher Richtlinienpolitik, gemeindlicher Selbstverwaltung und zünftigem Gewerbewesen. Diese Gemengelage macht es deshalb schwierig, in der Vielzahl der teils entsprechenden, sich teils aber auch widersprechenden Vorschriften ein konkretes System zu erblicken. Es soll für die nachstehende Bearbeitung deshalb genügen, die Grundessenz der Bindungen 1656

Hardtwig, in: Gall (Hrsg.), Stadt- und Bürgertum, S. 19 (24). Vgl. Nachweise bei Fn. 1612. 1658 Hasse / Brockhaus (Hrsg.), Conversations-Lexikon XII, S. 564. 1659 Vgl. Kluge, Zünfte, S. 34, zur Herleitung und Abgrenzung vgl. ders, ebd., S. 33 f. 1660 Vgl. Schmidt, Traditionen, S. 64; zur „Zwei-Phasen-Dichotomie“ der gängigen historischen Betrachtung vgl. Kluge, Zünfte, S. 13. 1657

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an ein Grundstück bei Ausübung von gewerblichen Rechten darzustellen und zu bewerten. I. Herkunft und Inhalt Zwar war die Entwicklung des Gewerbewesens in den deutschen Territorien vor der französischen Revolution und auch bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein insgesamt vom Wirtschaftspartikularismus der Einzelterritorien geprägt gewesen.1661 Doch musste vor allem Preußen aufgrund seiner prekären historischen Situation nach dem Jahr 1806 früher als andere Staaten die konsequente und nachhaltige Öffnung seines Gewerberechts vornehmen. Dies war im gesamtdeutschen Raum vorerst eine einmalige Entwicklung. Das in Preußen ursprünglich als „Innungsrecht“ ausgestaltete Gewerberecht unterlag ab dem 16. Jahrhundert strenger staatlicher Kontrolle und Konzessionierung. § 410 Abs. 2 Satz 8 des Allgemeinen Preußischen Landrechts vom 5. Februar 1794 stellte ausdrücklich fest, dass „die Erlaubnis zur Anlegung einer Fabrik“ allein der Staat erteilen könne. Dieses in sich geschlossene und von äußeren Einflüssen zunächst unbeeindruckt gebliebene gewerberechtliche Konzessionssystem überdauerte die Epochen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Erst hier kam es zu umfassenden Reformen. Nach der Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon im Jahr 1806 und dem oktroyierten Frieden von Tilsit vom 9. Juli 1808 war Preußen angesichts der zu leistenden exorbitanten Kriegskontributionen gegenüber Frankreich in seiner staatlichen Existenz bedroht.1662 Gegen die enormen Gebietsverluste und die auferlegten, die preußische Leistungskraft bei Weitem übersteigenden Tributsummen, erwies sich das erstarrte friderizianische Verfassungssystem als unfähig, abwehrende Eigenkräfte der Nation zu entwickeln.1663 Nur umfassende Reformen konnten den preußischen Staat vor einem Zerfall bewahren und damit das Überleben als deutscher Mittelstaat1664 sichern. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung von Grundbesitz wie auch der Ausübung eines selbstständigen Gewerbes früh erkannt. Beides setzte gemäß § 15 der Preußischen Städteordnung vom 19. November 18081665 ein gemeindliches oder städtisches Bürgerrecht voraus.1666 Im Unterschied zu den süddeutschen Territorien war der Erwerb des Bürgerrechts in Preußen nicht an den Bestand von Grundbesitz und Ansässigkeit geknüpft, sondern stand grundsätzlich auch den nichtbesitzenden Schichten offen. Er war jedoch mit der Zahlung einer beträchtlichen Gebühr 1661

Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht I, § 3 Rn. 250. Vgl. hierzu im Einzelnen Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 110 ff. 1663 Vgl. Ziekow, Freiheit, S. 329. 1664 Vgl. Stern, Staatsrecht V, § 125 VI 2 (S. 113). 1665 PreußGS S. 324 ff. 1666 „Bürgerrecht [besteht] in der Befugnis, Gewerbe zu treiben und Grundstücke im städtischen Polizeibezirk der Stadt zu besitzen“. 1662

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verbunden.1667 Jene, die sich schon zum Zeitpunkt des Erlasses der Preußischen Städteordnung innerhalb eines Stadt- oder Gemeindebezirkes häuslich niedergelassen hatten oder ein Gewerbe betrieben, waren gemäß § 23 zum Erwerb des Bürgerrechts verpflichtet. Unter dem Begriff „Gewerbe“ wiederum ist um das Jahr 1800 nicht nur das der „handwerklichen Bereiche“ zu verstehen, sondern daneben auch die Bereiche Landwirtschaft oder Handel.1668 Neu geregelt werden mussten insbesondere die Voraussetzungen zur Befugnis der Neugründung eines Gewerbes wie auch die Ausübung bzw. Fortsetzung bereits bestehender Gewerbebetriebe. Das Edikt über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 18071669 beseitigte insbesondere die für die ländliche Bevölkerung bestehenden erheblichen Beschränkungen im Zusammenhang mit der Befugnis zur Bewirtschaftung von Grundbesitz. Zur Nutzbarmachung der nationalen Dynamik des aufstrebenden Bürgertums und zur inneren Wiederaufrichtung des Preußischen Staates einschließlich der Wiederherstellung des allgemeinen Wohlstandes und der Sanierung der Staatsfinanzen erkannten die Reformer die Notwendigkeit, „[a]lles zu entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maaß seiner Kräfte zu erreichen fähig war“. Kernpunkt war die Modernisierung der ländlichen Wirtschaftsstruktur, die den Ansatz zur Steigerung des aus den in gegenseitiger Abhängigkeit verflochtenen Sektoren konstituierten Nationalreichtums bildete.1670 Während es im süddeutschen Konstitutionalismus bei der Partikulation des Wirtschaftswesens unter strenger staatlicher oder zünftiger Aufsicht noch bis weit in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein geblieben war (s. u.), sollten in Preußen die vorhandenen Beschränkungen, teils in Besitz und Genuss des Grundeigentums, teils in den persönlichen Verhältnissen des Arbeiterwesens, mit dem Ziel der freien Entfaltung der Kräfte auf die notwendigen Schranken zurückgeführt werden.1671 Die alten Hemmnisse waren noch Ausfluss der unter staatlicher Lenkung stehenden merkantilistischen Staatswirtschaft des Absolutismus, wonach die Wirtschaft originär in die Hände des Wohlfahrtsstaates gegeben war und die mächtigen Zünfte und Gilden nicht mehr aus genossenschaftlichem Eigenrecht, sondern aufgrund staatlichen Auftrages handelten. Die staatliche Regulierung, namentlich die „Bauernschutzpolitik absoluter Manier“, galt aber schon bald allgemein als eine unwürdige Bevormundung, die den Einzelnen an der Entfaltung seiner wirtschaftlichen Kräfte hindere.1672 1667 Die Gebühr wurde vom Preußischen Innenministerium festgesetzt. Sie betrug im Jahr 1809 zehn Taler und stieg bis zum Jahre 1848 auf dreißig Taler, vgl. näher Pahlmann, Anfänge, S. 40 m. w. N. in Fn. 122. Faktisch beschränkte sich der Erwerb des Bürgerrechts auf jene gehobenen Bevölkerungsteile in den preußischen Städten und Gemeinden, die ein Gewerbe betrieben oder (etwa zum Zwecke der häuslichen Niederlassung) Grundbesitz erwerben wollten. 1668 B. Vogel, Gewerbefreiheit, S. 136. 1669 PreußGS 1806–10, S. 170 ff. 1670 Vgl. B. Vogel, Gewerbefreiheit, S. 135 ff.; auch Ziekow, Freiheit, S. 329. 1671 Vgl. Präambel des Edikts über die Bauernbefreiung v. 9.10.1807. 1672 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 201 und 203 f.; Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 28, S. 215; auch für andere Territorien ausdrücklich festgestellt, z. B. Kurhessen, vgl. zusammenfassend Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 161.

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Die also zunächst unter den preußischen Staatsministern Karl Freiherr von Stein begonnene und unter Karl August Fürst von Hardenberg fortgeführte reformorientierte Rechtsentwicklung, die nach § 2 des Edikts über die Bauernbefreiung nicht nur die Standesgrenzen zur Ausübung eines Gewerbes auflöste,1673 sondern auch die Leibeigenschaft, Erb-Untertänigkeit und Gutspflichten1674 abschaffte, gipfelte in der Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit durch das Preußische Gewerbesteuer-Edikt im Jahr 1810.1675 Gemäß des dortigen § 1 war für „jede[n], welcher in unseren Staaten, sei es in Städten, oder auf dem platten Lande, sein bisheriges Gewerbe […] fortsetzen oder ein neues unternehmen will“, allein gefordert, „einen Gewerbeschein darüber zu lösen“. Damit wurden sonstige Zulassungsbeschränkungen für viele Gewerke abgeschafft.1676 Insbesondere die Bindungen der Zunftverfassungen waren in den meisten preußischen Gebieten1677 ausdrücklich und endgültig aufgehoben.1678 Lediglich das Bürgerrecht einschließlich seiner lokalen Bindung blieb lange Zeit Voraussetzung für den Besitz von Grundstücken und die Ausübung eines Gewerbes. Erst mit Erlass der revidierten Preußischen Städte­ordnung vom 17. März 18311679 fiel auch diese konkrete Beschränkung. Damit waren die letzten Verknüpfungen von Bürgerrechten mit dem Gewerbebetrieb bzw. Grundstückserwerb definitiv entfallen.1680 II. Bindung an Grundbesitz und Wohnort Bereits mit dem Edikt über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807 und der Einführung der Gewerbefreiheit wurde die Bindung an das Grundeigentum für die Erlaubnis zum Betrieb eines Gewerbes im preußischen Territorium erheblich gelockert. Gemäß § 1, 1. Halbsatz des Edikts war jeder „Einwohner“ der preußischen Staaten, „ohne alle Einschränkung in Beziehung auf den Staat zum eigenthümlichen und Pfandbesitz unbeweglicher Grundstücke aller Art berechtigt […]“. Dies bedeutete eine Öffnung des Grunderwerbs nicht nur für Bürger und Bauern, sondern in logischer Konsequenz auch die schrittweise ständische Egalisierung für den alteingesessenen Adel, der hiernach in die Lage versetzt wurde, auch nicht­ 1673

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 204. Kabinettsorder betreffend der Erb-Unterthänigkeit auf sämtlichen preußischen Domainen v. 28.10.1807 (PreußGS 1806–10, S. 174 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 8 (Nr. 8). 1675 Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer v. 28.10.1810 (PreußGS 1810, S. 79 ff.), abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 10 (Nr. 10). 1676 Zur Abschaffung des Zunftzwangs vgl. ausführlich Ziekow, Freiheit, S. 331 ff.; mit besonderem Bezug zur VO wegen des freien Betriebes der Lein- und Baumwollen-Weberei v. 4.5.1806 (PreußGS 1806–1810, S. 85) vgl. ders., ebd., S. 331 mit Fn. 57. 1677 Mit Ausnahme der Provinz Sachsen, in der die alte Zunftverfassung fortgegolten hat, vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 208. 1678 Vgl. Kluge, Zünfte, S. 430. 1679 PreußGS 1831, S. 10 ff., abgedruckt bei Engeli / Haus, Quellen, S. 183 ff. 1680 Ziekow, Freizügigkeit, S. 153. 1674

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adligen Grundbesitz an sich zu bringen.1681 Die Ausübung eines Gewerbes unterlag überdies und im Gegensatz zu früher der unbeschränkten Standortwahl1682 und war damit von den vormals bestehenden Bedingungen, insbesondere dem Erwerb eines radizierten Gemeindebürgerrechts, befreit. Indes blieb das insoweit fortschrittliche Preußen lange Zeit der einzige Staat, in dem die Notwendigkeit einer neuen Wirtschaftsverfassung einschließlich seiner Wirkungen für das Gemeinwesen erkannt wurde. In den süddeutschen Territorien gab es zum Prinzip der Gewerbefreiheit kein Bekenntnis. Die nur rudimentäre Nachahmung preußischer Gewerbereformen beschränkte sich beispielsweise in Bayern im Jahr 1825 auf die Eindämmung des Zunftwesens, insbesondere im Hinblick auf die zwingende territoriale und lokale Einkleidung.1683 Bayern ging aber nicht zur Gewerbefreiheit im Wortsinne, sondern zum staatlich reglementierten Konzessionssystem über.1684 Reichweite sowie Erteilungs- bzw. Erlöschensvoraussetzungen der Konzession wurden ab 1825 einheitlich in einer ganzen Reihe von bayerischen Reformgesetzen geregelt. Namentlich zu nennen sind die jeweils am 11. September 1825 erlassenen Gesetze über die Heimat,1685 über Ansässigmachung und Verehelichung1686 sowie das Gesetz betreffend die Grundbestimmungen für das Gewerbewesen1687. Eine ausführende ministeriale Verordnung vom 28. Dezember 18251688 präzisierte den durch diese Gesetze gezogenen Rahmen. An die Stelle des Wirtschaftskorporativismus durch die Zünfte trat in Bayern der staatliche Wirtschaftsetatismus. Dieser wiederum war nach wie vor stark an den Bestand von Grundeigentum gebunden. So bestimmte § 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Heimat die „Ansässigkeit nach den §§ 2 bis 5 des Gesetzes über die Ansässigmachung und Verehelichung“ zur Voraussetzung des Heimatsrechts. Die „Ansässigkeit“ wiederum war im verwiesenen Gesetz selbst mit legal definiertem juristischem Bedeutungsgehalt aufgeladen. Sie setzte den „Besitz eines Grundvermögens, welches ein Simplum von 45 fr. […] entrichtet, und bis zum Kapitalbetrage dieser Steuer schuldenfrei ist“ oder den „Besitz eines Gewerbes nach Maßgabe der Gesetze und Verordnungen über das Gewerbewesen“ voraus.1689 Dies betrifft insbesondere Inhaber von radizierten oder vormals zünftigen Gewerken, deren Betriebe bereits vor Erlass der Reformgesetze bestanden hatten.1690 Zuvor waren die Grund- und 1681

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 192. B. Vogel, Gewerbefreiheit, S. 200 f.; zu den damit einhergehenden Folgen der Gewerbeentwicklung vgl. Ziekow, Freiheit, S. 359 f. 1683 Hierzu vgl. Ziekow, Freiheit, S. 433, näher auch S. 435 f. 1684 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 360; näher Ziekow, Freiheit, S. 436 m. w. N. zu den vorausgehenden Verhandlungen und Rechtsgrundlagen. 1685 BayGB, Sp. 103. 1686 BayGB, Sp. 111. 1687 BayGB, Sp. 127 ff. 1688 Instruktion zum Vollzug der gesetzlichen Bestimmungen für das Gewerbewesen v. 28.12.1825 (BayGB 1826, Sp. 81). 1689 Vgl. § 2 Nr. 1 des Gesetzes über die Ansässigmachung und Verehelichung. 1690 Art. 4 Nr. 4 Gesetz, die Grundbestimmungen für das Gewerbewesen betreffend v. 11.9.1825. 1682

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Besitzbindung über die jeweilige Zunftmitgliedschaft hergestellt worden. Der Begriff „Heimatrecht“ i. S. d. des Gesetzes über die Heimat ist hingegen nicht mit dem unter der Geltung des § 11 der Bayerischen Kommunalordnung vom 17. Mai 1818 verwendeten Begriff des „Ortsbürgers“ oder des „Wirklichen Mitgliedes“1691 identisch. Denn Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes, die Grundbestimmungen für das Gewerbewesen betreffend, verweist nur hinsichtlich der Zuständigkeit und des Vollzugs auf die Bayerische Kommunalordnung, regelte die übrigen Tatbestände aber selbst. Demnach musste das Heimatrecht also unabhängig von einem bestehenden kommunalen Ortsbürgerrecht und allein nach den in den Gesetzen vom 11. September 1825 begründeten Voraussetzungen „erworben“ werden. Die drei Reformgesetze standen im engen Zusammenhang mit der einheitlichen Strukturierung von Gewerbezulassungs- und Niederlassungsrecht.1692 Unabhängig von einem bestehenden Ortsbürgerrecht war die Ansässigmachung Voraussetzung für die Konzessionserteilung zur Ausübung einer ganzen Reihe von Gewerken mit überregionalem Bezug. So bestimmte etwa Art. 2 des Gesetzes über die Grundbestimmungen für das Gewerbewesen betreffend, dass nebst der „persönlichen Fähigkeit des Bewerbers“ als Vorbedingung der nach Art. 1 des Gesetzes zu erteilenden Konzession die „gesetzlichen Erfordernisse der Ansässigmachung vorhanden“ sein müssen. Bei Vorliegen aller Voraussetzungen gab es grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Konzession. Zur endgültigen Gewerbefreiheit kam es in Bayern erst durch das am 30. Januar 1868 neu erlassene Gesetz das Gewerbewesen betreffend.1693 Gemäß Art. 1 des Bayerischen Gewerbegesetzes (1868) waren „[a]lle Staatsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts und des Glaubensbekenntnisses […] zum Betrieb von Gewerben in ganzem Umfang berechtigt“. Die Bindung an den Boden wurde hier bis zur Gründung des Deutschen Reiches nur noch mittelbar über den Besitz der bayerischen Staatsangehörigkeit hergestellt, wobei ihr Fortbestand von der Ansässigkeit, hier verstanden als Besitz von Grund und Boden, abhängig war und mit dem Wegzug aus dem Staatsgebiet jeweils entfallen sollte.1694 Damit war die Ausübung des Gewerberechts zur Eröffnung oder Fortführung eines Handwerksbetriebes im Königreich Bayern lange Zeit örtlich radiziert und untrennbar mit einem bestimmten Grundstück in der Stadt- oder der Landgemeinde verbunden. Dies war leitender Gedanke auch zahlreicher Vorschriften anderer Süddeutscher Territorien. Zwar wurde beispielsweise im Königreich Württemberg über § 29 der Verfassungsurkunde vom 25. September 1819 immerhin die Freiheit der Berufs-

1691

Dazu oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. I. Vgl. Ziekow, Freiheit, S. 426. 1693 BayGB 1866–1869, Sp. 309; zur Entstehung und zeitgenössischen Diskussion vgl. mit zahlreichen Nachweisen bei Ziekow, Freiheit, S. 445–453. 1694 Vgl. Titel IV § 3 lit. b) Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818 i. V. m. § 6 Nr. 2 des Edicts über das Indigenat v. 6.5.1818, VU Beil. I (GBl. 1818, S. 141). 1692

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wahl garantiert.1695 Das aber hatte die staatliche Konzessionierung und Beschränkung auf die Berufsausübung wie im Königreich Bayern nicht ausgeschlossen.1696 Die Ausübung eines Gewerbes im Königreich Württemberg war an den Besitz des Ortsbürgerrechts geknüpft und damit auf ein bestimmtes Stadt- bzw. Gemeindegebiet lokalisiert. Diese innere Einschränkung ergab sich aus Art. 2 des Gesetzes über das Gemeinde-, Bürger- und Besitzrecht vom 15. Mai 18281697, wonach das „Gemeinde- Besitz- oder Heimatrecht […] die Befugnis [gewährt], in der Gemeinde sich häuslich niederzulassen, und unter den gesetzlichen Bestimmungen sein Gewerbe zu treiben; […]“. Die Erlangung des Bürgerrechts selbst war hier nicht mehr direkt an den Besitz von Grund und Boden geknüpft, sondern setzte bei Erwerb durch Naturalisation (Art. 15 i. V. m. Art. 63), insbesondere die Zugehörigkeit zum „Staatsverein“ sowie regelmäßig den Nachweis eines nicht unerheblichen Vermögens voraus (Art. 20 Nr. 1). Auch wenn damit die zünftigen Bindungen durch Art. 1 und 3 des Zusatzgesetzes zur Allgemeinen Gewerbeordnung vom 22. April 18281698 erheblich gelockert wurden, blieb der Wechsel zum Konzessionssystem unverkennbar. Denn nach Art. 50 der Allgemeinen Gewerbeordnung (1828) oblag es der gemeindlichen Obrigkeit selbst, in den nach wie vor zünftigen Gewerben über die Aufnahme in das Meisterrecht und damit über das Berufswahlrecht des Einzelnen zu entscheiden. Im Kern ähnlich, in der Ausgestaltung freilich strenger verhielt sich die Rechtslage zur Einführung des etatistischen Konzessionssystems in Baden. Hier waren die Gewerbe ausdrücklich an die Städte gebunden. Auf dem Land waren Gewerbebetriebe nur insoweit zugelassen, als sie für die unmittelbaren Bedürfnisse der dortigen Bevölkerung arbeiteten.1699 Das Zunftwesen als zwingende Korporationen wurde zwar stückweise zurückgedrängt und ab dem Jahr 1822 zumindest programmatisch zunehmend auf den Status freiwilliger Zusammenschlüsse reduziert.1700 Dem liberalen Badischen Gemeindegesetz vom 31. Dezember 1831 zum Trotz blieb die überkommene Zunftverfassung aus dem Jahr 18081701 selbst mit all ihren Einschränkungen weit über den Zeitpunkt der ersten Ansätze zur Gewerbefreiheit erhalten.1702 Zu diesen Einschränkungen gehörte das vielfach in den Zunftordnungen geregelte Junktim zwischen Erlangung des Meistertitels und

1695 „Jeder hat das Recht, seinen Stand und sein Gewerbe nach eigener Neigung zu wählen und sich dazu im In- und Ausland auszubilden, mithin auch auswärtige Bildungsanstalten in Gemäßheit der gesetzlichen Vorschriften zu besuchen“. 1696 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 360. 1697 Vgl. oben Fn. 1619. 1698 StRegBl. S. 288. 1699 Vgl. Ziff. 5 des Zweiten Konstitutionsedikts v. 14.7.1807. 1700 Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogthums Baden in den Jahren 1822, S. 77 ff., zitiert nach Ziekow, Freiheit, S. 456 mit Fn. 729. 1701 Vgl. Nr. 23, 24 des Sechsten Konstitutionsedikts v. 4.6.1808 (StRegBl S. 145 ff.), abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht I, § 12 Nr. 198. 1702 Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht I, Rn. 737.

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Ansässigmachung in der Stadt oder auf dem Land1703 nach grundsätzlich bayerischem Muster. Denn auch in Baden wurde auf den Besitz von Grundeigentum als Alleinstellungsmerkmal abgestellt. Diese geläufige Einschränkung erfuhr erst im Rahmen der badischen Gewerbereform vom 20. November 1862 zugunsten der Gewerbefreiheit ihre endgültige Verbannung.1704 Fortan stand ausweislich Art. 1 des Gewerbegesetzes für das Großherzogtum Baden aus dem Jahr von 1862 die Gewerbetätigkeit ohne Unterschied jedem Staatsangehörigen zu. Die außerdem bis dahin geltende Zunftverfassung vom 4. Juni 18081705 fand durch Art. 26 des vorbenannten Gesetzes ihr Ende. In Kurhessen war die Berufswahlfreiheit in § 27 der Verfassungsurkunde vom 5. Januar 1831 verankert: „Einem Jeden ohne Unterschied stehet die Wahl des Berufes und die Erlernung eines Gewerbes frei.“1706 Damit korrespondierte auch § 27 der Kurhessischen Zunftordnung vom 5. März 18161707, wonach die „Wahl des Gewerbes ohne Zwang geschehen“ solle. Allerdings zeichnete die Zunftordnung für die Berufszulassung und -ausübung – ähnlich wie in Baden und Bayern – ein deutlich restauratives Programm. Nach Auffassung des Lehnhofes zu Kassel könne allein die staatliche Kontrolle die Funktionsfähigkeit des Gewerbe- und Ausbildungswesens gewährleisten.1708 Von der strengen Zunftverfassung ausgenommen waren nur die wenigen Gewerbezweige, die schon früher keinem Zunftzwang unterworfen waren.1709 Jene allerdings unterlagen zumeist staatlicher Konzessionierung1710 bei teilweiser exorbitanter Abgabenpflicht. Das noch mächtige Zunftwesen dominierte also auch hier überwiegend das Geschehen. Das Ortsbürgerrecht war „unerlässliche Bedingung zur Ausübung des Meisterrechts“.1711 Die Neuaufnahme als zünftiger Meister setzte damit für zahlreiche Gewerke u. a. das wiederum vom Grundbesitz abhängige Bürgerrecht1712 im Bannbereich der Zunft voraus. Erst aufgrund des andauernden heftigen Drucks der Handwerkerschaft und der Landstände sowie unter dem Eindruck der zu Beginn der 1860er Jahre immer 1703

Vgl. Ziekow, Freiheit, S. 456. Vgl. zur Aufhebung der Zunftverfassung Art. 26 des Gewerbegesetzes für das Großherzogthum Baden v. 20.9.1862 (StRegBl S. 409 ff.), abgedruckt bei Kotulla, Verfassungsrecht I, § 12 Nr. 198/5. 1705 Vgl. §§ 23 und 24 des Sechsten Konstitutionsedikts v. 4.6.1808 (Fn. 1702). 1706 „Einem Jeden ohne Unterschied stehet die Wahl des Berufes und die Erlernung eines Gewerbes frei.“ 1707 Abgedruckt bei Stratmann / Schlüter (Hrsg.), Quellen, Dok. 9, S. 80 (81): „Die Wahl des Gewerbes soll ohne Zwang geschehen“. 1708 Vgl. Ziekow, Freiheit, S. 495 m. w. N. 1709 Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 16. 1710 Näher Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 54 ff.; Ziekow, Freiheit, S. 497. Zur zeitgenössischen Kritik der Landstände in den Verhandlungen um 1831 vgl. Bovensiepen, ebd., S. 58. 1711 Vgl. § 150 Abs. 1 Hessische Zunftordnung v. 5.3.1816. 1712 Vgl. oben Zweiter Teil 4. Kapitel A. I. 1704

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stärker gewerbefreiheitlich eingestellten öffentlichen Meinung war vonseiten des kurhessischen Innenministeriums eine ernsthafte Lockerung der strengen zünftigen Bindungen des Konzessionswesens angegangen worden. Der am 4. Mai 1863 fertiggestellte Gesetzentwurf den Gewerbebetrieb betreffend1713 sollte mit Ausnahme einiger schutzpolizeilich relevanter Gewerbebetriebe für alle kurhessischen Staatsangehörigen die Ausübung eines jeden Gewerbes freigeben. In diesem Zusammenhang war beabsichtigt, die vormals strikte Lokalbindung über Art. 1 § 2 des Entwurfs aufzuheben.1714 Die bei Zunftbetrieben wie Konzessionsbetrieben bisher außerdem unterschiedslos bestehende Verpflichtung zum Erwerb des grundstücksbezogenen Ortsbürgerrechts sollte über Art. 3 § 1 des Entwurfs ausdrücklich aufgehoben werden. Es bestand lediglich eine Anmeldepflicht (Art.  6 § 1). Bisher bestehende gewerbliche Korporationen sollten über die Art. 49 und 50 als freie Vereine fortbestehen, die mit der regierungsseitigen Bestätigung ihrer Satzung den Status einer juristischen Person des Privatrechts als „Innungen“ verliehen bekommen.1715 Doch wurden die kurhessischen Bestrebungen durch die Annexion des kurhessischen Gebietes durch Preußen im Jahre 1866 überholt. Die daraufhin von Preußen im Jahr 1867 erlassene Verordnung, den Betrieb stehender Gewerbe im vormaligen Kurfürstentum Hessen betreffend,1716 beseitigte den Zunftzwang, die bestehenden Beschränkungen hinsichtlich des Landhandwerks und der Verkaufsbefugnisse der Handwerker sowie die Konzessionspflicht einer Reihe von Gewerken.1717 § 4 der Verordnung entkoppelte überdies die vormalige Voraussetzung des Grundbesitzes von den Angehörigkeitsbeziehungen. Neben den Anmelde- und ggf. ordnungspolizeilichen Genehmigungspflichten blieb von den vormals geltenden Begrenzungen einzig die innere Anbindung an die Staatsangehörigkeit fortbestehen.1718 III. Zwischenergebnis Die Darstellung zeigt: Auch im Bereich des Gewerbe- und Handwerkswesens hatte der lokale Besitzindividualismus bis Mitte des 19. Jahrhunderts hervorgehobene Bedeutung. Mit Ausnahme Preußens bestand in den süddeutschen Territorien nach wie vor eine enge Korrelation zwischen Grundbesitz und dem Betrieb eigener 1713

Abgedruckt bei Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 55. In der durch Art. 1 § 1 des Entwurfs ausgesprochenen Gewerbefreiheit aller Staatsangehörigen war die „Befugnis“ enthalten, „jedes Gewerbe an jedem Orte für eigene oder fremde Rechnung selbständig oder als Gehilfe auszuüben, ein oder mehrere Geschäfte gleichzeitig, an mehreren Orten oder auch verschiedenen Lokalitäten desselben Orts zu führen, […]. 1715 Vgl. Ziekow, Freiheit, S. 499; kritisch zur privatrechtlichen Ausgestaltung des Innungswesens: Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 163. 1716 Vom 29.3.1867 (PreußGS 1867, S. 423). 1717 Vgl. § 5 der VO, näher Ziekow, Freiheit, S. 499; Bovensiepen, Kurhessische Gewerbepolitik, S. 161 ff. 1718 Vgl. schon Präambel Gewerbesteuer-Edikt v. 28.10.1810. 1714

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Handwerks- oder Gewerbebetriebe zur selbstständigen Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes. Wo dies nicht mehr durch das einst mächtige Zunftwesen sichergestellt war, hatte der Staat entsprechend restriktive Vorschriften selbst geschaffen. Unmittelbar mit der zünftigen oder staatlichen Berechtigung zum Betrieb eines Gewerbe- oder Handwerksbetriebes waren die wahlrechtlichen Tatbestände der „Selbstständigkeit“ und des Gemeindebürgerrechts verknüpft, mit denen in den kurhessischen und den meisten süddeutschen Verfassungen und Wahlgesetzen die aktive wie passive Wahlzugangsberechtigung zur Zweiten Kammer dem Grunde nach einherging. Die Wahlbeschränkungen bezweckten nicht nur die Auslese der Wahlbürger nach den zeitgenössischen Kriterien der politischen Einsichtsfähigkeit und Reife.1719 Mit der tatbestandlichen Fixierung des aktiven und passiven Wahlrechts auf gewerbliche Grundbesitzer versicherte man sich auch der politischen Mitwirkung jener finanzstarken und steuerlich belastbareren Schichten, die aufgrund ihrer im Berufsleben erlangten Kenntnisse und Vermögen in der Lage waren, die Geschicke des Staates, insbesondere in Finanzangelegenheiten, erheblich mitzugestalten. Das sicherte nicht zuletzt auch das Vertrauen in den öffentlichen Kredit des Staates im In- und Ausland.1720 Damit steht allerdings auch fest, dass der in den Verfassungen und den Wahlgesetzen geregelte Besitz- und Steuerzensus das Wahlrecht nicht originär begründete, sondern den durch die übrigen Wahlrechtsvoraussetzungen bereits spezifizierten Kreis der aktiv und passiv Wahlberechtigten nur weiter einschränkte. Denn die Anwendung der Zensusbestimmungen setzte die Zugehörigkeit zum potenziellen Wählerkreis nach Maßgabe der eben aufgezeigten Kriterien (Heimatrecht, Ansässigmachung, Selbstständigkeit) bereits voraus. Insbesondere ein hoher Passivzensus selektierte aus den vermögenden Bevölkerungsschichten jene zu Abgeordneten wählbaren Personen, welche die Finanzpolitik mitbestimmen sollten.

C. Die Staatsangehörigkeit als statusbegründender Bezugspunkt zur Ausübung von Rechten Neben den bis hierhin aufgezeigten besitzindividualistischen Elementen wird das frühkonstitutionelle Wahlrecht zur Zweiten Kammer schließlich durch die personale Zugehörigkeit zum Territorium, der Staatsangehörigkeit determiniert. Der Staatsangehörigkeit gehen zwei Entwicklungslinien voraus, die aus verschiedenen Ursachen herrühren. Einerseits war die Staatsangehörigkeit ein wesentliches Integrationselement zur verwaltungstechnischen Durchdringung der jungen konstitutionellen Territorien; andererseits avancierte sie zum „Eckstein“ der in der Folge sukzessiven Entwicklung der Anerkennung des Einzelnen als grundsätzlich gleiche und freie Individuen vor der Staatsgewalt. Sie begründet den Ursprung aller Sta 1719

Vgl. oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. IV. Aeppli, Wahlrecht, S. 82 f.

