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German Pages 248 Year 2014
Jan-Felix Schrape Neue Demokratie im Netz?
Jan-Felix Schrape (Dr. phil.) arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Seine Schwerpunkte sind die Innovations- und Mediensoziologie sowie die Theorie sozialer Systeme.
Jan-Felix Schrape
Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft
Diese Arbeit wurde 2009 unter dem Titel »Wirklichkeitschancen alternativer Realitätsentwürfe in der europäischen Netzwerkgesellschaft« an der Philosophischen Fakultät I – Philosophie, Kunst- und Gesellschaftswissenschaften – der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.
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INHALT
Abstract
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PROLOG Visionen Forschungsfrage und Definitionen Hypothesen und Programm
13 17 19
TEIL I: SOZIALE REALITÄTSKONSTRUKTION AUS ERWEITERTER SYSTEMTHEORETISCHER SICHT Vorüberlegungen Wissenssoziologische und kognitionswissenschaftliche Prämissen Das Mikro-/Makro-Dilemma der Soziologie Anforderungen
25 26 34 39
Systemtheoretische und prozesssoziologische Perspektiven Systemtheoretische Zugriffsweisen (Luhmann) Prozesssoziologische Zugriffsweisen (Elias) Anschlusspotentiale
41 42 47 51
Soziale Netzwerke auf Meso-Ebene
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Ein erweitertes System-Umwelt-Paradigma Grundzüge Kommunikation zwischen psychischen Systemen Differenzierung zwischen interner und externer Umwelt Psychische Systeme in der internen Umwelt Soziale Realitätskonstruktion zwischen Akteur und Struktur Überblick
61 63 63 66 70 73 83
TEIL II: MEDIENEVOLUTION UND GESELLSCHAFTLICHE WIRKLICHKEITSBESCHREIBUNG Ausdifferenzierung des Medienbegriffs
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Vorbedingungen für die Zentralstellung der Massenmedien Prämissen für den Medienumbruch in der Frühen Neuzeit Die soziale Institutionalisierung des Drucks Ausdifferenzierungen im Überblick
93 94 96 99
Der massenmediale Nexus Funktion massenmedialer Selektionsinstanzen Massenmedien und kognitive Codes Massenmedien und alternative Realitätssichten Vorbedingungen für die »Medienrevolution 2.0«
103 104 107 109 113
TEIL III: EINFLÜSSE DES WORLD WIDE WEB Vorüberlegungen Die Problematik der aktuellen Visionen Kommunikationsformen im Netz Grundsätzliche Thesen und Untersuchungsfokus Methodischer Ansatz
117 118 120 122 125
Beobachtbares Nutzungsverhalten im Web Annahmen Gesamtbevölkerung BRD Online-Durchdringung Das Web als aktuelle Informationsquelle Nutzungspräferenzen Traffic-Rankings Bewertung Altersgruppen Online-Durchdringung Nutzungspräferenzen Bewertung Soziale Milieus Online-Durchdringung Nutzungspräferenzen Bewertung Überblick: Nutzungsverhalten im Online-Nexus
127 127 129 129 131 132 138 142 144 144 146 149 152 154 156 161 163
Qualitäten der Netzwerkkommunikation Annahmen Partizipationsforen: Inhalte und Motivation Weblogs und Podcasts Social News Wikipedia Bewertung Professioneller Journalismus und Web 2.0 Webaktivisten als Themenmacher Nutzergenerierte Inhalte als Recherchequellen Media-Watchblogs Bewertung Status Quo der Netzwerkkommunikation
167 167 168 169 174 178 183 186 187 189 193 196 197
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ? Bilanz: Massenmedien, Web und soziale Realitätskonstruktion Beobachtungsansatz Massenmedien als allgemeine Bezugsgrundlage Neue Demokratie im Netz? Nutzungspräferenzen der deutschen Onliner Qualitäten im Web 2.0 Ausblick: Mobile Devices Die Realität der Massenmedien – Reloaded Selektionsgesellschaft
203 203 204 206 207 208 209 211 214
Literatur Personenindex Sachregister
217 237 241
ABSTRACT
Seit der Erfindung des World Wide Web durchkreuzen schillernde Utopien die Öffentlichkeit, die den Online-Techniken ein demokratisierendes Potential in der sozialen Realitätskonstruktion zuschreiben. Auch im Diskurs um das Web 2.0 tritt die Hoffnung hervor, dass die neuen Selektions- und Publikationsmöglichkeiten sukzessive zu einer Erosion der vielfach kritisierten Dominanz der Massenmedien führen. Letztlich geht es hierbei um die Frage, inwieweit innovative Realitätsentwürfe durch die neuen Kommunikationstechniken schneller und direkter Eingang in die übergreifende Wirklichkeitsbeschreibung finden können. Gleichzeitig wurde nur selten hinterfragt, warum es für das Gros der Bevölkerung überhaupt sinnvoll sein sollte, auf die Auswahlleistungen der Massenmedien zu verzichten: Es liegen zwar viele Ausschnittsbeschreibungen zu den neuen kommunikativen Spielarten vor, diese wurden aber bislang kaum mit übergreifenden Beobachtungsmodellen in Bezug gesetzt. Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Band das Demokratisierungspotential des Internets in der sozialen Realitätskonstruktion aus einer ›erweiterten‹ systemtheoretischer Sicht, die auf die Relativität aller Realitätssichten und die Stabilität sozialer Strukturen eingeht, aber zugleich einen möglichen Wandel ›von unten‹ nicht unterbeobachtet lässt. Daran anknüpfend wird nachvollzogen, wie die Massenmedien ihre Zentralstellung in der Gegenwartsbeschreibung einnehmen konnten, bevor die Präferenzen der Onliner und die Qualitäten der Netzwerkkommunikation taxiert werden. Die Betrachtungen kommen zu dem Schluss, dass das Web zwar die Kommunikation in vielen Bereichen beschleunigt und flexibilisiert, die Massenmedien aber als Auswahlinstanzen in der sozialen Realitätskonstruktion keineswegs obsolet werden.
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Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, ohne deren Hilfe es nicht zustande gekommen wäre: Katrin Bonz, Dr. Stephan Gillmeier, Prof. Dr. Baldo Blinkert, Prof. Dr. Wolfgang Eßbach, Prof. Dr. Robert Hettlage, Prof. Dr. Ulrich Dolata, Elke Ristok, meiner Familie und meinem Vater Prof. Dr. Klaus Schrape († 30.09.2001).
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PROLOG
VISIONEN
Ziel dieses Bandes ist es, den Einfluss der veränderten Medienlandschaft in der Netzwerkgesellschaft auf die soziale Realitätskonstruktion zu untersuchen: Zum 20. Geburtstag des World Wide Web (*1991) stellt sich die Frage, ob wir im Horizont der zunehmenden Medienkonvergenz und der erweiterten Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten im Netz auf dem Weg zu einem demokratischeren Modus der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung sind. Den Visionen aus der Gründerzeit des Web zufolge standen wir freilich schon Mitte der 1990er Jahre vor dem Beginn einer »digitalen Revolution«, welche die Gesellschaft verändern sollte, »wie vorher nur die Erfindung des Feuers« (Wired Magazine 1993). Vor dem Hintergrund der Motive seines Erfinders Berners-Lee (1991: »information should be freely available to anyone«) schrieben viele Kommentatoren dem Web eine strukturaufbrechende Kraft zu: Warren proklamierte 1996 die »Cyberdemokratie«, denn »die großen Verlierer der Online-Technologien sind Parteien und Bürokratien. Damit wandert Macht weiter nach unten« (zit. nach Siegele 1996). Der Philosoph Lévy vermutete 1997: »Der Cyberspace könnte Äußerungsstrukturen beherbergen, die lebendige politische Symphonien hervorbringen, wodurch Kollektive von Menschen kontinuierlich komplexe Äußerungen erfinden« (zit. nach Lau 1997). Und Holland (1997: 26), Gründer des »Chaos Computer Clubs«, beschrieb das Internet als das erste »Universalmedium der Menschheitsgeschichte«, das die Rezipienten aus ihrer Passivität erlöse: »Den Herrschenden ist mit dem Ding Brechts Radiotheorie auf die Füße gefallen.« Etwas neutraler prognostizierte 1999 eine internationale Delphi-Studie einen tiefgreifenden Wandel der medialen Nutzungsstrukturen (Beck et al. 2000). Spätestens nach dem Platzen der ›Dotcom-Blase‹ im März 13
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
2000 wurde allerdings deutlich, dass an das World Wide Web auch gesellschaftswissenschaftlich weit zu viel Potential geknüpft worden war: »Das Netz verändert die Gesellschaft weniger als vermutet«, notierte der »Spiegel« (51/2000: 31) und die »Zeit« zog die Bilanz, »dass von den hochfliegenden Prognosen und Visionen auch heuer nicht sonderlich viel eingetroffen ist« (Damaschke 2000). Diese Erfahrung überhöhter Transformationshypothesen scheint im aktuellen Diskurs um das Web 2.0 allerdings wieder vergessen: Angefeuert durch den Erfolg kooperativer Wissensdatenbanken wie »Wikipedia« formulierte Kelly (2005) in »Wired«: »2015, everyone alive will (on average) write a song, author a book, make a video, craft a weblog, and code a program.« Und die »Zeit« notierte im gleichen Jahr: »Ein dichtes Geflecht von Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten, die den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, wächst da heran« (Sixtus 2005). 2006 erreichte dieser Hype um das Web im »Spiegel« eine weitere Stufe: »Du bist das Netz! [...] Aus passiven Konsumenten werden höchst aktive Produzenten« und an die Stelle klassischer Autoritäten trete das »breit gestreute, selbstkontrollierte Netzwerk-Wissen« (Hornig 2006). 2007 unterstellte die »Zeit« dem Web 2.0 gar, das »Leben« zu verändern, denn »die Akteure gehen eine neue ›Figuration‹ ein [...]. In ihr können sie als Konsumenten und Produzenten auftreten, wie es ihnen gefällt« (Randow 2007). Diese Aussagen korrespondieren mit einer Delphi-Erhebung aus dem Jahr 2008, in der die Mehrheit der befragten Experten der These zustimmte, dass bis 2020 ca. 80 % der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden (Cuhls et al. 2008: 135-138). Und im gleichen Jahr resümierte schließlich die »Zeit«: »Das Netz hat unsere Welt in einem Maße revolutioniert wie die Erfindung des Buchdrucks oder die Spaltung des Atoms.« Eine solche Kurve übersteigerter Erwartungen ist kein exklusives Web 2.0-Phänomen, sondern Begleiterscheinung aller neu auftretenden Querschnittstechnologien. Als Beispiele seien die Gentechnik bzw. die öffentliche Diskussion um Schaf »Dolly« (Lösch 2001: 222) oder die Nanotechnologie (Rip/Amerom 2010, Grobe et al. 2008) genannt. Im Normalfall folgt auf eine solche Phase inflationärer Erwartungen eine Phase der allgemeinen Desillusionierung, bevor in langfristigeren Prozessen sukzessive einige Vorteile der innovativen Technologie anerkannt werden und sie sich in der breiten Öffentlichkeit oder in spezifischen Nischenmärkten etablieren kann. Das Marktforschungsunternehmen »Gartner Inc.« (Fenn 2008) hat solche Hype-Zyklen auf ›Kurzwellen-Ebene‹ modelliert, Kondratjew (1926) und Nefiodow (2000) liefern ein mögliches Einordnungsraster für solche »Wellen des Fortschritts« auf langfristiger bzw. gesellschaftsübergreifender Ebene. 14
VISIONEN
Im Falle der neuen Kommunikationstechniken im Web und ihrem Einfluss auf die soziale Realitätskonstruktion scheint die Phase der Desillusionierung allerdings beständig durch neue Hyperbeln überschrieben zu werden: Noch immer sprechen Zukunftsforscher wie Kruse (2010) von der »Demokratisierung der Gesellschaft« durch das Netz, die »Zeit« diskutiert einen »Friedensnobelpreis fürs Internet« (Luna/Krause 2010), denn »wir sind nicht mehr nur die Empfänger der Botschaft, wir sind die Botschaft«, und der »Spiegel« sieht im Web 2.0 die »Chance für eine transparentere Welt« (Münker 2009). Sowohl die Prophetien aus der Gründerzeit als auch die aktuellen Visionen unterstellen dem Web, zeitnahe Rezepte gegen die vielkritisierte massenmediale ›Gegenwart des Standardisierten‹ (vgl. Adorno 1985, ferner: Habermas 1991, Sennett 1991, McLuhan 1997, Chomsky 2003) zu liefern. Nur selten wird in diesem Strom der intellektuellen Unzufriedenheit jedoch hinterfragt, warum die Massenmedien eigentlich eine so prominente Position in der sozialen Realitätskonstruktion der Moderne eingenommen haben und welche Funktion sie dabei für die Gesellschaft erfüllen. Werden diese Fragen nicht gestellt, fällt es leicht, an neue Kommunikationstechniken weitreichende Veränderungsvorstellungen zu knüpfen, denn der Wunsch nach einer Demokratisierung der medialen Realitätskonstruktion erscheint im Horizont des Aufklärungsgedankens ja durchaus verständlich. Kaum beantwortet werden kann dann allerdings, weshalb die Visionen aus der Gründerzeit des Web bis dato keineswegs eingetroffen sind und die Mechanismen der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung bislang nicht fundamental erschüttert worden sind. Ob die neuen Kommunikationsmöglichkeiten im Internet ihr Demokratisierungspotential in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung ausspielen können, hängt vordringlich davon ab, inwieweit unsere polykontexturale Gesellschaft auf die Leistungen der Massenmedien in der sozialen Realitätskonstruktion verzichten kann bzw. inwieweit deren Selektions- und Verbreitungsleistungen durch den OnlineNexus substituiert werden können. Um uns diesen Fragen anzunähern, wird in diesem Band zunächst eine theoretische Zugriffsweise erarbeitet, welche die Institutionalisierung bzw. Funktion massenmedialer Selektionsprozesse erklären will und eine Interpretationsgrundlage für die empirische Auswertung bietet. Anschließend wird das Nutzungsverhalten der deutschen Onliner untersucht, um abzuschätzen zu können, inwieweit der Aufforderung »Du bist das Netz!« bislang nachgekommen wird. Ziel ist eine Kritik der aktuellen Visionen der Informationsgesellschaft auf theoretischer, historischer und empirischer Grundlage.
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FORSCHUNGSFRAGE
UND
DEFINITIONEN
Die vorgestellten Visionen beschreiben das Web als eine demokratisierende Kraft in der sozialen Realitätskonstruktion. Insofern lautet die Forschungsfrage zunächst schlicht: »Inwieweit verändern die neuen Kommunikationsweisen im Web die Inklusionschancen alternativer Inhalte in die gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung?« Ihre Beantwortung setzt jedoch eine Reihe an Vorarbeiten voraus. Geklärt werden muss, was unter einer gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung verstanden werden soll, wodurch sich alternative von etablierten Inhalten abgrenzen lassen, was ›Demokratisierung‹ in diesem Zusammenhang bedeutet und wie sich die neuen kommunikativen Möglichkeiten von herkömmlichen medialen Formen unterscheiden: • Soziale Realitätskonstruktion beschreibt die kurz- und langfristigen Entwicklungsprozesse intersubjektiver Überzeugungen und kollektiver Beobachtungsbezüge. Diese wir-zentrierten Wirklichkeitssichten dienen als Kompatibilitätsgrundlage in der Kommunikation zwischen Akteuren mit jeweils selektiven Realitätserfahrungen (Schütz 1974, Luhmann 1988, Elias 2001). In kommunikativen Gebilden auf Meso-Ebene (z.B. soziale Netzwerke) oder in funktionalen Kontexten können jeweils ganz eigene Bezugsgrundlagen vorliegen. • In die Kategorie der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung fallen alle wir-zentrierten Realitätskonstruktionen, die in der allgemeinen Kommunikation vorausgesetzt werden können und nicht an spezifische funktionale oder soziale Zusammenhänge geknüpft sind. Auf langfristiger Ebene sind das etwa unsere Zeiteinteilung (Elias 1984) oder unser Zahlenverständnis. Zudem existieren kurzfristigere kommunikative Symbole wie ›Hartz 4‹ oder ›Riester-
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
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Rente‹, die mit spezifischen Bedeutungen belegt werden, obgleich sie auch etwas anderes umschreiben könnten, und kommunikative Objekte wie ›9/11‹, die in persona kaum überprüft werden können, aber als Wirklichkeit angenommen werden. In der Bereitstellung dieser Hintergrundrealität nehmen die Massenmedien aufgrund ihrer Verbreitungsmacht eine zentrale Stellung ein (Luhmann 1995). Als etablierte Inhalte werden Sinnangebote definiert, die sich in diesen Strom der übergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung einordnen lassen und den Nährboden für Anschlusskommunikation in der Gesamtöffentlichkeit darstellen. Zur einer synchronen Verbreitung tagesaktueller Themenbestände tragen z.B. Nachrichtensendungen bei. Alternative Inhalte hingegen bezeichnen Sinnangebote, die (noch) nicht ins Zentrum der gesamtgesellschaftlichen Realitätskonstruktion vordringen konnten und daher keine entsprechende Streuung erfahren. Die Differenz zwischen etablierten und alternativen Inhalten wird also nicht anhand gesellschaftspolitischer Normen festgelegt, sondern richtet sich ausschließlich an ihrer Verbreitung aus. Demokratie wird im Sinne Vilmars (1973: 21) als ein »gesamtgesellschaftlicher Prozess« verstanden und hier auf die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion bezogen. Die erhoffte Demokratisierung der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung bestünde in der Erosion zentraler Selektions- und Verteilungsinstanzen wie den Massenmedien zugunsten einer dezentralen bzw. kollektiven Auswahl und Verbreitung der Informationen ›von unten‹, also durch die Rezipienten selbst (z.B. Rheingold 2003). Da im Web alternative Inhalte technisch auf gleicher Zugriffsebene mit etablierten Inhalten stehen, besteht die Hoffnung, dass sich die Balancen zwischen ihnen verschieben und sich innovative Beobachtungsangebote durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten schneller verbreiten können. In diesem Kontext macht es wenig Sinn, das Web in toto als neues Medium fassen zu wollen: Während es in seiner Gründerzeit noch als Karteikasten beschrieben werden konnte, in welchem Textdokumente durch Hyperlinks verbunden werden (Fuchs 1998), spiegeln sich heute im Netz alle herkömmlichen medialen Formen wider. Spätestens im Web 2.0 treten jedoch zusätzlich genuin neue Austauschmodi hervor, die hier in der Kategorie der Netzwerkkommunikation versammelt werden: Programme können kooperativ durch ihre Nutzer weiterentwickelt werden, Inhalte können distribuiert erstellt werden, Sendungen können live kommentiert werden, Nachrichten können durch ihre Rezipienten viral verbreitet werden etc.
HYPOTHESEN
UND
PROGRAMM
Bislang wurde in der Diskussion um eine mögliche Demokratisierung der sozialen Realitätskonstruktion durch das Web nur selten hinterfragt, warum die allgemeine Bevölkerung jenseits der ›early adopters‹ (Rogers 1962) überhaupt die Motivation besitzen sollte, die neuen Publikationsund Selektionsmöglichkeiten im Netz regelmäßig zu nutzen. Zumindest aus systemtheoretischer oder kommunikationswissenschaftlicher Sicht (z.B. Luhmann 1995, Merten/Schmidt/Weischenberg 1994, Schmidt 2008) liegt eine vollständige Substitution der Massenmedien eher fern, denn gerade wenn psychische Systeme als selbstreferenzielle Sinnsysteme verstanden werden, also jedem Akteur eine eigene beobachterrelative Realitätssicht zugeschrieben wird, kann die Gesellschaft nicht auf Selektions- und Verbreitungsinstanzen verzichten, die in der Kommunikation eine allgemeine Bezugs- und Orientierungsgrundlage bereitstellen. Daraus folgt die Hypothese 1, dass massenmediale Programmbereiche auch weiterhin eine zentrale Rolle in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung einnehmen. Weil die Massenmedien eine breite Öffentlichkeit erreichen wollen, verstärken sie dabei primär Inhalte mit hohem Anschlusspotenzial, weshalb alternative Inhalte kaum in die Berichterstattung integriert werden. Falls dieses Szenario zutreffen sollte, wäre eine zeitnahe Veränderung der Balancen zwischen etablierten und alternativen Inhalten in der gesellschaftsweiten Realitätskonstruktion durch das direkte Rezeptionsverhalten unwahrscheinlich. Andererseits steigt das Sichtbarkeitspotential für alternative Inhalte im Internet erheblich an. Trotzdem bleibt aber das allgemeine Problem begrenzter kognitiver bzw. zeitlicher Ressourcen bestehen und eine jeweils individuelle Beobachtung der unzähligen Sinnangebote wäre nicht zu erbringen. Die erhöhte Sichtbarkeit innova19
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tiver Inhalte kann allerdings auch als Umweltveränderung für professionelle Journalisten gefasst werden: Deren Recherchegewohnheiten könnten sich langfristig wandeln, da sich alternative Inhalte im Web deutlich unkomplizierter beobachten lassen als in der Offline-Welt. Daher vermutet Hypothese 2, dass die neuen Kommunikationsmöglichkeiten zu einer erhöhten Integration innovativer Inhalte in die massenmediale Berichterstattung führen und sich die Balancen zwischen alternativen und etablierten Inhalten so auf indirekte Weise verschieben. Bevor wir allerdings in die empirische Beobachtung einsteigen, gilt es, eine adäquate Interpretationsgrundlage vorzustellen, denn wie Schulze (1993: 563) einleuchtend formuliert, sind Daten lediglich »die Ankerpunkte von Deutungsversuchen«. Daher wird zunächst ein analytischer Ansatz erarbeitet, der die Mikro-, Meso- und Makroebene sozialer Realitätskonstruktion im Blick behalten will, um langfristige ›topdown‹- wie auch graduelle ›bottom-up‹-Wandlungsprozesse reflektieren zu können. Danach erfolgt eine historische Herleitung der gegenwärtigen Zentralstellung der Massenmedien in der geteilten Realitätskonstruktion, um dem Fehlschluss entgegenzuwirken, dass erweiterte Selektions- und Publikationsmöglichkeiten ›automatisch‹ zu einer Demokratisierung in der gesellschaftsübergreifenden Gegenwartsbeschreibung führen. Anschließend wird aus der gewählten Analysesicht eine Evaluation aggregierter empirischer Daten zur gegenwärtigen Online-Nutzung und zu den Qualitäten der Online-Kommunikation vorgenommen. • Analytischer Ansatz. Je nachdem, ob die aktuellen Entwicklungen im Web aus einer netzwerksoziologischen oder aus einer durchformulierten sozialtheoretischen Perspektive beobachtet werden, erscheint in der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung ein Wandel ›von unten‹ höchst wahrscheinlich oder kaum denkbar. Um diesen Beobachtungsdualismus ein Stück weit aufzulösen, wird eine systemtheoretische Zugriffsweise auf die soziale Realitätskonstruktion skizziert, die sowohl Mikro- und Meso- als auch Makroebenen der Kommunikation fokussiert: Nach der Erarbeitung wissenssoziologischer und kognitionswissenschaftlicher Implikationen sowie einer knappen Vorstellung des klassischen Mikro-Makro-Dilemmas wird Luhmanns systemtheoretisches Denkmuster mit Elias’ strömungsstruktureller Prozesssoziologie konfrontiert, da beide Autoren trotz diametraler Theoriefundamente einen ähnlichen semikonstruktivistischen Zugriff auf die geteilte Wirklichkeitsbeschreibung anbieten. Anschließend werden beide Ansätze mit neueren Überlegungen zu sozialen Netzwerken bzw. sozialen Gebilden auf Meso-Ebene als Vermittler zwischen Akteur und Struktur in Bezug gesetzt (White 1992, Weyer 2000, Fuhse 2008). Auf dieser Basis wird ein erweiter20
HYPOTHESEN UND PROGRAMM
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tes System-Umwelt-Paradigma aufgespannt, das eine Sichtweise auf die Nutzungspräferenzen im Web zur Verfügung stellen möchte, die weder graduelle Transformationen ›von unten‹ noch die Stabilität sozialer Strukturen unterbeleuchtet. Historische Herleitung. Ausgehend von dieser theoretischen Rahmung erfolgt eine auf unser Anliegen ausgerichtete Rekapitulation der Wechselprozesse zwischen Medienevolution und sozialer Realitätskonstruktion seit der Institutionalisierung des Buchdrucks, da insbesondere aus prozesssoziologischer Sicht deutlich wird, in welchem Maße die jeweils neuen Kommunikationsweisen die Resultate langer ungeplanter Entwicklungsketten zwischen Mensch, Kultur und Technik sind und ihr Veränderungspotential in einer isolierten Momentbeobachtung kaum erfasst werden kann. Diese Retrospektive mündet in einer sozioevolutionären Funktionsbestimmung der Massenmedien, um die Vorbedingungen für den digitalen Medienumbruch aufzuzeigen und den Blick darauf zu lenken, welche Bevölkerungssegmente welche kommunikativen Möglichkeiten im Internet in welcher Intensität und zu welchen Zecken nutzen. Evaluation empirischer Daten. Nach einer Problematisierung der zuvor skizzierten Visionen zur Veränderungskraft des Web werden die gewonnenen Einsichten genutzt, um die bereits vorgestellten Hypothesen auszuformulieren. Die nachfolgende Sekundärauswertung der wichtigsten Erhebungen zu den Nutzungspräferenzen im Web beschränkt sich aus forschungspragmatischen Gründen auf die BRD und taxiert ausschließlich Veränderungen in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung. Da sich die verwendeten Studien (z.B. ARD/ZDF-Onlinestudie, ACTA, Eurostat) nach Beobachtungsinteressen und Methoden unterscheiden, gleichzeitig aber auch viele thematische Überscheidungen aufweisen, können deren Ergebnisse wechselseitig überprüft und in Bezug gesetzt werden. In einem zweiten Schritt werden die Qualitäten der derzeitigen Netzwerkkommunikation anhand punktueller Inhalts- und Nutzungsanalysen beobachtet, um abzuschätzen, inwieweit in tagesaktuellen Publikationsforen wie Blogs, Podcasts oder Social-News tatsächlich innovative und gesellschaftsübergreifend relevante Inhalte veröffentlicht werden. Verzichtet wird auf eine Diskussion der Rolle von Suchmaschinen als Gatekeeper im Online-Nexus, ebenfalls nicht explizit beobachtet werden Mikroblogging-Dienste wie »Twitter«.
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TEIL I SOZIALE REALITÄTSKONSTRUKTION AUS ERWEITERTER SYSTEMTHEORETISCHER
SICHT
VORÜBERLEGUNGEN
In der Einschätzung möglicher Veränderungen durch die neuen Partizipationsmöglichkeiten im Web sollte weder die Kraft gradueller Wandlungsprozesse ›von unten‹, noch die Stabilität langfristig kristallisierter sozialer Strukturen unterschätzt werden. Ziel des ersten Teils ist es daher, für die Untersuchung der gegenwärtigen Wandlungsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion einen analytischen Ansatz zu erarbeiten, der den Einordnungs- und Differenzierungscharakter der luhmannschen Systemtheorie erhalten und gleichzeitig die facettenreichen Einbindungs- und Emergenzprozesse zwischen Akteuren auf Mikro-Ebene, sozialen Gebilden auf Meso-Ebene und sozialen Strukturen auf MakroEbene in die Beobachtung einschließen kann. Ohnehin macht es Sinn, die Forschungsperspektive im Vorfeld empirischer Betrachtungen deutlich herauszuarbeiten, da die Interpretation der Daten maßgeblich durch die jeweiligen Beobachtungsprämissen mitbestimmt wird (Schulze 1993: 563). Häufig erfolgt nach theoretischen Reflexionen allerdings ein abrupter Wechsel zu empirischen Beobachtungen, die kaum Anschluss an die vorangegangenen Ausführungen finden. Insbesondere Sozialtheorien mit universellem Anspruch scheinen in ihrem Abstraktionsniveau nur selten mit empirischen Beobachtungen integrierbar zu sein. Oft liegt es daher nahe, das theoretische Besteck im Vorfeld empirischer Analysen übersichtlich zu halten. In der Taxierung der Veränderungskraft des Web ist diese Strategie jedoch überstrapaziert worden: Zwar beschäftigen sich viele Autoren explizit mit den neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten (z.B. Alpar/Blaschke 2008, Meckel 2008), allen voran Castells (2001, 2005, 2009), selten aber gelingt es, diese Ausschnittsbeschreibungen mit übergreifenden sozialen Strukturen in Bezug zu bringen. Dementsprechend 25
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
können zwar Wechselprozesse auf Meso-Ebene eingehend beschrieben werden, die Einschätzung der langfristigen gesellschaftlichen Folgen bleibt jedoch in vielen Fällen fragmentarisch und die Veränderungskraft der Netzwerkkommunikation im Web wird kaum mehr in Frage gestellt. Gerade weil quantitative und qualitative Kennziffern zur OnlineKommunikation oft genug in einem theoretischen Vakuum interpretiert werden, soll im Vorfeld der empirischen Betrachtungen ein analytischer Ansatz skizziert werden, der die Vorteile eines geschlossenen Theoriegebäudes mit der ergebnisoffenen Neugierde der Netzwerksoziologie zu kombinieren sucht und sowohl langfristige ›top-down‹- als auch graduelle ›bottom-up‹-Wandlungsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion reflektieren kann. So soll in einer Flut von empirischen Daten der Blick für Beobachtungslinien geschärft werden, die häufig unterbeleuchtet bleiben: Die Beobachtung, dass über 50% der deutschen Onliner Videoportale nutzen (ARD/ZDF 2009), kann beispielsweise zu der schnellen Vermutung führen, dass die klassischen Massenmedien ihren Einfluss verlieren werden. Eine theoretische Sichtweise, die massenmediale Wirklichkeitsbeschreibungen als kontingenzüberwindende Stellen in der allgemeinen Kommunikation beschreibt, wirft mithin die Frage auf, wer genau solche Angebote im Netz zu welchen Zwecken nutzt, und legt gegebenenfalls die Einsicht nahe, dass durch »Youtube« vielleicht doch nur ein erhöhtes kommunikatives Rauschen erzeugt wird. Wenn nun ein Modell skizziert wird, das ein hochgradig ausdifferenziertes Beobachtungsraster für soziale Strukturen (Luhmann) durch eine strömungsstrukturelle Grundlegung (Elias) und Überlegungen zu sozialen Gebilden auf Meso-Ebene ergänzen will, geschieht dies in der Hoffnung, eine Sichtweise auf die Nutzungspräferenzen im Web zu erarbeiten, die sowohl weniger offensichtliche graduelle Entwicklungsprozesse als auch strukturelle Konstanten in der sozialen Realitätskonstruktion fokussieren kann. Diesem Anliegen werden nun zunächst einige wissenssoziologische und kognitionswissenschaftliche Implikationen vorangestellt, die neben einem langfristigen Beobachtungskontext die Überwindung des klassischen Mikro-Makro-Schismas nahelegen.
Wissenssoziologische und kognitionswissenschaftliche Prämissen Die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion sind seit jeher Bestandteil der soziologischen Forschung (z.B. Comte 1914: 66). Seit den 1970er Jahren beschäftigen sich zudem auch Autoren aus dem kognitionswissenschaftlichen Umfeld mit geteilten Wirklichkeitssichten bzw. ›Distri26
VORÜBERLEGUNGEN
buted Cognition‹ (z.B. Hutchins 1995). Um konkrete Anforderungen an eine Soziologie sozialer Realitätskonstruktion zu entwickeln, werden diese beiden Denktraditionen auf den folgenden Seiten vorgestellt und miteinander in Bezug gesetzt. Letzteres geschieht selten, obwohl schon Elias davon überzeugt war, dass sich ein umfassendes Bild von Mensch und Gesellschaft nur durch die wechselseitige Bezugnahme aller beteiligten Forschungsfelder zeichnen ließe: »Derzeit sind diese Begriffe [Natur, Kultur] geformt, als bezögen sie sich auf völlig voneinander unabhängige Segmente der Welt, in der Menschen leben. [...] Es ist aber die organische Struktur des Menschen, die deren Wissen erst möglich macht, genau wie sie die sprachliche Kommunikation und damit die Weitergabe von Wissen [...] ermöglicht.« (Elias 2001, 141)
Die zögerliche Rezeption der kognitionswissenschaftlichen Forschung in der Soziologie fußt vermutlich auch auf den regelmäßigen Kolonialisierungsbemühungen gegenüber ihrem Erklärungsbereich, die mitunter aus dem naturwissenschaftlichen Sektor zu registrieren sind (z.B. Wilson 1975). Darüber hinaus riet schon Comte angesichts allzu ausgedehnter Deduktionsketten dazu, der Physiologie ausschließlich den Nachweis der basalen Ursachen für menschliche Kulturfähigkeit zuzugestehen (Comte 1914: 171). Mittlerweile wird das Paradigma der »zwei Kulturen« (Snow 1967), das von einem tiefen Graben zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz berichtet, von vielen Seiten allerdings zurecht in Frage gestellt und die Soziologie als eine dritte Kultur charakterisiert, die eine vermittelnde Rolle in diesem Diskurs einnehmen sollte (Lepenies 1985).
Wissenssoziologische Implikationen Schon Comtes Drei-Stadien-Gesetz vom Werdegang einer Kultur lässt sich der Wissenssoziologie zuordnen: Er sieht den Menschen von dem Bedürfnis getrieben, seine Umwelt möglichst schnell kontrollierbarer zu machen. Weil diesem Begehren jedoch allzu oft Grenzen gesetzt sind, lasse sich der Mensch von Phantasiebildern leiten, die »mit der schlafbringenden Kraft des Opiums« vergleichbar seien (1979: 19). Dieser auf übernatürlichen Ideen fußende Erklärungsansatz ist die erste Stufe in Comtes Modell. Der nachfolgende metaphysische Zustand dient als Übergang zu dem erstrebenswerten positivistischen Zustand, in welchem »die Tatsachen nach Ideen oder allgemeinen Gesetzen von völlig positiver Beschaffenheit geordnet« werden (1914: 66). Bereits Simmel (1908: 20) äußerte hingegen grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit 27
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objektiver Erkenntnis: Soziale Wirklichkeit entstehe durch Wechselwirkungen zwischen den Subjekten und die Gesellschaft könne ihre Einheit nur durch ihre Bewusstseinsprozesse erfahren, wobei jeder Einzelne sich und seine Umwelt nur nach individuellen Kriterien wahrnehmen könne. Scheler formuliert diesen Verdacht der Beobachterrelativität weiter aus: Von Comte übernimmt er die Trias der Wissensformen, vermutet aber eine Gleichwertigkeit und -zeitigkeit aller drei Zustände: Wissenschaft sei wie Religion oder Metaphysik stets auch von Machtinteressen geprägt, denn »der soziale Charakter alles Wissens [...] [ist] unbezweifelbar« (Scheler 1926: 170). Diese unterschiedlichen Denkweisen definiert er als gleichberechtigte Fragmente einer nie vollständig erfassbaren Wahrheit. Mit Rekurs auf Dilthey (1863) verfolgt Mannheim (1980) diese Denkweise weiter und beschäftigt sich vor dem Hintergrund der Wirrungen der Weimarer Republik mit den Wechselprozessen zwischen sozialen Strukturen und Realitätsbildern. Er erkennt eine historisch gewachsene Verbindung zwischen diesen Einheiten und unterscheidet dabei den »objektiven Sinn«, den der Einzelne durch die Beobachtung bloßer Fakten versteht, den »intendierten Ausdruckssinn«, der keine Ablösbarkeit vom Subjekt besitzt und die »dokumentarische Interpretation«, die das nichtintendierte Restsinnsubstrat (z.B. ein Epochenstil) beschreibt (1964: 104). Nicht nur das Denken im Alltag, sondern auch die Geisteswissenschaften sind ihm zufolge im sozialen Raum verankert. Eine weitere Linie beginnt bei Schütz, der Husserls (1954) Vorstellung der Lebenswelt als intersubjektiv sinnvolle Welt nutzt, um ein mehrdimensionales Sinnkonzept zu entwickeln: Die erste Schicht reflektiert das Handeln, das sich auf die Dinge selbst bezieht. Die zweite Schicht umfasst das Handeln, das sich auf ein alter ego bezieht. Die dritte Schicht schließt auch dessen momentanes Verhalten mit ein. Die vierte Schicht integriert die Verhaltensentwicklung des anderen und die fünfte Sinnschicht wird durch die Deutung des Beobachters konstituiert (Schütz 1974: 24-32). Schütz unterscheidet also zwischen dem Handeln als Tätigkeit (›actio‹) sowie dem gedanklichen Entwurf (›actum‹). Eine Erkenntnislücke bleibt ihm zufolge aber die Frage nach der Möglichkeit von Intersubjektivität an sich. Er vermutet in diesem Kontext, dass die Lebenswelt durch die »natürliche Einstellung« geprägt sei, die auf die Konstanz von Erlebnissen und Aktionsräumen vertrauen lässt: »Unser Verhältnis zur sozialen Welt basiert auf der Annahme, dass [...] Gegenstände von unseren Mitmenschen auf substantiell die gleiche Weise erlebt werden [...]. Wenn dieser Glaube [...] zusammenbricht, dann ist die [.] Möglichkeit, [...] eine Kommunikation aufzubauen, zerstört.« (Schütz 1972: 111)
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In seinem Aufsatz »On Multiple Realities« (1971) entwickelt Schütz die Theorie, dass im menschlichen Erfahrungsraum viele unterschiedliche Sinnprovinzen existieren. Eine archetypische Stellung hält dabei die Alltagswelt inne. Berger/Luckmann (2001: 16) postulieren daran anknüpfend, dass es »ein begreiflicher Fehler der Theoretiker« sei, »theoretisches Denken in Gesellschaft und Geschichte« überzubewerten; da aber nur Wenige »zum Theoretisieren berufen« seien, gebühre »Allerweltswissen, nicht ›Ideen‹ [.] das Hauptinteresse der Wissenssoziologie«. Folgerichtig wenden sich Berger/Luckmann der Wirklichkeit des Alltags zu, die sie als das Resultat einer dialektischen Triade beschreiben: Subjektiver Sinn wird zunächst externalisiert und durch einen Objektivierungsprozess anderen Subjekten zugänglich gemacht. Bewährte Objektivierungen institutionalisieren sich und stellen für den Einzelnen allmählich »ein zwingendes System von Auslegungen dar« (Luckmann 1999: 23). Diese Sinnwelten fungieren als Basis für die Identitätskonstruktion, wobei Berger/Luckmann für den Einzelnen einen farbenfrohen Strauß an Wahl- und Qualmöglichkeiten erkennen: Einerseits existieren parallel verlaufende Sozialisationslinien, andererseits liegen in verschiedenen Gruppierungen konkurrierende Realitätssichten vor. Die Autoren sprechen von »Verrat an sich selbst«, sobald sich ein Mensch mit entgegengesetzten ›Welten‹ identifiziert und in einer Welt konträr zur anderen handelt. Es versteht sich, dass die Bandbreite der Austauschpunkte, an denen verschiedene ›Welten‹ erlebt werden können, mit der Institutionalisierung des Web erneut drastisch angestiegen ist. Die klassische Wissenssoziologie beschäftigt sich also mit unterschiedlichen Strängen der sozialen Realitätskonstruktion: Comte, Scheler und Mannheim beleuchten primär theoretische Denkstrukturen; Berger/Luckmann hingegen fokussieren die Welt des Alltags. Während Comte noch von der Möglichkeit objektiven Wissens ausgeht, weisen Scheler und Mannheim auf die soziokulturelle Perspektivität jeder Realitätssicht hin und Schütz hebt hervor, dass unsere soziale Welt nur auf Basis vereinbarer Realitätsvorstellungen funktionieren kann. Auf dieser Grundlage lassen sich folgende Implikationen festgehalten: • Realitätsbeschreibungen sind prinzipiell beobachterrelativ und folgen sozioevolutionär kristallisierten Kontexten. Die einzelnen Sinnsphären müssen folglich klar voneinander abgegrenzt werden. • Geteilte Wirklichkeitssichten erhalten sich ausschließlich durch die kontinuierlichen Reproduktionsleistungen der einzelnen Akteure. • Es macht keinen Sinn, in einer isolierten Momentbeobachtung zu verharren und langfristige Entwicklungsprozesse zu übergehen.
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Kognitionswissenschaftliche Implikationen Wenn die einzelnen Individuen als verteilte Reproduktionsstellen gesellschaftsweiter Realitätsvorstellungen beschrieben werden, stellt sich unversehens die Frage nach deren kognitiven Prämissen, denn diese bestimmen ja letztlich den Bezugsrahmen sozialer Strukturen. Antworten auf diese Frage werden auch in der Kognitionswissenschaft gesucht, aus deren Arsenal hier drei für unseren Kontext fruchtbare Ansätze vorgestellt werden: Das Modell der kumulativen kulturellen Evolution Tomasellos, das Konzept der neuronalen Determination Singer/Roths und die Theorie des ›Conceptual Blending‹ von Turner/Fauconnier. Tomasello (1999/2009) will klären, was den Menschen von anderen Säugetieren so sehr unterscheidet, dass er als einzige Spezies zu kultureller Kommunikation fähig ist. Er verweist darauf, dass der Mensch ca. 99% seines genetischen Materials mit anderen Primaten teilt und sein eigenständiger Entwicklungszeitraum viel zu kurz ist, um solch große Entwicklungssprünge zu rechtfertigen. Tomasello geht daher davon aus, dass nur kleine genetische Veränderungen einen Mechanismus der kumulativen kulturellen Evolution in Gang gesetzt haben, der deutlich schneller arbeitet als die biologische Evolution. Beispielsweise wurde in »grauer Vorzeit« entdeckt, dass ein Stein ein Hilfsmittel sein kann, um etwas aufzubrechen. Durch Instruktion oder Imitation lernten nachfolgende Generationen den Umgang mit diesem Utensil. Findige Benutzer stellten bald fest, dass sie kraftvoller zuschlagen können, wenn ein Stock als Griff befestigt wird. Und diese Kette der sich graduell akkumulierenden Modifikationen setzte sich fort, bis heutige Kinder nur noch mit einem Werkzeug konfrontiert werden, dass sie als natürlich empfinden und benutzen, ohne seine Entwicklung nachvollziehen zu müssen. Dieser »ratchet effect« wirkt qua Tomasello auf allen Feldern kultureller Evolution, so auch in der Sprachentwicklung (Abb. 1). Abbildung 1: Die kulturelle Evolution der englischen Sprache
Quelle: Tomasello 1999: S. 38-43 (Darstellung: Eigene Überlegungen) 30
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Ermöglicht wurde dieser soziokulturelle Mechanismus Tomasello zufolge durch zwei einzigartige kognitive Adaptionen: Die Fähigkeit, sich selbst und andere Menschen als intentionale Agenten mit eigenen mentalen Schwerpunkten zu verstehen, und die genetisch angelegte Motivation, Kooperationen eingehen zu wollen (Tomasello et al. 2005). Mit Rückgriff auf Searle (2004) vermutet er zudem, dass durch geteilte Intentionen à la longue soziale Institutionen entstanden sind, die zwar als objektive Fakten gelten, da sie durch den Einzelnen nicht in Frage gestellt werden können, aber nur aufgrund gemeinsamer Anerkennung existieren. Auch Tomasello unterstreicht folglich den Einfluss langfristiger Kristallisationsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion. Während sich Tomasellos Annahmen auf das beobachtbare Verhalten von nichtmenschlichen Primaten und menschlichen Kindern stützen, nähern sich Singer (2004) und Roth (2001) der Frage nach den kognitiven Prämissen des Menschen auf der Grundlage neurophysiologischer Laborergebnisse an und gehen davon aus, dass jedes Gehirn bei neuen Wahrnehmungen durch die bereits vorhandenen neuronalen Verschaltungen determiniert ist. Die Vorstellung des ›Ich‹ als zentrale Exekutive erscheint nur noch als ein evolutionär sinnvolles Hirngespinst, welches das Abspeichern von Handlungsprozessen erleichtert: »Das Gefühl des freien Willens entsteht, nachdem limbische Strukturen und Funktionen bereits festgelegt haben, was zu tun ist« (Roth 2001: 453). Und Singer (2003: 56) unterstellt ausgehend von der Beobachtung, dass das menschliche Gehirn Informationen in konnektionistischen Netzwerkwerken verarbeitet und handlungsentscheidende Aktivationsmuster deutlich vor der bewussten Entscheidung der Probanden messbar sind, dass es im menschlichen Denkorgan »offensichtlich keinen einzelnen Ort [gibt], wo alle Informationen zusammenlaufen«. Diese von Roth (2006) erweiterte Annahme, dass das »unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungsgedächtnis« dem »Entstehen unserer Wünsche und Absichten« voraus gehe, hat zur Folge, dass das subjektive Freiheitsbewusstsein nur noch als nachgeordneter Reflex neuronaler Aktivitäten erscheint. Aus nachvollziehbaren Gründen provozieren solche Positionen kritische Stimmen aus dem philosophischen Bereich. Als einer ihrer prominentesten Vertreter vermerkt Habermas (2004), dass der von der Hirnforschung vertretene neuronale Determinismus »mit dem alltäglichen Selbstverständnis handelnder Subjekte unvereinbar« sei und gerade deshalb nicht in die Beobachtung der Gesellschaft integriert werden könne, da durch derartige Sichtweisen »das Selbstverständnis von [handelnden] Personen, die zu Gründen Stellung nehmen, zum Epiphänomen« erklärt würde. Zudem verweist Habermas auf methodische Schwächen der aktuellen Hirnforschung, denn ihre Bemühungen, mentale Vorgänge aus 31
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physiologischen Prozessen ableiten zu wollen, seien durch reduktionistische Hypothesen fundiert: So scheinen Libets Studien (2004) zwar zu belegen, dass neuronale Prozesse bewusste Handlungen determinieren, dies aber nur, weil Körperbewegungen als Handlungen verstanden und aus sozialen Kontexten gerissen würden. Ähnlich sieht es Bieri, der scharf dafür eintritt, die jeweiligen analytischen Grenzen einzuhalten: »Betrachten wir ein Gemälde. Wir können es als einen physikalischen Gegenstand beschreiben. Wir können aber auch vom dargestellten Thema sprechen. Oder es geht uns um Schönheit und Ausdruckskraft. Oder um den Handelswert. [...] Keine der Beschreibungen ist näher an der Wirklichkeit oder besitzt einen höheren Grad an Tatsächlichkeit als die anderen [...]. Man darf verschiedene Perspektiven nicht vermischen. Denken wir uns jemanden, der ein Bild zerlegte, um herauszufinden, was es darstellt: Wir würden ihn für verrückt halten – verrückt im Sinne eines Kategorienfehlers. Wie beim Gemälde, so auch beim Menschen. Es gibt eine physiologische Geschichte über den Menschen [...]. Daneben gibt es eine psychologische Geschichte [...]. Aus dieser Perspektive wird ihm vieles zugeschrieben, das in der ersten Geschichte nicht Thema sein kann [...]. Nehmen wir an, jemand zerlegte einen Menschen, wenngleich nur im Tomographen, um herauszufinden, was er will, überlegt und entscheidet. Wäre er nicht auch verrückt [...]?« (Bieri 2005)
Singer/Roths Postulat der neuronalen Determiniertheit erscheint also aus philosophischer Sicht durchaus fragwürdig. Eine ihrer Annahmen kann jedoch kaum mehr widerlegt werden, nämlich die Selbstreferenzialität des menschlichen Bewusstseins, die schon durch die Außenform des Körpers repräsentiert wird: Alle Eindrücke, die wir neuronal verarbeiten, müssen zunächst durch unsere selektiven Sinne aufgenommen werden, alle Reaktionen auf Umwelteinflüsse werden körperintern erzeugt. Aus anderer Perspektive nähern sich Turner/Fauconnier (2002: 142) der hier verfolgten Fragestellung an: Ihnen zufolge basiert individuelles und distribuiertes Denken auf dem oft unbewussten Prozess des ›Conceptual Blending‹: Die in vorangegangenen Erlebnissen erworbenen Konzepte werden mit neuen Inputs selektiv überblendet, so dass ein innovatives Konzept entsteht, das mehr ist, als nur eine Mischung der Inputs. Dabei geht es ihnen um weit mehr als nur Metaphernverarbeitung: »The network model is concerned with dynamical cognitive work people do to construct meaning for local purposes of thought and action.« Ihre Ansatzpunkte bleiben freilich Analogien wie der folgende Scherz: »MENENDEZ BROTHERS VIRUS: Eliminates your files, takes the disk space they previously occupied, and then claims that it was a victim of physical and sexual abuse on the part of the files it erased.« (Coulson 1996)
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Die Menendez-Brüder wurden in den USA der 1990er Jahre bekannt, weil sie ihre Eltern umbrachten, ihr Eigentum übernahmen und danach fälschlicherweise erklärten, sie seien ihre Opfer aufgrund sexuellen Missbrauchs. Im Dekonstruktionsprozess dieser Aussage lösen sich Quelle und Ziel vollkommen auf: Transfergegenstand ist nicht nur das Konzept ›Virus‹, sondern ebenso die ›Menendez-Brüder‹. Der Sinn des Scherzes erschließt sich erst durch multidirektionale Projektionen. Abbildung 2: Das Basismodell des Conceptual Blendings
Quelle: Turner/Fauconnier 2002: 142 (modifiziert) Um solche Transferleistungen zu erklären, haben Turner/Fauconnier ihr Modell des ›Conceptual Blending‹1 entwickelt, das auf einem mehrdimensionalen Konzeptraum basiert (Abb. 2): Zu mindestens zwei Input Spaces (Quelle, Ziel) kommen der Generic Space und der Blend hinzu, in welchem nur ein Teil der Attribute von Quelle und Ziel verarbeitet und mit Hintergrundinformationen unterfüttert wird. Der Generic Space umschreibt das gemeinsame Substrat aller vorangegangenen sachbezogenen Inputs und bestimmt so, welche Input-Fragmente projiziert werden. Die emergenten Bedeutungsstrukturen im Blend entstehen dann durch drei kognitive Operationen: Die Input-Elemente werden miteinander in Bezug gesetzt, nach gespeicherten Mustern zu einer konsistenten Vorstellung ergänzt und schließlich durch Erprobungen verfeinert.
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Ein weiteres Beispiel für Conceptual Blending sind die »Übersetzungsvorgänge«, die bei der Bedienung eines Computers per Maus vor sich gehen (Fauconnier 2001). 33
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Turner/Fauconnier teilen in ihrem Modell folglich den Verdacht der Selektivität und Selbstreferenzialität aller kognitiven Operationen auf individueller wie kommunikativer Ebene. Anhand der vorgestellten kognitionswissenschaftlichen Ansätze können wir die wissenssoziologischen Implikationen also wie folgt weiter spezifizieren: • Alle verteilten und individuellen kognitiven Operationen sind durch die vorangegangenen Aktualisierungen des jeweiligen Sinnzusammenhangs bestimmt. Alle kognitiven Aktivitäten zeichnen sich daher durch eine gerichtete Selektivität aus. • Individuelle Erkenntnisse sind unablösbar von wir-zentrierten Orientierungsrastern und Grundüberzeugungen, wie sich auch diese sozioevolutionär kristallisierten Realitätskonzepte nur durch beständigen kommunikativen Rückbezug erhalten können.