1720

4. Kap.: Grundbesitz und Ansässigkeit 

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tusbeziehungen der Einzelnen zum Staat. Auch das Wahlrecht blieb hiervon nicht unberührt. Wenngleich der heute geltende exponierte Zusammenhang zwischen dem Wahlrecht und der – die Staatsangehörigkeit voraussetzende – Staatsbürgerschaft1721 im Frühkonstitutionalismus noch nicht bestanden hatte,1722 verknüpften zahlreiche frühkonstitutionelle Verfassungen die Zuerkennung des Wahlrechts mit der personalen Zugehörigkeit zum Staatsverband.1723 Für die individuelle Wahlberechtigung war somit auch die Staatsangehörigkeit statusbegründend. Deren innere Struktur gerät nunmehr in den Blickpunkt und muss zur Erkenntnis des damaligen Rechtsverständnisses auch in Bezug auf die einzelstaatlichen Regelungen zur Wahlberechtigung zur Zweiten Kammer kurz betrachtet werden. I. Herkunft und Inhalt 1. Staatsangehörigkeit als Mittel verwaltungsrechtlicher Zuordnung Im Zusammenhang mit der Bevölkerungsexplosion während der Frühindustrialisierung seit Mitte des 18. Jahrhunderts und als Folge der wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen, namentlich der mit der Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit einhergehenden Auflösung bisheriger korporativer Schutzverhältnisse, kam es im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts speziell in den unteren Schichten zur Verelendung großer Bevölkerungsgruppen. Die Rechtsordnungen der Einzelstaaten mussten adäquate Antworten auf die Auswirkungen dieser in ihrem Ursprung unumkehrbaren Veränderungen finden. Der bislang geläufige, nach innerstaatlichen Kriterien entwickelte Ordnungsbegriff des „Einwohners“ oder „Untertans“ konnte zwar die unter die Staatsgewalt eines bestimmten Territoriums fallenden Individuen erfassen. Er hat sich jedoch als äußeres Abgrenzungskriterium zur fruchtbaren Koordinierung und Bekämpfung der Armutseinwanderungen aus angrenzenden Territorien in die ohnehin bescheidenen Systeme der jeweiligen Armenfürsorge als ungeeignet erwiesen.1724 Vielmehr bedurfte es übergreifender und einheitlicher Begrifflichkeiten zur Regelung gerechter Abschiebemodalitäten 1721

BVerfGE 1, 14 (33): Wahlrecht als das vornehmste und wichtigste staatsbürgerliche Recht. Der Staatsbürgerbegriff war zu jener Zeit noch nicht fest umrissen, vgl. näher Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 165 ff., „teilhabeberechtigte Staatsbürger“ in den „frühkonstitutionellen Verfassungen defensiv aufgenommen“; vgl. ebd., S. 169; exemplarisch: § 22 Verfassungsurkunde für Kurhessen v. 5.1.1831: „Ein jeder Staats-Angehöriger (Inländer) ist der Regel nach […] auch Staatsbürger“; zum Verständnis der Staatsbürgerschaft bei Kant vgl. oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. II. 1. Soweit frühkonstitutionelle Verfassungen den Staatsbürgerbegriff verwendeten, galt der Satz: Jeder Wahlberechtigte war zugleich Staatsbürger, aber nicht jeder Staatsbürger war zugleich wahlberechtigt. 1723 Vgl. etwa Titel VI § 12 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818; §§ 36, 37 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818; § 135 Nr. 1 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; Artikel 55 S. 1 Verfassungsurkunde Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820; § 22 Verfassungsurkunde für Kurhessen v. 5.1.1831. 1724 Vgl. Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (5). 1722

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zwischen den Territorien des Deutschen Bundes. Doch nicht nur die akute Armutszuwanderung musste verwaltungsrechtlich effektiver verarbeitet werden. Bereits im 17. Jahrhundert gab es infolge von Religionswirren, Kriegen sowie regionalen und strukturellen Agrar- und Wirtschaftskrisen starke intra- und transterritoriale Bevölkerungsbewegungen. Die Folge waren zahlreiche zwischenstaatliche Vereinbarungen, sog. Heimatverträge, die zu dem Zweck der (zunächst völkerrechtlichen)1725 Zuordnung des Einzelnen zu einem konkreten Territorium unter dem Begriff „Staatsangehörigkeit“ deren Inhalt sowie einige einheitliche Kriterien zu den Erwerbs- und Verlusttatbeständen zum Gegenstand hatten.1726 So trat die Staatsangehörigkeit, insbesondere im Zusammenhang mit Armut und Abschiebung, zunächst als „Rechtsfigur minderen Ranges“ neben die etablierten Begriffe „Einheimischer“, „Einwohner“ und „Untertan“.1727 2. Staatsangehörigkeit und Aktivbürgerschaft Die übergreifende Angleichung dieser Heimatverträge im Hinblick auf die Statusbeziehungen Einzelner war deshalb zunächst und in erster Linie administratives Mittel zur Bewältigung der durch den Pauperismus bedingten Situation. Eine Aufwertung des Staatsangehörigkeitsbegriffes erfolgte erst im Zusammenhang mit seiner zweiten, der originär rechtlichen bzw. juridischen Entwicklungslinie. Denn das Erfordernis zur Regelung einheitlicher Staatsangehörigkeiten rührte auch aus der verfassungsrechtlichen Begründung der politischen Bürgerrechte, namentlich der aktivbürgerschaftlichen Teilhabe im Staat. So gelangte insbesondere in Frankreich die Staatsangehörigkeit als Ausdruck und Voraussetzung politischer Freiheiten zu exponierter Stellung. Verglichen hiermit fehlte den auf deutschen Territorien zuvor als „Untertanenrechte“ ausgestalteten Gewährungen von speziellen Freiheiten das Pathos von Rechten, die sich das Volk erkämpft und sich gegeben hatte. Dennoch kam der Staatsangehörigkeit schon zu Beginn der deutschen Verfassungsentwicklung konstitutive Wirkung zu. Sie wurde nicht bloß beiläufig erwähnt, sondern sie war erste Voraussetzung für die Inanspruchnahme obrigkeitlich gewährter „Rechte der Staatsbürger“, besonders des staatsbürgerlichen Wahlrechts überhaupt.1728 Die 1725

Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 135. Vgl. zunächst für die Süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg: Übereinkunft v. 7.3.1816 (StRegBl 1816 [Baden], S. 139); ebenso Übereinkunft Großherzogtum Hessen, Herzogtum Waldeck v. 6.5.1818, zitiert nach Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 136 mit Fn. 20; vgl. ferner Übereinkünfte Preußen / Bayern v.  9.5.1818 (PreußGS S. 53); Preußen / Sachsen v. 21.1.1820 (Codex Saxonicus II S. 86); Preußen / Mecklenburg-Strelitz v. 7.5.1819 (PreußGS S. 137) und v. 26.1.1824 (PreußGS S. 56); Übereinkunft Sachsen / Hannover v.  1839 (GVBl. [Sachsen] S. 207); Übereinkunft Königreich Sachsen / Herzogtum Waldeck v. 24.9.1840 (GVBl. [Sachsen] S. 241); Preußen / Württemberg v. 5.12.1845 (PreußGS S. 779). 1727 Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (5). 1728 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 341 ff., 351 f.; Bluntschli, Staatslehre I, S. 246: die „höhere Stufe der Staatsbürger im eigentlichen Sinne“ hebt sich „aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen“. 1726

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in den deutschen Verfassungen als „Staatsbürger“ bezeichneten „Adressaten“ haben in der Verleihung der Staatsangehörigkeit ihren gemeinsamen Ausgangspunkt. Der Kollektivität der Staatsbürgergemeinschaft als wahrnehmbare innere Gesamtheit und gegenüber der Obrigkeit fest definierte Größe wohnte gegenüber dem bloß staatsangehörigen Untertan freilich noch das beherrschende Bild des in erster Linie durch wirtschaftliche Selbstständigkeit „zur Freiheit berufenen“ Individuums1729 inne. Dieser Umstand knüpft unmittelbar an die Grundgedanken der im deutschen Raum weit verbreiteten rationalistischen Staatstheorien an. Wie von Rotteck für die Zeit um 1830 typisch feststellte, sind „nicht alle Staatsangehörigen darum [Anm.: ob ihrer Staatsangehörigkeit] auch schon Staats-Bürger im vollen Sinne des Wortes, d. h. vollberechtigte und aktive Mitglieder der Staatsgesellschaft“. Voraussetzung zur Erlangung des Bürgerstatus seien vielmehr auch hier zusätzliche bestimmte „naturgemäß dazu nöthige[n] Eigenschaften […] und die mit Vernunft zu verlangenden Bürgschaften für die Erfüllung der Bürgerpflichten“.1730 Doch war der Übergang von der Staatsangehörigkeit zur Staatsbürgerschaft nicht mehr ständisch gebunden, sondern über das Kriterium der Selbstständigkeit, ganz i. S. d. Kant’schen Philosophie, für jeden Staatsangehörigen grundsätzlich offen. Trotz teilweiser Rechtlosstellung nach wie vor großer Gruppen von Angehörigen erfolgte insgesamt eine Abgrenzung zwischen In- und Ausländern mit der allein für jeden Staatsangehörigen bestehenden Chance, in den Genuss der noch landesherrlich gewährten Staatsbürgerrechte zu kommen.1731 Der „staatsangehörige Staatsbürger“ als allein berechtigter und verpflichteter1732 Volkszugehöriger oder „Volksgenosse“ war also lange Leitbild auch der frühen Konstitutionen. Freilich verlief die diesbezügliche Entwicklung in den Einzelstaaten unterschiedlich und nicht frei von Brüchen. Die in den Ländern mitunter unklaren Begriffsinhalte der verschiedenen Status innerhalb der An- bzw. Zugehörigkeitsbeziehungen des Einzelnen zum Staat lassen eine einheitliche Systematisierung kaum zu. Hierauf ist in der Literatur schon vielfach eingehend hingewiesen worden.1733 Doch die drängenden Fragen waren stets dieselben: Wer ist Staatsangehöriger, wie wird man Staatsangehöriger, wann endet die Staatsangehörigkeit? Nicht zuletzt wegen der Beschränkung der politischen Rechte auf Staatsangehörige sowie der Übernahme öffentlicher Ämter („citoyen actif“) waren dies die eigentlichen Belange, die die Staatsangehörigkeit aus ihrer vormals zweitrangigen Stellung zur Be-

1729

Vgl. zu den Grundlagen Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46 (§ 48). Vgl. v. Rotteck, Lehrbuch II, S. 128, 129. 1731 Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (7). 1732 Zu den Pflichten, insbesondere Dienst- und Militärdienst, vgl. v. Rotteck, Lehrbuch II, S. 134. 1733 Vgl. Renner, in: Hailbronner / ders. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht4, Grundlagen A, Rn. 5; eingehender Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 174 ff.; ein ausführliches Fundstellenverzeichnis der historisch geltenden Vorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht findet sich bei Hecker, Staatsangehörigkeitsregelungen. 1730

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kämpfung der Armutseinwanderung im Refugium des Polizei- und Verwaltungsrechts auf die Ebene des Verfassungsrechts emporgehoben hatten.1734 II. Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts – Überblick 1. Süddeutsche Territorien Im Wesentlichen gründeten die o. g. zwischenstaatlichen Vereinbarungen wie auch die Verfassungssätze der süddeutschen Territorien die Staatsangehörigkeit bereits1735 auf den Prinzipien der Abstammung, der Naturalisation und der Er­ sitzung.1736 Der gebürtige „staatsangehörige Untertan“ ist in den deutschen Staaten von vornherein allgemeiner Grundsatz. Hierbei wird die Staatsangehörigkeit gemäß dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) durch Geburt erworben, gleichviel auf welchem Territorium sich die Geburt ereignete. Daneben steht die Naturalisation, d. h. die individuelle Aufnahme durch behördlichen Ausspruch, die ebenfalls den „staatsangehörigen Untertan“ zum Ziel hat.1737 Nach wie vor aber galt die Maxime, dass jedes Land seine Staatsangehörigen nach eigenem Ermessen definiert. Die Regelungen waren also nicht aufeinander bezogen und abgestimmt. Insbesondere der Begriff „Indigenat“ hatte vielfach unterschiedliche Bedeutung. So wurde etwa in Bayern und Hessen die Rechtsstellung des Inländers „Indigenat“ genannt,1738 abweichend davon stellte jedoch die Verfassung Kurhessen 1831 und 1852 das „Indigenat“ neben die „Staatsangehörigkeit“.1739 Demgegenüber verstand das Grundgesetz für das Herzogtum Sachsen-Altenburg vom 29. April 1831 den 1734

Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (7); vgl. überdies Regelungen aus Titel IV § 1 ff. 3 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818 sowie VU Beil. I.; § 9 Abs. 2 Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22.8.1818; §§ 19 ff. Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25.9.1819; Artikel 13 Verfassungsurkunde Großherzogtum Hessen v. 17.12.1820; weitere für die Regelungen zur Staatsangehörigkeit grundlegende Verfassungstexte anderer Territorien bei Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 498 ff. 1735 Zu den ursprünglichen Ausprägungen des ius soli vgl. Betrachtung bei Bluntschli, Staatslehre I, S. 235 ff. Bluntschli anerkennt aber die „Abstammung von Volksgenossen“ als „lebendigen Kern des Staatsbegriffs“, wonach das Abstammungsprinzip diesem System am besten entspräche, vgl. ders., ebd., S. 238 f. mit Zitaten. 1736 Vgl. Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (5); Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 136 f. 1737 Vgl. Nachweise oben bei Fn. 1735, daneben, auf einfachgesetzlicher Ebene: etwa Nr. 7 ff. Landes-Recht des Großherzogtum Baden nebst Handelsgesetzen (1814), abgedruckt bei Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 501; § 1–3 VU Beil. I v. 26.5.1818 (Bayern); weitere Beispiele aus Gesetzen nach 1831: § 1 Gesetz, die Untertanen- und Heimatverhältnisse in den Herzogtümern Anhalt-Dessau und Anhalt-Köthen betreffend v. 1.3.1852 (GS für das Herzogthum Anhalt-Dessau Nr. 265, S. 2121), abgedruckt bei Lichter, ebd., S. 498; § 1 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Untertanenrechts im Königreich Sachsen v. 2.7.1852 (GVBl. 240), abgedruckt bei Lichter, ebd., S. 33. 1738 Vgl. insbesondere die bayerischen Gesetze v. 11.9.1825 über die Heimat und über die Ansässigmachung und Verehelichung. 1739 Dazu Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 176 f.

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„Staatsangehörigen“ als „Territorial-Untertan“, das heißt auch die im Land sich aufhaltenden Ausländer als zeitige Untertanen. Das Indigenat war hier mit dem Heimat- und Wohnrecht gleichgesetzt. Die fehlende einheitliche Systematik führte daher häufig auch zu inneren Abgrenzungsschwierigkeiten. So umfasste etwa der in der Verfassung Württembergs gebrauchte Begriff „Staatsbürger“ alle Staatsangehörigen. Auf eine nähere Spezifizierung dahingehend, wer Staatsbürger ist, wurde verzichtet.1740 Als besonders problematisch erwies sich darüber hinaus, dass Staatsangehörigkeit vielfach über die Stadt- und Gemeindezugehörigkeit, insbesondere die Erteilung eines lokalen Wohnrechts in der Gemeinde, vermittelt war.1741 In Preußen (dazu sogleich) wurde diese aus der kommunalen Vorherrschaft resultierende Gemengelage schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt und behoben. Für die süddeutschen Territorien konnte eine letztgültige Vereinheitlichung aber tatsächlich erst durch den Erlass des für alle Bundesstaaten gemeinsam verbindlichen Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 (BuStAG)1742 erreicht werden. 2. Preußen Das eben erwähnte Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundesund Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 hatte die Rechtslage Preußens zum Vorbild. Denn während die süddeutschen Staaten bis hierhin mit den eben dargelegten Schwierigkeiten der genauen Abgrenzung der Staatsangehörigkeiten zuund untereinander zu kämpfen hatten, brachte Preußen mit dem Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Unterthan und den Eintritt in fremde Staatsdienste vom 31. Dezember 18421743 (Preußisches Untertanengesetz) ein Angehörigkeitsgesetz hervor, dessen Grundgedanken in Systematik und Ausgestaltung wegweisend für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht werden sollten.1744 Es wurde aus dem allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 und 1815 entwickelt, das die Zugehörigkeit zum Staate Preußen wegen der Zerstückelung und regionaler Besonderheiten infolge massiver Gebietserweiterungen Richtung Osten nur noch fragmentarisch zu regeln vermochte. Der bis dahin geltenden Rechtslage im Untertanenrecht wohnte zudem der Umstand inne, dass der Einzelne originär zunächst nicht an den Staat Preußen selbst, sondern – zuletzt vermittelt über die preußische Städteordnung vom 19. November 1808 – in erster Linie an seine jeweilige kommunale Gebietskörperschaft, namentlich der Stadt oder Ge-

1740

Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 181; v. Mohl, Staatsrecht I, S. 312 f., 315 f. So z. B. hannöversche VO über die Bestimmung des Wohnortes der Untertanen in polizeilicher Hinsicht v. 6.7.1827 (GS I S. 69). Ein besonderes Staatsangehörigkeitsgesetz bestand nicht, ein besonderer Erwerb der Staatsangehörigkeit erfolgte ebenfalls nicht. 1742 NBGBl. S. 355. 1743 PreußGS 1843, S. 15 ff. 1744 Renner, in: Hailbronner / ders. (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht4, Grundlagen A. Rn. 6. 1741

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meinde, angebunden war.1745 Das Allgemeine Preußische Landrecht trat demgegenüber subsidiär zurück.1746 Dies machte die jeweilige lokale Exekutiv­gewalt zu einem mächtigen Mittler im Rechts- und Pflichtenverhältnis des Einzelnen zum Staat Preußen. Hingegen überwand das preußische Untertanengesetz diese Situation, indem es überregional einheitliche Erwerbs- und Verlusttatbestände der preußischen Staatenzugehörigkeit zum Staat formulierte. Über weite Teile der preußischen Gebiete und Provinzen1747 ersetzte damit der Staatsbürger den Stadtoder Gemeindebürger, womit die vormals kommunale Zuordnung des Einzelnen weitgehend zurückgedrängt wurde. Die bisherigen lokalen Zugehörigkeitsverhältnisse ließen die Entwicklung eines vereinheitlichten preußischen Staatsangehörigkeitsrechts nunmehr unberührt. Mit Erlass der preußischen revidierten Städteordnung vom 17. März 1831 konstituierte Preußen die moderne Einwohnergemeinde, in der die bisher erfolgte Trennung zwischen Einwohnern und Bürgern entfallen war.1748 Sämtliche Stadt- und Gemeindeangehörige wurden über das preußische Untertanengesetz nunmehr endgültig unmittelbar dem Staat Preußen zugeordnet. Diese Tendenz wird schließlich auch in den preußischen Verfassungen aus den Jahren 18481749 und 18501750 manifestiert, indem der jeweilige Art. 3 den Anknüpfungspunkt „unter welchen Bedingungen die Eigenschaft eines Preußen und der staatsbürgerlichen Rechte erworben, ausgeübt und verloren werden“, verbindlich auf die „Verfassung und das Gesetz“ legte und damit jeglichen zuvor bestehenden exekutiven Spielraum außerhalb dessen beseitigte. Zwar betonte das Gesetz gerade die Pflichtenbindung des Einzelnen zum Staat, indem ausschließlich vom „Unterthan“ gesprochen wurde, dessen „Eigenschaft“ erworben oder verloren gehen konnte. Doch lassen die Vorarbeiten zur preußischen Verfassung durchaus erkennen, dass die Zuordnungsbegriffe „Unterthan“, „Eigenschaft eines Preußen“ und „Staatsangehörigkeit“ synonym verwendet worden sind.1751 Demnach wurde die Staatsangehörigkeit in erster Linie durch Geburt erworben, das heißt entweder durch eheliche Abstammung von einem deutschen (preußischen) Vater oder unehelichen Abstammung von einer deutschen (preußischen) Mutter (§ 2). Der Ort der Geburt war bereits gleichgültig.1752 Weitere Erwerbstatbestände waren auch hier die Legitimation (§ 3), die Verheiratung (§ 4) und die Verleihung auf Antrag (§§ 5 f.), wobei zwischen „Aufnahme“ (als Angehöriger eines anderen deutschen Staates) und „Naturalisation“ (Aufnahme eines Nichtdeutschen) unterschieden wurde.1753 In Abkehr vom bis zum 31. Dezember 1842 1745

Vgl. Gosewinkel, Einbürgern, S. 68. Gern, Kommunalrecht, S. 31 Rn. 8. 1747 Zum jeweiligen örtlichen Geltungsbereich der Preußischen Städteordnung vgl. Lichter, Staatsangehörigkeit, S. 519. 1748 Gosewinkel, Einbürgern, S. 68 f. 1749 PreußGS S. 375 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 188 (Nr. 163), S. 484 ff. 1750 PreußGS S. 17 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 194 (Nr. 168), S. 501 ff. 1751 Vgl. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 178; Waldecker, AöR 33 (1915), S. 436 (485 f.). 1752 Hierzu und im Folgenden vgl. v. Stengel, Staatsrecht, § 20 II S. 57. 1753 Vgl. v. Stengel, Staatsrecht, § 20 II S. 57. 1746

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„anerkannten“ Recht sah das preußische Untertanengesetz den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch „Aufschlagung eines festen Wohnsitzes unter Genehmigung der Polizeiobrigkeit“ jedoch nicht mehr vor.1754 III. Bindung an Grundbesitz und Wohnort Während unter der Ägide der älteren Verfassungen die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte neben der Staatsangehörigkeit den Bestand eines gewissen Grundvermögens voraussetzte,1755 knüpften die ab 1830 entstandenen Regelungen hieran nicht mehr an. In § 22 der Verfassungsurkunde von Kurhessen vom 5. Januar 1831 heißt es etwa: „Ein jeder Staats-Angehöriger ist der Regel nach auch Staatsbürger, somit zu öffentlichen Aemtern und zur Theilnahme an der Volksvertretung befähigt, vorbehaltlich derjenigen Eigenschaften, welche diese Verfassung oder andere Gesetze in Bezug auf die Ausübung einzelner staatsbürgerlichen Rechte erfordern.“ Während der begriffliche Inhalt der Staatsbürgerschaft in den Territorien schwankte, bestand jedenfalls im Hinblick auf die Notwendigkeit klarer Regeln zur Klassifizierung der personalen Zugehörigkeit des Einzelnen zum Staat Einigkeit. Diese Rechtsentwicklung erhielt neuen Schub durch die radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen infolge der wirtschaftlichen Entwicklung. Das mit der Einwanderung der Landbevölkerung in die großen Städte verbundene Phänomen zunehmender Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten, einhergehend mit dem Aufkommen der „sozialen Frage“, konnte politisch nicht länger ignoriert werden. Zum anderen aber folgte die Rechtsentwicklung im Staatsangehörigkeitsrecht auch und vor allem den im Lichte der französischen Revolution und in den Verfassungen ab 1830 bereits in Ansätzen erkennbaren freiheitlichen Impulsen innerhalb der Einzelstaaten.1756 Namentlich die Staatsangehörigkeit bezieht sich auf den Staat als politische Einheit und übergeht gezielt ständische und regionale Binnengliederungen. Sie ist – anders als das Indigenat – inhaltlich abstrakt und differenziert begrifflich nicht nach politischen Berechtigungen oder sozialen Klassen.1757 In 1754

Vgl. insoweit zu „Alt-Preußen“ Lichter / Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 519. Vgl. etwa Titel IV § 3 lit. b) Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern v. 26.5.1818: Hiernach wird zur Ausübung staatsbürgerlicher Rechte neben dem Indigenat gefordert: „Ansässigkeit […] durch den Besitz besteuerter Gründe, Renten oder Rechte […], oder Ausübung besteuerter Gewerbe […]“ dazu auch Rezeption von VGH Kassel, NJW 1998, S. 472 f.; in diesem Sinne auch §§ 1 ff. des bayerische Gesetz über die Ansässigmachung und Verehelichung v. 11.9.1825, näher Ziekow, Freizügigkeit, S. 158 f.; Gemeindliches Bürgerrecht als Voraussetzung der Aufnahme als „Staatsbürger“ in Württemberg, § 19 Verfassungsurkunde v. 25.9.1819; für Preußen: Edikt „Wegen der Auswanderung preußischer Unterthanen und ihrer Naturalisation in fremden Staaten“ v. 2.7.1812, PreußGS 1812, S. 114 ff. 1756 Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (7): Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts sei „logische Folge der politischen Emanzipation“; zurückhaltender Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 174: Es seien „innen- und außenpolitische Motive, staats- und völkerrechtliche Anlässe aus der konkreten Verfassungssituation heraus“ gewesen, die „zur Festlegung der Staatsangehörigkeit führen“. 1757 Vgl. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 123. 1755

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dem „der Staat“ den Einzelnen bereits kraft seiner Person und aufgrund rationaler Merkmale als zu den Seinen zugehörig begreift, beginnt – in Preußen früher als in den süddeutschen Territorien – schließlich auch die schrittweise Abkehr von den alten Anschauungen patrimonialvertraglicher Vorstellungen, insbesondere von der in den süddeutschen Staaten geltenden zensitären Gesellschaftsordnung. Die Klassifizierung von Angehörigkeitsrechten als Erwerbs- und Verlusttatbestände besonderer Rechtsstellungen, wie Heimatrecht, Wohnrecht, Indigenat, Meisterrecht etc., in den süddeutschen Konstitutionen,1758 deren Rechtsgrundlagen und Rechtsverständnis noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach das diffuse Zugehörigkeitsrecht der Territorien prägten, hörte in Preußen mit dem Erlass des preußischen Untertanengesetzes im Jahr 1842 endgültig auf. Die preußische Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des preußischen Untertanengesetzes knüpfte im Hinblick auf seine Erwerbstatbestände in keiner Art und Weise mehr an das Eigentum von Grund und Boden an, sondern erkannte den Einzelnen bereits als solchen als Statusglied des Staates im Staat und gründete die diesbezügliche Zuordnung nunmehr1759 auf eine egalitär-generalisierende Maxime. Damit wurde schließlich auch die verfassungsrechtliche Verbindung von staatsbürgerlichen Rechten und Staatsangehörigkeit durch Abstammung und Naturalisation staatsrechtlich verallgemeinert.1760 Mit dem preußischen (Staats-)Angehörigkeitsrecht und dem liberal ausgestalteten preußischen Gewerberecht beschritt Preußen bereits früh jene Rechtsentwicklung, die später auch den gesamtdeutschen Raum prägen sollte. Es geht um die Entfaltung staatsbürgerlicher Rechte durch die schrittweise Ablösung vom vormaligen Verständnis ihrer akzessorischen Abhängigkeit von qualifizierenden Attributen, wie etwa Grundbesitzbesitz, Vermögensoder Bildungszensus. Denn erst so konnte die wirkliche Integration der bis dahin zerstückelten Landesteile bewirkt und ein Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Bewohner als Nation gestiftet werden. Dies bildete auch die Grundlage solider Staatsfinanzen, was zunächst das erste Ziel der preußischen Freiheit gewesen war. Demgegenüber war die vormals überragende Rolle des Grundbesitzes im Schwinden begriffen.

D. Zwischenergebnis Der Überblick zeigt gerade für die süddeutschen Territorien, dass deren konstitutionelles Wahlrecht bis zum Ausbruch der bürgerlichen Revolution tatbestandlich mit weiteren Rechten verflochten war, die Grund und Boden vielfach zu ihrer eigentlichen Bedingung hatten. Dazu gehörte etwa der Bürgerstatus bzw. das Bürgerrecht in einer bestimmten Heimatgemeinde sowie die lokal bedingte Ansässigkeit; beides Grundvoraussetzung für das Innehaben und die Ausübung 1758

Vgl. Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 167. Begriffliche Differenzierung bei Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 165 mit Fn. 3. 1760 Vgl. Quaritsch, DÖV 1983, S. 1 (6). 1759

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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gemeindepolitischer als auch wirtschaftlicher Rechte. An den Bestand dieser Rechte knüpften die Verfassungen bzw. die Wahlgesetze zahlreicher Territorien schließlich auch das Wahlrecht zur Zweiten Kammer an.1761 Der darüber hinaus in den meisten konstitutionellen Wahlvorschriften tatbestandlich oft geforderte Steuerzensus und Grundbesitz setzte bereits regelmäßig das Innehaben der vorgenannten staatsbürgerlichen Rechte voraus und erscheinen insoweit als zusätzliche Verschärfung der bestehenden aktiven und passiven Wahlbefähigungsvoraussetzungen. Insgesamt war der Bestand von Grundbesitz damit auch außerhalb des konstitutionellen Wahlrechts der maßgebliche Integrationsfaktor der bürgerlichen Gesellschaft im deutschen Konstitutionalismus. Wenngleich sich insbesondere die Bedeutung des örtlich radizierten Gemeindebürgerrechts infolge der auf den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1830er Jahre beruhenden Entwicklungen im Staatsangehörigkeitsrecht in den einzelnen Territorien verschiedentlich auf dem Rückzug befand, blieb die exponierte Bedeutung von Grundbesitz bei der Ausübung von staatsbürgerlichen Rechten, insbesondere bei der gesetzlichen Bestimmung der politisch mitwirkungsberechtigten Klassen im Wesentlichen bis zu den Revolutionsjahren 1848/1849 erhalten. Die engen materiellen Wahlrechts­ beschränkungen waren mithin auch Ausdruck einer strengen Abgrenzung bei der Anerkennung des Einzelnen als (mündiges) Rechtssubjekt, die entsprechend den zeitgenössischen Rechtsordnungen in den Einzelstaaten auch jenseits des Wahlrechts vorwiegend an besitzindividualistische Kriterien anknüpfte. 5. Kapitel

Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung und das Wahlgesetz um 1848/1849 Das mit der verfassungsrechtlichen Festschreibung des ständischen Dualismus auf halbem Wege stecken gebliebene konstitutionelle Repräsentativsystem vieler Einzelstaaten ignorierte die in der breiten Bevölkerung zunehmend populären Forderungen u. a. nach der Anerkennung von allgemeinen Menschen- und Grundrechten sowie einer Veränderung des Verfassungssystems, einschließlich mehr politischer Mitbestimmung1762 und nationaler Einheit1763. Der Endpunkt der inner 1761 Zum gemeindebürgerschaftlichen Status als Voraussetzungen der Wahlberechtigung vgl. oben Zweiter Teil 2. Kapitel C. 1762 Vgl. insbesondere die Forderungen in Art. 2, 5, 10, 12 und 13 des Offenburger Programms der Südwestdeutschen Demokraten v. 12.9.1847, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 71 (Nr. 68), S. 323 f. 1763 Neben Art. 6 des Offenburger Programms (ebd.) auch im Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen v. 10.10.1847 verankert, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 72 (Nr. 69). Die Freiheitsforderungen nahmen in dem Protokoll von Heppenheim hingegen nicht den gleichen Raum ein, wie in dem Offenburger Programm, dazu auch Frotscher, Verfassungsgeschichte, § 10 Rn. 306.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

halb der deutschen Territorien geführten gesellschaftlichen Auseinandersetzung verdichtete sich in den revolutionären Umbruchbewegungen der Jahre 1848/49.1764 Von einer schweren Wirtschaftskrise flankiert, vermochten es die zahlreichen Repressionsmaßnahmen des zunehmend ermatteten Deutschen Bundes nicht, die auf demokratische Erneuerung und nationale Einheit dringende politisch-bürgerliche Opposition wirksam im Zaum zu halten. Getragen auch von den revolutionären Umbrüchen der französischen Februarrevolution des Jahres 18481765 bildete der Kampf um die Gleichheit des Wahlrechts auch im deutschen Raum den Kulminationspunkt in den Kämpfen um das demokratisch-repräsentative System.1766 Die tiefgreifende Kontroverse um das „richtige“ Wahlrecht zeichnete sich bereits anlässlich der Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung ab (A.), wurde darüber hinaus aber auch in den intensiven Ausschuss- und Plenarberatungen in der Paulskirche selbst deutlich (B. und C.). Anfangs vermochten zwar nur die Wenigsten dieser Bewegung, Sinn und Zweck eines allgemeinen Wahlrechts hinreichend zu reflektieren.1767 Dennoch: Die revolutionären Entwicklungen erfassten schließlich das Beschlussverhalten auch der konstituierenden Nationalversammlung in Bezug auf das Wahlrecht.

A. Das Bundeswahlgesetz für die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung Am 5. März 1848 trat in Heidelberg die sog. Heidelberger Versammlung bestehend aus 51 Oppositionspolitikern aus den deutschen Ländern zusammen. Sie sollte die Wahl eines (gesamt-)deutschen Nationalparlamentes vorbereiten.1768 So berief der aus dieser Versammlung hervorgegangene Ausschuss (sog. Siebener Ausschuss) zum 30. März 1848 das sog. Vorparlament ein. Die 574 Vorparlamentsmitglieder setzten sich aus den vom Siebener Ausschuss berufenen Repräsentanten der Stände aus den deutschen Einzelstaaten und „Männern des Vertrauens“ zusammen.1769 Das Vorparlament war somit ein Honoratiorenparlament ohne demokratische Legitimation. Gleichwohl wurde es als Versammlung von einigem öffentlichen Gewicht anerkannt.1770 Neben dem Vorparlament bestand nach wie vor der Bundestag des Deutschen Bundes wie auch der von den Regierungen der Ein 1764 Zur vielschichtigen Vorgeschichte vgl. insbesondere die umfassende Darstellung bei ­ uber, Verfassungsgeschichte II, S. 503 ff.; zusammengefasst auch bei Kotulla, VerfassungsH recht I, S. 151 ff. 1765 Zum Einfluss der französischen Februarrevolution auf das Wahlrecht vgl. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 19 ff. 1766 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 787. 1767 Vgl. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 8 und 33 f. 1768 Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 10 Rn. 309. 1769 Hierzu Stern, Staatsrecht V, § 126 V 2 (S. 242); Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 35 f. 1770 „Erstes vorkonstitutionelles, doch konstituierendes Organ des werdenden deutschen Gesamtstaates“, vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 594.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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zelstaaten seit Ende März 1848 berufene Siebzehner-Ausschuss zur Verfassungsrevision. Bundestag und Siebzehner-Ausschuss leiteten ihre Legitimität aus dem bisher geltenden föderativen Bundesrecht ab.1771 Die Vorstöße der außerstaatlichen Verfassungsbewegung veranlassten den Bundestag zum Handeln. Denn es war absehbar, dass sich der nationale Einheitsgedanke auf Dauer nicht erfolgreich würde unterdrücken lassen.1772 Unter dem Eindruck der revolutionären Kräfte versuchte der Bundestag daher gleichsam eine Brücke zwischen Revolution und Legitimität zu schlagen und fasste unter dem Druck dieser Bewegung eine Reihe wichtiger Beschlüsse.1773 Nur so wurde ein offener Konflikt zwischen den ungleichen Gremien vermieden. Gegen den Willen der radikalen Linken unter Führung von Friedrich Hecker und Gustav von Struve wurde die Zusammenarbeit der Gremien und die Durchführung einer Volkswahl zur Nationalversammlung durch den Bundestag auf den Weg gebracht.1774 Es entstand der sog. Fünfzigerausschuss, der paritätisch mit Abgeordneten der bürgerlichen Mitte und Liberalen einerseits und der gemäßigten Linken andererseits besetzt wurde. Dieser entwickelte die Grundsätze zur Wahl der Nationalversammlung,1775 welche in der Fassung des 2. Bundesbeschlusses über die Wahl der deutschen Nationalversammlung vom 7. April 18481776 als Bundeswahlgesetz1777 übernommen wurde. Im Hinblick auf die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit zur konstituierenden Nationalversammlung enthielt Ziffer 3) folgende Anordnung: „[A]ls wahlberechtigt und als wählbar [sey] jeder volljährige, selbständige Staatsangehörige zu betrachten […].“

Diese auf den ersten Blick schlichte Formulierung enthält auf den Punkt gebracht die gesamte Fülle der bis zum Jahr 1848 entwickelten Rechtsanschauung im Hinblick auf die Prävalenz der großbürgerlichen Schichten bei der Mitbestimmung im monarchisch konstituierten Verfassungsstaat. Die Kriterien der an den Grundbesitz gekoppelten Selbstständigkeit und der Staatsangehörigkeit entschieden maßgeblich über die Zusammensetzung der konstituierenden Nationalversammlung. Die Kräfte, die die Deutungshoheit über diese Begriffe innehatten, konnten damit zumindest indirekt auch auf die Gestaltung der von der konstituierenden Nationalversammlung gefassten Beschlüsse maßgeblich Einfluss nehmen. 1771

Näher Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 598. Vgl. Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 152. 1773 Insbesondere seien genannt: Beschl. v. 3.3.1848: Recht der Einzelstaaten zur Einführung der Pressefreiheit (Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 75), Beschl. v. 9.3.1848: Schwarz-Rot-Gold als Bundesfarben anerkannt (Huber, ebd., Nr. 76), und Beschl. v. 2.4.1848: Aufhebung aller seit 1819 erlassenen Bundes-Ausnahmegesetze (Huber, ebd., Nr. 78). 1774 Zum Konflikt der Gremien im Übrigen vgl. ausführlich Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 598 ff. insbesondere S. 602, 604. 1775 Erster Bundesbeschluß über die Wahl der deutschen Nationalversammlung v. 30.3.1848, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 82 (Nr. 79), S. 337. 1776 Abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 83 (Nr. 80), S. 338, zur Vorgeschichte vgl. ders., Verfassungsgeschichte II, S. 606 f. 1777 Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 606. 1772

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

I. Zur Selbstständigkeit als Kriterium des Wahlrechts und der Wählbarkeit zur Frankfurter Nationalversammlung Das Postulat der Selbstständigkeit garantierte nach der damaligen Anschauung die politische Mündigkeit des Einzelnen. Im Ergebnis ist damit ein beschränktes und kein allgemeines Wahlrecht propagiert.1778 Nach konservativer und selbst nach liberaler Auffassung waren auch noch im Jahr 1848 allein Besitz und Bildung Indiz für höhere politische Reife, Urteilskraft und erfolgversprechende Übernahme von Gesamtverantwortung.1779 Dies entsprach den herrschenden Anschauungen zur Legitimität politischer Betätigung des Einzelnen überhaupt1780 sowie der im 4. Kapitel aufgezeigten Rechtslage außerhalb des Wahlrechts.1781 Im Gegensatz zu den Radikaldemokraten1782 galt den Liberalen die individuelle Freiheit und die politische Gleichheit nicht als identisch oder unmittelbar aufeinander bezogen, sondern als spannungsreicher Gegensatz.1783 Der Vorrang der bürgerlichen Bildung und des bürgerlichen Besitzes hatte sich im individuellen Leistungs- und Wettbewerbsprinzip niedergeschlagen. Ein allgemeines, gleiches, geheimes und unmittelbares Wahlrecht, so wie die Demokraten es forderten, setzte demgegenüber die schematische Egalität einer ungegliederten Gesellschaft voraus. Zwar gab es bereits zu diesem Zeitpunkt diesbezügliche Tendenzen, insbesondere im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts einiger Territorien wie auch insbesondere im preußischen Gewerberecht. Jedoch blieb das hergebrachte streng zensistäre System politischer Mitwirkungsrechte auf Staatsebene davon noch unberührt. Noch war also das Selbstbewusstsein der besitzenden Klassen nicht erschüttert. Es bleibt kein Zweifel, dass der Begriff der Selbstständigkeit auch im Bundeswahlgesetz zur Nationalversammlung im Kant’schen Sinne verwendet wurde und damit an das ursprüngliche Verständnis von Freiheit durch wirtschaftliche und personale Unabhängigkeit anknüpfte. Dies bestätigt insbesondere ein Wortbeitrag des fraktions-

1778 Insofern unrichtig Gagel, der behauptet, das Vorparlament habe das allgemeine Wahlrecht für die Wahlen in den einzelnen Staaten verbindlich gemacht, vgl. ders., Wahlrechtsfrage, S. 8. Wenngleich einzuräumen ist, dass das vergleichsweise hohe Mindestalter und der kategorische Ausschluss von Frauen nach damaliger Anschauung mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl vereinbar gewesen war, deutet das Kriterium der „Selbständigkeit“ doch ganz deutlich auf eine bewusste und gewollte Beschränkung des Wahlrechts auf die durch Besitz und Bildung indizierte Gruppe der Begabten, Tüchtigen und Einsichtigen hin. 1779 Insbesondere das Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen v. 10.10.1847 (Fn. 1764) legt diesen Befund nahe. 1780 Vgl. etwa Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 43, bes. § 46; dazu W. Conze, in: Hofmann (Hrsg.), Entstehung, S. 297 (299); Kant, Gemeinspruch, S. 26; ebenso v. Rotteck, Landstände, S. 53, dazu G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S. 414; auch Bluntschli, Staatslehre I, S. 246, 248; ebenso v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335. 1781 Vgl. Feststellungen im Zwischenergebnis oben Zweiter Teil 4. Kapitel D. 1782 Vgl. zur Position der südwestdeutschen Demokraten zum Zusammenhang von Freiheitsrechten und staatsbürgerlicher Gleichheit vgl. Art. 8, 9, 10 und 13 des Offenburger Programms v. 12.9.1847 (Fn. 1763), dazu auch Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 10 Rn. 303. 1783 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 788.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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losen Abgeordneten Edlauer aus Graz, der ganz im Sinne des Philosophen zum Ausdruck brachte, dass die „Unselbstständigen“ vom Wahlrecht ausgeschlossen werden müssten. Denn diese handelten nicht nach eigener Überzeugung, sondern nach dem Willen jener, von denen sie abhängig wären.1784 Insofern hat das Kriterium der Selbstständigkeit im Bundeswahlgesetz der mehrheitlichen Befürchtung eines Despotismus der Massen durchaus Rechnung getragen. Der juristische Charakter des Merkmals „Selbstständigkeit“ im Bundeswahlgesetz ist unverkennbar. Es ist materiell-rechtlicher Natur, hat also für die Wahlrechtsfähigkeit bzw. die Wahlberechtigung begründenden Charakter. Das Merkmal der Selbstständigkeit steht in seiner normativen Funktion und dogmatischen Stellung auf einer Stufe mit der Volljährigkeit und der Staatsangehörigkeit. Die mit der Selbstständigkeit automatisch verknüpfte Verbindung zu Besitz, insbesondere zu Grundbesitz, war damit der inhärente Bestandteil des materiellen Wahlrechts. Dem Bildungsgrad kam demgegenüber kaum eigenständiger Charakter zu.1785 Denn zum einen war höhere Bildung ein teures Gut, das als Privileg in erster Linie den vermögenden Klassen und Eliten vorbehalten gewesen war1786 und damit regelmäßig familiären Grundbesitz bereits voraussetzte. Zum anderen erlosch das Wahlrecht nicht nur in den Einzelstaaten bei Vermögensverlust. Stadt- und Ortsbürgerrechte sowie die Mitgliedschaft in zünftigen Korporationen standen wie gesehen ebenfalls in engem Zusammenhang zur personalen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Einzelnen. II. Zur Staatsangehörigkeit als Kriterium des Wahlrechts und der Wählbarkeit zur Frankfurter Nationalversammlung Auch die im Bundeswahlgesetz als Wahlrechtstatbestand formulierte Staatsangehörigkeit entsprach der Zeit. Entsprechend den Forderungen nach einem einheitlichen deutschen Reich1787 sollte der Begriff jedenfalls der äußeren Form nach im Recht der Einzelstaaten einheitliche Bedeutung gewinnen.1788 Eine genaue inhaltliche Begriffsbestimmung erwies sich jedoch als schwierig. Der aus verwaltungsrechtlichen Gründen in den Heimatverträgen entwickelte zwischenstaat 1784 Vgl. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 210; ebenso auf Kant bezogen Abg. Pfeiffer, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5248: „Selbständigkeit der Gesinnung“. 1785 Zur Notwendigkeit von staatsbürgerlicher Bildung als Bedingung für das Wahlrecht vgl. Pfizer, in: v. Rotteck / Welcker (Hrsg.), Encyklopädie VIII, S. 523 (527 f.). 1786 Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 173 „Bildungsprivileg der herrschenden Klasse“. 1787 Vgl. etwa Art. 6 S. 2 des Offenburger Programms der südwestdeutschen Demokraten v. 12.9.1847 (Fn. 1763): „Dem Deutschen werde ein Vaterland und eine Stimme in dessen Angelegenheiten“; ebenso das Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen v. 10.10.1847 (Fn. 1764) „Förderung der Nationalanliegen“; zu den Einheitsbestrebungen vgl. auch zusammenfassend Kotulla, Verfassungsrecht I, S. 151 f. 1788 Hierzu und im Folgenden Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 181.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

liche Staatsangehörigkeitsbegriff 1789 wurde in den die konstituierende Nationalversammlung vorbereitenden Gremien bewusst nicht angewandt.1790 Doch haben weder Vorparlament noch der Siebzehner-Ausschuss einen eigenen Staatsangehörigkeitsbegriff für die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung gebildet. Andernfalls hätte man den in diesem Punkt sensiblen Beratungen vorgegriffen. Den divergierenden Einzelstaatsrechten vorgeordnet stand allenfalls außer Zweifel, dass der „Staatsangehörige“ der dem Staat schlechthin und auf Dauer Angehörige sei.1791 Die im ersten Bundesbeschluss vom 30. März 1848 angeordnete Aufforderung an die „Bundesregierungen […], in ihren sämtlichen, dem deutschen Staatensystem angehörenden Provinzen auf verfassungsmäßig bestehendem oder sofort einzuführendem Wege Wahlen zur Nationalvertretung anzuordnen“, konnte also in Bezug auf das Staatsangehörigkeitskriterium als Voraussetzung für das Wahlrecht nicht mehr als einen (dynamischen) Verweis auf das Staatsangehörigkeitsrecht in den jeweiligen Einzelstaaten enthalten.1792 Dort wurde der Bundesbeschluss im Hinblick auf die Definition der Wahlberechtigten unterschiedlich und zuweilen eigenwillig umgesetzt. In Hannover etwa waren nur die „Landeseinwohner“1793 in ihrem Wohnsitzbezirk zur Wahl zugelassen. In Mecklenburg1794 waren ausschließlich die im Land Niederlassungsberechtigten stimmfähig. In Baden musste man mangels näherer Definition nach „Staatsbürger“ und „Untertan“ selektieren.1795 Sachsen hat den Begriff des Staatsangehörigen im Bundesbeschluss zwar übernommen,1796 im eigenen Landesrecht jedoch einen solchen nie definiert.1797 Die unterschiedliche Umsetzung bezeugt also zusätzlich, dass dem in den Landes­ gesetzen oft gebrauchten Wort „Staatsangehörigkeit“ die Bedeutung eines alle Angehörigkeitsbeziehungen zusammenfassenden bzw. übergeordneten Abstraktionsbegriffs noch nicht beigemessen wurde.

B. Zur Allgemeinheit des Wahlrechts in der Reichsverfassung vom 28. März 1849 In der nach den Regeln des Bundeswahlgesetzes gewählten Nationalversammlung selbst bildete das allgemeine Wahlrecht einen der Hauptstreitpunkte. Das kam in erster Linie bei den Beratungen über das Reichswahlgesetz zum Tragen (vgl. sogleich unter C.). Zuvor aber gab es immerhin den Versuch, die maßgeb­ 1789

Dazu vgl. oben Zweiter Teil 4. Kapitel C. I. 1. Vgl. insoweit Nachweise bei Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 181 f. mit Fn. 34 und 35. 1791 So Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 182. 1792 Dazu vgl. oben Zweiter Teil 4. Kapitel C. 1793 VO v. 14.4.1848 (GS I S. 101). 1794 VO v. 10.4.1848 (Officielles Wochenblatt Nr. 16). 1795 VO v. 10.4.1848 (StRegBl. S. 107); ähnlich schon §§ 43, 65 der badischen Wahlordnung v. 23.12.1818 (StRegBl S. 172). 1796 Sächs.VO v. 10.4.1848 (GVBl. S. 25). 1797 Vgl. zur Problematik mit weiteren Nachweisen Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 182 f. 1790

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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lichen Grundlagen des Wahlrechts bereits in die Verfassung aufzunehmen. Schon der am 3. Juli 1848 beratene Erste Verfassungsentwurf 1798 sah die Anbindung des aktiven Wahlrechts an den Grundbesitz nicht mehr vor, sondern etablierte in § 1 Satz 3 eine wahlrechtliche Wohnsitzklausel, wonach jeder Deutsche das Recht zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, dort (aus-)übt (!), „wo er zur Zeit [Anm.: der Wahl] seinen Wohnsitz hat“1799. Die Stellung der Norm am Beginn des Verfassungsentwurfs unterstreicht die Bedeutung, die dem allgemeinen Wahlrecht in den Beratungen beigemessen wurde. Demgegenüber ist es nicht gelungen, die Grundzüge der Erwerbs- und Verlusttatbestände des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts bereits hier zu formulieren. Dies lag nicht unerheblich an dem noch ungeklärten Verhältnis der Gesamtverfassung zu den Einzelstaaten einerseits sowie an der mangelnden Möglichkeit andererseits, diesen vielfach noch mit dem bürgerlichen Recht verknüpften Gegenstand ohne eine umfassende Gesetzgebung genügend zu behandeln.1800 Im Zusammenhang mit § 1 Satz 3 des Ersten Verfassungsentwurfs wurde unterdessen erstmals auch die Möglichkeit eines Auslandsdeutschenwahlrechts ernsthaft diskutiert. Denn dass der „Wohnsitz“, von dem in § 1 Satz  3 die Rede ist, innerhalb der Reichsgrenzen liegen müsse, war nicht ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Wahlrecht angeordnet. Während einige in der Entwurfsfassung die grundsätzliche Zulassung von Auslandsdeutschen zur Wahl erblickten,1801 sprachen sich andere Stimmen für das Gegenteil aus und verlangten eine Präzisierung auf Inlandsbürger.1802 Die Frage wurde in der frühen Verfassungsdebatte aber nicht mehr abschließend beraten. Das lag maßgeblich daran, dass es nach wie vor keine länderübergreifende Definition des allgemeinen Wohnsitzes gegeben hatte1803 und damit auch die Frage nach der Staatsangehörigkeit noch offen geblieben war. Die vorschnelle Festlegung bei der Beantwortung dieser Frage hätte eine Vorentscheidung in Inhalt und Ausgestaltung des Wahlrechts bedeutet, was aus mehrheitlicher Sicht der Nationalversammlung verhindert werden musste.1804 So vermochte sich die Entwurfsregelung zum allgemeinen Wahlrecht im Rahmen der Verfassungsdebatte nicht durchzusetzen. Die ursprüngliche Wohnsitzklausel des § 1 Satz 3 des

1798

Abgedruckt bei Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 682 ff. „Jeder Deutsche hat das allgemeine deutsche Staats-Bürgerrecht. Die ihm kraft dessen zustehenden Rechte kann er in jedem deutschen Land ausüben. – Das Recht, zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, übt er da, wo er zur Zeit seinen Wohnsitz hat“. 1800 Vgl. Motive des Verfassungsausschusses, bei Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 684; insbesondere Wortbeiträge der Abg. Wernher und Zachariä v. 4.7.1848, in: Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 748 f. 1801 In diesem Sinne Abg. v. Zenetti, in: Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 745: „Gesandte, welche in London, Petersburg oder anderwärts sein mögen.“ 1802 In diese Richtung Abg. Osterrath, in: Wigard (Hrsg.), Bericht I, S. 747. 1803 Diese Problematik kam besonders bei der Abfassung des Bundeswahlgesetzes für die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung (vgl. in diesem Teil 5. Kapitel A.) auf. 1804 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 31 f. 1799

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Verfassungsentwurfs wurde daher ersetzt durch den Verweis: „Ueber das Recht, zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, verfügt das Reichs-Wahlgesetz.“1805

C. Zur Allgemeinheit des Wahlrechts im Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 I. Aktives Wahlrecht 1. Ergebnisse der Beratungen im Verfassungsausschuss Anders als bei den Debatten um das Verfassungsdokument waren die Beratungen zum Entwurf eines Wahlgesetzes im Verfassungsausschuss anfänglich stärker von den liberalen Grundüberzeugungen geprägt gewesen, wonach allein Einsicht, Unabhängigkeit sowie geistige und sittliche Reife zur politischen Teilhabe befähigen würden. Dennoch offenbarte der Streit um das allgemeine Wahlrecht tiefe Gräben zwischen den Gremienmitgliedern und einer Vielzahl unterschiedlicher Anschauungen über Wert und Zusammensetzung der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur.1806 So wurde in den Ausschussberatungen u. a. heftig um die Frage gerungen, ob den Unselbstständigen die Fähigkeit zur politischen Einsicht aufgrund ihrer Unselbstständigkeit per se abgesprochen werden sollte.1807 Im Ergebnis erreichte das rechte Zentrum im Einklang mit den Konservativen die Beibehaltung des beschränkten Wahlrechts in § 1 des Ausschussentwurfs zum Reichswahlgesetz.1808 Wirtschaftlich unselbstständige, wie Handwerker, Fabrikarbeiter, Tagelöhner sowie das Hof- und Hausgesinde, sollten gemäß § 2, der die Selbstständigkeit näher definierte, vom Wahlrecht ausgeschlossen werden.1809 Insbesondere die Liberalen vertraten mit ihren Wortführern Georg Beseler, Friedrich Dahlmann, Georg Waitz und Carl Theodor Welcker die Wahlrechtsbeschränkung auf Selbstständige und verteidigten diese gegenüber den Befürwortern eines „demokratischen“ Wahlrechts im Verfassungsausschuss.1810 1805

In der Schlussfassung der Paulskirchenverfassung geregelt unter § 132 S. 3, RGBl. S. 101, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 108 (Nr. 102). 1806 Zu den jeweiligen Positionen vgl. ausführlich und m. w. N. Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 169–186. 1807 Das kommt auch im Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause zum Ausdruck, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5222); zur Diskussion auch Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 179. 1808 Abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5218 ff., § 1 lautet: „Wähler ist jeder selbstän­ dige, unbescholtene Deutsche, welcher daß fünf und zwanzigste Lebensjahr zurück gelegt hat.“ 1809 Des Weiteren waren nach § 2 „nicht selbständig“ Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel standen bzw. über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde sowie jene, die Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen haben, vgl. dazu und im Folgenden Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 788 sowie Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 169 ff. 1810 Vgl. Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5221 f.); Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 788.

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Damit offenbarte die Diskussion um das allgemeine Wahlrecht die noch tief in der gesellschaftlichen Anschauung verwurzelte kategorische Ungleichheit der Menschen, wonach insbesondere „das politische Recht […] mitnichten als ein solches zu betrachten [ist], welches der Person unmittelbar und eigentümlich anhaftet“1811. Indessen fand das zuvor noch als unverbrüchlich geltende Postulat der Differenzierung nach Stand und Besitz in der abhängigen Bevölkerung zunehmend kein Verständnis mehr. So war die Sorge des besitzenden Bürgertums nicht gänzlich unbegründet, nach der es der allmählich politisierten Arbeiter- und Kleinbürgerschicht gelingen könnte, den Blickwinkel des Staatswohls und Staatszwecks auf sich auszuweiten, um so als echte eigenständige „Klasse“ gegenüber dem Besitz- und Bildungsbürgertum politisch auftreten zu können.1812 Angesichts dessen wurde also das Kriterium der Selbstständigkeit erneut in den Gesetzentwurf des Verfassungsausschusses aufgenommen und in den späteren Beratungen im Plenum der Nationalversammlung mit Nachdruck verteidigt. Mit allerlei, aus heutiger Sicht freilich teilweise haltlosen Hilfsargumenten1813 versuchte das bürgerliche Lager die Unmündigkeit der Nichtselbstständigen nachzuweisen, um so das Bürgertum vor wachsender Einflussnahme der unteren Klassen zu schützen und von den Folgen eines drohenden politischen Aufstieges der unteren Schichten abzuschirmen.1814 Im Ergebnis der Ausschussberatungen gelang es den konservativ-liberalen Kräften, in Art. 1 § 1 des vom Verfassungsausschuss beschlossenen Entwurfs eines Reichsgesetzes über Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause das beschränkte gegen das allgemeine Wahlrecht durchzusetzen.1815

1811 Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5222). 1812 So auch Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 182 f. 1813 Ein sehr düsteres Bild etwa zeichnete Abg. Reichensperger unter Verweis auf den Bourgeois-Republikaner Tocqueville, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5260: „‚Tyrannei‘ der Zahlenmajoritäten“. Auch Abg. Bassermann tat sich als Verfechter bürgerlicher Herrschaft hervor und behauptete u. a., dass das allgemeine Wahlrecht den Unmündigen sogar schaden könne, vgl. ders. ebd., S. 5251: Mitbestimmung der Unterklassen könne nach Befriedigung „aller ihrer Gelüste“ zum „Ruin ganzer Staaten“ führen, deswegen müsse nicht „die Arbeit schlechthin, sondern die selbständige Arbeit in den Parlamenten vertreten sein“. Andere sahen im allgemeinen Stimmrecht den Steigbügel zur Einführung des Sozialismus oder gar des Kommunismus, vgl. etwa Abg. Plathner, ebd., S. 5311. 1814 Dazu ausführlich Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 181 ff. Deutlich wird dies insbesondere an der Diskussion um die direkte oder die indirekte Wahl. 1815 Der Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause ist abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5218; das Minoritäts-Gutachten lautete: „Wähler ist jeder Deutsche, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat“, vgl. ebd.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

2. Ergebnisse der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung a) Materielle Wahlberechtigung Die Mehrheit im Plenum teilte die Auffassung des Verfassungsausschusses bei Antragsbefassung aber nicht mehr. Im Zuge der revolutionären Ereignisse war das Vertrauen in die bisherigen Träger der alten Staatsordnung auch bei großen Teilen der Mitglieder der Deutschen Nationalversammlung erschüttert worden. Hier waren es zumal die gemäßigte wie die extreme Linke um die Abgeordneten Wilhelm Löwe (Calbe), Carl Vogt, Jakob Venedey und Ludwig Simon, die für das allgemeine und gleiche Wahlrecht stritten.1816 Mit Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse, das Freiheitsstreben „des Volkes“ und den allgemeinen Bewusstseinswandel zur unterschiedslosen politischen Beteiligung der Klassen in Europa war es nach Auffassung dieser Redner ausgeschlossen, dass ein beschränktes Wahlrecht den gegebenen Verhältnissen entspräche und gewaltlos durchsetzbar sei.1817 An den inzwischen heftigen Protesten außerparlamentarischer Gruppen zeigte sich in der Tat, dass die Beschränkung des Wahlrechts nur auf die Selbstständigen und Vermögenden zum Zeitpunkt der Beratungen im Februar 1849 nicht mehr anging.1818 Die gleichwohl im Plenum vorgebrachte Argumentation des bürgerlichen Lagers,1819 wonach einzig die Bourgeoisie, namentlich „der Kaufmann, der Fabrik­ besitzer, die Professoren und die (höheren) Staatsbeamten“ die „wahren Repräsentanten des Volkes“ seien, fand in der Öffentlichkeit offensichtlich keine Stütze mehr.1820 Das vormalige Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Selbstständigen bzw. die Einsicht und Tugendhaftigkeit der Besitzenden von Stand war zunehmend erodiert. Der in diesem Zusammenhang des Öfteren hergestellte indirekte Bezug zum römischen Rechtsdenken dahingehend, dass den Besitzenden und Gebildeten eine höhere und reifere, namentlich sittliche und moralische Überlegenheit zukomme,1821 wurde angesichts des bereits erkennbar eigennützigen Handelns dieser Klassen schon damals, und zwar nicht nur vonseiten der Linken, in der Paulskirche und anderswo „als Hohn“ empfunden.1822 In den weiteren Debatten zeigte sich, dass 1816

Vgl. jeweils in Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5242, insbesondere 5245 f. (Löwe), S. 5254, insbesondere 5255 f. (Vogt), S. 5289 (Venedey), S. 5321 f. (L. Simon). 1817 So insbesondere Abg. Löwe, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5242. 1818 Das konnten mittlerweile selbst die „herrschenden Klassen“ nicht ignorieren, vgl. dazu m. w. N. aus der Presse Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 187 f. 1819 Vgl. bereits Nachweise bei Fn. 1814. 1820 So auch Abg. Bassermann, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5250. 1821 Abg. Bassermann, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5250; Abg. v. Nierstein, ebd., S. 5274; Abg. Beckrath, ebd., S. 5247: Wahlrechtsbeschränkungen verteidigen im „Namen der Bildung, der Gesittung und Humanität“; ebenso Abg. Haym: „auf dem allgemeinen Stimmrecht den Staat aufzubauen“ hieße, „die Gesittung gefährden“ zitiert nach Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 202 mit Fn. 3; mit Bezug auf Kant ebenso Pfeiffer, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5248. 1822 Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 202 mit Zitat.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

327

ein derart weitgehender Rückfall hinter die Errungenschaften der Märzrevolution im Plenum nicht mehrheitsfähig war.1823 So lehnte die Nationalversammlung den Formulierungsvorschlag des Verfassungsausschusses zur Einführung des beschränkten Wahlrechts am 20. Februar 1849 mit großer Mehrheit (422 gegen 21 Stimmen) ab.1824 Auch weitere abgeschwächte Formulierungsvorschläge zur aktiven Wahlberechtigung, die die Selbstständigkeit jeweils zur grundsätzlichen Voraussetzung statuierten, jedoch für bestimmte „vermögende“, das heißt insbesondere über Grundstück oder eigenes Haus verfügende, unselbstständige Klassen (insbesondere „Dienstboten, Handwerksgehilfen, Fabrikarbeiter, Tagelöhner“) Ausnahmen machten1825 oder die Beschränkungen alternativ formulierten,1826 scheiterten. Schlussendlich konnte sich der Versuch der Liberalen, das beschränkte Wahlrecht zumindest mittelbar über die Einführung eines bundesweiten Zensuswahlrechts zu retten,1827 ebenfalls nicht mehr durchsetzen. Die hier quasi aus der Versenkung wieder hervorgeholte und um die Berechtigung vermögender Bürger modifizierte historisch-traditionalistische Argumentation,1828 wonach der Grad der politischen Beteiligung am „(Steuer-)Opfer“ für das Gemeinwesen bemessen werden sollte,1829 ließ die Mehrheit der Nationalversammlung nicht mehr gelten. Keiner der in diese Richtung zielenden Anträge erhielt trotz mancher Zugeständnisse bei der Ausgestaltung des Zensus die Mehrheit.1830 Die Gründe für die kompromisslose Abkehr von den im Schwinden begriffenen großbürgerlichen Idealen könnten neben der Anerkennung revolutionärer Umbrüche auch in der Krise der parlamentarischen Konstellation selbst gelegen haben.1831 Hier mag auch die Frage ausschlaggebend gewesen sein, in welcher Ausdehnung ein „Deutsches Reich“ überhaupt bestehen solle. Es musste festgelegt werden, welche „deutschen“ Staaten das neue Reich bilden sollten und welche Auswirkungen die

1823

Hein, Revolution, S. 116. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 788; Abstimmungsergebnis abgedruckt bei Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5340, 5342. 1825 Änderungsanträge von Abg. Schuler v. 17.2.1849, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5276; ähnlich Abg. Linde v. 19.2.1849, ebd., S. 5296 (5318). 1826 Änderungsantrag Abg. Höfken v. 19.2.1849, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5301. 1827 Vgl. Änderungsanträge Abg. Beseler v. 17.2.1849, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5268, 5346; Antrag Abg. Biedermann v. 17.2.1849, ebd., S. 5283, 5348; Abg. Hofmann v. 20.2.1849, ebd., S. 5334, 5353. 1828 Vgl. oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. I. 1829 Insbesondere spürbar bei Abg. Beseler (Antragsbegründung), in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5268 f. Einige Abg. bezogen sich in ihren Ausführungen ausdrücklich auf die rationalistische Wahlrechtstheorie v.  Rottecks [dazu oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. II. 1.], vgl. insbesondere Abg. Mittermaier, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5324. 1830 Vgl. Abstimmungsergebnisse: Änderungsanträge Abg. Beseler (Fn. 1828), in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5348 (332 gegen 117 Stimmen); Abg. Biedermann (Fn. 1828), ebd., S. 5351 (248 gegen 204 Stimmen); Abg. Hofmann (Fn. 1828), ebd., S. 5353 (239 gegen 209 Stimmen). 1831 Dazu dezidiert Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 613 ff. und S. 789 f. 1824

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Zugehörigkeit zum Reich auf ihre staatliche Existenz und Gestalt haben sollten.1832 Insbesondere die Verfechter eines „großdeutschen Reichs“ unter Einschluss und Führung Österreichs vermochten wohl aus taktischen Gründen den Demokraten beim Wahlrecht Zugeständnisse zu machen, um den Einfluss jener, die für ein kleindeutsches erbkaiserliches Monarchentum unter Führung Preußens stritten, zu begrenzen.1833 Das teilweise undurchsichtige Stimmverhalten mag diese oft vertretene These stützen, und tatsächlich stimmte das großdeutsche Lager vielfach gegen Wahlrechtsbeschränkungen, um sich so – freilich vergeblich –1834 die Unterstützung der Demokraten und Linken für ihre Sache zu sichern.1835 Das von der Nationalversammlung schließlich am 27. März 1849 mit großer Mehrheit beschlossene RWahlG1836 sah in seinem § 1 eine Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf Selbstständige oder die Anknüpfung an einen Zensus nicht mehr vor. Wahlberechtigt war hiernach „jeder unbescholtene männliche Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat“. Mit dieser Entscheidung für das – nach damaligen Maßstäben – allgemeine Wahlrecht im RWahlG hatte die Nationalversammlung mithin den früheren Zusammenhang zwischen politischer Urteilsfähigkeit, Selbstständigkeit und Grundbesitz zur Begründung der materiellen Wahlberechtigung endgültig aufgegeben. b) Formelle Wahlausübung Eine demgegenüber eigenständige Wohnsitz- oder Aufenthaltsbindung wurde im Zuge der Beratungen zu den Bedingungen des materiellen Wahlrechts nicht diskutiert.1837 Sie kam aber bei der Diskussion um eine andere Regelung zum Vorschein, die im Entwurf des Verfassungsausschusses1838 unter Art. IV § 11 enthalten war. Die Regelung veranlasst zu der Frage, welche Zweckrichtung sie verfolgte. Hierüber 1832

Hein, Revolution, S. 111. In diese Richtung Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 789 f.; Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 241 ff., insbesondere S. 247 f.; ausführlich Hein, Revolution, S. 115 f. 1834 Im Ergebnis fand der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich in der Nationalversammlung keine Mehrheit, vgl. zu den Abstimmungsergebnissen im Einzelnen Wigard (Hrsg.), Bericht VIII, S. 6070; näher auch Hein, Revolution, S. 119. 1835 Näher Stern, Staatsrecht V, § 126 V 4 (S. 258 ff.); differenzierend Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 244. 1836 In: Wigard (Hrsg.), Bericht VIII, S. 6070. 1837 Soweit ersichtlich tauchte die „Ansässigkeit“ als Wahlberechtigungsvoraussetzung nur in einem Änderungsantrag des Abg. v. Wulffen v. 19.2.1849 auf, der zur Wahlberechtigung jeden „Selbständigen, auf eigenem Erbe, oder durch Grundbesitz, Gewerbe oder öffentliches Amt ansässigen, unbescholtenen Deutschen“ über 25 Jahre zulassen wollte, vgl. ders., in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5318. Zu diesem Zeitpunkt aber war das Erfordernis der Selbstständigkeit im Zusammenhang mit der Wahlberechtigung schon nicht mehr mehrheitsfähig, weswegen der Antrag schon mangels der erforderlichen Unterstützerzahl erst gar nicht zur Abstimmung kam, vgl. ebd. 1838 Abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5218 ff. 1833

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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gibt der stenographische Bericht über die Verhandlungen der konstituierenden Nationalversammlung recht deutlich Aufschluss. aa) Zweckrichtung: Verbot der Mehrfachstimmabgabe Die Vorschrift war schon im Verfassungsausschuss im Grundsatz unbestritten. In dessen Satz 1 war angeordnet, dass jeder, der „das Wahlrecht in einem Wahlbezirk ausüben will […] in demselben zur Zeit der Wahl seinen festen Wohnsitz haben [muss]“. Das Minoritäts-Gutachten des Ausschusses sah folgenden Regelungsentwurf vor: „Jeder wahlberechtigte Deutsche darf nur an einem Orte wählen, und zwar da, wo er zur Zeit der Wahl entweder seinen Wohnsitz hat, oder sich seit einem halben Jahr aufhält.“1839 In der Begründung führte der abschließende Ausschussbericht das Folgende aus: „Die allgemeinen Qualifikationen für dasselbe [Anm.: das Wahlrecht] sind oben festgestellt; aber nicht Jeder, der sie besitzt, kann beliebig an jedem Ort daß ihm Allgemein zustehende Recht zur Anwendung bringen. Es war hierfür vielmehr der feste Wohnsitz gefordert.“1840 Der Berichterstatter des Ausschusses, Georg Waitz, konstatiert dazu am 15. Februar 1849 im Plenum der Nationalversammlung: „Daß nicht der zufällige und vorübergehende Aufenthalt hier entscheiden könne, darin waren sich Alle einig.“1841 Aus dieser Begründung ergibt sich zunächst unzweideutig, dass der Zweck der Vorschrift in erster Linie dahin ging, mehrfache Stimmabgaben zu unterbinden. Das galt auch für jene, die an mehreren Orten feste Wohnsitze innehatten. So „verstand es sich von selbst“, dass „Jemand, der an mehreren Orten sein Domizil“ habe, nur „an einer Stelle wählen“ könne. Zwar wurde die wahlausübungsbeschränkende Wirkung der Wohnsitzbindung durchaus erkannt, jedoch gegenüber dem verfolgten Schutzzweck als bloß „äußere Verhinderung“, zu „deren Beseitigung das Gesetz keinen Anlaß“ sehe, im Hinblick auf die Wahlteilnahme gerechtfertigt.1842 So zeigt der Vorschriftenentwurf, dass bereits die Nationalversammlung durchaus zwischen materieller Inhaberschaft des aktiven Wahlrechts und seiner Ausübung streng unterschieden hatte.1843 Der mit dem § 11 verfolgte Zweck zur Unterbindung mehrfacher Stimmabgaben äußert sich auch in einem Änderungsantrag im Plenum. In der Befürchtung, dass „viele Wahlberechtigte wegen Abwesenheit von ihrem Wohnsitze […] von der Ausübung ihres Wahlrechts abgehalten würden […], aber

1839

Abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5219, Diskussion ab S. 5425 ff. Vgl. Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5227) mit Zitaten. 1841 Ebd., S. 5220 (5227). 1842 Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5227) mit Zitaten; ebenso Abg. Riesser, ebd., S. 5429. 1843 Verkannt bei Spies, Schranken, S. 55. 1840

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

der Zweck jener Bestimmung, soweit er die Verhinderung der Theilnahme eines Wahlberechtigten an mehreren Wahlen ist“, seine Berechtigung habe, beantragte der Abgeordnete Dietsch die Änderung der Vorschrift dahingehend, die Ausübung des Wahlrechts in dem Bezirk zuzulassen, „in welchem er sich [Anm.: der Wahlberechtigte] zur Zeit des Wahlgeschäfts aufhält“.1844 Abgesehen von dieser Streitfrage befassten sich die übrigen fünf Änderungsanträge mit dem hier nicht relevanten Umgang mit Soldaten in auswärtigen Stützpunkten.1845 Insgesamt ergibt sich so auch aus den Plenarberatungen der Nationalversammlung unzweideutig, dass die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe tragendes Element der Wohnsitzregelung gewesen ist. bb) Zweckrichtung: Sicherung der Vertrautheit durch Heimatbindung? Dieser Befund schließt aber die Annahme nicht aus, dass die Lokalbindung des Wahlrechts zumindest auch den Zweck gehabt haben könnte, zur Sicherung der politischen Urteilsfähigkeit der Wähler deren innere Verbundenheit und Vertrautheit mit den Verhältnissen im Wahlbezirk ihrer Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsgemeinde zu verlangen.1846 Die Frage ist für die vorliegende Untersuchung von durchaus maßgeblicher Bedeutung. Denn würde sich nach der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts gegen die Privilegierung der grundbesitzenden Klassen das Kriterium der politischen Mündigkeit für die Zuerkennung des Wahlrechts lediglich auf die Ebene des Wahlausübungsrechts verschoben haben und dort mit dem Erfordernis des Wohnsitzes bzw. längeren Aufenthaltes im Wahlbezirk fortwirken, dann ließe sich in der Tat eine ununterbrochene geistesgeschichtliche Verbindungslinie („seit jeher“) zur gegenwärtigen Regelung der grundsätzlichen Bindung der Wahlberechtigung an einen Inlandswohnsitz (in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG) begründen, und zwar ungeachtet dessen, dass es sich dabei – anders als in § 11 RWahlG 1849 – um eine Beschränkung der materiellen Wahlteilhabeberechtigung handelt. Denn als Ausübungsbedingung war der feste Wohnsitz bzw. der regelmäßige Aufenthalt im Wahlrecht bis zum Ende der Weimarer Republik beibehalten worden.1847 Doch lassen sich für diese Erwägungen keinerlei historische Belege, Hinweise o. Ä. auffinden, wie auch die Darstellung zum weiteren Verlauf der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung zum Reichswahlgesetz zeigen wird (dazu sogleich). Allerdings war die den Bestand an Grundbesitz stets voraussetzende 1844 Vgl. Änderungsantrag des Abg. Dietsch v. 26.2.1849, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5426. 1845 Änderungsanträge abgedruckt bei Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5425 f.; dazu vgl. bereits Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), ebd., S. 5220 (5227). 1846 In diese Richtung Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 30 mit Fn. 5. 1847 Ebenso herausgestellt von Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 27–53.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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(Orts-)Ansässigkeit (im Rechtssinne) wie dargelegt ihrerseits selbstverständliche Voraussetzung zur Erlangung der auch für das Wahlrecht in den Einzelstaaten relevanten staatsbürgerlicher Rechte,1848 die insbesondere das Wahlrecht zu den Zweiten Kammern bis zur Revolution der Jahre 1848/1849 bedingte und prägte. Die formelle Ausübung des Wahlrechts war demgegenüber eher ein verwaltungsrechtliches Problem zur Sicherung eines klaren und unverfälschten Stimm­ergebnisses, das zwar gelöst, aber gegenüber der aktiven Wahlberechtigung nicht in seiner Grundsätzlichkeit diskutiert werden musste. So wird dieser Problemkreis im vorerwähnten Bericht des Verfassungsausschusses zum Entwurf eines Reichswahlgesetzes auch eher am Rande und außerhalb des eigentlichen Regelungsziels angesprochen. Der Verfassungsausschuss habe sich, so heißt es dort, in seiner Formulierung „bewusst“ für die Erforderlichkeit des „festen Wohnsitzes“ als Wahlausübungsbedingung entschieden und wende sich damit gegen das Minoritäts-Gutachten, dass den sechsmonatigen gewöhnlichen Aufenthalt im Wahlbezirk für ausreichend gehalten habe. Dies allerdings ohne nähere Begründung. Im Bericht heißt es dazu nur: „[…] wenn aber eine Minorität einen Aufenthalt von sechs Monaten für genügend hält, so beharrte der Ausschuß in seiner Mehrheit bei jenem Vorschlag.“ An anderer Stelle führt der Berichterstatter aus: „Allerdings sind die Gewählten alle Abgeordnete der Deutschen Nation in ihrer Gesamtheit; allein, jeder ist doch zugleich der Vertreter des besonderen Kreises, und es scheint nicht passend, dass fremde Stimmen hier den Ausschlag geben können.“ Es sei „nothwendig, daß wer mit den Angehörigen eines Wahlkreises zusammen an der Wahl seines Vertreters Theil nehmen will, auch durch festen Wohnsitz demselben verbunden sei […]“ 1849. Eine bestimmte Mindestdauer für den „festen“ Wohnsitz sah der Ausschussentwurf nicht vor. Wenngleich die Minorität des Verfassungsausschusses in ihrem Gutachten zwar die zusätzliche Aufnahme einer Frist in Höhe von sechs Monaten forderte, betraf dies nach dem Sinnzusammenhang ersichtlich nur den gewöhnlichen Aufenthalt jener Deutschen, die ohne festen Wohnsitz waren. Die mit den konkurrierenden Vorschlägen verfolgten Bestrebungen sind evident. Hinter der Wohnsitzanordnung zum Wahlzeitpunkt stand der Schutzgedanke der nur einmaligen Stimmabgabe. Die zusätzliche Einrichtung eines Mindestzeitraums für Deutsche mit „längerem“ Aufenthalt im Wahlbezirk, aber ohne festen Wohnsitz focht für die möglichst breite Beteiligung aller Bürger. In gewisser Weise verfolgten beide Formulierungsvorschläge den Zweck einer möglichst klaren und unverfälschten Entfaltung des Wählerwillens. Der Minoritätsvorschlag hätte für die Wahlbehörden aber erheblichen Mehraufwand bedeutet, weil diese im Einzelfall

1848

Vgl. oben Zweiter Teil 4. Kapitel. Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5227), alle Zitate ebd. 1849

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

zu prüfen hätten, inwieweit sich jemand ohne Wohnsitz im Wahlbezirk den Regelungen des Wahlgesetzes entsprechend dort gewöhnlich aufgehalten hat. Die Entscheidung fiel zugunsten des Wohnsitzmodells zum Zeitpunkt der Wahl aus. Die Ausschussmehrheit lehnte überdies auch ein generelles Fristenmodell ab. Etwa sollte bei „fester Niederlassung“ die „kürzere Frist genügen oder vielmehr gar keine verlangt werden“.1850 All dies legt zwar eine immerhin terminologische Trennung zwischen „gewöhnlichem Aufenthalt“, „Wohnsitz“ und „fester Niederlassung“ nahe. Doch inwieweit in diesem Zusammenhang, darauf kommt es hier an, der Gedanke der „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ mit verflochten gewesen sein könnte, lässt sich nirgends entdecken. Allenfalls in den Bemerkungen des Berichterstatters zur „Verbundenheit“ mit dem Wahlbezirk und deren Kandidaten ließe sich ein solcher hineinlesen. Dass die Vertrautheit ein maßgeblicher Sinngedanke des formellen Wahlrechts gewesen wäre, ist vielmehr ausweislich des Ausschussberichtes zu verneinen. Selbst dem Minoritäts-Gutachten ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass der Gedanke einer irgendwie gearteten inneren Verbundenheit des Wählers zu seinem Wahlbezirk oder den Bewerbern maßgebend gewesen wäre. Mit dieser Feststellung stimmt es zusammen, dass auch in der späteren Staatsrechtslehre allein die Verbindung des Individuums mit dem Volke, namentlich die Zugehörigkeit zum Staatsvolk als „Vorbedingung zur Ausübung politischer Stimmrechte“, in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Beziehung des Einzelnen zu einem Ort als Heimat war dafür nicht entscheidend.1851 Dagegen stellte schon der bei Breuer als Gewährsmann angeführte Abgeordnete Gabriel Riesser in der 177.  Sitzung der Nationalversammlung vom 26. Februar 1849 – der abschließenden Beratung zum RWahlG – heraus, dass der Ausschuss „ein System als das rechte angenommen [hat], daß jeden Unterschied des Standes und Vermögens, jeden Unterschied der Klassen ausschließt“. Daraus folge nun aber noch nicht, so Riesser weiter, „daß das Wahlrecht nicht an eine Bedingung, die in einem äußeren, nicht persönlichen, sondern rein sachlichen Verhältnisse ihren Grund hat, geknüpft werden dürfe; es folgt nicht, daß das Wahlrecht einen Jeden wie der Schatten den Körper unter allen Umständen und in jedem Verhältnisse begleiten müsse“. Deshalb werde „gewiss kein Rechtsprinzip verletzt [werde], wenn Sie [Anm.: die Vertreter der Nationalversammlung] das Wahlgeschäft so organisieren, daß der zufällig nicht sich an seinem Wohnort Aufhaltende factisch aus der Ausübung des Wahlrechts verhindert ist“.1852 Diese These stützt Riesser allerdings auf die – nach seinem Dafürhalten zwingende – Notwendigkeit einer „gewissen Art der Abhängigkeit“, die „für einen guten Wähler erforderlich“ sei, namentlich von der „Vaterlandsliebe“, den ihr verwand 1850 Bericht des Verfassungsausschusses zu dem Entwurf des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5220 (5227) mit Zitaten. 1851 Vgl. Bluntschli, Staatslehre I, S. 235 f., S. 245. 1852 Abg. Riesser, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429 mit Zitaten.