Das Mikro-/Makro-Dilemma der Soziologie Die herausgestellten wissenssoziologischen und kognitionswissenschaftlichen Implikationen münden in der Einsicht, dass ein unauflösbarer Wechselprozess zwischen individuellen und wir-zentrierten Realitätskonstruktionen vorliegt: Geteilte Wirklichkeitssichten stabilisieren sich in der kontinuierlichen Bezugnahme der jeweiligen Akteure und individuelle Erkenntnisse können sich nicht abgelöst von diesem Nährboden entwickeln, der als Steigbügel für individuelle kognitive Aktivitäten fungiert: Ein Raumgestalter beispielsweise muss sich heute nicht mehr selbst überlegen, wie er den Nagel in die Wand bringen soll, sondern kann auf die Erfindung des Hammers zurückgreifen – und ggf. innovative Einsatzmöglichkeiten für dieses Tool finden (Tomasello 1999). Genau in dieser situationsbezogenen Reproduktion und Interpretation wirzentrierten Wissens liegt gleichzeitig die Chance für graduelle Transformation: Jeder Akteur wird nicht nur in soziale Kontexte eingebettet, sondern interpretiert die geteilten Werte und Konzepte angepasst an die vorliegenden Umweltbedingungen und seine eigenen Überzeugungen. Allmähliche ›bottom-up‹-Wandlungsprozesse lassen sich jedoch mit Ansätzen, die sich wie die Theorie sozialer Systeme explizit in der Makrosoziologie verorten (Luhmann 1985), nur schwer beobachten (Weber 2005, Bjerg 2005), auch wenn die Systemtheorie die drei Ebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft eigentlich für eine inklusive Hierarchie hält (Stichweh 2000: 15, Tang 2007: 89). Der Vorteil dieses Analyserahmens besteht in unserem Kontext denn auch eher in der Berücksichtigung der Beobachterrelativität und Selektivität aller kognitiven Operationen in sozialen wie psychischen Systemen und der damit 34
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verbundenen entschiedenen Differenzierung zwischen den Sinnsphären gesellschaftlichen Lebens. Auf der anderen Seite finden sich bei Beobachtern der durch das Web zu neuer Prominenz beförderten netzwerkartigen Formen (z.B. Castells 2004, Häuseler 2007) durchdringende Ausschnittbeschreibungen von Austauschprozessen und Relationen auf der Meso-Ebene. Oft genug jedoch bleiben dabei die Verzahnungen mit der Ebene sozialer Strukturen, aber auch das Verhältnis zwischen Netzwerken und eingebundenen Akteuren unterbelichtet (Fuhse 2008: 2933). Primär durch die netzwerktheoretische Marginalisierung übergreifender Strukturen erscheint ein Wandel in der sozialen Realitätskonstruktion durch die Kommunikation im Web folglich äußerst wahrscheinlich, während dieser aus systemtheoretischer Sicht kaum denkbar erscheint. Gerade in der Beobachtung der neuen partizipativen Möglichkeiten im Web und ihrem Einfluss auf die soziale Realitätskonstruktion sollten allerdings die vielfältigen Einbindungs- und Emergenzprozesse zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene nicht aus dem Blickfeld fallen, um graduelle Transformationsprozesse unterhalb der Strukturebene mit gesellschaftsübergreifenden Prozessen der Wirklichkeitsbeschreibung in Bezug bringen zu können. Auswege aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Mikro-Makro-Dilemma werden denn auch seit geraumer Zeit gesucht (z.B. Habermas 1981, Bourdieu 1979, Beck 1993, Giddens 1990, Esser 2000, Münch 1987, Coleman 2001). Nachfolgend werden aus diesem Repertoire vier Ansätze knapp diskutiert, die Anschluss an systemtheoretische Denkmuster finden: Becks »Theorie reflexiver Modernisierung«, die Strukturationstheorie Giddens’, die colemansche Badewanne und Essers »Modell der soziologischen Erklärung«.
Beck Beck (1993: 75-98) umschreibt transsystemische Netzwerke als die tragenden Säulen einer sich verändernden Moderne: »Die Theorie reflexiver Modernisierung denkt Modernisierung vernetzt«, weshalb es durchaus zu einer »funktionale[n] Koordination, Vernetzung, Verschmelzung ausdifferenzierter Teilsysteme« kommen könne. Er generiert diese Perspektive vor der Hoffnung, dass die zukünftige Gesellschaft nicht mehr durch das Primat der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet sein müsste, sondern eine demokratischere Moderne denkbar wäre. Diese Haltung führt zu einer sehr einseitigen Sicht auf die Wechselprozesse zwischen Mikro- und Makroebene: Nicht nur kann vernetztes Handeln der Akteure nach Beck die gesellschaftlichen Strukturen verändern, diese Strukturen können darüber hinaus »selbst zum Gegenstand sozialer Aushandlungs- und Veränderungsprozesse« werden (207). Konkrete 35
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Hinweise, wie systemübergreifende Netzwerke funktionieren sollten, finden sich allerdings kaum. Kritische Stimmen unterstellen Beck in diesem Kontext, dass es sich bei seinen Überlegungen eher um politische Philosophie als um eine theoretisch handfeste bzw. empirisch gehaltvolle Soziologie handle (Stork 2001).
Giddens Giddens (1984: 51-90) liefert einen aussichtsreicheren Ansatz zur Vermittlung zwischen Struktur und Handlung: In seiner Theorie wirken Strukturen nur begrenzt verhaltenssteuernd, da diese von den Akteuren stets situativ interpretiert werden. Strukturen sind daher sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns, werden durch die Rückbezüge der Akteure (re-)produziert2 und münden langfristig gegebenenfalls in sozialen Systemen. Bei erster Betrachtung bietet Giddens folglich eine fruchtbare Basis für eine synthetisierende Denkweise, allerdings erfährt er vielfältige Kritik aufgrund seiner ungenauen Begriffsdefinitionen und der eklektizistischen Kombination hermeneutischer, strukturalistischer bzw. funktionalistischer Begriffe (Sewell 1992): Archer (1995) zufolge könne Giddens nicht überzeugend erklären, wie Struktur gleichzeitig »ever-present precondition« und gleichzeitig »post-dated outcome of human agency« sein könne, was auch einer inkonsistenten Verwendung des Emergenzbegriffs geschuldet ist (Sawyer 2002). Zudem ergibt sich ein beträchtliches Irritationspotential, wenn Giddens soziale Strukturen einerseits als »virtual order« (1984: 17) definiert, aber gleichzeitig betont, sie bestünden sowohl aus Regeln und Ressourcen (Sewell 2005). Der zentrale Kritikpunkt besteht jedoch im Horizont der angenommenen Beobachterrelativität aller Wirklichkeitssichten in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt als Ausgangspunkt der Überlegungen Giddens’ (Tang 2007: 95).
Coleman Ein weiterer Vermittlungsversuch besteht in der ›colemanschen Badewanne‹, die auf dem methodologischen Individualismus bzw. dem Menschenbild des ›homo oeconomicus‹ beruht: Nach diesem Modell führt ein Makrophänomen A zu einem Makrophänomen B, indem A zunächst auf die Akteure einwirkt und die Randbedingungen setzt, an denen diese
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Ein Beispiel ist das Erlernen von Fremdsprachen: Ziel ist es, diese möglichst korrekt zu sprechen. Durch die Anwendung von sprachlichen Regeln wird die Sprache aber gleichzeitig reproduziert (Giddens 1997: 77).
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ihre Handlungspläne ausrichten (actum). Nachfolgend kommt es dann zum tatsächlichen Handeln der Akteure (actio), woraus sich wiederum das Makrophänomen B aggregieren lässt (Coleman 1991: 10). Dieses Vorgehen führt jedoch zu stark vereinfachten Erklärungsentwürfen (z.B. Prosch/Abraham 1991). Coleman erkennt zwar die Verflochtenheit zwischen Mensch und Gesellschaft und die Einschränkungen, denen Individuen in vielfältigen Beziehungsstrukturen ausgesetzt sind, allerdings reduziert er selbst komplexe soziale Systeme stets auf kollektives Verhalten und dieses wiederum auf die Handlungen individueller Akteure (Treibel 2006: 137). In diesem Zusammenhang bemerkt Balog (2009: 264) zudem eine verengte Handlungstheorie, die nur »ein sehr blasses Bild der tatsächlichen Beweggründe der Beteiligten« zu vermitteln weiß. Colemans Modell bleibt insbesondere hinsichtlich der sozialen Ebenen zwischen Akteur und Struktur fragmentarisch und bietet daher kaum Erklärungspotential hinsichtlich der Frage, inwieweit die neuen kommunikativen Möglichkeiten im Web die gesellschaftsübergreifende Realitätskonstruktion beeinflussen können.
Esser Eine Erweiterung erfährt Colemans ›Badewanne‹ durch Essers (1993) »Modell der soziologischen Erklärung«, das den Grundannahmen des vielkritisierten Rational-Choice-Ansatzes folgt (Green/Shapiro 1994, ergänzend: Kroneberg 2005). Essers Ansicht nach besteht die Aufgabe der Soziologie nicht ausschließlich in der Beschreibung sozialer Prozesse und Systeme, sondern auch in der Erklärung sozialer Phänomene als Folge spezifischer kausaler Ursachen. Nicht der einzelne Akteur, sondern die Dynamiken kollektiv handelnder Akteure in einer sozialen Struktur stehen im Beobachtungsfokus Essers, der die Austauschprozesse zwischen der Mikro- und Makroebene deutlich intensiver beschreibt als Coleman: Gesellschaftliche Merkmale auf Makro-Ebene (z.B. soziale Institutionen) bestimmen die ›Logik der Situation‹, unter der sich Akteure auf Mikro-Ebene nach der ›Logik der Selektion‹ (z.B. Rational Choice) zu einer spezifischen Handlung entscheiden. Die ›Logik der Aggregation‹ (z.B. Diffusionsmodelle) transformiert schließlich diese individuellen Entscheidungen in kollektive Effekte. Esser entwickelt in seinem Modell ein evolutionäres Verständnis der Erprobung, Selektion und Weiterentwicklung sozialer Institutionen: Sie erscheinen als Ergebnisse langfristiger Aggregationsprozesse, die sich von der Akteursebene über »soziale Gebilde« auf einer Meso-Ebene bis zur Ebene sozialer Strukturen vollziehen (Esser 1993: 560-565). Er liefert damit einen ersten Anriss zur mehrdimensionalen Erklärung der Ge37
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nese emergenter Sinnstrukturen, sein Hauptaugenmerk liegt aber auf den Prozessen der gesellschaftlichen Einbettung. Schulz-Schaeffer (2009) kritisiert darüber hinaus, dass Essers Modell nicht berücksichtige, dass Handlungen auch durch Zuschreibungen und Deutungen von Beobachtern konstruiert werden können (vgl. Schütz 1974).
Problemstellungen Wir stehen also vor der Problematik, dass zur Taxierung des Demokratisierungspotentials des Web in der sozialen Realitätskonstruktion der gesamte Wechselwirkungsprozess zwischen Akteurs- und Strukturebene beobachtet werden müsste, letztlich aber nach unserem Überblick kein übergreifendes Theoriegebäude vorliegt, dass sich mit dem systemtheoretischen Differenzierungs- und Neutralitätsanspruch vereinbaren ließe: Luhmanns Analyseraster selbst bleibt auf der Strukturebene verhaftet und kann durch Netzwerkkommunikation angestoßene Veränderungen ›von unten‹ kaum erklären. Die Netzwerksoziologie liefert vielschichtige Ausschnittsbeschreibungen, marginalisiert aber die Einbettungs- und Steuerungsleistungen kristallisierter sozialer Strukturen. Giddens und Coleman bleiben für unser Anliegen zu unscharf. Esser beschäftigt sich vordringlich mit Einbettungs-, aber kaum mit Emergenzprozessen zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene und Becks Überlegungen zeichnen sich eher durch politische Standpunkte denn durch Beschreibungsneutralität aus. Diese normative Orientierung ist auch ein Grund für das Übergehen der habermasschen Gedankenwelt in unserem Kontext: Nicht die Begründung der Gesellschaft (»warum?«), sondern die möglichst wertneutrale Beschreibung (»wie?«) der Prozesse sozialer Realitätskonstruktion steht im Vordergrund (Füllsack 1998, Horster 1999): Wie entstehen gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibungen und soziale Strukturen aus der Kombination von absichtsvollen kommunikativen Verhaltensweisen, »ungeplant naturwüchsigen Entwicklungen« (Mayntz 2000: 102) sowie intersubjektiven Prozessen und wie wirken diese wiederum auf die individuelle Wirklichkeitskonstruktion zurück? Ein Beobachter, der sich mit genau diesen Fragen beschäftigt und sich mit dem systemtheoretischen Erklärungsanspruch trotz unterschiedlicher Grundannahmen teilweise überraschend gut vereinbaren lässt, ist Norbert Elias: Ihm zufolge besteht die Hauptaufgabe der Soziologie in der Erklärung der Strukturen und Prozesse, die sich aus der Verflechtung von Willensakten und Plänen vieler Menschen ergeben, obwohl keiner der Beteiligten sie genau so geplant hat (Elias 1977: 131) – das World Wide Web selbst ist eines der besten Beispiele hierfür. In seiner Beschreibung der Verflochtenheit von wir-zentrierten und individuellen 38
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Erkenntnissen, deren Beobachterrelativität und der damit verbundenen Kontingenz ergibt sich ein oft unterbewertetes Überscheidungspotential zu Luhmann, der trotz aller Bezichtigungen das Individuum alles andere als marginalisiert, sondern lediglich scharf zwischen den einzelnen Ebenen der Beobachtung unterscheiden will. Luhmann und Elias nähern sich gewissermaßen von zwei Seiten derselben semi-konstruktivistischen Medaille. Dieses Überblendungspotential soll hier genutzt werden, um das sozialwissenschaftliche MikroMakro-Dilemma durch eine strömungsstrukturelle Grundierung des System-Umwelt-Paradigmas für die nachfolgende Beobachtung der durch das Web angestoßenen ›bottom-up‹- und ›top-down‹-Wandlungen in der sozialen Realitätskonstruktion ein Stück weit aufzulösen. Eine andere Möglichkeit bestünde in einer vergleichenden Reflexion der vorhandenen synthetisierenden Ansätze. Um den systemtheoretischen Überblicksund Differenzierungscharakter aufrecht zu erhalten und nichtsdestotrotz Wandel ›von unten‹ beobachten zu können, wird in diesem Band mithin ein eigener Erklärungsvorschlag zu skizziert, der auf das Forschungsvorhaben abgestellt ist und auf die vorgestellten wissenssoziologischen und kognitionswissenschaftlichen Implikationen eingehen kann.
Anforderungen Die bisherige Argumentation sollte deutlich machen, dass für die Analyse des Wandels in der sozialen Realitätskonstruktion durch das Netz eine Sichtweise benötig wird, die folgende Konzepte integrieren kann: • Die Beobachterrelativität aller Realitätsbeschreibungen und die Selektivität bzw. Selbstreferenzialität aller kognitiven Operationen; • die langfristigen Wechselprozesse zwischen individuellen und wirzentrierten Wirklichkeitsmustern; • den Rückbezug geteilter Realitätsstrukturen auf die kontinuierlichen Referenzierungs- und Interpretationsleistungen der Akteure. Gefahndet wird also nach einer Analyseperspektive, die individuelle und kollektive Akteure als Reproduktions- und Transformationsgröße geteilter Symbolstrukturen und Realitätssichten einbezieht, die langfristigen Wechselprozesse zwischen Mikro-, Meso- und Makroebenen der Kommunikation beobachten kann, gleichzeitig die Kontingenz und Beobachterrelativität aller kognitiven und kommunikativen Aktualisierungen berücksichtigt und dementsprechend trennscharf zwischen den einzelnen Sinnsphären differenziert. Da sich ein solcher analytischer Ansatz nach unserer Übersicht bislang nicht aufspüren lässt, wird in den nachfolgen39
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den Kapiteln der Versuch unternommen, Luhmanns System-UmweltParadigma mit einigen Aspekten der Prozess- und Figurationssoziologie zu kombinieren, um den systemtheoretischen Analyserahmen auch auf Prozesse unterhalb der Strukturebene anwenden zu können und so bislang unterbeleuchtete Aspekte im Wechselspiel der Netzwerkkommunikation im Web mit den etablierten medialen Strukturen in der sozialen Realitätskonstruktion deutlicher beobachten zu können. Diesem Unternehmen soll vorausgeschickt werden, dass es im Rahmen dieses Bandes nicht möglich sein wird, die vorgeschlagene theoretische Zugriffsweise in allen Aspekten auszuformulieren. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Erarbeitung eines analytischen Ansatzes, der skizzieren will, wie aus kleinteiligen sozialen Strukturen auf Mikrobzw. Meso-Ebene und den damit verbundenen Realitätskonstruktionen gesellschaftliche Gebilde werden können und wie diese wiederum – steuernd, prägend, eingrenzend – auf individuelle bzw. geteilte Sichtweisen zurückwirken. In der anschließenden Diskussion empirischer Daten soll dieses Modell einen Beitrag zur Klärung der Fragen leisten, welchen Einfluss die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web auf die gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung haben, welche bislang beobachtbaren Veränderungen in den Rezeptionsund Publikationsmustern für eine indirekte oder direkte Transformation der übergreifenden Selektions- und Beschreibungsmodi sprechen und welche strukturellen Prämissen gegebenenfalls einer Demokratisierung der gesamtgesellschaftlichen Realitätskonstruktion entgegenstehen.
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SYSTEMTHEORETISCHE
UND
PROZESSSOZIOLOGISCHE
PERSPEKTIVEN
Die Prozesssoziologie und die Systemtheorie stehen sich in ihren Grundsätzen zunächst unvereinbar gegenüber: Elias und Luhmann bedienen entgegengesetzte Beobachtungsinteressen und setzen ihr analytisches Seziermesser auf unterschiedlichen Ebenen an. Es macht daher beispielsweise wenig Sinn, Elias’ Aussagen zur »Stunde der starken Zentralgewalt« (1978: 236) im Horizont der entstehenden Europäischen Union oder des Golfkrieges mit Luhmanns Überlegungen einer funktional differenzierten und horizontal verflochtenen Gesellschaft zu vergleichen, wie es Haller (2003: 402) tut. Je nach Analysebesteck lassen sich eben einige soziale Phänomene unkomplizierter fokussieren, während andere nur schwer beobachtet werden können. Nichtsdestotrotz benötigen wir für die Taxierung der langfristigen Veränderungskraft der neuen kommunikativen Möglichkeiten im Web eine Zugriffsweise, die weder die Stabilität sozialer Strukturen noch die Möglichkeit eines graduellen Wandels ›von unten‹ unterschätzt. Konkret formuliert: Wir benötigen einen Ansatz, der weder vorschnell die Erosion der massenmedialen Hegemonie in der gesamtgesellschaftlichen Realitätskonstruktion postuliert, noch die langfristige Einfluss- und Veränderungskraft der Rezipienten aus dem Blick verliert. Diesem Anliegen kommt zupass, dass Elias und Luhmann trotz aller Dissonanzen erkenntnistheoretisch ähnliche semikonstruktivistische Positionen einnehmen, die sowohl auf die Beobachterrelativität und Selektivität aller Realitätssichten als auch auf die Wechselprozesse zwischen der individuellen und der wir-zentrierten Realitätskonstruktion eingehen. Dieses Überblendungspotential, das hier als Scharnier zwischen strö-
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mungsstrukturellen und systemtheoretischen Beobachtungen dienen soll, resultiert auch aus der Offenheit beider Autoren gegenüber kognitionswissenschaftlichen Forschungssubstraten. Da auch »Wissenschaftler [...] nur Ratten sind, die andere Ratten im Labyrinth beobachten« (Luhmann 1992), wählen wir also zwei fundamental unterschiedliche Analyseperspektiven, um der Gefahr eines Scheuklappeneffektes zu entgehen.
Systemtheoretische Zugriffsweisen (Luhmann) Grundsätze Luhmann beginnt das Einleitungskapitel zu seiner Theorie mit einer historischen Betrachtung seiner Disziplin und kommt zu einem provokanten Ergebnis: »Die Soziologie steckt in einer Theoriekrise« (1984: 7). Er vermisst eine einheitliche soziologische Zugriffsweise, die den spezifischen Gegenstandsbereich definieren und als leitende Beobachtungsperspektive Orientierung bieten kann. In diesem Kontext unterstellt er seiner Disziplin ähnliche Unschärfen wie schon Opp/Hummel (1971: 82) und sieht das vorherrschende Gesellschaftsverständnis durch drei irreführende Überzeugungen gekennzeichnet: (1) Gesellschaft bestehe aus konkreten Menschen und deren Beziehungen, (2) Gesellschaft werde durch menschlichen Konsens konstituiert und (3) Gesellschaften seien territorial begrenzte Einheiten, die sich von außen betrachten lassen. Diese Annahmen reichen Luhmann zufolge aber nicht aus, um soziale und psychische Prozesse wirksam voneinander zu unterscheiden. Ein solcher Akt der Differenzierung ist ihm zufolge aber notwendig, denn »die Gesellschaft wiegt nicht genauso viel wie alle Menschen zusammen« (1997: 24). Auch werde niemand »all das, was sich im aktuellen Aufmerksamkeitsbereich des Einzelbewusstseins […] abspielt« als soziale Prozesse ansehen (1997: 26). Luhmann plädiert also wie Bieri (2005) dafür, die Analyseebenen nicht zu vermischen und sieht daher nur die Möglichkeit, »den Menschen voll und ganz, mit Leib und Seele« der Umwelt der Gesellschaft zuzuordnen (1997: 30) – eine Formulierung, die viele kritische Stimmen hervorief: Weber (2005: 103) etwa beklagte die »systemtheoretische Eliminierung der Subjekte« und Voss (1998) stellte die Frage: »Systemtheorie: Verschwindet der Mensch?« Luhmann unterschätzt allerdings mitnichten den Menschen als Individuum, sondern behandelt ihn vielmehr als einzigartiges Patchwork aus vielschichtigen Einflüssen: Ein Mensch durchläuft in seinem Leben sehr viele Rollen in verschiedenen sozialen Systemen (z.B. Familie, Schule, Firma, Sportvereine, Freundschaftskreise, Parteien) und erwirbt ebenso 42
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viele Beobachtungsperspektiven, die er intern stets gegeneinander aufwiegen kann. Extern agiert er jedoch stets unter Berücksichtigung der Gegebenheiten kommunikativer Kontexte: »Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert. Es benötigt ein musikalisches Selbst für die Oper, ein strebsames Selbst für den Beruf, ein geduldiges Selbst für die Familie. Was ihm für sich selbst bleibt, ist das Problem seiner Identität.« (Luhmann 1989: 223)
Da Luhmann Kommunikation als zentrale Operation der Gesellschaft charakterisiert, kann er zudem auf den Menschen als syntaktischen und semantischen Interpreter gar nicht verzichten. Gesellschaft operiert seines Erachtens ausschließlich auf der Basis von Kommunikation, weshalb diese wie das menschliche Gehirn als operativ geschlossen bezeichnet werden kann. Gleiches gilt für soziale Funktionssysteme, da sie unter Verwendung inkompatibler Medien kommunizieren (Tab. 1). Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Gesellschaft nicht von den teilnehmenden Individuen abhängig wäre. Luhmann betont, dass operative Geschlossenheit nicht »als kausale Isolierung, Kontaktlosigkeit oder Abgeschlossenheit« (1997: 68) verstanden werden sollte. Vielmehr basiert die kognitive Offenheit eines Systems gerade auf seiner operativen Geschlossenheit: Der Grad der Ausdifferenzierung eines Systems bestimmt seine Fähigkeit, unwichtige Umweltentwicklungen zu ignorieren, um permanente Überforderung vermeiden zu können. Tabelle 1: Einige Funktionssysteme, Kommunikationsmedien und Codes Funktionssysteme
Medium
Beobachtungscode
Wirtschaft
Geld
Zahlung/Nichtzahlung
Recht
Rechtsprechung
Recht/Unrecht
Politik
Macht
Einfluss/kein Einfluss
Wissenschaft
Wahrheit
wahr/unwahr
Religion
Glaube
Immanenz/Transzendenz
Quelle: Luhmann 1997 (Darstellung: Eigene Überlegungen) Das Universalmedium für psychische wie soziale Systeme ist der Sinn, denn alle ihre Operationen geschehen unter Sinnbezug: »Beide Arten von Systemen sind im Wege der Co-Evolution entstanden. Die eine ist nicht ohne die andere möglich und umgekehrt« (1984: 141). Dabei wird 43
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Sinn allerdings nicht als konstante Weltqualität verstanden, sondern als eine »von Moment zu Moment reaktualisierte Unterscheidung« (1997: 45), die weder von sozialen noch psychischen Systemen getragen wird, sondern sich selbstreferenziell reproduziert. Luhmann exkludiert den Menschen also zunächst aus der Gesellschaft, um eine analytisch saubere Unterscheidung der Beobachtungsebenen zu ermöglichen. Gleichzeitig erkennt er aber deren wechselseitige Durchdringung an und versucht diese vor dem Hintergrund einer scharfen Differenzierung mit dem entsprechenden Vokabular zu erfassen: Das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft ist ihm zufolge geprägt von Interpenetrationen und strukturellen Koppelungen. ›Strukturelle Kopplung‹ beschreibt die wechselseitige Abhängigkeit zweier Systeme, ›Interpenetration‹ meint die Bereitstellung der strukturellen Komplexität eines Systems für den Aufbau eines anderen. So wird Gesellschaft nur durch Kommunikation konstituiert, für den Prozess der Kommunikation aber ist der Mensch als Codierer unerlässlich. Gegen territoriale Gesellschaftskonzepte schließlich spricht nach Luhmann die wachsende Zahl an weltweiten Interdependenzen: Einerseits würde das Ausmaß unterschätzt, »in dem die Informationsgesellschaft weltweit dezentral und konnexionistisch über Netzwerke kommuniziert« (1997: 31), andererseits bestünde die Gefahr, die Varianz der kommunikativen Zusammenhänge innerhalb der Grenzmarkungen zu unterschätzen. Die moderne Gesellschaft ist Luhmann zufolge vielmehr funktional differenziert: Funktionale Differenzierung umschreibt die Ausbildung selbstreferenzieller bzw. operativ geschlossener Systeme, die der Reduktion von Umweltkomplexität dienen und ihre Umwelt ausgerichtet an ihrem Sinnhorizont beobachten. Folgende Eckpunkte lassen sich also als Quintessenz der Theorie sozialer Systeme zusammenfassen: • Gesellschaft wird einzig durch Kommunikation konstituiert. • Gesellschaft besteht aus operativ geschlossenen, aber kognitiv offenen sozialen (Funktions-)Systemen. • Psychische und soziale Systeme reduzieren die Komplexität ihrer Umwelt ausgerichtet an ihren Sinngrenzen (›Spezialisierung‹).
Kommunikation Luhmann zufolge basieren die meisten Kommunikationsmodelle auf der Informationstheorie von Shannon/Weaver (1949) und transportieren so einen folgenschweren Irrtum weiter: Selbiges Konzept erfahre im Bereich der technischen Kommunikation durchaus sinnvolle Anwendung, der Übertrag auf die zwischenmenschliche Kommunikation hingegen sei 44
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verfehlt, da Menschen keine determinierbaren Einheiten sind: Bereits empfangene Informationen können wieder vergessen werden und differierende Prägungen können das Verständnis behindern. Dazu kommt die Intransparenz kognitiver Systeme: »Dass Bewusstseinssysteme füreinander wechselseitig unzugänglich sind […] erklärt zwar den Bedarf für Kommunikation, antwortet aber nicht auf die Frage, wie Kommunikation angesichts eines solchen ›Unterbaus‹ möglich ist« (1995: 25). Die Systemtheorie begreift Kommunikation daher nicht als interpersonalen Vorgang, sondern als eine kontingente Triade von Information, Mitteilung und Verstehen: Information wird verstanden als die Selektion aus den Möglichkeiten, was inhaltlich übermittelt werden kann, Mitteilung beschreibt die Auswahl eines Mitteilungsverhaltens und Verstehen umschreibt die Wahl, wie die Differenz von Mitteilung und Information beobachtet wird, sowie die daraus resultierende Anschlussselektion. Erst durch die Synthese dieser Auswahlleistungen kommt Kommunikation zustande und wird daher als ein selbstreferenzieller Prozess begriffen. Folglich ist Kommunikation Luhmann zufolge als Einheit keinem Einzelbewusstsein zurechenbar, weil für ihr Zustandekommen mindestens zwei psychische Systeme beteiligt sein müssen. Diese Beteiligung stellt eine wesentliche Begründung für das systemtheoretische Postulat dar, dass »Kommunikation unwahrscheinlich [ist], obwohl wir sie jeden Tag erleben« (1981: 26), denn drei Hürden müssen in jedem Fall überwunden werden: Das Erreichen und das Verstehen des Adressaten sowie die Annahme der übermittelten Information. Das Verstehen wird durch geteilte Symbolstrukturen vereinfacht, Garant für die Annahme der Information ist ihre Glaubwürdigkeit bzw. ihr Nutzwert. Hierbei helfen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie z.B. Macht, Geld oder Liebe, welche »die Befolgung des Selektionsvorschlags hinreichend sicherstellen« (1984: 220). Das Erreichen des Adressaten wird schließlich durch Verbreitungsmedien erleichtert.
Operativer Konstruktivismus Aus dieser Fassung kommunikativer Prozesse resultiert Luhmanns wissenssoziologische Haltung. Im System-Umwelt-Paradigma wird davon ausgegangen, dass Wissender und Wissen untrennbar miteinander verknüpft sind: Kognitive wie kommunikative Systeme operieren geschlossen, können aber relevante Umweltaspekte mittels Sensoren wahrnehmen. Diese Sensoren sind für das menschliche Gehirn die Sinnesorgane und für soziale Systeme (sic!) »die Menschen [...] als psychische und körperliche Systeme« (1984: 558). Luhmann setzt dabei die Welt nicht als Gegenstand, sondern »im Sinne der Phänomenologie als Horizont« 45
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voraus, der »abhängig von der Unterscheidung, die der Beobachter verwendet« (1994: 82) interpretiert wird. Jede Beobachtung wird stets im operierenden System erzeugt: »Die primäre Realität liegt, die Kognition mag auf sich reflektieren, wie sie will, nicht in ›der Welt draußen‹, sondern in den kognitiven Operationen selbst« (1996: 17, 1988). Wenn Erkenntnis stets beobachterabhängig und somit kontingent ist, gilt dies freilich auch für die hauseigene Theorie. Um wissenschaftliches Arbeiten möglich zu machen, führt Luhmann daher eine Minimalontologie ein: Die erste Differenz erfolgt willkürlich, sie legt aber die weitere Beobachtungslogik fest. Seine Ausgangsdifferenz formuliert er wie folgt: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt. [...] Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist« (1984: 30). Luhmann muss diese Differenz derart dezidiert formulieren, um eine feste Ausgangsbasis für eine Theorie zu generieren, die eine konsistente Sicht auf die soziale Welt bieten will. Die von Luhmann ausgemachte Kontingenz der Wirklichkeitsbilder müsste jedoch nicht nur in der Wissenschaft, sondern in allen Bereichen des Lebens zu Irritationen führen. Dies ist jedoch kaum belegbar. So schreibt Luhmann selbst in einem Anflug von höchst eigenem Humor: »Wenn man Gäste hat und ihnen Wein einschenkt, wird man nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Gläser seien unerkennbare Dinge an sich [...]. Oder wenn man angerufen wird und der Mensch auf der anderen Seite des Satelliten unangenehm wird, wird man ihm nicht sagen: Was wollen Sie eigentlich, Sie sind doch bloß ein Konstrukt des Telephongesprächs!« (1996: 162)
Es existieren folglich auch nach Luhmann gesellschaftsweite Hintergrundüberzeugungen, auf die soziale wie psychische Systeme vertrauen können. Diese Orientierungsraster werden als ›primäre Realitätsbasis‹ bezeichnet, gegenüber der er die ›sekundäre Realitätsbasis‹ unterscheidet, die über den direkten Erfahrungshorizont hinausgeht und in kommunikative Objekte unterteilt wird: Einmal eingeführt, fungieren diese Objekte in der Kommunikation als Referenzen, die nur die Entscheidung lassen, »ob man zustimmen oder ablehnen will«. Als Beispiel kann die 2002 aufgestellte Behauptung dienen, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Der Einzelne konnte diese Aussage als real oder fiktiv bewerten, in allen Fällen musste er sich jedoch auf sie beziehen. Qua Luhmann erscheint es zweitrangig, ob diese Überzeugungen oder Objekte wirklichkeitskongruent sind: Sie sind schlicht die Realitätsbasis, an der sich die Gesellschaft orientiert (1997: 1102): »Es handelt sich also [..] niemals um eine [...] immer tiefenschärfere Bestandsaufnahme der Welt [...], sondern immer nur um eine interne Konstruktion.« (2000: 46) 46
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Luhmann zufolge existieren folglich genau so viele Realitäten wie es soziale und psychische Sinnsysteme gibt. Im Unterschied zu den radikalen Konstruktivisten (z.B. Foerster 2001) bestreitet er aber nicht die Letztexistenz einer ontologischen Realität: »Der operative Konstruktivismus bezweifelt keineswegs, dass es eine Umwelt gibt. Sonst hätte ja auch der Begriff der Systemgrenze [...] keinen Sinn.« (1996: 18-19)
Prozesssoziologische Zugriffsweisen (Elias) Grundsätze Elias zufolge kann die Soziologie keine vollständig autonome Position gegenüber anderen gesellschaftlichen Entwicklungen einnehmen. Aus diesen Feldern muss der Soziologe vielmehr Erkenntnisse übernehmen, aber das darf nicht unhinterfragt geschehen, denn erst eine relativ distanzierte Position führe zu gehaltvollen Analysen. Um eine solche relative Autonomie zu erreichen, sollte der Soziologe eine spezifische Balance zwischen Engagement und Distanzierung finden. Wissenschaft im Allgemeinen strebt eine objektive Analyse an und genau das ist in der Soziologie nach Elias (1983: 30) nicht möglich: Menschenwissenschaftler »können nicht aufhören, an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppen [...] teilzunehmen«. Analysen mit streng objektivem Duktus dienen qua Elias denn auch oft nur als Mittel, um eine »Fassade der Distanzierung zu schaffen«. Vice versa ist es gerade für den Soziologen »unerlässlich, auch als Insider zu wissen, wie Menschen ihre eigene und andere Gruppen erfahren«. Aus dieser Haltung heraus scheint es nicht weiter verwunderlich, dass Elias systemtheoretische Konzepte scharf kritisiert: Die Vorstellung, dass »es sich bei der Beziehung von ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ um eine ›gegenseitige Durchdringung‹«, führe dazu, dass deren Wechselbeziehungen nicht erfassbar werden, da »man mit diesen Begriffen eo ipso so hantiert, als ob man es mit zwei getrennt existierenden Körpern zu tun hätte«. Zudem lasse sich durch Systemtheorien lediglich Zustände, nicht aber Prozesse beschreiben. Insgesamt werde die menschliche Fähigkeit zur Synthetisierung vernachlässigt (Elias 1978: XVIII-XXII). Um die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft aufzuheben, prägte Elias den Begriff der Figuration: Kern dieses Konzepts ist die Einsicht, dass Menschen nie vollkommen autonom, jedoch ebenso wenig gänzlich abhängig sind. Menschen sind keine gesellschaftslosen Individuen wie die Gesellschaft kein menschenloses System ist. Figurationen beschreiben denn auch Interdependenzketten zwischen Menschen: 47
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»Alle Gesellschaften [...] haben die allgemeinen Kennzeichen von strukturierten Figurationen mit Unterfigurationen auf mehreren Ebenen [...]. Als Gruppen organisiert, bilden Individuen zahlreiche Unterfigurationen, [...] die ineinander verschachtelt sind und zusammen eine umfassendere Figuration mit einem jeweils spezifischen Machtgleichgewicht bilden können [...].« (1983: 53)
Neben affektiven Valenzen unterliegt der Einzelne nach Elias sozialen, ökonomischen und räumlichen Abhängigkeiten: ›Soziale Interdependenzketten‹ beschreiben die Verflechtungen individueller Handlungsstränge, ›ökonomische Interpendenzketten‹ bilden die wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten ab und ›räumliche Interdependenzen‹ entstehen durch Zusammenleben. Diese Interdependenzen unterliegen einem ständigen Wandel. Figurationen bezeichnen somit keine statischen Gebilde, sondern Prozessmodelle, die sich verselbstständigen und »Macht über das Verhalten und Denken« (1970: 100) der Individuen gewinnen können, wobei ›Macht‹ die bewusst oder unbewusst wahrgenommene Chance umschreibt, Handlungen anderer direkt oder indirekt zu beeinflussen. Daher schlägt Elias vor, den verdinglichten Machtbegriff durch das Konzept der Machtbalance zu ersetzen: Der Einzelne nimmt innerhalb dieser Machtbalancen eine relativ leichtgewichtige Position ein, weshalb er sich aus subjektiver Sicht mitunter durch die »äußeren Umstände« gesteuert fühlt, »ob nun durch nackte Gewalt oder durch [sein] Bedürfnis geliebt zu werden, durch [sein] Bedürfnis nach Geld, Gesundung, Status, Karriere oder Abwechslung« (1970: 76-77). Ebenso wie Figurationen sind auch die Individuen aus der eliasschen Perspektive keine fassbaren Konstanten, sondern beständig Veränderungen unterworfen. Elias formuliert treffsicher: »Der Mensch ist ein Prozess« (1970: 127). So ist es auch nicht verwunderlich, dass er eine Diskussion zwischen ihm und »wirklichkeitsblinden Philosophen« (Elias 1985) über die Vereinbarkeit zwischen Prozesssoziologie und methodologischem Individualismus mit dem Hinweis beendete, dass es wenig Sinn mache, ausschließlich die Handlungen der Individuen zu thematisieren und langfristige gesellschaftliche Prozesse zu vernachlässigen. Folgende prozesssoziologische Grundsätze lassen sich also festhalten: • Die Soziologie lässt sich nicht scharf von anderen Disziplinen abgrenzen. Streng objektive Analysen sind nicht möglich. • Individuum und Gesellschaft können in der Analyse nicht getrennt betrachtet werden, da unauflösbare Verknüpfungen vorliegen. • Gesellschaft besteht aus Machtbalancen bzw. Relationen zwischen den einzelnen Menschen und den Figurationen, die sie bilden.
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Kommunikation Elias schreibt Kommunikation wie Luhmann eine zentrale Rolle zu, charakterisiert diese aber nicht als einzige gesellschaftskonstituierende Operation. In seiner Zugriffsweise auf Kommunikation wird von vornherein zwischen technischen und semantischen Aspekten unterschieden (Elias 2001: 84): Eine Botschaft wird über einen physikalischen Träger wie Lautmuster oder Radiowellen transportiert und kann empfangen werden, sobald Sender und Empfänger über den gleichen En- bzw. Dekodierungscode verfügen. Auf rein technischer Ebene kommt Elias damit dem Ansatz Shannon/Weavers nahe. Expliziter als Luhmann geht Elias allerdings auf den Bedeutungsaspekt in der Kommunikation ein, wobei er das paradigmatische semiotische Dreieck sprengt: Durch die analytische Trennung von Sprache, Bedeutung und den »gemeinten Gegenständen [...] wird der Weg zu einem vollen Verständnis der Tatsache verstellt, dass Natur und Gesellschaft [...] in der Form einer Sprache fest miteinander verknüpft sind«. Die Unterscheidung zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen sei falsch, denn ohne Bedeutung wäre ein Lautmuster kein Wort. Generell können qua Elias die Beziehungen zwischen Klang, Symbol und Gegenstand als rein zufällig gelten, weil keine natürliche Notwendigkeit dafür besteht. Vielmehr sind diese Verknüpfungen das Produkt von sozioevolutionären Prozessen in der sogenannten ›fünften Dimension‹. Elias macht damit eine Dimension aus, in der die erfahrbare Welt durch Lautmuster mit Symbolfunktion repräsentiert ist. Der Mensch ist Teil dieses Netzwerkes symbolischer Repräsentationen, ebenso wie er Teil der anderen Raum-Zeit-Dimensionen ist (2001: 199). Mit Elias lässt sich Kommunikation also weiterhin als interpersonaler Vorgang begreifen, wobei aber erst ein geteilter symbolischer Code Verständnis garantiert.
Relative Wirklichkeitskongruenz »All that his [Elias’] analysis implied [...] was that the scientific model of our universe a such a manifold, simply by virtue of being a model, is ipso facto not identical with what it is a model of. [...] It is necessary to relate models to their history and to the situated actions of their creators. [...] It [is] crucial to avoid any confusion between models and ›reality‹ itself.« (Barnes 2004: 69)
Diese Zeilen lassen die eliassche Zugriffsweise im Licht einer semikonstruktivistischen Haltung erscheinen, die sich aus seiner grundsätzlichen Herangehensweise ableiten lässt: Zwar bezieht Elias eine eindeutig antikonstruktivistische Position, wenn er notiert, dass »dem philosophi49
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schen Zweifel an der Möglichkeit wirklichkeitskongruenten Wissens [...] der Erfolg der menschlichen Gattung« elementar widerspreche (2001: 197). Andererseits lässt sich mit Elias aber auch »klar sagen, dass das Wissen keine ontologische Ähnlichkeit mit seinen Gegenständen hat« (2001: 173). Beide Aussagen für sich genommen scheinen sich zu widersprechen, verbunden mit der allgemeinen prozesssoziologischen Perspektive schwindet diese Diskrepanz jedoch schnell. Für Elias ist es durch Beobachtung evident, dass die menschliche Entwicklung von einem Zuwachs an wirklichkeitskongruentem Wissen geprägt ist, denn schon alleine die wachsende Beherrschung der Natur spreche für eine hinreichend adäquate Erfassungsperspektive. Gleichwohl ist jedwedes Wissen für Elias nicht Wahrheit, sondern ein Symbol, das als Orientierungsmittel dient, weshalb er den prozesshaften Begriff der ›Wirklichkeitskongruenz‹ verwendet. Jedes Symbol ist nach Elias Teil der spezifisch menschlichen ›fünften Dimension‹: »Alles, was in der Reichweite von Menschen geschieht, wird [...] repräsentierbar durch menschgeschaffene Symbole, bedarf gleichsam der Stimmung nicht durch vier, sondern durch fünf Koordinaten.« (1984: 52-53) Mit der Vorstellung einer fünften Dimension soll der Doppelcharakter der von uns erfahrenen Welt herausgestellt werden, wodurch Symbolkonzepte eine Schlüsselposition im Prozess der sozialen Realitätskonstruktion erhalten: »Wäre sie [die Welt] nicht symbolisch repräsentiert, könnten Menschen weder etwas von ihr wissen, noch sich über sie verständigen« (2001: 199). Jedes Symbolsystem enthält Klassifikationssysteme und vermittelt so eine spezifische und über Generationen erwachsene Sicht auf die Welt. Daraus folgt, dass »der individuelle Akt der Erkenntnis ganz unabtrennbar ist von dem [...] Entwicklungsstand des sozialen Wissensschatzes«. Aus der eliasschen Perspektive werden folglich sämtliche Ansätze obsolet, die von einem Menschenbild des ›homo clausus‹ statt von ›homines aperti‹ auszugehen (2001: 133). Menschliches Wissen ist Elias zufolge denn auch nicht ich-, sondern wir-zentriert. Diese Wir-Zentriertheit führt dazu, dass wirklichkeitskongruenteres Wissen teilweise über Jahrhunderte hinweg nicht in den sozialen Wissenspool integriert wird, weil es sich nicht mit den übrigen Konzepten verträgt. So erging es etwa der frühen Vermutung des Aristarchos von Samos (310- 230 v. Chr.), dass sich die Erde um die Sonne drehe (Heath 1981). Die bis zu Copernicus vorherrschende gegenteilige Überzeugung kann als Phantasiewissen bewertet werden, das dazu diente, »die Lücken ihres wirklichkeitsnahen Wissens« zu schließen. Elias geht zwar wie Comte davon aus, dass der Fundus wirklichkeitskongruenten Wissens in Richtung Moderne exponentiell gewachsen ist, zugleich betont er aber dessen Prozesscharakter: Was Menschen zu 50
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einem bestimmten Zeitpunkt als Wirklichkeit auffassen, bestimmt sich stets durch das bisher Erlernte. Darüber hinaus negiert er die Existenz einer universellen Logik, sondern vermutet, dass auch diese »von anderen Menschen gelernt werden [muss]« (Elias 1984: 19). Eine dieser per se als natürlich gegeben empfunden Strukturen ist die Zeiteinteilung: »With the concept of time [...] linguistic tradition has transformed an activity into a kind of object [...]. The verbal form ›to time‹ makes it more immediately understandable that the reifying character of the substantial form, ›time‹, disguises the instrumental character of the activity of timing.« (1992: 42-43)
In seiner Alltagswirklichkeit hat der Einzelne nur selten die Möglichkeit, sich diesem übergreifenden Zeitverständnis zu entziehen, da es zentrale Orientierungsfunktionen erfüllt und in hohem Maße zum Selbstzwang geworden ist. Gleiches gilt für andere Orientierungskonzepte wie etwa unser Zahlenverständnis. Sprachwissenschaftliche Studien berichten dagegen von dem Volk der Pirahã, deren Zählweise lediglich auf dem System »Eins-Zwei-Viele« basiert (Gordon 2004, Everett 2010). Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen ohne Begriffe für Zahlen auch nicht die Fähigkeit entwickeln, exakte Mengen wahrzunehmen, und unser Verständnis folglich keineswegs naturgegeben ist. Wir können also festhalten, dass sich Elias weder realistischen noch konstruktivistischen Sichtweisen anschließt: Er geht davon aus, dass Symbolkonzepte die Realität niemals adäquat abbilden können, der Lernprozess der Menschheit allerdings kontinuierlich zu einer wirklichkeitsnäheren Repräsentation führt. Was jedoch Individuen oder Gruppen als Realität erkennen, bestimmt sich stets aus dem bisher Erlernten.