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ten „Heimatsgefühlen“ und dem Interesse an einem funktionierenden Gemeinwesen vor Ort. „Dem, der in bleibender Umgebung, in dem täglichen Leben die Gemeinde, die Verhältnisse des Staates in verjüngtem Maßstab anschaut, der die Not der Armen sowie das Glück und das Bedürfnis friedlicher Arbeit aus täglicher Wahrnehmung kennt“, nur dem seien „die natürlichen Verhältnisse, die Bedürfnisse der staatlichen Gesamtheit klarer und gegenwärtiger […], als Dem, welcher eine solche Anschauung fester Verhältnisse nicht hat, weil ihn seine Neigung oder sein Beruf veranlassen, von Ort zu Ort zu wandern“. Die Rede schließt mit dem Apell bzw. der ausdrücklichen Aufforderung an die Nationalversammlung: „die Übung des Wahlrechts […] an Dasjenige zu knüpfen, was die Grundlage der Familie bildet, an die Heimath. Sie [Anm: die Abgeordneten der Nationalversammlung] knüpfen es auf solche Weise mittelbar für den Einen an Weib und Kind, für den Anderen an Vater und Mutter, für Alle an die Werthschätzung des guten Rufes unter Nachbarn und Freunden, an alle die bürgerlichen und sittlichen Elemente, die der feste Wohnsitz enthält. Sie haben den bisherigen Bestimmungen Alles dem schrankenlosen selbstsüchtigen Anspruch des Einzelnen auf das Wahlrecht untergeordnet, gönnen Sie diese einzige, geringe Schranke dem billigsten und mäßigsten Anspruch der Gesamtheit.“1853 Die Position Riessers zur Heimatverbundenheit als Wahlausübungskriterium hatte sich im Plenum der Nationalversammlung allerdings nicht durchgesetzt. Dies lag auch nahe. Denn wenn Riesser seine Position ernsthaft hätte in die Verhandlungen einführen wollen, wäre nicht die formelle Ausübungsberechtigung des Wahlrechts, sondern sein materieller Inhalt viel eher der Bezugspunkt dieser Anschauung gewesen.1854 Inhaltlich jedoch sollte das Wahlrecht frei sein von zusätzlichen Einschränkungen, die über die durch die Nationalversammlung getroffene Formulierung des § 1 RWahlG 1849 hinausgingen. So dürfte die Riesser’sche Forderung nach Heimatbindung, die er selbst als ein Kriterium bezeichnet, „was alle gehabt haben und früher oder später wieder erreichen werden“, nach dem hier Ausgeführten also tatsächlich nur die formalen Durchführungsschwierigkeiten bei der Stimmabgabe durch Nichtansässige in den Blick genommen haben. Dafür spricht auch das Abstimmungsverhalten des Abgeordneten zu § 11 im Plenum der Nationalversammlung. Zusammen mit der Versammlungsmehrheit stimmte auch der Abgeordnete Riesser am 26. Februar 1849 in Bezug auf den Wohnsitz oder den allgemeinen Aufenthalt gegen die Einführung einer Mindestfrist.1855 Dieses Stimmverhalten ist zumindest im Hinblick auf die These zur Heimatbindung deshalb durchaus aussagekräftig, weil eine Mindestfrist die zuvor geforderte Heimat-

1853 So Zitat Abg. Riesser, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429; als Argument für die Inlandsbindung angeführt bei Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 30 mit Fn. 25. 1854 Vgl. statt vieler: Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 26 und 29. 1855 Vgl. namentliche Abstimmung, vgl. bei Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5431. Eine sechsmonatige Mindestfrist sah das Gesetz nach der maßgeblichen Lesung nur für die Stationierung von Soldaten in ihren Diensteinheiten vor, vgl. ebd., S. 5432.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

verbundenheit hätte sichern und befördern können.1856 Dennoch lehnte Riesser eine Mindestfrist für den Aufenthalt im Wahlbezirk ausdrücklich ab. All dies spricht für die abschließende Feststellung, dass der Gedanke der Vertrautheit mit den Ortsverhältnissen bei der Ausübung des Wahlrechts in der Abschlussabstimmung keine maßgebende Rolle gespielt hatte. II. Wählbarkeit § 5 Satz 1 RWahlG 1849, der die Wählbarkeit zum Reichstag regelte, sah hingegen weder in seinem Entwurf noch in seiner endgültigen Fassung eine Anbindung an den Wohnsitz vor. Wählbar zum Abgeordneten des Volkshauses war vielmehr jeder wahlberechtigte Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt und seit mindestens drei Jahren einem deutschen Staate angehört hat. Auch dieser Regelung ging allerdings in den Beratungen des Verfassungsausschusses sowie in der Nationalversammlung eine intensive Debatte voraus. Denn die Entwurfsfassung des Verfassungsausschusses zur Wählbarkeit hatte noch keine Mindestdauer der Staatsangehörigkeit vorgesehen. Auch knüpfte der Entwurf – ebenso wie zum aktiven Wahlrecht –1857 noch an die Kriterien der Selbstständigkeit und Unbescholtenheit an. Zum Abgeordneten des Volkshauses wählbar sollte demnach „jeder selbständige unbescholtene […] Deutsche, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat“ sein.1858 Auf den insoweit bemerkenswerten Beratungsgang zu § 5 RWahlG 1849 ist im Folgenden der Blick zu richten. 1. Ergebnisse der Beratungen im Verfassungsausschuss In den Beratungen des Verfassungsausschusses mit seiner konservativ-liberalen Mehrheit1859 war die Bindung des passiven Wahlrechts an eine Mindestdauer der Staatsangehörigkeit in einem der deutschen Länder durchaus thematisiert worden. Und auch über die Wohnsitzbindung der Wählbarkeit wurde dort diskutiert.1860 In der 176. Sitzung der Nationalversammlung vom 23. Februar 1849 informierte der Berichterstatter, der Abgeordnete Scheller (Frankfurt an der Oder), die Mitglieder der Nationalversammlung darüber, dass hinsichtlich des Erfordernisses eines Mindestaufenthaltes oder einer Mindestdauer der Staatsbürgerschaft im Verfas 1856

Das jedenfalls ist die heute gängige Lesart im Zusammenhang mit der „für die Stimmabgabe erforderlichen Vertrautheit“ durch einen Mindestaufenthalt, vgl. statt vieler: Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 13 m. w. N.; vgl. auch oben Erster Teil 5. Kapitel C. II. 1. 1857 Vgl. oben Zweiter Teil 5. Kapitel C. I. 1. 1858 Vgl. oben Fn. 1816. 1859 Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 789. 1860 Anders Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 31: Wohnsitzbeschränkung der Wählbarkeit sei „nie erwogen“ worden. Das trifft allerdings nur auf die Beratungen im Plenum der Nationalversammlung zu.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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sungsausschuss in einem Änderungsantrag vorgeschlagen worden sei, „die Beschränkung zu machen, dass der Abgeordnete drei Jahre in einem deutschen Staate wohnhaft gewesen sein müsse“.1861 Der vom Verfassungsausschuss vorgelegte Entwurf des § 5 würde dies jedoch nicht verlangen. Die Mehrheit des Verfassungsausschusses habe sich vielmehr dafür entschieden, die Wählbarkeit auf „nicht mehr und nicht weniger“ zu beschränken, „was für die Wähler vorgeschrieben ist. Für diese fordert der Entwurf nur festen Wohnsitz zum Zeitpunkt der Wahl“. Ferner verlange der Verfassungsausschuss auch keine Zeitdauer der „Ansässigkeit“1862 in einem deutschen Staate, „weil er von der Ansicht ausgegangen ist, daß, wer einmal Deutscher ist, und wäre er es auch seit einem Tage, auch an den Rechten, also auch dem Wahlrechte, Theil nehmen müsse, welche den Deutschen gewährt worden sind“1863. Das Kriterium der Selbstständigkeit wurde von den Mitgliedern des Verfassungsausschusses im Plenum der Nationalversammlung hingegen noch mit dem Bestreben begründet, nur die „kenntnisreichsten Männer“ in die Volksvertretung zu bringen. Außerdem seien als „Mitglieder für das Volkshaus Diejenigen am geeignetsten […], die beim Gang der Staatsgeschäfte, bei der Entwicklung der Gesetzgebung eher etwas zu verlieren, als zu gewinnen haben“. Diejenigen „die nichts zu verlieren, sondern höchstens nur zu gewinnen“ haben, seien „leicht der Gefahr ausgesetzt, egoistischen Bestrebungen sich hinzugeben, also eine Richtung zu befolgen, die ebenso weit von dem Patriotismus, als von dem Besten des Volkes entfernt“ sei.1864 2. Ergebnisse der Beratungen im Plenum der Nationalversammlung Doch fand auch dieser Regelungsentwurf während der fortschreitenden Plenarberatungen in wesentlichen Punkten nicht mehr die erforderliche Mehrheit. Während der Vorschlag zum Wahlalter die erforderliche Zustimmung vom Plenum der Nationalversammlung erfuhr,1865 und auch eine Regelung zur Unbescholtenheit als § 5 Satz 2 RWahlG Eingang in das Wahlgesetz fand,1866 stimmte die Mehrheit der Nationalversammlung im Ergebnis gegen eine Beschränkung der Wählbarkeit auf Selbstständige. Das hing maßgeblich mit der Entwicklung der Beratungen und der Beschlussfassung der Nationalversammlung zum aktiven Wahlrecht in § 1 RWahlG 1849 zusammen. Denn dort war die Bestimmung über die Selbstständigkeit, die 1861

Vgl. mündlicher Bericht mit Zitaten bei Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5397. An dieser Stelle ist die Rede vom (festen) Wohnsitz, nicht vom Besitz eines eigenen Grundstückes. 1863 Wigard ebd. 1864 Vgl. Ausführungen des Abg. v. Linde (Mainz), in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5396. 1865 Vgl. Abstimmungsergebnis (offene Abstimmung) bei Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5399. 1866 Vgl. Formulierungsvorschlag des Abg. M. v. Mohl, in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5398; Abstimmungsergebnis (217 Ja- zu 201 Neinstimmen), ebd. S. 5403. 1862

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

noch in § 2 des Entwurfs im Einzelnen von den „Nichtselbständigen“ abgegrenzt worden war, entfallen. Für den in § 5 einzuführenden Selbstständigkeitstatbestand existierte daher keine nähere Regelung mehr. Insofern passte die Konzeption des § 5 im Entwurf des Verfassungsausschusses nicht mehr zu der veränderten Beschlusslage innerhalb der Nationalversammlung zum aktiven Wahlrecht.1867 Ein vom Abgeordneten von Linde eingebrachter Änderungsantrag des Inhalts, die Wählbarkeit auf jene „unbescholtenen Deutschen“ zu beschränken, „die durch Grundbesitz, Gewerbe, ein öffentliches Amt oder durch steuerbares Einkommen die eigene unmittelbare Betheiligung an den allgemeinen Staatsinteressen“ verbürgen,1868 wurde von der Nationalversammlung in der 176. Sitzung vom 23. Februar 1849 ohne Aussprache einstimmig abgelehnt.1869 Die schließlich beschlossene Anknüpfung der Wählbarkeit an den mehrjährigen Bestand der Staatsangehörigkeit in einem deutschen Land geht wiederum zurück auf einen ebenfalls in der Plenarsitzung am 23. Februar 1849 gestellten „Zusatzantrag“ des Abgeordneten Langerfeldt.1870 Die Antragsbegründung rekurrierte im Wesentlichen auf die „Wahrung der deutschen Nationalität“, die im Falle der Wählbarkeit in jenen Fällen betroffen sei, in denen „Ausländer das deutsche Bürgerthum erlangen sollten“. Hier sei „die Würde der Nationalität“ nach innen und nach außen betroffen, die es – wie etwa in England oder anderen Verfassungsstaaten – erfordere, dass Neueingebürgerte erst eine gewisse Zeit im Land als Staatsangehörige leben müssten, um in „die Einzelheiten der materiellen und staatlichen Bedürfnisse des Landes […] eingeweiht“ zu sein. Mit diesem (nationalen) Interesse sei es nicht zu vereinbaren, dass „man einen Ausländer gleich in die höchste Würde eintreten und über die wichtigsten Interessen des Landes berathen lassen wollte, die er wahrscheinlich nicht kennt, von denen er keine genügende Einsicht haben“ könne. Eine solche Gewährung lasse nach Auffassung des Antragstellers auch Ansehensverluste im Ausland befürchten.1871 Die Nationalversammlung hat den Antrag des Abgeordneten Langerfeldt mit 237 Ja- gegen 188 Nein-Stimmen noch in der Sitzung angenommen.1872 Damit befreite die Nationalversammlung im Ergebnis auch die Wählbarkeit von fast allen bis dahin in den Einzelstaaten gültigen Wahlrechtsbeschränkungen. Neben der Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres verlangte § 5 RWahlG 1849 lediglich die dreijährige Zugehörigkeit zu einem deutschen Staat. Damit hing die Wählbarkeit in erster Linie von einem längeren Bestand der Staatsangehörigkeit in einem der deutschen Einzelstaaten ab. Die Wählbarkeit an die Voraussetzung der Wohnansässigkeit im Wahlbezirk zu binden, hatte sich schon in 1867 Darauf hinweisend Abg. v. Linde, Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5396; Abg. Vogt (Gießen), ebd. S. 5399. 1868 Vgl. in Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5398. 1869 Abstimmungsergebnis, ebd. S. 5401. 1870 Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5391. 1871 Vgl. Wigard, ebd. 1872 Vgl. Wigard (Hrsg.) Bericht VII, S. 5401.

5. Kap.: Die Wahlrechtsfrage in der Frankfurter Nationalversammlung 

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den Beratungen des Verfassungsausschusses nicht durchsetzen können und spielte auch im Plenum der Nationalversammlung keine Rolle. III. Zusammenfassung Die Frankfurter Nationalversammlung hatte ein neues Wahlrecht verabschiedet, das den allgemeinen Forderungen nach einer politischen Beteiligung der zunehmend politisierten Gesellschaft eher gerecht wurde als die vorherigen Regelungen der Einzelstaaten. Die Bindung der Ausübung des Wahlrechts an den Wohnsitz erfüllte allein den Sicherungszweck, unzulässige Doppelstimmen zu verhindern. Eine formelle oder gar materielle Bindung des aktiven Wahlrechts an „die Heimat“ bzw. an eine der Heimat zugeordnete „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ wurde hingegen vom RWahlG 1849 nirgends, weder implizit noch explizit, postuliert. Für die Wählbarkeit indessen wird auf diese Vertrautheit Wert gelegt. Das kommt in der Voraussetzung zum Ausdruck, dass der Wählende seit mindestens drei Jahren Staatsbürger in einem deutschen Einzelstaat sein musste. Aber auf einen Inlandswohnsitz oder eine Ansässigkeit kam es insofern nicht an. Die Regelung zum passiven Wahlrecht enthielt keinerlei Wohnsitzklausel. Auch auf eine Ansässigkeit kam es nicht (mehr) an.

D. Zwischenergebnis Die in der zeitgenössischen Diskussion bis 1848 etablierten Anschauungen zum beschränkten Wahlrecht wurden im Verlauf der Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung jäh verworfen. Während das Wahlrecht der Einzelstaaten vor der Revolution von 1848/1849 noch wesentlich auf ständischer Grundlage bzw. wirtschaftlicher Selbstständigkeit beruhte, brachen diese Bindungen unter dem Druck der Bevölkerung zugunsten der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts weg. Der maßgebliche Einfluss der Rechtsphilosophie Immanuel Kants auf das Selbstverständnis der (liberalen) bürgerlichen Gesellschaft ab 18301873 war jedenfalls in diesem Punkt erschüttert. Die anfängliche Emanzipation des besitzenden Bürgertums vom vormaligen, ausschließlich ständisch organisierten Obrigkeitsund Privilegienstaat sah sich nunmehr mit der Forderung nach einer weiteren Öffnung zugunsten breiter Volksmassen konfrontiert. Die revolutionären Verhältnisse und deren Ursachen überrollten die Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung und zwangen die Abgeordneten dazu, bei der politischen Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten neue Wege zu gehen. Die Öffnung des Wahlrechts ist daher auch Ausdruck der freiheitlichen Bestrebungen „des Staatsvolkes“ und seiner Angehörigen. Früher noch in der Ideologie des Besitzindividualismus gründend, wurde der Begriff der Bürgerschaft vom Zusammenhang mit dem Grundbesitz 1873

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 788.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

abgelöst und der persönlichen Verbindung durch die Staatsangehörigkeit mehr Bedeutung zugestanden.1874 Aus dem beschränkten wurde ein, zumindest nach den seinerzeitigen Maßstäben, allgemeines Wahlrecht. Dabei machten weder die materielle noch die formelle Ausgestaltung der aktiven Wahlberechtigung im RWahlG 1849 die „Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“ oder die „Bindung an die Heimat“ zur Sicherung politischer Urteilsfähigkeit zu ihrer Voraussetzung. Die bestehende Beschränkung auf den Wohnsitz oder den teilweise diskutierten gewöhnlichen Aufenthalt verfolgten allein das Ziel der Herbeiführung eines unverfälschten Wählerwillens, der nicht durch Mehrfachstimmabgabe beeinflusst werden sollte. Anders wäre es auch nicht zu erklären, dass jene, die in mehreren Wahlbezirken Besitzungen oder Wohnsitze innehatten, ihre Stimme nur einmal abgeben durften. Diese für eine gleiche Wahl unabdingbare Voraussetzung knüpfte gerade nicht an den Grad einer bestimmten Vertrautheit an, die in dem einen Ort möglicherweise geringer, in einem anderen höher gewesen sein mag, sondern zielte allein auf die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe. Hingegen kam bei der Regelung des passiven Wahlrechts das Anliegen einer hinreichenden politischen Vertrautheit darin zum Ausdruck, dass die Wählbarkeit eines Kandidaten von dessen mehrjähriger Staatsangehörigkeit in einem Einzelstaat abhängig gemacht war. Doch dessen Sesshaftigkeit im Wahlbezirk war nicht gefordert. 6. Kapitel

Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum A. Das Scheitern der Revolution und der Rückfall in die Restauration Trotz der vorläufigen Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 fertigte der von der Nationalversammlung berufene Reichsverweser das „Reichsgesetz über Wahlen der Abgeordneten im Volkshause (Frankfurter RWahlG 1849)“ aus und setzte es durch Verkündung im Reichsgesetzblatt am 12. April 1849 in Kraft. Eine Volkskammer wurde freilich nie gewählt, denn allen Bemühungen zum Trotz ließ sich der preußische König nicht zur Anerkennung der Reichsverfassung und der Annahme der Kaiserwürde bestimmen. Zwar erkannten 28 deutsche Staaten die Verfassung an, der Ablehnung durch die Königreiche Österreich, Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover folgte dann jedoch auch Preußen: Am 28. April 1849 gab König Friedrich Wilhelm IV. gegenüber der Nationalversammlung schließlich seine endgültige Entscheidung zur Verwerfung der Kaiserwürde und damit der Reichsverfassung 1874

Vgl. Bluntschli, Staatslehre I, S. 183.

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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bekannt.1875 Infolge dessen brach die Nationalversammlung auseinander. Nach dem Abzug der meisten Delegierten durch die Landesfürsten1876 wurde das mittlerweile nach Stuttgart übergesiedelte und spürbar radikalisierte „Rumpfparlament“1877 am 18. Juni 1849 von württembergischen Truppen endgültig zerschlagen.1878 In der Folge fielen die Territorien in ihre jeweilige Einzelstaatlichkeit zurück. Die nationale Einheit war gescheitert. Durch den Bundesreaktionsbeschluss1879 des am 23. August 1851 neu zusammengetretenen Frankfurter Bundestages sollten die Landesregierungen veranlasst werden, den vorrevolutionären Zustand wieder herzustellen. Eine der ersten Amtshandlungen in diesem Zusammenhang war die Aufhebung der Grundrechte.1880 Gleichzeitig erging ein dringender Appell an die Einzelregierungen, „durch alle gesetzlichen Mittel die Unterdrückung der Zeitungen und Zeitschriften unter Bestrafung der Schuldigen herbeizuführen, welche atheistische, sozialistische oder kommunistische, oder auf Umsturz der Monarchie gerichtete Zwecke verfolgen“.1881 Es folgte am 13. Juli 1854 ein Bundes-Vereinsgesetz,1882 das die Gründung und den Bestand politischer Vereine ebenfalls mit erheblichen Restriktionen belegte. Die Restauration wurde auch in der Folge konsequent durchgesetzt, so dass nahezu alle liberalen oder demokratischen Veränderungen der Aufhebung anheimfielen. Doch konnten die Zeiten der vormaligen Bundesverfassung durch diese Maßnahmen nicht wiederhergestellt werden. Denn die Folgejahre waren vom preußisch-österreichischen Konflikt geprägt, der schließlich in die Niederlage Österreichs im sog. „Deutschen Krieg“ des Jahres 1866 mündete.1883 Der in Prag am 23. August 1866 zwischen Preußen und Österreich geschlossene Friedensvertrag ordnete in seinem Art. IV die Auflösung des Deutschen Bundes an.1884 Dies bedeutete auch für das zuvor nahezu flächendeckend wieder eingeführte ständische Wahlrecht in den Einzelstaaten eine endgültige Zäsur.

1875 Depesche des Ministerpräsidenten Graf Brandenburg an den Bevollmächtigten bei der Reichszentralgewalt Camphausen v. 28.4.1849, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente I, Nr. 120 (Nr. 113a). 1876 Zu den Gründen vgl. Stern, Staatsrecht V, § 126 V 5 (S. 261). 1877 Näher Pauly, HStR3 I, § 3 Rn. 43 ff.; Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 31, S. 243. 1878 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte II, S. 851 ff. 1879 Bundesbeschluß über Maßregeln zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Deutschen Bund v. 23.8.1851, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 1 (Nr. 1). 1880 Bundesbeschluß über die Aufhebung der Grundrechte des deutschen Volkes, v. 23.8.1851, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 2 (Nr. 2). 1881 Vgl. Ziff. II. des Bundesreaktionsbeschlusses; konkretisiert durch das Bundes-Preßgesetz v. 6.7.1854, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 3 (Nr. 3). 1882 Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bunde, insbesondere das Vereinswesen betreffend v. 13.7.1854, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 4 (Nr. 4). 1883 Näher Stern, Staatsrecht V, § 126 VI 1 (S. 263). 1884 Abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 185 (Nr. 182).

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

B. Wahlrecht und Sesshaftigkeit bis zum Ende der Monarchie I. Norddeutscher Bund und Deutsches Reich Trotz der gegenläufigen Entwicklung wäre es verfehlt, das zunächst gescheiterte Frankfurter Verfassungswerk von 1849 als vergeblich zu bezeichnen. Die der Reichsverfassung immanenten aufklärerischen Grundgedanken zur Bedeutung des Staatsvolkes, ferner Inhalt und Reichweite des Grundrechtskataloges sowie die verfassungsmäßige Verankerung einer Reichsgerichtsbarkeit bewirkten einen beachtlichen Modernisierungsschub und hatten nachhaltige Vorbildwirkung.1885 So kam auch dem RWahlG 1849 bei der Entstehung des Norddeutschen Bundes eine hervorgehobene Bedeutung zu, indem es vom späteren Reichskanzler Otto von Bismarck im Art. 5 des sog. Augustbündnisses vom 18. August 18661886 zur Grundlage der Wahlen zum Konstituierten Reichstag gemacht worden war.1887 Das „Wahlgesetz für den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes“ vom 15. Oktober 1866 (RWahlG 1866)1888 hatte die Regelungen des RWahlG 1849 im Hinblick auf die Wahlberechtigung und Wählbarkeit inhaltlich nahezu vollständig übernommen.1889 Von Bismarck selbst erkannte die Zeichen der Zeit und hielt das in der Bevölkerung populäre allgemeine und gleiche Wahlrecht „gewissermaßen als ein Erbtheil der Entwicklung der Deutschen Einheitsbestrebungen überkommen“1890. Es musste von den Mitgliedsländern umgesetzt werden. Art. 20 der am 1. Juni 1867 in Kraft getretenen Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 18671891 bestimmte, dass der Reichstag aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervorgehen sollte. Hier und auch im später erlassenen „Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes“ vom 31. Mai 1869 (RWahlG 1869)1892 fehlten durchweg die vorherigen Beschränkungen des Wahlrechts nach Ständen, Vermögen oder Grundbesitz und Zensus. Für die Ausübung des Wahlrechts war lediglich der feste Wohnsitz im Wahlbezirk gefordert (§ 7). Das RWahlG 1869 wurde nach Gründung des Deutschen Reiches gemäß 1885

Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 16 Rn. 517; Pauly, HStR3 I, § 3 Rn. 52 ff.; Stern, Staatsrecht V, § 126 V 5 (S. 262). 1886 PreußGS S. 626 ff., abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 196 (Nr. 185). 1887 Näher Stern, Staatsrecht V, § 127 I (S. 286 ff.). 1888 PreußGS S. 623, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 197 (Nr. 186). 1889 § 2 RWahlG 1866 lautete: „Wähler ist jeder unbescholtene Staatsbürger eines der zum Bunde zusammengetretenen Deutschen Staaten, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.“ § 5 Satz  1 RWahlG 1866 lautete: „Wählbar zum Abgeordneten ist jeder Wahlberechtigte, der einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens drei Jahren angehört hat.“ In der Folge erließen die beteiligten Länder gleichsinnige Wahlgesetze über die Wahl des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes mit geringfügigen Abweichungen im Wortlaut. 1890 Sten.Ber. RT NB, 1867, Bd. 1, S. 429; zu den weiteren Motiven vgl. Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 518 ff.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 32. 1891 NBGBl. S. 2, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 198 (Nr. 187). 1892 NBGBl. S. 145, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 209 (Nr. 190).

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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§ 2 Abs. 2 Satz 1 „Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches“ zur Publikation der „Verfassung des Deutschen Reichs“ vom 16. April 18711893 als Reichswahlgesetz übernommen. Es blieb im Hinblick auf die Regelungen zur aktiven und passiven Wahlberechtigung und zur Ausübung des Wahlrechts ohne Änderungen bis Ende des Jahres 1918 in Kraft. 1. Aktives Wahlrecht unter Geltung des RWahlG 1869 Hinsichtlich der aktiven Wahlberechtigung wies das RWahlG 1869 zu seinem Vorbild aus dem Jahr 1849 kaum Unterschiede auf. § 1 RWahlG 1869 erklärte jeden Norddeutschen, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hatte zum Wähler für den Reichstag des Norddeutschen Bundes, und zwar in dem Bundesstaate, in dem er einen Wohnsitz hatte. Die Ausübung des Wahlrechts regelte § 7, der im Unterschied zu seiner im Übrigen wortgleichen Vorgängervorschrift § 11 Abs. 1 RWahlG 1849 nicht mehr den „festen Wohnsitz“, sondern nur noch den „Wohnsitz“ verlangte. Die in § 7 RWahlG 1869 enthaltene Wohnsitzklausel war derart unbestritten, dass in keiner der drei Lesungen das Wort dazu verlangt wurde.1894 Das spricht dafür, dass mit Erlass der Wohnsitzklausel in § 7 RWahlG 1869 in erster Linie  – wie schon zuvor in § 11 Abs. 1 RWahlG 1849 – der Zweck der nur einmaligen Stimmabgabe verfolgt wurde.1895. Die Anknüpfung des Wahlrechts an den „Wohnsitz“ statt an den „festen Wohnsitz“ hatte zur Folge, dass nicht nur der Wohnsitz im zivilrechtlichen Sinne, sondern auch der gewöhnliche (dauernde) Aufenthalt von der Wahlprüfungskommission des Reichstages als für die Ausübung des Wahlrechts ausreichend anerkannt wurde.1896 Auf diese von der Wahlprüfungskommission1897 auf Grundlage des § 21 der Zivilprozessordnung1898 begründete Spruchpraxis griff späterhin auch das Reichsgericht bei der Bestimmung des wahlrechtlichen Wohnsitzbegriffes zurück.1899 Ein 1893

RGBl. S. 63, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente II, Nr. 261 (Nr. 218). Vgl. Sten.Ber. RT NB, 1869, Bd. 1, S. 179, Bd. 2, S. 977. 1895 In diesem Sinne konstatiert auch Laband, dass die konkrete Stimmabgabe vom Protokoll­ führer des Wahlvorstandes erst nach Angabe des Namens und der Wohnung des Wählers zugelassen wird, „um einer wiederholten Ausübung des Wahlrechts seitens desselben Wählers vorzubeugen“, vgl. ders., Staatsrecht I, § 35 S. 326. Der Wohnsitz war gemäß § 8 Abs. 1 RWahlG 1869 in die Wählerliste einzutragen. 1896 Hatschek, Parlamentsrecht I, § 33 S. 275 mit Verweis auf RT-Drs. Nr. 166 ex 1879, S. 1347; dazu und im Folgenden Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 34. 1897 Zur Unanfechtbarkeit der Entscheidungen des Wahlprüfungsausschusses Laband, Staatsrecht I, § 34 S. 312. 1898 RGBl. 1877, S. 83: Niederlassung in der Absicht eines „Aufenthalt[s] von längerer Dauer, insbesondere als Dienstboten, Hand- und Fabrikarbeiter, Gewerbegehilfen, Studierende, Schüler oder Lehrlinge“ (heute § 20 ZPO). Für die Begründung des Wahlrechtswohnsitzes genügt insofern auch die Begründung einer regelmäßigen Schlafstelle, vgl. RT-Drs. Nr. 122 ex 1896, zitiert nach Hatschek, Parlamentsrecht I, § 33 S. 275. 1899 RGSt 37, 233 (235); 37, 239 (241); Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 35. 1894

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

bloß vorübergehender Aufenthalt begründete allerdings noch keinen für das Wahlrecht erheblichen Wohnsitz außerhalb des bürgerlich-rechtlichen Wohnsitzes.1900 Gleichwohl kam es zu einer Lockerung der Wohnsitzbindung. Zwar waren nach wie vor alle Auslandsdeutschen und die vorübergehend von ihrem Wohnsitz Abwesenden am Wahltage vom Wahlrecht ausgeschlossen, jedoch wurde nunmehr jene Gruppe der (Nord-)Deutschen (ab 1871: Reichsangehörigen) erfasst, die sich langfristig an einem anderen Ort als ihren eingetragenen Wohnsitz innerhalb des Bundes aufhielten. Aber auch insoweit erweist sich diese Beschränkung als reine Ausübungsregelung im Bereich des formellen Wahlrechts.1901 Das bestärkt zusätzlich die oben bereits getroffene Annahme, dass der Wohnsitzregelung in § 7 RWahlG 1869 in erster Linie eine Sicherungsfunktion im Hinblick auf die nur einmalige Stimmabgabe zukam. Die gleichwohl scheinbar „doppelte“ Wohnsitzklausel (§ 1 und § 7) ist nur mit Blick auf die konkrete Umsetzung des zuvor für den Norddeutschen Bund geltenden RWahlG 1866 in Mecklenburg erklärbar, wonach die durchführende Verordnung1902 entgegen der Vorgabe nicht allen Norddeutschen, sondern nur allen Mecklenburgern das Wahlrecht zugesprochen hatte. § 1 RWahlG 1869 stellte insoweit nur klar, dass das Wahlrecht zum Reichstag jedem Bundesangehörigen in dem Bundesstaat, in dem er gerade seinen Wohnsitz oder (in Interpretation des § 1 RWahlG 1869) seine dauernde Niederlassung oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zustehen sollte.1903 Diese Regelung wurde mit der Einführung eines einheitlichen Bundes- (nach 1871: Reichs-)Angehörigenrechts (dazu sogleich) obsolet. 2. Passives Wahlrecht unter Geltung des RWahlG 1869 Auch die Voraussetzungen der Wählbarkeit nach § 4 RWahlG 1869 stimmten nahezu vollständig mit denen des § 5 RWahlG 1849 überein. Wählbar war demgemäß „jeder Norddeutsche“ (nach Überführung des Gesetzes in das Deutsche Reich: „jeder Reichsangehörige“), der das „fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt und einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens einem Jahre angehört hat“. Die erforderliche Zugehörigkeit zu einem deutschen Bundesstaat (Staatsangehörigkeit) wurde mit Rücksicht auf die rasche Fluktuation der Bevölkerung im Bundesgebiet1904 von drei Jahren auf ein Jahr herabgesetzt. Zudem koppelte § 4 RWahlG 1869 die Wählbarkeit, anders als noch § 5 RWahlG 1866 des Nord 1900

Vgl. Hatschek, Parlamentsrecht I, § 33 S. 276; Laband, Staatsrecht I, § 34 S. 311 mit Fn. 4. Deutlich auch bei Laband, Staatsrecht I, § 34 S. 311: „die Berechtigung zu wählen ruht: […] b) für Personen, welche sich zur Zeit der Wahl nicht in einem Wahlbezirk aufhalten, in welchem sie ihren Wohnsitz haben […]“, zu den Lockerungen des Wohnsitzbegriffes vgl. ebd., Fn. 4. 1902 Großherzoglich Mecklenburg-Strelizscher Officieller Anzeiger für Gesetzgebung und Staatsverwaltung, 1866 No. 18. 1903 Vgl. näher auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 35 f.: Inländergleichbehandlung. 1904 Hatschek, Parlamentsrecht I, § 55 S. 574. 1901

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deutschen Bundes, nicht mehr an die Wahlberechtigung. Im Übrigen kam es hier auf die Sesshaftigkeit des zu wählenden Abgeordneten im Wahlgebiet ebenso wenig an wie nach dem Reichswahlgesetz von 1849.1905 3. Wahlrecht und Territorialität Somit ist festzustellen, dass auch das Wahlrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches im Gegensatz zu den frühkonstitutionellen Regelungen der deutschen Einzelstaaten nicht mehr unmittelbar an Grundbesitz und Ansässigkeit gebunden war. Nach Art. 20 der Deutschen Reichsverfassung ging „der Reichstag aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor“. Soweit die frühkonstitutionellen Wahlgesetze noch an Tatbestände außerhalb des Wahlrechts, etwa Gemeindebürgerschaft oder Selbstständigkeit etc. angeknüpft hatten, waren diese Bindungen spätestens mit der Vereinheitlichung des Reiches im Jahr 1871 definitiv entfallen. Allein die formelle Wahlausübungsregelung zum Wohnsitz im Wahlbezirk am Wahltag nach § 7 RWahlG 1869 beschränkte die Wahrnehmung des Wahlrechts ohne Ausnahme auf die innerhalb der Reichsgrenzen sesshaften wahlberechtigten Reichsbürger.1906 Ein „Auslandsdeutschenwahlrecht“ hat es unter Geltung des RWahlG 1869 also nicht gegeben. Die Vorschriften zur Wählbarkeit kannten eine solche Wohnsitzklausel indessen nicht. Die Wählbarkeit folgte schon damals ausschließlich dem Schicksal der Staatsangehörigkeit nach BuStAG von 1870. Das vereinheitlichte Staatsangehörigkeitsrecht und damit auch die Volkszugehörigkeit waren im ausgehenden 19. Jahrhundert neben dem Grundsatz der Abstammung (ius sanguinis) allerdings noch geprägt vom allgemeingültigen Territorialprinzip.1907 So vermittelte das Ius soli des § 21 BuStAG eine für die aktive und passive Wahlberechtigung gleichermaßen geltende mittelbare Bindung des Wahlrechts an das Staatsterritorium insoweit, als das Recht zur Wahlteilhabe mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit bei zehnjährigem ununterbrochenen Aufenthalt im Ausland ebenfalls unterging. Um dieser Rechtsfolge zu entgehen, konnten sich die Auslandsdeutschen in die bei den Auslandsvertretungen (Bundeskonsulate) geführten Matrikel eintragen lassen. II. Wahlrecht und Reichsangehörigkeit vor und nach 1913 Wegen der engen Anknüpfung des Wahlrechts an das Staatsangehörigkeitsrecht sind auch dessen Entwicklungen für die hier erhebliche Thematik kurz in den Blick zu nehmen. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913

1905

Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 37. So auch BVerfGE 58, 202 (205). 1907 Näher Grawert, Staatsangehörigkeit, S. 78 ff. 1906

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(­RuStAG)1908 löste das bis dahin geltende Recht nach BuStAG ab. Der Gesetzesänderung gingen intensive Debatten voraus, die auf die bisherigen Missstände durch das BuStAG hingewiesen hatten.1909 Es zeigte sich nämlich, dass von der Möglichkeit der Eintragung in eine Konsulatsmatrikel seitens der Auslandsdeutschen, sei es aus Unkenntnis oder aus persönlicher Nachlässigkeit, kaum Gebrauch gemacht wurde. So ging die deutsche Staatsangehörigkeit nach länger währendem Auslandsaufenthalt mit der Folge der Staatenlosigkeit ohne oder gegen den Willen der Betroffenen verloren.1910 Hinzu trat ein infolge der Reichsgründung gewachsenes Nationalbewusstsein, im Zuge dessen die parlamentarischen Bestrebungen, Reichsangehörige im Ausland enger an das Reich zu binden, bereits im Jahr 1895 einsetzten.1911 Die als rückständig geltende mittelbare Territorialbindung aus den §§ 13, 21 BuStAG wurde daher aufgegeben. An seine Stelle trat in § 25 RuStAG der neu eingefügte Verlustgrund wegen Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit. Die damit zunächst vorsichtig vollzogene Abkehr vom Ius soli hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Wahlrecht. Indem § 25 RuStAG eine zeitliche Geltungsfrist der Staatsangehörigkeit für die dauerhaft im Ausland lebenden Reichsangehörigen nicht mehr vorgesehen hatte, ist auch die letzte bislang verbliebene Verknüpfung des – aktiven wie passiven – Wahlrechts mit der Sesshaftigkeit im Reichsgebiet entfallen. Unbeschadet dessen bestand aber für die aktive Wahlberechtigung das formelle Wohnsitzerfordernis des § 7 RWahlG 1869 unverändert fort.