Anschlusspotentiale Die markanteste Differenz zwischen den beiden Ansätzen besteht in ihrer grundsätzlichen Herangehensweise: Während Luhmann eine scharfe Abgrenzung einfordert, sieht Elias das soziologische Forschungsfeld untrennbar mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen verknüpft. Aus diesen Grundhaltungen können die meisten weiteren theoriearchitektonischen Unterschiede abgeleitet werden: Luhmann muss den Menschen der Umwelt der Gesellschaft zuordnen, um psychische Prozesse aus der soziologischen Analyse ausklammern zu können. Elias hingegen geht auch analytisch von unauflösbaren Verknüpfungen zwischen Individuum und Gesellschaft aus. Luhmann spricht von abgegrenzten sozialen Systemen, deren Elemente kommunikative Operationen sind. Figuratio51
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nen hingegen beschreiben Beziehungsnetzwerke zwischen Menschen. Daraus resultiert auch ein differenter Umgang mit dem Begriff der ›Macht‹: In der Prozesssoziologie ist Macht eine strukturelle Eigenschaft aller gesellschaftlichen Verknüpfungen, in der Systemtheorie ist Macht lediglich ein Kommunikationsmedium unter vielen. Ein weiterer Kontrast zeigt sich in der eliasschen Konzentration auf langfristige soziokulturelle Prozesse und dem damit verbundenen Vorwurf an die Systemtheoretiker, solche Entwicklungen nicht tiefenscharf beschreiben zu können. Tatsächlich bemühte sich Luhmann in der Reihe »Gesellschaftsstruktur und Semantik« (1980ff.) um die Integration einer sozioevolutionären Perspektive in seine Theorie, allerdings stemmt er sich dabei gegen die Verwendung eines Prozessbegriffs, weil dieser »Kontinuität betont und nicht Diskontinuität«, wodurch Ereignisse nur noch als »richtunggebende Anstöße« in einem vorhandenen Entwicklungsprozess erscheinen (Luhmann 1997: 1139). Stattdessen geht er von Zuständen ›dynamischer Stabilität‹ aus: Da Anpassungen für ein System stets risikoreich sind, reagieren Systeme ausschließlich aus Selbsterhaltungsgründen auf Veränderungen in ihrer Umwelt. Ereignisse erscheinen dann als Zerfallsvorgänge, welche die soziale Matrix graduell verändern, bis sie innerhalb eines Systems Adaptionsprozesse provozieren. Beide Ansätze weisen für die Beobachtung sozialen Wandels Vorteile und Defizite auf: Luhmann liefert ein flexibles Analyseraster, durch das sich die Komplexität der sozialen Welt schnell in den Griff bekommen und rigoros zwischen den einzelnen Sinnsphären psychischer und sozialer Systeme differenzieren lässt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, durch ein derart eigenkomplexes Instrumentarium nur ein scheinbar hohes Maß an Objektivität zu erreichen und einige zentrale Abhängigkeiten zwischen Akteur und Struktur aus dem Blickfeld zu verlieren. Elias hingegen plädiert für die analytische Integration aller Verflechtungszusammenhänge zwischen Mensch, Gesellschaft, Technik und Natur und kommt so der Ausgangslage eines Soziologen näher, dem zunächst nur Felder von Beziehungen zwischen Elementen gegeben sind. Erst in einem zweiten Schritt können analytische Abgrenzungen gezogen werden, genau davor scheut Elias aber zurück und muss mit den Konsequenzen leben: Mit Figurationen einen zeitnahen strukturellen Überblick über das soziale Leben zu erlangen fällt schwer. Ein dritter Weg, der die Beobachtungsvorteile beider Analyserichtungen kombinieren kann, wäre also durchaus erstrebenswert. Dieser scheint jedoch angesichts der zentralen Theoriesteine kaum begehbar zu sein. Schon die beiden Sichtweisen auf Kommunikation erscheinen hingegen weit weniger dissonant: Luhmann zufolge ersetzt Kommunikation ein nicht herstellbares kollektives Bewusstsein. Qua Elias erlangt das 52
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Subjekt durch Sprache Zugang zu einem wir-zentrierten Wissenspool, der neben Faktenwissen auch Gedanken- und Gefühlsmodelle birgt. Im Kern ist dieser Wissenspool nichts anderes als ein kommunikativ aktualisiertes geteiltes Bewusstsein. Elias erkennt also die Existenz einer ›fünften Dimension‹, die auf der menschlichen Symbolfähigkeit basiert. Der Mensch ist ebenso Teil dieses symbolischen Netzwerkes, wie er Teil der anderen vier Dimensionen ist. Ähnlich denkt Luhmann, wenn er attestiert, dass die Realität sozialer Systeme »im Prozessieren bloßer ›Zeichen‹ besteht« (1997: 114) und die Menschen zwar analytisch aus dem Nexus sozialer Systeme ausklammert, sie aber zugleich als deren kommunikative Interpreter und umweltvermittelnde Sensoren einordnet. Der Verdacht, dass sowohl Elias als auch Luhmann einen »Doppelcharakter der von uns erfahrenen Welt« (Elias 2001: 199) erkennen, wird durch ihre Zugriffsweisen auf die soziale Realitätskonstruktion bestätigt: (1) Beide Theoretiker gehen davon aus, dass jedwede Beobachtung soziokulturell beeinflusst wird. (2) Wenn Elias betont, dass alle Realitätsvorstellungen in Figurationen konstruiert werden und ihr Wert nicht am Raster wahr/falsch, sondern an deren Problemlösungsfähigkeit gemessen wird (Elias 1970), umschreibt er letztlich Luhmanns operativen Konstruktivismus. (3) Elias benennt offen die Wir-Zentriertheit aller Erkenntnis und auf ähnliche Weise verabschiedet sich Luhmann von der Formel ›cogito ergo sum‹, wenn er notiert, dass Kommunikation ein kollektives Bewusstsein ersetzt, an dem sich alle Erkenntnis ausrichtet. (4) Sowohl in der ›fünften Dimension‹ als auch im Nexus sozialer Systeme existieren kulturell kristallisierte Orientierungsraster, die fraglos internalisiert werden und kommunikative Kontingenzen reduzieren. Auf dem Feld der sozialen Realitätskonstruktion liegt also ein beträchtliches Überblendungspotential zwischen der Prozesssoziologie und der Systemtheorie vor, da beide Autoren die Beobachterrelativität und Selektivität aller Realitätssichten wie auch die Wechselprozesse zwischen individueller und wir-zentrierter Realitätskonstruktion fokussieren. Synchron dazu existieren aber viele theoriefundamentale Differenzen, die dazu beitragen können, einen analytischen Ansatz aufzuspannen, der sich den wechselseitigen Kritikpunkten stellen kann: Zurecht wendet sich Elias gegen die artifizielle analytische Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft, zurecht stellt sich aber auch Luhmann gegen eine allzu drastische Melangierung von Gesellschaft und Umwelt. Beide Reklamationsstränge sind hier ernst zu nehmen, da eine differenzierte Erfassung der Strukturebene und eine Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft notwendig werden, um die Veränderungskraft der neuen kommunikativen Möglichkeiten in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion abschätzen zu können. 53
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Das erkenntnistheoretische Überblendungspotential zwischen Elias und Luhmann soll in den folgenden Kapiteln als Scharnier zwischen strömungsstrukturellen und makrosoziologischen Beobachtungsweisen genutzt werden, um einen systemtheoretischen Zugriff auf die soziale Realitätskonstruktion zu skizzieren, der sowohl die Mikro-, Meso- und Makroebenen der Kommunikation fokussiert. Eine solche mehrdimensionale Perspektive wird notwenig, um den Fehlschluss zu vermeiden, dass die neuen Publikations- bzw. Selektionsmöglichkeiten im Web ›automatisch‹ zu einer allgemeinen Demokratisierung der sozialen Wirklichkeitsbeschreibung führen, und gleichzeitig die graduellen Wandlungsprozesse unterhalb der Strukturebene nicht aus dem Blick zu verlieren, die langfristig zu einer neuen Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten führen könnten. Um nun einen Zugriff auf die soziale Realitätskonstruktion zu skizzieren, der weder ›bottom-up‹-Transformationen noch ›top-down‹-Einbettungsprozesse unterschätzen will, benötigen wir eine systematische Beschreibung der Vermittlungsinstanzen zwischen Struktur- und Akteursebene. Expliziter als Luhmann oder Elias und eindeutiger als die bereits vorgestellten Überwinder des Mikro-Makro-Dilemmas (Giddens 1984, Coleman 1991, Esser 1993, Beck 1993) haben sich der Netzwerktheoretiker White (2008), der Techniksoziologe Weyer (1997, 2000) sowie Fuhse als Vertreter der relationalen Soziologie (2006, 2008) mit sozialen Gebilden bzw. Netzwerken auf Meso-Ebene als Stellen der Einbettung und Emergenz zwischen Mikro- und Makro-Ebene beschäftigt. Da ihre Überlegungen durchaus Anschluss an die Denkweisen Luhmanns und Elias’ finden, beschäftigt sich das folgende Kapitel mit einer knappen gegenstandsgerichteten Rekapitulation ihrer Forschungsergebnisse, bevor daran anschließend das Modell eines erweiterten System-Umwelt-Paradigmas umrissen wird, das einen bündigen Beschreibungsvorschlag für die graduellen Stabilisations-, Emergenz- und Transformationsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion liefern will.
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SOZIALE NETZWERKE
AUF
M E S O -E B E N E
Weder Elias noch Luhmann verschließen sich graduellen Transformations- bzw. Reproduktionsprozessen ›von unten‹. In der Prozesssoziologie fällt es freilich schwer, ein übersichtliches Beobachtungsraster für solche Entwicklungen zu generieren, auch wenn Elias (1993: 139) seinen Begriff der ›Figuration‹ hin und wieder mit ›Netzwerk‹ gleichsetzt. Luhmann (1997: 31) hingegen verweist zwar darauf, dass »weltweit [...] über Netzwerke kommuniziert« wird, persönliche Netzwerke haben in seiner Theorie neben flüchtigen Interaktions-, formalisierten Organisations- und emergenten Funktionssystemen aber keinen Stellenwert (Fuhse 2005). Trotzdem sind selbst Funktionssysteme kontingente Konstruktionen und erfahren ihre ›Stabilität‹ nur durch Reproduktionsprozesse ›von unten‹. Das systemtheoretische Besteck lässt jedoch nur eine ungelenke Beobachtung der Meso-Ebene zu, weshalb es hier mit einer strömungsstrukturellen Grundlegung unterfüttert werden soll. Der erste Schritt auf dem Weg zu diesem Modell besteht in der Entwicklung einer Vorstellung, was wir unter sozialen Netzwerken auf Meso-Ebene verstehen wollen. Bezeichnen soziale Netzwerke nun Beziehungsnetzwerke, digitale Referenzierungen (z.B. »Facebook«) oder soziale Gruppen? In Weyers Definition lassen sich z.B. durchaus Parallelen zu Gruppen-Vorstellungen finden (Schäfers 1999, Simmel 1992): Ein soziales Netzwerk ist »eine eigenständige Form der Koordination von Interaktionen [..], deren Kern die vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber interdependenter [...] Akteure ist, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten und dabei auf die Interessen des jeweiligen Partners Rücksicht nehmen, weil sie auf diese Weise ihre partikularen Ziele besser realisieren können als durch nicht-koordiniertes Handeln.« (Weyer 2000: 11) 55
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Der Vorwurf, Weyer verkaufe letztlich die ›soziale Gruppe‹ unter einem aktualisierten Label, trägt allerdings nur bedingt, denn er umschreibt soziale Netzwerke nicht als homogene, nach innen dicht organisierte und nach außen abgeschlossene Entitäten, sondern als einen Kommunikationstyp, der weder »den Mechanismus der spontanen Selbstorganisation von Interaktion [...] durch starre Regeln«, noch »die Potentiale alternativer Strukturen [.] durch permanentes Chaos« behindert (Weyer 1997: 70). Weyer will soziale Netzwerke auf diese Weise von informellen Interaktionen bzw. formalisierten Organisationen abgrenzen und beschreibt Akteure, die projektbezogen kooperieren und deren selbstorganisierte Vernetzung in ungeplanten Prozessen entsteht bzw. zurückgeht. Solche relativ engen Verzahnungen sind jedoch nur ein spezifischer Fall von Netzwerkstrukturen auf Meso-Ebene: Wie Fuhse (2006: 258) eindrücklich vorführt, können soziale Gruppen, Protestbewegungen oder Subkulturen als vorübergehende »Netzwerkverdichtungen« mit graduellen Übergängen in einem fluiden Kontext umschrieben werden. Liepelt (2008: 32) spricht diesbezüglich mit Rekurs auf White (1992, 2008) von »sozialen Biotopen mit mal dichteren, mal weniger dichten Verflechtungen«, die sich zu »sozialen Molekülen« zusammenfügen. Schon in diesem Verweis wird ein beträchtliches Anschlusspotential zu Elias ersichtlich, denn diese dichten bzw. weniger dichten Verflechtungen ließen sich ohne Übersetzungsprobleme auch als Figurationen beschreiben. Gerade hinsichtlich der Systemtheorie lohnt sich jedoch eine weitere Betrachtung der Netzwerktheorie Whites, ohne seine Überlegungen hier in voller Breite würdigen zu können: Ähnlich wie in der Prozesssoziologie basieren soziale Strukturen laut White auf ›relations‹ und nicht etwa auf den Attributen der Akteure. In diesen ›relations‹ werden Symbolkonzepte ausgehandelt, die in umliegende Netzwerke diffundieren können. So entstehen ›network domains‹, also netzwerkspezifische Kulturen, welche wiederum auf die Akteure zurückwirken, die in eine Vielzahl von Netzwerken involviert sind (White 1995: 708). Enge Kooperationen können als verfestigte Netzwerke beschrieben werden, die sich zunehmend an intern kristallisierten Sinnstrukturen ausrichten und sich so nach außen abgrenzen (1992: 35, 75). Soziale Netzwerke besitzen bei White folglich eine überpersönliche Qualität: Sie bestehen aus Relationen zwischen Akteuren, in denen sich geteilte Symbolstrukturen letztlich nur kommunikativ entwickeln können. Vor diesem Hintergrund überprüft White (1992: 196) das sozialwissenschaftliche Konzept der ›Person‹ als »unteilbares Atom« und schlägt vor, zwischen den psychischen Prozessen eines menschlichen Akteurs und den in sozialen Netzwerken konstruierten Bildern seiner Person zu unterscheiden. Ein Beispiel hierfür sind die Erwartungsstruk56
SOZIALE NETZWERKE AUF MESO-EBENE
turen, die sich in der Blogosphäre an einen bekannten Blogger richten: Obwohl seine Leser nur einen Ausschnitt seiner Identität kennen, formieren sich Erwartungen hinsichtlich Argumentation oder Reaktion und somit ein Bild (s)einer Person, das in anderen Kontexten vollkommen anders sein kann. Ähnlich wie Elias betont White die Prozessualität sozialer Formationen und den Einfluss der kulturellen Dimension. Gleichzeitig geht er wie Luhmann von der intersubjektiven Qualität sozialer Strukturen aus und hinterfragt die Person als soziale Grundeinheit. Einige Fragmente dieser ›middle-range theory‹ sollen nun genutzt werden, um Weyers Modell sozialer Netzwerke als Mikro-Makro-Scharnier mit einem umfassenderen Netzwerkbegriff zu unterfüttern. Weyer will die Lücke zwischen dem strukturellen Rahmen sowie individuellem Handeln schließen und erklären, wie soziale Netzwerke sich verfestigen, wie aus ihnen heraus emergente Strukturen entstehen und welche Rolle sie in der Reproduktion und Transformation sozialer Institutionen spielen (2000: 241). Das sind just die zentralen Fragen, die sich auch in unserem Kontext stellen: Wie stabilisieren sich im Web geteilte Realitätskonstruktionen zwischen schwächer oder dichter vernetzten Akteuren? Wie entstehen aus ihnen akteursemergente Sichtweisen? Und inwieweit tragen diese Entwicklungen zu graduellen Veränderungen in der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung bei? In seinem Modell führt Weyer in Anlehnung an Esser (1993) eine dritte Ebene zwischen Struktur- und Handlungsebene ein. Auf dieser Meso-Ebene sorgen soziale Netzwerke für die Vermittlung zwischen Institutionen und Akteuren, indem sie soziale Normen und Verhaltungserwartungen an den Einzelnen weitergeben und gleichzeitig den Spielraum für die Erprobung alternativer Spielweisen bieten. Eine derartige Mehrebenenfassung bietet Weyer (2000: 239) zufolge »Schutz gegen deterministische wie auch voluntaristische Sozialtheorien« (Abb. 3). Abbildung 3: Netzwerke als Scharnier zwischen Akteur und Struktur
Quelle: Weyer 2000: 241 (modifiziert) 57
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Wenn wir dieses schlanke Raster nun um einen an White ausgerichteten umfassenderen Netzwerkbegriff ergänzen, ergeben sich vielfältige Überblendungsmöglichkeiten mit Elias wie Luhmann: Soziale Netzwerke beschreiben dann projektbezogen eng kooperierende Akteure nur noch als einen Sonderfall unter all den dichten und weniger dichten Verflechtungen zwischen Akteur und Struktur. Sie umschreiben Relationen und Interrelationen zwischen individuellen Akteuren, die über flüchtige Interaktionen hinausgehen und sich unterhalb des Formalisierungsgrades von Organisationen bewegen. Die Übergänge und Abgrenzungen zwischen den unterschiedlichen Verknüpfungsgraden erscheinen fluide. Analog dazu definiert auch Elias ›Figurationen‹ als generelle soziale Ordnungsmuster mit unterschiedlichen Verknüpfungsstärken: »Lehrer und Schüler in einer Klasse, [...] Wirtshausgäste am Stammtisch, Kinder im Kindergarten, sie alle bilden überschaubare Figurationen miteinander. Aber Figurationen bilden auch die Bewohner eines Dorfes, einer Großstadt oder einer Nation, obwohl in diesem Falle [...] die Interdependenzketten [...] sehr viel länger und differenzierter sind.« (Elias 1970: 42-43)
Figurationen sind wechselseitige Verflechtungen zwischen Menschen, verstanden als dynamische Prozesse, die wiederum in sehr weitläufige Interdependenzketten verwickelt sein können. Wie White will aber auch Elias nicht beobachten, wie die Menschen beschaffen sind, die diese Verflechtungen bilden, sondern die Relationen zwischen ihnen. Auch die Prozesssoziologie erkennt in diesem Kontext ein »eigentümliche[s] Kreuzgeflecht von Unabhängigkeit und Abhängigkeit« in der Moderne, in dem »das Bedürfnis alleine zu stehen, [.] Hand in Hand mit dem Bedürfnis [geht], dazuzugehören« (Kuzmics 1990: 246). Vertrauen und Stabilität entsteht innerhalb dieser Figurationen nach Elias/Scotson (1990) durch sukzessive Abgrenzung nach außen. Insgesamt verabschiedet sich Elias auf diese Weise zunächst kaum von dem Konzept sozial handelnder Akteure, sein Hauptaugenmerk aber liegt auf den Beziehungen zwischen ihnen. Auf der für uns interessanten Ebene der sozialen Realitätskonstruktion, d.h. in der in seiner Symboltheorie ausgemachten ›fünfte Dimension‹ der prozesshaften Symbolkonzepte, besteht soziales Handeln allerdings nur noch in Kommunikation, denn wir-zentriertes Wissen kann nur reproduziert oder transformiert werden, indem Informationen anschlussfähig in diese Dimension eingespeist werden (Elias 2001). Auch in dieser ›fünften Dimension‹ können schließlich spezialisierte Domänen ausgemacht werden, an denen der Einzelne teilnehmen kann und mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert wird (z.B. in wissenschaftlichen Disziplinen). 58
SOZIALE NETZWERKE AUF MESO-EBENE
In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass die hier diskutierten Grand Theories ihr Seziermesser schlichtweg auf unterschiedlichen analytischen Ebenen ansetzen: Ähnlich wie White in seinen Überlegungen zur symbolischen Dimension sozialer Netzwerke und Elias spezifisch in seiner Symboltheorie geht es Luhmann ausschließlich darum, die kommunikative Ebene sozialen Lebens zu beschreiben. Daher kann er auch den Einwurf, seine Theorie verkürze soziale Systeme »nach dem Prinzip der Dame ohne Unterleib [...] auf bloße Kommunikationen« (Mayntz 1997: 199), mit dem Hinweis parieren, dass »die Dame [.] auch keinen Oberleib [hat]. [...] der ganze Leib ist überhaupt nicht Teil des sozialen Systems« (Luhmann 2002: 255). Soziale Systeme seiner Fassung sind ausschließlich kommunikative Sinnsysteme. Schon deshalb kann ein menschlicher Akteur nicht Teil eines sozialen Systems sein, sondern als Person vielmehr an der Kommunikation in mehreren Systemen teilhaben (Tang 2007: 88, Luhmann 1992: 346). In diesem Sinne können ›soziale Netzwerke‹ in der Systemtheorie als Kommunikationszusammenhänge zwischen Personen als kommunikative Adressaten und Adressanten gefasst werden: Der menschliche Akteur, verstanden als psychisches System, kann in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche Personen verkörpern, was nirgends deutlicher wird als im offensichtlich rein kommunikativen World Wide Web. Einigermaßen konsistent zusammengebracht werden müssen diese Personen einzig im psychischen System selbst, also im Bewusstseins des jeweiligen Akteurs. Soziale Netzwerke könnten mit Luhmann somit als ›non-punktuelle Interaktionssysteme‹ bezeichnet werden, deren Zukunftsoffenheit durch Vertrauen der Akteure gedämpft wird. Kommunikationsprozesse in solchen sozialen Netzwerken sind dauerhafter als punktuelle bzw. zufällige Interaktionen und werden freiwillig, aber zielgerichtet eingegangen. Im Gegensatz zu Organisationssystemen werden sie aber nicht auf Grundlage fester Rollenzuweisungen gebildet und operieren nicht auf der Basis von Entscheidungen. Sie bilden »das Spielmaterial für soziale Evolution«, wie Luhmann selbst notiert: »Anspruchsvolle Formen der gesellschaftlichen Differenzierung bauen sich durch Selektion aus diesem Material auf« (Luhmann 1984: 576). Non-punktuelle Interaktionssysteme lassen sich in ihrer Fluidität durchaus mit sozialen Netzwerken im Sinne Whites und mit prozesssoziologischen Figurationen zwischen flüchtigen und gesellschaftsweiten Interdependenzen vergleichen. Auf diese Weise lassen sich zwar keine Beziehungen zwischen Organisationen beschreiben, dafür aber kommunikative Relationen zwischen Akteuren, die als Personen in heterogene funktionale Kontexte involviert sind. Durch diese Fassung werden we-
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
der die Sinngrenzen sozialer Systeme, noch die operative Selbstreferenzialität kommunikativer und psychischer Systeme gradualisiert (Abb. 4). Abbildung 4: Soziales Netzwerk im Nexus sozialer Systeme
Quelle: Eigene Überlegungen Weyers Modell findet in Verbindung mit einem umfassenderen Netzwerkbegriff folglich durchaus Anschluss an Prozesssoziologie bzw. Systemtheorie und eröffnet einen stimmigen Weg, um in der Beobachtung der sozialen Realitätskonstruktion Mikro-, Meso- und Makroebene im Blick zu behalten: Die Akteure , und in Abb. 4 sind beispielsweise als Personen in jeweils unterschiedliche funktionale Sinnsysteme inund nun in einem sozialen Netzwerk zweckgevolviert. Falls , bunden kooperieren (sei es in einem Internetforum, sei es als Protestgruppe), können in dieser Kommunikation innovative Symbolmuster entstehen oder eingeführt werden, die je nach Anschluss in umliegende Netzwerke diffundieren, bis diese alternativen Realitätskonstruktionen ggf. Eingang in die Kommunikationslogiken eines sozialen Funktionssystems finden (ein aktuelles Beispiel ist die »Tobin-Steuer«). Soziale Netzwerke mit unterschiedlichen Verknüpfungsgraden auf Meso-Ebene können also als Vermittlungsinstanzen zwischen Akteur und Struktur charakterisiert werden, die sowohl der Einbindung des Einzelnen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge aber auch der Erprobung von Innovationen dienen. Auf diese Weise werden weder die Grundsteine eines strömungsstrukturellen Ansatzes (Elias) noch das Paradigma von System und Umwelt (Luhmann) infrage gestellt. Es entstehen vielmehr neue Beobachtungsmöglichkeiten, die zu einer möglichst umfassenden Taxierung der potentiellen Veränderungen in den ›bottomup‹- und ›top-down‹-Prozessen der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung durch die neuen Partizipations- und Selektionsmöglichkeiten im Online-Nexus beitragen sollen.
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EIN
ERWEITERTES
S Y S T E M -U M W E L T -P A R A D I G M A
Ganz gleich, wie man dazu steht, dass Luhmann dem (sozialen) Handeln (vgl. Weber 1921) seine soziologische Relevanz entzogen hat: Gerade angesichts des World Wide Web, in dem schlicht nur das sichtbar werden kann, was entsprechend kommunikativ kodiert wird, das also letztlich nur Kommunikation ist, müsste eine Theorie, die Kommunikation als zentrale Operation der Gesellschaft charakterisiert, eigentlich ihre ganze Strahlkraft entfalten können. Bislang gilt Luhmann jedoch kaum als »Guru des Informationszeitalters«: Das Zepter der Erklärung haben vielmehr Netzwerksoziologen übernommen. Dies liegt mit darin begründet, dass Luhmann einerseits in schneller Lesart auf der Ebene makrosoziologischer Strukturen verhaftet bleibt und andererseits scheinbar kaum etwas zu Transformationsprozessen ›von unten‹ oder Austauschprozessen in sozialen Netzwerken auf Meso-Ebene zu sagen hat. Gleichwohl haben die vorangegangenen Kapitel gezeigt, wie viele Anknüpfpunkte gerade auf dem Feld der sozialen Realitätskonstruktion zwischen einer strömungsstrukturellen Prozesssoziologie, neueren netzwerktheoretischen Überlegungen und der Theorie sozialer Systeme vorliegen: Sowohl Elias, Luhmann als auch White wollen ergründen, wie geteilte Sinnkonstruktionen und kristallisierte Orientierungsraster entstehen und wie diese in der Kommunikation und für den Einzelnen Erwartungssicherheit schaffen. Alle genannten Perspektiven ersetzen dabei letztlich das Menschenbild des ›homo clausus‹ durch ›homines aperti‹ (Elias 2001: 133). Darüber hinaus ist in der Konfrontation mit netzwerktheoretischen Sichtweisen deutlich geworden, dass Luhmanns Theorie durchaus Ausgangspunkte für die Beobachtung der Kommunikation in Netzwerken und ihren Wechselprozessen mit sozialen Strukturen bietet.
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Diese Ansatzpunkte sollen nun genutzt werden, um Luhmanns differenzierungsstarke systemtheoretische Perspektive in einem erweiterten System-Umwelt-Paradigma um eine strömungsstrukturelle Grundlegung zu ergänzen und mit ausgewählten netzwerktheoretischen Überlegungen in Bezug zu bringen. Zweck dieses Modells ist es nicht etwa, eine neue synthetisierende theoretische Zugriffsweise auszuarbeiten, sondern die Überlegungen zu den Vereinbarkeiten zwischen Prozess- bzw. Netzwerksoziologie und Systemtheorie zu einem griffigen analytischen Ansatz zusammenzuschmelzen und auf die Reproduktions- und Innovationsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion zu beziehen. Dieses Modell soll in den anschließenden mediengeschichtlichen Betrachtungen und in der Auswertung der empirischen Daten zu den Nutzungspräferenzen im Web bzw. den Qualitäten der Netzwerkkommunikation dazu beitragen, weder den Einfluss langfristig kristallisierter gesellschaftlicher Strukturen noch die graduelle Transformationskraft dicht oder weniger dicht vernetzter Akteure bzw. sozialer Netzwerke auf Meso-Ebene zu unterschätzen. Hinsichtlich der Veränderungen in der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung durch das Web gilt es, sowohl die derzeitigen Einbindungs- und Vermittlungsleistungen der Massenmedien als ›Kitt‹ in der sozialen Realitätskonstruktion zwischen Akteuren mit eigener Wirklichkeitssicht zu berücksichtigen, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit der Stabilisation funktionaler Äquivalente nicht aus dem Blick zu verlieren: Im Sinne der eingangs genannten Hoffnungen, die sich um den Begriff der »Weisheit der Vielen« (Surowiecki 2004) scharen, ließe sich etwa annehmen, dass sich im Web durch »Schwarmintelligenz« (z.B. Horn/Gisi 2009) neue Mechanismen zur verteilten Informationsauswahl und deren viraler Verbreitung bilden, die ganz eigenen Selektionskriterien folgen und so die Streuung von innovativen Überzeugungen und Realitätssichten befördern. Um die Beobachtung dieser ›bottom-up‹-Prozesse zu erleichtern und gleichzeitig die soziostrukturellen ›top-down‹-Prämissen in der sozialen Realitätskonstruktion nicht zu marginalisieren, ist es das Ziel der nachkommenden Kapitel, eine systemtheoretische Beobachtungsperspektive auf die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion zu skizzieren, die folgende konzeptuelle Anforderungen integrieren kann: • Die Beobachterrelativität aller Realitätsbeschreibungen bzw. den Eigenbezug und die Selektivität kognitiver Operationen. • Die Wechselprozesse zwischen den individueller und wir-zentrierter Realitätskonstruktion auf Mikro-, Meso- und Makroebene. • Den Rückbezug aller geteilten Realitätsstrukturen auf die kontinuierlichen Referenzierungs- und Interpretationsleistungen der Akteure.
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EIN ERWEITERTES SYSTEM-UMWELT-PARADIGMA
Grundzüge Um die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion aus Sicht eines analytischen Ansatzes zu erfassen, der Luhmanns Denkweise mit einer strömungsstrukturellen Grundlegung unterfüttern will, benötigen wir zunächst einen grundsätzlichen Erfassungsmodus für gesellschaftliche Entwicklungen. Dieses Beobachtungsgerüst fußt auf einer Ausdifferenzierung der Umwelt-Dimension des klassischen System-Umwelt-Paradigmas und beschreibt ein psychisches System, also das Bewusstsein des jeweiligen Akteurs, als Teil der internen Umwelt eines sozialen Systems, verstanden als kommunikativ kristallisiertes Sinnsystem. Ausgangspunkt dieses Modells bleibt die Selbstbezüglichkeit aller kognitiven Operationen und aller Kommunikationsprozesse.
Kommunikation zwischen psychischen Systemen Der Eigenbezug des menschlichen Bewusstseins wird nicht nur in der Kognitionswissenschaft kaum mehr in Frage gestellt: Alle Eindrücke, die ein Mensch verarbeiten kann, müssen zunächst durch seine selektiven Sinnesorgane aufgenommen werden, alle seine Sinnaktualisierungen können sich letztlich nur auf seine eigene kognitive Geschichte, also auf das zuvor Wahrgenommene beziehen. Wenn wir das menschliche Bewusstsein als ›psychisches System‹ fassen wollen, wird die undurchsichtige Grenze dieses Sinnsystems folglich eindeutig durch die Außenform des jeweiligen Körpers repräsentiert: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?« (Volkslied, um 1800). Auf kommunikative Prozesse bezogen fällt es hingegen deutlich schwerer, sich auf das Konzept der selbstreferenziellen Sinnsysteme einzulassen. Eine der wesentlichen Anfragen an die Systemtheorie bezieht sich denn auch auf die von Elias herausgestellten Verknüpfungszusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Sphären: Warum sollten kommunikative Systeme als selbstreferenziell oder ›operativ geschlossen‹ charakterisiert werden, wenn doch vielschichtige wechselseitige Verflechtungen erkennbar sind? Die Antwort liegt in der systemtheoretischen Sicht auf Kommunikation: Da kognitive Systeme wechselseitig intransparent sind, müssen sämtliche Inhalte in jeder Kommunikation symbolisch enkodiert werden, bevor sie verstanden, weiterverarbeitet oder referenziert werden können. Weil dies in allumfassender Manier jedoch äußerst aufwändig wäre, haben sich wir-zentrierte Orientierungsraster und Überzeugungen etabliert, die als ›gemeinsame Nenner‹ das Verständnis erleichtern und so die Selbstreferenzialität aller Sinnsysteme verdecken: Es scheint, als könnten sich psychische Systeme direkt 63
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austauschen. Die Übersetzungen in kommunikative Symbole und der Eigenbezug des Kommunikationsprozesses werden unsichtbar. In Kommunikationen mit persönlichen Inhalten wird hingegen rasch deutlich, dass nur auf das Bezug genommen werden kann, was zuvor in die Kommunikation eingebracht worden ist: Paul W. etwa muss Hannah A. zunächst über ein Kindheitserlebnis in Kenntnis setzen, bevor Hannah etwas dazu sagen kann. Ein weiteres Beispiel für die Selbstreferenzialität einer Kommunikation ist die Diskussion in einem Internetforum: Hier wird die Grenze der Kommunikation eindeutig durch die Benutzerschnittstellen der Computer repräsentiert. Was nicht eingetippt und gepostet wird, kann nicht Teil der Diskussion werden. Abbildung 5: Kommunikationsprozess zweier psychischer Systeme
Quelle: Eigene Überlegungen Abbildung 5 zeigt beispielhaft einen Kommunikationsprozess zwischen zwei psychischen Systemen: Die psychischen Systeme X und Y sind nicht Teil der Kommunikation, sie fungieren vielmehr als kommunikative Adressaten und Adressanten und aktualisieren den Kommunikationsprozess um einzelne Sinnangebote. Die Sinnaktualisierung [a] muss jedoch durch X zunächst in einer Weise enkodiert werden, die für Y dekodierbar erscheint, also durchläuft [a] gleich zwei verzerrende Übersetzungsdurchgänge. Zudem können X und Y abgesehen von einer gemeinsam geteilten Realitätsbasis nur auf das Bezug nehmen, was zuvor bereits Eingang in die Kommunikation gefunden hat. Y kann dabei nur auf die von X enkodierte Version von [a] ([a’]) reagieren. Auch kooperativ entwickelte Sinnkonstrukte ([c’/f’]) werden durch die Dekodierung von X und Y in jeweils individuelle Sinnaktualisierungen aufgelöst ([c]/[f]), was bekanntlich zu Missverständnissen führen kann. Insofern lässt sich Kommunikation als ein eigenständiges System charakterisieren, das zwischen den beteiligten psychischen Systemen steht.
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EIN ERWEITERTES SYSTEM-UMWELT-PARADIGMA
Aus diesem Blickwinkel erscheint erfolgreiche Kommunikation zunächst einmal unwahrscheinlich, da sowohl die En- als auch die Dekodierung der Kommunikationsinhalte mit Kontingenz belegt ist, solange der Möglichkeitshorizont nicht eingegrenzt wird. Solche Eingrenzungen können z.B. in der thematischen Ausrichtung der Kommunikation, in kommunikationsimpliziten Prämissen oder in Umweltkontexten bestehen. In jedem Fall wesentliche Stellen der Kontingenzreduktion sind jedoch gesellschaftsweit bekannte Hintergrundüberzeugungen und Symbolkonzepte sowie sozioevolutionär kristallisierte Kommunikationslogiken, die sich in sozialen Funktionssystemen manifestieren. Ausgerechnet auf der Ebene dieser gesellschaftsübergreifenden kommunikativen Sinnsysteme scheint jedoch die operative Geschlossenheit der Kommunikation erneut in Frage gestellt: Legewie (2004: 4) etwa charakterisiert soziale Systeme als »teilweise operativ geschlossen«, da doch beobachtbar sei, dass sich selbst Divisionen des Wirtschaftssystems durch gänzlich unökonomische Angebote beeinflussen ließen. Dieser Sicht der Dinge liegt jedoch eine elementare Vereinfachung der systemtheoretischen Denkweise zugrunde: Niemand verhandelt direkt mit einem sozialen System, sondern stets mit anderen psychischen Systemen, die ihre spezifische Kommunikation entweder mittelbar (z.B. als Mitglied eines Organisationssystems) oder unmittelbar an den Referenzen eines Funktionssystems ausrichten. Dies schließt die Freiheit zur punktuellen Gegenentscheidung mit ein: Ein selbstständiger Programmierer etwa kann sich mit seinem Einzelunternehmen durchaus dazu entscheiden, kostenfrei in einem Open-Source-Projekt mitzuarbeiten, aber er klinkt sich dann zeitweise aus dem ökonomischen Kontext aus. Passiert dies allzu oft, wird sich sein Unternehmen nicht mehr an dessen Kennziffern messen lassen, weil es sich nicht mehr an den Kommunikationslogiken des Wirtschaftssystems (›Zahlung/Nichtzahlung‹), sondern an anderen Prämissen wie z.B. ›Gemeinnützigkeit‹ ausrichtet. Das Konzept der operativ geschlossenen bzw. selbstreferenziellen Kommunikationssysteme beschreibt also nicht Abschottungstendenzen geschlossener Zirkel, sondern steht für eine exakte Differenzierung der Sinnzusammenhänge sozialen Lebens, die angesichts der Beobachterrelativität aller individuellen und kommunikativen Wirklichkeitssichten auf jeden Fall beibehalten werden sollte. Hierbei muss jedoch der Prozesscharakter des kognitiven Selbstbezugs von Sinnsystemen deutlich herausgestellt werden: Psychische wie soziale Systeme sind keine statischen Gebilde, sondern entwickeln sich in Konfrontation mit wahrgenommenen Umweltveränderungen beständig weiter.
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Differenzierung zwischen interner und externer Umwelt Luhmann unterscheidet in erster Instanz lediglich zwischen System und Umwelt, wobei er in die Umwelt sozialer Systeme alle nichtkommunikativen Systeme einordnet, ganz gleich, ob es sich um ökologische, technische, organische oder psychische Systeme handelt. Erst in zweiter Instanz werden strukturelle Koppelungen und Interpenetrationen eingeführt. Das führt dazu, dass der Einfluss aller Umwelten häufig auf gleicher Ebene analysiert wird, was nicht nur der von Elias herausgestellten untrennbaren Verknüpfung zwischen Individuum und Gesellschaft widerspricht, sondern auch der von Luhmann erkannten Abhängigkeit aller Kommunikation von den Codierungsleistungen psychischer Systeme. Wir können psychische Systeme aber auch nicht als Teil sozialer Systeme fassen, denn dann übergingen wir die Sinngrenzen bzw. die operative Geschlossenheit kommunikativer und kognitiver Systeme. Das erweiterte System-Umwelt-Paradigma unternimmt daher den Versuch, die beteiligten psychischen Systeme als interne Umwelt eines sozialen Systems zu definieren: Ein Akteur ist als ›Person‹ in ein Kommunikationssystem involviert. Gleichzeitig ist dieser Akteur aber auch in andere Kontexte involviert und führt viele biographische Prägungen mit sich. Diese Faktoren fließen in seine Informationswahl, sein Mitteilungsverhalten, seine Interpretation und seine Anschlussselektion ein und führen so zu Variationen in seinen kommunikativen Codierungen. Diese Variationen können per se als Bestandteil eines ohnehin leicht oszillierenden Rückbezugs auf die Referenzen eines sozialen Systems gefasst werden. Die Konfigurationen innerhalb psychischer Systeme, die zu diesen Variationen führen, stehen allerdings außerhalb des Sinnzusammenhangs der Kommunikation. Gleichwohl sind soziale Systeme von den involvierten psychischen Systemen als kommunikative Codierungsstellen ungleich abhängiger als von ökologischen, organischen oder technischen Systemen. Daher wird in unserem Modell vorgeschlagen, zwischen zwei Umwelttypen sozialer Systeme zu unterscheiden: • Der externen Umwelt eines sozialen Systems werden alle nicht sinnhaften Systeme und alle nicht direkt involvierten kommunikativen und psychischen Systemen zugeordnet. • Die interne Umwelt umfasst alle kodierenden psychischen Systeme und kommunikativen Systeme, auf deren Leistungen und deren Akzeptanz das jeweilige soziale System angewiesen ist. Der Begriff der ›internen Umwelt‹ selbst taucht in Luhmanns Spätwerk auf: So umschreibt er beispielsweise den Markt als »wirtschaftsinterne Umwelt« (1996: 94) oder die öffentliche Meinung als die »systeminter66
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ne Umwelt« des politischen Systems (1997: 1107). Allgemein definiert Luhmann ›Öffentlichkeit‹ aber als Reflexionsmedium, also als Beobachtungskonstrukt (1992: 81) und nicht als Übersichtskategorie für die Leistungen individueller oder kollektiver Akteure. Davon abgesehen lassen sich Hinweise für eine Gradualisierung der System-Umwelt-Relationen in der Unterscheidung zwischen ›strukturellen Koppelungen‹ und ›Interpenetrationen‹ finden: Strukturelle Koppelungen beschreiben Erwartungsstrukturen eines Systems, die es für spezifische Umweltirritationen sensibler machen (z.B. Autofahrer und Benzinpreis). Unter Interpenetrationen hingegen werden Kopplungen verstanden, die sich in einer Co-Evolution entwickeln (Luhmann 1984), in der kein System ohne das andere existieren kann (z.B. Mensch und Gesellschaft). Allerdings bleibt diese Unterscheidung undurchsichtig, da Luhmann nur selten auf Interpenetrationen zu sprechen kommt1 und sein Hauptinteresse an den Sinngrenzen der Gesellschaft endet. Das erweiterte System-Umwelt-Paradigma möchte durch die Differenzierung zwischen interner und externer Umwelt die Leistungen psychischer Systeme in der Reproduktion und Stabilisation gesellschaftsübergreifender Realitätssichten bzw. sozialer Strukturen deutlicher hervorheben und das damit verbundene Potential für graduelle Transformationen beleuchten: Ein soziales Funktionssystem wird als ein Kommunikationszusammenhang verstanden, dessen interne Umwelt die Welt anhand seines Differenzierungscodes beobachtet, En- und Dekodierungen an seinem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium ausrichtet und so in Kommunikation und Beobachtung Komplexität reduziert. Das jeweilige soziale System erfüllt also als kommunikative Orientierungsfolie die Funktion, die Komplexität in der Beobachtung eines eingegrenzten Bereichs zu reduzieren und entsprechend ausgerichtete Kommunikation zu erleichtern (z.B. Fachsprachen). Der externen Umwelt eines sozialen Systems werden alle Systeme zugeordnet, die in keiner Weise an der Konstitution und Aufrechterhaltung des Kommunikationsprozesses beteiligt sind, welcher die Sinngrenzen des sozialen Systems bestimmt, aber von diesem durchaus wahrgenommen werden können. Der internen Umwelt werden hingegen alle Systeme zugeordnet, ohne deren Leistungen das jeweilige soziale System in seiner aktuell beobachtbaren Form nicht operieren könnte: Jedes soziale System ist hinsichtlich seiner Selbsterhaltung nicht nur auf die Codierungsleistungen der involvierten psychischen Systeme, sondern auch auf deren Akzeptanz angewiesen, da diese ansonsten ihre Be-
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In seinem opus magnum (über 1100 Seiten) nur in zwei kurzen Passagen (Luhmann 1997: S. 108 u. S. 378). 67
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teiligung verweigern könnten. Selbst falls sämtliche Leistungen in der externen Umwelt eines funktionalen Kommunikationsprozesses wegfielen, könnte das soziale System als kommunikatives Phantom weiterbestehen, solange der kommunikative Rückbezug in seiner internen Umwelt bestehen bleibt. Generell birgt dieser kontinuierliche Rückbezug auf die Referenzen des sozialen Systems ein beträchtliches Potential für graduelle ›bottom-up‹-Veränderungen, da die im System kristallisierten Symbolkonzepte stets situativ von individuell geprägten psychischen Systemen interpretiert und angewendet werden. Falls es in diesen Varianzen zu Verdichtungen kommt, steigt die Wahrscheinlichkeit für strukturkonforme oder strukturverändernde Adaptionsprozesse. Abbildung 6: Interne und externe Umwelten eines Funktionssystems
Quelle: Eigene Überlegungen
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Um die Relevanz der Unterscheidung zwischen externer und interner Umwelt zu illustrieren (Abb. 6), werden an dieser Stelle beispielhaft drei System-Umwelt-Relationen skizziert: • Gesellschaft/Umwelt: Falls die Gesamtgesellschaft beobachtet wird, fallen lediglich allopoietische und ökologische Systeme in deren externe Umwelt. Alle kommunikativen und psychischen Systeme werden dagegen ihrer internen Umwelt zugeordnet, denn ohne ihre Leistungen wäre ›die Gesellschaft‹ nicht existent. • Wirtschaft/Umwelt: Die operative Geschlossenheit des ökonomischen Systems ist allen Beteiligten deutlich bewusst, denn nur über das Medium ›Geld‹ kann der Einzelne partizipieren. Natürlich ist die Ökonomie auch von den Leistungen ihrer externen Umwelt abhängig, grundsätzlicher ist sie jedoch auf die Akzeptanz und Stabilität ihrer internen Umwelt angewiesen: So kann es etwa passieren, dass sich Entwicklungen im Hypothekenmarkt auf die Gesamtökonomie auswirken (Demyanyk/Hemert 2007) oder Kunden Anpassungsprozesse provozieren: Die Kette »McDonald’s« musste z.B. 1986 in der BRD auf Papierschachteln umstellen, weil umweltbewusste Kunden die Speisen in Polystyrol-Verpackungen nicht mehr kaufen wollten. • Soziologie/Umwelt: Die interne Umwelt der Soziologie, also ›die Soziologen‹, beobachtet die externe Umwelt, also ›die Gesellschaft‹, nach dem Code wahr/unwahr, um neues Wissen bereitzustellen. Mit diesem Ziel werden Theorien oder Methoden entwickelt und Forschungsprojekte organisiert. In ihre Beobachtung sollte einerseits einbezogen werden, dass die Soziologie als System selbst in der Gesellschaft vorkommt und Forschungseinrichtungen Koppelungen zu anderen (z.B. wirtschaftlichen) Bereichen vorweisen, andererseits sollte aber auch berücksichtigt werden, dass ›der Soziologe‹ selbst auch in andere Kommunikationskontexte involviert ist, wodurch seine wissenschaftlichen Kodierungen beeinflusst werden. Diese Beispiele sollen deutlich machen, dass auch analytisch stets mit der Einflusskraft psychischer Systeme und subalterner kommunikativer Systeme zu rechnen ist. Das erweiterte System-Umwelt-Paradigma differenziert daher zwischen externer und interner Umwelt eines sozialen Systems, um diese Einflüsse detaillierter zu erfassen und sich dem prozesssoziologischen Verknüpfungsgedanken anzunähern: Systemgrenzen, verstanden als die Sinngrenzen kommunikativer und kognitiver Prozesse, bleiben bestehen, sind allerdings gegenüber ihrer internen Umwelt durchlässiger geworden. Da die komplexitätsreduktiven Grundsteine eines Systems (Medium, Code, Programm, Funktion etc.) stets situativ und in Abhängigkeit zu den eigenen kognitiven Prämissen interpretiert 69
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werden, oszillieren die kommunikativen Rückbezüge in leichter Variation um die jeweiligen Referenzpunkte, wodurch sich langfristig Möglichkeiten für graduellen Wandel eröffnen.
Psychische Systeme in der internen Umwelt Nach der Vorstellung eines erweiterten System-Umwelt-Paradigmas, das die Einflusskraft psychischer Systeme in der Reproduktion und Variation sozialer Sinnsysteme betont, soll diese Innovationsvariable nun näher beleuchtet werden. Simmel (1958: 313) hat die Persönlichkeit schon früh als »Kreuzungspunkt unzähliger sozialer Fäden« charakterisiert, die ihre »Individualität durch die Besonderheit der Quanten und Kombinationen« erlangt. Damit umschreibt er die Vorstellung der ›homines aperti‹ (Elias 2001: 133), die geteilte Symbolstrukturen einer Gesellschaft in einem dezentralen Netzwerk kontinuierlich reproduzieren bzw. weiterentwickeln und deren Erkenntnisse sich isoliert von diesem wir-zentrierten Wissen betrachten lassen. Im Folgenden soll nun mit Rückgriff auf das vorgestellte Konzept des Conceptual Blending (Turner/Fauconnier 2002) ein einfaches Modell der Austauschprozesse zwischen psychischen und sozialen Systemen entwickelt werden. Vergleichbar mit Luhmanns Sicht auf Kommunikation beschreibt Conceptual Blending in einem erweiterten System-Umwelt-Paradigma die Reproduktion und Transformation von Symbolkonzepten und Realitätsmustern innerhalb psychischer Systeme als mehrstufig selektiven Prozess: Ein psychisches System erhält im Verlauf seiner Entwicklung mannigfaltige Inputs aus vielfältigen Kommunikations- und Beobachtungssphären. Die selektive kognitive Verarbeitung dieser Inputs variiert nach individuellen Erfahrungen, Kategorisierungen und Grundüberzeugungen. Input-Reize werden so zu individuellen Sinnkonstrukten abgemischt, die erneut verbreitet werden können. Dieser Blending-Prozess kann weder ausschließlich als rationaler, normenbestimmter oder bedürfnisgetriebener Vorgang begriffen werden: Er ist vielmehr ein Wechselprozess aller genannten Dimensionen, der in seiner Gesamtkomplexität nicht einmal dem einzelnen Akteur selbst bewusst sein kann. In seiner Grundstruktur folgt dieses Modell der heuristischen Gleichung Lewins (1943: 292-310), die das Verhalten als eine Funktion der Person und ihrer Umwelt definiert [V=f(P,U)], allerdings mit dem Hinweis, dass P und U derart viele Variabilitäten besitzen, dass eine Berechnung von V ohne Spekulation schier unmöglich erscheint (Abb. 7).
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Abbildung 7: Psychische Systeme als Kreuzungspunkt sozialer Fäden
Quelle: Eigene Überlegungen Der Charme dieser Sichtweise liegt in ihrer Vereinbarkeit mit wissenssoziologischen und kognitionswissenschaftlichen Annahmen: Einerseits wird die soziale Eingebundenheit des Einzelnen berücksichtigt (Scheler, Mannheim) und seine zentrale Rolle im Reproduktionsprozess übergreifender Realitätsmuster gewürdigt (Berger/Luckmann), andererseits wird die Rückgebundenheit des Denkens an die Verarbeitungshistorie einbezogen (Roth, Singer). Zudem wird sowohl die Selbstreferenzialität aller kognitiven und kommunikativen Systeme (Luhmann) als auch die Transformationskraft der Akteure einkalkuliert: Elias (1978: LXVIII) vergleicht Figurationen mit gesellschaftlichen Tänzen, welche unabhängig sein können »von den spezifischen Individuen, die sie hier und jetzt bilden, aber nicht von den Individuen selbst«, denn diese könnten sich sehr wohl entscheiden, ihre Teilnahme zu verweigern. Psychische Systeme werden folglich als Konstitutionsgrundlage sozialer Systeme verstanden: Nur durch ihre Enkodierungsleistungen erhält ein Kommunikationsprozess neuen Input, nur durch ihre Anschlussleistungen kann die Kommunikation fortgeführt werden. Ein soziales (Funktions-)System muss daher für die involvierten psychischen Systeme effektiv Komplexität reduzieren und etwaigen funktionalen Äquivalenten überlegen sein, denn andernfalls bestünde das Risiko, dass die Akteure ihre kommunikativen Codierungen an anderen Referenzen ausrichten. Viele dieser funktionalen Sinnsysteme und geteilten Symbolstrukturen werden heute als ›natürlich‹ gegeben empfunden (z.B. unsere Zeiteinteilung, Geld als Wertäquivalent, die Wirtschaftsordnung), und 71
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doch lassen sich Phasen ausmachen, in denen solche Konfigurationen brüchig werden und sich Innovationen graduell über soziale Gebilde auf Meso-Ebene bis hin zur Ebene übergreifender Strukturen durchsetzen. Welchen Einfluss die Blendings einzelner Akteure in einem solchen Prozess besitzen können, lässt sich beispielsweise an der Person Luthers zeigen: Martin Luther (1483-1546) wird in soziohistorischen Betrachtungen zur Reformation oft lediglich als Membran für die strukturaufbrechende Wirkung des Buchdrucks (z.B. Faulstich 2002) oder mit Elias als Variable im Wechsel zwischen priesterdominiertem und säkularem Wissen beschrieben (Schrape 2005: 44). Beides ließe die Vermutung zu, dass ohne Luther ein anderer Zeitgenosse die Rolle des Reformators übernommen hätte. Wenn wir freilich davon ausgehen, dass Luther ähnlichen Input wie seine Zeitgenossen erhalten hat, bleiben seine Biographie und seine abgeleiteten Überzeugungen maßgeblich an der Qualität der kommunikativen Outputs beteiligt, die augenscheinlich spezifische religiöse Grundbedürfnisse besser erfüllen konnten als originäre Modelle. Dass Randbedingungen eine begünstigende Rolle spielten, steht außer Frage, ob jedoch ohne Luther ähnliche Sinninnovationen den gleichen Effekt nach sich gezogen hätten, lässt sich kaum belegen.2 Weitere Beispiele für individuelle Blending-Leistungen, die sich gesellschaftsweit oder zumindest in Teilbereichen verbreitet haben, finden sich z.B. in Musik oder Kunst, aber auch in technischen Bereichen: Das »Cover Flow«-Interface etwa, das momentan »Apple«-Produkte wie »Safari« oder »iTunes« kennzeichnet, wurde von dem Künstler Andrew Coulter Enright erdacht und als eigenständiges Plug-in angeboten, bevor das Unternehmen »Apple« es Anfang 2006 gekauft und zu einem seiner Markenzeichen gemacht hat. Die Überblendungen eines Künstlers, der gerne digitale Musik hörte, lassen sich in seinem ersten Konzeptentwurf noch heute nachvollziehen (Enright 2004). Unserem Modell zufolge entstehen in psychischen Systemen innovative Sinnstrukturen also durch die selektive Rekombination von kommunikativen Inputs, kognitiven Erfahrungen und kristallisierten Grundüberzeugungen. Diese Innovationen können im Falle einer hohen Anschlussfähigkeit gegenüber den Realitätssichten anderer Akteure graduelle Wandlungsprozesse in der geteilten Sinnkonstruktion anstoßen, bis sich diese Variationen gegebenenfalls auch in gesellschaftsübergreifenden Strukturen niederschlagen. Wie die Stabilisations-, Innovations- und Emergenzprozesse in der sozialen Wirklichkeitsbeschreibung aus Sicht unseres Ansatzes ablaufen, versucht das nachfolgende Kapitel zu klären.
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Vgl. dazu einen Ausspruch Goethes (1958): »Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter«.
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Soziale Realitätskonstruktion zwischen Akteur und Struktur Ziel der vorangegangenen Kapitel war es, die Überlegungen zu den Vereinbarkeiten zwischen Prozesssoziologie und Systemtheorie in einem Ansatz zu bündeln, der uns in der Beobachtung der durch das Web angestoßenen Wandlungsprozesse in der sozialen Realitätskonstruktion weiterhelfen kann, indem er die Selbstreferenzialität sozialer Systeme, aber auch auf die Wechselprozesse zwischen psychischen und sozialen Systemen fokussiert. Durch die Differenzierung zwischen externer Umwelt und interner Umwelt soll der Blick für graduelle Veränderungen ›von unten‹ geschärft werden: Psychische Systeme werden als ›Kreuzungspunkte sozialer Fäden‹ gefasst, die Beobachtungsraster, Symbolkonzepte und Kommunikationslogiken abhängig von ihren Prägungen situativ interpretieren und durch die Überblendung kommunikativer und kognitiver Inputs innovative Sinnstrukturen erzeugen. Dieses analytische Grundgerüst soll nun auf die soziale Realitätskonstruktion angewendet werden, um aus seiner Sicht zu klären, wie sich gesamtgesellschaftliche Normen, Werte und Wirklichkeitsbeschreibungen derart stabilisieren können, dass sie als ›natürlich‹ gegeben empfunden werden, wie Innovationen bzw. alternative Beschreibungen Eingang in diese übergreifende Realitätskonstruktion finden und wie sich diese allmählich von ihren Adressanten lösen können.