C. Wahlrecht und Sesshaftigkeit in der Weimarer Zeit I. Historischer Hintergrund Infolge des durch die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg ausgelösten politischen Zusammenbruchs zerfiel die konstitutionelle Monarchie in Deutschland. Die sich anschließenden Wirren der im November 1918 ausgebrochenen Revolution zerstörten zwar nicht den Staat, wohl aber herrschten neue Machtverhältnisse. Der deutsche Staat, historisch erwachsen aus Reich und Einzelstaaten, blieb dem deutschen Volk als Existenzgrundlage erhalten. Der bisherige Reichskanzler Max von Baden übertrug das Kanzleramt am 9. November 1918 auf den Vorsitzen 1908

RGBl. 1913, S. 583. Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 42; Sartorius, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), Handbuch I, § 22 S. 259 ff. 1910 Vgl. Gesetzesbegründung Sten.Ber. RT, 1912, 1. Anl.-Bd., RT-Drs. Nr. 6, S. 16; Redebeitrag des Abg. Delbrück, Sten.Ber. RT, 1912, Bd. 1, S. 250 C / D; Redebeitrag des Abg. v. Liebert, ebd., S. 271 D. 1911 Vgl. Gesetzesbegründung zum RuStAG, in: Sten.Ber. RT, 1912, 1. Anl.-Bd., RT-Drs. Nr. 6, S. 15, mit zahlreichen Nachweisen vorheriger Initiativen; Sartorius, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), Handbuch I, § 22 S. 259, 266 f. 1909

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den der SPD Friedrich Ebert.1912 Damit war der Boden der alten Reichsverfassung verlassen. Für die Neuordnung Deutschlands fiel die Vorentscheidung noch im Jahr 1918 zugunsten eines liberaldemokratisch-parlamentarischen Verfassungsstaats.1913 Ohne hinreichende Legitimation1914 rief Philipp Scheidemann, ebenfalls Mehrheitssozialdemokrat, am 9. November 1918 die „Deutsche Republik“ aus. Indem sich der unter Ebert gebildete „Rat der Volksbeauftragten“ mit seiner auf Volkssouveränität gestützten Forderung nach gemeinsamen Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung durchsetzen konnte, triumphierte schließlich die demokratische Konzeption über das sowjetische Muster der Räteherrschaft. Grundlage der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung war die Verordnung des Rates der Volksbeauftragten über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 30. November 1918 (RWahlG 1918),1915 die sich gemäß § 26 selbst Gesetzeskraft beimaß. Nach Inkrafttreten der WRV wurde zum 27. April 1920 ein neues Reichswahlgesetz erlassen (RWahlG 1920).1916 II. Weimarer Wahlrecht 1. Aktives Wahlrecht § 2 des RWahlG 1918 sprach allen deutschen Männern und auch Frauen,1917 die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet hatten, das aktive Wahlrecht zu. Die Einführung des Frauenwahlrechts beruhte auf dem Regierungsprogramm und verwirklichte eine bereits im Jahr 1875 formulierte Forderung der Sozial­ demokraten.1918 Eine explizite Bindung an den Wohnsitz enthielt § 2 RWahlG 1918 nicht. Die Ausübung des Wahlrechts war aber gemäß § 10 RWahlG 1918 von der Eintragung in eine Wählerliste abhängig. Nach § 9 Abs. 1 RWahlG 1918 durften darin nur die im Wahlkreis wohnhaften Wahlberechtigten eingetragen werden.1919 Die Klausel diente der Erstellung eines ordnungsgemäßen Wählerverzeichnisses vor der Wahl1920 und hatte daher wie die Vorgängervorschriften aus dem Reichswahlrecht von 1869/1871 technische Sicherungsfunktion. Dementsprechend war auch der Begriff „wohnhaft“ ebenso auszulegen wie „Wohnsitz“ in § 7 RWahlG 1869, also im Sinne von bürgerlich-rechtlichem Wohnsitz oder dauerndem Aufenthalt.1921 1912

Näher Stern, Staatsrecht V, § 128 VI 6 (S. 494 f.). Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 742 ff. und 953 ff. 1914 Huber, Verfassungsgeschichte V, S. 695 f. 1915 RGBl. S. 1345. 1916 RGBl. S. 627 ff. 1917 Vgl. dazu Anschütz, Verfassung, Art. 22 S. 169; Heepe, Jura 1989, S. 232 ff. 1918 Vgl. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, 1. Reihe, Bd. 6/I, S. 222 mit Fn. 15. 1919 Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 345: „mitunter sehr bedeutende, aber recht unscheinbare Einschränkung“. 1920 Vgl. Braunias, Wahlrecht II, S. 97. 1921 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 45. 1913

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Eine Verordnung vom 28. Dezember 19181922 gestattete es aber wahlberechtigten Beamten und Arbeitern in Staatsbetrieben, die ihren dienstlichen Wohnsitz im Ausland hatten, sowie den wahlberechtigten Angehörigen ihres Hausstandes, sich auf Antrag in die Wählerliste der am nächsten gelegenen deutschen Gemeinde einzutragen, auch wenn die Auslegungsfrist verstrichen war. Die Aufnahme der Regelung in das Reichswahlrecht war eine politische Entscheidung und geschah auf Drängen der in Basel stationierten deutschen Eisenbahner.1923 Die Verordnung gilt als Vorbild für das in der Bundesrepublik mit § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG 1956 a. F. eingeführte Wahlrecht deutscher Bediensteter im Ausland.1924 Das Aufenthalterstimmrecht für Staatsbedienstete setzte sich fort in der Verordnung vom 13. Januar 1919,1925 die auch den Angehörigen des Heeres und der Marine, die vom 7. Januar 1919 an aus dem Felde heimkehrten, die Möglichkeit gegeben hatte, ohne Eintragung in eine Wählerliste aufgrund einer Bescheinigung am Orte ihres einfachen Aufenthaltes zu wählen. Zudem wurden die noch im Osten stationierten Truppenverbände mit Verordnung vom 21. Januar 19191926 über eine Nachwahl im Ausland an den Wahlen der Nationalversammlung mit der Entsendung zweier Abgeordneter beteiligt. Die knapp zwei Jahre später erlassene WRV bekräftigte die Garantie allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahlen für alle wahlfähigen Frauen und Männer nach den Grundsätzen der Verhältniswahl. Das bereits im RWahlG 1918 zum Ausdruck gekommene Regelungsverständnis setzte sich im RWahlG 1920 fort, indem die Wahlberechtigung zum Reichstag zwar grundsätzlich jedem am Wahltag mindestens zwanzig Jahre alten Reichsangehörigen zustand (§ 1), dessen Ausübung nach den §§ 11, 12 RWahlG 1820 aber an die Eintragung in eine Wählerliste oder Wählerkartei gebunden war. Diese erfolgte wie zuvor nur am Wohnsitz im Wahlbezirk. Auch hier diente die Klausel in erster Linie der Erstellung eines ordnungsgemäßen Wählerverzeichnisses vor der Wahl. Das geht recht eindeutig aus der Gesetzesbegründung zu § 3 RWahlG 1920 (Wählerlisten) hervor, wonach die Durchführung von Wahlen „einwandfreie Unterlagen zur Prüfung der Wahlberechtigung der Wähler“ erfordert.1927 Auch das Erfordernis gleichgroßer Wahlkreise spielte eine Rolle,1928 deren Einteilung in erster Linie anhand der gemeldeten Wohnbevölkerung erfolgte. Der Bestand der formellen Wohnsitzklausel war unstrittig; in den für die Beschlussfassung maßgeblichen parlamentarischen Beratungen vom 22. April 1920 wurde das Wort zu §§ 11 ff. RWahlG 1920 nicht ge-

1922

RGBl. S. 1479. Näher Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 46. 1924 So auch Spies, Schranken, S. 56; näher oben Erster Teil 2. Kapitel A. II. 1. 1925 RGBl. S. 32. 1926 RGBl. S. 93. 1927 Vgl. Gesetzesbegründung, Sten.Ber. RT, Bd. 342, RT-Drs. Nr. 2490, S. 2753. 1928 Sten.Ber. RT, Bd. 342, 168. Sitzung, 22. April 1920, S. 5331C; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 347 ff. 1923

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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wünscht.1929 Ohnehin war sich die Versammlung einig darin, die bisherige Rechtslage mit dem RWahlG 1920 soweit als möglich fortzusetzen.1930 Dessen ungeachtet sah der Regierungsentwurf in §§ 35 bis 39 RWahlG 1920 ursprünglich auch die Einführung eines Wahlrechts für Deutsche vor, die sich am Wahltag vorübergehend im Ausland aufhielten. Das gesamte Ausland sollte einen Wahlkreis bilden.1931 Die Stimmabgabe sollte mit Rücksicht auf die Souveränitätsrechte der Auslandsstaaten im Inland mit Wahlschein erfolgen.1932 Eine explizite Begründung für die Einführung dieses Auslandsdeutschenwahlrechts liefert die Gesetzesbegründung allerdings nicht. Während der Beratungen im Reichstag konnten sich jedoch weder der federführende Ausschuss1933 noch die Mehrheit des Parlaments1934 zu einer generellen Einführung des Auslandsdeutschenwahlrechts durchringen, was in erster Linie mit der unsicheren außenpolitischen Lage im Zusammenhang stand. Es wurde jedoch die Erwartung geäußert, dass sich die Regierung und der Reichstag dieses Themas so bald als möglich annehmen würden.1935 Hingegen wurden die zuvor im Verordnungswege zugestandenen Ausnahmen zugunsten der Staatsbediensteten im Ausland in § 11 Abs. 2 RWahlG 1920 grundsätzlich übernommen, allerdings unter der Beschränkung auf die in ausländischen Eisenbahngrenzorten stationierten Deutschen Bahnbeamten und -arbeiter.1936 Ferner enthielt die Reichswahlordnung vom 1. Mai 19201937 in ihrem § 5 eine Ausweitung des bislang nur für heimgekehrte Soldaten geltenden Aufenthalterstimmrechts auf große Teile der inländischen Bevölkerung, indem für die Ausstellung eines Wahlscheins auf Antrag auch der Aufenthalt am Wahltag außerhalb des bürgerlichen Wohnsitzes zum Zwecke eines bestimmten Berufs1938 oder der Kur oder Erholung genügte.1939 Zudem hielt § 6 RWahlG 1920 die Möglichkeit bereit, sich bei Wohnsitzverlegung von einem Wahlbezirk in einen anderen nach Ablauf der Frist zur Eintragung in die Wählerliste einen Wahlschein ausstellen zu lassen.1940 Die Regelungen der §§ 5 und 6 der Reichswahlverordnung gingen spä-

1929 Vgl. bei Aufruf durch den Reichstagspräsidenten, Sten.Ber. RT, Bd. 342, 168. Sitzung, 22. April 1920, S. 5354D. 1930 Das geht auch aus den Beratungen im Reichstag hervor, vgl. Sten.Ber. RT, Bd. 333, 168. Sitzung am 22. April 1920, S. 5332A, S. 5226C f. 1931 Vgl. Regierungsentwurf, Sten.Ber. RT, Bd. 343 RT-Drs. Nr. 2490, S. 2726 (2729). 1932 Vgl. Gesetzesbegründung Sten.Ber. RT, Bd. 343 RT-Drs. Nr. 2490, S. 2759. 1933 Vgl. Entschließung des 8. Ausschusses, Sten.Ber. RT, Bd. 343, S. 2984, RT-Drs. Nr. 2717 unter 3 lit. a. 1934 Zu den Plenarberatungen vgl. Sten.Ber. RT, Bd. 333, 168. Sitzung am 22. April 1920, S. 5331D, 5338D; zur abschließenden Abstimmung vgl. S. 5362C. 1935 Vgl. Sten.Ber. RT, Bd. 333, 168. Sitzung am 22. April 1920, S. 5331D, S. 5338D. 1936 Sten.Ber. RT Bd. 342, RT-Drs. Nr. 2490, S. 2757. 1937 RGBl. S. 49. 1938 Genannt waren insbesondere Schiffer, Flößer, Bahn- und Postbedienstete, Geschäftsreisende und Wahlhelfer. 1939 Zur Begründung vgl. Sten.Ber. RT Bd. 342, Anl., RT-Drs. Nr. 2490, S. 2754. 1940 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 49.

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ter in leicht geänderter Formulierung in § 12 Abs. 1 der Neubekanntmachung des Reichswahlgesetzes vom 6. März 1924 (RWahlG 1924)1941 auf. 2. Passives Wahlrecht Auch das unter der Weimarer Reichsverfassung geltende Wahlrecht sah eine Bindung des passiven Wahlrechts an einen Wohnsitz nicht vor. Zwar setzte die Wählbarkeit nach § 5 RWahlG 1918 und auch nach § 4 RWahlG 1820 im Unterschied zum RWahlG 1869 wieder die materielle Wahlberechtigung nach § 2 RWahlG 1918 bzw. später nach § 1 Abs. 1 RWahlG 1920 voraus.1942 Doch knüpfte diese selbst nicht, wie eben dargelegt, an ein konkretes Wohnsitzerfordernis an. Ein solches ergab sich allein aus den §§ 9, 10 Abs. 1 RWahlG 1918 bzw. §§ 3, 11 Abs. 1 RWahlG 1920, deren Vorschriften jedoch nicht dem materiellen, sondern allein dem formellen Wahlrecht zuzuordnen sind.1943 Dieser Punkt war auch während der Verhandlungen zum RWahlG 1920 unstrittig.1944 Wählbar waren somit auch deutsche Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz nicht im Deutschen Reich hatten. 3. Wahlrecht und Territorialität Insgesamt hatte sich im Weimarer Reichswahlrecht jedenfalls im Hinblick auf die Territorialbindung des Wahlrechts gegenüber der seit dem RWahlG 1849/1869 bestehenden Rechtslage nichts Grundlegendes geändert. Die aktive materielle Wahlberechtigung war von der Innehabung eines Wohnsitzes nicht abhängig. Schon gar nicht stand in irgendeiner Weise zur Debatte, dass eine solche Wohnsitzbindung für eine politische Vertrautheit mit den Verhältnissen im Wahlbezirk und so für eine reflektierte Wählerentscheidung bürgen könnte. Allein die Wahlausübung knüpfte fortgesetzt an einen Wohnsitz im Reichsgebiet an. So hielten die Reichswahlgesetze der Weimarer Zeit am formellen Wohnsitzerfordernis im Zusammenhang mit der Eintragung in eine Wählerliste fest.1945 Doch dies nicht mehr ausnahmslos. Die Zulassung von Staatsbediensteten mit Dienstwohnsitz im (grenznahen) Ausland sowie die getroffenen Ausnahmetatbestände für weitere Berufs- und Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf die Möglichkeit, das Stimmrecht innerhalb des Reichsgebietes mittels Wahlschein auch außerhalb 1941

RGBl. S. 159. Originaltext § 4: Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der am Wahltag fünfundzwanzig Jahre alt und seit mindestens einem Jahre Reichsangehöriger ist. 1943 Vgl. wie eben, näher auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 45, 50. 1944 Gesetzesbegründung Sten.Ber. RT, Bd. 343, RT-Drs. Nr. 2490, S. 2754; ebenso bei Aufruf durch den Reichstagspräsidenten, Sten.Ber. RT, Bd. 342, 168. Sitzung, 22. April 1920, S. 5354B. 1945 Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 345; allgemein Anschütz, Verfassung, Art. 22 S. 170 f. 1942

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des bürgerlichen Wohnsitzes auszuüben, bedeuteten eine deutliche Lockerung des zuvor kategorisch festgeschriebenen formellen Wohnsitzerfordernisses im Wahlrecht.

D. Unbedenklichkeit der Wohnsitzklauseln aus Sicht der Wahlrechtstheorie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts An dieser Stelle gilt es zu klären, warum die Bindung der Ausübung des aktiven Wahlrechts an die Voraussetzung des Wohnsitzes seit Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1869 – mit einigen geringfügigen Ausnahmen im RWahlG 1918/1920 – vor dem Postulat der Allgemeinheit der Wahl in den geltenden Verfassungsordnungen Bestand haben konnte. Antworten darauf liefert das staatstheoretische Fundament, auf das die Rechtsnormen zum aktiven und passiven Wahlrecht im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik gegründet waren. Die teils noch idealisierten Abbilder historisierter oder rationalisierter Staatsvorstellungen,1946 die das auf wenige Staatsbürger beschränkte Wahlrecht der frühkonstitutionellen Verfassungen noch rechtfertigen konnten, wurden den durch die Frankfurter Nationalversammlung angestoßenen Entwicklungen im Wahlrecht nicht mehr gerecht.1947 Das frühkonstitutionelle Wahlrecht hatte die Bindung an den lokalen Raum noch eigens bzw. durch den tatbestandlichen Bezug auf ein engmaschiges Geflecht von Vorschriften, etwa zur Gemeindebürgerschaft oder zum Gewerbewesen, materiell vorausgesetzt. Rückblickend betrachtet kann dafür als zentrales Argument die Sorge um das staatliche Wohl identifiziert werden, das im Hinblick auf die politische Beteiligung immer eine Auslese derjenigen erfordert hatte, denen das „Schicksal“ des Staates anvertraut werden durfte.1948 Spätestens mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch das RWahlG 1869 ist solchen besitzindividualistischen Auslesekriterien aber die normative Grundlage entzogen worden. In den Reichswahlgesetzen von 1869/1871, 1918 und 1920 wurde die wahlrechtliche Wohnsitzbindung über die zur Ausübung des Wahlrechts notwendige Eintragung in die Wählerliste der Wohnsitzgemeinde nur noch als Wahlausübungskriterium begründet. Die formelle Bindung des Wahlrechts an den Wohnsitz bezweckte hier keine Auslese mehr, sondern diente in erster Linie der zuverlässigen Erstellung eines gültigen Wählerverzeichnisses durch die Wahlbehörden und garantierte damit die nur einmalige Stimmabgabe eines jeden Wahlberechtigten in seinem Wahlbezirk.

1946

Dazu im Einzelnen oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. Zu Recht bezeichnet Stolleis die wissenschaftliche Behandlung der den Staat konstituierenden Fragen im Vormärz als „in hohem Maße politisiert“, vgl. ders., Geschichte II, S. 119. 1948 So auch Braunias, Wahlrecht II, S. 91; ähnlich Stolleis, Geschichte II, S. 112. 1947

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Wenngleich das auf Reichsebene mit dem RWahlG 1869 eingeführte allgemeine Wahlrecht breiten Bevölkerungsschichten die Möglichkeit zur politischen Teilhabe sicherte, waren aber die meisten deutschen Auslandsstaatsbürger1949 wegen der formellen Wohnsitzklausel nach wie vor daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Dies erschien jedoch unter Geltung der Reichsverfassung 1871 wie auch der Weimarer Reichsverfassung unbedenklich. Der Grund dafür kann in den herrschenden Anschauungen zur Rechtsnatur des Wahlrechts vermutet werden, die zunächst im Kaiserreich entwickelt und bis in die Weimarer Republik hinein Bestand hatten. Auf die wesentlichen Inhalte dieser Diskussion wird im Folgenden der Blick gerichtet (I.), bevor sodann die Auswirkungen auf die Zulässigkeit der wahlrecht­ lichen Wohnsitzklausel beleuchtet werden (II.). I. Rechtsanschauungen zum Wahlrecht Über die Rechtsnatur des (Reichs-)Wahlrechts gab es verschiedene Auffassungen. Für den hier interessierenden Zusammenhang von Wohnsitz und Wahlrecht unter Geltung der Reichsverfassungen von 1871 und 1919 sind zwei Lehren von Bedeutung: die vom Wahlrecht als Staatsfunktion und die vom Wahlrecht als subjektives öffentliches Recht. Hingegen spielten die naturrechtlichen Auffassungen vom Wahlrecht als angeborenes Gleichheitsrecht oder Privatrecht in der Diskussion um die Deutung des Wahlrechts im deutschen Raum keine Rolle1950 und werden hier deshalb nicht behandelt. 1. Wahlrecht als Staatsfunktion Die Lehre vom Wahlrecht als Staatsfunktion hat seine Vorbilder schon in der französischen Restaurationszeit und wurde vom Liberalismus als der herrschenden politischen Theorie des 19. Jahrhunderts auch in der deutschen Staatswissenschaft etabliert.1951 Schon Robert von Mohl referierte in seinen im Jahr 1874 erschienen „Kritischen Bemerkungen über die Wahlen zum Deutschen Reichstage“, dass die in der Reichsverfassung statuierte „Allgemeinheit des activen Wahlrechts nicht buchstäblich“ zu nehmen sei, sondern dass sie „aus genügenden Gründen Beschränkungen erleiden“ könne. Das einfache Gesetz, hier also das Reichswahlgesetz, dürfe der Verfassung zwar nicht entgegentreten, doch können einzelne Bestimmungen 1949 Zu den eher punktuellen Ausnahmen für die im Ausland (grenznah wohnhaften) Staatsbedienstete im Weimarer Wahlrecht ab 1918 bzw. 1920 vgl. oben Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 1950 Zu Recht betont Georg Meyer in seinem von Georg Jellinek im Jahr 1901 nach seinem Tode herausgebrachten Lehrbuch zum Wahlrecht, dass „die naturrechtliche Anschauung von den selbstverständlichen Rechten jedes Menschen, zu wählen, wohl kaum noch einen Vertheidiger finden [würde]“, vgl. G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S. 411; ebenso Poensgen, Wahlrecht, S. 10 f. 1951 Braunias, Wahlrecht II, S. 6; Heepe, Jura 1989, S. 232 (234).

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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der Verfassung, so von Mohl, durch eine gesetzliche Regelung eine „authentische Auslegung erhalten“. Außerdem sei es möglich, dass Gesetze „selbst Zusätze“ zu der Verfassung seien, falls sie [die Gesetze], „dem Wortlaute und dem Sinn der Verfassung nicht zuwiderlaufen“. So komme etwa in der Festlegung des Wahlalters auf die Vollendung des 25. Lebensjahres und dem Ausschluss von Frauen (§ 1 RWahlG 1871) der Gedanke des Wahlrechts als „öffentliche Funktion“ zum Ausdruck, „also die Beiziehung nur der „Befähigten“ zur Wahl im Interesse der Gesamtheit.1952 Bluntschli bekräftigt in der im Jahr 1885 erschienenen 6. Auflage seines Lehrbuchs zur Allgemeinen Staatslehre, dass das Stimmrecht „keineswegs ein natürliches Recht der Individuen [ist], sondern lediglich auf der Einrichtung des Staates [beruht], welcher auf (moralische) Tauglichkeit und die (geistige) Fähigkeit der Vertreter der Wähler Rücksicht zu nehmen veranlasst und die erforderlichen Garantien für zweckmäßige Wahlen zu ordnen berechtigt ist“.1953 Auch G. Meyer vertritt in seinem im Jahr 1901 erschienenen Lehrbuch zum Wahlrecht die verbreitete Auffassung, das Wahlrecht sei eine „öffentliche Funktion“, die Gesetzgebung daher dazu befugt, das Wahlrecht „nach ihrem Ermessen“ zu regeln, wobei lediglich „das Staatswohl als maßgeblich zu erachten“ sei.1954 Paul Laband führte im Jahr 1910 zu den Vorschriften zum Wahlrecht des Deutschen Kaiserreiches aus: „[…] daß sie weit weniger dem Zwecke dienen, das Interesse des einzelnen Wahlberechtigten zu schützen […] als vielmehr eine Sicherheit dafür zu gewähren, daß der Reichstag als ein für das Reich so wesentliches Organ den für seine Zusammensetzung aufgestellten Verfassungsprinzipien gemäß auch wirklich gebildet werde“. Hierzu passt die Feststellung Oskar Poensgens aus dem Jahr 1909, nach dem das Wahlrecht dem Einzelnen ausschließlich „im Interesse des Staates“ übertragen werde, „um diejenige Vertretung der Nation auszuwählen, welche am geeignetsten ist, die Gesamtinteressen der Nation wahrzunehmen“. Dieses Gesamtinteresse liege in der Erfüllung des Staatszwecks, nämlich die für den Bürger „größtmögliche Wohlfahrt“ herbeizuführen.1955 Und Albert Schäffle stellte bereits im Jahr 1894 fest, dass jeglicher Staatszweck nur durch eine Volksvertretung gewährleistet werden könne, die das Volk „vollständig und verhältnismäßig“ vertrete sowie „unabhängig und tüchtig“ sei. Allein daran habe sich auch die gesetzgeberische Ausgestaltung des Wahlrechts zu orientieren.1956 Dementsprechend sei das Wahlrecht, 1952 Vgl. mit Zitaten R. v. Mohl, Bemerkungen, S. 11 f, 17 f.; unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung ähnlich verbalisiert von Poetzsch-Heffter, Reichsverfassung, Art. 22 Nr. 3. 1953 Vgl. mit Zitat ders., Staatslehre II, S. 70. 1954 Vgl. ders., Wahlrecht, S. 411; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 40. 1955 Vgl. mit Zitaten Poensgen, Wahlrecht, S. 14. Darunter versteht Poensgen auch die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, vgl. ebd. S. 12 f.; in Bezug auf das Wahlrecht ebenfalls auf das „gemeine Interesse“ abstellend Schäffle, Kern- und Zeitfragen, S. 123. 1956 Vgl. Zitate bei Schäffle, ebd.; in diese Richtung auch Poensgen, ebd., S. 14 f. Ähnlich ­äußerte sich auch schon Abg. Riesser in der 177. Sitzung der konstituierenden Nationalversammlung vom 26.2.1849, abgedruckt in: Wigard (Hrsg.), Bericht VII, S. 5429: „Ich betrachte das Wahlrecht von vornherein viel weniger unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs der Einzelnen, als unter dem des Anspruches der Gesamtheit, die ein wahre Vertretung ihrer Interessen und Gesinnungen, ihrer Zwecke und Bedürfnisse verlangt.“

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

wie Laband meint, „überhaupt kein subjektives, im individuellen Interesse begründetes Recht, sondern lediglich der Reflex des Verfassungsrechts“. Für den Einzelnen bestehe daher nur „die bloße Möglichkeit zur Teilnahme an der Konstitution volksvertretender Organe, durch welche die im Volke vorhandenen Tendenzen und Bedürfnisse in rechtlich geordneter Weise zum Ausdruck gelangen sollen […]“.1957 Auch G. Jellinek hält an der Auffassung fest, wonach das Wahlrecht als subjek­ tives Individualrecht des Einzelnen nicht bestehe.1958 Vielmehr sei das in den Blick zu nehmende Individuum ein anderes. „Der Staat ist es, der wählt.“1959 Das Wahlrecht sei daher ein subjektives Recht des Staates. Allerdings habe der Einzelne einen Anspruch auf Anerkennung seiner Eigenschaft als Wähler, als Träger eines aktiven Status bei Ausübung der Wahl durch Stimmabgabe.1960 In dieser Anerkennung komme aber gerade nicht das Recht des Einzelnen zum Ausdruck, seinen Zettel in den Stimmkasten zu geben, sondern nur das Recht darauf, dass diese Stimme auch mitgezählt wird.1961 Allein dies ist bei G. Jellinek die individuelle Komponente des Wahlrechts, die auf die staatliche Pflicht zur Verschaffung bzw. Gewährung der rechtlichen Möglichkeit der wirksamen Stimmabgabe für den Einzelnen hinzielt. Sohin sei der individuelle Anspruch des Einzelnen auf Anerkennung als Wähler von der kollektiv verstandenen staatlichen Funktion des Wahlrechts zu trennen.1962 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Hans Kelsen, wenn er behauptet, dass die „Abgabe der Wahlerklärung seitens der Untertanen […] zweifellos als Bedingung, und zwar als notwendige Bedingung für die Realisierung des im objektiven Wahlrechtssatze erklärten Willens des Staates“ anzusehen sei. Dabei gelte die Abgabe der Wahlerklärung seitens der Untertanen im Verhältnis zu der durch diese Handlung ergänzungsbedürftigen und bedingten Staatspflicht „ungezwungen als ‚Anspruch‘ des Wählers an den Staat“, den Stimmzettel in Empfang zu nehmen.1963 Schließlich folgert auch Carl Schmitt aus dem politischen Prinzip der Demokratie in der Weimarer Republik, dass das Wahl- und Stimmrecht „nicht das Recht in dem Sinne“ sei, „daß es zur freien Verfügung des Einzelnen“ stünde. Es sei aber auch nicht „Reflex des Verfassungsgesetzes, sondern eine öffentliche Funktion“1964. Dementsprechend seien Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl insofern zulässig, als sie sich aus „dem Wesen des Wahlrechts selbst“ ergeben würden.1965 1957

Vgl. mit Zitaten Laband, Staatsrecht I, § 34 S. 331. Vgl. G. Jellinek, System, S. 159. 1959 G. Jellinek, System, S. 160; aufgegriffen von Braunias, Wahlrecht II, S. 9. 1960 Vgl. G. Jellinek, System, S. 160 f. 1961 So Arnold, Wahlpflicht, S. 47. 1962 Vgl. Hatschek, Parlamentsrecht I, S. 350. 1963 Kelsen, Hauptprobleme, S. 679, 680 mit Fn. 1, wobei ders. betont, dass aus der „‚öffentlichen Natur‘ des Wahlaktes“ noch nicht auf dessen „Pflicht-Natur“ (Wahlpflicht) geschlossen werden könne, vgl. ebd. S. 681 f.; dazu auch Arnold, Wahlpflicht, S. 43 ff. 1964 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 254; ebenso Giese, Verfassung, Art. 22 Nr. 1 (S. 89): „organische Funktion“. 1965 Leibholz, Gleichheit, S. 29; ebenso Poetzsch-Heffter, Reichsverfassung, Art. 22 Nr. 2 (S. 163): zulässig seien demnach – freilich ohne nähere Konkretisierung – „Ausschlüsse“, „Ruhen des Wahlrechts“ und „Behinderungen in der Wahlausübung“. 1958

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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In der rechts- und staatswissenschaftlichen Literatur hatte sich somit die jakobinische Staatslehre der französischen Revolution, die das Wahlrecht in das Gesamtinteresse des Staates gestellt hatte,1966 gegenüber der naturrechtlichen Auffassung, nach der das Wahlrecht „allen Menschen, Männern und Frauen […] zugesprochen werden müsste“,1967 durchgesetzt und etabliert. Das schlug sich auch in der Rechtsprechung des Reichsstaatsgerichtshofs zur Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung nieder. In mehreren Entscheidungen bekräftigte das Gericht zwar die Bedeutung der Allgemeinheit der Wahl,1968 wonach der Wahlrechtsgrundsatz nicht allein den Ausschluss aller Beschränkungen, die in der Person des Wählers liegen, fordere, sondern darüber hinaus auch, „daß die Wahlberechtigung nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden“ dürfe, „die nicht jeder Deutsche im wahlfähigen Alter erfüllen“ könne.1969 Im Hinblick auf die Rechtfertigung von Einschränkungen formulierte der Staatsgerichtshof aber etwa in einer Entscheidung vom 21. November 1930 den Grundsatz, dass „der Verfassungsgeber dem Gesetzgeber des Reichswahlgesetzes eine gewisse Freiheit in der Entschließung […], einen gewissen Spielraum für dringend notwendige Abweichungen eingeräumt“ habe. Beim Grundsatz der allgemeinen Wahl sei dies „unbestritten“,1970 treffe aber auch für den Grundsatz der gleichen Wahl zu. Ob und inwieweit „Abweichungen von den einzelnen Wahlgrundsätzen im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit ihm verfolgten staatspolitischen Ziele geboten“ seien, habe „der ordentliche Gesetzgeber zu entscheiden“. Seinen Entschließungen könne der Staatsgerichtshof, „wenn überhaupt, so doch jedenfalls nur dann entgegentreten, wenn sie offensichtlich der inneren Rechtfertigung entbehrten und wenn von ihnen deshalb mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie dem in der Verfassung zum Ausdruck gelangten Willen des Verfassungsgebers zuwiderlaufen.“1971 Dazu zähle auch, dass der Staatsgerichtshof „die Richtigkeit der vom Gesetzgeber vorgenommenen Wertungen nicht nachzuprüfen“ habe. Er habe nur zu prüfen, ob die Abweichung als „übermäßig“ zu beanstanden sei.1972 1966

Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 864; Braunias, Wahlrecht II, S. 6. Vgl. Pönsgen, Wahlrecht, S. 14 mit Zitat; ebenso v. Mohl, Bemerkungen, S. 17 f.; G. Meyer / ​ G. Jellinek, Wahlrecht, S. 411. 1968 RStGH, Urteile v. 17.12.1927, Lammers / Siemon (Hrsg.), RStGH I, S. 398 (MecklenburgStrelitz); ebd. S. 341 (Hamburg); ebd. S. 329 (Hessen); Urt. v. 22.6.1928, ebd. S. 356 (Mecklenburg-Schwerin); Urt. v. 7.7.1928, ebd. S. 321 (Baden). 1969 Lammers / Simons (Hrsg.), RStGH I, S. 329 (338). 1970 Der Prozessvertreter der Preußischen Staatsregierung führte dazu in der mündlichen Verhandlung 14.2.1930 zum Grundsatz der allgemeinen Wahl aus, dass die darin enthaltenen Forderung zur Wahlteilhabe grundsätzlich aller Staatsbürger stets unter dem Vorbehalt „gewisser Einschränkungen“ nach dem Reichswahlgesetz stünde, etwa im Hinblick auf Soldaten, deren Wahlrecht ruht, solange sie beim Heer sind und der Ausschluss vom Wahlrecht für „Zucht­ häusler“, vgl. Bumke (Hrsg.), 2. Heft, S. 56 f. mit Zitaten. 1971 RStGH, Entsch. v. 21.11.1930, – StGh. 12/28, abgedr. in: Bumke (Hrsg.), 2. Heft, S. 14, 15 mit Zitaten; dazu auch Jacobi, in FG Schmidt, S. 59 (73). 1972 RStGH, Entsch. v. 21.11.1930, -StGh. 12/28, abgedr. in: Bumke (Hrsg.), 2. Heft, S. 16 mit Zitaten. 1967

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

2. Wahlrecht als subjektives öffentliches Recht Die Auffassung vom Wahlrecht als Staatsfunktion und Reflex des Verfassungsrechts rührt keineswegs aus antidemokratischer oder antiliberaler Gesinnung, sondern entspringt dem Bestreben, die Stimmabgabe der Wähler nicht an privaten Interessen, sondern auf das Gemeinwohl auszurichten.1973 Dagegen erschien die von Otto Mayer begründete Lehre vom Wahlrecht als ein echtes subjektives öffentliches Recht als Mindermeinung. Er sah im Wahlrecht die Macht, durch Stimmabgabe an der Bestellung von Trägern der öffentlichen Gewalt mitzuwirken. „Daß die Staatsbürger durch die Wahl zur Geltung kommen, ist zum öffentlichen Wohl eingerichtet; daß sie dabei ihre eignen Meinungen über das, was dem Staate, der Gemeinde frommt, entscheiden lassen dürfen, das gehört zum subjektiven Recht.“1974 Julius Hatschek pflichtete dem bei, wenngleich er ergänzend anfügte, dass sich „dies Mitbestimmungsrecht oder Mitwirkungsrecht unter Leitung und in den von den Verwaltungsbehörden genau zu beobachtenden Formen vollziehen“ müsse.1975 Insofern unterscheidet Hatschek die Wahlhandlung, die ein Kollektivakt der Wähler sei und unter staatlicher Kontrolle und Leitung ausgeübt werde, von der individuellen Stimmabgabe. Dabei sei der Mitwirkungsakt der staatlichen Behörden absolut wesentlich. Hatschek zählt hierzu etwa die amtlichen Wahlvorbereitungshandlungen, z. B. die Feststellung und Bestätigung der Wahlberechtigung, das Entgegennehmen und Auswerten der Stimmzettel durch den örtlichen Wahlvorstand sowie die Feststellung des Stimmergebnisses.1976 Ohne die staat­liche Mitwirkung wäre die Kollektivhandlung der Wählerschaft „null und nichtig“. Innerhalb des von den Behörden zu vollziehenden gesetzlichen Wahlverfahren komme dann aber der Stimmabgabe – entsprechend der Formel Otto Mayers1977 als Teilnahme am Mitbestimmungsrecht über andere  – subjektiv-rechtlicher Charakter zu.1978 Auch Fritz Stier-Somlo differenzierte zwischen kollektiver Wahlhandlung und individueller Stimmabgabe. Zwar sei der Wähler unentbehrlicher Mittler zur Schaffung der im staatlichen Interesse liegenden Volksvertretung, jedoch deshalb noch kein Organ des Staates. Daher sei auch das Wahlrecht nicht bloße Zulassung zu einer Tätigkeit als Staatsorgan, sondern Ausübung einer staatsrechtlichen Befugnis des Einzelnen, an der Bildung des Staatswillens mittelbar teilzunehmen.1979 Denn die politische Teilhabe des Einzelnen sei „das geschichtlich, logisch und tatsächlich Primäre, die [Anm: objektive] Form, in der dies geschieht, das Sekundäre“. Erst durch die Erhebung der Befugnis zur Mitbestimmung an der Staats 1973

Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 864 mit Verweis auf die Arbeiten von Laband und Jellinek; dazu auch Stier-Somlo, Wahlrecht S. 10 f. 1974 Vgl. ders., Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 113 f. mit Fn. 12. 1975 Vgl. Hatschek, Parlamentsrecht I, S. 350; ders., Staatsrecht I, S. 388. 1976 Hatschek, Parlamentsrecht I, S. 354. 1977 Vgl. oben, Fn. 1975. 1978 Hatschek, Parlamentsrecht I, S. 350 f.; ders., Staatsrecht I, S. 388, 390; ebenso Walter Schreiber, Wahlrechtsgrundsätze, S. 16. 1979 Vgl. Stier-Somlo, Wahlrecht, S. 15 f.; ihm folgend Braunias, Wahlrecht II, S. 8.

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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gewalt „zu einem Rechte“ werde dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben, „als parlamentarisches Mittelwesen“ aufzutreten.1980 Das war bei Annahme eines rein objektiven Wahlrechtsverständnisses, das lediglich der Anerkennung des Einzelnen als Wähler subjektiven Rechtscharakter beimaß (G. Jellinek), noch nicht der Fall. Dementsprechend verortete Stier-Somlo jedenfalls die Wahlfreiheit und das Wahlgeheimnis bei staatlichen und kommunalen Wahlen auch bei den „politischen Grundrechten“.1981 Diese Auffassung vermochte sich jedoch auch unter Geltung der demokratischen Reichsverfassung in Weimar nicht durchzusetzen. Trotz begrifflicher Trennung zwischen subjektivem Wahlrecht und öffentlicher Wahlfunktion,1982 trat die subjektiv-rechtliche Komponente im Konfliktfall hinter der objektiven Funktion des Wahlrechts und der damit einhergehenden Bestimmungsmacht des Gesetzgebers nach der herrschenden Auffassung im Schrifttum zurück. So wurde die Grundauffassung Otto Mayers, wonach das subjektive öffentliche Recht den Einzelnen im Status activus in die Lage versetze, „rechtliche Macht über die Öffentliche Gewalt auszuüben“,1983 insbesondere von Gerhard Anschütz ausdrücklich verworfen. Denn es sei „der Staat […] der über die Individuen [herrscht], nicht aber die Individuen über den Staat […]“.1984 Im Weiteren formuliert G. Anschütz eng angelehnt an der These G. Jellineks,1985 dass die Individuen bei Ausübung politischer Rechte gegenüber dem Staat „nur verlangen [können], als staatliche Organe anerkannt oder zur Bildung staatlicher Organe zugelassen“ zu werden. „Herrschaftsrechte“, so konfrontiert Anschütz die Formulierung O. Mayers zum subjektiven öffentlichen Recht, „üben sie (Anm: die Wähler) nur gegenüber den Untertanen aus, und auch diese Herrschaftsrechte stehen ihnen nicht persönlich zu, sondern dem Staat“.1986 So habe auch der Staat das gesetzliche Zustandekommen der Wahl gegen „jeden trügerischen Durchbruch“ der im Wesen des Wahlrechts begründeten Bedingung, wie „physische und geistige Reife, sittliche Würde u. a.“ zu schützen, weil der Wähler nicht nur für sich allein, sondern für das ganze Volk wähle.1987 In der Konsequenz standen die gesetzlichen Einschränkungen des Wahlrechts vor allem im Interesse der staatlichen Demokratie und der objektiven Funktionsfähigkeit des mit der Wahl konstituierten Parlaments.