Stabilisation Wenn psychische Systeme jeweils eine eigene komplexitätsreduzierte Realitätssicht entwickeln, erscheint eine kooperative Wirklichkeitskonstruktion zunächst unwahrscheinlich, auch wenn Tomasello (2005) die Fähigkeit zur Kooperation schlicht als genetische Voraussetzung für die kumulative kulturelle Evolution beschreibt. Für eine Soziologie sozialer Realitätskonstruktion bleibt dieses Postulat mithin zu grundsätzlich, um den »Glaube[n] an die gleiche substantielle Identität der intersubjektiven Erfahrung« (Schütz 1974) erklären zu können. Wie sich Symbolkonzepte und Wirklichkeitsbeschreibungen zwischen selbstreferenziellen psychischen Systemen stabilisieren, lässt sich anhand sozialer Netzwerke beobachten, die hier als dichte oder weniger dichte kommunikative Verknüpfungen auf Meso-Ebene verstanden werden. Insbesondere in projektbezogenen Kooperationen entscheidet sich ein psychisches System freiwillig für eine Partizipation und an diese Entscheidung sind spezifische Erwartungen auf emotionaler oder rationaler Ebene geknüpft. Diese wechselseitig auftretenden Erwartungen 73
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können durch Wiederholung zu verstetigten Kooperationsbeziehungen führen, etwa in einem Internetforum X zum Thema Y mit den Teilnehmern Z: Die Konstitution jedes kommunikativen Systems beginnt mit einer Anfangsdifferenz, d.h. eine Einzelperson kann z.B. das Forum X zum Thema Y anbieten, was nicht folgenlos bleibt, sobald sich Kommunikation daran anschließt. In diesem Prozess bilden sich steigende Erwartungen der involvierten Akteure an den Kommunikationsbezug Y. Gelingt es, thematische Kontingenzen zu reduzieren und das Interesse der Teilhabenden aufrechtzuerhalten, verdichtet sich das Netzwerk und es entsteht eine netzwerkspezifische ›Kultur‹, in denen sich spezifische Symbolkonzepte und Sichtweisen verfestigen. Mit wachsender Ausdifferenzierung des Kommunikationskontextes gewinnen diese Realitätssichten an Orientierungskraft. Sobald aber aus Sicht der psychischen Systeme stabilere Orientierungsfolien an anderer Stelle entstehen, bilden sich diese Kooperationsstrukturen wieder zurück. Im Grunde liegen aus der Sicht unseres Modells ähnliche reziproke Austauschprozesse zwischen Akteur und Struktur vor, auch wenn sowohl die Partizipationsentscheidung wie auch die eigene Erwartungshaltung für den Einzelnen deutlich undurchsichtiger ist: Ein psychisches System richtet seine kommunikativen Codierungen, also seine Informationsauswahl, sein Mitteilungsverhalten und sein Verstehen, an den Referenzen eines sozialen Funktionssystems aus und profitiert dadurch von einer Komplexitätsreduktion in Kommunikation und Beobachtung. Um seine konstituierenden Leistungen in der internen Umwelt eines sozialen Systems erbringen zu können, muss ein psychisches System die entsprechenden, in sich erneut komplexen Beobachtungskonzepte und Kommunikationsweisen aber erst einmal verinnerlichen. Berger/Luckmann (2001: 139-204) unterscheiden dabei die primäre und die sekundäre Sozialisation: Die primäre Sozialisation findet in familiären Beziehungen statt und trägt durch die Verinnerlichung von fundamentalen Verhaltensweisen zur Identitätsbildung bei. Die sekundäre Sozialisation bereitet den Akteur auf seine ›Rollen‹ in der Gesellschaft vor und vollzieht sich in der Schule, im Freundeskreis und durch massenmediale Vermittlung. Die primäre Sozialisation besteht also in dem zumeist unbewussten Erlernen von Verhaltens- und Bewertungsgrundsteinen sowie den grundsätzlichen sozialen Organisationsstrukturen, also in der Internalisierung der Kommunikation ermöglichenden Grundwerte, die Schütz als »natürliche Einstellung« bezeichnet (Hettlage 1991: 100). Die Verinnerlichung der spezifischeren Beobachtungsperspektiven und Kommunikationsweisen bzw. der situativen Rahmen (Goffman 1977: 386) und Rollentypisierungen (Schütz: 1977: 386) vollzieht sich anschließend in der sekundären Sozialisation. Darüber hinausgehend be74
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schreibt Simondon (1964) die kontinuierlichen Anpassungen eines Erwachsenen als tertiäre Sozialisation. Letztlich geht es hierbei darum, wie im jeweiligen Kontext Bedürfnisse darstellt und Situationen interpretiert werden sollten, um verstanden zu werden. Tabelle 2: Sozialisationstypen Internalisierungsprozesse
Beobachtungswelten
Primäre Sozialisation
Sprache, grundsätzliche Werte, Regeln, Normen
Familiäres Umfeld
Sekundäre Sozialisation
Spezifische Beobachtungscodes, Symbolstrukturen und Kommunikationsmodi
Organisierte Erziehung, Peer Groups, Massenmedien
Tertiäre Sozialisation
Kontinuierliche Anpassungen an veränderte Bezüge, Abgrenzungsprozesse.
Identitätsbildung im Spannungsfeld zwischen den Sinnwelten
Quelle: Eigene Überlegungen Aufgrund begrenzter kommunikativer und kognitiver Reichweiten steht zu vermuten, dass für den Einzelnen in der Kindheit zunächst kaum die Möglichkeit besteht, Alternativen zu den im primären Bezugskreis angebotenen Sinnstrukturen zu erforschen. Der sich in der Zeit der Pubertät stetig erweiternde Erfahrungsraum bei zunehmender kognitiver Agilität kann dann zu der Konstruktion übertrieben rigoroser Sinnalternativen führen (Rice/Dolgin 2008). Im vorgeschlagenen Stufenmodell (Tab. 2) erscheint diese Zeit als Übergangsphase zur tertiären Sozialisation, in der die fortlaufenden Adaptionsprozesse des Erwachsenen gegenüber seinen Umwelten (z.B. Beruf, Familie, Freunde) stattfinden. Auch punktuelle Abgrenzungen lassen sich letztlich als Adaptionen beschreiben. Sozialisation wird also als ein lebenslanger Abstimmungsprozess der psychischen Systeme gegenüber den Sinnstrukturen der Gesellschaft verstanden. Da soziale wie psychische Systeme als operativ geschlossen aufgefasst werden, geht es in der Sozialisation aus Sicht unseres Modells primär darum, die Codierungsmodi zu erlernen, die es einem psychischen System ermöglichen, als Adressat und Adressant in der internen Umwelt sozialer Systeme aufzutreten: Damit Kommunikation überhaupt stattfinden kann, müssen die involvierten Akteure über einen gemeinsamen Bezugsrahmen verfügen, um sich über kurz oder lang wechselseitig verstehen zu können. In persönlichen Kommunikationen kann dieser Grundstock an geteilten Symbolkonzepten fragmentarisch sein, solange 75
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sich beide Seiten auf Diskussionsprozesse einlassen. In der Erfüllung seiner (Grund-)Bedürfnisse ist der Einzelne allerdings auf die komplexitätsreduktiven Leistungen sozialer Funktionssysteme angewiesen, ebenso wie kein soziales System auf die kontinuierlichen Reproduktionsleistungen psychischer Systeme verzichten kann. Ein Strukturmerkmal dieser sozial kristallisierten Sinnsysteme ist ihre Emergenz gegenüber individuellen Sinnstrukturen: Dank des Mediums ›Geld‹ müssen etwa Verkäufer und Käufer im ökonomischen Kontext keine Kenntnis über die wechselseitig vorangegangenen Sinnaktualisierungen besitzen. Gleiches gilt in anderen Funktionssystemen, denn in solchen Kommunikationen nehmen die Akteure als Adressaten bzw. Adressanten definierte Rollen ein und reproduzieren so das jeweilige Sinnsystem, wobei diese kommunikativen Codierungen wie auch unser Sprachgebrauch bis zu einem gewissen Grad Varianzen aufweisen. Weniger stabil als diese gesellschaftlichen Grundstrukturen und Hintergrundrealitäten, die hier als primäre Realitätsbasis bezeichnet werden, sind kurzfristiger changierende kommunikative Objekte in der gesellschaftsübergreifenden sekundären Realitätsbasis: Ein psychisches System kann sich etwa gegenüber kommunikativen Objekten durchaus in seiner Meinung distanzieren: Im Fall des kommunikativen Objektes ›9/11‹ beispielsweise ist es für den Einzelnen per se kaum möglich, direkten ›objektiven‹ Input zu den Geschehnissen zu bekommen, weshalb alternative Erklärungsversuche aus seiner Sicht nicht fragmentarischer erscheinen müssen als etablierte Darstellungen. Grenzen erfahren diese individuellen Sinnaktualisierungen allerdings, sobald sie in die Kommunikationen eingebracht werden: Ich muss noch immer verstanden werden, ohne meine Umwelt zu überfordern oder mich in der Kommunikation zu disqualifizieren. Gesellschaftsübergreifende Realitätsstrukturen stabilisieren sich aus Sicht des vorgeschlagenen Modells also wie folgt: • Primäre Realitätsbasis (grundsätzliche Orientierungsraster): In der Sozialisation werden die prinzipiellen Kommunikationsmodi erlernt, um als Adressaten und Adressanten in der internen Umwelt sozialer Systeme fungieren zu können und um von deren Komplexitätsreduktion in Kommunikation und Beobachtung zu profitieren. • Sekundäre Realitätsbasis (instabilere Sinnangebote): Kommunikative Objekte strukturieren die übergreifende Kommunikation in der Gegenwartsbeschreibung. Sie bilden in der Kommunikation eine Bezugsgrundlage, die bis zu einem gewissen Grad Kontingenzen ausschließen und Erwartungssicherheit schaffen kann.
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Innovation Allgemein können sich Innovationen auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Orientierungsraster und Wirklichkeitsbeschreibungen nur durchsetzen, wenn sie gegenüber den Sinnaktualisierungen der Mehrheit der Akteure anschlussfähig sind. Das allerdings erscheint, wie schon die Stabilisation geteilter Realitätssichten, aufgrund der operativen Selbstreferenzialität kognitiver und kommunikativer Systeme unwahrscheinlich. Zwar lassen sich ›top-down‹ relativ zügig Anpassungsprozesse provozieren, z.B. durch die angedrohte Gefährdung von Grundbedürfnissen, allerdings würde auf diese Weise langfristig die strukturelle Integrität einer funktional differenzierten Gesellschaft in Frage gestellt3. Eine Prohibition etwa wird ihr Ziel nur erreichen, wenn breite Teile der Bevölkerung von deren Sinngehalt überzeugt sind, ansonsten entstehen illegale Zirkel zur Erfüllung der verbotenen Bedürfnisse (vgl. zur Alkoholprohibition: Kobler 1973, zum illegalen Filesharing im Web: Dörr 2008). Aus Sicht des vorgeschlagenen Ansatzes kann indes vermutet werden, dass sich innovative Sinnangebote in den meisten Fällen auf geringer ausdifferenzierten Kommunikationsebenen wie in sozialen Netzwerken verbreiten, bevor sie sich gegebenenfalls in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung verfestigen. Hinsichtlich dieser graduellen ›bottom-up‹-Transformationen lassen sich strukturkonforme und strukturverändernde Innovationen ausmachen: Strukturkonforme Innovationen lassen sich nahtlos in bestehende funktionale soziale Strukturen einpassen, während strukturverändernde Innovationen von bestehenden sozialen Systemen zunächst abgestoßen werden. Nicht nur Weyer (2000: 253) unterstellt systemtheoretischen Ansätzen diesbezüglich, strukturverändernde Innovationen für kaum möglich zu halten. Allerdings spricht gerade Luhmanns Konzept der ›dynamischen Stabilität‹ von Sinnsystemen (1997: 1139) graduellen Veränderungen in deren Umwelt ab einem gewissen Schwellenwert eine hohe Einflusskraft zu. Unbeantwortet bleibt jedoch, wie sich in der Umwelt sozialer Systeme Variationen derart verdichten können, dass sie die Stabilität ausdifferenzierter Systeme in Frage stellen. Die Prozesssoziologie erscheint diesbezüglich als probate Ergänzung, um solche ›bottom-up‹-Wandlungen erklären zu können: Zwar spricht Elias dem Einzelnen gegenüber ausdifferenzierten sozialen Strukturen eine leichtgewichtige Position zu, 3
Vgl. Luhmann (1997: S. 747): Die moderne Gesellschaft ist schlichtweg zu komplex, um durch ein einzelnes System gesteuert werden zu können. Sowie: Elias (1978: S. 312f.): Durch Fremdzwang kann schnelles Umdenken herbeigeführt werden, allerdings kann dadurch aber ein ganzes Konglomerat an etablierten Selbstzwängen instabil werden. 77
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trotzdem bleibt aber eine grundsätzliche Eigenständigkeit der Akteure erhalten, die sich sehr wohl entscheiden können, nicht weiter an spezifischen sozialen Kontexten zu partizipieren. Gerade aus prozesssoziologischer Sicht gilt es hierbei allerdings die Wir-Zentriertheit aller individuellen Realitätskonzepte zu beachten: Wie im vorangegangenen Kapitel hervorgetreten ist, wird der Einzelne derart in die primäre Realitätsbasis seiner Kultur sozialisiert, dass viele ihrer Orientierungsraster und Symbolkonzepte als unhinterfragbar oder gar natürlich empfunden werden. Alternative Beschreibungen haben es dementsprechend schwer, sich gegenüber diesen ›Defaultwerten‹ durchzusetzen. Gleichzeitig sorgen diese Voreinstellungen aber auch für eine ganz grundsätzliche Kompatibilität der individuellen Sinnaktualisierungen, an die Innovationen anknüpfen können, zumal anzunehmen bleibt, dass in der Sozialisation ebenso verbreitete Unzufriedenheiten gegenüber den etablierten Strukturen in einem Kulturkreis transportiert werden (z.B. Demokratisierungsutopien). Auch im Horizont dieser ›Defaultwerte‹ liegt also eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass revisionswillige Akteure auf der Meso-Ebene alternative Sinnangebote entwickeln, die in angrenzende Netzwerke diffundieren, sobald diese Variationen aus der Sicht weiterer Akteure gegenüber etablierten Strukturen vielversprechendere Orientierungspunkte bieten. Falls sich nur eine begrenzte Zahl an Akteuren mit diesen innovativen Sinnangeboten identifizieren kann, entstehen subkulturelle Netzwerke. Die Genese bereichsspezifischer Subkulturen erscheint vielmehr sogar relativ wahrscheinlich, da eine gesellschaftsübergreifende komplexitätsreduzierte Wirklichkeitsbeschreibung aus Sicht der Akteure ohnehin als eine beständige Zumutung empfunden werden kann. Ein Beispiel für solche punktuellen Abgrenzungen sind die Lebenskulturen, die sich in den 1990er Jahren um spezifische Popmusikformen gebildet haben (Bonz 2007). Gerade das Web bietet einen idealen Nährboden für solche subkulturellen Netzwerke, da hier u.a. der Faktor der räumlichen Nähe in den Hintergrund tritt. Solche subkulturellen Symbolstrukturen können von ausdifferenzierten Funktionssystemen durchaus als gewünschte Irritationen toleriert werden (z.B. ›Kunst‹). Eine gesellschaftsübergreifende Verbreitung alternativer Inhalte fällt hingegen ungleich schwerer, da diese weder kulturimmanent sozialisiert noch durch die etablierten Organisationsstrukturen vermittelt werden. Alternative Realitätssichten werden zwar mitunter durch die Massenmedien vorgestellt (wenn auch oftmals mit einem Dünkel der Absonderlichkeit) und der anknüpfungsinteressierte Akteur kann so durchaus Anhaltspunkte gewinnen, in welche Richtung er sich kommunikativ ausrichten könnte. Ein tiefergehender Orientierungsprozess fordert allerdings weitere zeitliche und kognitive Ressourcen, die 78
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eine aktive Repriorisierungsentscheidung voraussetzen. Die Grundlagen für eine solche Entscheidung leiten sich jedoch wiederum aus den bisherigen kommunikativen Inputs eines Akteurs ab und sind insofern stark durch etablierte Realitätssichten geprägt, weshalb vermutet werden kann, dass diese in vielen Fällen zunächst an Orientierungskraft einbüßen müssen, bevor sich alternative Sinnangebote gesamtgesellschaftlich verbreiten können. So konnte sich die von Negroponte und »Swatch« entwickelte Internet-Zeit ».beat« nicht durchsetzen, weil der Orientierungsgewinn des neuen Zeitrasters trotz weltweiter Kompatibilität nicht groß genug war, um sein Erlernen zu rechtfertigen (Lee/Liebenau 2000). Als Beispiel für eine bahnbrechende ›bottom-up‹-Transformation kann hingehen die innerdeutsche Wende genannt werden: Neben externen Katalysatoren heben Historiker wie Maier (1999) hervor, dass das Gesellschaftssystem der DDR in den 1980er Jahren den Ansprüchen der Bürger nicht mehr gerecht werden konnte und deshalb die Zahl der Protestwilligen kontinuierlich zunahm. Stetig mehr Akteure verweigerten ihre Leistungen als Teil der internen Umwelten der gesellschaftlichen Funktionssphären und schlossen sich zu weitläufigen Protestnetzwerken zusammen. Die Staatsführung reagierte auf diese Aktivitäten einerseits durch Entgegenkommen (z.B. geplante Reiseerleichterungen), andererseits beharrte sie aber auf alten Mustern der Herrschaftsausübung und provozierte auf diese Weise Anschlussselektionen, welche durch die gegebenen Strukturen auf Dauer nicht mehr verarbeitet werden konnten. Da Komplexitätsreduktion für psychische wie soziale Systeme stets auch bedeutet, als stabil empfundene Sinnstrukturen in der primären Realitätsbasis nicht ständig aktualisieren zu müssen, sind es aus der Sicht eines ›erweiterten‹ System-Umwelt-Paradigmas die beobachteten Diskontinuitäten in ihrer Umwelt, die Transformationen in den Wirklichkeitsmustern provozieren: Veränderungen verdichten sich sukzessive auf geringer ausdifferenzierten kommunikativen Ebenen wie z.B. in schwach organisierten sozialen Netzwerken auf Meso-Ebene, bis sie auf höheren Differenzierungsebenen als Diskontinuität erkannt werden. Auf der Ebene der sekundären Realitätsbasis, also in der gesellschaftsübergreifenden Gegenwartsbeschreibung, erscheint dieser Transformationsprozess wiederum unkomplizierter, da Inkompatibilitäten in der Kommunikation hier eher toleriert werden und neue kommunikative Objekte über Verbreitungsmedien relativ mühelos in die gesellschaftliche Kommunikation integriert werden können. Die Mehrheit dieser neuen Objekte muss noch nicht einmal glaubwürdig, sondern lediglich als bemerkenswerter Unterschied verstanden werden. Sie dienen Dunbar (1996) zufolge vordringlich als ›sozialer Kitt‹ (z.B. Klatsch).
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Es wird also vermutet, dass sich ›bottom-up‹-Veränderungen in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion durchsetzen, sobald sie Anschluss an die Sinnstrukturen von mehr und mehr Akteuren finden: • Primäre Realitätsbasis (grundsätzliche Orientierungsraster): Ähnliche Sozialisationskontexte steigern die Wahrscheinlichkeit für kompatible Veränderungswünsche. Diese befördern das Auftreten von sozialen Netzwerken mit alternativen Inhalten, die in umliegende Netzwerke diffundieren, sobald sie aus Sicht der Akteure mehr Orientierungskraft besitzen als etablierte Symbolkonzepte, bis sie ggf. Eingang in die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion finden. • Sekundäre Realitätsbasis (instabilere Sinnangebote): Um sich kurzfristig in der gesellschaftsübergreifenden Gegenwartsbeschreibung zu etablieren, müssen neue kommunikative Objekte lediglich als bemerkenswerte Unterschiede verstanden werden. Je nach Glaubwürdigkeit werden sie von den Adressaten zwischen den zwei Polen ›Klatsch‹ und ›erinnerungswerte Nachricht‹ eingeordnet.
Emergenz Aus unserer Sicht beinhalten die primäre und sekundäre Realitätsbasis einer Gesellschaft langfristige Sinnkonstanten bzw. kurzfristige Bezugsobjekte, um die Komplexität der allgemeinen Kommunikation zwischen operativ geschlossenen psychischen Systemen zu reduzieren. Innovationen finden Eingang in diese gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion, sobald sie – grundsätzlich formuliert – Anschluss an die Sinnaktualisierungen vieler psychischer Systeme finden. In diesem Diffusionsprozess emanzipieren sich die entsprechenden Symbolkonzepte von den kommunikativen Kontexten, in denen sie entstanden sind, und damit auch von den teilhabenden Akteuren: Sie werden ein emergenter Teil des »ratchet effects« der kulturellen Evolution (Tomasello 1999/2009). Wie wir im Zuge der systemtheoretischen Sicht auf Kommunikation festgestellt haben, entsprechen schon die Sinnaktualisierungen in einem Kommunikationsprozess zwischen zwei psychischen Systemen nicht den individuellen Realitätssichten der beteiligten Akteure, da sowohl in der kommunikativen Enkodierung als auch Dekodierung viele kontingente bzw. ›verzerrende‹ Entscheidungen getroffen werden. In sozialen Netzwerken auf Meso-Ebene wird diese Differenz ab einem gewissen Grad der Ausdifferenzierung allerdings deutlich offensichtlicher: Solange ein geteiltes Kooperationsziel erhalten bleibt, können die Sinnkonstrukte, die sich in der Kommunikation verdichten, den individuellen Realitätssichten der Akteure teilweise durchaus widersprechen. Dieser
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Ablösungsprozess kann sich zunächst ganz unmerklich vollziehen (Elias 1978: 316), er kann aber ebenso durch bewusste ›Trade-off‹-Entscheidungen der beteiligten Akteure gedeckt sein. Trotzdem bleiben die involvierten Akteure in sozialen Netzwerken nur marginal austauschbar, da ohne ihre Beteiligung die Wahrscheinlichkeit für einen Abbruch der Kommunikation ansteigt. Sobald aber dem jeweiligen Kommunikationszusammenhang nicht nur in der Eigen-, sondern auch in der Fremdbeobachtung eine Funktion zugeschrieben wird, werden die spezifischen beteiligten Akteure als auch ihre Bedürfnisse verstärkt sekundär und das soziale Netzwerk verfestigt sich strukturell (z.B. als Organisation). Schon früh konnte daher »Wikipedia« mit Larry Sanger 2002 auf einen ihrer beiden Co-Founder und die Umweltschutzorganisation »Greenpeace« Ende der 1980er mit Patrick Moore auf eines ihrer wichtigsten Gründungsmitglieder verzichten. Mit zunehmender Ausdifferenzierung distanzieren sich soziale Systeme dann derart von den involvierten Akteuren, dass der Einfluss des Einzelnen auf den kommunikativen Gesamtzusammenhang nicht mehr gegeben ist. Abbildung 8: Der Emergenzprozess innovativer Sinnangebote
Quelle: Eigene Überlegungen Abb. 8 stellt diesen Emanzipationsprozess in schematisierter Form dar: Durch Conceptual Blending entstehen in psychischen Systemen (P) innovative Sinnkonstruktionen (S). Werden diese Sinnkonstruktionen in persönliche Kommunikationsprozesse eingebracht, entsteht ein ›inter‹, das schon nicht mehr auf die isolierten Sinnaktualisierungen eines Einzelnen zurückzuführen ist. In kommunikativen Systemen auf MesoEbene sinkt der individuelle Anteil der involvierten Akteure an dem Sinnaktualisierungsprozess weiter, allerdings bleiben diese bis zu einer gewissen Ausdifferenzierungsstufe kaum austauschbar. Falls diese kristallisierten Sinninnovationen in umliegende Netzwerke diffundieren und in einem allmählichen Prozess Anschluss an die gesellschaftsübergreifende Realitätskonstruktion finden, emanzipiert sich deren Aktuali81
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sierungsprozess vollständig von den involvierten individuellen Akteuren. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich durch einen klassischen Ausspruch des Aristoteles (1907: 8.6. 1045a: 8-10) ausdrücken: »Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.«
Elias (1987: 196) weist allerdings nachdrücklich darauf hin, dass sowohl das Einzelne als auch das Ganze in der Beobachtung angemessen repräsentiert werden sollten: Weder darf das Ganze auf seine Einzelteile reduziert noch die Einzelteile aus dem Bild des Ganzen entfernt werden, weil erst die Wechselwirkungen der Einzelteile das Ganze bilden. Durch die Zuordnung psychischer Systeme in die gleiche Umwelt sozialer Systeme, wie z.B. technische oder organische Systeme, rückt dieser Zusammenhang ins Beobachtungsdunkel (Weber 2005, Bjerg 2005). Mit der Beschreibung psychischer Systeme als konstitutive interne Umwelt sozialer Systeme soll ihre Einfluss- und Veränderungskraft hingegen eingängiger beobachtet werden, ohne die Emergenz gesellschaftsübergreifender Wirklichkeitsbeschreibungen in Frage zu stellen. Aus Sicht unseres Modells kann der Emergenzprozess innovativer Inhalte also als eine sukzessive Allgemeinwerdung beschrieben werden: Je weiter sich innovative Sinnkonstruktionen in Netzwerken auf MesoEbene verbreiten, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit einer Integration in die übergreifende Wirklichkeitsbeschreibung, ob nun zügig als kommunikatives Objekt der Gegenwartsbeschreibung oder längerfristig als grundsätzliches gesellschaftliches Orientierungsraster. Dieser Integrationsprozess ist geprägt von einer zunehmenden Emanzipation der Sinnangebote gegenüber individuellen Akteuren, auch wenn in der gesellschaftlichen Erzählung aus Komplexitätsgründen oft auf personelle Referenzen zurückgegriffen wird (»Riester-Rente«). Die Karriere der »Tobin-Steuer«, von der ersten Erwähnung in »Princeton«-Vorlesungen 1972 über die Gründung von »ATTAC« im Horizont der asiatischen Finanzkrise 1997 bis zu den Diskussionen in der aktuellen Bundesregierung um Angela Merkel, ist mithin ein idealtypisches Beispiel sowohl für die Allgemeinwerdung innovativer Sinnstrukturen als auch für ihre schleichende Emanzipation innerhalb dieses kumulativen »ratchet effects« gegenüber ihren Urhebern: So äußerte sich James Tobin in einem Spiegel-Interview (36/2001) eher ablehnend gegenüber den Konzepten, die mittlerweile unter »Tobin-Steuer« verstanden werden.
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Überblick Luhmann gab 1997 in einem wenig beachteten Interview zum Verhältnis von Massenmedien und World Wide Web zu Protokoll: »Für die Massenmedien [.] werden die aktuellen technischen Innovationen wie das Internet oder individuell wählbare Informationen wenig Bedeutung haben. Sie werden sich neben Massenmedien wie Tageszeitungen oder auch das Fernsehen setzen, sie jedoch nicht verdrängen. Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium.« (Laurin 2008)
Augenscheinlich hat ›das Internet‹ an sich in seinen Publikationen ohnehin einen geringen Stellenwert, was mit als ein Grund dafür gewertet werden kann, warum Luhmann bislang nur selten als Kommentator zum Einfluss des Web herangezogen wurde. Seine wissenschaftlichen Nachkommen haben gleichwohl noch zu seinen Lebzeiten versucht, diese Lücke zu schließen und z.B. »das World Wide Web auf dem Weg zum Massenmedium« (Bornmann 1997) zu beschreiben. Und aus heutiger Sicht lässt sich auf ähnliche Art durchaus hinterfragen, ob sich Luhmanns Einschätzung der »Realität der Massenmedien« angesichts der steigenden Medienkonvergenz und der neuerlichen Partizipationsmöglichkeiten im Web nicht tatsächlich überholt hat. Letztlich erscheint diese Frage allerdings verfehlt, denn Luhmann setzt sein analytisches Seziermesser schlicht auf allgemeinerer Ebene an: Er will erklären, wie die für uns so selbstverständliche soziale Ordnung, also Kommunikation in solch ausdifferenzierten Zusammenhängen wie in unserer Gesellschaft, angesichts der Kontingenz aller Realitätssichten und Selektionen in psychischen wie kommunikativen Systemen überhaupt möglich ist. Vor diesem Hintergrund bestehen ›die Massenmedien‹ für Luhmann auch nicht in ihren technischen Ausformungen, sondern als Sinnsystem, das seine Umwelt nach spezifischen Kriterien beobachtet und diese Beobachtungen nach einer ganz eigenen Logik codiert. Ganz gleich, ob die Produkte massenmedialer Programmbereiche nun über ein Fernsehgerät, über Zeitungen und Zeitschriften oder im Online-Nexus rezipiert werden, das soziale System der Massenmedien erfüllt in der Gesellschaft eine spezifische Funktion. Solange sich im Web lediglich vorhandene Kommunikationsweisen in anderer, effizienterer Form widerspiegeln, stellen sich dem Systemtheoretiker in diesem Zusammenhang also kaum Beobachtungsprobleme. Kniffliger wird es jedoch, wenn Vermutungen validiert werden sollen, die in der Blogosphäre, im Graswurzeljournalismus oder in Social83
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News-Portalen die Chance zu funktionalen Äquivalenten gegenüber den Massenmedien sehen. Luhmann schließt in seinem Konzept der ›dynamischen Stabilität‹ von sozialen Systemen einen solchen Wandel ›von unten‹ zwar nicht aus, aber er ist eher daran interessiert, wie psychische Systeme in soziale Zusammenhänge eingebettet werden. Sein Schwerpunkt besteht also in der Frage, wie soziale Ordnung überhaupt möglich wird, und nicht in der Frage, wie sich gradueller Wandel vollzieht. Um derartige ›bottom-up‹-Transformationsprozesse systemtheoretisch unmittelbarer beobachten und damit das Veränderungspotential der partizipativen Möglichkeiten im Web direkter taxieren zu können, wurde in den vorangegangenen Kapiteln eine veränderte Lesart des SystemUmwelt-Paradigmas skizziert und mit prozess- bzw. netzwerksoziologischen Überlegungen in Bezug gebracht. In diesem Modell unterscheiden wir zwischen zwei Umwelttypen eines sozialen Systems, verstanden als ein Sinnsystem, das durch kristallisierte Kommunikationslogiken und Beobachtungsweisen die Komplexität der Kommunikation in einem spezifischen Bereich reduziert: Der internen Umwelt eines sozialen Systems werden alle Systeme zugeordnet, auf die es konstitutiv angewiesen ist. Das sind unmittelbar alle psychischen Systeme, die als Adressaten und Adressanten die Referenzen des sozialen Systems in der Kommunikation reproduzieren, sowie mittelbar alle kommunikativen Subsysteme, die sich auf seine Kommunikationslogik beziehen. Der externen Umwelt werden hingegen alle kommunikativen, allopoietischen und organischen Systeme zugeordnet, zu denen das soziale System zwar strukturelle Koppelungen aufweisen kann, die aber ihre kommunikativen Selektionen, also ihre Informationsauswahl, ihr Mitteilungsverhalten und ihr Verstehen nicht an dem jeweiligen Sinnsystem ausrichten. Durch diese Zugriffsweise bleibt die analytische Trennschärfe Luhmanns erhalten, gleichzeitig aber wird der Einfluss der Akteure deutlicher beleuchtet: Das psychische System wird als Kreuzungspunkt sozialer Fäden verstanden und erscheint sowohl als Produkt, Reproduktionsund Veränderungsgröße sozialer Strukturen. Schon die Reproduktion der Referenzen eines sozialen Systems ist durch Varianzen und Oszillationen gekennzeichnet, da diese von den psychischen Systemen in Abhängigkeit zu ihrer eigenen kognitiven Entwicklung situativ interpretiert werden. Alleine darin wird ein Potential für graduelle Transformationen ›von unten‹ sichtbar. Darüber hinaus entstehen in psychischen Systemen durch die kontinuierliche Überblendung von kommunikativen und kognitiven Inputs mitunter innovative Sinnstrukturen, die in die persönliche Kommunikation, aber auch in soziale Netzwerke eingebracht werden können und sich gegebenenfalls auf Meso-Ebene weiterverbreiten und entwickeln, bis sie sich derart verdichtet haben, dass sie Adaptionen 84
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auf der Ebene sozialer Systeme provozieren können. In der Betrachtung dieser Prozesse in der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung lassen sich drei Beobachtungsfelder unterscheiden: • Stabilisation. Einerseits internalisiert ein Akteur in seiner Sozialisation die prinzipiellen Kommunikationsmodi und Beobachtungsweisen funktionaler Zusammenhänge, um als Adressat und Adressant in der internen Umwelt sozialer Systeme auftreten zu können. Dadurch profitiert er von einer drastischen Komplexitätsreduktion in Kommunikation und Beobachtung, reproduziert aber auch beständig die Referenzen des jeweiligen Sinnsystems. Andererseits stabilisieren sich durch virale oder technische Verbreitung kurzfristigere kommunikative Objekte, welche in der Kommunikation eine allgemeine Bezugsgrundlage schaffen, die Erwartungssicherheit generiert. • Innovation. Die Sozialisation in einem Kulturkreis erleichtert auf der einen Seite die Entstehung von Netzwerken mit alternativen Sichtweisen, da neben gesellschaftlichen Normen, Werten und Konzepten auch die dazugehörigen Unzufriedenheiten transportiert werden. Auf der anderen Seite erschweren diese ›Defaultwerte‹ aber auch die Integration von alternativen Inhalten in den langfristigen Fundus wirzentrierter Realitätssichten, da Innovationen aus Sicht einer hinreichenden Zahl an Akteuren eine höhere Orientierungskraft besitzen müssen als die etablierten Symbolkonzepte. Daher wird vermutet, dass innovative Inhalte primär genau dann in Netzwerken auf MesoEbene diffundieren, wenn diese ›Defaultwerte‹ brüchig werden. In der gesamtgesellschaftlichen Gegenwartsbeschreibung müssen neue kommunikative Objekte hingegen lediglich als bemerkenswerter Unterschied verstanden werden, um Verbreitung zu finden. • Emergenz. Je übergreifender eine innovative Sinnkonstruktion Anschluss findet, desto eher wird diese Teil der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung. In diesem Allgemeinwerdungsprozess emanzipieren sich innovative Inhalte von ihren ursprünglichen Adressanten und werden Teil des kumulativ-kulturellen »ratchet effects«. Diese Allgemeinwerdung kann sich bei kommunikativen Objekten zeitnah vollziehen, im Falle grundsätzlicher Orientierungsraster dauert sie jedoch oft über Generationen an. Alternative Inhalte, verstanden als innovative Sinnkonstrukte, die bislang keiner intensiven kommunikativen Verbreitung unterliegen, erfahren eine Integration in die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion also primär durch ihre Diffusion auf Meso-Ebene: Innovationen werden in sozialen Gebilden auf Meso-Ebene entwickelt und verbreiten sich (auch und gerade) über die Akteure, die in verschiedene kommunikative 85
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Systeme bzw. Netzwerke involviert sind, bis sie gegebenenfalls Anschluss an die Sinnaktualisierungen hinreichend vieler Akteure finden, um Anpassungen auf der Ebene sozialer Systeme zu provozieren. Wenn es in diesen Diffusionsprozessen nicht die diskutierten Einschränkungen gäbe, spräche kaum etwas dagegen, dass die demokratischen Utopien der Online-Evangelisten alsbald wahr würden: Innovative Realitätsbeschreibungen könnten sich, durch die effizienteren Kommunikationsweisen beflügelt, kurzfristig in digitalen Netzwerken verbreiten und der neue verteilte und dezentrale Modus der Berichterstattung könnte sich rasant bevölkerungsweit etablieren, bis die Massenmedien durch die »Weisheit der Vielen« (Surowiecki 2004) substituiert würden. Aber diese Einschränkungen liegen vor: Sie bestehen für psychische und soziale Systeme in der Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion sowohl in der Kommunikation als auch in der Beobachtung. Sie bestehen in der Notwendigkeit sozialisierter gesellschaftsübergreifender Einordnungskonzepte wie auch in der Notwendigkeit allgemeiner Bezugsgrundlagen in der Kommunikation zwischen selbstreferenziellen Bewusstseins- und Kommunikationssystemen (vgl. Schütz 1972: 111). Welche Position die Massenmedien in diesem Prozess der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung einnehmen und wie diese Konfiguration entstanden ist, soll der nächste Teil dieses Bandes aus Sicht des vorgestellten analytischen Ansatzes klären. Bevor wir uns allerdings mit einer retrospektiv begründeten Funktionsbestimmung der Massenmedien beschäftigen, müssen wir zunächst klären, was wir unter ›Massenmedien‹ im Kontrast zu anderen Medien verstehen wollen, denn die Liste der Autoren und Disziplinen, die sich mit ihrem gesellschaftlichen Einfluss beschäftigen, ist lang und ebenso variantenreich bzw. schillernd sind die entsprechenden Definitionen.
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T E I L II MEDIENEVOLUTION
UND
GESELLSCHAFTLICHE
WIRKLICHKEITSBESCHREIBUNG
AUSDIFFERENZIERUNG
DES
MEDIENBEGRIFFS
Nach der Vorstellung einer ›erweiterten‹ systemtheoretischen Sicht auf die soziale Realitätskonstruktion, die graduelle Veränderungsprozesse ›von unten‹ im Blick behalten will, soll nun anhand einer bündigen historischen Retrospektive die derzeitige Zentralstellung der Massenmedien in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung begründet werden: Gerade aus prozesssoziologischer Sicht wird deutlich, in welchem Maße unsere gesellschaftsweit institutionalisierten Wirklichkeitsbilder und Kommunikationslogiken Resultate langfristiger ungeplanter Entwicklungsprozesse sind. Um einschätzen zu können, ob sich die soziale Realitätskonstruktion durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten im Web verändert und inwieweit die Massenmedien ihre Dominanz in der übergreifenden Gegenwartsbeschreibung dadurch verlieren, müssen wir folglich zunächst aus der Sicht unseres Ansatzes nachvollziehen, wie die Massenmedien ihre vielkritisierte Position erlangen konnten und welche Funktion sie für die Gesellschaft erfüllen. Übergreifende Beschreibungen zur Medienevolution liegen jedoch kaum vor oder sind durch subjektive Parteilichkeiten geprägt (z.B.: Prokop 1995, Hörisch 2001), was auch der Verwendung unterschiedlicher Medienbegriffe geschuldet ist. Wie Hoffmann (2002) anmerkt, sind diese begrifflichen Unschärfen auch auf die sich rasant verändernden technischen Strukturen zurückzuführen: So funktionierte die Abgrenzungsmatrix nach primären, sekundären und tertiären Medien (Pross 1970: 129) lange hinreichend, die Online-Medien lassen sich jedoch aufgrund ihrer konvergierenden Charakteristik kaum mehr in dieses Schema einordnen. Wenn wir uns also mit dem Web als ›Medium‹ befassen wollen, müssen wir zunächst klären, was wir unter diesem Terminus verstehen,
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
denn schon ein kurzer Überblick zeigt, dass die Medienwissenschaft von den unterschiedlichsten Begriffsdefinitionen geprägt ist: • Nach McLuhan (1964: 22) sind Medien Werkzeuge, die das menschliche Handeln und Wahrnehmen erweitern: Während mechanische Techniken die körperlichen Kräfte des Menschen nach außen verlagern, externalisieren die elektronischen Medien das zentrale Nervensystem bzw. die Sinnesorgane. Dieses Verständnis führt dazu, dass neben Kommunikationstechniken letztlich auch jedes Werkzeug unter den Begriff des Mediums fällt. • Anwendung findet auch der systemtheoretische Medienbegriff: Seel (1998: 246) vergleicht Medien mit »Lego«-Kästen, deren Bausteine nur lose verbunden sind, sich aber zu beliebigen Formen verbinden lassen. Sprache etwa kann als Medium nur sichtbar werden, wenn ihre Elemente (Worte) zu festen Kopplungen (Sätzen) ausformuliert werden. Anders als bei McLuhan trägt jedes Medium selbst keine Botschaft, sondern bietet spezifische Möglichkeiten, Informationen sichtbar werden zu lassen. • Die Phänomenologie definiert Medien hingegen ausschließlich über ihre Präsenz beim Mediennutzer: Ein Medium wird mit einer Glasscheibe verglichen, durch die man nur hinausschauen kann, solange man sie selbst nicht beachtet (Groys 2000). Merleau-Ponty (1993: 33) beschreibt dies anhand der Sprache wie folgt: »Wenn jemand [...] es verstanden hat, sich auszudrücken, dann geraten die Zeichen sogleich in Vergessenheit, und es bleibt allein der Sinn.« Die Konsequenz dieser Haltung ist, dass alle während der Vermittlung transparenten Instanzen als Medien definiert werden. Ein Blick in Hoffmanns Geschichte des Medienbegriffs (2002) macht deutlich, dass solche weiten Definitionen ohnehin lange Zeit die Regel waren: Platon definierte das Auge selbst als Medium, Augustinus umschrieb die Landschaft als Medium zwischen Mensch und Gott, Paracelsus bezog den Begriff auf metaphysische Zusammenhänge, bei Locke erschien das Medium erstmals als neutrale Instanz zwischen Bezeichnetem, Vermittelnden und Verstehenden, und erst im 19. Jahrhundert wurde der Ausdruck auf technische Kommunikationsmittel übertragen. Angesichts dieser wechselvollen Ideengeschichte verzichtet Elias in seiner Symboltheorie explizit auf exakte Begriffsdefinitionen. In unserem Kontext sollten wir allerdings sehr genau wissen, wie wir ein ›Medium‹ definieren, denn um taxieren zu können, welche Aspekte des Internets die übergreifende Realitätskonstruktion beeinflussen, müssen wir eine sinnvolle begriffliche Binnendifferenzierung finden. Auch Luhmann bietet hier keine Kategorisierungslösungen: Medien allgemein be90
AUSDIFFERENZIERUNG DES MEDIENBEGRIFFS
schreiben alle Möglichkeiten, Inhalte sichtbar zu machen; ›Kommunikationsmedien‹ erleichtern Kommunikation in Funktionssystemen; ›Verbreitungsmedien‹ steigern die Reichweite und ›Massenmedien‹ zeichnen sich durch nicht vorhandene Interaktionsmöglichkeiten aus. Gewiss könnten wir das Web als ›Medium‹ bzw. ›Verbreitungsmedium‹ einstufen, doch dann würde eine sinnvolle Abgrenzung unmöglich. Daher erscheint es sinnvoll, eine angepasste Klassifikationsmatrix zu entwickeln, wobei es als kontraproduktiv erachtet wird, den Medienbegriff zu sehr auszuweiten. Stattdessen werden Medien hier im Allgemeinen als Vermittlungsträger von Informationen verstanden, um auf dieser Grundlage sämtliche vermittelnde Instanzen zwischen wirzentrierten und individuellen Realitätssichten zu unterscheiden (Abb. 9): • Als symbolische Strukturen werden alle Zeichen und Lautmuster verstanden, die Sinn transportieren. Sie sind technischen Strukturen übergeordnet, da sie als ihre Voraussetzung aufgefasst werden. • Soziale Institutionen (z.B. Normen, Sitten, Bräuche) werden als kristallisierte symbolische Orientierungsraster aufgefasst, die im Alltag als quasi-objektive Strukturen erscheinen. • Technische/materielle Strukturen spezifizieren durch die Erleichterung von Möglichkeiten die Lebensbedingungen jedes Einzelnen. • Technische Kommunikationsmittel bezeichnen alle durch technische Strukturen bereitgestellten Vermittlungsträger von Information, die konstant aktualisierte Inhalte zur Rezeption bereitstellen können. Abbildung 9: Ausdifferenzierungsraster der Medien
Quelle: Eigene Überlegungen Technische Kommunikationsmittel werden heute am ehesten mit dem Begriff der Medien verbunden. Hier unterscheiden wir vier Subkategorien: Bidirektionale Medien zur Individualkommunikation (z.B. Brief, Telefon, E-Mail); Speichermedien bzw. Datenspeicher, die mit oder ohne Hilfsmittel benutzt werden (z.B. Papier, Photos, DVD); Massenmedi91
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
en, die durch eine inhaltliche Übertragungsleistung eine große Zahl an Adressaten erreichen, wodurch Interaktionen zwischen Sender und Empfänger in der Regel unmöglich werden (Maletzke 1963); und schließlich Verbreitungsmedien, die der Ausweitung von Kommunikation dienen, aber keine große Rezipientenzahl erreichen (z.B. Handzettel). Naturgemäß können zwischen all diesen Medientypen Erfassungsunschärfen bestehen. Insbesondere die Frage, wann individualkommunikative oder speichermediale Inhalte zu massenmedialen Inhalten avancieren, ist hinsichtlich der veränderten Kommunikationsformen im Web interessant. Die vorliegende Unterscheidungs-Matrix macht zudem erneut deutlich, dass technische Strukturen (Hardware) wie z.B. das »Apple iPad« per se lediglich die Möglichkeiten für neue technische Kommunikationsmittel bieten, diese aber erst einmal mittels SoftwareAngeboten (z.B. »Skype«) oder inhaltlichen Plattformen (z.B. »Wikipedia«) erschlossen werden müssen, bevor sie Einfluss auf die Codierungs- und Beobachtungsweisen der Akteure ausüben oder die Genese innovativer sozialer Netzwerke auf Meso-Ebene erleichtern können. Bevor wir uns allerdings mit der Binnendifferenzierung der medialen Formen im World Wide Web beschäftigen, wollen wir zunächst klären, unter welchen Vorbedingungen die Massenmedien ihre Zentralstellung in der sozialen Realitätskonstruktion überhaupt einnehmen konnten, denn in einer isolierten Momentbeobachtung der gegenwärtigen Wandlungsprozesse bestünde die Gefahr, in den neuen partizipativen Möglichkeiten im Online-Nexus allzu rasch einen Königsweg aus dieser vielkritisierten Dominanz zu sehen.
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VORBEDINGUNGEN FÜR DIE ZENTRALSTELLUNG DER MASSENMEDIEN
Schon kurz nach der anfänglichen Faszination um den Online-Nexus waren Bemühungen zu verzeichnen, das Web als Neuauflage etablierter Kommunikationsstrukturen darzustellen: Standage (1999) beschrieb das Telegraphennetz als das »viktorianische Internet« und Historiker entdeckten plötzlich reihenweise »paper-based Hypertexts« (Hellige 2000). Tabelle 3: Gängige Phasenmodelle der Mediengeschichte McQuail Frühkulturen, Antike (-700)
McLuhan Orale Stammeskultur und literale Manuskriptkultur
Merten
Faulstich
Menschmedien: Archaische Mündliche Stämme und Kommunikation Hochkulturen: Interaktive und non-interaktive Kommunikation Druck-Medien:
Mittelalter (800-1500)
Vorbereitende Phase
Frühe Neuzeit (1500-1780)
Anfänge des Buchdrucks
Revolution, Industrialisierung (1780-1914)
Ausdehnung der Öffentlichkeit: Presse
GutenbergGalaxis: Buch Zunächst Individual-, später (Medium), Auge Industriegesell- Massenkommu(Sinnesorgan) schaft: Masnikation senkom.
Zeitalter der Massenkommunikation: Globalisierung, elektronische Kommunikation
Elektronisches Zeitalter: Elektrizität ist dominantes Medium, alle Sinne aktiviert
20. Jahrhundert
21. Jahrhundert
Informations-, Wissensgesell- Elektronische schaft: organi- Medien sierte interaktive SubstitutionsKommunikation medien
Quellen: McQuail 1976, Faulstich 1996, Merten 1994, McLuhan 1994 93
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass solche Darstellungen von dem überreaktiven Bestreben geprägt sind, die Mediengeschichte aus Sicht der neuen Leit- und Modetechnik sehen zu wollen, nichtsdestotrotz macht es Sinn, die Online-Medien in einen historischen Kontext einzuordnen, um abzuschätzen zu können, welche Aspekte tatsächlich eine Erweiterung des Kommunikationsraums darstellen. Daher wird in den folgenden Kapiteln ein Überblick zur Institutionalisierungsgeschichte der Massenmedien gegeben, um daraus eine Funktionsbestimmung massenmedialer Selektions- und Verbreitungsleistungen in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung abzuleiten.