1980

Stier-Somlo, Wahlrecht, S. 17 mit Zitaten. Vgl. ders., Verfassung, S. 102. 1982 Stier-Somlo, Wahlrecht, S. 16. 1983 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 110, 112 ff. mit Zitat. 1984 Vgl. Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 38 mit Fn. 6. 1985 Vgl. oben, Nachweis bei Fn. 1961. 1986 Vgl. Meyer / Anschütz, ebd. mit Verweis auf G. Jellinek, System, S. 52. 1987 Vgl. Arnold, Wahlpflicht, S. 43 mit Zitat. 1981

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

II. Auswirkungen auf das wahlrechtliche Wohnsitzprinzip Dem im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschenden Verständnis vom Wahlrecht als eines rein objektiven Rechts lag im Wesentlichen der identische Anknüpfungspunkt zugrunde: Die Befugnis des Wählers zu wählen sei kein subjektives öffentliches Recht, sondern bloße Funktion des Staates oder Reflex des Verfassungsrechts.1988 Insofern blieb das objektive Interesse des Staates bei Ausgestaltung des Wahlrechts auch der maßgebliche Leitgedanke. Wenngleich der Ansatz Otto Mayers, der das Wahlrecht als echtes subjektives Recht des Einzelnen begriffen hatte, in Teilen der Staatsrechtslehre im Vordringen befindlich war,1989 konnten gesetzgeberische Einschränkungen des Wahlrechts in erster Linie aus Gründen des Staatswohls, dessen Interpretation weitestgehend dem Gesetzgeber überlassen blieb, nach wie vor als zulässig gelten.1990 Unter Geltung eines rein objektivierten Wahlrechtsverständnisses waren gesetzliche Wahlzugangs- und Ausübungsbeschränkungen mit Verweis auf öffentliche Interessen ohne Weiteres rechtfertigungsfähig.1991 Gerade aber die Unbestimmtheit des Staatswohlbegriffes1992 führte dazu, dass so trotz verfassungsrechtlich festgeschriebener Allgemeinheit der Wahl einzelne Personengruppen vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben konnten.1993 Die Handhabe der Weimarer Wahlrechtsgrundsätze durch den Reichsstaatsgerichtshof brachte dies besonders zum Ausdruck. Das Gericht erkannte die Wahlrechtsgrundsätze in ihrer absoluten und formalen Bedeutung zwar an,1994 doch deswegen vermittelten sie noch kein an den Gesetzgeber adressiertes verfassungsrechtlich geschütztes und zu schützendes „Recht“ auf politische Teilhabe des Einzelnen. Ihre normative Wirkung beschränkte sich auf die strikte Bindung der Wahlbehörden. So dürfte auch die im Zuge der weiteren Wahlrechtsentwicklung festgestellte Ausweitung des Wahlrechts, insbesondere die Erstreckung

1988

Walter Schreiber, Wahlrechtsgrundsätze, S. 16. Vgl. Einschätzung von Walter Schreiber, ebd. 1990 Vgl. unter Geltung der Reichsverfassung statt vieler Bluntschli, Staatslehre II, S. 70; G. Meyer / G. Jellinek, Wahlrecht, S.  411; G. Jellinek, System, S. 160 f.; Poensgen, Wahlrecht, S. 12 ff.; unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 254; Kelsen, Hauptprobleme, S. 679 f.; Giese, Verfassung, Art. 22 Nr. 1 (S. 89). 1991 Vgl. etwa Poetzsch-Heffter, Reichsverfassung, Art. 22 Nr. 3. Zu diesem Schluss gelangt auch Walter Schreiber, Wahlrechtsgrundsätze, S. 14, der der Lehre vom objektiven Wahlrecht allerdings kritisch gegenübersteht. 1992 Vgl. dazu noch im Jahr 1929 räsonierend v. Weber, in: Liebmann (Hrsg.), FG zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. 5, S. 173 (194, 196): Der „Staatswohlbegriff“ sei „im höchsten Maße und ganz besonders in Deutschland streitig“. Seine Bestimmung sei „objektiv unmöglich“. Denn er werde „maßgebend von der Regierung bestimmt“; darauf Bezug nehmend auch BGH, NJW 1966, S. 1227 (1280); kritisch zur Bestimmung des Staatswohlbegriffs auch Arnold, Wahlpflicht, S. 53. 1993 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 40. 1994 Vgl. RStGH, Entscheidung v. 17.2.1930, StGH 12/28, RGZ 128, abgedruckt bei Lammers  / ​ Simons (Hrsg.), RStGH IV, S. 132 (139); näher auch Anschütz, Verfassung, Art. 17 S. 128 mit Anm. 1. 1989

6. Kap.: Die weitere Wahlrechtsentwicklung im deutschen Raum

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des Wahlrechts auf Frauen sowie die Zulassung deutscher Auslandseisenbahner im Grenzgebiet sowie einiger im Ausland stationierter Truppenverbände zur Wahl durch das RWahlG 1920, nicht auf dem Bewusstsein einer irgendwie gearteten gesetzgeberischen Verpflichtung zum Schutz und zur Aufrechterhaltung politischer Individualrechte des Einzelnen basiert haben. Vielmehr galt es, veränderte gesellschaftliche Anschauungen umzusetzen, etwa zum Bild der Frau in der Gesellschaft1995 oder zur Bedeutung der Mobilität durch Eisenbahnen.1996 Zwar liegen explizit zur Gültigkeit der formellen Wohnsitzklausel im Reichswahlgesetz soweit ersichtlich keine Entscheidungen der deutschen Reichsgerichte vor. Wenn aber die Bestimmung über die materielle Wahlberechtigung nach Maßgabe des öffentlichen Wohls vom Ermessen des Gesetzgebers gedeckt war,1997 musste dies erst recht für den Ausschluss von Auslandsdeutschen vom Wahlrecht durch formelle Wohnsitzklauseln gelten.1998 Denn es galt als ausreichend, dass die mit den Wohnsitzklauseln bewirkte individuelle Beschränkung des Wahlrechts im Lichte der objektiven Wahlzwecke und des in der Weimarer Reichsverfassung verankerten allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes gerechtfertigt war.1999 Die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe nach Maßgabe eines durch die Wahlbehörden aufzustellenden Wählerverzeichnisses2000 lag jedenfalls im öffentlichen Interesse. Zudem kommt zum Tragen, dass mit dieser Modalität der Wahlrechtsausübung nicht eine bestimmte Schicht oder Gruppe von Wahlberechtigten privilegiert oder benachteiligt wurde. Das wahlrechtliche Sesshaftigkeitserfordernis trifft vielmehr

1995

Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, 1. Reihe, Bd. 6/I, S.222; vgl. auch Sten.Ber. RT, Bd. 342, 168. Sitzung, 22. April 1920, S. 5336D; mit Bezug auf die älteren Programme der politischen Parteien Heepe, Jura 1989, S. 232 (236 ff.); Giese, Verfassung, Art. 22 Nr. 1 (S. 89 f.): Wahlrecht der Frauen entspreche „alten sozialdemokratischen Forderungen“. 1996 Anders Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 41, der mit Verweis auf die gesetz­ lichen Lockerungen im Weimarer Wahlrecht davon ausgeht, dass sich die Auffassung von der Natur des Wahlrechts als echtes subjektives Recht bereits unter Geltung der WRV habe durchsetzen können. Ausweislich der seinerzeit geltenden Rechtslage (vgl. oben Zweiter Teil 6. Kapitel C) war dies für das Wahlrecht nicht der Fall. Trotz der diesbezüglichen Ansätze von O. Mayer, Hatschek oder Stier-Somlo stand der objektive Funktionsgedanke des Wahlrechts im allgemeinen Bewusstsein auch nach 1918/1920 zentral im Vordergrund, ebenso Heepe, Jura 1989, S. 232 (234 f.). 1997 Zu erwähnen sind insbesondere die unter der Funktionslehre des Wahlrechts gerecht­ fertigten Wahlrechtsausschlüsse von Frauen (§ 1 RWahlG 1869), Konkursschuldnern und Empfängern öffentlicher Armenunterstützung gemäß § 3 Nr. 2 und 3 RWahlG 1869, näher Spies, Schranken, S. 117 ff. m. w. N. auch aus den Ländern. Wenngleich sich der Gesetzgeber nach 1918 zur Aufhebung dieser Beschränkungen bekannt hatte, blieb die maßgebliche Lehre vom Wahlrecht als Staatsfunktion wie dargelegt auch unter Geltung der WRV herrschend. 1998 Vgl. Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 40 f. 1999 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 345. 2000 Dieser Gedanke blieb seit der entscheidenden Abstimmung in der Frankfurter Nationalversammlung zur Verabschiedung des BWahlG 1849 (dazu vgl. oben Zweiter Teil 5. Kapitel C. I. 2. b)) im Deutschen Reich und der Weimarer Republik unangefochten, vgl. näher Zweiter Teil 6. Kapitel B. I. und Zweiter Teil 6. Kapitel C. II.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

alle Berufsgruppen oder Klassen gleichermaßen.2001 So wurde die Wohnsitzklausel als Wahlausübungsbedingung weithin unbeanstandet gelassen.2002 Selbst die Vertreter der Lehre vom Wahlrecht als echtes subjektives Recht erhoben gegen den Wahlwohnsitz soweit ersichtlich keine Einwände, sondern akzeptierten ihn als formelles Wahlausübungskriterium im Sinne des Reichswahlgesetzes.2003 Demnach konnten wahlrechtliche Wohnsitzklauseln auch unter der Weimarer Reichsverfassung als unbedenklich gelten.

E. Zusammenfassung In den der Restauration nach dem Scheitern der Nationalversammlung folgenden Epochen setzte sich das allgemeine und gleiche Wahlrecht durch. Sämtliche vormaligen Beschränkungen des aktiven wie passiven Wahlrechts wurden durch Otto von Bismarck bereits im Norddeutschen Bund abgebaut. Auch im Deutschen Reich blieb es bei der Anknüpfung des allgemeinen Wahlrechts an ein Mindestwahlalter sowie beim Erfordernis der Staatsangehörigkeit. Soweit das Staats­ angehörigkeitsrecht in den Regelungen zu den Verlustgründen der Staatsangehörigkeit noch eine Territorialbindung aufgewiesen hatte, war diese mit dem Erlass des RuStAG im Jahr 1913 entfallen. Das aktive Wahlrecht hielt zusätzlich am formellen Erfordernis des Wohnsitzes bzw. des dauernden Aufenthaltes fest. Die Wohnsitzbindung diente der zuverlässigen Erstellung eines Wählerverzeichnisses, mit dem sichergestellt werden konnte, dass jeder seine Stimme nur einmal abgibt. Das konnte nach Maßgabe der damaligen Rechtsauffassungen zum Wahlrecht als zulässig gelten. Auch für die Bestimmung der einzelnen Wahlkreisgrenzen kam dem Wohnsitzprinzip maßgebliche Bedeutung zu und wurde nicht in Frage gestellt. Erst die Reichswahlgesetzgebung nach 1918 lockerte diese Einschränkung durch die Einrichtung einiger Ausnahmetatbestände zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen im In- und Ausland, ohne aber den wahltechnischen Charakter des Wohnsitzerfordernisses grundsätzlich in Frage zu stellen. Mit der formellen Beschränkung des Weimarer Wahlrechts auf Inlandsdeutsche bzw. die im grenznahen Ausland wohnhaften Staatsbediensteten sollte indessen zu keinem Zeitpunkt die Vertrautheit des Wählers mit den politischen Verhältnissen und damit eine reflektierte Wahlentscheidung sichergestellt werden. Auch aus den Beratungen zum 2001 Vgl. Cahn, in: Stengel / Fleischmann (Hrsg.), Wörterbuch III, S. 848 (849 f.); diesen Gedanken griff auch Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5) bei der Diskussion um die Zulässigkeit von Sesshaftigkeitsklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland auf, vgl. oben im Ersten Teil 3. Kapitel D. I. 2002 Vgl. etwa bei Sartorius, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), Handbuch I, § 24, S. 283 mit Fn. 12; Meyer / Anschütz, Lehrbuch, S. 352; Finger, Staatsrecht, S. 272. 2003 Vgl. etwa Hatschek, Staatsrecht I, S. 393 f.; Stier-Somlo, Verfassung, S. 135. Hierbei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass der Wohnsitz bzw. der gewöhnliche Aufenthalt zum Zeitpunkt der Wahl das einzige (formelle) Zuordnungskriterium der Wähler zu einem bestimmten Wahlkreis gewesen ist. Das Instrument der Briefwahl bestand seinerzeit noch nicht.

7. Kap.: Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

359

RWahlG 19202004 trat an keiner Stelle der Gedanke hervor, die „Heimatbindung“ des Wählers zum Sinn und Zweck der Wahlberechtigung oder der Eintragung in eine Wählerliste zu erheben. 7. Kapitel

Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht Hier endet der Streifzug durch die deutsche Wahlrechtshistorie. Anhand der vorstehenden Ausführungen sind im Folgenden die notwendigen Schlussfolgerungen für das geltende Bundeswahlrecht zu ziehen. Konkret wird die Traditionsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Inlandsbindung im Wahlrecht einer erneuten Bewertung zugeführt (A.), bevor der gegenwärtig geltenden Wahlzugangsbedingung „hinreichende Vertrautheit“ die Ergebnisse der historischen Untersuchung gegenübergestellt werden (B.).

A. Erneute Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur traditionellen Inlandsbindung Gemessen an den hier gewonnenen Erkenntnissen erscheint der Verweis auf konkrete historische Sesshaftigkeitsklauseln in den grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 19732005 und vom 7. Oktober 19812006 sowie seinen weiteren Entscheidungen2007 zur traditionellen Rechtfertigung der Wohnsitzklauseln im Bundeswahlgesetz in neuem Licht. Den ersten grundlegenden Unterschied zwischen den historischen Wahlrechtsnormen und dem BWahlG 1956 erkannte das Bundesverfassungsgericht bereits selbst.2008 Die Sesshaftigkeitsklauseln unter Geltung des RWahlG 1869 sowie RWahlG 1918 und RWahlG 1920 betreffen nicht die materielle Berechtigung, sondern allein die formelle Ausübung des Wahlrechts.2009 Damit stellte das Gericht die für das Wahlrecht wesentliche Unterscheidung zwischen Inhaberschaft und Ausübung zwar terminologisch fest, einen Rückschluss auf die im heutigen Wahlrecht veränderte materielle Qualität der damals bloß formellen Sesshaftigkeitsklausel hat es allerdings nie gezogen. 2004

Vgl. Nachweise oben bei Fn. 1933–1937. BVerfGE 36, 139 (141) – Art. 22 WRV. 2006 BVerfGE 58, 202 (205) – § 7 RWahlG 1869. 2007 Vgl. insbesondere BVerfGE 67, 146 (148); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 2008 Vgl. BVerfGE 36, 139 (142). 2009 Für § 7 RWahlG 1869 oben Zweiter Teil 6.  Kapitel  B. I. 1.; Laband, Staatsrecht I, § 34 S. 311; für die RWahlGe unter Geltung der WRV vgl. oben Zweiter Teil 6. Kapitel C. II. 1.; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 48 f. 2005

360

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Der Unterschied ist jedoch erheblich. Zwar erkennt das Gericht den bloß formellen Charakter der in Bezug genommenen historischen Wohnsitzbindung, doch ignoriert es deren materielle Wirkung im Bundeswahlgesetz. Während die historischen Wohnsitzklauseln allein Einfluss auf das Wahlverfahren hatten, berührt § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG den freiheitlichen Kerngehalt des Wahlrechts, indem die Sesshaftigkeit den Kreis der Wahlberechtigten von vornherein beschränkt. Das Gericht hat darüber hinaus unbeachtet gelassen, dass den historischen formellen Sesshaftigkeitsklauseln gegenüber der materiellen Wohnsitz- und Aufenthaltsbindung des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ein ganz anderer Zweck zugrunde lag. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Wohnsitzklauseln sowohl des § 7 RWahlG 1869 als auch der unter dem Regime des Art. 22 WRV geltenden §§ 9, 10 Abs. 1 RWahlG 1918 bzw. §§ 3, 11 Abs. 1 RWahlG 1920 nicht bezweckten, eine gesonderte Verbundenheit des Wählers mit seinem Heimatstaat oder gar seinem Heimatwahlkreis zu gewährleisten. Vielmehr zielten die Regelungen ihrem historischen Vorbild, dem § 11 RWahlG 1849, entsprechend allein auf die formelle Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe.2010 Demgegenüber wurde im Ersten Teil dieser Untersuchung herausgearbeitet, dass die materielle Inlandsbindung des heutigen § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG spätestens seit Einführung der Briefwahl diesen historischen Sicherungszweck zumindest nicht mehr in erster Linie verfolgen kann. Zum Zeitpunkt der Entscheidungen aus den Jahren 1973 und 1981 impliziert die gesetzliche Regelung vielmehr bereits die Absicht, das zur Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung erforderliche Mindestmaß an Vertrautheit und persönlicher Bindung des Wählers an „seine“ Bundesrepublik zu sichern. Unter Berücksichtigung der deutschen Teilung konnte nur mit diesem Argument der Zugang der Staatsbediensteten mit dienstlichem Auslandswohnsitz am Wahltag zur Wahl begründet werden.2011 Die Zwecke der jeweils vom Gericht verglichenen Normen zeigen damit in völlig verschiedene Richtungen. Den im Reichswahlrecht verankerten Sesshaftigkeitsklauseln ging es um die Gewährleistung eines unverfälschten Wahlergebnisses unter Ausschluss der mehrfachen Stimmabgabe. Weil die historischen Wahlgesetze die Stimmabgabe per Post nicht kannten, blieb die Anknüpfung der Stimmabgabe an den (ursprünglich festen) Wohnsitz bzw. den Aufenthalt im Wahlbezirk die einzige Möglichkeit zur wirksamen Erreichung dieses Zwecks. Die Mehrfachstimmabgabe wird heute aber nicht mit dem Sesshaftigkeitserfordernis nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG, sondern mit der in § 14 Abs. 4 BWahlG i. V. m. § 16 BWO geforderten Eintragung in das Wählerverzeichnis ausgeschlossen.2012 Dafür bildet heute gemäß § 16 Abs. 2 BWO das Melderegister nach Bundesmeldegesetz den ersten, aber nicht einzigen Anknüpfungspunkt. Nach § 16 Abs. 2 BWO sind auf Antrag auch Wahlberechtigte in das Wählerverzeichnis aufzunehmen, die nicht im Melderegister verzeichnet sind. Das betrifft insbesondere Personen, die, ohne 2010

Dazu oben Zweiter Teil 5. Kapitel C. I. 2. b). BVerfGE 36, 139 (143); Seifert, Bundeswahlrecht, § 12 Rn. 12; näher oben Erster Teil 2.  Kapitel A. II. 1. 2012 Vgl. Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 14 Rn. 5. 2011

7. Kap.: Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

361

eine Wohnung im Inland innezuhaben, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Wahlgebiet haben (§ 16 Abs. 2 Nr. 1 lit. b BWO) sowie – unter den Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG – Deutsche mit Sitz im Ausland.2013 Die Eintragung im Wählerverzeichnis ist ein Element der formellen Wahlrechtsausübung und lässt den materiellen Bestand des Wahlrechts unberührt. Im Unterschied dazu präformiert das in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG geregelte Sesshaftigkeitserfordernis die materielle Wahlberechtigung selbst und hat damit spätestens nach Einführung der Briefwahl nicht die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe zum Ziel. Deshalb sind die historischen Sesshaftigkeitsklauseln in den Reichswahlgesetzen nach Gründung des Norddeutschen Bundes nicht mit § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG vergleichbar. Folglich ist das Traditionsargument für die vorliegende Betrachtung zur Rechtfertigung der materiellen Inlandsbindung nicht nur – wie von der Literatur zu Recht mehrfach gerügt – äußerlich,2014 sondern – wie nunmehr hier festgestellt – auch inhaltlich nicht valide. Es vermag die Unterscheidung zwischen In- und Auslandsdeutschen im heute geltenden Bundeswahlrecht in keiner Weise zu tragen. Damit ist die materielle Sesshaftigkeitsklausel nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG auch nicht Ausdruck einer fortgeführten wahlrechtlichen Tradition, sondern ein Kunstprodukt allein des Bundeswahlrechts.2015 Das Gericht wie auch der Gesetzgeber tun deshalb gut daran, dem Traditionsargument keine Beachtung mehr zu schenken.

B. Erneute Bewertung der Vertrautheit als eigenständige tatbestandliche Bedingung im materiellen Wahlrecht Auch in ihrer dogmatischen Funktion als materielle Wahlzugangsbeschränkung mit dem Ziel, nicht im Inland ansässige und daher typischerweise politisch nicht hinreichend informierte Staatsbürger von der Teilhabe an der Bundestagswahl auszuschließen, trifft die Wohnsitzklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG – ebenso wie die gleicher Gesinnung folgenden Ausnahmetatbestände des § 12 Abs. 2 BWahlG –

2013

Vgl. näher Erster Teil 1. Kapitel B. II. 2. Vgl. H. Meyer, HStR3 III, § 46 Rn. 3 mit Fn. 9; Blumenwitz, Wahlrecht, S. 75; Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 94 ff. 2015 Dem steht auch nicht entgegen, dass der am 25.6.1953 in Dritter Lesung nachträglich eingefügte § 1 Abs. 3 BWahlG 1953, wonach Deutsche Staatsbedienstete mit grenznahem dienstlichem Auslandswohnsitz (materiell) wahlberechtigt gewesen waren, sein Vorbild in § 11 Abs. 2 RWahlG 1924 gefunden haben solle, vgl. Sten.Ber. BT, 1. WP, 276. Sitzung v. 25.6.1953, S. 13744 D; näher oben Erster Teil 2. Kapitel A. I. 3. Wenn überhaupt, könnte ein solcher Bezug nur im Hinblick auf die Ausnahmeregel nach § 12 Abs. 2 BWahlG diskutiert werden. Mit der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG enthaltenen Beschränkung des materiellen Wahlrechts durch das Erfordernis eines dreimonatigen Inlandsaufenthalts hat § 11 Abs. 2 RWahlG 1924 jedenfalls nichts zu tun. 2014

362

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

aus der historischen Analyse auf Einwände, die die im Ersten Teil der Untersuchung getroffenen Feststellungen zur Verfassungswidrigkeit2016 noch unterstützen. I. Bezüge zum historischen Wahlrecht vor 1848/1849 Das wahlrechtliche Vertrautheitskriterium im BWahlG berührt die staatsbürgerliche Freiheit zur politischen Mitwirkung. Denn sie formuliert eine konkrete Mindestanforderung an die politische Teilhabeberechtigung des Einzelnen, die die Gewähr zur Abgabe einer „reflektierten Wahlentscheidung“2017 bieten soll. Das betrifft gerade auch die Regelung des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG, mit der diese Mindestanforderungen an die Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen  – über das von der Verfassung vorgesehene Maß hinaus – durch das mehrmonatige Wohnsitz- bzw. Aufenthaltserfordernis im Inland zum Wahlzeitpunkt gesichert werden sollen. In der Gegenüberstellung zur historischen Rechtslage zahlt es sich nun aus, die bereits vor Beginn der Revolutionsjahre 1848/1849 bestehenden rechtlichen Voraussetzungen des frühkonstitutionellen Wahlrechts in die Betrachtung mit einbezogen zu haben. Denn es zeigt sich, dass die Überlegungen zur Zugangsbegrenzung des Wahlrechts durch gesetzgeberische Mindeststandards markante Parallelen aufweisen zur Ausgestaltung der materiellen Wahlberechtigung in der frühkonstitutionellen Epoche. Bereits das in den frühen Wahlgesetzen verankerte indirekte Wahlrecht diente in den einzelnen Territorien dem Zweck, die „geteilte und zerstreute“ Masse zu sichten und auf „die Herstellung eines fähigeren und besseren Wahlkörpers“ hinzuwirken.2018 Diesen „fähigeren“ und „besseren“ Wahlkörper herzustellen, war in erster Linie die Aufgabe des frühkonstitutionellen Wahlrechts.2019 Hier haben die obigen Betrachtungen2020 ergeben, dass den herrschenden Lehren entsprechend in erster Linie Grundbesitz und Zensus die für eine Wahlentscheidung erforderliche Erkenntnisfähigkeit und Unabhängigkeit gesichert hatten. Erst diese Eigenschaften vermochten die für die Wahl erforderliche Einsicht zu gewährleisten. Für die Berechtigung zur politischen Mitbestimmung wie auch zur Übernahme von öffentlichen Regierungsämtern waren also nur jene in die Auswahl zu ziehen, die als „Ausgezeichnetste“ und ohne „Einfluss des Auslands“2021 dem Staatswohl verpflichtet und so am besten zur Regierung geeignet waren.2022 Dem insoweit (staats-)bürgerschaftlichen Begriffsverständnis lag also noch nicht jener Freiheits 2016

Dazu oben Erster Teil 5. Kapitel C. III. sowie eingehend Erster Teil 5. Kapitel E. BVerfGE 132, 39 (53 Rn. 41); BT-Drs. 9/1913, S. 10 f. 2018 Vgl. Zitate bei Bluntschli, Staatslehre II, S. 69. 2019 Vgl. v. Rotteck, Landstände, S. 41, 54 ff.; R. Smend, Maßstäbe, S. 4 f. 2020 Vgl. oben Zweiter Teil 3. Kapitel B. IV. 2021 Pölitz, Staatswissenschaften I, S. 428. 2022 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335; v. Rotteck, Landstände, S. 41, 54 ff.; R. Smend, Maßstäbe, S. 4 f.; vgl. auch allgemein bei R. Smend, in: FG Karl Bergbohm, S. 278 (282). 2017

7. Kap.: Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

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gedanke in dem Sinne zugrunde, der den Einzelnen als selbstbestimmte Persönlichkeit anerkannte und, herausgelöst von korporativen Zwängen, zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnung machte.2023 Sondern es war dies in erster Linie das Freiheitsverständnis des Frühliberalismus. Jener Freiheit also, die ihrem Gedanken nach zwar auch jedermann offenstand (Freiheit der Person), die aber für die Anerkennung des Einzelnen als teilhabeberechtigter (Voll-)Bürger unter den Bedingungen des Besitzindividualismus stets jeweils neu hart erarbeitet und verdient werden musste (bürgerliche Freiheit).2024 Allein zum Wohle des Staatsganzen war die politische Teilhabe deshalb auf jene wenigen „tauglichen Männer“2025, denen diese „echte“ Freiheit zuteilwurde, beschränkt.2026 Dem allein objektiven Charakter des Wahlrechts im konstitutionellen Staat der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechend2027 konnte der durch das monarchische Prinzip legitimierte Landesherr derlei gesetzliche Beschränkungen fest­legen und mit Hinweis auf das ihn selbst verpflichtende Staatswohl auch begründen. Schon das einzelstaatliche Verfassungsrecht hatte die Ungleichheit der Untertanen hinsichtlich ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten in den Territorien zum Programm erhoben. Das zwischen Monarch und Ständevertretung geteilte System der Gesetzgebung setzte diesem Vorgehen immerhin im Hinblick auf verfassungsändernde Gesetze zwar juristische Grenzen;2028 individuelle Rechte der Untertanen wurden durch die in den Wahlgesetzen verankerten Wahlrechtsbeschränkungen aber keinesfalls verletzt. Prinzipiell haben der mit dem Wohnsitzerfordernis in § 12 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWahlG verfolgte objektive Sicherungszweck (Sicherung der Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen; Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung) und die im frühkonstitutionellen Wahlrecht mittels Grundbesitz und Zensus bewirkte Auslesefunktion eine gleichlautende Stoßrichtung. Die sachgedankliche Nähe ist sichtbar, wenn die jeweiligen Kriterien zur Wahlrechts­ beschränkung, also der wahlrechtliche Inlandswohnsitz auf der einen, der Steuerund Vermögenszensus auf der anderen Seite, von jeglicher rechtsdogmatischer bzw. historischer Einkleidung befreit und bar jedweder normativen Einbettung unmittelbar gegenübergestellt werden. Derart seziert ergeben sich die folgenden Parallelen: Beide Wahlzugangsvoraussetzungen, der länger währende Mindestaufenthalt im Inland wie auch die historische Grund- und Vermögensbindung, finden 2023

Hilker, Grundrechte, S. 91; Klügel, Wahlrechtsbeschränkungen, S. 89. Näher Mager, in: Brunner / W. Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe V, S. 549 (607 f.) m. w. N. 2025 Vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 338. 2026 Brendel, National-Repräsentation, S. 288 f.; näher auch Schilfert, Sieg und Niederlage, S. 13 f.; vgl. auch Kant, Gemeinspruch, S. 26; v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335; vgl. auch Wahlrechtsdiskussion bei Macphersons, Besitzindividualismus, S. 126 ff., 131 ff., 140 ff. 2027 Gerber, Rechte, S. 27 f. 2028 Etwa im Hinblick auf weitere Beschränkungen des Wahlrechts durch Gesetz, vgl. v. Mohl, Staatsrecht I, S. 27; Rupp, HStR3 II, § 31 Rn. 6. 2024

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

ihren Anknüpfungspunkt jeweils in der Sphäre der objektiven Gewährleistung des Staats- bzw. Gemeinwohls; beide Kriterien haben zumindest prinzipiell eine Auslese im materiellen Sinne zum Zweck. Jeweils steht die Abgabe einer freien und unabhängigen Wahlentscheidung in Rede, die an eine gewisse Form bzw. einen gewissen Bestand von „Vertrautheit“ mit den politischen Verhältnissen im Land anknüpft. Geht es im heutigen Wahlrecht um die Abgabe einer „reflektierten Wahlentscheidung“2029, hatte die Ausgestaltung des in Bezug genommenen historischen Wahlrechts die politische Mündigkeit der zur politischen Teilhabe befähigten Bürger im Sinn.2030 So besehen wohnt dem materiellen Wahlrecht beider Epochen die Begrenzung der Zugangsberechtigung zur politischen Teilhabe nach Maßgabe allgemeingültiger Kriterien und zum Schutz objektiver Staats- bzw. Verfassungsgüter inne. Ungeachtet aller Unterschiede im Kontext der jeweiligen Beschränkungsklauseln ist der maßgebliche Gedanke gleich geblieben: Waren „Einsicht und Reife“ früher noch über den Grundbesitz und die Leistung vermittelt und zur Wahl vorausgesetzt,2031 verlangt der heutige Gesetzgeber ein qualifiziertes Mindestmaß an „persönlicher Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen“, das formal und typisiert über ein dreimonatiges Wohnsitz- bzw. Aufenthaltserfordernis im Inland gesichert wird.2032 Auf die gegenwärtige Rechtslage angewendet gilt: aktives Wahlrecht nur für jene volljährigen Staatsbürger, die „aufgrund persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland […] am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess informiert mitwirken“2033 können und gerade deshalb in der Lage sein sollen, eine reflektierte Wahlentscheidung abzugeben.2034 Mit Blick auf die bisher ausgeführten Parallelen zum historischen Wahlrecht könnte aber prinzipiell auch formuliert werden: aktives Wahlrecht nur für jene volljährigen Staatsbürger, die vermittelt über die im Bundeswahlgesetz ausgestalteten Wohnsitz- und Aufenthaltsklauseln im Wahlrecht typischerweise die aus Sicht des Wahlgesetzgebers erforderliche „Einsichtsfähigkeit und (politische)  Reife“ zur Abgabe einer reflektierten, namentlich also freien und sohin unabhängigen Wahlentscheidung gewährleisten. Beides würde die gegenwärtige Ausgestaltung zur aktiven Wahlberechtigung im Bundeswahlgesetz tragen.

2029

Gesetzesbegründung zu 21. BWahlGÄndG 2013 in BT-Drs. 17/11820, S. 5; zuvor BT-Drs. 9/1913, S. 10, 14; 10/2834, S. 27; 13/9686, S. 5; ebenso BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 41); BVerfG (Kammer), NJW 1991, S. 689 (690). 2030 Kant, Gemeinspruch, S. 26; v. Mohl, Staatsrecht I, S. 335. 2031 Vgl. Hollerbach, Rechtsgedanke, S. 255. 2032 Die für die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung „notwendige Einsichtsfähigkeit und Reife“ versteht der Bundesgesetzgeber als Fernziel zum wahlrechtlichen Vertrautheitskriterium, vgl. BT-Drs. 17/11820, S. 4 f.; ebenso Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 12 Rn. 26. 2033 Zitat bei BT-Drs. 17/11820, S. 5. 2034 Zusammenschau aus BVerfGE 132, 39 (53 f. Rn. 41) und BT-Drs. 17/11820, S. 5.

7. Kap.: Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

365

So steht die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG aufgestellte Wohnsitzbindung des aktiven Wahlrechts zum Deutschen Bundestag in erstaunlicher gedanklicher Verbindung zu dem Wahlrecht des frühen 19. Jahrhunderts, wie es bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes in den Einzelstaaten Bestand hatte. Im Dienste vermeintlich objektiver oder öffentlicher Interessen des Staates bezweckt die aktuelle Wohnsitzklausel die Auslese des zur Wahlteilhabe berechtigten Personenkreises, von dem typischerweise eine auf politischer Kenntnis und Urteilsfähigkeit basierende Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung erwartet werden könne. Im Geiste vorliberaler Anschauungen des frühen 19. Jahrhunderts knüpften die historischen Wahlrechtsvorschriften in den Wahlgesetzen der Einzelstaaten prinzipiell in ganz ähnlicher Weise an die individuelle Befähigung und politische Reife der Wähler an. Sowohl der im historischen Wahlrecht als Wahlzugangsbedingung verankerte Grundbesitz und Zensus als auch die heute in § 12 BWahlG implementierte materielle Wohnsitzklausel erscheinen jeweils (nur) als das äußere Instrument, mit dem die Auslese der zur politischen Mitbestimmung berufenen Personen im Staat jeweils sichergestellt wird. Dabei ist zwar offensichtlich, dass die frühkonstitutionellen Wahlbeschränkungen einen ungleich größeren Teil der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen hatten, als es die Wohnsitzbindung des Bundeswahlrechts bewirkt. Darauf kommt es für die vorliegende Betrachtung jedoch nicht an. Das Prinzip der Selektion im Wahlrecht nach individuellen Kriterien der Befähigung und politischen Urteilsfähigkeit ist entscheidend und im Vergleich zur historischen Rechtslage identisch. Nachdem dieser Grundgedanke in den historischen Reichswahlgesetzen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik keine Entsprechung mehr gefunden hatte, lebte er im Bundeswahlrecht wieder auf und wirkt in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG noch heute fort. Damit aber knüpft der bundesdeutsche Gesetzgeber für die Zuerkennung der aktiven Wahlberechtigung nach Maßgabe der politischen Vertrautheit an Bedingungen an, die heute, wie oben festgestellt, keinen Beitrag zur Verwirklichung der objektiven Wahlfunktionen mehr leisten2035 und deshalb außerhalb der geltenden Verfassungsordnung stehen. Denn außerhalb der verfassungsrechtlichen Bedingungen der Wahlzugangsberechtigung, die in der Staatsbürgerschaft (Wahlalter und Volkszugehörigkeit) manifestiert sind, widerspricht grundsätzlich jede weitere Differenzierung nach individuellen Befähigungsmerkmalen dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der nur aus zwingenden Gründen zur Verwirklichung der anderen Wahlrechtsgrundsätze oder des demokratischen Prinzips eingeschränkt werden darf.2036 Eine über einen bestimmten Mindestaufenthalt im Inland vermittelte, besondere oder qualifizierte Einsichtsfähigkeit nach typisierten Kriterien der politischen Vertrautheit zählt aber gerade nicht zu jenen Gründen, die im Dienste des demokratischen Prinzips zur Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts he-

2035

Vgl. Erster Teil 5. Kapitel E. III. Erster Teil 4. Kapitel B. II. 4.