Prämissen für den Medienumbruch in der Frühen Neuzeit Ähnlich wie im Falle Luthers bleibt uns hinsichtlich Johannes Gensfleisch zu Gutenberg entweder die Möglichkeit, seine Person als bloßes Membran soziokultureller Entwicklungen zu fassen, oder ihn wie üblich als den Initiator des neuzeitlichen Medienumbruchs zu beschreiben. Aus Sicht unseres Modells können wir aber auch ein Mittelweg beschreiten: Angesichts der marginal vorhandenen Quellen lässt sich zwar kaum belegen, ob Gutenberg tatsächlich der Erfinder des Letterndruckes in Europa war (Giesecke 2006: 69), wir können aber durchaus davon ausgehen, dass er ein anschlussfähiges Gesamtsystem erschaffen hat und in der Lage war, die entsprechenden ökonomischen Vorteile überzeugend zu kommunizieren. Gelder (1972: 91) vermutet denn auch, dass Gutenbergs Investor Fust wesentlich zur Durchschlagkraft der neuen Technik beitrug. In unserem Modell eines psychischen Systems als ›Kreuzungspunkt sozialer Fäden‹ können wir also annehmen, dass Gutenberg Inputs aus verschiedenen Sphären ebenso rekombiniert hat, wie Fust Gutenbergs Innovationen mit seinem ökonomischem Wissen überblendet hat. Technische Prämissen. Gutenberg entwickelte drei druckvereinfachende Verbesserungen (Hadorn/Cortesi 1985: 145): Durch ein Handgießinstrument ließen sich wiederverwendbare Metalllettern herstellen, durch den Einsatz der Spindelpresse war es möglich, Papier beidseitig zu bedrucken, und eine dickflüssigere Druckfarbe blieb besser am Papier haften. Die Voraussetzungen für diese Neuerungen waren schon lange zuvor gegeben: Schon im 8. Jahrhundert nach Christus wurde in China der Holztafeldruck genutzt, ab dem 13. Jahrhundert lässt sich der Druck mit beweglichen Holz-Lettern nachweisen und auch in Europa wurde ab dem 14. Jahrhundert mit Holzschnitten auf Papier gedruckt (Bloom 2001). Die Spindelpresse wurde schon durch Archimedes ent94
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wickelt und erlebte ab dem 14. Jahrhundert in der Papier- und Weinherstellung eine Renaissance. Nach inzwischen angezweifelten Quellen hat Gutenberg die Rezeptur seiner Druckerfarbe zudem von einem niederländischen Druckmeister übernommen (Stöckl/Kuenzer 1988). Kommunikationstechnische Prämissen. Auch wenn Gutenberg den massenkompatiblen Buchdruck nicht alleine erfunden hat, stellt sich die Frage, warum gerade seinerzeit diese bahnbrechende Überblendung von bereits bekannten Konzepten erfolgte. Faulstich (1996: 271) macht diesbezüglich geltend, dass Schriftmedien schon lange zuvor an Einfluss gewonnen hatten: Bereits im 12. Jahrhundert begann die Kirche mit dem Aufbau von Universitäten und stellte Bücher, die zuvor in Klosterbibliotheken lagerten, einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung. Diese Desakralisierung des Wissens führte in Verbindung mit der scholastischen Überzeugung, durch heidnische Philosophie die Existenz Gottes beweisen zu können (Bazàn 1985: 26), zu der Genese eines Schriftenmarktes, dessen Nachfrage bald kaum mehr beizukommen war. Geprägt von den Resultaten der Skriptoren, deren schöne Handschriften und Illustrationen das Besondere des Buches unterstreichen sollten, verlangten die gebildeten Bürger nach kunstvollen Büchern, weshalb Gieseckes These plausibel erscheint, dass es Gutenberg nicht um preiswerte Vervielfältigung, sondern um eine »Schönschreibmaschine ohne Schreibrohr, Griffel und Feder« (2006: 134) ging (Abb. 10). Abbildung 10: Beispiel eines Wiegendrucks
Quelle: Gutenbergdigital 2010. Biblia, lateinisch. Gedruckt durch Johannes Gutenberg, Johannes Fust und Peter Schoeffer in Mainz um 1454, Signatur: 2 Bibl. I, 5955 Inc. Rara Cim Kommunikative Inputs. Die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts stand in Europa im Zeichen der zweiten Pestwelle um 1400. Von einem demographischen Wachstum, das die Entwicklung neuer Kommunikationsmittel erfordert hätte, kann also nicht die Rede sein, zumal ohnehin nur 95
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
wenige Bevölkerungsteile Lesefähigkeiten besaßen. Eine einflussreichere Veränderung dürfte die sukzessive Ausdifferenzierung der Wirtschaft als übergreifendes Funktionssystem gewesen sein, das sich stetig weiträumiger organisierte und politischer Kontrolle entzog (Hall 1986). Eine Technik zur zeitsparenden Text-Reproduktion war für Investoren natürlich interessant, zumal sich die Informationspolitik der Kirche sukzessive veränderte: Noch im 13. Jahrhundert rief Berthold von Regensburg »Ir laien kunet nit lesen als wir pfaffen« und dieser Satz war ebenso Feststellung wie Willensbekundung, denn die Einengung des Wissenszugriffs galt als göttlicher Plan, kraft dessen nicht nur das Monopol der Kirche in Glaubensfragen, sondern auch eine einheitliche Weltbeschreibung gewährleistet werden konnte, deren Aussagen an fixierten religiösen Propositionen verifiziert wurden (Giesecke 2006: 244). Diese Konfiguration wurde nicht erst durch den Druck aufgebrochen, sondern durch Gelehrte schon früh in Frage gestellt: Über Anselm von Canterbury (1033-1109) zu Thomas von Aquin (1225-1274) gärte das Bestreben, philosophische Beweisgründe für theologische Aussagen zu finden. Um dies leisten zu können, musste den Gelehrten eine gewisse Unabhängigkeit gewährt werden. Die in einer Bulle des Papstes Honorius III. (11601227) erstmals belegbare »libertas scolarium« (Classen 1983: 263) führte ab dem Spätmittelalter zu der Ausdifferenzierung eines zweiten Funktionssystems neben der Wirtschaft, das sich nicht mehr vordringlich am Glauben ausrichtete und eine erhöhte Textproduktion verlangte. Wir können also festhalten, dass sich der Buchdruck im ausgehenden europäischen Mittelalter etablieren konnte, weil auf technischer Ebene schon viele Vorarbeiten geleistet worden waren, ein großer Markt für die Schriftenreproduktion gegeben und die religiöse Einheit der mittelalterlichen Welt bereits in ihrer Auflösung begriffen war.
Die soziale Institutionalisierung des Drucks Angesichts eines bereits vorhandenen Absatzmarktes verbreitete sich die neue Technik schnell. Die geringen Auflagen sprechen allerdings für ein recht exklusives Publikum der ›schwarzen Kunst‹, was als ein Grund dafür gewertet werden kann, warum sich die Druckerbranche schon Anfang des 16. Jahrhunderts in ihrer ersten Krise befand: Der eingegrenzte Absatzmarkt war übersättigt. Gedruckte Bücher erfüllten die Funktion handschriftlich kopierter Bücher zwar in überlegener Weise, die innovativen Möglichkeiten der neuen Technik waren aber noch nicht voll zutage getreten. Dem Druck fehlte ein Trägerereignis, welches er erst in der Reformation ab 1517 finden konnte. Ob Luther selbst diese Öffentlich96
VORBEDINGUNGEN FÜR DIE ZENTRALSTELLUNG DER MASSENMEDIEN
keit schaffen wollte, ist jedoch umstritten (Iserloh 1968): Die lateinische Sprache der (sic!) 95 Thesen sprechen eher dafür, dass Luther einen akademischen Diskurs anstoßen wollte. Da jedoch die Reformunfähigkeit des Klerus zu dieser Zeit auch Laien offenbar war, wurden die Thesen vermutlich gegen seinen Willen in die Volkssprache übersetzt. Durch den Druck stieg Luther dennoch in bis dato unbekanntem Tempo zu einem europaweit bekannten Diskutanten auf, wobei zu unterstreichen bleibt, dass Luthers Persönlichkeit maßgeblich zur Durchschlagkraft der Frühreformation beitrug (Goethe 1958). Der Druck wiederum korrespondierte in idealer Form mit den Vorstellungen der Reformation: »Nolo omnium doctior iactari, sed solam scripturam regnare, nec eam meo spiritu aut ullorum hominum interpretari, sed per seipsam et suo spiritu intelligi volo. [...] Scriptura per se est certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, uidicans et illuminans.« (Luther 1520)
Durch Luthers Akzentuierung des Schriftprinzips wechselte die Vermittlungsautorität zwischen Gott und Mensch von den Priestern auf das gedruckte Wort: Der Druck ermöglichte es erstmals, die heilige Schrift jedem Menschen direkt zugänglich zu machen. Von einem durch den Druck vermittelten »Priestertum aller Gläubigen« zu sprechen, kann angesichts der damaligen Alphabetisierungsrate allerdings als grob verfehlt gelten (Moeller 1983: 240). Obwohl sich im Falle des Buchdrucks der Übergang von einer ›early majority‹ zu einer Volldurchdringung der Bevölkerung aus heutiger Sicht langsam vollzog, waren dessen Auswirkungen tiefgreifend: Durch die typographische Vernetzung der Kommunikation wurde (1) einerseits die Verbreitung von einheitlichen Sprachund Symbolkonzepten erleichtert, (2) andererseits ließ die neue Kommunikationstechnik aber auch erstmals die Publikation von alternativen Realitätssichten auf ähnlicher Ebene mit etablierten Angeboten zu. Zu (1): Elias geht wie Tomasello davon aus, dass die Regelhaftigkeit von Sprachen in einem »planlosen langfristigen Prozess« entstanden ist (2001: 151). Dabei handelt es sich im deutschen Sprachraum um Entwicklungen, welche die Sprachstrukturen weiträumig vereinheitlicht und so den Austausch von Realitätsmustern erleichtert haben. Eine Gegenüberstellung der Perioden deutscher Sprachgeschichte (Stedje 1999) und der Mediengeschichte (McQuail 1976) führt die wechselseitigen Verknüpfungen beider Stränge vor Augen (Tab. 4): Während Alt- und Mittelhochdeutsch noch als Sammelbezeichnungen gelten können, führte Luthers Bibelübersetzung erstmals zu einer Sprachnormierung im deutschen Gebiet (Polenz 2000: 229), wozu auch das zentrale Thema der Religion beitrug. Giesecke (1979: 48-72) führt aber aus, dass politische wie 97
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
auch wirtschaftliche Vereinheitlichungen seit dem Spätmittelalter ohnehin eine Uniformierung der Sprache erforderten (z.B. Kanzleisprachen). Tabelle 4: Phasen der Sprach- und Mediengeschichte Sprachgeschichte (nach Stedje)
Randbedingungen (nach Stedje)
Germanische Dialekte
Völkerwanderung, Germanenreiche
600
Frühes Althochdeutsch
Christianisierung
750
Althochdeutsch
Karolingerreich/Sachsenkaiser
1150
Mittelhochdeutsch
Hochmittelalter
Spätmittelhoch-, Niederhochdeutsch
Höfische und städtische Blütezeit
Vorbereitende Phase
1500
Frühes Neuhochdeutsch
Verbreitung Lutherbibel (auch niederdeutsch)
Buchdruck: Öffentliche Kommunikation
1650
Neuhochdeutsch, Schriftsprache
Absolutismus, Aufklärung, Frühe Industrialisierung: Presse Industrialisierung
1900
Normierung: Orthographie, Lautung
Reichsgründung
2000
Gegenwartsdeutsch
EU, Globalisierung
Jahr
Mediengeschichte (nach McQuail)
Zeitalter der MassenKommunikation
Quellen: modifiziert McQuail 1976, Stedje 1999. Zu (2): Nachvollziehbarerweise stand die durch den Buchdruck ermöglichte Meinungspluralität auf ähnlicher Publikationsebene einer einheitlichen religiösen Weltsicht entgegen. Schon zeitgenössische Beobachter (z.B. Pasquier: 1965: 369) verglichen daher die Kraft der Drucktechnik mit der Kraft der Artillerie: Einmal die Diversität der Anschauungen vor Augen geführt, war es nicht mehr möglich, ein einheitliches Weltbild aufrechtzuerhalten. Wie schon erwähnt, kann der Druck aber nicht alleine für diese Wandlungsprozesse verantwortlich gezeichnet werden, sondern wirkte als kommunikationstechnischer Durchbruchsverstärker für Veränderungen, die schon zuvor initiiert worden waren.
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VORBEDINGUNGEN FÜR DIE ZENTRALSTELLUNG DER MASSENMEDIEN
Der Buchdruck erleichterte also die Verbreitung einheitlicher Realitätskonzepte erheblich, wirkte gleichzeitig aufbrechend gegenüber der mittelalterlichen Einheit der Welt und kann somit als ein erster Schritt zur Demokratisierung der sozialen Realitätskonstruktion eingestuft werden: Er übertrug die Selektionsmacht von einem klerikalen Zirkel auf das Spannungsfeld zwischen dem lesefähigen Teil der Bevölkerung und den erfolgreichen Autoren dieser Zeit. Luther selbst schien dieser neuen Freiheit jedoch eher kritisch gegenüberzustehen. Einerseits würdigte er die »typographia« als »summum et postremum donum«, andererseits beklagte er nachdrücklich, dass es angefangen habe »zu regnen mit Buechern und Meistern« (Flachmann 2001: 192), weshalb er sich für Begrenzungsmaßnahmen gegenüber schändlichen Texten einsetzte.
Ausdifferenzierungen im Überblick Nach der Betrachtung der Institutionalisierung des Buchdrucks als massenmediale Initiale erfolgt nun eine bündige Rekapitulation der Mediengeschichte bis ins 20. Jahrhundert (Abb. 11): Abbildung 11: Die beschleunigende Medienevolution ab 1450
Quelle: Schrape 1995: 160. Sowie eigene Überlegungen. Eine solche Parabeldarstellung kann kritisiert werden: Einerseits wird nicht zwischen den einzelnen Medientypen unterschieden und andererseits findet der Grad der Neuerungskraft keinen Niederschlag in der Darstellung. Zwei grundsätzliche Aussagen werden hingegen deutlich abgebildet: Das jugendliche Alter unserer medialen Umwelt und die Beschleunigung der Medienevolution seit dem 19. Jahrhundert. 99
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Tatsächlich wurde lange Zeit in gutenbergscher Manier gedruckt, bis Anfang des 19. Jahrhunderts gleich mehrere Erfindungen das Drucken vereinfachten (z.B. die Setzmaschine). Während sich auf technischer Ebene eher wenig bewegte, etablierte sich das gedruckte Wort aber immer merklicher als zentrale Instanz sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Schon im 17. und 18. Jahrhundert repräsentierten Zeitungen und Zeitschriften zunehmend die Realität, an der sich die Gesellschaft orientierte: »Dass etwas existierte, hieß, dass es in gedruckter Form existierte« (Mumford 1994: 136). Ein Grund für den Erfolg der Printmedien lag darin begründet, dass ihre Inhalte durch die staatliche Zensur kaum mehr erfasst werden konnten: Einerseits wurde die Wirkung der Presseprodukte von staatlicher Seite lange unterschätzt, andererseits zeigten sich die Verantwortlichen gegenüber der steigenden Schwemme an Druckerzeugnissen zunehmend machtlos. Zeitschrift und Zeitung waren neben Salons, Clubs und Lesegemeinschaften der Nährboden für eine neue, bürgerliche Öffentlichkeit, die »dem Staat als der genuine Bereich privater Autonomie« gegenüberstand (Habermas 1999: 67) und sich mit Nachdruck für die Pressefreiheit einsetzte (Postman 2001: 9-11). Mit den freieren Druckmedien und der Zunahme der Lesefähigkeit brach ein neues Zeitalter der sozialen Realitätskonstruktion an: Informationen über Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurden mehr und mehr Akteuren zugänglich (Postman 2001: 111). Die beschleunigte Ausdifferenzierung der medialen Infrastruktur seit dem Buchdruck zeichnete sich nach Ansicht vieler Autoren zudem mitverantwortlich für den Rationalisierungs- und Technisierungsprozess der Moderne (Hahn 1998): In der Aufklärung entstand eine bürgerliche Gesellschaft, die zunehmend durch rationale Lebensformen geprägt war. Im 19. Jahrhundert brachte die Industrialisierung eine Beschleunigung der technischen Entwicklungen mit sich und neue Transportmittel erhöhten die Mobilität der Menschen als auch die Effizienz der Funktionssphären. Diese wachsenden ökonomischen und politischen Einheiten waren vice versa auf eine stetige Verbesserung der Kommunikationssysteme angewiesen. Vor diesem Hintergrund waren die Jahrhunderte nach Gutenberg neben der Fortentwicklung der Massenmedien auch von einer Erweiterung der individualkommunikativen Möglichkeiten geprägt: Während die Nachrichtenübermittlung im Mittelalter durch kirchliche, staatliche und wirtschaftliche Institutionen organisiert wurde und ein privater Briefverkehr kaum gegeben war, wurden ab 1490 durch Franz von Taxis in Europa die ersten zentral organisierten Postverbindungen eingerichtet. Um 1520 wurden schon 166 Kilometer Postweg pro Tag und zudem solch hohe Beförderungsmengen bewältigt, dass auch der private Briefverkehr legalisiert wurde (Dallmeier 1977). Die Alleinstellung als Individual100
VORBEDINGUNGEN FÜR DIE ZENTRALSTELLUNG DER MASSENMEDIEN
kommunikationsmittel auf langen Distanzen verlor der Brief erst wieder mit der Erfindung der Telegraphie bzw. des Telefons ab 1840 bzw. 1875: Die simultane Übermittlung von Sprache ermöglichte eine bis dato unbekannte Flexibilisierung der Kommunikation (Zelger 1997). Der nächste Entwicklungsschritt bestand in der drahtlosen Sprachübertragung: Ab 1906 etablierte sich der Funk als militärisches Kommunikationsmittel, bevor er ab 1920 zum ersten Massenmedium avancierte, an das keine Bildungsvoraussetzungen (z.B. Lesefähigkeit) gekoppelt waren. Einerseits musste die im Krieg aufgebaute Radioindustrie neue Absatzmärkte finden, andererseits existierte nach dem »Verlust gewohnter Sicherheiten« nach dem Krieg ein hoher Bedarf an leichter Unterhaltung (Maase 1997: 115). Schon 1927 formulierte Brecht (1986: 132) angesichts der Popularität des Mediums eine frühe Radiokritik: »Nicht die Öffentlichkeit hat auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit. [...] Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.«
Brecht verlangte nichts weniger als die Umstrukturierung des Mediums: »Der Rundfunk hat eine Seite, wo er zwei haben müsste«, denn er fungiere als reiner Verteilungsapparat, wodurch sein Publikum in eine passive Rolle gedrängt werde. Deshalb schlug er vor, diesen »Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln« und bidirektionalen Informationsfluss zu ermöglichen. Verblüffend erscheint die brechtsche Beschreibung des Rundfunks als »Distributionsapparat« mit nur einer von zwei Seiten – eine Analyse, die der systemtheoretischen Umschreibung der Massenmedien durchaus nahe kommt. Es liegt auf der Hand, dass unsere Darstellung lückenhaft bleibt und zentrale Konsumgüter wie der Kinofilm, aber auch vielfältige Wechselwirkungen zwischen sozioökonomischen Entwicklungsprozessen und Mediengeschichte nicht berücksichtigt wurden. Dennoch lässt sich anhand dieser Übersicht resümieren, dass die Medienevolution bis 1930 primär durch zwei Entwicklungen geprägt war: Einerseits konnte durch eine inhaltliche Übertragungsleistung eine zunehmend höhere Zahl an Rezipienten erreicht werden, andererseits wurde mit der breiten Institutionalisierung des Postwesens erstmals individuelle Kommunikation über lange Distanzen für weite Bevölkerungsteile möglich. Der Adressant konnte per Brief oder Telefon allerdings nur einen oder wenige Adressaten erreichen. Wir können also von einer Steigerung des Datendurchsatzes im downstream sprechen, während der upstream angesichts der noch immer hohen Publikationshürden schmalbandig blieb. 101
DER
MASSENMEDIALE
NEXUS
Mit der Erfindung des Fernsehens (1935) waren schließlich alle Grundsteine der massenmedialen Konfiguration des 20. Jahrhunderts gelegt, die schon früh kritische Stimmen provozierte: Morlock (1961: 86) etwa beklagte die realitätsverzerrende Wirkung der Fernsehübertragungen und Müller (1957: 124) diagnostizierte eine einschläfernde Wirkung des neuen Mediums: »Aus dem Theater oder dem Kino kann man sich die Menschen zu Taten oder Untaten aufbrechend vorstellen. Vom Fernsehbildschirm führt der Weg ins Bett«. Adorno (1985: 480) kritisierte den Erfahrungsverlust der Medienrezipienten und Sennett (1991: 425) wie Habermas (1991: 225) unterstellten den Massenmedien, den Ausschluss von Themen aus dem öffentlichen Diskurs zu begünstigen. Diesen Sichtweisen unterläuft aus der Sicht des vorgestellten Modells allerdings ein Denkfehler: Da jedwede individuelle Wirklichkeitssicht, aber auch alle kommunikativ distribuierten Realitätskonstruktionen als beobachterrelativ eingestuft werden, stellt sich zunächst nicht die Frage, was wirklich ist und gegebenenfalls aus Berichten oder Darstellungen herausgekürzt wird, sondern wie eine gesellschaftsweit referenzierte ›Wirklichkeit‹ zustande kommen kann. Um Realitätsverzerrungen oder Nivellierungen diagnostizieren zu können, müssten wir freilich eine dieser individuellen Realitätssichten als Referenz kennzeichnen, und genau das erscheint aus systemtheoretischer Perspektive nicht möglich. Statt also zu fragen, durch welche Prozesse eine ›objektive‹ Wirklichkeit verzerrt wird, müssen wir eruieren, welche soziale Funktion die Massenmedien in einer funktional differenzierten Gesellschaft erfüllen, bevor wir abschätzen können, inwieweit diese Konfiguration durch die veränderten Publikations- und Selektionsmodi aufgebrochen wird.
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Funktion massenmedialer Selektionsinstanzen Das gemeinsame Problem psychischer wie sozialer Systeme besteht in der Transformation von unbestimmter in bestimmte Komplexität. Kein Mensch und kein Kommunikationsprozess kann über alle Veränderungen in seiner Umwelt informiert sein: Seine Wahrnehmung ist zwangsläufig selektiv. Dazu kommt, dass gerade durch die mediale Ausdifferenzierung die Zahl der möglichen Inputs, also die Notwendigkeit zur Selektion, drastisch angestiegen ist. Das religiöse System, das im Mittelalter eine einheitliche Orientierungsgrundlage bieten konnte, hat hingegen auch die massenmedial zutage getretene Diversität der Weltbilder stetig an Einfluss verloren. Die Gesellschaft kann jedoch ihre Einheit nur durch die Bewusstseinsprozesse der einzelnen Akteure erfahren, weshalb übergreifende Bezugsgrundlagen für komplexere Kommunikationszusammenhänge unabdingbar bleiben, da ansonsten stets die individuellen Realitätssichten aller Beteiligten in die Kommunikation eingebracht werden müssten. Daher sind soziale Funktionssysteme entstanden, die kontextgerichtete kommunikative Leitplanken anbieten und so Erwartungssicherheit schaffen bzw. die Komplexität in Kommunikation und Beobachtung reduzieren. Die gesellschaftsübergreifende Kommunikation an einem dieser funktionalen Sinnsysteme auszurichten macht jedoch wenig Sinn, schon weil dann die Vorteile funktionaler Differenzierung ad absurdum geführt würden. Gesellschaftsübergreifende Realitätskonstruktionen verfestigen sich auf langfristiger Ebene vielmehr durch die kontinuierliche situative Reproduktion und Interpretation der Akteure. Auf der Ebene kurzfristiger allgemeiner Bezugsgrundlagen sorgen hingegen übergreifend rezipierte Selektionsinstanzen für die Vermittlung zwischen den beobachterrelativen Wirklichkeitssichten der Akteure bzw. der Kommunikationsprozesse. Aufgrund ihrer Verbreitungsmacht kann diese Funktion zumindest für das 20. Jahrhundert den Massenmedien zugeschrieben werden: Sie stellen allen Sinnsystemen kurzfristig eine übergreifend bekannte Gegenwartsbeschreibung zur Verfügung, von der sie in ihren Operationen ausgehen können. Ihre Funktion liegt also »im Ersatz dessen, was in der alten Gesellschaft über (konkurrenzlose) Repräsentation geregelt war, also in der Absorption von Unsicherheit« (Luhmann 1997: 1103), wobei ihre Hauptleistung nicht in umfassender Vergegenwärtigung, sondern vor dem Horizont begrenzter Kapazitäten im pointierten Vergessen liegt. Aus unserer Sicht heißt dies: Die psychischen Systeme in der internen Umwelt der Massenmedien sondieren die Welt nach spezifischen Beobachtungsschemata und enkodieren diese Beobachtungen vor dem Ziel, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu erreichen. Die Massenme104
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dien operieren daher ausgerichtet an dem Code ›Information/Nichtinformation‹ (»Was macht gesellschaftsübergreifend einen Unterschied?«). Information wird dabei jedoch nicht als transportable Entität, sondern als Ereignis verstanden: »Information is a difference that makes a difference« (Bateson 1972: 174). Prinzipiell selektieren alle Sinnsysteme ihre Umwelt nach relevanten Informationen für ihre Spezialisierung, die Massenmedien besitzen allerdings angesichts ihrer Aufgabe, eine gesellschaftsübergreifende Gegenwartsbeschreibung zu generieren, keinen spezifischeren Code als ›Information/Nichtinformation‹. Gleichwohl können Informationen aber nicht aus dem Gesamthorizont aller möglichen Selektionen gebildet werden, sondern beziehen sich auf definierte Kontexte. Die drei verbreitesten massenmedialen Programmbereiche bestehen in Nachrichten, Unterhaltung und Werbung: • Nachrichten: Mehr als jedes andere Format legen Nachrichten tagtäglich fest, welche Entwicklungen Eingang in das soziale Gedächtnis finden. Da eine kompakte Bereitstellung im Vordergrund steht, herrschen harte Selektionskriterien: Einerseits müssen ›News‹ Neues berichten und gleichzeitig gegenüber den vorangegangenen Aktualisierungen anschlussfähig sein, andererseits müssen sie auch übergreifend relevant erscheinen, weshalb Quantitäten und Konflikten zumeist der Zuschlag gegeben wird. Ferner wird Information mit lokalem Bezug bevorzugt1. Die zweite Stufe der kommunikativen Triade realisieren die Nachrichten durch das Verpacken der Information in kommunikative Objekte (z.B. ›Hartz 4‹), die wir mit klaren Bedeutungen verknüpfen, obgleich sie auch anders verstanden werden könnten. Für die Nachrichten bleibt es dabei essentiell, aus Sicht möglichst vieler Akteure glaubwürdig zu erscheinen. • Unterhaltung: Auch fiktionale (z.B. »Tatort«) und inszenierte Unterhaltungsangebote (z.B. »FIFA World Cup«) konstruieren eine zweite Realität: Fiktionale Erzählungen können zwar von der als ›real‹ empfundenen Welt abgekoppelt werden, allerdings muss der Zuschauer noch immer in der Lage sein, sich in die jeweilige Erzählung hineinzuversetzen. Inszenierte Unterhaltung hingegen muss glaubhaft erscheinen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Einerseits wird so durch Unterhaltung vorhandenes Weltwissen reimprägniert, andererseits kann sich der Rezipient risikolos und sozusagen ›auf Probe‹ gegenüber den dargestellten Positionen verorten. • Werbung kämpft nicht nur um Aufmerksamkeit, sie will manipulieren. Weil sich aber allgemein hin niemand direkt beeinflussen lassen 1
Vgl. eine schottische Schlagzeile von 1912: »Aberdeen Man Lost at Sea«. Der Anlass war der Untergang der Titanic (Robertson 1992: 174). 105
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will, wirken viele derzeitige Werbeangebote als Beihilfe zur Selbsttäuschung: Techniken der Opakisierung oder Paradoxierung wie beispielsweise die Selbstnegation der Werbebotschaft (z.B. »Geiz ist geil!«) bringen den Adressaten dazu, sich mit dem anvisierten Terrain zu beschäftigen und von sich aus zu wollen, was er zuvor noch nicht wollte. Luhmann (1996: 89) unterstellt der Werbung darüber hinaus »Leute ohne Geschmack mit Geschmack zu versorgen«. Weniger rigide könnten wir formulieren, dass Werbung allgemeine Bezugsgrundlagen in Geschmacksfragen liefert. Die einzelnen Programmbereiche der Massenmedien schaffen folglich durch jeweils spezifische Selektionskriterien übergreifend bekannte Referenzpunkte in der Kommunikation. Dass die Massenmedien dabei als selbstreferenzielles Sinnsystem operieren, wird einerseits durch den kontinuierlichen Rückbezug von Sinnaktualisierungen auf die vorherige Berichterstattung deutlich. Andererseits werden direkte Abhängigkeiten zur externen Umwelt dem Anspruch ausgeschlossen (Pressekodex), auch wenn die ›de facto‹-Gegebenheiten vermutlich um diesen Referenzpunkt oszillieren. Die Sinngrenzen des Kommunikationszusammenhangs werden zudem jedes Mal offenbar, wenn eine Sinnkonstruktion in den massenmedialen Beobachtungskontext transferiert wird2. Input erhält das soziale System der Massenmedien trotz seiner operativen Geschlossenheit über die teilhabenden Akteure in seiner internen Umwelt, die als Adressanten bzw. Mitglieder interner Organisationen (z.B. Journalisten) entweder selbst Inhalte ausgerichtet an den Referenzen des Systems bereitstellen oder anschlussfähige Inhalte aus den Beobachtungsangeboten ihrer externen Umwelt selegieren (z.B. Pressemitteilungen, Blogosphäre). Die daraus resultierenden Sinnangebote können durch die einzelnen massenmedialen Programmbereiche genauso abgelehnt wie durch die Rezipienten als unplausibel eingestuft werden, weshalb sich Autoren schon zur Anfangszeit des Drucks nicht allzu weit von der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung entfernen durften, falls sie eine breite Öffentlichkeit erreichen wollten. Die Funktion der Massenmedien besteht also in der Bereitstellung einer allgemeinen Gegenwartsbeschreibung als Bezugsgrundlage für die übergreifende Kommunikation einer Gesellschaft: Journalisten und Medienschaffende beobachten die Welt ausgerichtet an dem Code ›Infor2
So musste etwa der Lehrer Heise im Zuge der Berichterstattung über das Massaker an einer Erfurter Schule 2002 erleben, wie seine Aussagen nach massenmedialen Gesichtspunkten zerpflückt wurden. Gerade weil seine Schilderungen nicht auf das massenmediale Vergrößerungsglas zugeschnitten waren, erschienen sie unglaubwürdig (Brinkemper 2002).
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mation/Nichtinformation‹ und kodieren diese Beobachtungen vor dem Ziel, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Eine Sonderstellung nimmt der Programmbereich der Nachrichten ein: Er trägt maßgeblich zur synchronen Verbreitung von Themenbeständen bei, während Werbung und Unterhaltung primär verbreitete Bezugsgrundlagen reimprägnieren. Wir können die Massenmedien also als ein kommunikatives Sinnsystem beschreiben, das hochselektiv Sinnangebote seiner externen Umwelt verstärkt bzw. verbreitet und so eine komplexitätsreduzierte Realitätsbeschreibung generiert, die auf gesellschaftsübergreifender Ebene Möglichkeiten der kommunikativen Kompatibilität eröffnet (Abb. 12). Abbildung 12: Massenmedien als selektive Verstärker
Quelle: Eigene Überlegungen
Massenmedien und kognitive Codes Neben ihrem Einfluss auf eine gesellschaftsweite Gegenwartsbeschreibung üben die Massenmedien auch eine langfristige Wirkung auf die kognitiven Verarbeitungsweisen der Akteure aus, die im weiteren Verlauf dieses Bandes nicht Gegenstand der Betrachtung sein kann, hier aber Erwähnung finden soll: Der Prozesssoziologe Smudits (1991: 113126) umschreibt den Prozess der Zivilisation als zunehmende »Verfeinerung gesellschaftlich als relevant erachteter Kodes« wobei in diesem Falle nicht kommunikative Enkodierungs- und Dekodierungsmodi gemeint sind, sondern grundsätzliche kognitive Wahrnehmungsmuster. Smudits geht davon aus, dass in der traditionellen Öffentlichkeit vordringlich körperliche Codes formalisiert wurden, da nur durch den Körper Öffentlichkeit hergestellt werden konnte. Die mit der Institutionalisierung des Drucks verbundene bürgerliche Öffentlichkeit war Smudits zufolge mit der Beherrschung sprachlicher und literaler Codes ver107
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bunden, wodurch sich sukzessive »der kontrollierte und kontrollierende Blick« herausbilden konnte. In der nachbürgerlichen Öffentlichkeit hingegen komme es darauf an, Aufmerksamkeit zu generieren und einzuteilen. Die Schwerpunktverlagerung von textlichen zu bildlich-klanglichen Codes lässt Smudits darüber hinaus eine graduelle Veränderung der Wahrnehmungsweise vermuten: Die »linear-hierarchischen Wahrnehmungsmuster werden aufgebrochen und es entstehen [...] neue Wahrnehmungsweisen, die ich als zerstreut-horizontal bezeichnen möchte«. Dass insbesondere die Massenmedien einen Einfluss auf die gesellschaftlichen und individuellen Wahrnehmungsweisen besitzen, soll an dieser Stelle anhand der Beobachtungsangebote der reichweitenstarken »Tagesschau« (ARD) vorgeführt werden: Elias (1987: 43) diagnostiziert für das 20. Jahrhundert eine zunehmende Verdichtung des »Netzwerkes zwischen den Staaten der Welt«, gleichzeitig geht er aber davon aus, dass der Einzelne diese Entwicklung nur in einem sehr begrenzten Maße wahrnimmt, was den Verdacht zulässt, dass die Massenmedien tatsächlich ein ›zerstreut-horizontales‹ Bild der globalen Entwicklungen transportieren. In einem Vergleich der Anteile der Weltregionen an der täglichen Berichterstattung in der »Tagesschau« (Meckel 1994: 296) tritt denn auch ein starkes Ungleichgewicht auf: Während 94% der Berichte auf Entwicklungen in Europa und Nordamerika eingingen, fanden die anderen Kontinente kaum Erwähnung (Südamerika, Afrika, Asien, Australien: jeweils unter 2%; Nahost: 3,1%). Der »Tagesschau Nachrichten-Weltatlas« (http://atlas.tagesschau.de) zeigt, dass sich daran auch 2010 nichts Wesentliches geändert hat. Im gewissen Sinne lässt sich folglich sehr wohl von einer Dekontextualisierung der westlichen Welt gegenüber der Restwelt sprechen. Darüber hinaus kommt Schmitz (1995, 1990: 226) in seinen sprachwissenschaftlichen Analysen zu dem Schluss, dass sich aus dem »enzyklopädischen Bestand der Tagesschau keine ganze, sondern nur eine desintegrierte Welt bauen« ließe: »Die Tagesschau verdeckt [...] den notwendigen Anteil an Auswahl und Deutung auf dem Wege von Realität zur Nachricht«. Diese fragmentarische Realitätsvermittlung liegt auch im Standardisierungsgrad der »Tagesschau«-Meldungen begründet: Einerseits wiederholen sich gleichartige Themen kontinuierlich, andererseits liegen fast immer ähnliche Zugangsweisen zum Gegenstand der Nachricht vor (Ort-, Zeit-, Quellenangabe, Vorgeschichte, Reaktion etc.). Begründet werden kann diese Normierung der Nachrichten mit dem Aktualitäts- und Objektivierungsdruck der »Tagesschau« sowie den eingeschränkten Zeitressourcen für jeden einzelnen Beitrag, d.h. die fragmentarische Realitätsproduktion resultiert aus unserer Sicht letztlich aus den selbst auferlegten Selektionskriterien der Sendung. Dabei können 108
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wir davon ausgehen, dass diese gerichtete Sicht der Nachrichtensendungen auf die Weltgeschehnisse die Wahrnehmungsweisen der psychischen Systeme durchaus beeinflussen, da deren Inhalte einen beträchtlichen Teil ihrer kommunikativen Inputs ausmachen, die sich mit Entwicklungen beschäftigen, die über die eigene Lebenswelt hinausgehen. Smudits Thesen finden weiterführend Bestätigung in kognitions- und medienpsychologischen Forschungen, die sich mit der kognitiven Verarbeitung von Bild-Text-Kombinationen beschäftigen (Ballstaedt 1990, Tischler 1994, Eichhorn 1996, Weidenmann 2001). Massenmedien vermitteln also durch ihre Beobachtungsweise eine hochselektive Sicht auf die Welt und beeinflussen auf diese Weise auch die Wahrnehmungskategorien ihrer Rezipienten, schon alleine, weil sie einen beträchtlichen Teil der kognitiven Inputs eines psychischen Systems ausmachen. Sie transportieren kognitive Codes oder Frames, die in der Interpretation von kommunikativen Situationen und Beobachtungen spezifische Leitplanken und Erwartungshaltungen setzen. Es erscheint in unserem Kontext naheliegend, dass auch das Web zum Wandel der individuellen und kommunikativen Wahrnehmungsweisen beiträgt, weil es wiederum veränderte Selektionsmöglichkeiten bietet. Der Wandel dieser kognitiven Kategorien und Codes vollzieht sich allerdings langfristig und oftmals unmerklich, weshalb es für eine Beobachtung dieser Prozesse schlicht noch zu früh ist.
Massenmedien und alternative Realitätssichten Nach unserer Definition bezeichnen etablierte Inhalte Sinnangebote, die in der allgemeinen Kommunikation als bekannt vorausgesetzt werden können, und alternative Inhalte Wirklichkeitsbeschreibungen, die aufgrund mangelnder Anschlussfähigkeit und Verbreitung bislang keinen Eingang in gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibungen finden konnten. Massenmediale Programmbereiche tragen dabei in erhöhtem Maße zur Fortschreibung etablierter Sinnstrukturen bei, da sie Anschluss an die Sinnaktualisierungen möglichst vieler Rezipienten suchen. Diese Kanalisierung der übergreifenden Sinnproduktion wurde vermehrt kritisiert und angesichts der neuen netzkommunikativen Möglichkeiten besteht nun die Hoffnung, diese Konfiguration aufbrechen zu können. Um jedoch die veränderten Integrationschancen alternativer Inhalte taxieren zu können, muss zunächst geklärt werden, wie innovative Sinnangebote bislang Eingang in den Fluss massenmedialer Realitätsproduktion finden konnten, und die pointierte Antwort auf diese Frage lautet: Sie müssen Aufmerksamkeit erlangen, und zwar entweder gegen109
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über den Journalisten in der internen Umwelt der Massenmedien oder indem sie auf Meso-Ebene so viele psychische Systeme binden, dass diese Kumulation wiederum das Interesse der Massenmedien hervorruft. Eine erste Integrationschance erhalten alternative Inhalte über Akteure, die ohnehin die Aufmerksamkeit der Massenmedien binden: So lieh etwa der Schauspieler DiCaprio dem Film »The 11th Hour« seine Stimme, um der amerikanischen Jugend ein Bewusstsein für die globale Erwärmung einzuimpfen, und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt fand sofortiges Gehör, als er anmerkte, dass die Deutschen nach wie vor »für den Krieg verführbar« seien (Spiegel 08/2008). Ohnehin vermitteln Politiker jeder Couleur durch ihre Persönlichkeit spezifische Standpunkte (kritisch Sennett 1991: 357). Der luhmannsche Einwand, dass in der Berichterstattung nur auf Personen zurückgegriffen werde, um nicht auf systemische Zusammenhänge verweisen zu müssen, muss in diesem Kontext ein Stück weit relativiert werden: Moderatoren, Popstars oder Autoren übernehmen zwar kristallisierte Rollen, aber sie erfüllen diese in Abhängigkeit von ihren individuellen Prägungen. Eine zweite Möglichkeit, innovative Sinnangebote zu verbreiten, besteht in der indirekten Herstellung von Aufmerksamkeit, wie sich am Beispiel von J.K. Rowling nachvollziehen lässt: Eine Sozialhilfeempfängerin aus England stellte 1995 ein Kinderbuch fertig und fand 1997 einen Verlag, der das Buch mit einer Auflage von 500 Exemplaren veröffentlichte – bislang die Geschichte vieler unbekannter Autoren. Konsequenterweise berichteten die Massenmedien kaum über die Schriftstellerin oder ihr Werk. Mitte 1997 jedoch titelte eine Zeitung »$100,000 Success Story for Penniless Mother«, denn ein amerikanischer Verlag hatte die Rechte an ihrem Werk ersteigert (Reynolds 1997). Erst durch diese Umweltveränderung erlangte Rowling die Aufmerksamkeit der breiten Bevölkerung und es konnte sich eine Berichterstattungslawine in Gang setzen, die bislang in über 400 Millionen verkauften Exemplaren der Buchserie gipfelte. Dass dieser Erfolg zunächst nicht Teil eines Marketing-Plans war, zeigt sich in der anfänglichen Zurückhaltung, die der »Carlson Verlag« mit einer deutschen Erstauflage von 8.000 Exemplaren übte. Damit »Harry Potter« als kommunikatives Objekt in die gesellschaftsübergreifende Realitätskonstruktion eingehen konnte, musste das Buch also zunächst auf eine indirekte Weise Aufmerksamkeit erregen, denn Rowling war keine bekannte Persönlichkeit und konnte daher noch nicht durch ihr Werk selbst Interesse wecken. Nun ist »Harry Potter« ein relativ langlebiges kommunikatives Objekt und wir können beobachten, dass die meisten Inputs kürzere massenmediale Themenkarrieren vollziehen: Eine Nachricht wie »Schill beim Koksen gefilmt!« (BILD 2008) bleibt beispielsweise zumeist in ei110
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ner Explikation der Überraschung verhaftet und für die meisten innovativen Sinnangebote steht zu vermuten, dass ihnen eine ähnlich oberflächliche Beobachtung zuteil wird. Eine solche Berichterstattung reicht aus, um ein Sinnangebot als kurzfristiges Objekt in den allgemeinen Aufmerksamkeitsbereich zu integrieren, um aber langfristigen Eingang in das soziale Gedächtnis zu finden, müssen Sinninnovationen zusätzlich glaubwürdig erscheinen und Anschluss an die Sinnaktualisierungen anderer Akteure finden. »Greenpeace« etwa katapultiert sich regelmäßig durch spektakuläre Aktionen und niederkomplexe Aussagen in den Bereich der öffentlichen Aufmerksamkeit zurück, was sich aber nicht immer mit dem Wahrhaftigkeitsanspruch des Umweltschutzes vereinbaren lässt. Mitbegründer Moore ist daher aus der Organisation ausgestiegen: »Greenpeace arbeitet mit emotionalen Bildern. Für viele Menschen sieht ein Tulpenfeld viel besser aus als ein frischer Kahlschlag [...]. Viele denken leider nicht so weit, dass der Wald wieder nachwächst [...]. Die biologische Vielfalt eines Tulpenfeldes tendiert jedoch gegen Null.« (Miersch 2000)
Das generelle Problem der Sinnaktualisierungen, die eine Integration in das langfristige Gedächtnis der Gesellschaft (primäre Realitätsbasis) anstreben, ist ihre Glaubwürdigkeit bei gleichzeitigem Verbreitungsanspruch: Damit sich innovative Inhalte übergreifend durchsetzen können, müssen sie Anschluss an die Sinnaktualisierungen möglichst vieler psychische Systeme erlangen und dabei plausibel erscheinen. Gleichzeitig müssen sie aber erst einmal die Aufmerksamkeit der Massenmedien erlangen, was zu einem Vabanquespiel führt, das selten gelingt. Realitätsangebote, die eine kurzfristigere Karriere in der übergreifenden Gegenwartsbeschreibung (sekundäre Realitätsbasis) anstreben, müssen hingegen lediglich als prägnanter Unterschied verstanden werden. Es erscheint also durchaus problematisch, innovative Sinnangebote langfristig in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung zu verankern, solange den Selektionskriterien der massenmedialen Programmbereiche entsprochen werden muss. Für bereits bekannte Persönlichkeiten bzw. Organisationen scheint diese Hürde ein geringeres Hindernis zu sein, aber selbst dann besteht das Problem der Aufrechterhaltung dieser Aufmerksamkeit, was nicht selten zu übertrieben plakativen Beobachtungsangeboten führt. Generell lässt sich aufgrund der Eigenkomplexität der einzelnen Rezipienten kaum prognostizieren, welche Sinnangebote übergreifend anschlussfähig sind, auch wenn genau das aus Orientierungsgründen oft angenommen wird: Wäre das der Fall, wäre Rowling beispielsweise stante pede unter Vertrag genommen worden.
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Ein Beispiel für eine medial vermittelte Transformation der gesellschaftsweiten Orientierungsraster stellt hingegen die soziale Institutionalisierung des Umweltschutzes in Deutschland dar: Obwohl die Folgen des Wohlstands für die Natur schon in den 1950er Jahren politisch diskutiert wurden, stellt Engels (2003) fest, dass das Thema erst nach 1970 eine übergreifende Akzeptanz erzielen konnte. Just um 1970 erreichte auch das Fernsehen nahezu alle Haushalte der BRD, weshalb er davon ausgeht, dass das neue Medium diesbezüglich eine zentrale Rolle einnahm. Den Grund dafür sieht er nicht in Berichterstattungen über ökologische Bewegungen, sondern in dem unpolitisch gekennzeichneten Genre der Tiersendungen: »Das Bild einer [..] fremden Natur wich der Vorstellung von der geschundenen Kreatur« (2003: 321). Die für die Sendungen verantwortlichen Teams setzten sich laut Engels ganz konkret für einen solchen Bewusstseinswandel ein und insbesondere Grzimek nutzte seine Popularität, um die Bevölkerung mit verbaler Brachialgewalt auf Umweltsünden hinzuweisen: In Bezug auf Legebatterien sprach er etwa von »KZ-Eiern«; später behauptete er, dass es in der BRD schon vier Millionen Todesopfer durch Umweltverschmutzung gebe. Engels belegt in einer Reihe von Detailstudien, dass auch Stern und Sielmann im Fernsehen Stimmung gegen einen unbedachten Umgang mit der Natur machten. Aus unserer Sicht erscheint es offenkundig, dass dieses Engagement nicht im Interesse der TV-Sender selbst lag, denn diese richteten sich ja an den noch unsensibilisierten Rezipienten aus, sondern aus einem persönlichen Anliegen der Filmschaffenden selbst resultierte. Das allgemeine Problem alternativer Inhalte im massenmedialen Nexus besteht also in der Bindung der Aufmerksamkeit der Medienschaffenden bzw. der Massenmedien selbst, für die es zunächst kontraproduktiv erscheinen muss, Sinnangebote auszuwählen, die sich fernab des etablierten Stroms sozialer Realitätskonstruktion befinden. Neben der langfristigen kommunikativen Verbreitung von Sinnangeboten auf Meso-Ebene sind drei mögliche Überwindungsstellen diskutiert worden: (1) Personen, Netzwerke oder Organisationen, die ohnehin massenmediale Aufmerksamkeit binden, (2) die Erregung indirekter Aufmerksamkeit und (3) eine ›en passant‹-Verbreitung durch die Medienschaffenden.
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Vorbedingungen für die »Medienrevolution 2.0« Nach der Erarbeitung eines systemtheoretischen Ansatzes, der den graduellen Wandel ›von unten‹ im Blick behalten will, wurde zunächst die Institutionalisierungsgeschichte der Massenmedien skizziert, da es für die Taxierung der Einflusskraft des Web unerlässlich bleibt, zunächst die Konfiguration vor dem Auftreten der neuen Technik zu reflektieren. Zu Beginn dieser Betrachtungen wurde zunächst eine Differenzierungsskizze der Medientypen entwickelt: Als symbolische Strukturen werden alle Zeichen verstanden, die Sinn transportieren, Technik strukturiert durch die Erleichterung spezifischer Möglichkeiten die Lebenswelt und technische Kommunikationsmittel zeichnen sich im Unterschied dazu durch die Bereitstellung von wechselnden Inhalten aus. All diesen Medien ist gemein, dass sie die Kommunikation erleichtern, indem sie gerichtete Bezugsgrundlagen anbieten. Wie wir festgestellt haben, sind solche gesellschaftsübergreifenden Bezugsgrundlagen angesichts der operativen Selbstreferenzialität psychischer und sozialer Systeme aus Kompatibilitätsgründen unabdingbar, weswegen die Massenmedien beileibe nicht die einzigen Orientierungsinstanzen sind. Weil aber das World Wide Web ihnen gegenüber häufig als Korrektiv eingestuft wird, haben wir uns in der Rückbetrachtung auf diese konzentriert. Dabei ist hervorgetreten, dass die Institutionalisierung des Buchdrucks als Konsequenz zuvor initiierter Entwicklungen eingestuft werden kann und als kommunikationstechnische Prothese sowohl die Verbreitung von einheitlichen Symbolkonzepten aber auch die Publikation von alternativen Inhalten auf ähnlicher Ebene mit etablierten Sichtweisen erleichtert hat. Gegenüber dem Mittelalter lässt sich der Buchdruck folglich als ein erster Schritt in Richtung Demokratisierung der gesellschaftlichen Realitätskonstruktion einstufen, denn auch schon die frühen Druckereien richteten sich an der Nachfrage der Rezipienten aus. Dieser Trend setzte sich mit der Ausdifferenzierung der Massenmedien fort: Ausreichend viele Akteure mussten die Inhalte für anschlussfähig halten, weshalb sich ein Autor nicht zu sehr von der Sicht seiner Zielgruppe entfernen durfte. Langfristig hat sich aus dieser Konfiguration das emergente soziale System der Massenmedien entwickelt, das seine Umwelt nach dem Code ›Information/Nichtinformation‹ beobachtet, um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen und so kurzfristig eine komplexitätsreduzierte gesellschaftsweite Realitätsbasis zu erzeugen. Die Massenmedien tragen dabei stark zur Fortschreibung etablierter Sinnstrukturen bei, da es hinsichtlich des größtmöglichen Anschlusses an die Sinnaktualisierungen der jeweiligen Zielgruppe kontraproduktiv erscheinen muss, alternative Sinnangebote zuverstärken, außer es ent113
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stehen ausgerichtet an ihnen prominente soziale Gebilde auf MesoEbene. Darüber hinaus wurden weitere Katalysatoren diskutiert: Medial bekannte Akteure können innovative Sichtweisen leichter vermitteln, Autoren können zunächst indirekt Aufmerksamkeit erregen und Medienschaffende können ihre Überzeugungen en passant im Rahmen der tolerierten Varianzen verbreiten. Generell erscheint es unkomplizierter, alternative Sinnangebote als kommunikative Objekte in die kurzfristige Gegenwartsbeschreibung einzubringen, weil sie dann lediglich als prägnante Unterschiede erscheinen müssen. Um sich jedoch als langfristiges Orientierungsraster in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion zu etablieren, muss das Angebot zusätzlich aus der Sicht vieler psychischer Systeme glaubwürdig und konservierungswert erscheinen. Abbildung 13: ›Up-‹ und ›Downstream‹ in der Realitätskonstruktion
Die Massenmedien wirken also als selektive Verstärker in der sozialen Realitätskonstruktion, in der sich jeder Einzelne ohnedies mit vielen komplexitätsreduktiven Prozessen konfrontiert sieht. Verglichen mit den mittelalterlichen Vermittlungsträgern erscheinen die Massenmedien sogar als flexibilisierende Stellen, da sich durch ihre Institutionalisierung der downstream in der übergreifenden Realitätskonstruktion stetig erweitert hat, während der upstream zwar schmalbandig blieb, aber doch breitere Publikationsmöglichkeiten eröffnen konnte (Abb. 13). Dieses Ungleichgewicht scheint sich nun aus Sicht von Online-Pionieren wie Holland (1997) aufzulösen: »Das Internet ist das erste Universalmedium der Menschheitsgeschichte. Den Herrschenden ist mit dem Ding Brechts Radiotheorie auf die Füße gefallen«. Seine Aussage, idealtypisch für so viele Visionen um das Web, charakterisiert das Internet als eine demokratisierende Kraft, die durch die aktive Selektion und Publikation ›von unten‹ die Dominanz der Massenmedien in der sozialen Realitätskonstruktion über kurz oder lang auflösen wird. Im dritten Teil dieses Bandes soll anhand empirischer Beobachtungen nachvollzogen werden, inwieweit diesen Hoffnungen bislang stattgegeben werden kann. 114
T E I L III EINFLÜSSE
DES
WORLD WIDE WEB
VORÜBERLEGUNGEN
Nach der Erarbeitung eines systemtheoretischen Ansatzes, der sowohl die operative Geschlossenheit aller Bewusstseins- und Kommunikationsprozesse, aber auch den graduellen Wandel auf Meso-Ebene im Blick behalten will, erschien es notwendig, die gegenwärtigen kommunikationstechnischen Wandlungsprozesse in einen historischen Kontext einzuordnen: Mit Blick auf die Frage, wie sich gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibungen angesichts der Selbstreferenzialität aller Systeme überhaupt verfestigen können, galt es zunächst zu klären, wie die Massenmedien ihre zentrale Stellung in der sozialen Realitätskonstruktion einnehmen konnten. Dabei wurde deutlich, dass die Massenmedien nach der Erosion einheitlicher religiöser Orientierungsfolien als letzte Filterstelle in der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung eine komplexitätsreduzierte Bezugsgrundlage generieren, die in der allgemeinen Kommunikation Kontingenzen reduzieren kann. Spätestens im Zeitalter des Web 2.0 sind freilich die erweiterten Publikations- und Selektionsmöglichkeiten im Netz jedermann bewusst geworden und es wird anhand von Vokabeln wie »Schwarmintelligenz« oder debattiert, ob die neuen Kommunikationsmöglichkeiten im Web zu einer Demokratisierung in der übergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung führen können (z.B. Surowiecki 2005, Horn/Gisi 2009). In dieser Diskussion werden allerlei Hoffnungen recycelt (z.B. Lee 1913), selten aber werden diese mit bevölkerungsweiten empirischen Beobachtungen in Bezug gesetzt. Genau das wollen wir nun aus Sicht unseres analytischen Ansatzes nachholen. Zunächst gilt es jedoch, urbare Hypothesen für die empirischen Betrachtungen zu erarbeiten und die Kommunikationsformen im Netz wirksam voneinander abzugrenzen.