2036

366

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

rangezogen werden dürfen. Eine derartige Wiederbelebung frühkonstitutioneller Denkweisen findet in der geltenden Verfassungsordnung keine Grundlage. II. Freiheitlichkeit der Stimmabgabe Dieses Ergebnis wird auch vom aktuellen Verständnis des Wahlrechts als grundrechtsgleiches Recht und seiner vorausliegenden Erwartungshaltung der Verfassung an den mündigen Staatsbürger gestützt. Demnach gilt: Wahlrecht ist staatsbürgerliches Recht. Staatsbürgerliche Rechte stehen in besonderer Beziehung zu den tragenden Säulen unseres Staatswesens. Eingebettet in die Grundsätze des republikanischen Rechtsstaats und vermittelt durch die individuelle Stimmabgabe seiner Glieder bildet das demokratische Wahlrecht das wichtigste Mittel zur freiheitlichen und gleichheitlichen Selbstbestimmung des Volkes. Die Einhaltung des Wahlverfahrens vermittelt in diesem Zusammenhang nicht mehr, aber auch nicht weniger als die formelle Legitimation allen staatlichen Handelns und Entscheidens.2037 Angesichts ihrer hervorgehobenen Bedeutung im und für den staatlichen Willensbildungsprozess sind die Wahlen aber nicht nur formale Technik.2038 Die materielle Legitimation des Wahlrechts liegt an anderer Stelle. Äußerlich bezieht sie die verschiedenen objektiven Schutz- und Zweckrichtungen, die die Ausgestaltung des Wahlrechts in engem Zusammenhang mit den Staatsfundamentalprinzipien des Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG erfährt, mit ein. Innerlich beruht sie auf dem unantastbaren freiheitlichen Kern, dem die individuelle Wahlentscheidung selbst zukommt. Jener freiheitliche Kern des Wahlrechts findet, wie festgestellt, in der vollständigen Lossagung des Einzelnen von äußeren Zwängen bei der Stimmabgabe seinen Ausdruck. Nicht allein die unverbrüchliche Geltung der die Staatsgewalt begrenzenden Grundrechte, sondern auch der freiheitliche Charakter der Stimmabgabe befreit den „Untertan“ aus staatlicher Bevormundung und macht ihn zum freien Bürger. Das Grundgesetz baut auf den mündigen Bürgern auf, die das demokratische Prinzip „Mehrheit entscheidet“ nicht als Zufallsprinzip begreifen, sondern als Verfahrensprinzip, dessen Legitimität auf der Grundüberzeugung beruht, dass die Mehrheit auf der Seite der für das Ganze besten politischen Programme und Lösungen sein soll.2039 In der freiheitlichen demokratischen Ordnung wird das „Gesamtwohl […] eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen und Wünschen einer bestimmten Klasse“. Der Bestimmung des Mehrheitswillens durch Wahlen geht aber „die Anmeldung der Forderung der Minderheit und die freie Diskussion“ voraus, so dass „auch Minderheitsmeinungen die reelle Chance“ haben, „zur Geltung zu kommen“.2040 Zugespitzt formuliert ist der mündige, ver 2037

Vgl. Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 65; Badura, AöR 97 (1972), S. 1. Badura, AöR 97 (1972), S. 2. 2039 Vgl. Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 65. 2040 Vgl. mit Zitaten BVerfGE 5, 85 (198 f.) – KPD-Urteil. 2038

7. Kap.: Schlussfolgerungen für das Bundeswahlrecht

367

antwortungsbewusste Bürger sogar unabdingbare Voraussetzung einer nicht nur formalen, sondern auch gelebten und damit lebendigen Demokratie.2041 Dabei bewirkt keine Norm der Verfassung die Mündigkeit der Staatsbürger. Sie wird in ihrem normativen Bild des (politischen, namentlich freiheitlichen) Staatsbürgers vielmehr vorausgesetzt. Für die politische Teilhabe sichert die Verfassung in Art. 38 GG dieses ihr vorausliegende freiheitliche Staatsbürgerverständnis nur durch die Verankerung äußerer Mindestgrenzen, etwa durch die Bestimmung des Wahlalters. Angesichts dessen ist der Wähler bei seiner Wahlentscheidung gerade nicht an öffentliche Interessen gebunden; er muss das Staats- bzw. das Gemeinwohl bei der von ihm getroffenen Auswahl nicht beachten. Doch steht dieser im wahrsten Sinne des Wortes freiheitliche, subjektive Gehalt des allgemeinen Stimmrechts in der Verfassungsordnung nicht isoliert, sondern ist in einem komplexen Gefüge objektiver Gewährleistungsnormen zur Entfaltung wiederum des demokratischen Prinzips und damit der Volkssouveränität eingebettet. So wird der Mehrheitswille „in einem sorgfältig geregelten Verfahren ermittelt“, dem die originär freiheitliche Meinungsbildung in Ausübung der Kommunikationsgrundrechte vorausgeht.2042 Dieser, auf Freiheit und Gleichheit beruhende Willensbildungsprozess ist seinem Inhalt und nicht der bloßen Form nach der wichtigste Gegenstand der demokratisch-freiheitlichen Ordnung. Ist die Stimmabgabe also das originär freiheitliche Element des Wahlrechts, so muss der Freiheitsgedanke auch für den Zugang zur Wahl gelten.2043 Denn die durch das Wahlrecht vermittelte Entscheidungsfreiheit des Einzelnen im Staat liefe ins Leere, wenn sie von einem Teil der bereits von der Verfassung zur aktiven Teilhabe im Staat Berufenen aus vom Gesetzgeber bestimmten Gründen objektiven Staats- bzw. Gemeinwohls von vornherein gar nicht in Anspruch genommen werden könnte. Dies bestärkt die an anderer Stelle2044 entwickelte Erkenntnis zur erhöhten Eingriffsfestigkeit des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl nur durch im Wortsinne zwingende Gründe, namentlich solche zur Sicherung verfassungsrangiger Rechtsgüter. III. Zwischenergebnis Das materielle Wohnsitzerfordernis im Bundeswahlrecht entspringt seinem Sinngedanken nach den ständischen und vorliberalen Denkmustern des frühen 19. Jahrhunderts. Danach mag die durch diverse Zensusbestimmungen gesicherte Grundstücks- und Vermögensbindung im Hinblick auf die Auslese der an der Wahl 2041

Vgl. Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 65; Schmitt Glaeser, Staat, S. 338. BVerfGE 5, 85 (198 f.) mit Zitaten; ebenso Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 65. 2043 Bezogen auf den subjektivrechtlichen Gehalt im Wahlrecht Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 105. 2044 Vgl. oben Erster Teil 4. Kapitel B. II. 4. 2042

368

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

zu beteiligenden „einsichtigen“ und „unabhängigen“, im weitesten Sinne mit den politischen Verhältnissen „vertrauten“ Bürger mit dem rein objektiven Charakter des gesamten Wahlrechts und unter Hinweis auf den Staats- und Gemeinwohlgedanken noch in Einklang gestanden haben. Das demokratische Freiheitsverständnis des Grundgesetzes setzt solchen, ihrem Charakter nach bevormundenden Maßnahmen des Gesetzgebers aber Widerstand entgegen. Indem der Gesetzgeber im Sachbereich der Wahlen aus Gemeinwohlgesichtspunkten über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinaus die Unterscheidung zwischen reflektierten und unreflektierten Stimmentscheidungen nach Maßgabe des Vertrautheitskriteriums vornimmt, präformiert er von vornherein und, wie die Untersuchung im Ersten Teil bereits zeigte,2045 ohne hinreichende Legitimation die subjektive Zugangsberechtigung des Einzelnen zur Wahl. Das so in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zum Ausdruck gebrachte grundsätzliche Misstrauen des Gesetzgebers in die reflektiertfreiheitliche Wahrnehmung des Stimmrechts durch seine Staatsbürger ist also nicht nur positiv-verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen,2046 sondern transportiert überdies vordemokratisches Gedankengut, das unter dem Grundgesetz keine Anerkennung finden kann.

C. Zusammenfassung So ist zusammenfassend festzustellen, dass die bisherigen Rechtfertigungsversuche zur Notwendigkeit der Inlandsbindung im Wahlrecht im Hinblick auf das Traditionsargument wie auch im Hinblick auf die Anforderung einer hinreichenden persönlichen Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland als Wahlzugangsvoraussetzung dringend überdacht werden müssen. Der Hinweis auf die Tradition übersieht die unterschiedlichen Stoßrichtungen der jeweils in Bezug genommenen historischen Normen als Vergleichsmaßstab der heutigen Sesshaftigkeitsklausel im Wahlrecht. Jene hatten auf formeller Ebene der Stimmabgabe allein die objektive Sicherungsfunktion der nur einmaligen Stimmabgabe zum Zweck; diese verkürzt die materielle Wahlzugangsberechtigung nach inhaltlichen Kriterien. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorgenommene historisch-rechtsvergleichende Sicht dieser grundverschiedenen Dinge ist daher irreführend. Die in diesem Zusammenhang hervorzuhebende Eigenschaft des Wahlrechts als staatsbürgerliches Recht bedeutet zweierlei: Erstens ist das Wahlrecht als solches nur in einem Staat denkbar, in dem und soweit den Wahlen konstitutive Wirkung für die Ausübung von Staatsgewalt zukommt. Unter Geltung des Grundgesetzes ist das Wahlrecht nie Selbstzweck, sondern hat in seiner Ausgestaltung stets zur Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Volkssouveränität im 2045

Oben Erster Teil 5. Kapitel G. Dazu Erster Teil 6. Kapitel B.

2046

8. Kap.: Abschließende Überlegungen

369

repräsentativ-demokratisch organisierten Verfassungsstaat beizutragen. Soweit das ausführende Bundeswahlgesetz also im Hinblick auf die den Repräsentativorganen zukommenden Funktionen2047 Einschränkungen regelt, sind diese in erster Linie am objektiven Maßstab zur Sicherung der geltenden Staatsorganisation des Grundgesetzes zu messen. Zweitens kommt dem Wahlrecht aber auch subjektiver Gehalt zu, der in den Grenzen des staatsorganisatorischen Gefüges parlamentarischer Repräsentation die Freiheit des Einzelnen garantiert. Der subjektive Einschlag des Wahlrechts vermittelt in erster Linie die demokratische Freiheit, seine Wahlentscheidung frei von äußeren Zwängen zu treffen,2048 den Maßstab für seine Wahlentscheidung frei zu wählen2049 oder sein Wahlrecht auch gar nicht in Anspruch zu nehmen.2050 Nicht nur streitet dies für die vom Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl geschützten Zugangsberechtigung des Einzelnen zur Wahl,2051 sondern im Kern für die freiheitliche Mitwirkung grundsätzlich aller Deutschen im wahlfähigen Alter. Der demokratische Staat des Grundgesetzes anerkennt seine Zugehörigen als mündige Staatsbürger, die sich ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung bewusst sind. Diese im Status activus zum Ausdruck kommende Verantwortung gilt unabhängig von einem bestimmten Aufenthaltsort kraft Verleihung der Staatsbürgerschaft durch die Verfassung, namentlich Wahlalter und Staatsangehörigkeit.2052 8. Kapitel

Abschließende Überlegungen A. Der mündige (Staats-)Bürger als Leitbild auch im Wahlrecht Mit dem bis hierhin erarbeiteten Befund ist keineswegs gesagt, dass die Verfassung den Staatsbürgern die individuelle Wahlberechtigung gänzlich losgelöst von objektiven Interessen des Staates oder des demokratischen Prinzips zuerkennen will. Das Wahlrecht nach Art. 38 GG ist nach wie vor kein Freiheitsrecht im klassischen Sinne oder gar ein vom Staat losgelöstes „Naturrecht“. Es bleibt vielmehr als subjektives öffentliches Recht eine besondere Mitwirkungsbefugnis des Einzelnen im Dienste eines staatlichen Zwecks, nämlich der Konstituierung einer Volksvertretung zur periodischen Legitimation allen staatlichen Handelns. Träger dieser Volksvertretung ist nunmehr aber nicht der Staat, sondern das Volk. Der Wähler nimmt die Stimmabgabe deshalb auch nicht als Privatperson vor, son 2047

Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 21 ff. Dies kommt u. a. bereits im Wahlgrundsatz der freien Wahl zum Ausdruck, vgl. Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Hennecke (Hrsg.), GG, Art.  38 Rn.  23. 2049 Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 67. 2050 Hartmann, AöR 134 (2009), S. 1 (12). 2051 Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 81, 105. 2052 Vgl. oben Erster Teil 5. Kapitel E. III. 2048

370

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

dern tritt als Glied des Staatsorgans „Volk“ im Status activus selbst in hoheitliche Funktion.2053 Damit unterliegt das Wahlrecht in besonderer Weise bestimmten Anforderungen, die der Wahlgesetzgeber im Rahmen der ihm von der Verfassung zugewiesenen Regelungskompetenz nicht nur zu achten, sondern auch zu sichern hat. So berücksichtigen die das Wahlrecht bestimmenden Artikel des Grundgesetzes bestimmte Mindestvoraussetzungen an die im Status activus politisch Mitwirkungsberechtigten zur Sicherung von Belangen des Allgemeinwohls. Das Wahlalter gewährleistet zumindest ein Mindestmaß an intellektueller Reife;2054 während die Tatbestände zum Erwerb und zum Verlust der Staatsangehörigkeit in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben das substantielle Band des Einzelnen zu seinem Staat knüpfen.2055 Beide Voraussetzungen zusammen sichern in typisierter Form ein vom demokratischen Prinzip selbst vorausgesetztes Mindestmaß an Rückkopplung des Einzelnen zu seinem Staat – äußerlich durch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit und innerlich durch das aufgrund des Wahlalters typischerweise ausgeprägte individuelle Bewusstsein über Bestand und Bedeutung jener Rechtsbeziehung zum Staat. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, ist im Verständnis des Grundgesetzes Staatsbürger (als Aktivbürger), mit all dem ihn innewohnenden öffentlich-rechtlichen (subjektiven) Rechten und Pflichten.2056 Davon strikt zu unterscheiden ist die rein bürgerliche Rolle des Individuums als Alleininhaber grundrechtlich gesicherter Freiheitsrechte.2057 Soweit der Bürger hier (politisch) aktiv wird, geschieht dies in seiner Eigenschaft als „Regierter“ und in Ausübung ganz konkreter Freiheiten, deren hoheitliche Beschränkung die Staatsgewalt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG stets in Rechtfertigungszwang versetzt. Es ist dies Teil der Responsivität des gesellschaftlich-demokratischen Prozesses außerhalb der Wahl,2058 auf die auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslandsdeutschenentscheidung vom 4. Juli 2012 ausführlich Bezug nimmt.2059 Diese Art der „Volkswillensbildung“ beruht auf dem Prinzip der gleichen Freiheit und Autonomie, trägt informellen Charakter und ist entscheidungsoffen.2060 Demgegenüber ist der Funktions- und Wirkungskreis des Staatsbürgers im Status activus gekennzeichnet durch die Teilnahme an der staatlichen Willensbildung und der 2053

BVerfGE 83, 60 (71); m. w. N.; Larsen, in: Gornig / Horn (Hrsg.), Souveränität, S. 241 (246). 2054 Vgl. Breuer, NVwZ 2002, S. 43 (45); näher auch Erster Teil 5. Kapitel E. II. 1. 2055 Grawert, HStR3 II, § 16 Rn. 53. 2056 In diese Richtung auch Wallrabenstein, JöR 66 (2018), S. 431 (456). Hinsichtlich der Pflichten sind etwa zu nennen die Wehrpflicht und die Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern, vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 33 Rn. 2; Korioth, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG, Bd. VII, Art. 140/Art. 136 WRV Rn. 43. 2057 Jestaedt, Demokratieprinzip, S. 183 f.; Rupp, HStR3 II, § 31 Rn. 18. 2058 Böckenförde, HStR3 III, § 34 Rn. 33; Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (76). 2059 BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 32 ff.). 2060 Vgl. Rupp, HStR3 II, § 31 Rn. 33; Schmitt Glaeser, HStR3 III, § 38 Rn. 3; ders., Staat, S. 145 f.

8. Kap.: Abschließende Überlegungen

371

Ausübung von Staatsgewalt. Das Ordnungssystem der Staatswillensbildung beruht daher auch nicht auf der Ausübung bürgerlicher Freiheit, sondern ist gekennzeichnet durch verfassungsrechtliche Kompetenzen und zielt auf eine hoheitliche Entscheidung.2061 Es ist daher richtig, dass die Verfassung das Subjekt der Kompetenzzuweisung ausdrücklich selbst bestimmt und als solches den Staatsbürger in seiner Rolle als Aktivbürger benennt. Hier hat die Verfassung den mündigen Staatsbürger im Blick, den sie nach materiellen Maßstäben weder konstituieren noch garantieren kann.2062 Demgemäß ist der Gesetzgeber zwar befugt, Mindestvoraussetzungen ggf. auch einschränkend einfachgesetzlich auszugestalten, insoweit wie zwingende verfassungsrechtliche Gründe dies rechtfertigen.2063 Nicht aber ist er berechtigt, abweichend von den Vorgaben des Verfassungsgebers Anforderungen an den Status activus zu definieren, soweit darin seinerseits die legitimen Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit überschritten werden. Namentlich darf der Gesetzgeber den in der Verfassung abschließend bestimmten „Staatsbürger“ nicht nach eigenen Vorstellungen gleichsam formen und gestalten, staatsbürgerliche Rechte nach der Verfassung also nicht nach zusätzlich kreierten Befähigungsmerkmalen bestimmten Gruppen von Staatsbürgern zu- oder aberkennen. War dies unter der Geltung vergangener Rechtsordnungen noch legitim, stellt sich dem das in der Verfassung zum Tragen kommende Staatsbürgerverständnis entgegen. Gemessen daran sieht sich das in der Dreimonatsregel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zum Ausdruck gebrachte Ansinnen, die Zugangsberechtigung zum aktiven Wahlrecht materiell von einem Mindestmaß an persönlicher Vertrautheit mit dem politischen System abhängig zu machen, mit dem demokratischen Freiheitsgedanken des Grundgesetzes konfrontiert. Denn unverkennbar verfolgt das mit der innerdeutschen Wohnsitzbindung zum Ausdruck gebrachte Vertrautheitskriterium eine eigene Sicherungsfunktion, nämlich die zur reflektierten Teilhabe des Einzelnen im demokratischen Staat.2064 Sie ist mit der Zuordnung zu den objektiven Funktionen der Wahl in das Bewusstsein zur Sicherung des öffentlichen (Gemein-)Wohls gestellt. Aus Sicht des Demokratieprinzips kann den mit der geforderten Vertrautheit verfolgten Sicherungszwecken also solange und soweit kein Vorhalt gemacht werden, wie eine gesetzgeberische Wahlbeschränkung die von der Verfassung gewährleisteten objektiven Interessen am Bestand und der Funktionsfähigkeit des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems trägt. Dazu zählt grundsätzlich auch das im Wahlalter zum Ausdruck gebrachte Erfordernis der informierten Wahlteilhabe. Hingegen ist es dem Gesetzgeber versagt, darüber hinausgehende Vorkehrungen zur Sicherung jener Wahlteilnahme zu treffen.

2061

Rupp, HStR3 II, § 31 Rn. 32. Vgl. Gröschner, HStR3 II, § 23 Rn. 65; im Übrigen Ausführungen Zweiter Teil 7. Kapitel  B. II. 2063 Erster Teil 4. Kapitel B. II. 2. 2064 Vgl. BVerfGE 132, 39 (50 Rn. 33, 34); Sondervotum Lübbe-Wolff, ebd., S. 60 (64 Rn. 64, 66 Rn. 66); BT-Drs. 17/11820, S. 5 f. 2062

372

2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Doch genau das ist der Fall, wenn das BWahlG die Wahlzugangsberechtigung über das von der Verfassung geforderte Maß hinaus einschränkt und so die vom Demokratieprinzip des Grundgesetzes vorausgesetzte Mündigkeit der Bürger prinzipiell in Frage stellt.2065 Nichts anderes wird mit dem gesetzgeberisch geforderten Kriterium des wahlrechtlichen Mindestaufenthaltes zur Herstellung einer für die Teilnahme an demokratischen Bundestagswahlen notwendigen Mindestqualifikation der Staatsbürger bewirkt. Das wahlrechtliche Vertrautheitskriterium im Bundeswahlrecht geht über die von der Verfassung vorgegebenen Tatbestände zur objektiven Sicherung eben jener substanziellen Verbundenheit des Einzelnen zu seinem Staat hinaus, und nimmt damit jenseits jedweder verfassungsrechtlichen Grundlage auf die individuelle Wahlzugangsberechtigung zugunsten vermeintlicher öffentlicher Interessen Einfluss. Auf den Punkt gebracht lässt sich daraus schließen, dass der Gesetzgeber zumindest im Sachbereich der Wahlen dem im Demokratieprinzip zum Ausdruck kommenden Ideal der demokratischen Freiheit des Einzelnen in seiner Rolle als Aktivbürger nicht recht traut. Die gesetzgeberische „Fürsorge“ zur Gewährleistung der Wahlteilnahme nur des – aufgrund nachgewiesenen Inlandsaufenthalts – typisiert „informierten Staatsbürgers“ wurde zuletzt auch im Gesetzgebungsverfahren zum 21. BWahlGÄndG deutlich.2066 So hat die wahlrechtliche Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG letztlich nur einen Zweck: Die vermeintlichen Defizite der verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Sicherung eben jener Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen zu schließen. Diese das Wahlrecht von Teilen des Staatsvolkes von vornherein ausschließende Konstruktion ist mit dem insoweit freiheitlichen Kerngehalt des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht mehr vereinbar und widerspricht evident dem Bild des Grundgesetzes vom freien und mündigen Staatsbürger. Unter Geltung der historischen Wahlgesetze war die Begrenzung der Wahlberechtigung im Sinne der Auslese systemkonform. Es gab, wie gesehen, sowohl im Frühkonstitutionalismus als auch im Kaiserreich und sogar noch unter Geltung der Weimarer Republik keinen „freiheitlich garantierten Kern“ des Wahlrechts, in den der gesetzliche Ausschluss hätte illegitim eingreifen können. Anders als unter dem Grundgesetz galt das Wahlrecht hier stets in der ausschließlichen Eigenschaft, Recht des Staates zu sein, an dem der Einzelne mit seiner Stimmabgabe bloß reflexhaft mitwirkte.2067 Selbst die Doktrin G. Jellineks zur Anerkennung des Einzelnen als Wähler2068 galt ausschließlich für die Teilhabe am Wahlverfahren; nicht aber für den Wahlzugang unter der Wirkkraft einer diese Berechtigung von 2065

In diese Richtung auch Palleit, Wahlrecht, S. 13. In diese Richtung jedenfalls BT-Drs. 17/11820, S. 4 f. sowie Plenarprotokoll 17/215 v. 14.12.2012, die Wortbeiträge der Abg. Wolfgang Wieland (Bündnis 90/Die Grünen), S. 26524 (B): „Ein bisschen Vertrautheit muss sein“, oder Reinhard Grindel (CDU / CSU), S. 26527 (D) und S. 26528 (A): „Allein die Beobachtung des politischen Prozesses vom Ausland unter Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel reicht nicht aus“. 2067 Vgl. oben Zweiter Teil 6. Kapitel D. I. 1. 2068 Vgl. G. Jellinek, System, S. 159 f. 2066

8. Kap.: Abschließende Überlegungen

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vornherein ausschließenden gesetzlichen Vorschrift. Gerade wegen ihrer allgemeinen Geltung waren insbesondere die formellen Wohnsitzklauseln unter dem Regime der sich in der Weimarer Zeit ausprägenden Demokratisierung parlamentarischer Prozesse2069 nicht willkürlich.2070 Wer aber die für die Abgabe einer Wahlentscheidung im Sinne des öffentlichen Interesses erforderliche Freiheit und Unabhängigkeit in Person besaß, lag trotz verfassungsrechtlich verbürgten allgemeinen Wahlrechts prinzipiell nach wie vor in der Beurteilungssphäre des das Wahlrecht gewährleistenden Staates. Erst das Grundgesetz stellt das Verhältnis des Einzelnen zum Staat buchstäblich auf die Füße. Der Staat war nicht länger Moral- und Sittenwächter, sondern vertraute sich der grundsätzlichen Mündigkeit seiner Bürger an,2071 die die res publica selbstbestimmt zu ihrer Sache machten.2072 Abgesichert durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgt die Grundordnung letztlich diese Freiheitlichkeit des Einzelnen als aktives Mitglied im demokratischen Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland als eines ihrer obersten Grundwerte.2073 Die Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wäre ohne die Anerkennung gleicher und freier Teilhabe grundsätzlich aller Staatsbürger innerhalb der in der Verfassung selbst statuierten Schranken nicht denkbar, sobald der Staat die ihr vorausliegenden Bedingungen nicht mehr zu achten hätte. Den „mündigen Bürger“ als Gelingensbedingung demokratischer Teilhabe2074 kann der demokratische Staat des Grundgesetzes aber nicht „mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots“ selbst garantieren; er ist auf seine Existenz vielmehr angewiesen, will er, um das berühmte Diktum von ErnstWolfgang Böckenförde aufzugreifen, nicht „in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“.2075 Indem aber die im BWahlG geltende Inlandsbindung des § 12 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 BWahlG der Differenzierung der Staatsbürger nach Reife und Einsichtsfähigkeit zur Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung dient, wird dieses Selbstbekenntnis konterkariert. Der Gesetzgeber spricht den dauerhaft im Ausland sesshaften deutschen Staatsbürgern jene erforderliche Reife und Einsichtsfähigkeit schon im Grundsatz prinzipiell ab (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG). Gleichzeitig differenziert er in typisierten Annahmen nach Mindestalter, Fortzugsdauer und, hilfsweise, einer etwaig vorliegenden tatsächlichen persönlichen und unmittelbaren 2069

Art. 1 WRV: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, dazu Schneider, HStR3 I, § 5 Rn. 21 f.; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 345. 2070 Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 41; Henkel, AöR 99 (1974), S. 1 (5). 2071 Vgl. Holste, ZRP 2011, S. 122 (123). 2072 Ähnlich Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 132, 39 (64 Rn. 64). 2073 BVerfGE 2, 1 (12 f.); Gusy, AöR 105 (1980), S. 279 (289). 2074 E.-W.  Böckenförde sieht in diesem Zusammenhang ein funktionierendes Schulsystem als unabdingbar für den Bestand einer funktionsfähigen Demokratie, vgl. ders., HStR3 II, § 24 Rn. 68. 2075 Vgl. Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Recht, S. 92 (112 f.); vgl. in diesem Zusammenhang auch das diesem Gedanken diametral entgegenstehende Diktum von Friedrich Gentz aus dem Jahr 1819 (Fn. 1364) zur Interpretation des Art. 13 der Deutschen Bundesakte.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

Vertrautheit. Dem wohnt letztlich nichts anderes als der Charakter einer gesetzgeberischen Bevormundung im Hinblick auf die Fähigkeit zur Stimmabgabe inne. So steht das in der Sesshaftigkeitsklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zum Ausdruck gebrachte wahlrechtliche Vertrautheitskriterium in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis zwischen dem vonseiten des Gesetzgebers in den Blick genommenen Belang der die politische Vertrautheit dokumentierenden reflektierten Stimmabgabe zur Verwirklichung der wahlrechtlichen Integrations- und Kommunikationsfunktion einerseits und der Konzeption des mündigen Staatsbürgers im Grundgesetz andererseits. Denn genau in dem Maße, in dem das Vertrautheitskriterium seinem Inhalt nach über die von der Verfassung vorausgesetzten Anforderungen zur Anerkennung des einzelnen Staatsangehörigen als vollwertigem Staatsbürger hinausgeht, stellt es die vom Grundgesetz kraft seines demokratischen Leitbildes vorausgesetzte Mündigkeit des Einzelnen wieder in Frage. Dies vermittelt der konkreten Bestimmung den Einschlag eines rein objektiven Norm- und Staatsverständnisses, dass unter Geltung des Grundgesetzes im Wahlrecht keinen Platz mehr haben kann. Der „regulierende Beschützerstaat“, der sein freiheitliches Volk über die objektive Gewährleistung der mit dem Wahlrecht verbundenen Funktionen hinaus zusätzlich noch vor sich selbst bewahren will, hat zumindest im Sachbereich der Wahlen seine Existenzberechtigung endgültig verloren.

B. Harmonisierung des aktiven und des passiven Wahlrechts Der demzufolge nicht nur anzuratende, sondern verfassungsrechtlich anzumahnende Fortfall der Grundregel aus § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG hätte zudem die längst überfällige2076 Harmonisierung des aktiven Wahlrechts mit dem passiven Wahlrecht zur Folge. Im Ergebnis gibt es keinen stichhaltigen Grund dafür, an die Zulassung zur Stimmabgabe normativ höhere Anforderungen zu stellen als an die Übernahme politischer Mandate im Deutschen Bundestag. Seit einer Änderung des Bundeswahlgesetzes aus dem Jahr 2001 erachtete der Gesetzgeber selbst ausdrücklich die in der Verfassung bestimmten Voraussetzungen der Wählbarkeit als ausreichend, um das für die Wählbarkeit erforderliche typisierte Mindestmaß an Vertrautheit zumindest bei neueingebürgerten Staatsangehörigen zu gewährleisten.2077 Weil aber weder das Staatsangehörigkeitsrecht noch die Verfassung selbst eine Statusunterscheidung zwischen der auf verschiedenen Erwerbsgründen beruhenden Staatsangehörigkeit treffen, gilt das Prinzip der gleichberechtigten Zugehörigkeit.2078 Folglich strahlt die vom Gesetzgeber getroffene Erwägung auch auf 2076

Horn, in: Gornig / ders. / Murswiek (Hrsg.), Nationales Wahlrecht, S. 55 (92). Regierungsbegründung BT-Drs. 14/3764 zu Art. 1 Nr. 3 des. 15. Gesetz zur Änderung des BWahlG v. 27.4.2001 (BGBl. I S. 698). 2078 Dazu näher Kießling, Der Staat 54 (2015), S. 1 (18 f.) m. w. N. 2077

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Staatsangehörige aus, die über das Abstammungsprinzip zum Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland gehören. Vor diesem Hintergrund leuchtet die insoweit durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zwischen aktiver und passiver Wahlberechtigung vorgenommene Differenzierung nach Maßgabe des Mindestaufenthalts nicht ein. Dabei wären die verfassungsrechtlichen Hürden zur Einführung abweichender gesetzgeberischer Mindestvoraussetzungen hinsichtlich der Wählbarkeit niedriger als bei der Begrenzung der aktiven Wahlberechtigung. Daraus ist freilich noch nicht abzuleiten, dass das passive Wahlrecht zwingend an das aktive Wahlrecht anzuknüpfen hätte.2079 Für diese Sichtweise findet sich in der Verfassung keine Grundlage.2080 Trotzdem kommt dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegten Selbstverständnis des Abgeordneten besondere Bedeutung zu. Er ist ein vom Vertrauen der Wähler getragener Inhaber eines öffentlichen Amtes und als solcher Vertreter des ganzen Volkes.2081 Die Tätigkeit des Abgeordneten basiert in vielschichtiger Weise auf der persönlichen Kommunikation innerhalb und außerhalb der Fraktionen, mit den Amtswaltern staatlicher Organe und nicht zuletzt auch mit seinen Wählern. In diesem Zusammenhang kommt unbestreitbar auch der politischen Tätigkeit und Präsenz in den Wahlkreisen hervorgehobene Bedeutung zu. Insgesamt ist eine ständige und persönliche Rückkopplung des Abgeordneten zu seinen Wählern sogar nahezu unerlässlich, um die mit dem Mandat verbundenen Aufgaben sachgerecht bewältigen zu können. Dass der Gesetzgeber gleichwohl geringere Anforderungen an die Wählbarkeit setzt als an die aktive Wahlberechtigung, ist vor diesem Hintergrund nicht einsichtig. Denn die durch die Abgeordneten im Deutschen Bundestag geleistete Repräsentation steht prinzipiell nicht in Frage, wenn die Wähler ihre Stimme aus eigenem Antrieb heraus aus dem Ausland abgeben und während der Legislaturperiode auch dort verbleiben. Hingegen scheint ein sich permanent im Ausland aufhaltender Volksvertreter ohne persönlichen Bezug zu seinem Wahlkreis zumindest faktisch kaum vorstellbar. Denn der jeweils gewählte Bewerber ist als Wahlkreisabgeordneter auch „Repräsentant“ des jeweiligen Wahlkreises.2082 Schließlich wird man zur Sicherung der Gesetzgebungsfunktion des Deutschen Bundestages2083 vom Abgeordneten ein über die zwingenden Wählereigenschaften hinausgehendes Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland verlangen können. Ungeachtet dieser Überlegungen abseits des geltenden Rechts hat der Gesetzgeber eine diesbezügliche Einschränkung des passiven Wahlrechts nicht vorgenommen. Dies ist auch nicht zwingend, da der dem Gesetzgeber zuzubilligende Gestaltungsspielraum 2079

Ruland, JuS 1975, S. 9 (13). Dazu eingehend Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 251 f. 2081 BVerfGE 40, 296 (314); Wiefelspütz, in: Morlok / Schliesky / ders. (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 12 Rn. 2. 2082 Hahlen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG10, § 2 Rn. 2. 2083 Dazu Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 27 ff.; im Einzelnen Schliesky, in: Morlok / ders. / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 5 Rn.  45 ff. 2080

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im passiven Wahlrecht ebenfalls besteht und zwingende Gründe zur Anpassung der Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht ersichtlich sind.2084 Somit teilt das passive Wahlrecht das Schicksal der Staatsbürgerschaft in vollkommener Weise.2085 Im Hinblick auf die Bedeutung der dem Staatsbürgerstatus immanenten politischen Teilhabeberechtigung ist dies auch sachgerecht. Für das aktive Wahlrecht kann daher im Grunde auch nichts anderes gelten.

Ergebnisse des Zweiten Teils Die vorstehenden Darlegungen zum historischen Wahlrecht sind angestoßen worden durch die Traditionsrechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in seinen Entscheidungen zum Auslandsdeutschenwahlrecht unter Geltung des BWahlG. Jenseits aller grundsätzlich möglichen Kritik an der traditionalistischen Methode des Bundesverfassungsgerichts war der vom Gericht gezogene Vergleich zu den historischen Normen aus der Kaiserzeit sowie zum Weimarer Wahlrecht zur Legitimation wahlrechtlicher Wohnsitzklauseln unter Geltung des Grundgesetzes auf Validität zu überprüfen. Von einer Vergleichbarkeit im weitesten Sinne hätte demnach gesprochen werden können, wenn der Normzweck der vom Gericht in Bezug genommenen historischen Wohnsitzklauseln noch heute im § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG in seinen wesentlichen Kerngehalten fortwirken würde. I. 1. Anders als von Teilen der früheren Rechtsprechung und der Literatur vertreten, kann die wahlrechtliche Inlandsbindung auch nicht mit Blick auf die Wahlrechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gerechtfertigt oder plausibilisiert werden. Insbesondere der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Traditionsrechtsprechung zum Wahlrecht gezogene Vergleich zu verschiedenen Vorschriften des Reichswahlrechts geht in jeder Hinsicht fehl. Die historischen Wohn- und Sesshaftigkeitsklauseln sowohl des § 7 des Bundeswahlgesetzes des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 (ab 1. Januar 1871 Reichswahlgesetz) als auch des § 9 Abs. 1 Reichswahlgesetz vom 12. November 1918 und §§ 11 und 12 Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 hatten – anders als § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG – nicht den materiellen Sinn, die individuelle, persönliche und innere Bindung des Einzelnen an seine „Heimat“ oder seinen Heimatstaat bzw. deren politische Vertrautheit mit den Verhältnissen zur Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung sichern. Sie dienten allein der formalen Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe.

2084

So auch Breuer, Wahlrecht der Auslandsdeutschen, S. 255. Erster Teil  5. Kapitel  E. II. 3. c).

2085

Ergebnisse des Zweiten Teils

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2. Dies ergibt sich nicht nur aus dem – vom Bundesverfassungsgericht in seiner frühen Wahlrechtsprechung bereits anerkannten – rein formellen Charakter der betreffenden Normen im Gefüge des jeweiligen Wahlgesetzes. Vielmehr offenbart dies auch die Analyse der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften. Demnach war die aus den Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main der Jahre 1848/1849 hervorgegangene Konzeption des Allgemeinen Wahlrechts in § 11 Abs. 1 Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 das gesetzgeberische Vorbild für § 7 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 (ab 1. Januar 1871 Reichswahlgesetz). Auch § 9 Abs. 1 Reichswahlgesetz vom 12. November 1918 und §§ 11 und 12 Reichswahlgesetz vom 27. April 1920 wichen vom ursprünglichen Regelungsverständnis des § 11 Abs. 1 Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 nicht ab. Der Heimats- und Ortsbezug des Wahlrechts wurzelt hingegen im Frühkonstitutionalismus und hatte sich in den maßgeblichen Verhandlungen und Abstimmungen der Frankfurter Nationalversammlung ausdrücklich nicht durchgesetzt. 3. Die formelle Beschränkung des historischen Reichswahlrechts auf Inlandsreichsbürger war seinerzeit legitim und verstieß nicht gegen höherrangiges Recht. Wegen der objektiven Ausgestaltung der Wahlberechtigung gab es unter Geltung der Deutschen Reichsverfassung und der Weimarer Verfassung kein subjektives Wahlrecht für den Einzelnen. Der Wähler übte bei Betätigung des Wahlrechts am Wahltag nach herrschender Auffassung allein staatliche Funktionen aus, um an der Konstitution der gesetzgebenden Organe mitzuwirken. Die individuelle Berechtigung hatte deshalb allenfalls den normativen Charakter eines Rechts­ reflexes. Deshalb verstieß auch der Ausschluss der Auslandsdeutschen durch formelle Wohnsitzklauseln im Reichswahlrecht nicht gegen individuelle Rechtspositionen auf politische Teilhabe. Der den Wohnsitzklauseln zugrunde liegende Sicherungszweck der nur einmaligen Stimmabgabe lag im Interesse einer unverfälschten Konstitution der gesetzgebenden Organe und war damit objektiv-verfassungsrechtlich gerechtfertigt. 4. Die Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe wird heute allerdings allein durch die in § 14 Abs. 1 BWahlG i. V. m. § 14 Abs. 1 Satz 1, § 16 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 BWO vorgeschriebene Eintragung in ein Wählerverzeichnis gewährleistet. Seinem Sinngehalt nach fordert dies aber nur die Bestimmung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts des Wahlberechtigten am Wahltag selbst. § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG hingegen hat die innere Bindung des Wählers an das politische System der Bundesrepublik Deutschland zum Zweck bzw. als Grund. Hierin liegt eine betont materielle Komponente zur Beschränkung der allgemeinen Wahlberechtigung, die mit den formellen Sicherungszwecken der in der Traditionsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Wohnsitzbindung des Wahlrechts herangezogenen historischen Wohnsitzklauseln nichts zu tun hat.

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

II. Der Blick auf das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 und das spätere Reichswahlrecht reicht aber nicht aus, die Entwicklung der wahlrechtlichen Wohnsitzbindung erschöpfend zu durchdringen. Erforderlich ist ein weiter zurückreichender Blick auf das Wahlrecht, so wie es in den Territorien des Deutschen Bundes, insbesondere in den frühkonstitutionellen Verfassungen der süddeutschen Staaten sowie in Hessen-Darmstadt und Kurhessen Ausdruck gefunden hatte. 1. Das frühkonstitutionelle Wahlrecht zur Zweiten Kammer folgte innerhalb der genannten Territorien im Wesentlichen einheitlichen Kriterien. Die tatsächliche Rechtslage offenbart hier durchweg die materielle Beschränkung des Wahlrechts auf bestimmte Stände und die besitzenden Klassen. Der enge Lokalbezug des frühkonstitutionellen Wahlrechts wurde durch zahlreiche tatbestandliche Bezugnahmen auf ortsgebundene Rechte aus dem Gemeinde- und Gewerberecht realisiert und gesichert. Dies betraf die frühen Regelungen der ersten konstituierten Verfassungen nach dem Jahr 1818 und blieb auch zunächst ungeachtet verschiedentlicher Umwälzungen nach den Jahren 1830 ff. so erhalten. In den einzelstaatlichen Verfassungen war die Ansässigkeit oder der Bestand von besteuertem Grundbesitz im Wahlbezirk neben den sonstigen grundlegenden Voraussetzungen zum aktiven Stimmrecht, also insbesondere die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres, der Besitz des Indigenats oder der Status eines selbstständigen Staatsbürgers, unumstrittene Voraussetzung der Wahlteilhabe. Ein allgemeines Wahlrecht bestand nicht. 2. Die u. a. von der französischen Julirevolution des Jahres 1830 angestoßenen und geprägten politischen Umwälzungen hatten auf die bis dahin in den Territorien entwickelte Rechtslage zum Wahlrecht keine Auswirkungen. Insbesondere kam es regelmäßig nicht zu einer Ausdehnung der Wahlzugangsberechtigung auf nichtbesitzende Schichten. Vielmehr waren die jeweiligen Regelungen zum Wahlrecht zeitgeschichtlich konsistent. Das zeigte die Untersuchung der vom frühkonstitutionellen Wahlrecht tatbestandlich vielfach in Bezug genommenen lokalen Bindungen aus dem Gemeinde- und Gewerberecht, die ebenfalls den Grundbesitz und die Ansässigkeit zu ihrer Voraussetzung hatten. Insoweit beruhte die damalige Gesellschaftsordnung auf den Kriterien des Besitzindividualismus mit der Folge, dass die wesentlichen Betätigungs- und politischen Teilhaberechte des Einzelnen an die Voraussetzung von Grundbesitz, Vermögen und Steuerleistung gekoppelt waren. Daran änderte die mit der beginnenden Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts verknüpfte Egalisierung des territorialen Zugehörigkeitsverhältnisses bis zum Ausbruch der bürgerlichen Revolution der Jahre 1848/49 nichts, so dass Auswirkungen auf den Fortbestand des beschränkten Wahlrechts gemäß den einzelstaatlichen Wahlvorschriften insoweit auch nicht zu verzeichnen waren. 3. Die in den frühkonstitutionellen Rechtsordnungen der Territorien enthaltenen teils erheblichen Beschränkungen des historischen Wahlrechts waren zunächst aus den gesellschaftlichen Leitbildern der rationalistischen Wahlrechtstheorie, später

Ergebnisse des Zweiten Teils

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aus einem rein objektiven Verfassungs- und Wahlrechtsverständnis gerechtfertigt. Sowohl der Monarch als auch die an der Gesetzgebung beteiligten Ständeversammlungen konnten mit Hinweis auf die Teilhabe der wenigen als systemtragend identifizierten Schichten am Staatswohl in eine für die Verhältnisse in der frühkonstitutionellen Phase der Verfassungsentwicklung legitimen Art und Weise große Teile der Bevölkerung vom Wahlrecht ausschließen. III. Jedenfalls in Bezug auf die Gewährleistung einer reflektierten Wahlentscheidung durch eine über ein Mindestmaß an Vertrautheit mit dem politischen System erworbene „Einsicht“ und „Mündigkeit“ des wahlberechtigten Bürgers beruht die aktuelle Wohnsitzklausel des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG ideologisch oder ideell auf den Rechtsauffassungen des frühkonstitutionellen Wahlrechts. 1. Unter Geltung des monarchischen Prinzips bestimmte das frühkonstitutionelle Wahlrecht die aktive Wahlberechtigung im Wesentlichen nach Grundvermögen, Steuer- und Bildungszensus und Standeszugehörigkeit. Dabei handelt es sich um Kriterien, die nach der zeitgenössisch-übereinstimmenden gesellschaftlichen Anschauung darauf abzielten, die zur individuellen Wahlentscheidung erforder­ liche politische Mündigkeit, wirtschaftliche Freiheit und Unbeeinflussbarkeit und nicht zuletzt auch die für das politische Geschäft notwendige Einsicht zu sichern. Dies galt für das aktive wie passive Wahlrecht gleichermaßen. 2. Im Kern nichts anderes wird mit der durch § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG bewirkten grundsätzlichen Begrenzung des Wahlrechts auf Inlandsdeutsche bezweckt. Der die wahlrechtliche Wohnsitzklausel tragende Grund der Integrations- und Kommunikationsfunktion der Wahl markiert ein objektives Verständnis der demokratischen Wahl unter Geltung des Grundgesetzes. Die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG enthaltene Forderung nach einem Mindestmaß an Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland als Voraussetzung zur Stimmabgabe bei der Bundestagswahl differenziert sinngedanklich zwischen der Abgabe reflektierter und vermeintlich unreflektierter Wahlentscheidungen. Allein das äußere Abgrenzungskriterium weicht vom frühkonstitutionellen Wahlrecht in den Territorien ab. War die nach historischem Wahlrechtsverständnis zur Stimmabgabe erforderliche Mündigkeit und Einsicht durch die gesetzliche Zensusbestimmungen auf bestimmte, zumeist vermögende gesellschaftliche Gruppen gesichert, soll sie heute über die Wohnsitzbindung des § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG gewährleistet werden. Hiernach gilt der Grundsatz: Nur der vor Ort dauerhaft sesshafte oder ehemals sesshafte Wähler sei in der Lage, bei Bundestagswahlen eine reflektierte Wahlentscheidung abzugeben. 3. Soweit der historische Rechtsgedanke zur Einsichtsfähigkeit als Maßstab für die Wahlzugangsberechtigung Auslandsdeutscher in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG

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2. Teil: Traditionsargument und historisches Wahlrecht

fortbesteht, setzt sich der bundesdeutsche Gesetzgeber über den demokratischen Freiheitsgedanken des Grundgesetzes hinweg und fällt unbewusst und unbedarft in längst überwunden geglaubte Denkmuster des einstmaligen Untertanenstaates zurück. Die Verfassung des Grundgesetzes bietet für ein rein objektiv codiertes Wahlrechtsverständnis jedenfalls in Bezug auf eine Differenzierung zwischen reflektierten oder unreflektierten Wahlentscheidungen im Gegensatz zu allen zuvor geltenden Rechtsordnungen keinen Raum mehr. Tatsächlich wird der verfassungsrechtlich gewährte Zugang zum aktiven Wahlrecht mit Hinweis auf objektive Wahlfunktionen verengt, und zwar über die Erhaltung der das Grundgesetz tragenden freiheitssichernden Prinzipien hinaus. 4. Dem setzt aber die freiheitliche Konzeption des Grundgesetzes, insbesondere des demokratischen Prinzips des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Grenzen. Die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes bezieht ihre vorausgehende Legitimation prinzipiell aus der Existenz und Anerkennung freier und mündiger Staatsbürger. Dem widerspricht das in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG zum Ausdruck kommende prinzipielle Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber Auslandsstaatsbürgern im Hinblick auf deren grundsätzliche Fähigkeit zur reflektierten Teilnahme an Wahlen zum Deutschen Bundestag. Die Gültigkeit einer Wahlentscheidung hängt auch im Übrigen nicht davon ab, ob die individuelle Stimmabgabe in tatsächlicher Hinsicht reflektiert oder unreflektiert erfolgte.

Schlussbetrachtung Im Ergebnis der Untersuchung steht fest, dass die Wohnsitzbindung im Wahlrecht gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG vor der gegenwärtig gültigen Verfassungsordnung keinen Bestand haben kann. Der mit der Wohnsitzbindung bewirkte grundsätzliche Ausschluss der dauerhaft im Ausland sesshaften Deutschen vom Wahlrecht ist mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 GG nicht mehr in Einklang zu bringen. Darüber hinaus kann sich § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG auch nicht auf Vorbilder aus dem historischen Wahlrecht unter Geltung früherer deutscher Verfassungsordnungen stützen. Anliegen dieser Untersuchung war es, die mit der aktuellen wahlrechtlichen Wohnsitzbindung einhergehenden verfassungsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Fehlvorstellungen zu identifizieren und zu klären. Dabei hat die Untersuchung vieles bestätigt, was bereits in Rechtsprechung und Literatur zu den Anforderungen an gesetzliche Beschränkungen des in Art. 38 Abs. 1 GG verankerten Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl diskutiert wird. So schützt der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl den Zugang zur Wahl grundsätzlich aller über achtzehnjährigen Deutschen. Er ist streng formal zu verstehen und vorbehaltlos gewährleistet, so dass gesetzliche Wahlrechtsbeschränkungen nur bei einer Kollision der Wahlrechtsgrundsätze untereinander oder mit anderen verfassungsrechtlich fundierten Positionen gerechtfertigt werden können. Diese strenge Bindung des Gesetzgebers kommt in der von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Formel des „zwingenden Grundes“ zum Ausdruck. Eine erweiterte Erstreckung auf den Schutz und die Gewährleistung unterverfassungsrangiger Rechtsgüter scheidet im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl aus, so dass durchaus einige Fehlannahmen über den Rahmen zulässiger Wahlrechtsbeschränkungen zu korrigieren waren. Die Untersuchung stellt ferner heraus, dass und warum die grundsätzliche Beschränkung des Wahlrechts auf Inlandsdeutsche in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG den strengen Anforderungen des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl nicht genügt. Im Zuge dessen hat sich die wichtige Rolle der Wahlen, nämlich die als eines politischen Integrationsvorgangs und entscheidenden Aktes im permanenten Meinungs- und Willensbildungsprozess des Volkes in der staatlichen Willensbildung, bestätigt. Daraus kann sich indessen keine Rechtfertigung für den wahlrechtlichen Vorbehalt des Inlandswohnsitzes ableiten. Dem war nicht nur die vom Gesetzgeber selbst geteilte Einschätzung zur Entwicklung der modernen, auch im Ausland nutzbaren Informations- und Kommunikationstechnologien entgegen zu halten, sondern auch das Bild des von der Verfassung vorausgesetzten demokrati-

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Schlussbetrachtung

schen Staatsbürgers. Hiernach muss die grundlegende Berechtigung zur Teilhabe an der politischen Willensbildung durch Wahlen allein aus der deutschen Staatsangehörigkeit und dem Erreichen des Wahlalters abgeleitet werden. Bereits diese in der Verfassung verankerten Voraussetzungen sichern typischerweise die für demokratische Wahlen unabdingbare Möglichkeit zur Teilhabe des Einzelnen am politischen Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen. Das wurde insbesondere unter Beachtung des aktuellen Staatsangehörigkeitsrechts und seiner verfassungsrechtlichen Vorgaben nachgewiesen. Angesichts der im Wahlrecht streng zu achtenden formalen Gleichbehandlung aller Staatsbürger ist es dem Gesetzgeber verwehrt, im Bundeswahlgesetz strengere Kriterien an die Vertrautheit der Staatsbürger mit den politischen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland aufzustellen und zur Voraussetzung der materiellen Wahlberechtigung zu machen. Das gilt auch für die Neuregelung des Auslandsdeutschenwahlrechts in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWahlG. Die Regelung ist nicht nur zu unbestimmt gefasst, sondern überlässt es auch den zuständigen Wahlbehörden, hinsichtlich der Feststellung der besonderen wahlrechtlichen Vertrautheit in konkrete Einzelfallprüfungen einzutreten. Dies ist mit dem streng egalitären Prinzip der demokratischen Teilhabe aller Staatsbürger an Wahlen nicht mehr vereinbar. Der Gesetzgeber kann sich bei der Ausgestaltung des wahlrechtlichen Wohnsitzerfordernisses in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG auch nicht auf eine seit jeher geltende Wahlrechtstradition berufen. Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, weil eine wie auch immer definierte Wahlrechtstradition im demokratischen Wahlrecht keinen „zwingenden Grund“ im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung darstellt. Darüber hinaus geht der Bezug auf die Wahlrechtstradition auch inhaltlich fehl. Anders als die Wohnsitzklausel in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG galt das Wohnsitzprinzip des historischen Wahlrechts im deutschen Kaiserreich und während des Bestehens der Weimarer Republik lediglich als formelles Wahlausübungskriterium, das in erster Linie die ordnungsrechtliche Sicherung der nur einmaligen Stimmabgabe bezweckte. Die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG statuierte materielle Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf Inlandsdeutsche findet hingegen substanziell Vorläufer in der ständischen Wahlrechtsordnung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu den damaligen Stände- und Volkskammern der Territorien konnte das materielle Wahlrecht vom Bestand hinreichender Einsicht und Reife, vermittelt durch Bildung, Vermögens- und Grundbesitz abhängig gemacht werden. Mit Hinweis auf das monarchische Prinzip und die sich teils daran rankenden gesellschaftlichen Anschauungen zum Wesen der Mitbestimmung, insbesondere zur Auslese der Stimmberechtigten nach Maßgabe der politischen Einsichts- und Urteilsfähigkeit, war eine derartige Anknüpfung seinerzeit legitim. Das aktuelle Vertrautheitskriterium im Wahlrecht nimmt unversehens Anleihen aus dieser damaligen Überzeugung und überträgt sie in das heutige Wahlrechtsverständnis. Es führt im Ergebnis zu einem Ausschluss des Wahlrechts jener Staatsbürger, denen der Gesetzgeber die Abgabe einer reflektierten Wahlentscheidung prinzipiell nicht mehr zutraut. Dies ist mit Blick auf

Schlussbetrachtung

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die Errungenschaften moderner Informations- und Kommunikationstechnologien nicht nur unzeitgemäß, sondern offenbart überdies ein unterschwelliges Misstrauen des Gesetzgebers in die grundgesetzliche Konzeption, die die Mündigkeit des Staatsbürgers nicht verlangt, sondern vielmehr voraussetzt. Im Zuge der verfassungsrechtlichen Prüfung und auch im Vergleich mit der historischen Rechtslage galt es aufzuzeigen, dass es unter der jetzigen Geltung eines streng egalitären Demokratieverständnisses im Sachbereich der Wahlen keinen Raum für den Gesetzgeber gibt, über die vom Verfassungsgeber einmal getroffene Entscheidung zur Verleihung des Wahlbürgerstatus der Staatsangehörigen mittels einer Wohnsitzklausel zu verfügen. So wie der Gesetzgeber das Auslandsdeutschenwahlrecht begrenzen will, muss er Hand an jenes Rechtsverhältnis anlegen, aus dem es seine Legitimation bezieht: an die Staatsangehörigkeit. Erste Entwicklungen in diese Richtung sind mit der teilweisen Einführung des Ius-soli-Prinzips bereits erkennbar. Allein hier liegt das Schicksal auch der Wahlberechtigung begründet. Die Ausgestaltung der Wählbarkeit folgt diesem Konzept bereits seit den Anfängen des Bundeswahlgesetzes. Das Recht, zum Abgeordneten gewählt werden zu können, setzt diesen Wohnsitz im Inland nicht voraus. Es ist nunmehr längst an der Zeit, dies auch für das aktive Wahlrecht nachzuvollziehen und die Wahlberechtigung von jeder Bindung an einen Wohnsitz (oder dauerhaften Aufenthalt) im Inland zu befreien.

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Sachwortverzeichnis Abstammung / Abstammungsprinzip  22, 60, 73, 183, 316, 343, 375 siehe auch Staatsangehörigkeit – Aktivbürger / A ktivbürgerschaft – Erwerb durch  ~ 191–194 – historisch  103–106, 248, 276, 295 – Preußen 314 – Süddeutsche Territorien  312 – und Sesshaftigkeit  112–113, 115, 164 siehe auch Wohnsitzbindung – und Staatsangehörigkeit 187, 203, 310– 311 – und Staatsvolk  30, 69, 105–106, 115, 370, 372 – und Vertrautheit  25, 88–89, 95, 113, 192– 193, 197 – und Wahlrecht  23, 31, 58, 172 Allgemeiner Gleichheitssatz  91, 118, 119–121 – Einschränkbarkeit  138, 143 – neue Formel  138–139, 141–142, 144 – regulative Bedeutung  54, 55, 139–140 – und Allgemeinheit der Wahl  32, 77, 116 – und Wahlrechtsgleichheit 110, 119–121, 122, 130, 140 Allgemeinheit der Wahl siehe auch Frankfurter Reichsverfassung; Verfassung des Deutschen Kaiserreichs; Verfassung des Norddeutschen Bundes; Weimarer Reichsverfassung – Begriff  32–33, 101–102 – Beschränkung auf deutsche Staatsbürger 102–106 – Definition, Literatur  77–78 – Einschränkbarkeit  82–85, 115–123 siehe auch zwingender Grund – und passives Wahlrecht  42–43 – Verhältnis zum Allgemeinen Gleichheitssatz siehe dort Aufenthalterstimmrecht  49, 53, 77, 346–347 Ausländerwahlrecht  180–181, 204, 205 Auslandsvertretung  192, 219, 225, 343

Auslegung – authentische  ~ 119, 351 – historische  ~ 94, 147 – verfassungskonforme  ~ 224 – wahlrechtlicher Gleichheitssatz  119–120 siehe auch dort – zwingender Grund siehe dort Baden  250, 256, 258 – Bürgerrecht (historisch)  266, 292, 297– 298 – Gewerberecht (historisch)  305–306 – Staatsangehörigkeit (historisch),  310, 312, 322 – Wahlrecht (historisch)  262–265 Bayerischer Verfassungsgerichtshof  82 Bayern  250, 256, 258 – Bürgerrecht (historisch) 259, 266, 268, 294–295, 304 – Gewerberecht (historisch)  303–305 – Heimatrecht  294–295, 303–305, 308 – Indigenat  259, 312–313, 315, 316 – Staatsangehörigkeit  103–104, 304, 312– 313 – Wahlrecht (historisch)  258–261 Bedienstete (im Ausland)  54, 57, 59, 346 Besitzindividualismus 298, 307, 317, 337, 349, 363, 378 Betroffenheit – als Wahlrechtsbedingung 97, 107–108, 177–178, 180–182 siehe auch Verantwortungszusammenhang; Sondervotum LübbeWolff – materielle  96, 173, 217 siehe auch Vertrautheit mit den Verhältnissen Beurteilungsspielraum siehe auch Gestaltungsspielraum – der Gemeinden  41, 225, 239 – des Gesetzgebers  131, 164, 213 – Typisierung  186, 197–201, 206 Bevölkerung  30, 86 siehe auch Staatsvolk

Sachwortverzeichnis Briefwahl  36, 42, 48, 68, 230–232, 360, 361 siehe auch BWahlG 1956 Bürgerrecht 292, 298–299, 300–301, 316 siehe auch Baden; Bayern; HessenDarmstadt; Kurhessen; Württemberg BWahlG 1949  47–50 – Wahlschein  49, 50 BWahlG 1953  50–51 – Wahlschein 50 BWahlG 1956  47–48, 52–53 – Briefwahl  53, 54, 68 – Wählbarkeit  71–72, 72–73 – Wahlschein 53–54 demokratischer Verantwortungszusammenhang siehe Verantwortungszusammenhang Deutsche Demokratische Republik (DDR) ​ 23, 62–64, siehe auch deutsche Teilung – Auslandsdeutsche der ehemaligen  ~ 63– 64, 78, 79 – Staatsangehörigkeit 49 deutsche Teilung 23, 25 siehe auch zwingender Grund Differenzierungsbefugnis (des Gesetzgebers) ​ 34, 81–82, 99, 108, 117, 177, 181, 233–234, 240 siehe auch Gestaltungsspielraum diplomatische Vertretung  40, 42, 232 effektive Staatsangehörigkeit siehe Staatsangehörigkeit EGBeamte siehe Bedienstete (im Ausland) EGLösung 57, 58, 59 siehe Europarats­ modell Einheit der Verfassung  127–130 siehe auch Schranken (verfassungsimmanente) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers siehe Beurteilungsspielraum Erfüllbarkeit, allgemeine  92, 112, 353 Ermessensspielraum siehe Verhältnismäßigkeit Europaratslösung / Europaratsmodell  55, 58, 59, 61, 66 Fortzugsfrist – 7. BWahlGÄndG 1985  57, 58–59 – 14. BWahlGÄndG 1998  64, 65, 66 – 21. BWahlGÄndG 2013  37, 184, 211

409

– Bundesverfassungsgericht  89, 90, 208 – BWahlG 2008  66, 137 – Kritik an der  ~ 167, 211, 212–215, 225, 226, 227 Frankfurter Nationalversammlung  244, 317– 322, 337, 349, 377 siehe auch RWahlG 1849 Frauenwahlrecht  150, 247, 261, 345, 346, 351, 353, 357 Fristenlösung 57, 60 siehe auch Fortzugsfrist Funktionen der Wahl  86, 96, 100, 111–112, 115, 130, 138, 141, 145, 371, 374, 377, 380 – als Rechtfertigungsgrund  133–135, 152– 153 siehe auch Schraken – Aufgabe und Funktion der Volksvertretung 135–136 – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 88–90 – Integrationsfunktion siehe dort – Kommunikationsfunktion siehe dort – Verantwortungszusammenhang siehe dort Gebietshoheit  97, 206, 236, Gegenseitigkeit 206 Gemeindebürgerrecht (historisch) siehe Bürgerrecht Gesetzesvorbehalt  123, 127, 127, 133 siehe auch Vorbehalt des Gesetzes; Allgemeinheit der Wahl Gestaltungsspielraum (des Gesetzgebers) ​ 139, 210, 213–216 siehe auch zwingender Grund – Begrenzung des ~ durch Typisierung  201, 223, 235 – im Sachbereich der Wahlen 85, 91, 98, 115–116, 122–123, 128, 133, 143, 207, 353, 375 – Reichweite und Bestimmung des  ~ 125– 127, 131, 141 gewöhnlicher Aufenthalt siehe auch Wohnsitz; Wohnsitzklausel – Bundeswahlrecht  24, 27, 36–38, 48, 50, 57, 66, 79, 230–231, 237–238, 243 – historisches Wahlrecht 331–332, 238, 341–342, 358, 361, 377

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Sachwortverzeichnis

– Staatsangehörigkeitsrecht  191, 193, 197, 229 Gleichheit der Wahl siehe Wahlrechtsgleichheit Gleichheitssatz siehe Allgemeiner Gleichheitssatz Grenzpendler  38, 48, 49, 50, 51, 52, 177, 221, 348, 358, 361 siehe auch Staatsbedienstete Grundpflichten siehe Treuepflicht 12 Abs.  2 Satz  1 Nr.  2 Härteklausel (§  BWahlG) ​200–201, 204, 222, 227, 236 siehe auch Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen Hauptwohnsitz (melderechtlich)  27, 35, 229, 231 siehe auch Wohnsitz Heimat(-bindung) 28, 49, 65, 68–69, 234, 359–360 – Heimatrecht siehe Bürgerrecht; Bayern; Kurhessen – Heimatverträge (historisch)  310, 321 – im RWahlG 1849  330, 332–333, 337–338 – und Staatsangehörigkeit 192, 195–197, 219, 238 – und Vertrautheit  53–55, 58–61, 95, 183, 376–377 Heimatrecht 316 siehe auch Bürgerrecht; Bayern; Kurhessen Herrenchiemseer Konvent  45–46 siehe auch Parlamentarischer Rat HessenDarmstadt  250, 256, 378 Historische Schule  278–280, 288 siehe auch Traditionalisten Hoheitsakt  97, 103, 108, 146, 174, 234 siehe auch Betroffenheit informierte Mitwirkung  23, 25, 59, 89, 95, 107, 203, 212, 214–215, 224, 237–238, 361, 364, 371–372 siehe auch Möglichkeit der kommunikativen Teilhabe; reflektierte Wahlentscheidung Integration siehe Staatsvolk; Integrationsfunktion (der Wahl) Integrationsfunktion (der Wahl)  61–63, 94– 95, 130, 153–154, 156–159, 163, 169–171, 219, 236 siehe auch Kommunikationsfunktion (der Wahl); Funktionen der Wahl

Interessenkonflikte siehe Treuepflicht Internet  64, 67, 165–169, 232 ius sanguinis siehe Abstammung / Abstammungsprinzip Karlsbader Konferenz  251, 269 Kinderwahlrecht  106–107, 185 Kombinationslösung  56, 58, 66, Kommunikationsfunktion (der Wahl)  89, 95, 97–101, 113, 136–137, 144, 153–154, 159– 163, 164–166, 168, 172–173, 182–185,213, 236–237, 374 siehe auch Integrationsfunktion (der Wahl), Funktionen der Wahl kommunikative Teilnahme siehe Möglichkeit der kommunikativen Teilhabe konsularische Vertretung siehe diplomatische Vertretung Kurhessen  246, 250, 256, 258, 378 – Bürgerrecht  273, 297, 298, 306 – Heimatrecht 297–298 – Indigenat  312, 315 – Wahlrecht (historisch)  272–274, 292 Landständische Verfassung 249, 251–252, 256, 265, 269, 271, 279 Legitimationsfunktion Staatsvolk 58, 95, 196, 237 Loyalitätskonflikt siehe Treuepflicht Mehrstaatigkeit 193 siehe auch Staatsangehörigkeit Minderjährigenwahlrecht 106–107 Möglichkeit der kommunikativen Teilnahme ​ 87, 89–90, 160–162, 169–170, 183, 197, 224 siehe auch Social Media; informierte Mitwirkung; reflektierte Wahlentscheidung Napoleon  248–249, 269, 300 Nationalversammlung siehe Frankfurter Nationalversammlung Norddeutscher Bund  340–343 Öffentlichkeit  155, 157, 182, 326 – demokratische / politische  167, 212 – parlamentarische 175 siehe auch Verantwortungszusammenhang Optionspflicht 193–194 siehe auch Mehr­ staatigkeit

Sachwortverzeichnis Organische Staatslehre  287–289 Ortsbürgerrecht (historisch) siehe Bürgerrecht Parlamentarischer Rat  45–46, 149, 243 Paulskirchenverfassung siehe Frankfurter Reichsverfassung Paulskirchenversammlung siehe Frankfurter Nationalversammlung Personalhoheit 97 Praktische Konkordanz siehe Einheit der Verfassung Preußen  249, 269, 298, 313 – Gewerbewesen  300–302, 303, 307 – Staatsangehörigkeit 313–316 siehe auch Abstammung / Abstammungsprinzip PreußenUrteil 81

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– Wählbarkeit 335–337 – Wohnsitzklausel 328–334 RWahlG 1869  340–343 siehe auch RWahlG 1849 – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  244, 359–360 – Wohnsitz 340–344 RWahlG 1918  345–346, 348–349, 359–360 RWahlG 1920 47, 49, 346–348, 357, 359– 360 RWahlG 1924  347–348, 361

Schranken, verfassungsunmittelbare 117, 123–130 siehe auch Einheit der Verfassung, zwingender Grund – Schrankenbestimmung 123–127 – Tradition als  ~ 148–151 – Verhältnismäßigkeit 138–141 siehe auch Rationalistische Wahlrechtstheorie  281–287, Wohnsitzklausel 290, 311, 349, 378 – Ziele und Funktionen der Wahl als  ~ 83– Rechte-Pflichten-Korrelation 204 siehe 84, 96, 133–138, 153–163, 175–178 Treuepflicht Selbstständigkeit 291–292, 308, 311, 319, reflektierte Wahlentscheidung  153, 160–164, 337, 343, 378 169–172, 182–183, 184, 186, 195, 197– – Begriff 299 200, 203, 236–240, 348, 358, 360, 362– – Frankfurter Nationalversammlung  320– 365, 368, 373–374, 376, 379–380 siehe 321, 324–328, 334–336 auch informierte Mitwirkung; Möglich– in der rationalistischen Wahltheorie  282– 283, 286 keit der kommunikativen Teilhabe; Ver– Wahlrecht (historisch) in Baden  263 trautheit – Wahlrecht (historisch) in Bayern 259– Reflex (des Verfassungsrechts) siehe Wahl260, 262 recht – Wahlrecht (historisch) in Kurhessen  274 Regelungsspielraum siehe GestaltungsspielSesshaftigkeit siehe Wohnsitz; Wohnsitzraum klausel; gewöhnlicher Aufenthalt Regelungsvorbehalt siehe Gesetzesvorbehalt Social Media  166 Reichsstaatsgerichtshof 81, 120, 124, 353, Sondervotum Lübbe-Wolff  174, 177–178 siehe 356 Repräsentativ-Verfassung  251–253, 256, 262– auch Verantwortungszusammenhang 263, 265, 269 Souveränität  236, 256, 289 siehe auch GeRestauration 248, 253, 270–271, 276, 306, bietshoheit 308–309, 358 Staatsangehörigkeit 22, 48–49, 57, 60–63, RWahlG 1849  244–246, 337–338 siehe auch 72–74, 86, 178, 180–181, 185, 219, 224, RWahlG 1869 238, 369–370, 374, 382, 383 – aktives Wahlrecht  326–328 – Begriff 187–188, – Beratungen im Verfassungsausschuss ​ – effektive  ~ 195, 218 siehe auch Staatsvolk – Einbürgerungstest 190–191 324–325, 334–335 siehe auch Verfas– Erwerb durch Abstammung siehe Absungsausschuss stammung / Abstammungsprinzip – Beratungen in der Frankfurter National– Erwerb durch Einbürgerung  189–191 versammlung

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Sachwortverzeichnis

– historisch 291, 308–315, 321–323 334, 336, 338 342–344, 358 siehe auch Bayern; Deutsche Demokratische Republik – ius soli  193–194, 312, 343–344, 383 – Optionspflicht siehe dort – und Staatsbürger siehe dort – und Vertrautheit  188–189, 191, 194–197, 202–203 Staatsbedienstete  48, 54, 234, 269, 358, 360 – Aufenthalterstimmrecht (historisch) ​346– 348 – mit grenznahem Auslandswohnsitz 49– 51, 52, 360 Staatsbürger  33, 76–79, 101–104, 108, 110, 114, 143, 161, 169, 171–172, 186, 238, 310– 311, 313–315, 322, 361, 364, 366, 367– 374, 380, 382 Staatsbürgerschaft  22, 33, 103–104, 132, 172, 182, 236, 240, 334, 365, 369, 376 – im Frühkonstitutionalismus  268, 309, 311, 315 – und Wahlalter siehe Wahlalter – und Wohnsitz  106–108 Staatsdiener siehe Staatsbedienstete Staatsfunktion siehe Wahlrecht Staatsvolk  103, 375, siehe auch Verantwortungszusammenhang – deutsches  ~ 22, 30, 58, 74 – effektive Integration des  ~ 136, 158, 160– 164, 169, 194–195 – i. S. d Grundgesetzes 31, 103–106, 185 siehe auch Wahlberechtigung – Legitimation siehe Legitimationsfunktion – politisches Stimmrecht  332 – Teilvolk 26 – und Bevölkerung  31, 77, 86 – und Staatsgebiet  22 Stadtbürgerrecht (historisch) siehe Bürgerrecht subjektives öffentliches Recht  350, 352, 354– 358, 369 Tatsachengrundlage, -feststellung  167, 212– 215, 226–227 Territorialbindung  28, 30, 211, 268, 344, 348, 358 siehe auch Wohnsitz Tradition  24, 30, 68, 86, 151–152, 242–243, 376–377

– in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  87–88, 147–148 – Kritik  148–150, 359–361, 368, 382 – Literatur 93–94 Traditionalisten 278, 280, 290, 327 siehe auch historische Schule Treuepflicht  97, 204–205, 234 Typisierung siehe auch Beurteilungsspielraum Verantwortungszusammenhang  96, 173–174, 182 siehe auch Funktionen der Wahl – als verfassungsunmittelbare Schranke ​ 175–177 – eingeschränktes Verständnis  177–178 – Sesshaftigkeit als taugliches Mittel zur Verwirklichung des  ~ 178–179 – und Ausländerwahlrecht  180–181 – und Kommunikationsfunktion (der Wahl) ​ 173, 179 – zwischen Staatsvolk und Parlament  176– 178, 182, 206 Verfassung des Deutschen Kaiserreichs ​ 340–341, 350–351, 353 Verfassung des Norddeutschen Bundes  340 Verfassungsausschuss 324–329, 331, 334– 337 siehe auch RWahlG 1849; Selbständigkeit verfassungsimmanente Schranken siehe Schranken, zwingender Grund Verhältnismäßigkeit  138–142, 144, 145 siehe auch Wohnsitzklauseln – neue Formel siehe Allgemeiner Gleichheitssatz Versteinerung 94 Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages  62–64 Vertrautheit (mit den politischen Verhältnissen)  23–25, 38, 41, 43, 61, 171–173, 213, 215–217, 221, 241, 379 siehe auch informierte Mitwirkung; reflektierte Wahlentscheidung; Möglichkeit der kommunikativen Teilhabe – als Zweckbestimmung im Wahlrecht ​ 164–165, 182–185 – bei Erwerb der Staatsangehörigkeit  188– 189, 191, 193–196

Sachwortverzeichnis – Betroffenheit 217 – Beurteilungsspielraum (der Gemeinden) siehe dort – Funktionen der Wahl  161, 171, 183, 197, 206, 217, 365 siehe auch Integrationsfunktion; Kommunikationsfunktion – Härteklausel  203–204, 217, 219, 221 siehe auch dort – Heimat, -bindung  28, 49, 53–54, 58–61, 65, 68–69, 95, 195–197, 219, 234, 238, 330, 332–333, 337–338, 359–360, 376–377 – im historischen Wahlrecht  243, 246, 332, 337–338, 362–364, 372 – Typisierung 199–201 siehe auch Gestaltungsspielraum – und Demokratieprinzip 185–187, 206, 237–238 siehe auch Wahlalter; Staatsangehörigkeit – Wahlalter siehe dort – Wählbarkeit  201–202, 239–240, 375 – Wohnsitzklausel  79, 164, 184, 201 Völkerrecht  56, 146, 188, 203, 204, 206, 236 Vorbehalt des Gesetzes – allgemeiner rechtsstaatlicher ~ 79, 208, 226, 239 – Regelungsvorbehalt (Art. 38 Abs. 3 GG), Abgrenzung zum ~ 123–125, 127, 133, 235 – Wesentlichkeitdoktrin 208 Vormärz  269–271, 273–274, 277, 294, 299 Wahlalter  61, 117, 125–126, 187, 367 – historisch  268, 335, 351, 358 – und Staatsbürgerschaft  171–173, 197–198, 206, 246, 365, 369–371, 382 siehe auch Typisierung – und Wahlrechtsbeschränkung  78, 234 – Vertrautheit  197–198, 202 – Wählbarkeit 43 – zur Sicherung der Reife (persönliche / politische)  106–108, 113, 185–186, 199, 203, 216, 238 Wahlrecht – als politisches Grundrecht 33–34 siehe auch subjektives öffentliches Recht – als Staatsfunktion (historisch)  350, 345, 352, 354, 356 – für Ausländer siehe Ausländerwahlrecht

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– für Minderheiten siehe Wahlrechtsgleichheit – für Minderjährige siehe Kinderwahlrecht – Heimat siehe Vertrautheit – status activus  355, 369–371 – und Allgemeiner Gleichheitssatz siehe dort – und Vertrautheit  185–187 Wahlrechtsausschluss 36, 60, 75, 85, 160, 206, 236, 261 – historisch 261, 263, 284, 351, 353, 357, 372, 377 – personenbezogene Differenzierungen ​104, 111, 114, 129, 235 – von Auslandsdeutschen  25, 51, 78, 87, 89, 90, 97, 113, 169, 174, 205, 237, 381–382 – von Bürgern der ehemaligen DDR  61 – von Minderjährigen  126, 160 Wahlrechtsgleichheit  61, 76, 77, 84, 85, 91, 110, 114, 153, 234–236, 353 – Egalität (der Staatsbürger)  21, 33, 35, 76– 77, 102, 114, 164, 199–200, 235, 238, 283, 320 – Einschränkbarkeit  83, 127, 133–135, 137 siehe auch Ermessensspielraum; zwingender Grund – Formalisierung  32, 55, 59, 80, 82, 117– 123, 142–144 – Minderheitenwahlrecht 83 – Minderjährigenwahlrecht siehe dort – und Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz siehe dort – und Allgemeinheit der Wahl  32, 85, 114, 116, 118, 353 Wahlschein  41–42, 68, 230, 231, 347, 348, siehe auch BWahlG 1949; BWahlG 1953; BWahlG 1956 Wahlsystem  34, 45–46, 49, 72, 89, 125–127, 129, 143, 157, 159, 233, 353 Wahltechnik  23, 56, 60, 97, 236, 258 Wahlziele 94–96, 154, siehe auch Wahlfunktionen Wehrdienst 204 Weimarer Reichsverfassung (WRV)  81–82, 87, 124, 149, 150, 298, 345–346, 360 Wiedervereinigung  25, 62–63, 86, 145 Wiener Kongress 249–253, 258, 269, 271– 272

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Wiener Schlussakte  249, 252–253, 269 siehe auch Wiener Kongress Wohnsitz  24, 39, 42, 47, 230, siehe auch gewöhnlicher Aufenthalt – als persönliches Merkmal  111–114 – als verbotene gruppenspezifische Differenzierung 109–111 Wohnsitzklauseln – als taugliche Mittel siehe Funktionen der Wahl – Unbedenklichkeit im historischen Wahlrecht 349–358 – Verhältnismäßigkeit  164–168, 178–180 – Vertrautheit siehe dort Wohnsitzprinzip  27, 243, 356–358, 382 Württemberg  250, 256, 258 – Bürgerrecht  266, 268, 295, 305 – Wahlrecht (historisch)  265–268

Ziele und Funktionen der Wahl siehe Funktionen der Wahl zwingender Grund 21, 32–33, 61, 79–86, 91–100, 115–118, 125, 204–206, 235, 237 siehe auch gesetzgeberische Differenzierung, Beurteilungsspielraum, Gestaltungsspielraum – Auslegung 128–130 – Deutsche Teilung als ~ 60, 61, 68, 86, 71, 145–146 – Einheit der Verfassung siehe dort – Funktionen der Wahl als  ~ 88–90, 153, 161–163 – Herkunft 81–82 – Tradition als  ~ 87–88, 148–151 – und Verhältnismäßigkeit  141–142 – Verantwortungszusammenhang als  ~ 174, 177–178, 182