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Die Problematik der aktuellen Visionen Der Bildschirmtext sollte »die größte Informationsrevolution seit der Erfindung des Buchdrucks« werden, das Kabelfernsehen sollte zur »Schaffung basisdemokratischer Strukturen beitragen« (Modick 1984: 9) und seit 2006 gilt das Web 2.0 als das »demokratische Netz« (vgl. Prolog). Augenscheinlich lässt sich eine gewisse Konstanz in den oft unerfüllten Erwartungen gegenüber neuen Kommunikationstechniken feststellen. Aus Sicht unseres Modells ergibt sich dafür folgende Erklärungsmöglichkeit: Soziale wie psychische Systeme können intern nur das verarbeiten, was sie zuvor auch wahrgenommen haben, also immer nur einen Teil ihrer Umwelt. Ihre Beobachtungskriterien können sich ändern, aber nur, falls sich Veränderungen in ihrer Umwelt derart kumulieren, dass Anpassungen notwendig werden. So blieb etwa die deutsche Bevölkerung gegenüber dem Web zunächst skeptisch und 1996 verfügten nur 4% der Haushalte über einen Online-Zugang. Da aber in den USA bereits 13% der Haushalte online gingen (Zerdick et al. 1999: 293) und eine mediale Vorreiterrolle Amerikas schon früher gegeben war, richteten Massenmedien und Funktionssphären ihre Beobachtungsmodi vorauseilend auf den antizipierten Online-Boom ein. Im Zuge solcher Anpassungen kann es aus nachvollziehbaren Gründen zu Überreaktionen kommen: Zunächst reagieren die Akteure in der internen Umwelt eines sozialen Systems auf Innovationen in seiner externen Umwelt, von denen sie z.B. in sozialen Netzwerken auf MesoEbene erfahren, und enkodieren ihre Eindrücke ausgerichtet an den jeweiligen Referenzen. In der Blütezeit der Prophetien um das ›Web 1.0‹ hatte sich das Internet aber noch nicht gesamtgesellschaftlich, sondern zunächst in einer Gemeinde der ›early adopters‹ etabliert, welche die Online-Medien abhängig von ihren Überzeugungen als strukturkonforme (›neue Märkte!‹) oder strukturverändernde Innovation (›mehr Demokratie!‹) bewerteten und ihre Eindrücke auf die Gesamtbevölkerung verlängerten, ohne zu berücksichtigen, dass ihre Evaluationen drastisch mit ihren eigenen Lebenssituationen verbunden sind. So erscheint es kaum überraschend, dass ein Brecht-Fan wie Holland das Internet als demokratisierenden Faktor in der Medienwelt herausgestellt hat, und es ist wenig erstaunlich, dass der digitale Freiheitskämpfer Warren eine neue »Cyberdemokratie« beschwor. Ebenfalls verständlich erscheint das Bestreben der Massenmedien, weitreichende Visionen zu verbreiten, denn es widerspräche ihrer Eigenlogik, von einer technischen Innovation zu berichten, ohne auf potentielle gesellschaftliche Veränderungen einzugehen. Um taxieren zu können, welche Transformationen das Web mit sich bringt, konnten die Massenmedien zunächst ohnehin 118
VORÜBERLEGUNGEN
nur auf die Einschätzungen der frühen Nutzer reagieren, die aber gerade aus spezifischen Überzeugungen heraus Teil der ›early adopters‹ waren. Gleiches gilt für die aktuellen Visionen zum ›Web 2.0‹: Sie übertragen erneut die Eindrücke der frühen Nutzer auf die Gesamtbevölkerung. Abbildung 14: Institutionalisierung medialer Innovationen
Quelle: modifiziert Rogers 1995, eigene Überlegungen Abbildung 14 möchte diese Problematik schematisch illustrieren: Sobald innovative Kommunikationsmodi den Kreis der Innovatoren durchbrochen haben und sich ein Netzwerk von ›early adopters‹ gebildet hat, werden die ersten Visionen gesellschaftsweit kommuniziert. Durch deren mediale Verstärkung steigen die Nutzerzahlen, solange kaum Vorleistungen zu erbringen sind. Mit leichter Verzögerung treten neben diese Visionen ernsthaftere Prognosen, die sich wiederum auf diese steigenden Nutzerzahlen berufen. Zu diesem Zeitpunkt nutzt jedoch erst ein erweiterter Kreis an frühen Nutzern die neuen kommunikativen Möglichkeiten, auch wenn die steigende Kurve der Nutzerzahlen schon auf die zukünftige Bevölkerungsmehrheit verlängert wird. Oft wird dann versäumt zu hinterfragen, warum ein spezifisches Angebot jenseits der Erstnutzer-Netzwerke überhaupt als ›sinnvoll‹ empfunden werden sollte. Die Konstanz der unerfüllten Visionen um das Web erklärt sich also durch die unreflektierte Verallgemeinerung der Erfahrungen der frühen Nutzer auf die zukünftige Bevölkerungsmehrheit. Für die öffentliche Annahme dieser Visionen spricht allerdings, dass in einem Kulturkreis mit hoher Wahrscheinlichkeit ähnliche Veränderungswünsche vorliegen und insofern Hoffnungen wie ›mehr Demokratie‹ oder ›neue Märkte‹ weitläufig positiv belegt werden. Die Betrachtungen zum Buchdruck haben freilich gezeigt, dass technische Innovationen langfristig ganz anderen Zwecken dienen können als zunächst angenommen.
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Kommunikationsformen im Netz In unserem Kontext macht es wenig Sinn, das Internet als Ganzes medial erfassen zu wollen, wie es ein früher Versuch Bornmanns (1997) nahelegt, der die hypertextuelle Verknüpfung als Strukturmerkmal der Online-Kommunikation definiert, denn mittlerweile spiegeln sich alle konventionellen medialen Strukturen in heller hypertextueller Verknüpfung im Web wider, weshalb wir einerseits tatsächlich von einer Effizienzsteigerung der bisherigen Kommunikationsstrukturen sprechen können: »Die Fortschritte der Telekommunikation werden die Art und Weise, wie wir leben, wie wir uns ›vergesellschaften‹ und ›vergemeinschaften‹, nicht grundlegend verändern. Sie bewirken keinen Strukturwandel der Öffentlichkeit, sondern [..] eine Effizienzsteigerung ihrer Infrastruktur.« (Ernst 1996)
Inhalte können dank der neuen Techniken deutlich schneller abgerufen werden, die Selektionsmöglichkeiten sind angestiegen und individualkommunikative Aktivitäten können kostengünstiger vollzogen werden. Andererseits sind aber auch erweiterte Formen der Kommunikation entstanden: Individuelle Sinnangebote können weltweit abgerufen werden, Veröffentlichungen lassen sich auf gleicher Ebene kommentieren, Dokumente können leichter kooperativ erstellt werden etc. Erhöhte Selektions- und Publikationsmöglichkeiten verlangen den Nutzern aber auch erweiterte kognitive Kompetenzen ab: Neue Vernetzungsmöglichkeiten machen das Beherrschen neuer kommunikativer Codes notwendig, die Beteiligung an Open-Source-Content setzt Hintergrundwissen und zeitliches Engagement voraus. Hinsichtlich der Frage, inwieweit sich die Inklusionschancen alternativer Inhalte in die gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung durch das Web verändern, muss also geklärt werden, welche medialen Formen durch welche Bevölkerungsteile zu welchen Zwecken genutzt werden, weshalb die Kommunikationsmittel im Web zunächst voneinander abgegrenzt werden sollten. Abb. 15 möchte die zuvor vorgestellte mediale Differenzierungsmatrix auf die Onlinewelt übertragen und unterscheidet dabei nicht mehr zwischen ›Internet‹ und ›WWW‹, da sich die einzelnen Protokolle und Dienste heute ohnehin kaum mehr voneinander abgrenzen lassen: • Als individualkommunikative Medien werden alle Plattformen für den bidirektionalen Kommunikationsfluss verstanden. Eindeutig in diese Kategorie fallen E-Mail-Wechsel, Chats, Video- oder Audiotelefonie, fallweise aber auch Spiele und Foren. • Maschinen umschreiben Angebote, mit denen »man ohne Kommunikation aus seinen Daten Informationen gewinnen« kann (Esposito 120
VORÜBERLEGUNGEN
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1993: 348). Solche Anwendungen sollten eigentlich nicht als Medien, sondern als Werkzeuge beschrieben werden. In diese Sparte fallen z.B. Suchmaschinen oder Rich Internet Applications. Als Medien zur (verteilten) Speicherung werden Online-Datenspeicher definiert, deren Inhalte analog zu konventionellen Speichermedien weitergegeben werden können, also z.B. Text-, Bild-, oder Audiodateien, aber auch Inhalte auf Filesharing-Plattformen. Als massenmediale Inhalte werden Angebote bezeichnet, welche die Aufmerksamkeit sehr vieler Online-Nutzer binden können. In diese Kategorie fallen die Online-Publikationen massenmedialer Anbieter, aber auch frequentierte Informationsportale, Blogs und Foreninhalte, die primär abgerufen, aber nicht retourniert werden. Netzwerkkommunikation beschreibt den genuin neuen Austauschmodus im Web. Anwendungen werden zu netzwerkkommunikativen Produkten, falls sie distribuiert durch ihre Nutzer weiterentwickelt werden. Individualkommunikative Prozesse können zur Netzwerkkommunikation werden, falls viele Individuen daran teilhaben. Speichermediale oder tagesaktuelle Inhalte werden als netzwerkkommunikative Produkte aufgefasst, falls sie durch die Nutzer kooperativ entwickelt und (kommentiert) verbreitet wurden.
Abbildung 15: Ausdifferenzierungsraster der Internet-Kommunikation
Quelle: Eigene Überlegungen Anhand dieser Abgrenzungen werden folgende mögliche Einschränkungen hinsichtlich der Veränderungskraft des Internets sichtbar: Falls der überwiegende Anteil der Bevölkerung das Web lediglich als Maschine, Speichermedium, zur Individualkommunikation oder für den Abruf massenmedialer Inhalte nutzen sollte, hätte sich wenig an den Grundkonfigurationen sozialer Realitätskonstruktion geändert. Gleichzeitig bleibt das Problem begrenzter kognitiver Ressourcen bestehen: Der Ein121
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
zelne kann sich entscheiden, spezifische Entwicklungen differenzierter zu beobachten, auf anderen Feldern aber ist er weiterhin auf externe Filterstellen angewiesen. Ziel der Betrachtungen wird es folglich sein, die Nutzungsstrukturen netzwerkkommunikativer Angebote zu untersuchen, um taxieren zu können, inwieweit sich das mediale Rezeptionsverhalten bislang verändert hat. Danach soll abgeklärt werden, welche Inhalte vordringlich Eingang in die Netzwerkkommunikation finden und welchen Einfluss diese auf den professionellen Journalismus ausübt.
Grundsätzliche Thesen und Untersuchungsfokus Den Visionen zufolge, die in der Gründerzeit des Web entstanden sind und im Dunstkreis des Begriffs ›Web 2.0‹ erneut die Öffentlichkeit durchkreuzen, stehen wir vor einer umfassenden Demokratisierung der sozialen Realitätskonstruktion. Gleichwohl stellt kaum einer der Kommentatoren die Frage, ob die Bevölkerung jenseits der ›early adopters‹ überhaupt die Kapazitäten oder die Motivation besitzt, die neuen Publikations- und Selektionsmöglichkeiten im Online-Nexus zu nutzen. Aus der Sicht des vorgestellten erweiterten System-Umwelt-Paradigmas erscheint eine Substitution der gesellschaftsweiten Selektionsinstanzen in der sozialen Realitätskonstruktion erst einmal unwahrscheinlich, denn eine funktional differenzierte Gesellschaft ist schon aus Gründen der allgemeinen Kompatibilität zwischen hoch spezialisierten Kommunikationszusammenhängen und selbstreferenziellen psychischen Systemen mit eigenen Realitätssichten auf allgemeine Bezugsgrundlagen angewiesen. Auf langfristiger Ebene tragen grundlegende Sozialisationsprozesse zur Stabilisation wir-zentrierter Symbolkonzepte und Überzeugungen bei, für die kurzfristige Aktualisierung einer geteilten ›Gegenwart‹ zeichnet sich hingegen vordringlich das soziale System der Massenmedien verantwortlich. Da dieses System als ein Kommunikationszusammenhang verstanden wird, der mit dem Ziel operiert, eine größtmögliche Öffentlichkeit zu erreichen, werden primär Inhalte verstärkt, die ein hohes Anschlusspotential gegenüber den Realitätssichten möglichst vieler Akteure bieten. Daraus folgt, dass die Massenmedien primär etablierte Inhalte selektieren, die sich unkompliziert in den Strom der geteilten Realitätskonstruktion einordnen lassen, während alternative Inhalte, die vorherrschenden Erzählweisen oder Symbolkonzepten entgegenstehen, nur in Ausnahmefällen integriert werden. Diese massenmediale Nivellierung der ›Wirklichkeit‹ wurde oft kritisiert, erfüllt aber eine zentrale Funktion für die Gesellschaft, die in der Bereitstellung einer übergreifenden komplexitätsreduzierten Realitätsbe122
VORÜBERLEGUNGEN
schreibung besteht, auf die in der allgemeinen Kommunikation Bezug genommen werden kann. Vor diesem Hintergrund wird vermutet, dass massenmediale Programmbereiche trotz der zunehmenden Diversifizierung der Inhalte und der temporären Unabhängigkeit des Zugriffs auch in Zukunft eine zentrale Position in der sozialen Realitätskonstruktion einnehmen werden, da psychische wie soziale Systeme aus Gründen der kommunikativen Anschlussfähigkeit und kognitiven Orientierung weiterhin auf deren Selektionsleistungen zurückgreifen (Hypothese 1). Andererseits gewinnen alternative Inhalte durch die neuen Kommunikationstechniken gegenüber etablierten Inhalten erheblich an Sichtbarkeitspotential: Während innovative Sinnangebote im europäischen Mittelalter nahezu keine Chance auf Verbreitung besaßen, konnten ab der Frühen Neuzeit in den Druckmedien auch kritische Inhalte publiziert werden. Die Publikationshürden blieben aber aufgrund der Produktionsund Distributionskosten hoch. Durch die neuen Kommunikationstechniken wird diese Konfiguration nun aufgebrochen: Buchstäblich jeder Internetnutzer kann kostenneutral Inhalte publizieren, wodurch ebenso die Selektionsmöglichkeiten für die Rezipienten ansteigen. Der brechtsche Kommunikationsapparat ist mit dem Web auf technischer Ebene also Wirklichkeit geworden, hinsichtlich seiner sozialen Institutionalisierung bestehen aus unserer Perspektive jedoch folgende Einschränkungen: • Einerseits spiegelt sich im Online-Nexus das Problem der Aufmerksamkeitsbindung wider, das schon früher den Unterschied zwischen Verbreitungs- und Massenmedien bestimmt hat: Ein Artikel in einer kopierten Postille konnte im Normalfall nicht die öffentliche Aufmerksamkeit eines massenmedialen Beitrags erreichen. Gleiches gilt für das Verhältnis eines Blog-Eintrags zu einem Artikel auf einem frequentierten Web-Portal. Die Frage ist, ob die virale Verbreitung im Web gegenüber der klassischen Mund-zu-Mund-Propaganda derart an Effizienz gewonnen hat, dass sich diese Balancen verändern. • Andererseits verfügen psychische Systeme allgemein nur über begrenzte kognitive Ressourcen, die zu einem Großteil durch die Leistungserwartungen bestehender sozialer Systeme an ihre internen Umwelten gebunden werden. In erhöhtem Maße Inhalte selbst zu selektieren oder gar zu publizieren birgt einen Mehraufwand, der erst einmal gerechtfertigt sein will. Es erscheint dementsprechend unwahrscheinlich, dass sich das Verhältnis zwischen etablierten und alternativen Inhalten auf direktem Wege stark verändert. Die angestiegene technische Erreichbarkeit bzw. Sichtbarkeit von innovativen Sinnangeboten im Web bringt aber auch Umweltveränderungen für die Massenmedien selbst mit sich: Ihre Sinnan123
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
gebote können nun auf ähnlicher Zugriffsebene kommentiert werden, innovative Sinnangebote können sich auf geringer ausdifferenzierten Kommunikationsebenen wie z.B. sozialen Netzwerken auf Meso-Ebene effektiver verbreiten und professionelle Journalisten können diese Entwicklungen unkomplizierter beobachten als in der Offline-Welt. Daher vermuten wir in Hypothese 2, dass die neuen Kommunikationstechniken indirekt eine neue Balance zwischen etablierten und alternativen Wirklichkeitsentwürfen provozieren, da sich das Sichtbarkeitspotential für innovative Inhalte im Web deutlich erhöht hat. In der Überprüfung dieser Thesen erscheinen primär Veränderungen interessant, die von großen Bevölkerungsteilen vollzogen werden, denn wie wir festgestellt haben, wird die Einheit der Gesellschaft durch wirzentrierte komplexitätsreduzierte Wirklichkeitsbeschreibungen gewahrt, für deren kurzfristige Aktualisierung zumindest im 20. Jahrhundert die Massenmedien verantwortlich waren. Im Zentrum der Betrachtungen steht also die Frage, ob die neuen netzkommunikativen Möglichkeiten im Web gesellschaftsübergreifend wahrgenommen werden und inwieweit Abwanderungstendenzen gegenüber den massenmedialen Selektionsinstanzen festzustellen sind. Die maximale Reorientierung der Rezipienten bzw. der Totalverfall klassischer Kanalisierungsautoritäten wäre der einfachste Fall, um von einer veränderten Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten zu sprechen. Da eine solche Vermutung aus unserer Sicht jedoch unwahrscheinlich erscheint, sollen weitere Möglichkeiten betrachtet werden, wie innovative Inhalte Eingang in die gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung finden können. Um diese indirekten Integrationschancen abzuschätzen, wird nach einer Globalbetrachtung der Nutzungspräferenzen untersucht, welche Bevölkerungsteile sich auf netzwerkkommunikativen Plattformen bewegen und welche kommunikativen Aktivitäten sie dort vollziehen. Abschließend wird geprüft, inwieweit Inhalte der Netzwerkkommunikation bislang in die massenmediale Berichterstattung Eingang finden. Unsere Beobachtungen können sich letztlich nur darauf konzentrieren, welche Wandlungsprozesse sich in der kurzfristig changierenden gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung vollziehen. Dabei sollen primär die Fragmente der sekundären Realitätsbasis fokussiert werden, die allgemein hin als glaubwürdig eingestuft werden und so die Chance erhalten, langfristig in die primäre Realitätsbasis integriert zu werden (z.B. erinnerungswerte Nachrichten). Die Untersuchungen beschränken sich dabei aus pragmatischen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland, zumal zwischen den Weltregionen schon in der bloßen Online-Durchdringung erhebliche Unterschiede bestehen (Tab. 5).
124
VORÜBERLEGUNGEN
Tabelle 5: Weltregionen und Internetnutzung 2010
Regionen
OnlineAnteil am globaPenetration (%) len Datenfluss (%)
Nutzungszunahme 2000- 2009 (%)
Nordamerika
74,2
14,6
+134
Deutschland
65,9
3,2
+126
European Union
63,8
18,5
+231
Australien/ Ozeanien
60,4
1,2
+175
Europa gesamt
52,0
24,1
+264
Lateinamerika/ Karibik
30,5
10,3
+891
Mittlerer Osten
28,3
3,3
+1649
Asien
19,4
42,6
+546
Afrika
6,8
3,9
+1392
Quellen: Nielsen Online, Internetworldstats (Stand: 3/2010)
Methodischer Ansatz Um die Nutzungspräferenzen im Web zu taxieren, beschränken wir uns auf die Auswertung der Ergebnisse quantitativer Studien, da in unserem Fokus der Einfluss der neuen Kommunikationstechniken auf die gesellschaftsweite Realitätskonstruktion steht. Zu einer neuen Balance zwischen alternativen und etablierten Inhalten kann es auf direkte Weise jedoch nur kommen, wenn ein hoher Anteil der Bevölkerung auf nutzergenerierte Inhalte zurückgreift. Folgende Quellen werden genutzt: • Allensbacher Computer- und Technikanalyse (ACTA): Die seit 1997 durchgeführte repräsentative mündliche Befragung konzentriert sich auf die Ausbreitung neuer Technologien in privaten Haushalten sowie den Wandel des Informationsverhaltens. Als Grundgesamtheit wird die deutsche Bevölkerung zwischen 14 und 64 Jahren angegeben; die Stichprobe liegt bei 10.000 Befragten (www.acta-online.de). • Eurostat ICT Household Survey: Die statistischen Ämter der Europäischen Union führen seit 2003 repräsentative postale/telefonische Befragungen zur Onlinenutzung und -kompetenz bei Personen zwischen 16 und 74 Jahren durch. Die Sample-Größe variiert je nach Land zwischen 1200 und 14.000 Befragten (ec.europa.eu/eurostat). • ARD/ZDF-Onlinestudie: Die 1999 erstmals durchgeführte telefonische Erhebung beschäftigt sich mit der Entwicklung der Internet125
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nutzung in der BRD. Die repräsentative Stichprobe wird nach Geschlecht, Bildung und Region gewichtet; die Fallzahlen liegen bei 1000 Onlinern und 600 Offlinern (www.ard-zdf-onlinestudie.de). AGOF internet facts: Die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung erhebt seit 2004 im Interesse der Werbewirtschaft die Reichweiten im Netz. Zudem werden soziodemographische Nutzungsformen abgefragt. Grundgesamtheit ist die deutsche Wohnbevölkerung. Das Sample umfasst 100.000 ungewichtete Fälle (www.agof.de). Alexa Traffic-Rankings ermitteln die meistbesuchten Websites nationaler Panels, deren Teilnehmer eine Messungs-Software auf ihrem PC installieren. Dieser Aufwand birgt Verzerrungspotential, trotzdem wurde das Alexa-Ranking ausgewählt, weil sich Großteile der Branche daran orientieren (www.alexa.com). PwC-Studie: Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers hat 2008 das Verhalten von ca. 1000 Nutzern von Social Platforms anhand einer Online-Befragung analysiert, um die Nachhaltigkeit derartiger Geschäftsmodelle zu überprüfen. Das repräsentative Ursprungssample sah 8500 Befragte zwischen 16 und 64 Jahren vor, aber das Gros der Befragten (88%) stellte sich nicht als regelmäßige Netzwerknutzer heraus (PWC 2008). Typologie der Wünsche Intermedia (TdWI): Die Marktforschungsinstitute IFAK , TNS Infratest und MMA führen seit 1974 Erhebungen zu den Produkt- und Medienpräferenzen der Deutschen durch. Seit 2006 werden die Interviews computergestützt durchgeführt; die Stichprobe umfasst 10.000 Fälle (www.tdwi.com).
Die aufgeführten Studien unterscheiden sich nach Beobachtungsinteressen und Methoden, gleichzeitig aber liegen viele thematische Überschneidungen vor, die es möglich machen, Daten wechselseitig zu überprüfen. Um in einem zweiten Schritt die Qualitäten der vorhandenen Netzwerkkommunikation einzuschätzen, wird zunächst geklärt, welche Bevölkerungsteile Blogs, Podcasts und Social Platforms nutzen. Nachfolgend wird die Beschaffenheit ihrer Inhalte und Rezeption anhand punktueller Analysen taxiert, die fallbezogen eingeführt werden.
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BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN
IM
WEB
Um zu klären, inwieweit innovative Inhalte durch die neuen kommunikativen Möglichkeiten erhöhte Integrationschancen in die übergreifende Wirklichkeitsbeschreibung erfahren, reicht es aus Sicht des vorgestellten analytischen Ansatzes nicht aus, auf die steigenden Graphen zur OnlineDurchdringung zu verweisen. Vielmehr muss geklärt werden, welche Bevölkerungsgruppen das Internet zu welchen Zwecken in welcher Intensität nutzen. Zunächst wird daher die Online-Durchdringung in der Gesamtbevölkerung eruiert, bevor deren Nutzungspräferenzen untersucht werden. Danach werden die Nutzungsgewohnheiten nach Altersgruppen aufgeschlüsselt. Anschließend werden die Nutzungsinteressen der sozialen Milieus diskutiert, bevor die Beobachtungsergebnisse mit den vorangestellten Annahmen in Bezug gesetzt werden.
Annahmen Wie im ersten Teil dieses Bandes dargestellt, reproduzieren psychische Systeme kontinuierlich die Referenzen eines sozialen Systems (wenn auch mit situativen Varianzen), solange diese kommunikativen Orientierungsfolien effizient Komplexität in Kommunikation und Beobachtung reduzieren können. Dieser Prozess bindet in unserem Modell einen erheblichen Teil der Kapazitäten der beteiligten Akteure, weshalb wir davon ausgehen, dass dem Einzelnen jenseits der Bevölkerungssegmente mit hohen Freizeitbudgets gar nicht die Zeit und die Motivation bleibt, im Online-Nexus regelmäßig aktiv zu selektieren bzw. zu publizieren. Dazu kommt, dass sowohl die Gesellschaft wie auch jeder Einzelne auf Instanzen angewiesen ist, die in der funktionssphärenübergreifenden 127
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Kommunikation eine allgemeine Bezugsgrundlage liefern. Wie im zweiten Teil dargestellt wurde, übernimmt diese Position in einer funktional differenzierten Gesellschaft bislang das soziale System der Massenmedien: Ähnlich wie in der Vergangenheit der Klerus die Weltentwicklung ausgerichtet an den Prämissen eines festgeschriebenen Textkanons beobachtete und opportune Fragmente über das ›Medium‹ Priester verbreitete, selegieren heute die Akteure in der internen Umwelt der Massenmedien ihre externe Umwelt. Diese Beobachtungen sind nicht mehr an fixierten Propositionen ausgerichtet, sondern an den vorangegangenen Aktualisierungen der massenmedialen Beschreibung. Damit ist nicht gesagt, dass die Massenmedien alleine für eine gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung verantwortlich sind, andere kommunikative Mechanismen wirken aber eher auf langfristiger Ebene. Die meisten Visionen zum Demokratisierungspotential des Netzes lassen diese Funktion der massenmedialen Selektionsprozesse hingegen unbeobachtet: Die Möglichkeit zu Beobachtungsalternativen mag durch die neuen Kommunikationstechniken zwar gestiegen sein, das bedeutet aber noch lange nicht, dass der durchschnittliche Mediennutzer auch die Motivation oder die Ressourcen besitzt, beständig aktiv zu selektieren oder zu publizieren. Daher wird davon ausgegangen, dass massenmediale Selektionsinstanzen auch in Zukunft eine zentrale Position in der geteilten Gegenwartsbeschreibung einnehmen (Hypothese 1). Dies schließt die Chance nicht aus, dass im Online-Nexus innovative Inhalte erzeugt werden. Relevanz für die gesellschaftsübergreifende Realitätskonstruktion erlangen solche Inhalte allerdings erst, wenn sie übergreifend Verbreitung finden: Es ist kaum denkbar, dass ein einzelner Blog-Eintrag alleine durch virale Verbreitung im Internet bevölkerungsweit Aufmerksamkeit binden kann. Wahrscheinlicher erscheint es, dass solche Inhalte ab einem gewissen Schwellenwert der Verbreitung in digitalen Netzwerken die Aufmerksamkeit der Massenmedien erregen (Hypothese 2). In diesem Kapitel werden jedoch zunächst folgende Thesen zu den Nutzungspräferenzen der Gesamtbevölkerung abgetestet: • Der Online-Nexus wird primär zu maschinellen, individualkommunikativen und speichermedialen Zwecken besucht. • Regelmäßige Nutzer von Web 2.0-Angeboten verfügen lebensabschnittsbedingt über ein hohes Zeitbudget oder zeichnen sich durch eine hohe Technikaffinität aus. • Die Nachrichten-Rezeption erfolgt nach wie vor über die klassischen massenmedialen Selektionsinstanzen bzw. deren Online-Ableger. • Die Motivation zur Repriorisierung des Zeitbudgets zugunsten der aktiven Selektion im Web bleibt für das Gros der Bevölkerung klein. 128
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Gesamtbevölkerung BRD Online-Durchdringung Oft werden in Untersuchungen zur Online-Nutzung in Deutschland lediglich die Daten zur allgemeinen Zugriffsmöglichkeit betrachtet, was zu imposanten Penetrationswerten führt (Abb. 16): Seit 2007 liegt die Online-Durchdringung der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren nach der ARD/ZDF-Onlinestudie, AGOF und Eurostat bei weit über 60% und die ACTA geht aufgrund der Begrenzung ihrer Grundgesamtheit bei 64 Jahren sogar von einem Anteil über 75% aus. Die pure Zugriffsmöglichkeit lässt sich allerdings nicht mit einer regelmäßigen Nutzung gleichsetzen: Die ARD/ZDF-Werte zur Onlinenutzung im letzten Monat bewegen sich zwar noch in einem ähnlichen Bereich wie die allgemeinen Durchdringungsdaten, wird hingegen nach der Nutzung am Vortag gefragt (AGOF), sinken die Werte für 2009 auf unter 55%. Abbildung 16: Online-Durchdringung in der BRD
Quellen: Eurostat 2004-2010, ARD/ZDF-Onlinestudie 2004-2009, ACTA 2004-2009, AGOF 2004-2009 Im Vergleich zu den 80% der Bevölkerung, die 2008 regelmäßig den Radio- oder Fernsehapparat einschalteten (Arbeitsgemeinschaft MediaAnalyse 2008), erscheinen diese Durchschnittswerte also relativ gering. Gleiches gilt für die Nutzungsdauer: Während die befragten Onliner der ARD/ZDF-Onlinestudie Anfang 2008 täglich über 220 Minuten den Fernseher bzw. ca. 180 Minuten das Radio einschalteten, hielten sie sich nur knapp zwei Stunden im Online-Nexus auf, davon 58 Minuten mit 129
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
voller Aufmerksamkeit (ARD/ZDF 2008). Allerdings steigen sämtliche Graphen zur Online-Durchdringung beständig an, weshalb wir vermuten können, dass wir uns auf der Kurve der sozialen Institutionalisierung des Web zwischen ›early‹ und ›late majority‹ befinden. Dies bedeutet mithin noch lange nicht, dass auch die neuen kommunikativen Möglichkeiten im Online-Nexus mehrheitlich intensiv genutzt werden. Schon eine Eurostat-Erhebung zur Selbsteinschätzung der eigenen Internetkenntnisse zeigt, dass in den Jahren 2005 bis 2007 über zwei Drittel der 16 bis 74-Jährigen nur rudimentäre Online-Erfahrungen besaßen: Anhand sechs netzbezogener Aktivitäten wurden die Befragten verschiedenen Kenntnisleveln zugeteilt: Verwendung von Suchmaschinen, Versendung von E-Mails mit Anhängen, Nutzung von Chatrooms oder Foren, Nutzung von IP-Telefonie, Verwendung von FilesharingPlattformen und Einrichtung einer Webseite. Personen, die jemals 1 bis 2 dieser Aktivitäten ausgeführt haben, wurde ein niedriges Kenntnisniveau zugesprochen. Befragte, die 3 bis 4 Aktivitäten durchgeführt haben, wurden der mittleren Niveaustufe zugeordnet und ein hohes Niveau wurde Nutzern attestiert, die 5 bis 6 dieser Aktivitäten vollzogen haben. Der Anteil der Befragten mit mittleren bzw. hohen Kenntnissen hat sich zwischen 2005 und 2007 zwar erhöht, aber selbst 2007 haben über 66% der Befragten nur wenige dieser Aktivitäten im Web durchgeführt. Tabelle 6: Niveau der Internetkenntnisse der 16 bis 74-Jährigen niedrig
mittel
hoch
keine Erfahrung
2005
41%
20%
4%
35%
2006
41%
25%
5%
29%
2007
41%
27%
6%
26%
Quelle: Eurostat 2008 Da die abgefragten Nutzungsformen mit Ausnahme der Erstellung einer Webseite keine speziellen Hintergrundkenntnisse erfordern, kann vermutet werden, dass bei diesem Teil der Untersuchungsteilnehmer entweder Desinteresse oder Unkenntnis gegenüber den erweiterten Nutzungsmöglichkeiten des Web bestand. Im nachfolgenden Kapitel zum Nutzungsverhalten im Netz wird dieser Aspekt anhand neuerer Daten geprüft. Es lässt sich aber schon einmal festhalten, dass die Werte zur Online-Penetration nach allen genannten Quellen zwar beständig steigen, die Daten zur regelmäßigen Nutzung des Internets und das diesbe130
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
zügliche Zeitbudget für die Gesamtbevölkerung aber noch weit unter den Werten für Radio und TV liegen. Darüber hinaus hat die EurostatUmfrage zu den Web-Kompetenzen der deutschen Bevölkerung gezeigt, dass weite Teile das Netz nur sehr eingeschränkt nutzten.
Das Web als aktuelle Informationsquelle Damit das Internet Einfluss auf die Balancen zwischen etablierten und alternativen Inhalten in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion nehmen kann, muss es als aktuelle Informationsquelle gegenüber anderen Medien an Prominenz gewinnen, wofür ja auch keine erweiterten Nutzungskompetenzen benötigt würden. Es wäre durchaus denkbar, dass die Rezipienten das Web nutzten, um sich schneller und punktgenauer über das Tagesgeschehen zu informieren. Das messbare Zeitbudget für die verschiedenen Medienformen bietet jedoch wenig Anhaltspunkte für diese Vermutung (Abb. 17): Eine Erhebung der Nutzungsfrequenzen der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren nach Selbsteinschätzung zeigt, dass das Web selbst bei Onlinern deutlich weniger oft im aktuellen Kontext genutzt wird als TV- oder Radioangebote. Abbildung 17: Mediennutzung mehrmals täglich/täglich
Quelle: ARD/ZDF Onlinestudie Nach den Ergebnissen der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 verwenden Internetnutzer deutlich seltener ihren Fernsehapparat und ihre Tageszeitung als Offliner, das Radio allerdings wird als klassisches Medium der Parallelnutzung von Onlinern häufiger eingeschaltet als von Offlinern. Nach ihrer Selbsteinschätzung nutzen hingegen ca. 40% der Onliner und 60% der Gesamtbevölkerung das Web nicht mehrmals täglich. Wir können also annehmen, dass das Netz als aktuelle Informationsquelle für
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
den Bevölkerungsschnitt gegenüber Radio, Fernsehen oder auch Zeitung noch immer eine untergeordnete Rolle spielt. Die Daten, die aus der ACTA gewonnen werden können, bestätigen diesen Eindruck: Lediglich 36% der befragten Onliner zwischen 14 und 64 Jahren haben sich 2008 im Web über das aktuelle Geschehen informiert, während das Fernsehen mit einem Anteil von über 70% die leitende Position im Bereich der tagesaktuellen Information einnimmt. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung der BRD stellt das Internet also bislang keine primäre Quelle für tagesaktuelle Informationen dar, obgleich die meisten massenmedialen Anbieter ihre Sendungen bzw. Inhalte auch im Internet publizieren. Gleichwohl nutzen mittlerweile immerhin mehr als ein Drittel der Onliner das Netz als tagesaktuelle Informationsquelle, weshalb die Betrachtung des Nutzungsverhaltens der Altersgruppen und sozialen Milieus äußerst interessant werden dürfte.
Nutzungspräferenzen Weitere Indikatoren für die Integrationschancen alternativer Inhalte in eine gesellschaftsübergreifende Wirklichkeitsbeschreibung sind die Nutzungspräferenzen der Onliner, die hier zunächst auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet werden. Als alternative Inhalte können individuell oder kooperativ erarbeitete Sinnangebote gelten, die sich nicht in den Strom der gesellschaftsweit etablierten Realitätskonstruktionen einordnen lassen und im Horizont klassischer massenmedialer Selektionsmechanismen kein Publikationsforum gefunden hätten, im Internet aber nun auf der selben technischen Zugriffsebene wie etablierte Inhalte stehen. Entsprechende Balancen können sich freilich nur verschieben, wenn breite Teile der Bevölkerung alternative Sinnangebote rezipieren. Zunächst gilt es also zu klären, wie viele Onliner überhaupt auf kommunikative Strukturen zurückgreifen, welche die Publikation von innovativen Sinnangeboten ermöglichen. Nach unserer Ausdifferenzierungsmatrix fallen in diese Kategorie individualkommunikative Plattformen mit hoher Beteiligung (z.B. Communities), distribuiert erstellte speichermediale Inhalte mit hoher Verbreitung oder potentielle tagesaktuelle Publikationsformen wie Blogs, Podcasts oder Social News. Hohe Nutzungszahlen bedeuten aber noch keineswegs, dass in diesen Kanälen tatsächlich innovative Sinnangebote verbreitet und nicht lediglich massenmediale Inhalte neu abgemischt werden. Trotzdem liefern die Daten zur Akzeptanz dieser Web 2.0-Angebote einen ersten Gradmesser. Ein Überblick über die Resultate etablierter Studien zeigt allerdings, dass nach wie vor maschinelle Informationsabfragen, individualkommu-
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BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
nikative Aktivitäten und klassische massenmediale Angebote im Vordergrund der Online-Nutzung stehen (Tab. 7): Tabelle 7: Online-Anwendungen bzw. -Inhalte und Nutzungsverhalten AGOF 3Q/2009 gelegentlich+ (Onliner ab 14 J.)
ARD/ZDF 2009 wöchentlich+ (Onliner ab 14 J.)
ACTA 2009 selten+ (Gesamt 14-64)
E-Mails (privat)
89%
82%
75%
Messaging
39%
30%
25%
Chats/Foren
42%
25%
35%
Suchmaschinen
85%
82%
k.A.
Dateien-Download/Sharing
k.A.
19%
39%
Spiele
k.A.
17%
k.A.
Nachrichten (Welt)
65%
59%
Nachrichten (regional)
57%
47%
Sportnachrichten
37%
37%
k.A.
Unterhaltung
20%
25%
k.A.
Einkaufen/Auktionen
63%
8%
k.A.
Online-Banking
55%
33%
k.A.
Service-Informationen
64%
47%
k.A.
Communities
20%
27%
23%
Videoportale
k.A.
52% gelegentlich+
53%
Videos publizieren
k.A.
3% gelegentlich+
10%, 2% häufig
Live-Streams
k.A.
12% (Radio);
TV: 27%
Blogs lesen
16%
3%
27%
Photos publizieren
k.A.
7%
21%
Lexikonbeiträge schreiben
k.A.
k.A.
6%
Podcasts
k.A.
2%
k.A.
16% häufiger 55% selten+
Quelle: ARD/ZDF 2009, ACTA 2009, AGOF 3Q/2009
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NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Die ARD/ZDF-Onlinestudie fragt die mindestens wöchentliche Nutzung der Angebote ab und produziert in den meisten Fällen niedrigere Prozentwerte als die AGOF-Studie, welche die gelegentliche Nutzung der Angebote misst. Die ACTA-Erhebung differenziert zwischen häufiger und gelegentlicher Nutzung, begrenzt jedoch die Grundgesamtheit auf 14 bis 64 Jahre. Die einzelnen Studien decken jeweils andere OnlineAnwendungen bzw. -Inhalte ab und sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Prämissen nur bedingt vergleichbar, die Relationen in den jeweiligen Studien können aber durchaus miteinander in Bezug gesetzt werden. Als eindeutige Spitzenreiter können die individualkommunikativen und maschinellen Nutzungsdimensionen des Web gelten: Knapp 90% der Onliner versenden laut der AGOF-Studie 2009 mindestens gelegentlich private E-Mails oder nutzen Suchmaschinen zur Informationsrecherche. Über 80% der Internetnutzer nutzten auch nach den Ergebnissen der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 diese Angebote. In beiden Studien sind dies mit Abstand die meist genannten Nutzungsarten. Deutlich schwächer als die Mail-Kommunikation schneiden andere individualkommunikative Anwendungen wie Messaging oder Chats bzw. Foren ab. Die der E-Mail- und Suchmaschinennutzung prozentual nächstgelegenen Nutzungsformen sind in der AGOF-Studie 2009 der gelegentliche Abruf von Nachrichten auf globaler (65%) bzw. regionaler Ebene (57%) sowie die mindestens gelegentliche Nutzung von Online-Banking (55%) bzw. Shopping-Plattformen (63%). Nur 20% der befragten Onliner hielten sich laut dieser Studie gelegentlich in Communities auf, Blogs lasen immerhin 16% gelegentlich. Da die AGOF-Studie nicht die konkrete Nutzung weiterer netzwerkkommunikativer Angebote abfragt, können wir anhand ihrer Ergebnisse kaum nachvollziehen, inwieweit andere Möglichkeiten des Web 2.0 bevölkerungsweit genutzt werden. Es entsteht aber der Eindruck, dass das Netz noch immer überwiegend zur Individualkommunikation und zum Nachrichtenabruf dient. Diese ersten Impressionen werden durch die ARD/ZDF-Onlinestudie weitgehend bestätigt: Über 80% der Onliner ab 14 Jahren nutzten das Netz 2009 wöchentlich für den E-Mail-Versand und die Suchmaschinenrecherche. Immerhin knapp 60% riefen wöchentlich Nachrichten zum Weltgeschehen ab, fast 50% griffen regelmäßig auf Service-Informationen zu, 47% bzw. 37% der befragten Nutzer rief regionale Nachrichten oder Sportnachrichten wöchentlich ab. Online-Shopping-Angebote erreichten hingegen bei der Messung der mindestens wöchentlichen Nutzung weitaus geringere Werte als bei der Frage nach der gelegentlichen Anwendung. Die Abfrage des gelegentlichen Aufrufs von Community-Portalen erreicht mit 27% einen vergleichbaren Wert mit der AGOF-Studie. Im Gegensatz zu der vorgenannten Erhebung beschäftigt 134
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
sich die ARD/ZDF-Onlinestudie zudem mit der konkreten Nutzung von Web 2.0-Angeboten und kommt zu Ergebnissen, die den hoffnungsgeladenen Visionen kaum zusprechen: Zwar eruiert die Studie für 2009 immerhin einen Onliner-Anteil von 52%, der gelegentlich Inhalte von Videoportalen abruft, wird allerdings nach der wöchentlichen Nutzung gefragt, sinkt dieser Anteil auf 26%. Ein entsprechend geringer Teil von 3% hat schon einmal ein Video auf einer solchen Plattform publiziert. Auch Blogs und Podcasts nutzten nur 3% bzw. 2% der Befragten regelmäßig, 7% publizierten gelegentlich Bilder im Web. Ein ähnliches Bild zeichnet die ACTA 2009 für die Bevölkerung bis 64 Jahre: 53% nutzten Videoportale gelegentlich (14% häufig), 10% veröffentlichten mindestens selten Videos (2% häufig), 27% lasen gelegentlich Weblogs, aber nur 4% konsultierten diese häufig. 21% haben schon einmal Photos online publiziert und 6% haben bislang einen Lexikonbeitrag geschrieben. Wir können also auf der Basis der genannten Studien zusammenfassen, dass Web 2.0-Angebote von der Gesamtbevölkerung bislang nicht regelmäßig genutzt werden. Wie Abb. 18 vor Augen führt, schlagen in der wöchentlichen Nutzung aber private Communities, Videoportale und Wikipedia deutlich aus. Abbildung 18: Aktive/passive Nutzung des Web 2.0
Onliner ab 14 Jahre in der BRD (n=1186). Quelle: ARD/ZDF 2008 Wikipedia stellt jedoch letztlich eine speichermediale Plattform dar, deren Inhalte wie bei der Benutzung eines Lexikons gerichtet abgerufen werden, weshalb die einzelnen Artikel im Normalfall keine großen Rezeptionswerte erreichen können: Beispielsweise konnte selbst der Arti135
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
kel »Barack Obama« am 06.02.2008, einen Tag nach dem Super Tuesday der Präsidentschafts-Vorwahlen in den USA, nur 15.000 Nutzer erreichen (BRD). Und auch der Artikel »Horst Köhler« erreichte am 31.05.2010, dem Tag seines Rücktritts als Bundespräsident, lediglich 90.000 Rezipienten. Ein größeres Veränderungspotential gegenüber der kurzfristigen Aktualisierung der übergreifenden Realitätsbasis besäßen mithin Videoplattformen und Communities, falls diese übergreifend für die Rezeption von tagesaktuellen Nachrichten genutzt würden. Abbildung 19: Nutzungstrends Social Platforms
Quelle: PricewaterhouseCoopers 2008 Aufschluss bietet eine Studie der Unternehmensberatung »PricewaterhouseCoopers« (PWC), die sich 2008 mit den Nutzungstrends auf Networking-Plattformen beschäftigt und ähnlich wie die zuvor genannten Studien festgestellt hat, dass sich nur 12% der Onliner in der BRD als regelmäßige Nutzer von Online-Netzwerken charakterisieren (Abb. 19), wovon über 80% bei mindestens einer Networking-Plattform registriert sind und sich als aktive Anwender bezeichnen. Nur 32% charakterisieren sich hingegen als Anwender mit hohem Aktivitätsniveau. 136
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Von diesen haben 68% jemals ein Profil in eine Community eingestellt, 58% haben andere Teilnehmer kontaktiert, 57% haben Kommentare zu Beiträgen erstellt und 35% nutzen Instant-Messaging. Nutzungsformen, die auf einen Austausch jenseits der Individualkommunikation hinweisen (Beiträge schreiben, neue Themen aufbringen), werden jedoch nur von einer Minderheit der Befragten wahrgenommen. Angesichts der geringen regelmäßigen Reichweiten der OnlineNetzwerke in der Gesamtheit der deutschen Onliner kann vermutet werden, dass der Einfluss dieser kommunikativen Prozesse auf die übergreifende Wirklichkeitsbeschreibung in direkter Weise gering ist, zumal sich durch die PWC-Studie der Eindruck erhärtet, dass Netzwerkplattformen vordringlich für individualkommunikative Zwecke genutzt werden: Die Social-News-Plattform »Webnews« ist unter den meist genannten Angeboten das einzige Netzwerk, das sich mit tagesaktuellen Nachrichten beschäftigt, wobei lediglich 14% der regelmäßigen Nutzer von OnlineNetzwerken diese Seite jemals besucht haben. Die größte Durchdringung erreichen unter den Web 2.0-Angeboten neben Communities primär Videoportale, weshalb es sich an dieser Stelle lohnt zu eruieren, welche Inhalte auf diesen Portalen abgerufen werden (Tab. 8). Tabelle 8: Top 50 der Youtube-Videos (BRD) Kategorie
01/2006-02/2010
Februar 2010
kommerzielle Musikvideos
29
19
Musikvideos (Talents)
4
2
Fun-Videos
9
11
Sport
2
2
Werbung und Reviews
0
2
Erotik
1
3
Politik/Weltgeschehen
1
1
Ausschnitte aus Filmen/Serien
4
6
Videologs
0
4
Quelle: Youtube Deutschland (Stand: 02/2010). Auf der deutschen Dependance von Youtube, dem global erfolgreichsten Anbieter von User-Generated-Videos, lässt sich anhand der Top-Listen der meist gesehenen Videos nachvollziehen, zu welchen Zwecken das 137
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Portal vordringlich genutzt wird: In der Top 50 der meist abgerufenen Videos seit Gründung des Dienstes finden sich zu über 50% kommerzielle Musikvideos (Stand: 02/2010). Ca. 18% der Beiträge stellen FunVideos dar, die in »Pleiten, Pech und Pannen«-Manier lustige Momente des Alltagslebens präsentieren, Kinofilme neu vertonen oder wiederum durch kommerzielle Anbieter produziert werden. Einen Anteil von 12% nehmen zusammengenommen Ausschnitte aus dem Sportgeschehen sowie aus Filmen und Serien ein. Videos zu Politik und Weltgeschehen spielen in dieser Langfrist-Bestenliste hingegen kaum eine Rolle. Es ließe sich nun argumentieren, dass Musikvideos und Fun-Videos eine längere Halbwertszeit in der Rezeption besitzen als Berichte zu aktuellen Ereignissen, aber auch die Top 50 für Februar 2010 spricht solchen Videos keinen höheren Stellenwert zu. Kommerzielle Musikvideos nehmen in dieser Liste zwar nur noch 38% der Nennungen ein, dafür hat sich aber lediglich der Anteil von Sport-, Werbe-, Film- und ErotikVideos erhöht (26%). Die Top-50-Listen von »Youtube Deutschland« deuten folglich darauf hin, dass derartige Videoportale eher zu Unterhaltungs- denn zu Informationszwecken genutzt werden. Die Daten zu den durchschnittlichen Nutzungspräferenzen der deutschen Onliner zeigen also, dass sich die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web bislang keineswegs bevölkerungsweit institutionalisieren konnten: Communities werden auch in optimistischen Studien nur von gut einem Viertel der Befragten gelegentlich genutzt, Blogs werden lediglich von einem einstelligen Prozentanteil regelmäßig gelesen, Podcasts werden kaum rezipiert und die neuen Publikationsmöglichkeiten werden nur von Wenigen regelmäßig genutzt. Eine Ausnahme bilden Videoportale, auf die nach der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 die Hälfte der Onliner gelegentlich zugreifen, und die freie Enzyklopädie Wikipedia, die von über 65% der Befragten zumindest selten genutzt wird. Wird nach der wöchentlichen Nutzung dieser Angebote gefragt, sinken diese Werte allerdings auf ca. 20%, was kaum für einen starken Einfluss auf die Aktualisierung der gesellschaftsübergreifenden Gegenwartsbeschreibung spricht, zumal einzelne Wikipedia-Artikel keine hohen Zugriffszahlen erreichen und zumindest auf Youtube nur selten Videos zu tagesaktuellen Entwicklungen abgerufen werden.
Traffic-Rankings In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Nutzungspräferenzen der deutschen Onliner anhand der Ergebnisse etablierter Bevölkerungsumfragen beschrieben, die sich auf die Selbsteinschätzung der Befragten verlassen. Eine weitere Möglichkeit der Annäherung besteht in der Be138
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
trachtung der Zugriffs-Ranglisten der Websites im deutschsprachigen Netz. Unter den drei größten Anbietern dieser Rankings wurde »Alexa Internet« (www.alexa.com) ausgewählt, da dieser im Gegensatz zur »Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern« (www.ivw.de) auch non-kommerzielle Websites berücksichtigt. Kritisch angemerkt sei, dass die Messung von Quantitäten wie bei Fernseh-Quoten keine Aussage über die Zugriffsqualitäten ermöglicht. Tabelle 9: Alexa TOP 50 Ranking BRD (Stand: April 2010) (1)
Google.de (Maschine/Service)
(26) Immobilienscout24 (Maschine/Service)
(2)
Google.com (Maschine/Service)
(27) Youporn.com (Erotik/Porno)
(3)
Facebook.com (Netzwerk)
(28) Mpnrs.com (Werbung)
(4)
Youtube.de (Speicher/Sharing)
(29) Gutefrage.net (Service/Netz)
(5)
Ebay.de (Maschine/Service)
(30) 1und1.de (Maschine/Service)
(6)
Wikipedia.org (Speicher/Netz)
(31) Schuelervz.de (Netzwerkkom.)
(7)
Amazon.de (Maschine/Service)
(32) msn.com (Hotmail) (Individualkom.)
(8)
Yahoo.com (Maschine/Service)
(33) Heise.de (Massenmedien: Computer)
(9)
Spiegel.de (Massenmedien)
(34) Welt.de (Massenmedien)
(10) Web.de (Individualkom.)
(35) Rtl.de (Massenmedien)
(11) Bild.de (Massenmedien)
(36) Kicker.de (Massenmedien)
(12) Twitter.com (Netzwerk)
(37) Mobile.de (Maschine/Service)
(13) Gmx.net (Individualkom.)
(38) Flickr.com (Speicher/Sharing)
(14) Xing.com (Netzwerk)
(39) Sueddeutsche.de (Massenmedien)
(15) Blogger.com (Netzwerk)
(40) Microsoft.com (Service/Werbung)
(16) Studivz.de (Netzwerk)
(41) Bahn.de (Maschine/Service)
(17) T-online.de (Service/Massenm.)
(42) Apple.com (Service/Werbung)
(18) Leo.org (Maschine/Service)
(43) Stern.de (Massenmedien)
(19) Live.com (Maschine/Service)
(44) Wetter.com (Service)
(20) Meinvz.net (Netzwerk)
(45) Rapidshare.com (Speicher/Sharing)
(21) Wer-kennt-wen.de (Netzwerk)
(46) Focus.de (Massenmedien)
(22) Uimserv.net (Werbung)
(47) Partypoker.de (Spiel/Netzwerkkom.)
(23) Chip.de (MMedien: Computer)
(48) Seitwert.de (Maschine/Service)
(24) Wordpress.com (Netzwerk)
(49) Livejasmin.com (Erotik/Porno)
(25) Myspace.com (Netzwerk)
(50) Xhamster.com (Erotik/Porno)
In der Betrachtung der Top-50-Websites im Alexa-Ranking für April 2010 (Tab. 9) fällt auf, dass knapp ein Drittel der Seiten als maschinelle Serviceangebote eingestuft werden können: Suchmaschinen und Webkataloge (z.B. Google, Yahoo) sind auf den vorderen Rängen der Liste zu 139
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
finden. Ebenfalls im ersten Drittel positioniert sind Shopping-Portale (Amazon, Ebay). Auf mittleren Rängen finden sich zudem Anbieter von Service-Informationen (z.B. Wetter.com) und unternehmerische Servicepräsenzen (z.B. bahn.de). 10% der vertretenen Angebote dienen speichermedialen Zwecken. Einen Speichercharakter, der mit einer Festplatte vergleichbar ist, weist Rapidshare auf. Youporn und Livejasmin distribuieren pornographische Inhalte. Flickr und Youtube dienen dem Austausch von Photos bzw. Videos, weisen aber auch einen netzwerkkommunikativen Charakter auf, da ihre Inhalte kommentiert werden können. Wikipedia kann als Speichermedium eingeordnet werden, da in dieser Enzyklopädie Inhalte archiviert werden, die durch den Nutzer zweckgebunden abgerufen werden. Für die Autoren selbst stellt sich Wikipedia aber durchaus als netzwerkkommunikative Plattform dar. Gut 20% der Websites können eindeutig als netzwerkkommunikative Angebote charakterisiert werden. Die Mehrheit dieser Portale (z.B. Facebook) dient jedoch dem individualkommunikativen Austausch unter registrierten Benutzern. Lediglich auf Blogger bzw. Wordpress und auf Twitter können tagesaktuelle, individuell oder kooperativ erstellte Inhalte öffentlich zugänglich gemacht werden. Zu beachten bleibt aber, dass es sich hierbei um die Portalseiten der größten Infrastrukturanbieter der Blogosphäre handelt und das Ranking insofern keine Auskunft über die Reichweiten der einzelnen Blogs liefert. 20% der in der Top 50 vertretenen Websites sind Online-Dependancen massenmedialer Anbieter. Das Alexa-Ranking der 50 meistbesuchten Internetseiten in der BRD (04/2010) erweckt also wie schon die Studien zuvor den Eindruck, dass das Web primär der Effizienzsteigerung bisheriger kommunikativer Strukturen dient: Speichermediale und individualkommunikative Austauschprozesse können deutlich unkomplizierter ablaufen, Serviceangebote können bequemer wahrgenommen werden und die Inhalte klassischer massenmedialer Anbieter können flexibler abgerufen werden. Wenn wir davon ausgehen, dass auf soziale Plattformen wie Facebook vor allen Dingen Individualkommunikation betrieben wird, bleiben im Top 50-Ranking lediglich die Blogging- und Videoportale als potentielle Publikationsplattformen für aktuelle alternative Inhalte übrig, wobei auf Videoportalen primär Unterhaltungsangebote rezipiert werden. Abb. 20 vergleicht daher die Traffic-Rankings der erfolgreichsten deutschen Blogs mit den Rankings der erfolgreichsten massenmedialen Angebote: Spiegel Online ist das meist besuchte deutsche Nachrichtenportal im Netz, verzeichnet monatlich über 100 Millionen Besuche (IVW 04/2010) und belegte Platz 9 des Alexa-Rankings 04/2010. Ähnlich populär sind die Angebote von BILD, RTL und Kicker. Tagesschau.de, das Online-Angebot der erfolgreichsten TV-Nachrichten in 140
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
der BRD, schnitt mithin deutlich schlechter ab als die genannten OnlineAbleger der klassischen Print-Anbieter. Als Sonderfälle werden chip.de und sport1.de gelistet: Chip erscheint zwar schon seit 1978 als Zeitschrift für computeraffine Zeitgenossen, kann aber derzeit mit seinem Online-Angebot eine deutlich breitere Zielgruppe ansprechen. Sport1.de hingegen ist ein Portal für Sportinformationen und rangierte im AlexaRanking 04/2010 zwischen Platz 46 und 57. Abbildung 20: Traffic-Rankings massenmedialer Angebote und Blogs
Quelle: Alexa Internet (Stand 04/2010). Die gemäß der »Technorati«-Blog-Charts (www.deutscheblogcharts.de) 2008 erfolgreichsten Weblogs bewegten sich hingegen in den Hunderter- bzw. Tausender-Bereichen des Rankings: Bildblog.de, ein Weblog, das sich mit den Unschärfen der »Bild«-Zeitung auseinandersetzt, belegte 04/2010 Platz 993 im Ranking (06/2008: Platz 2475). Ebenso niedrig fallen die Traffic-Rankings weiterer Blogs aus: Ehrensenf.de, ein Videoblog, das Fundstücke aus dem WWW kommentiert, erlangte 06/2006 ei141
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
nen Rang knapp hinter bildblog.de und fällt 2010 weiter ab, dahinter folgt mit nerdcore.de ein Blog, das sich mit Spielen, Filmen und Musik beschäftigt. Darunter wird mit spreeblick.de ein Weblog gelistet, das sich explizit als Gegenpol zur etablierten Medienlandschaft versteht. Darauf folgt das Blog netzpolitik.org, das sich der digitalen Freiheit verschrieben hat. Mit Ausnahme von Ehrensenf konnten sich die genannten Blogs im Ranking 04/2010 gegenüber 2008 deutlich verbessern, was aber in absoluten Zahlen noch immer relativ wenig bedeutet: Basic Thinking etwa erreicht 2010 bei einem Alexa-Rank von 700 nach eigenen Angaben ca. 12.000 Besucher am Tag. Eine im Groben vergleichbare Position im Alexa-Ranking erreichte indymedia.org, dem Selbstverständnis nach eine freie Veröffentlichungsplattform, die durch den Verfassungsschutz als kommunikative Zentralstelle für linksextreme Aktivisten eingestuft wird (Verfassungsschutz NRW 2008). Das Alexa-Ranking der meistbesuchten Webseiten in der BRD unterstreicht folglich den Eindruck, der schon durch die Betrachtung der ARD/ZDF-Onlinestudie, der ACTA, der AGOF Internet Facts sowie der PWC-Studie entstanden ist: Das Internet wird im Bevölkerungsdurchschnitt vordringlich für individualkommunikative und speichermediale Zwecke, maschinelle Serviceangebote und den Abruf von Nachrichten bei klassischen massenmedialen Anbietern genutzt, Communities dienen primär dem privaten Austausch und auf Videoportalen werden hauptsächlich Unterhaltungsangebote gesucht. Zudem verzeichnen selbst die erfolgreichsten Blogs in Relation zu massenmedialen Online-Angeboten geringe Nutzerzahlen, weshalb wir vermuten können, dass der Zugriff auf kleinere Anbieter für die Gesamtbevölkerung bislang keine gesteigerte Rolle in der täglichen Informationsversorgung spielt.
Bewertung Die Annahme, dass die neuen kommunikationstechnischen Möglichkeiten im Web für den größten Teil der deutschen Bevölkerung vordringlich eine Effizienzsteigerung der vorhandenen medialen Strukturen bedeuten, kann anhand der bisherigen Beobachtungen Bestätigung finden: Die Graphen zur Online-Penetration der deutschen Bevölkerung steigen zwar an, aber schon die Erhebungen zu den Online-Kompetenzen lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob die erweiterten Selektionsund Publikationsmöglichkeiten im WWW eine Breitenwirkung entfalten können. Die Erhebungsdaten zu den durchschnittlichen Nutzungspräferenzen der deutschen Onliner unterstreichen diesen Eindruck: Noch immer bestehen die Kernfunktionen des Netzes im Versenden von E-Mails und in der Nutzung von Suchmaschinen. Die neuen netzwerkkommuni142
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
kativen Möglichkeiten haben sich bislang bevölkerungsweit kaum institutionalisiert. Ausnahmen bilden Videoportale und die freie Enzyklopädie Wikipedia, allerdings dient der Besuch von Videoportalen vordringlich der Unterhaltung und Wikipedia-Inhalte erreichen aufgrund ihrer punktuellen Abfrage normalerweise keine breite Aufmerksamkeit. Die PWC-Studie erhärtet zudem den Verdacht, dass in Communities und auf sozialen Plattformen wie Facebook hauptsächlich Individualkommunikation betrieben wird. Das Alexa-Ranking der meist besuchten Seiten in Deutschland gibt schließlich der Vermutung weitere Nahrung, dass der Zugriff auf kleinere Inhaltsanbieter für die Bevölkerungsmehrheit zumindest im tagesaktuellen Bereich keine Rolle spielt. Aus Sicht unseres Modells ergibt sich folgende Begründung für die bislang nicht vorhandene übergreifende Institutionalisierung der erweiterten Selektions- und Publikationsmöglichkeiten: Im Allgemeinen können sich Innovationen bevölkerungsweit nur durchsetzen, falls sie eine hohe Anschlussfähigkeit an die Sinnaktualisierungen vieler psychischer Systeme erlangen. Da diese Sinnaktualisierungen auf den sozialisierten kommunikativen Inputs aufbauen, müssen vorhandene Strukturen freilich in den meisten Fällen zunächst an Orientierungskraft einbüßen, bevor sich Innovationen verbreiten können. Das soziale System der Massenmedien ist ein Beispiel für solche wir-zentrierten kommunikativen Strukturen: Sie erfüllen die Funktion, fortlaufend eine komplexitätsreduzierte Gegenwartsbeschreibung zu generieren, die in der Kommunikation Orientierung bieten kann, und selektieren ihre Umwelt ausgerichtet an einer komplexitätsreduzierten ›Gegenwart‹, die sie selbst konstruiert haben, weshalb primär dazu passende Inhalte verstärkt werden. Aus intellektueller Perspektive wurde diese ›Nivellierung der Wirklichkeit‹ oftmals kritisiert und mit den neuen kommunikativen Möglichkeiten im Web scheint nun in der Hoffnung vieler Visionäre der Informationsgesellschaft ein Ausweg aus diesem massenmedialen Dilemma gegeben. Aus der Diskussion heraus gekürzt wird jedoch gerne die Frage, warum eine derartige Reorganisation des medialen Rezeptionsverhaltens für die Bevölkerungsmehrheit überhaupt sinnvoll sein sollte: Der Mensch hat sich den Massenmedien nicht aus Bequemlichkeit unterworfen, sondern weil diese beständig Selektions- und Bewertungsleistungen erbringen und so einen komplexitätsreduzierten gesellschaftsweit verbreiteten Überblick schaffen, an denen der Einzelne seine Sinnaktualisierungen und seine Kommunikation ausrichten kann. Dazu kommt, dass die kognitiven Kapazitäten der psychischen bzw. sozialen Systeme keineswegs ausreichen, diesen Überblick auf allgemeiner Ebene selbst zu erlangen. Aus unserer Sicht bedienen die Massenmedien nach wie vor diese Orientierungserwartungen, andernfalls würde ihnen durch die 143
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Akteure sukzessive das Vertrauen entzogen. Bisher spricht allerdings wenig dafür, dass das Gros der Bevölkerung in Zukunft ein erhöhtes Zeitbudget dafür aufwenden würde, angesichts der erweiterten Rezeptions- und Selektionsmöglichkeiten im Netz auf die Massenmedien als selektive Verstärker zu verzichten.
Altersgruppen Nachdem wir die Nutzungspräferenzen der Gesamtbevölkerung betrachtet haben, erfolgt nun deren Aufsplitterung nach Altersgruppen. Nicht selten wird diesbezüglich unterstellt, dass jüngere Bevölkerungsteile gegenüber Innovationen aufgeschlossener seien als ältere Menschen. Aus unserer Perspektive kann diese Vermutung geteilt werden, da angenommen wird, dass psychische Systeme in ihrer Ontogenese zunehmend in die Funktionszusammenhänge sozialer Systeme eingebunden werden und insofern über stetig schmalere kognitive und zeitliche Ressourcen verfügen, um Neuentwicklungen zu testen. Darüber hinaus wird vermutet, dass sich die Realitätsmodelle der Akteure mit zunehmendem Alter verfestigen, so dass innovative Sinnangebote höhere Mehrwerte bieten müssen, um Integrationschancen zu erhalten. Diese Annahmen implizieren, dass sich Weblogs, Podcasts oder Online-Communities nicht unbedingt langfristig institutionalisieren müssen, nur weil sie derzeit hohe Durchdringungswerte bei jüngeren Menschen erreichen.
Online-Durchdringung Aufgeschlüsselt nach Alter zeigen die Ergebnisse aller verwendeten Erhebungen, dass bei den 14- bis 19-Jährigen in der BRD nahezu eine Online-Volldurchdringung vorliegt (Tab. 10): Nach AGOF und ARD/ZDFOnlinestudie nutzten 2010 bzw. 2009 ca. 97% der Jugendlichen gelegentlich das Internet, die ACTA 2009 schätzte die Durchdringung in dieser Altersgruppe auf 89%. Die Werte für die 20- bis 29-Jährigen lagen für 2009 nur knapp darunter, allerdings mit einer leichten Steigerung zu 2007. In den höheren Altersgruppen nimmt die Online-Penetration weiter ab, aber noch über 60% der 50- bis 59-Jährigen nutzten das Web gelegentlich. In der Altersgruppe 60+ ermittelten ARD/ZDF und AGOF für 2010/2009 jedoch nur noch eine Online-Durchdringung von unter 30%. Die hohen Werte für die jüngeren Bevölkerungsgruppen lassen die Vermutung zu, dass der Zugang zum Web dato nicht mehr primär an ein spezifisches Bildungs- oder Einkommensniveau gekoppelt ist, sondern die Online-Nutzung hauptsächlich eine Frage des Alters ist. 144
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Tabelle 10: Online-Durchdringung nach Alter Altersgruppe
AGOF 1Q/2008
AGOF 1/2010
ARD/ZDF 2006
ARD/ZDF 2009
ACTA 2007
ACTA 2009
14-19 Jahre
96,6%
97,1 %
97,3%
97,5%
85,0%
20-29 Jahre
93,9%
94,8 %
87,3%
95,2%
82,0%
30- 39 Jahre
87,0%
90,3 %
80,6%
89,4%
80,0%
40- 49 Jahre
77,4%
82,4 %
72,0%
80,2%
73,0%
50- 59 Jahre
61,8%
67,4 %
60,0%
67,4%
60,0%
68,0%
60+
25,0%
28,8 %
20,3%
27,1%
41% (60-64 J.)
55% (60-64 J.)
89,0%
80,0%
Quellen: AGOF, ARD/ZDF, ACTA Dieser Eindruck wird durch die soziodemographische Aufschlüsselung der Onliner durch die AGOF (4Q/2009) bestätigt: Zwar sind Personen mit einem hohem Bildungsabschluss und Einkommen leicht überrepräsentiert, die größten Differenzen zwischen den Anteilen in der Gesamtbevölkerung und in der Gesamtheit der Onliner sind mithin zwischen den Altersgruppen beobachtbar: So sind 30% der deutschen Onliner 14 bis 29 Jahre alt, obwohl sie nur 21% der Bevölkerung stellen, und der Anteil der über 60-Jährigen unter den Onlinern beträgt lediglich 12%, obwohl knapp 30% der Bevölkerung in diese Alterskategorie fallen. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen spiegeln sich auch in den Daten der ARD/ZDF-Onlinestudie zur täglichen Verweildauer im Internet wider: Während die tägliche Nutzungsdauer bei voller Aufmerksamkeit für den Onliner-Durchschnitt 2008 bei ca. einer Stunde lag, wurde die Verweildauer, d.h. die Zeit, in der eine Online-Verbindung besteht, 2009 auf 136 Minuten täglich geschätzt. Die 30- bis 49-Jährigen entsprachen diesem Wert seit 2005 treffsicher, die 14- bis 29-Jährigen hingegen blieben 2009 täglich 44 Minuten länger im Netz. Die Altersgruppe 50+ blieben dagegen ca. 39 Minuten kürzer online (Abb. 21, nächste Seite). Wir können also resümieren, dass sowohl die OnlinePenetration als auch die Verweildauer stark nach Altersgruppen variiert.
145
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Abbildung 21: Tägliche Verweildauer im Web in Minuten
Quelle: ARD/ZDF 2005-2009
Nutzungspräferenzen Analog zur Gesamtbevölkerung werden nun die Nutzungspräferenzen der einzelnen Altersgruppen einer Betrachtung unterzogen. Dabei fällt zunächst auf, dass der informative Charakter des Web zwar für den Bevölkerungsdurchschnitt im Vordergrund steht, nicht aber für die 14- bis 19-jährigen Intensivnutzer des Internets (Tab. 11). Tabelle 11: Fokus der Internetaktivitäten nach Altersgruppen TOTAL
14-19 J.
20-29 J.
30-49 J.
50+
überwiegend Information
62%
18%
42%
65%
83%
überwiegend Unterhaltung
19%
58%
30%
13%
8%
sowohl als auch
18%
24%
28%
22%
10%
Quelle: ARD/ZDF 2008 Für 58% dieser jungen Nutzer stand die Unterhaltung im Zentrum ihrer Web-Erfahrungen und nur 18% gaben an, überwiegend an Information interessiert zu sein. Die Mehrheit aller Befragten über 30 Jahren hingegen war primär an Information interessiert. Diese jugendliche Affinität zu Unterhaltungsangeboten ist in unserem Kontext von besonderer Bedeutung, da junge Nutzer laut der ACTA 2007 überdurchschnittlich häufig netzwerkkommunikative Möglichkeiten nutzten (Abb. 22): Während 146
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
die 14- bis 19-Jährigen in der Kategorie »Videos einstellen« beispielsweise einen Indexwert von 381 erreichten und die 20- bis 29-Jährigen noch überproportional vertreten waren, unterschritten schon die 30- bis 39-Jährigen den Indexwert 100 deutlich. Abbildung 22: Altersgebundenheit von Web-Aktivitäten (Index)
Quelle: ACTA 2007. Internetnutzer 14-64 Jahre BRD (n=10369). Diese Altersgebundenheit wird durch die Ergebnisse der ARD/ZDFOnlinestudie 2009 bestätigt (Tab. 12, nächste Seite): Während Suchmaschinen und E-Mail von 82% aller Onliner verwendet werden, werden Foren oder Newsgroups, Instant Messaging und private Communities zwar in einem vergleichbaren Maße durch die 14- bis 19-Jährigen genutzt, alle anderen Altersgruppen nutzen diese Angebote aber weniger intensiv. Ausnahmen bilden Videoportale wie Youtube oder die freie Enzyklopädie Wikipedia: Auch diese Angebote erleben einen Nutzungsabfall in Richtung der älteren Onliner, allerdings nutzen noch über die Hälfte der 30- bis 49-Jährigen diese Angebote mindestens gelegentlich. Dass aber die gelegentliche Rezeption dieser Angebote nicht mit Veröffentlichungsaktivitäten auf diesen Plattformen gleichzusetzen ist, zeigen die Ergebnisse der ACTA 2008, die mit den »Web-Aktivisten« eine Kategorie umreißt, deren Größe mit 18% der Onlinergemeinde angegeben wird und der Personen zugeordnet wurden, die vier der folgenden Publikationsformen schon einmal praktiziert haben: Forenbeiträge schreiben, Fotos publizieren, Produktkritiken, eigene Website erstellen, Kommentare in Blogs, Medienkritiken, Profile in Communities, eigenes Blog pflegen, Videopublikation und Lexikonbeiträge bearbeiten.
147
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Tabelle 12: Internetaktivitäten nach Altersgruppen 2009 »wöchentlich«
TOTAL
14-19 J.
20-29 J.
30-49 J.
50+
Suchmaschinen nutzen
82%
90%
91%
81%
74%
E-Mail
82%
85%
88%
80%
80%
Instant Messaging
30%
80%
65%
15%
10%
Foren, Newsgroups, Chats
25%
76%
47%
13%
7%
Onlinespiele
17%
30%
28%
13%
10%
Shopping
8%
3%
14%
8%
5%
Internetradio
12%
23%
15%
11%
8%
Internet-TV
6%
11%
11%
5%
3%
Podcasts (Audio/Video)
2%
5%
5%
1%
1%
Videoportale
52%
93%
79%
50%
19%
Wikipedia
65%
94%
77%
66%
45%
Fotosammlungen
25%
42%
41%
19%
17%
Lesezeichensammlungen
4%
9%
6%
3%
2%
private Communities
34%
81%
67%
21%
10%
Weblogs
8%
12%
16%
7%
2%
Quelle: ARD/ZDF 2009. Online ab 14 Jahre (2009: n=1212) Abbildung 23: Web-Aktivisten in den Altersgruppen (Index)
Quelle: ACTA 2008. Bevölkerung BRD 14- 64 (n=10.012, Onliner) 148
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
In der Segmentierung dieser Kategorie nach Geschlecht, Alter und Bildungsgrad zeigt sich, dass Männer und höhere Bildungsmilieus leicht dominieren, aber nicht in dem Maße überrepräsentiert sind wie die jungen Altersgruppen (Abb. 23): Die Internetnutzer zwischen 14 und 19 Jahren weisen einen Indexwert auf, der 95 Punkte über dem Durchschnitt (100) liegt, die 20- bis 29-Jährigen erreichen noch einen Indexwert von 156. Die Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren nähert sich dem Bevölkerungsdurchschnitt an. Die Altersgruppen über 40 Jahren unterschreiten diesen schon um über 40 Indexpunkte. Zwar sind auch Frauen sowie niedrige Bildungsmilieus bei den Web-Aktivisten leicht unterrepräsentiert, allerdings fallen diese Abweichungen verglichen zu der Dominanz der jungen Altersgruppen eher gering aus. Daraus lässt sich schließen, dass das Interesse der älteren Onliner an der Publikation in Blogs, Podcasts oder Open-Content-Plattformen begrenzt ist. Eine Abfrage dieses Interesses durch die ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 bestätigt diesen Eindruck: 75% der über 40-Jährigen und 60% der 20- bis 39-Jährigen interessieren sich kaum dafür, im Internet aktiv zu publizieren. Im Falle der 14- bis 19-Jährigen sind hingegen knapp 60% daran interessiert, Inhalte im Web zu publizieren und bei den 20- bis 29Jährigen immerhin noch 45%. Deutsche Internetnutzer über 40 Jahren sind hingegen nur in geringem Maße von den neuen Publikationsmöglichkeiten fasziniert. Anhand der Ergebnisse der ACTA und der ARD/ ZDF-Onlinestudie können wir folglich resümieren, dass die netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web überdurchschnittlich von der unterhaltungsorientierten Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen genutzt werden. Die erweiterten Selektions- und Publikationsmöglichkeiten werden von den 20 bis 29-Jährigen weit weniger intensiv in Anspruch genommen und die älteren Teile der Bevölkerung sind kaum daran interessiert, aktiv Beiträge zu erstellen bzw. zu selektieren.
Bewertung Schon in den Betrachtungen zur Onlinepenetration in den Altersgruppen wurde deutlich, dass die Online-Medien durch die jüngeren Altersgruppen bis 29 Jahre intensiver genutzt werden als durch die älteren Teile der Bevölkerung. Dass dies nicht darauf zurückzuführen ist, dass Medien im Allgemeinen eingehender durch junge Menschen genutzt würden, zeigt ein Vergleich der Zeitbudgets für audiovisuelle Medien (ARD intern: 2009): Mit ihrem täglichen Radio- bzw. TV-Konsum (128 bzw. 157 Minuten) liegen die 14- bis 29-Jährigen 2009 deutlich unter dem Bevölkerungsmittel (Radio: 177 Minuten; TV: 193 Minuten). Es steht daher zu vermuten, dass Online-Aktivitäten gegenüber der klassischen 149
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Medienrezeption höhere kognitive bzw. zeitliche Ressourcen einfordern, welche die über 30-Jährigen nicht mehr aufbringen wollen oder können. Eine Studie des Statistischen Bundesamtes zur Zeitverwendung der Deutschen (Weick 2004) zeigt denn auch eindrücklich, wie sich die Zeitkoordinaten mit dem Lebensalter verschieben (Abb. 24): Während bis Mitte 20 das Zeitbudget für Konsum/Freizeit gegenüber anderen Anteilen überwiegt, tritt in den mittleren Altersgruppen die Erwerbsarbeit bzw. Hausarbeit in den Vordergrund und nur noch ein Drittel der Wachzeit am Tag wird für Konsum/Freizeit aufgewendet. Wenn wir berücksichtigen, dass in diese Kategorie auch die Entspannung nach einem Arbeitstag fällt, wird verständlich, warum in diesen Altersgruppen die passive Medienrezeption der aktiven Selektion im Web vorgezogen wird. Ältere Menschen ab 60 Jahren hingegen haben durchaus wieder mehr freie Zeit zur Verfügung, nutzen das Web aber weitaus weniger als alle anderen Altersgruppen. Dass dies nicht an der mangelnden geistigen Agilität der Senioren liegen kann, zeigt der europäische Vergleich: Laut Eurostat (2009) gingen 2009 in der BRD 30% der 65- bis 74-Jährigen mindestens einmal in der Woche online, in Norwegen hingegen wurden Werte um die 60% in dieser Alterskategorie gemessen, während etwa in Griechenland oder Italien unter 10% der älteren Menschen das Internet nutzten. Es kann also durchaus vermutet werden, dass die älteren Bevölkerungsgruppen in diesen Ländern unterschiedlich sozialisiert wurden, d.h. nicht in dem selben Maße die kommunikativen Inputs erhalten haben, die einen Online-Aufenthalt sinnvoll erscheinen ließen. Der allgemeine Eindruck, dass die Online-Affinität in der BRD mit steigendem Lebensalter merklich abnimmt, schreibt sich hinsichtlich der neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Internet fort: Communities, Foren, Newsgroups, Chats und nutzergenerierte Inhaltsangebote werden hauptsächlich von den unter 30-Jährigen genutzt. Ältere Onliner nutzen das Internet dagegen primär für die SuchmaschinenRecherche, die Individualkommunikation (E-Mail) sowie für den Abruf von Service-Informationen. Mit Ausnahme der Altersgruppen ab 60 Jahren gehen diese Verteilungen mit dem Anteil des täglichen freien Zeitbudgets einher, was die Vermutung unterstreicht, dass das Interesse an der aktiven Selektion bzw. Publikation im Web mit zunehmender Eingebundenheit in funktionale Zusammenhänge abnimmt und insofern kein generationsspezifisches, sondern ein altersgebundenes Phänomen ist. Der geringe Anteil von aktiven Onlinern ab 60 Jahren lässt sich hingegen mit einer zunehmenden Verfestigung der Realitätsannahmen erklären, wodurch ein höheres Maß an kommunikativen Inputs notwendig wird, die eine Partizipation sinnvoll erscheinen lassen (vgl. EZM 2005).
150
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Neben dem geringen Interesse am Web 2.0 bei älteren Bevölkerungsteilen zeigt sich aber auch bei jüngeren Altersgruppen, dass primär Angebote genutzt werden, die der Individualkommunikation bzw. der Unterhaltung dienen. Blogs und Podcasts, die am ehesten als Knotenpunkte für die tagesaktuelle Publikation eingestuft werden könnten, werden hingegen von keiner Altersgruppe intensiv rezipiert. Abbildung 24: Zeitbudgets nach Altersgruppen (Minuten/Werktag)
Quelle: Weick 2004: 414 (modifiziert)
151
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Soziale Milieus Nach der Betrachtung der Präferenzen in den Altersgruppen erfolgt nun die Aufschlüsselung nach sozialen Milieus. Diese Typologie erscheint kontingent wie alle Klassifikationen, allerdings hat sie sich seit den 1980er Jahren in der Marktforschung durchgesetzt, da sich durch die Erfassung der sozialen Lage und der Grundorientierung Zielgruppen relativ exakt bestimmen lassen. Für uns bieten Milieus eine Möglichkeit zu klären, mit welchen Orientierungen eine Affinität zum Web 2.0 verbunden ist. Es wird vermutet, dass sich primär Milieus mit einem hohen freien Zeitbudget für User Generated Content interessieren. Abbildung 25: Sinus-Milieus in der BRD 2007 (2009, falls abweichend)
Quelle: Sinus Sociovision 2007/2009 Das in der BRD bekannteste Modell sozialer Milieus wird von »Sinus Sociovision« zur Verfügung gestellt: Sinus-Milieus werden über ein Positionierungsraster voneinander abgegrenzt, wobei die Abszisse die soziale Lage und die Ordinate die Grundorientierung abbildet. Je höher ein Milieu in diesem Koordinatensystem verortet wird, desto höher ist das Niveau von Einkommen, Bildung und Berufsgruppe. Je weiter rechts es positioniert wird, desto mehr nimmt die Bedeutung von traditionellen gegenüber postmodernen Orientierungen ab. Dabei handelt es sich um überlappende Sphären der Identitätsbildung (Abb. 25).
152
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Die Sinus-Milieus lassen sich in vier Gruppen unterteilen (SevenOne Media 2007): Gesellschaftliche Leitmilieus (Etablierte, Postmaterielle, Moderne Performer), traditionelle Milieus (Konservative, Traditionelle, DDR-Nostalgische), Mainstream-Milieus (Bürgerliche Mitte, Materialisten) sowie hedonistische Milieus (Experimentalisten, Hedonisten): • Die Etablierten beschreiben die gut situierte, gebildete und selbstbewusste Elite der Gesellschaft. Eine pragmatische Lebensphilosophie und ein hoher Lebensstandard sind ihre Kennzeichen. Ihr Medienkonsum ist selektiv. Typische Vertreter sind leitende Angestellte, Beamte und Freiberufler zwischen 40 und 60 Jahren. • Die Postmaterialisten zeichnen sich durch eine liberale Grundhaltung, eine hervorragende Ausbildung und Aufgeschlossenheit gegenüber Luxus aus. Typische Vertreter sind qualifizierte Angestellte, Beamte, Freiberufler, aber auch Schüler und Studierende aller Altersgruppen. Sie konzentrieren sich in ihrer Suche nach Information und anspruchsvoller Unterhaltung auf öffentlich-rechtliche Sender. Die Modernen Performer beschreiben mit einem Schwerpunkt unter • 30 Jahren die junge Leistungselite (Studierende, Selbstständige, leitende Angestellte). Sie führen ein intensives Leben mit hohem beruflichen Ehrgeiz. Konsum spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Sie konzentrieren sich in ihrem Medienkonsum auf Unterhaltung. • Die Konservativen sind die Repräsentanten des alten deutschen Bildungsbürgertums mit einem humanistischen Pflichtethos und Skepsis gegenüber Technisierung. Ihr Altersschwerpunkt liegt über 60 Jahren mit gehobenem Einkommen. Im Zentrum ihres Medienkonsums stehen die konservative Presse und Bildungsfernsehen. • Die Traditionsverwurzelten gehören zu der sicherheitsliebenden Nachkriegsgeneration. Sie sind zumeist über 65 Jahre alt, verfügen über einen Hauptschulabschluss und kleinere bis mittlere Einkommen. Ihr Medienkonsum ist hoch und konzentriert sich auf Ratgeberund Volksmusiksendungen sowie klassische Serien und Filme. • Die DDR-Nostalgischen umschreiben die Verlierer der Wende. Ein typischer Vertreter ist über 50 Jahre alt, zählte zu den Führungskadern der DDR, ist heute aber oft arbeitslos. Gelesen werden Unterhaltungs- und Ratgebermagazine. Ihr TV-Konsum ist hoch. • Die bürgerliche Mitte umschreibt den statusorientierten Mainstream, der in gesicherten und harmonischen Verhältnissen leben will. Das Milieu bewegt sich zwischen 30 und 60 Jahren und zeichnet sich durch mittlere Berufspositionen, Einkommen und Bildungsabschlüsse aus. Ihr TV-Konsum ist in allen Belangen durchschnittlich.
153
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
•
•
•
Obwohl Konsum-Materialisten häufig wenig verdienen, lieben sie prestigeträchtigen Konsum. Die Angst, dauerhaft zur Verliererseite der Gesellschaft zu gehören, wächst jedoch. Kennzeichen sind eine breite Altersstreuung, ein niedriger Schulabschluss und niedrige Einkommen. Gelesen werden Unterhaltungs-, Sport- und Erotikmagazine, angesehen werden private Unterhaltungsangebote. Die Hedonisten sind die fleischgewordene Erlebnisgesellschaft: Bedürfnisbefriedigung stehen im Zentrum ihres Interesses. Ihr Altersschwerpunkt liegt unter 30 Jahren, sie verfügen oft über keine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen höheren Bildungsabschluss. Sie lesen ähnliche Zeitschriften wie die Konsum-Materialisten, ihr TV-Konsum bewegt sich auf Durchschnittsniveau. Die Experimentalisten sind offen gegenüber anderen Lebensformen und sehen sich als moderne Boheme mit kritischem Einschlag. Typische Vertreter sind unter 35 Jahre alt und oft ohne festes Einkommen. Ihr Medienkonsum ist unterdurchschnittlich.
Selbstverständlich bleiben diese Typisierungen Einordnungskonstrukte, gerade aber die Sinus-Milieus werden durch die regelmäßige Einschaltung ihrer Indikatoren in große Repräsentativerhebungen beständig aktualisiert. Anhand dieses Modells wird nun das Online-Verhalten der einzelnen Milieus betrachtet. Grundlage dafür ist die »Typologie der Wünsche Intermedia« (Schenk et al. 2008).
Online-Durchdringung Die »TdWI« diagnostiziert für 2007 eine übergreifende Online-Nutzung von 49% (Abb. 26). Auch für 2010 (TdWI 2010 II) wird mit 50,1% ein ähnlicher Durchdringungswert angenommen. Dieser relativ niedrige Wert liegt darin begründet, dass nicht der grundsätzliche Zugang zum Web, sondern die tatsächliche private Online-Nutzung abgefragt wurde. Für die einzelnen Milieus wurden folgende Verteilungen ermittelt: Die Modernen Performer als die junge Leistungselite nutzten zu 88% das Internet, die Postmaterialisten ohne Altersschwerpunkt griffen zu 75% auf das Netz zu, die wohl situierten Etablierten mittleren Alters gingen zu 69% online und die Experimentalisten wählten sich zu 68% ein. Mit 60% ebenfalls überdurchschnittlich nutzten die jungen Hedonisten das Internet. Die Bürgerliche Mitte und die Konsum-Materialisten nutzen das Netz bereits unterdurchschnittlich. Auf extrem niedrigem Niveau verharren die DDR-Nostalgischen (21%) und die Traditionsverwurzelten (8%). Der ›Digital Divide‹ tritt bei der Differenzierung der nach Sinus-Milieus also noch deutlicher hervor als nach Altersgruppen. 154
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Abbildung 26: Online-Nutzung innerhalb der Sinus-Milieus
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Wenn wir diese Nutzungsdaten nach der Häufigkeit des Zugriffs der Onliner aufsplittern, setzt sich diese digitale Spaltung fort (Abb. 27): Die Leitmilieus und hedonistischen Milieus gingen laut »TdWI« deutlich häufiger ins Netz als die Traditions- und Mainstream-Milieus. Abbildung 27: Nutzungsfrequenzen der Onliner in den Milieus
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 155
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Immerhin 91% der Onliner aller Milieus gingen mindestens einmal die Woche online, wobei Postmaterialisten, Etablierte, Experimentalisten und Hedonisten diesen Wert überschritten (92-94%). Spitzenreiter blieben die Modernen Performer mit einem Anteil von 97%. All diese Milieus weisen zudem einen hohen Anteil an Befragten auf, die das Web zumindest mehrmals in der Woche nutzen (84-90%). In den Milieus der Bürgerlichen Mitte, der Konsum-Materialisten und der Konservativen nutzten hingegen nur noch 73-77% der Onliner das Web mehrmals pro Woche, DDR-Nostalgische und Traditionsverwurzelte nutzten das Web sogar nur noch zu 70 bzw. 49% mehrmals in der Woche. Die geringe Nutzungsfrequenz in diesen fünf Milieus, denen immerhin 51% der Bevölkerung zugeordnet werden, hat nach unserer Übersicht vordringlich zwei Gründe: Einerseits werden die kommunikativen Möglichkeiten im Web in den Milieus kaum thematisiert, andererseits liegen vermutlich von vornherein eingeschränkte Nutzungsinteressen vor, die keine regelmäßige Konsultation notwendig werden lassen. Es lohnt sich also, die Nutzungsinteressen der Onliner in den sozialen Milieus zu betrachten.
Nutzungspräferenzen In der »TdWI« wurden neben der Online-Affinität auch die konkreten Online-Aktivitäten bzw. -Interessen abgefragt. Diese werden hier nach Schenk/Wolf et al. (2008: 58) in folgende Kategorien1 unterteilt: • Online-Banking • News und Informationen • Individualkommunikation • Serviceinformationen (z.B. Fahrplanauskunft, Veranstaltungen) • Games und Entertainment • Shopping • PC und Web (z.B. Software Updates, Testberichte) • User Generated Content (z.B. Blogs, Podcasting, Communities) Das Milieu der Modernen Performer (10% der Bevölkerung) weist mit 88% die höchste Online-Durchdringung auf, wobei 90% der Onliner in diesem Milieu mehrmals die Woche online gehen. Diese hohe WebAffinität spiegelt sich in einem überdurchschnittlichen Interesse an allen indexierten Kategorien wieder: Insbesondere die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten, computernahe Themen und Spiele sowie Entertainment genießen einen hohen Zulauf (Abb. 28).
1
Die Bezeichnungen der Kategorien wurden teilweise angepasst.
156
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Abbildung 28: Onliner-Interessen im Milieu der Modernen Performer
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Das Milieu der weltoffenen Postmaterialisten (10% der Bevölkerung) weist ebenfalls eine hohe Online-Durchdringung und Zugriffsfrequenz auf: Von den 75% Onlinern in diesem Milieu greifen 84% mehrmals die Woche auf das Netz zu. Die Online-Interessen dieser altersunspezifischen Bevölkerungsgruppe unterscheiden sich allerdings trotz eines vergleichbaren Bildungsniveaus ganz erheblich von den Online-Interessen der Modernen Performer (Abb. 29). Abbildung 29: Interessen der Onliner im Milieu der Postmaterialisten
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Das Interesse der Postmaterialisten ist gegenüber Nachrichten, Serviceinformationen, Individualkommunikation und Banking leicht überdurchschnittlich. Für Spiele oder Entertainment interessieren sie sich dagegen 157
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
wenig. Gleiches gilt für computernahe Themen oder nutzergenerierte Inhalte. Überraschenderweise erreichen die Postmaterialisten aber bei Shopping-Angeboten immerhin einen durchschnittlichen Wert. Die jungen Experimentalisten (8% der Bevölkerung), die sich in ihrer sozialen Lage unterhalb der modernen Performer und der Postmaterialisten einordnen, aber ähnliche Grundwerte teilen, weisen zwar eine geringere Online-Penetration als die Postmaterialisten auf, die Frequenz der Internet-Nutzung in diesem Milieu bewegt sich allerdings auf einem ähnlichen Niveau wie bei den Modernen Performern. Weitaus eindeutiger gegenüber anderen Interessen tritt in dem Milieu der Experimentalisten allerdings ihre Affinität zu Spielen und Entertainment sowie ihr Interesse an User Generated Content hervor: Der diesbezügliche Indexwert von 170 liegt über allen anderen sozialen Milieus (Abb. 30). Abbildung 30: Interessen der Onliner im Milieu der Experimentalisten
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Die Bürgerlichen Mitte bildet mit 15% Gesamtbevölkerungsanteil das größte Sinus-Milieu und lässt sich als statusorientierter Mainstream charakterisieren. Die Internet-Penetration liegt in dieser Bevölkerungsgruppe laut »TdWI« bei 40%, jedoch mit stetig steigender Tendenz. Das WWW wird von der Bürgerlichen Mitte primär für den Abruf von Serviceinformationen sowie News und Hintergrundinformationen verwendet. Ebenfalls durchschnittliche Indexwerte erreichen die Themenbereiche Shopping, Online-Banking und Individualkommunikation. Für Spiele, Entertainment oder computernahe Themen interessieren sich die Befragten aus diesem Milieu unterdurchschnittlich und nutzergenerierte Inhalte spielen praktisch überhaupt keine Rolle (Abb. 31).
158
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Abbildung 31: Interessen der Onliner im Milieu der Bürgerlichen Mitte
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Die relativ finanzschwachen Konsum-Materialisten ähneln der Bürgerlichen Mitte in ihrer geringen Online-Penetration, ihrer Nutzungsfrequenz und in ihren Interessen: Einzig Online-Shopping ist für dieses Milieu von deutlich geringerem Interesse, dafür liegt die Nutzung von Games und Entertainment auf einem leicht überdurchschnittlichen Niveau. Abbildung 32: Interessen der Komsum-Materialisten
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Das Milieu der Etablierten (10% der Bevölkerung) weist mit 69% eine relativ hohe Online-Durchdringung auf, wobei fast alle Onliner Interesse am Online-Banking aufbringen. Zum Abruf von Nachrichten und zu individualkommunikativen Zwecken wird das Web durchschnittlich genutzt. Auf User Generated Content wird seltener zugegriffen (Abb. 33). 159
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Abbildung 33: Interessen der Onliner im Milieu der Etablierten
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008 Das Milieu der Hedonisten hingegen ist in seiner Lebensführung deutlich experimenteller orientiert als die gerade betrachteten Bevölkerungsgruppen und weist mit 60% eine deutlich höhere Online-Penetration auf, wobei knapp 90% der Befragten mehrmals die Woche im Netz unterwegs sind. Weit überdurchschnittlich ist dabei das Interesse für Spiele und Entertainment sowie User Generated Content, aber auch computernahe Themen werden häufig konsultiert. Auf durchschnittliches Interesse stoßen die Möglichkeiten zur Individualkommunikation, Shoppingsowie Nachrichtenangebote. Unterdurchschnittlich ist die Neigung zum Online-Banking sowie zum Abruf von Serviceinformationen (Abb. 34). Abbildung 34: Interessen der Onliner im Milieu der Hedonisten
Quelle: modifiziert Schenk et al. 2008
160
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
In den Milieus der Konservativen, DDR-Nostalgischen und Traditionsverwurzelten besitzen nur wenige Befragte einen Internetanschluss und nutzen das Netz relativ selten (10% täglich, 55% mehrmals/Woche), was sich auch mit den hohen Altersschwerpunkten dieser Milieus begründen lässt. Immerhin durchschnittlich ausgeprägt sind die Nutzungsinteressen hinsichtlich Shopping-, News- und Individualkommunikationsangeboten. Entertainment und Spiele erfahren eine erhöhte Ablehnung. User Generated Content spielt in diesen Milieus praktisch keine Rolle. Es kann also resümiert werden, dass sich die Modernen Performer, Experimentalisten und Hedonisten stark für User Generated Content (Blogs, Podcasting, Communities) interessieren (163-170 Indexpunkte) und die Etablierten gerade noch ein durchschnittliches Interesse gegenüber diesen Angeboten aufbringen (96 Punkte). Alle anderen sozialen Milieus hingegen interessieren sich kaum für die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im World Wide Web.
Bewertung Nach der Betrachtung der Nutzungspräferenzen in den Altersgruppen wurden in diesem Kapitel die Online-Interessen der sozialen Milieus fokussiert. Dabei wurde feststellt, dass die Online-Durchdringung als auch die Nutzungsfrequenz in den einzelnen Milieus stark variiert: Die traditionellen Milieus stehen dem Web sehr distanziert gegenüber, eine hohe Affinität weisen hingegen alle Milieus der ›Neuorientierung‹ sowie die Postmaterialisten und Etablierten auf. Wie anhand der »TdWI« gezeigt wurde, ist eine Affinität zum Web jedoch noch nicht mit einem hohen Interesse an den neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten gleichzusetzen: Während das Interesse an User Generated Content in den Milieus mit geringer Online-Durchdringung erwartungsgemäß schmal bleibt, zeigen auch die Postmaterialisten und die Etablierten kaum Präferenzen zu nutzergenerierten Inhalten. Interessiert zeigen sich hingegen die Modernen Performer, Experimentalisten und Hedonisten, also allesamt Milieus, die als äußerst offen gegenüber Innovationen und technischen Neuerungen beschrieben werden. Somit verfestigt sich die Annahme, dass vordringlich junge Nutzer an den erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten im Netz interessiert sind: Der Altersschwerpunkt liegt bei den Modernen Performern, Experimentalisten als auch bei den Hedonisten unter 35 Jahren. Die soziale Lage fällt hingegen kaum ins Gewicht (Tab. 13, nächste Seite).
161
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Tabelle 13: Interesse an User Generated Content (UGC) nach Milieus Sinus-Milieu
Alter
Schicht
Werte
Interesse UGC
Moderne Performer
< 30
Ober-/Mittel-
Mod./Neu.
stark über
Postmaterialisten
Streu.
Ober/Mittel-
Mod./Neu.
unter
Etablierte
40- 60
Ober/Mittel-
Trad./Mod.
Experimentalisten
< 35
Mittel-
Mod./Neu.
stark über
Hedonisten
< 30
UM/Unter-
Mod./Neu.
stark über
Bürgerliche Mitte
30- 60
Mittel-
Mod.
stark unter
Konsum-Materialisten
Streu.
UM/Unter-
Mod.
stark unter
Konservative
> 60
Ober/Mittel-
Trad.
stark unter
DDR-Nostalgische
> 50
Mittel/Unter-
Trad./Mod.
stark unter
Traditionsverwurzelte
> 65
Mitte-/Unter-
Trad./Mod.
stark unter
Quelle: Eigene Überlegungen Indifferenter erscheint die Datenlage jedoch hinsichtlich der Hypothese, dass das Interesse an Communities, Blogs und nutzergenerierten Inhalten mit einem hohen Budget an freier Zeit verbunden wäre: Während Experimentalisten und Hedonisten oft noch nicht im Berufsleben stehen und insofern durchaus ein hohes Budget an freier Zeit unterstellt werden kann, werden die Modernen Performer als die junge Leistungselite der BRD beschrieben, innerhalb der von hohen freien Zeitressourcen kaum die Rede sein kann. Ihr primär auf Entspannung ausgerichteter Medienkonsum ist jedoch bezogen auf die klassischen Rundfunkmedien stark unterdurchschnittlich, was zu der Vermutung führt, dass der passive Medienkonsum bis zu einem gewissen Grad durch die aktive Selektion und Publikation im Online-Nexus substituiert wurde. Zudem lässt sich annehmen, dass viele Moderne Performer beruflich ohnehin computervermittelt arbeiten und die rasch ausführbaren netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web parallel zu ihren Arbeitsaufgaben nutzen. Insgesamt unterstreicht die »TdWI« den Eindruck, dass sich die kristallisierten Grundüberzeugungen in den sozialen Milieus auf die Nutzungspräferenzen im Web auswirken, denn anderenfalls ließen sich die teilweise exorbitanten Differenzen zwischen den Indexwerten kaum erklären. Die soziale Lage scheint hingegen kaum eine Rolle zu spielen, wohl aber Progressivität, Technik-Affinität und ein junges Lebensalter. 162
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
Überblick: Nutzungsverhalten im Online-Nexus Unser Beobachtungsansatz spricht den Akteuren grundsätzlich ein hohes Veränderungspotential in der sozialen Realitätskonstruktion zu. Dementsprechend ließe sich im Horizont der brechtschen Radiotheorie zunächst durchaus vermuten, dass die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web einen stetig steigenden Zugriff erfahren würden, da diese in bislang ungekannter Effizienz wechselseitige Vernetzung und somit die Entwicklung und Verbreitung innovativer Inhalte ermöglichen. Anhand vielgerichteter Erhebungen lässt sich jedoch schnell feststellen, dass diese erweiterten Möglichkeiten im World Wide Web nur von einem Bruchteil der Onliner genutzt werden: Zwar bewegt sich die Online-Durchdringung in Deutschland mittlerweile bei weit über 65 %, aber schon die Abfrage allgemeiner Online-Kenntnisse zeigt, dass sich zwei Drittel der Bevölkerung lediglich auf einem niedrigen Kompetenzniveau bewegen. Dazu kommt, dass sich das Internet in seinem Stellenwert als tagesaktuelle Informationsquelle auch 2009 noch weit hinter Fernsehen, Zeitung oder Radio bewegt. Die Daten zu den durchschnittlichen Nutzungspräferenzen der Onliner bestätigen diesen Eindruck: Communities werden lediglich von einer Minderheit der befragten Onliner regelmäßig genutzt, Blogs oder Podcasts werden selten rezipiert und die neuen Publikationsmöglichkeiten werden nur hin und wieder wahrgenommen. Ausnahmen bilden Videoportale und die freie Enzyklopädie Wikipedia, die von rund 60% der Onliner mindestens gelegentlich aufgerufen werden. Es hat sich jedoch gezeigt, dass häufig abgerufene Videos zu einem Großteil Unterhaltungsbedürfnisse bedienen und einzelne Wikipedia-Artikel aufgrund ihres punktuellen Abrufs keine hohen Zugriffszahlen erreichen. Die Erhebungsdaten stützen also die Vermutung, dass die Massenmedien auch in Zukunft eine zentrale Position in der geteilten Gegenwartsbeschreibung einnehmen werden: Sie haben sich aus gutem Grund als selektive verstärkende Instanzen in einer zunehmend komplexeren Gesellschaft etabliert, denn anderenfalls unterlägen psychische wie soziale Systeme angesichts ihrer begrenzten kognitiven Ressourcen einem permanenten Zustand der Überforderung. Die Massenmedien könnten ihre Zentralstellung in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung jedoch verlieren, falls mehr und mehr Akteure auf funktionale Äquivalente umschwenken sollten, die effektiver Komplexität reduzieren können. Dies scheint aber bislang nicht der Fall zu sein. Trotzdem können einzelne Bevölkerungssegmente mit einem erhöhten Budget an freien kognitiven und zeitlichen Ressourcen durchaus eine Repriorisierung zugunsten der Netzwerkkommunikation im Web voll163
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
ziehen, was wiederum einen indirekten Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion nach sich zöge, da diese Aktivitäten auch die Umwelt der Massenmedien verändern. Um diese Gruppe der Webaktivisten einzugrenzen, wurden die Nutzungspräferenzen in den einzelnen Altersgruppen und sozialen Milieus betrachtet: • Altersgruppen: Das Web insgesamt wird in der BRD durch die jüngeren Teile der Bevölkerung deutlich intensiver genutzt als durch deren ältere Segmente. Auch die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten werden von den unter 30-Jährigen weitaus häufiger konsultiert als von älteren Onlinern, die das Web vordringlich für die Suchmaschinen-Recherche und den E-Mail-Verkehr nutzen. Bei den jüngeren Nutzern stehen Unterhaltungsinhalte bzw. individualkommunikative Plattformen im Fokus. Videoportale und Wikipedia werden von diesen zwar regelmäßig genutzt, jedoch werden auf diesen Plattformen kaum tagesaktuelle Nachrichten abgerufen. Blogs und Podcasts als Schaltstellen der tagesaktuellen Publikation erlangen auch bei jüngeren Nutzern nur geringe Rezeptionszahlen. • Soziale Milieus: Milieus mit traditionellen Werten stehen dem Web distanziert gegenüber, aber auch die Konsum-Materialisten oder die Bürgerliche Mitte zeigen eine geringe Online-Affinität. Eine hohen Anteil an Onlinern weisen hingegen die gut situierten Etablierten und Postmaterialisten sowie die experimentierfreudigen Milieus aller sozialen Lagen auf. Erwartungsgemäß hält sich das Interesse an nutzergenerierten Inhalten bei Milieus mit geringem Onliner-Anteil in Grenzen, aber auch die Postmaterialisten und Etablierten zeigen nur wenig Neigung zu netzwerkkommunikativen Angeboten. Die innovationsoffenen Hedonisten, Modernen Performer und Experimentalisten weisen hingegen ein weit überdurchschnittliches Interesse an User Generated Content auf. Die Affinität zu den neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten ist also bei den jüngeren Altersgruppen und in sozialen Milieus mit einem niedrigen Altersschwerpunkt deutlich höher als bei älteren Befragten. Der Annahme, dass ein hohes Budget an freier Zeit zu einer Präferenz zur aktiven Selektion und Publikation im Web führt, kann anhand dieser Erhebungsergebnisse weitgehend stattgegeben werden: Einerseits zeigen Statistiken zur Zeitverwendung, dass sich der Anteil für Konsum und Freizeit ab 25 Jahren merklich reduziert, andererseits fallen mit den Hedonisten und den Experimentalisten gleich zwei Milieus in die Kategorie der Webaktivisten, die einen hohen Anteil von Schülern, Studierenden bzw. Auszubildenden aufweisen. Eine Ausnahme bilden die Modernen Performer, denen als junge Leistungselite nur ein geringes Freizeitbud164
BEOBACHTBARES NUTZUNGSVERHALTEN IM WEB
get zugeschrieben werden kann, weshalb vermutet wird, dass diese angesichts ihres geringen Konsums klassischer massenmedialer Angebote tatsächlich eine Repriorisierung zugunsten der netzwerkkommunikativen Online-Angebote vorgenommen haben. Neben einem angemessenen Budget an freien zeitlichen Ressourcen scheint zudem die Offenheit gegenüber Innovationen ein wesentlicher Faktor zu sein, der zur intensiven Nutzung von Web 2.0-Angeboten führt. Die Akteure aus den Milieus mit einem hohen Interesse an User Generated Content sind mit der digitalen Technik aufgewachsen und müssen nicht mehr von der Sinnhaftigkeit solcher Innovationen überzeugt werden. Dies gilt nun gerade nicht für die Altersgruppen ab 60 Jahren, die zwar ebenfalls ein hohes Budget an freier Zeit aufweisen, aber aufgrund ihren langfristig kristallisierten Grundüberzeugungen deutlich mehr Schwierigkeiten damit haben dürften, sich auf neue Spielarten der Kommunikation einzulassen. Die ›early adopters‹ der neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Netz speisen sich also vordringlich aus den jüngeren Altersgruppen, wobei sich diese Verteilungen primär durch ein Mehr an freien kognitiven Ressourcen sowie einer Offenheit gegenüber technischen Innovationen erklären lassen. Der Übertrag dieser Präferenzen auf die zukünftige Gesamtbevölkerung wird hingegen als unangemessen eingestuft, da gerade die zeitlichen Ressourcen der mittleren Altersgruppen durch die Leistungserwartungen der funktionalen Zusammenhänge der Gesellschaft gebunden werden, und es für sie daher wenig Sinn macht, auf die Vorauswahl der Massenmedien zu verzichten. Aber selbst wenn eine bevölkerungsdurchdringende Repriorisierung zugunsten der aktiven Selektion und Publikation im Web stattfinden sollte, bleibt es angesichts der Nutzungsschwerpunkte der ›early adopters‹ unwahrscheinlich, dass dies einen intensiven Einfluss auf die geteilte Gegenwartsbeschreibung hätte: In Communities stehen nicht tagesaktuelle Informationen im Vordergrund, sondern der individualkommunikative Austausch, Videoportale werden hauptsächlich zu Unterhaltungszwecken aufgesucht, nutzergenerierte Inhalte im Allgemeinen haben oftmals nur Special-InterestCharakter und Weblogs wie Podcasts können selbst bei jüngeren Nutzern keine hohen Verbreitungszahlen erreichen.
165
QUALITÄTEN
DER
NETZWERKKOMMUNIKATION
In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass sich die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten bislang keineswegs bevölkerungsweit institutionalisieren konnten: Das Web dient primär der punktuellen Recherche und der Individualkommunikation, nicht aber der Aktualisierung einer gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung. Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass sich die Integrationschancen alternativer Inhalte in die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion nicht verändern, denn auch wenn nur wenige ›Webaktivisten‹ aktiv publizieren bzw. selektieren, könnten sich innovative Sinnangebote unter ihnen schneller verbreiten als in der Offline-Welt und so die Recherchegewohnheiten professioneller Journalisten verändern. Die Möglichkeit zu einer solchen indirekten veränderten Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten besteht jedoch nur, falls in den Publikationsforen im Web nicht nur Fragmente der massenmedial vermittelten Realitätsbeschreibung recycelt, sondern tatsächlich innovative Sinnangebote erarbeitet werden und die Massenmedien Teile davon übernehmen. Um diese Aspekte zu beleuchten, widmen sich die folgenden Kapitel den Inhalten der Partizipationsforen im Web und den Wechselwirkungen zwischen Journalismus und nutzergenerierten Inhalten.
Annahmen In der Vergangenheit besaßen alternative Inhalte kaum Integrationschancen in eine massenmedial aktualisierte Gegenwartsbeschreibung, da es für die Herstellung einer komplexitätsreduzierten allgemeinen Bezugsgrundlage kontraproduktiv erschien, Inhalte auszuwählen, die nur 167
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
ein geringes Anschlusspotential an die Sinngeographien der meisten Akteure besaßen oder mit den vorangegangenen Aktualisierungen nicht harmonierten.1 Neben der aufwändigen Verbreitung von Sinnalternativen auf weniger ausdifferenzierten Ebenen wurden innovative Sinnangebote daher primär durch Personen oder Gruppierungen eingebracht, die ohnehin schon die Aufmerksamkeit der Massenmedien genossen. Angesichts der erheblich effektiveren Vernetzungs- und Diffusionsmöglichkeiten im Web stellt sich nun die Frage, ob diese Konfiguration allmählich aufgebrochen wird: Augenscheinlich können die Massenmedien im Horizont ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht darauf verzichten, gegenüber innovativen Sinnangeboten hochselektiv zu verfahren. Die Sichtbarkeit alternativer Inhalte ist allerdings im Web deutlich angestiegen, das heißt, die Akteure in der internen Umwelt der Massenmedien können unkomplizierter nach alternativen Positionen recherchieren und massenmedial unbekannte Akteure können durch virale Verbreitung schneller Aufmerksamkeit auf Meso-Ebene erregen. Dabei bleibt es jedoch von großer Bedeutung, welche Inhalte in den partizipativen Publikationsforen im Web verbreitet werden: Wenn vordringlich Versatzstücke der massenmedialen Berichterstattung weitertransportiert würden, spräche dies kaum für veränderte Spielarten in der gesellschaftsübergreifenden Gegenwartsbeschreibung. Falls allerdings einige Webaktivisten die effektiveren Vernetzungsmöglichkeiten tatsächlich nutzen, um innovative Sinnangebote zu verbreiten, könnten so auch auf tagesaktueller Ebene neue Inputs für die Massenmedien entstehen. Konkret werden folgende Thesen überprüft: • Einige Nutzer verwenden die effektiveren Kommunikationsstrukturen im Web tatsächlich, um innovative Sinnkonstrukte zu verbreiten. • Blogs, Podcasts oder Social News erreichen zwar keine hohe Verbreitung, verändern aber die journalistischen Rechercheweisen.
Partizipationsforen: Inhalte und Motivation In der Beobachtung, inwieweit alternative Inhalte auf indirekte Weise in eine gesellschaftsweit bekannte Gegenwartsbeschreibung integriert werden können, gilt es zunächst abzuklären, welche Inhalte in Blogs und Podcasts, Social-News-Plattformen und Wiki-Webs publiziert werden und welche Motivationen diesen Veröffentlichungen vorausgehen.
1
Dies gilt insbesondere für den tagesaktuellen Bereich: Schmitz (1995) erkennt in sprachwissenschaftlichen Studien zur »Tagesschau« ein stetig wiederkehrendes Raster an Bedeutungsfeldern sowie texttypischen Semen.
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QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
Weblogs und Podcasts Ein Schwachpunkt der Diskussionen um Weblogs und Podcasts besteht oftmals in ihrer pauschalisierenden Betrachtungsweise, obgleich sich beide Publikationskanäle durch ihre inhaltliche Brandbreite auszeichnen: Weblogs sind die einfacher zu bedienende Form der Homepages in den 1990er Jahren und bieten ein ebenso großes Themenspektrum. Gemeinsamkeiten bestehen lediglich in formalen Merkmalen wie der chronologischen Ordnung der Beiträge und der regelmäßigen Publikation. Podcasting hingegen kann als vereinfachte, beidseitig zugängliche Variante des Rundfunks beschrieben werden und verfügt insofern über ein ähnlich differentes inhaltliches Repertoire. Im Kontext dieser Arbeit ist es freilich von zentraler Bedeutung, welche Sinnangebote in Weblogs und Podcasts veröffentlicht werden, denn auch wenn diese Publikationsforen als technikgewordene Reinkarnation der brechtschen Visionen erscheinen, lässt sich daraus nicht zwangsläufig ableiten, dass eine neue Form der gesellschaftsweiten Publizität entsteht, zumal Blogs und Podcasts per se keine hohen Rezeptionszahlen erreichen können. Abb. 35: Themen in deutschsprachigen Weblogs (in %)
Quelle: modifiziert Schmidt et al. 2009 Eine etwas ältere Studie (Schmidt/Wilbers 2006) zu den Motiven der deutschen Blogger nährt zunächst den Verdacht, dass es den Autoren eher um Selbstdarstellung denn um die Vermittlung innovativer Sinnangebote geht: 71% der Befragten gaben an, »zum Spaß« zu bloggen; 62% wollten »eigene Ideen und Erlebnisse« für sich selbst festhalten und 169
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
45% nutzten Blogs, »um sich Gefühle von der Seele zu schreiben«. Nur ein Drittel der Blogger wollten »Wissen in einem Themengebiet anderen zugänglich machen«. Ein ähnliches Bild ergab sich in einer aktuelleren Studie in der Frage, über welche Themen gebloggt wird (Schmidt/Frees/ Fisch 2009): Über 75% der Beiträge bestanden aus Anekdoten aus dem Privatleben, 74% aus eigenem Photomaterial. Ähnlich häufig wurden Verlinkungen mit einem kurzen Kommentar versehen und knapp 50% kommentierten massenmediale Inhalte. Lokale Entwicklungen wurden lediglich von 40% der Blogger thematisiert und politische Themen wurden nur von einem Drittel behandelt (Abb. 35). Eines der Kernergebnisse dieser Studie wird durch eine Befragung im amerikanischen Raum bestätigt: Lenhart/Fox (2006) kamen in einer repräsentativen Telefon-Befragung unter 4753 Internetnutzern, darunter 303 Bloganbieter, zu dem Ergebnis, dass sich die Mehrzahl der untersuchten Blogs primär mit privaten Thematiken befasste und sich ihre Zielgruppe hauptsächlich aus dem persönlichen Bekanntenkreis der Autoren speiste. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt eine explorative Anbieterauswertung durch Neuberger (2005), die ermittelte, dass nur 26% der Blog-Autoren zu politischen Themen bzw. 13% zu wirtschaftlichen Entwicklungen publizierten, wobei die meisten Inhalte in bearbeiteter oder unbearbeiteter Form von den Mainstream-Medien übernommen wurden. Dieser Eindruck eines geringen Eigenrechercheanteils in deutschsprachigen Blogs wird durch Erhebungsergebnisse von Schmidt/Frees/Fisch (2009) bestätigt: Neben Wikipedia-Artikeln, auf die 2007/2008 von über 26.000 Weblogs aus verwiesen wurde, finden sich in der Liste der meistverlinkten Angebote fast ausschließlich die OnlineDependancen massenmedialer Anbieter. Erst ab Platz 15 finden sich das BILDblog und das Blog basicthinking.de. Zu dem Eindruck, dass die Mehrzahl der Blogger gar kein Interesse daran hat, mit dem professionellen Journalismus in Konkurrenz zu treten, trägt laut Schmidt/Frees/Fisch (2009) bei, dass auch bei den Rezipienten der Abruf von persönlichen Inhalten im Zentrum steht. Burg (2006) erkannte vor diesem Hintergrund früh, dass die »technische Prothese« Weblog alleine nicht ausreicht, um von einer Emanzipation oder Mündigkeit zu sprechen: Es kommt auf die konkreten Nutzungspraktiken an. Und dato sieht es kaum danach aus, dass Blogs flächendeckend genutzt würden, um massenmediale Beschreibungen zu konterkarieren. Trotzdem gilt es auch angesichts einer kleinen Gruppe an Akteuren, die Blogs nicht nur zum privaten Austausch konsultieren, zu beachten, »dass auch die Journalisten der ›klassischen‹ Medien Weblogs zumindest beobachten« (Schmidt 2005). In diesem Kontext erscheint es freilich relevant, dass auch im Bereich der Blog-Kommunikation hierarchi170
QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
sche Selektionsmechanismen wirken: Eine Analyse der Linkstrukturen unter 5500 Weblogs (Herring et al. 2005, Herring 2009) zeigt, dass unbekannte Blogs prominente Weblogs äußerst häufig verlinken, aber nur selten eine Verlinkung zurückerhalten. Bekannte Blog-Autoren verlinken sich dagegen wechselseitig regelmäßig. Die Inhalte dieser reichweitenstarken Blogs sind es aber, die allenfalls den Sprung in die massenmediale Berichterstattung schaffen: Schmidt (2006: 133) nennt als Beispiel die Veröffentlichung eines historischen Fotos, dass ein NS-Banner mit der Losung »Denn auch du bist Deutschland« zeigte, die einem aktuelleren Kampagnen-Slogan der Initiative »Partner für Innovation« sehr nahe kam (»Du bist Deutschland«). Das Bild war von einem unbekannten Blogger entdeckt worden und musste erst die Aufmerksamkeit eines reichweitenstarken Blogs erringen, bevor es schließlich das Interesse der Massenmedien wecken konnte. Weblogs werden also nur von einer Minderheit zu journalistischen Zwecken benutzt, falls dies aber der Fall ist, wirken ähnliche Auswahlmechanismen wie in der gesamtgesellschaftlichen Realitätskonstruktion. Auch Podcasts scheinen von der Mehrheit der Adressanten keineswegs als aktuelle Informationsquelle, sondern eher als Forum zur Selbstdarstellung verstanden zu werden: Mocigemba (2007) umreißt sechs idealtypische Sender-Typen anhand einer qualitativen Befragung unter deutschen Podcastern, wobei der Explorer und der Personality Prototyper am Weitesten verbreitet waren. Für den Explorer steht nicht die Nachricht, sondern der neue Kommunikationskanal mit seinen Möglichkeiten im Zentrum des Interesses: »Es wird nicht gesendet, weil es notwendig ist, sondern weil es möglich ist«. Der Personality Prototyper hingegen nutzt die technischen Strukturen, um verschiedene Formen der Selbstdarstellung zu erproben. Als mäßig verbreitet sieht Mocigemba hingegen die Sendemodi Journalist/ThemenCaster, Rebell und Social Capitalist an: Während der Social Capitalist podcastet, um seinen Erlebnishorizont in Interaktion zu erweitern und soziales Kapital aufzubauen, ist der Rebell aufgrund seiner politisch-normativen Intentionen als Sender aktiv: Seine Motivation ist es, die Hörer von der demokratisierenden Kraft der Podcasts zu überzeugen. Der ThemenCaster schließlich möchte gut recherchierte Inhalte bieten und über Themen informieren, die in der medialen Berichterstattung zu kurz kommen. Kaum verbreitet ist der Social Gambler, der mit seinem Publikum spielen will. Podcasts werden also hauptsächlich erstellt, um neue Kommunikationskanäle auszuprobieren, sich selbst darzustellen oder um persönliches Networking zu betreiben. Journalistische Interessen sind dagegen nur mäßig verbreitet. Neben den Sendemotivationen sind aber natürlich auch die Nutzungspräferenzen der Rezipienten von Bedeutung. Ange171
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sichts der geringen Verbreitung des Formats werden die Neigungen der Podcasting-Nutzer allerdings in den großen bundesweiten Studien nicht abgefragt. Aus diesem Grund wird auf zwei kleinere Umfragen zurückgegriffen: »Die deutschen Podcast-Hörer« (Wunschel 2007) ist eine Online-Erhebung unter ca. 3000 Podcast-Nutzern. Die »Podcast-Umfrage« (Blue Sky Media/Podcast.de 2009) wurde unter 795 Nutzern des Portals www.podcast.de und anderen Podcast-Anbietern durchgeführt. Beiden Studien zufolge sind regelmäßige Podcast-Nutzer überwiegend männlich, zwischen 20 und 30 Jahren alt und besitzen einen mittleren bis hohen Bildungsabschluss. Unter den Befragten Wunschels gaben jeweils über 80% an, Podcasts zur Unterhaltung bzw. zu informativen Zwecken zu nutzen. Über 40% statuierten, Podcasts darüber hinaus zur Weiterbildung oder zum Zeitvertreib zu verwenden, ein Viertel der Rezipienten nutzten Podcasts hingegen zur Entspannung. Da die Kategorien »Information« und »Weiterbildung« bzw. »Zeitvertreib« und »Entspannung« kaum voneinander abgrenzbar sind, bergen Wunschels Daten freilich nicht mehr als die Erkenntnis, dass Podcasts ähnlich häufig zu informativen wie zu unterhaltenden Zwecken genutzt werden. Abbildung 36: Themen täglicher Podcast-Nutzer
Quelle: Blue Sky Media/Podcast.de 2009 (modifiziert) Die Ergebnisse der podcast.de-Studie (Abb. 36) deuten hingegen darauf hin, dass bei den täglichen Podcast-Rezipienten im informativen Bereich technikbezogene und wissenschaftliche Themen im Vordergrund stehen, was den Top-Motivationen der Befragten entspricht: 87% bezogen Podcasts, um informiert zu werden, 77% suchten neue Denkanstöße und 76% wollten sich weiterbilden. Mit unter 50% der Nennungen rangieren Hörspiele, Unterhaltung und Nachrichten auf der Liste der Themen.
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QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
Die Dominanz von technik- bzw. wissensbezogenen Podcasts spiegelt sich in der Rangliste der Abonnements auf podcast.de wider (Tab. 14): Die Hälfte der Top-20-Podcasts beschäftigten sich mit wissenschaftlichen Themen (etwa »WDR Quarks & Co.«) und fünf Angebote sind dem Unterhaltungsbereich zuzuordnen (z.B. »Dittsche«). Auffällig ist die Dominanz massenmedialer Anbieter: 15 der meistabonnierten Angebote wurden von privaten oder öffentlich-rechtlichen Sendern produziert, Ausnahmen bilden z.B. »Computerclub Zwei« (Weiterführung einer ehemaligen TV-Sendung) oder der »Fraunhofer Podcast«. Tabelle 14: Dominanz der Mainstream-Medien in den Podcast-Charts Rang
Name
Rang
Name
1
WDR Quarks & Co.
11
GEO audio
2
Pro7 Galileo
12
ZDF Neues aus der Anstalt
3
WDR Wissen macht Ah!
13
SWR 2 Wissen
4
ProSieben Switch
14
Tagesschau Podcast
5
WDR Sendung mit der Maus
15
Tagesschau Video Podcast
6
WDR 2 Kabarett
16
WDR 5 Leonardo
7
WDR Hörspiel
17
ARD Radio Tatort
8
English as a Second Language
18
Wanhoffs wunderbare Welt
9
Computerclub 2
19
SWR 1 Leute
10
WDR Ditsche
20
Business English
Quelle: www.podcast.de (03/2010) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der kleine, junge und gebildete Teil der Bevölkerung, der regelmäßig Blogs oder Podcasts publiziert, kaum Interesse daran hat, in Konkurrenz mit dem professionellen Journalismus zu treten: Weblogs verarbeiten überwiegend private Themen, nur eine Minderheit der Autoren beschäftigt sich mit politischen Inhalten und auch dann werden zumeist massenmediale Berichte übernommen. Podcasts werden mehrheitlich ebenso wenig als demokratisierendes Organ verstanden: Das Experiment und die persönliche Selbstdarstellung stehen im Mittelpunkt der Sendemotivation. Umfragen unter den regelmäßigen Podcast-Rezipienten kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass sehr wohl auch Informationsangebote abonniert werden, wobei aber primär die Zweitverwertungskanäle der massenmedialen Sender abgerufen werden, was letztlich lediglich für eine Effizienzsteigerung der vorhandenen medialen Strukturen spricht. 173
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
Social News Soziale Plattformen sind neben Videoportalen die meist genutzten netzwerkkommunikativen Anwendungen im Web: Gut ein Fünftel der deutschen Onliner nutzt private oder berufliche Communities, wobei der Altersschwerpunkt bei den unter 30-Jährigen liegt. Allerdings werden solche Plattformen primär zum individualkommunikativen Austausch aufgesucht: Nachrichten können in Communities wie »Facebook« schon qua Struktur nur in einem eingegrenzten Bekanntenkreis verbreitet werden, aber nach unserer Übersicht geschieht auch dies nur selten. Einen Sonderfall stellen Social-News-Plattformen dar, die auf den Austausch von aktuellen Berichten abgestellt sind. Durch nutzergebundene Selektionsprozesse und beständige Rückkopplungen ermöglichen diese Portale eine teilnehmerkonforme Auswahl: Zunächst werden Beiträge durch die registrierten Nutzer erstellt, welche aus einer Schlagzeile, einer einführenden Beschreibung und einem Verweis auf die Quelle bestehen. Danach können die Beiträge durch andere Nutzer evaluiert werden. Wenn der Beitrag eine bestimmte Schwelle an positiven Bewertungen überschritten hat, erscheint er auf der Startseite des Portals. Neben diesen Nutzerbewertungen können die Beiträge zusätzlich in den öffentlichen Foren der Plattformen diskutiert werden. Social-News-Plattformen werden gemäß der Alexa-Rankings 2010 und der PWC-Studie (2008) nur von einem Bruchteil der Onliner genutzt, eine Betrachtung bleibt aber dennoch interessant, da sich in solchen Netzwerken innovative Sinnangebote verdichten könnten. Um einen Überblick zu erlangen, welche Inhalte ausgetauscht werden, wird auf eine Erhebung Rölver/Alpars (2008) zurückgegriffen, die sich mit der Verteilung der Quellen deutschsprachiger Dienste beschäftigt: • Yigg ist der dienstälteste deutschsprachige Social-News-Dienst und wird gemäß Alexa-Ranking mit Abstand am häufigsten aufgerufen. • Webnews weist die größte Zahl an registrierten Nutzern (BRD) aus. • Newstube besitzt ein stark eingegrenztes Themenspektrum (Computer, Technik) und ist ein Ableger der Zeitschrift »PC Welt«. • Colivia ist ein Anbieter im Fahrwasser der Open-Source-Szene. • Der englischsprachige Anbieter Digg wird als Vergleich aufgelistet. Rölver/Alpar haben ihre Untersuchung auf die Top-Beiträge der einzelnen Portale beschränkt, also auf die Inhalte der Startseiten und die prominenten Inhalte auf den Themenseiten. Deren Quellen wurden in sechs Kategorien unterteilt: Onlineangebote von klassischen Massenmedien,
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QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
aggregierende Portale wie »T-Online«, Weblogs und private Websites, kommerzielle Angebote, Communities bzw. Foren und Sonstiges. Die Erhebungsergebnisse zeigen eine Dominanz der klassischen massenmedialen Quellen an, deren Anteile je nach Plattform zwischen 34% (Digg) und 50% (Webnews) liegen. Werden Portale und kommerzielle Angebote dazugezählt, steigt der Anteil der etablierten Quellen auf 66% (Colivia, Digg), 65% (Newstube), 72% (Webnews) bzw. 57% (Yigg). Die Quoten nichtredaktioneller Quellen hingegen liegen bei 30% (Colivia), 34% (Newstube), 23% (Webnews) bzw. 42% (Yigg). Eine nähere Untersuchung zeigt, dass die Social-News-Aktivisten offensichtlich die Websites von Printmedien gegenüber denen von TV- und Radiosendern bevorzugen: So bewegt sich etwa »Spiegel Online« bei allen deutschen Anbietern konstant auf einem der vordersten Plätze. Dagegen ist kein Blog in den Top-20-Quellen der Social-News-Dienste zu finden. Abb. 37: Top-Beitragsquellen auf Social-News-Plattformen
Quelle: Rölver/Alpar 2008: 317 (modifiziert) Die Dominanz etablierter Quellen lässt sich also kaum bestreiten, allerdings bleiben auch Beiträge, die auf nichtredaktionelle Quellen wie Blogs beruhen, keineswegs unbeobachtet. Insofern bieten Social-NewsPortale durchaus Potential für die Verbreitung innovativer Sinnangebote, es gilt jedoch zu beachten, dass sich Blogs wiederum häufig mit 175
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massenmedial bekannten Inhalten beschäftigen. Dazu kommt, dass sich laut Rölver/Alpar auch in der Social-News-Szene aktive Selektionsstellen und passive Rezipientenstrukturen herausbilden: Bei den untersuchten Plattformen wurde der größte Teil der Beiträge (über 50%) durch einen kleinen Nutzerkreis (unter 10%) bereitgestellt. Wer aber diese aktiven Verteilerstellen sind, bleibt weitestgehend im Dunkeln, wir können aber aus den generellen Zahlen zu den Nutzungspräferenzen ableiten, dass sich die aktiven Nutzer dieser Portale im Gegensatz zu anderen Web 2.0-Anwendungen breiter über die Altersgruppen erstrecken: Die PWC-Studie (2008) weist für Webnews mit 47 Jahren einen relativ hohen Altersdurchschnitt der registrierten Nutzer im Vergleich zu allen anderen untersuchten Plattformen aus. Die breitere Altersverteilung der Nutzer von Social-News-Diensten könnte in dem relativ geringen Aufwand begründet liegen, der bei der Verlinkung auf andere Quellen entsteht. Aufgrund dieser VerweisungsStruktur können Social-News-Portale selbst auch nur bedingt der UserGenerated-Content-Szene zugerechnet werden. Durch solche Verlinkungen können schon vorhandene innovative Sinnangebote jedoch an Sichtbarkeit gewinnen. Zwei weitere Social-News-Angebote, die sich durch eine größere Nähe zu nutzergenerierten Inhalten auszeichnen, sind Wikinews und Indymedia. Der Newsableger der Wikipedia versucht seit 2003 partizipierenden Journalismus zu fördern: »Wir streben an, eine freie Nachrichtenquelle zu schaffen, die jeden Menschen einlädt, Berichte über große und kleine aktuelle Ereignisse beizutragen« (Wikinews 2010). In der Praxis verweisen die meisten Artikel jedoch nach wenigen Zeilen auf massenmediale Quellen. Dieses Prinzip entspricht dem der Social-News-Dienste, allerdings eignet sich Wikinews aufgrund der geringen Artikelzahl weniger als tagesaktuelle Primärquelle (Abb. 38). Abb. 38: Neue Artikel pro Tag auf www.wikinews.de
Quelle: http://stats.wikimedia.org (Stand: 3/2010)
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QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
Aufgrund dieser geringen Beteiligung sah der einstige Wikinews-Autor Pfennig (2006) das Projekt schon früh als gescheitert an und führte dies auch auf den atypischen Werdungsprozess von Artikeln zurück: »Vielleicht ist auch das kollaborative Schreiben eher gewöhnungsbedürftig, bzw. die Erfahrung oft frustrierend, dass eigene Artikel [...] nicht mehr wiedererkennbar sind. Vielleicht wollen die Autoren und Autorinnen ja lieber ihren ureigenen Text online sehen [...], als Meldungen zu erzeugen, hinter denen am Ende niemand wirklich stehen kann«. Dass Portale für nutzergenerierte Nachrichten aber auch funktionieren können, hat das unabhängige Nachrichtennetzwerk Indymedia zumindest in seiner Anfangszeit gezeigt, in der es sich als Sprachrohr der Globalisierungskritik definierte: Den Grundstein für dieses weltweite Netzwerk legten Hacker, Journalisten und Demonstranten anlässlich der WTO-Konferenz 1999 in Seattle. Bereits 2001 existierten 70 IndymediaDependancen in aller Welt und bis Ende 2005 war diese Zahl auf über 165 lokale Projekte angestiegen (Behling 2006). Das deutsche Projekt de.indymedia.org wurde im Vorfeld der Atommüll-Transporte 2001 initiiert und konnte in der Folgezeit eine Reihe von journalistischen Auszeichnungen verbuchen, etwa den »Poldi-Award 2002«, der unter anderen durch die Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Entsprechend hoch war das Interesse der etablierten Medien: In der mit der politischen Linken sympathisierenden »tageszeitung« verwiesen 2001/2002 über 25 Artikel auf Indymedia, aber auch der »Spiegel« und die »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« beschäftigten sich in den Jahren 2001 und 2002 jährlich in mindestens 5 Artikeln mit dem Portal. Nach 2002 ließ das Interesse allerdings beträchtlich nach. Trotz schwindender öffentlicher Aufmerksamkeit erreicht Indymedia aber auch 2010 noch höhere Zugriffszahlen als die meisten Blogs, wobei ein 2006 befragter Foren-Moderator von indymedia.de zu der franken Einschätzung kam, dass sich der Autorenkreis zunehmend aus »jungen Leuten [speist], die sich in einer [...] Phase der Rebellion und Identitätssuche befinden, Anschluss an eine oppositionelle politische Idee oder Gruppe suchen und dafür eine mediale Plattform brauchen. [...] Berichte sind deshalb oft keine überlegten Aufzeichnungen [...].« (Högemann 2006: 53)
Diese Einschätzung entspricht weitgehend einem Gutachten des Bundesministeriums des Inneren (2007: 142), das Indymedia als von »jungen Linksextremisten genutzte Informationsplattform« charakterisierte. Neben dieser eingegrenzten Zielgruppe sieht sich der Personalkern des Portals mit weiteren Problemen konfrontiert: Da die meisten Inhalte auf Indymedia anonym veröffentlicht werden und kaum redaktionelle Kon177
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
trollmöglichkeiten bestehen, werden die Rezipienten mit einer Mixtur aus Meinungen, Augenzeugenberichten und zusammenkopierten Berichten konfrontiert. Autoren, die dem Publikum ihre Identität hingegen nicht verschweigen wollen, können sich heute im Unterschied zur Gründungszeit von Indymedia unkompliziert ihre eigenen Kanäle schaffen. Social-News-Plattformen bieten also wie schon Weblogs die technische Infrastruktur für die Verbreitung innovativer Sinnangebote, aber die daraus resultierenden Möglichkeiten werden ebenso selten genutzt: Durchschnittlich 60% der Beitragsquellen bestehen in massenmedialen Angeboten oder kommerziellen Websites. Einen Sonderfall stellt das Nachrichtenportal Indymedia dar: In seiner Gründerzeit als Plattform für Graswurzel-Journalismus gefeiert, verkommt es mithin zunehmend zu einer Profilierungsfläche für junge Identitätssuchende.
Wikipedia Das Format der Wiki-Webs eignet sich selbst kaum für die Verbreitung von aktuellen Nachrichten. Trotzdem soll an dieser Stelle die Qualität nutzergenerierter Artikel und die Autorenmotivationen am Beispiel der Wikipedia untersucht werden, da sowohl Weblogs als auch professionelle Journalisten häufig auf die freie Enzyklopädie verweisen, die als eines der wenigen Beispiele verfestigter »Schwarmintelligenz« genannt wird. Wikipedia.de wurde 2001 gegründet, umfasst heute weit über eine Millionen Artikel und gehört zu den meist aufgerufenen Websites in der BRD. Mittlerweile wird Wikipedia mit etablierten Enzyklopädien verglichen und dieser Erfolg auf einen kooperativen Modus zurückgeführt, der die Überlegenheit der »Weisheit der Vielen« scheinbar deutlich herausstellt (Surowiecki 2005). Die Wurzeln dieses Erfolgs, also die Möglichkeit für jeden Nutzer, Artikel zu erstellen oder zu ergänzen, provozieren aber auch kritische Stimmen, die befürchten, dass durch diese Freiheiten gefärbte Informationen verbreitet würden. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren viele Studien zu der Qualität der Artikel durchgeführt worden, von denen hier drei vorgestellt werden: • Die Studie der Fachzeitschrift »Nature« (Gilles 2005) verglich je 42 Artikel der Wikipedia und der Online-Ausgabe der »Encyclopedia Britannica« zu zufälligen naturwissenschaftlichen Themen. Experten bewerteten ein anonymisiertes Artikelpaar nach sachlichen Fehlern und kritischen Auslassungen. Insgesamt fanden sich in beiden Enzyklopädien jeweils vier gravierende Fehler, aber deutlich mehr kleinere Fehler in der Wikipedia (162) als in » Britannica«-Artikeln (123). • Hammwöhner et al. (2007) überprüften 50 Artikelpaare zu zufälligen Schlagworten, die in der Wikipedia als auch in der gedruckten 178
QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
•
Ausgabe des »Brockhaus« vertreten waren, auf Umfang und Vollständigkeit sowie formale Korrektheit. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Wikipedia-Artikel die gewählten Themen ausführlicher abdecken und sich durch deutlich mehr Quellenangaben auszeichnen. Das sprachliche Niveau der freien Enzyklopädie lag allerdings unter dem der »Brockhaus«-Bücher. Im »Stern«-Test (Güntheroth/Schönert 2007) wurden 50 Artikel zu zufälligen Lemmata auf Richtigkeit, Aktualität und Verständlichkeit überprüft. Wikipedia erreichte eine Durchschnittsnote von 1,7 und »Brockhaus Online« wurde mit der Note 2,7 bewertet. Kritikpunkte gegenüber dem »Brockhaus« waren unvollständige Informationen: So erschien die Geschichte der »Adam Opel GmbH« lückenhaft und bei dem Eintrag »Hartz IV« fehlten jüngere Gesetzesänderungen. Wikipedia hingegen wurde Überkomplexität attestiert: Der Artikel zum »Bruttoinlandsprodukt« sei für Laien z.B. unverständlich.
Die Wikipedia nähert sich in ihrer Artikelqualität also dem Niveau klassischer Enzyklopädien an und ihre Aktualisierbarkeit durch die Nutzer wirkt sich bei zeitnahen Entwicklungen sogar positiv aus. Am Beispiel des Wikipedia-Artikels zu »Mumbai« lässt sich der Umgang der Enzyklopädie mit aktuellen Entwicklungen nachvollziehen: Am 26.11.2008 um 19.55 Uhr berichtete tagesschau.de erstmals über die Terroranschläge in Mumbai. Kurze Zeit später wurde diese Nachricht in der Diskussion um den Wikipedia-Artikel aufgegriffen. Um 22.40 Uhr nahm Wikipedia einen Hinweis auf die Anschläge in den Städte-Artikel auf. Bis 24 Uhr wurde der Artikel 9 mal überarbeitet und bis zum 29.11.2008 um 16 Uhr noch einmal 38 mal verändert. Diese Bearbeitungen führten jedoch nicht zu einem unkontrollierten Wachstum des Artikels, woraus sich der Schluss ziehen lässt, dass primär die bisherigen Inhalte qualitativ verbessert wurden. Erst am 27.11.2008 um 18.27 Uhr wurde ein gesonderter Artikel zu den Anschlägen angelegt, der bis zum 29.11.2008 151 mal bearbeitet wurde, aber seine Größe lediglich von 7 auf 12 Kilobyte steigerte (Wikipedia Statistik/Historie 2008). Ähnliche Beobachtungen lassen sich anhand von Wikipedia-Artikeln zu anderen aktuellen Ereignissen wie z.B. der globalen Finanzkrise machen. Daraus lässt sich folgern, dass auch Artikel zu aktuellen Entwicklungen nicht strukturell inkonsistent werden müssen, selbst wenn sie wie in den geschilderten Fällen in 4 Tagen von insgesamt über 142.000 Nutzern und damit potentiellen Autoren aufgerufen wurden (Wikipedia Statistik 2008). Die Konsistenz der Artikel basiert auf vielschichtigen Qualitätssicherungsprozessen: Einerseits liegen Formatvorlagen vor, um die Artikelstrukturen zu standardisieren, andererseits existieren viele ehren179
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
amtliche Administratoren, welche die Artikel auf die Wahrung neutraler Standpunkte und Verifizierbarkeit prüfen. Zudem werden automatische Software-Agenten eingesetzt. Hauptsächlich basiert die Verlässlichkeit von Wikipedia jedoch auf der Aufmerksamkeit ihrer Nutzer, die Artikel jederzeit verändern können. Diese Veränderungen bleiben allerdings rückverfolgbar, was bereits 2005 zu einem kleineren politischen Skandal führen sollte: Kurz vor einer Landtagswahl wurden atypische Änderungen in den Artikeln »Jürgen Rüttgers« und »Peer Steinbrück« registriert: Am 17. Mai um 12.28 Uhr fehlten plötzlich die Hinweise auf Rüttgers »Kinder statt Inder«-Kampagne und Steinbrück erschien wie ein unsteter Tausendsassa, weil ein Autor seine 20 Ehrenämter als Nebentätigkeiten deklariert hatte. Nicht bedacht hatte die Politguerilla, dass die Versionshistorie auch die IP-Adressen der Verfasser speichert – und diese führten direkt zu den Rechnern des Deutschen Bundestags. Bereits um 12.46 Uhr wurden die entsprechenden Änderungen durch Wikipedia rückgängig gemacht (Meusers 2005). Das vorangegangene Beispiel zeigt, wie wendig in der WikipediaGemeinde auf Unschärfen reagiert werden kann, allerdings müssen diese Fehler natürlich erst einmal bemerkt werden, was bei Randthemen deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen dürfte als bei Artikeln zu prominenten Politikern. Mit dieser Fehleranfälligkeit haben gemäß der genannten Qualitätsstudien aber auch klassische Enzyklopädie-Anbieter zu kämpfen. Die eigentliche Qualität der Inhalte bemisst sich freilich ebenso an den Erwartungen der Nutzer: So bietet »Brockhaus Online« beispielsweise eine prägnante Definition des Begriffs »Hedgefonds« (28 Wörter), während Wikipedia zu diesem Stichwort umfassende Informationen zu internationalen Marktstrukturen bereithielt (2865 Wörter, 2009). Ein direkter Vergleich beider Angebote ist schon alleine aus diesem Grund zu hinterfragen. Dazu kommt, dass die klassischen Anbieter die übergreifende Wissensebene fokussieren, während Wikipedia auch Informationen zu Special-Interest-Gebieten und Populärkultur bereithält. Aber selbst wenn wir diese Unschärfen außer Betracht lassen, lässt sich die Wikipedia nicht zwangsläufig als Paradebeispiel für die proklamierte »Weisheit der Vielen« anführen: Eine frühe Analyse des Partizipationsverhaltens durch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales (2004) zeigte auf, dass 50% der Artikel von ca. 2,5% der angemeldeten Teilnehmer stammen. Um einzugrenzen, wer diese aktiven Wikipedianer sind und warum sie sich beteiligen, werden folgende Studienergebnisse rekapituliert: Schroer/Hertel (2007, 2009) befragten in einer Online-Umfrage 106 aktive deutsche Wikipedia-Autoren zu ihren demographischen Daten und Motivationen. Aufbauend auf deren anfänglichen Ergebnissen führte Hassel (2007) weitere Interviews durch. Unabhängig davon ver180
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sucht Möllenkamp (2007) anhand von Leitfadeninterviews die Lebenswelt der 10 aktivsten deutschen Wikipedianer zu ergründen. Schroer/Hertel (2007, 2009) schätzen das durchschnittliche Alter der aktiven Wikipedia-Autoren auf 33 Jahre mit einer Standardabweichung von 13 Jahren. Dies entspricht einer Wikipedia-internen Umfrage für die BRD (Wikipedia 2008). Wikipedianer sind laut der Studie vordringlich männlich (88%), alleinstehend (51%) und berufstätig (53%). 33% sind Schüler oder Studierende. Schroer/Hertel zeigen auf, dass insbesondere der autonome Charakter der Tätigkeit, die zahlreichen Rückmeldungen und die Bedeutsamkeit des Engagements zu einer hohen Arbeitsmotivation führt. Darauf aufbauend hat Hassel (2007) Leitfadeninterviews mit drei aktiven Verfassern und einem sporadischen Wikipedia-Autor geführt, darunter ein (a) 45-jähriger Maschinenbauer, (b) ein 40-jähriger Projektleiter, (c) eine Mitte 20-jähriger Student und (d) ein 29-jähriger Fotodesigner, der unregelmäßig zur Wikipedia beitrug. Als Kernmotivationen nannten diese Autoren ideologische und intrinsische Motive: (b) »[...] ich mach’s ja als Hobby. [...] ich habe sehr viel gelesen [...] und das meiste ist wieder weg. [...] Wenn ich’s aufschreibe, bleibt’s. Also das ist meine Recherche, die ich [...] allen zugänglich machen möchte.« (c) »Für mich ist es ein Teil dessen, was ich an andere Generationen weitergebe [...]. Das heißt, dass mein Wissen [...] was ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe, auch irgendwo niederschreibe, so dass es brauchbar ist. [...] Und das gehört einfach dazu, Wissen weiterzugeben.« (Hassel: 84-85)
Aber nicht nur das Ergebnis des Engagements, also der angefertigte Artikel, sondern auch der kooperative Prozess an sich wurde als motivationsstiftender Faktor beschrieben: So sprach (b) von einem »Kick«, sobald sich eine Person meldet, die mehr zu einem Thema weiß. Eine unmittelbare Gratifikation können die Wikipedia-Autoren allerdings kaum erwarten: (b) hob hervor, dass ein Autor im Normalfall ausschließlich Kritik erfährt, (a) bestätigte die Seltenheit positiver Rückmeldungen und (c) führte diesen Mangel darauf zurück, dass »man [.] einfach nicht [weiß], wo man danken soll oder wem man danken soll«. (d) hingegen fühlte sich durch die internen Qualitätssicherungsprozesse gegängelt. Möllenkamp (2007: 49) schließlich traf die »Wikipedianer dort [...] wo sie sich aufhalten: Online, in der Wikipedia«. Angesprochen wurden die nach interner Statistik aktivsten Autoren. Insgesamt wurden Aussagen von 10 Befragten verwertet, darunter (a) ein 36-jähriger Sachbearbeiter, (b) ein 25-jähriger BA-Student, (c) ein 30-jähriger Verwaltungsangestellter, (d) ein 31-jähriger Akademiker, (e) ein 32-jähriger wissen181
NEUE DEMOKRATIE IM NETZ?
schaftlicher Mitarbeiter, (f) ein 26-jähriger Mathematik-Doktorand, (g) ein 33-jähriger BWL-Student, (h) ein 45-jähriger Redakteur sowie (i) ein 37-jähriger Redakteur und (j) ein 32-jähriger Politik-Doktorand. Aus diesen Fällen leitet Möllenkamp drei idealtypische Autorenprofile ab: • Der zivilgesellschaftliche Einsatz für kostenfreies Wissen und die Zugehörigkeit zu einer großen Gemeinschaft prägt das Engagement der Open-Content-Community: (d) vergleicht das Schreiben für Wikipedia mit der »Arbeit im karitativen Bereich« als Gegengewicht zur Bildung als »Wirtschaftsgut«. Ideelle Verbundenheit führt dazu, sich vermehrt an der Qualitätssicherung beteiligen, auch weil dort direkte Rückmeldungen zu erwarten sind, wie (e) anmerkt. (j) dagegen sieht Wikipedia in der Tradition der kantschen Aufklärung. • Für den Enzyklopädisten steht die Auseinandersetzung mit einem Thema im Vordergrund. (a) charakterisiert sich als »Wissensdurstiger«, für den Wikipedia »in einer bislang einzigartigen Weise eine Aufarbeitung des menschlichen Wissens« ermöglicht; (g) hingegen stellt heraus, dass zu seinen »frühesten Lieblingsbeschäftigungen [.] das Blättern im Lexikon [gehörte]« und Wikipedia »ein sinnvolles Projekt« sei, bei dem man »Stolz haben kann, etwas dazu beizutragen«. (h) gab an, dass er schon früh »immer mehr wissen« wollte und viel Freude daran empfindet »Wissenslücken [zu] schließen«. • Der Typus des Spielers verweist auf die wettkampfartige Struktur in der Gemeinde und engagiert sich aus Unterhaltungsgründen: (f) bezeichnet Wikipedia als »Computerspiel«, das den Vorteil hat, dass man »nebenbei viele Sachen erfährt, was man so nie erfahren hätte«, und (i) organisiert zum Zeitvertreib gelegentlich sogar »Artikelduelle« und »Vandalenjagden« (Möllenkamp 2007: 63-68). Das Engagement bei Wikipedia erfüllt also entweder Informations-, Unterhaltungs- oder Identitätsfunktionen, wobei einige der Befragten einen »gewissen Suchtfaktor« beschreiben, der entweder positiv als Verantwortungsgefühl oder auch negativ als Stresserfahrung beschrieben wird. Neuere Anmerkungen zu dem verpflichtenden Charakter spezifischer Positionen im Wikipedia-Engagement finden sich in Stegbauer (2009). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Qualität der Wikipedia-Artikel im Vergleich mit klassischen Enzyklopädien nicht mehr zwangsläufig als schlechter bewertet werden muss. Insbesondere hinsichtlich ihrer Aktualität und Ausführlichkeit genießen sie gegenüber etablierten Anbietern oft einen Vorteil, bemängelt wurde hingegen häufig ihr sprachliches Niveau. Allerdings lässt sich am Beispiel der Wikipedia noch keineswegs das Postulat der »Weisheit der Vielen« belegen: Die Mehrzahl der Artikel wird von einer sehr kleinen Gemeinde an akti182
QUALITÄTEN DER NETZWERKKOMMUNIKATION
ven Wikipedianern verfasst. Diese primär männlichen Kernautoren sind durchschnittlich 33 Jahre alt und engagieren sich aufgrund ihrer ideologischen Verbundenheit zu Open-Content-Angeboten, aus Interesse an enzyklopädischen Inhalten oder um sich spielerisch zu unterhalten.
Bewertung Schon im Vorfeld dieses Kapitels ist deutlich geworden, dass sich die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web bislang nicht bevölkerungsübergreifend etablieren konnten. Aus Sicht unseres Ansatzes wurde jedoch vermutet, dass auch eine kleine Gruppe an Webaktivisten die Integrationschancen innovativer Sinnangebote in den Strom der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung erhöhen könnte, da sich die Sichtbarkeit und die kommunikative Effektivität alternativer Inhalte im Netz gegenüber der Offline-Welt deutlich erhöht hat und auf diese Weise für die klassischen Massenmedien prominentere Beobachtungsangebote entstehen könnten. Um abzuklären, inwieweit diese Potentiale bislang genutzt werden, wurden die Inhalte und Autorenmotivationen in den partizipativen Publikationsforen im Web untersucht: • Weblogs und Podcasts können kaum zur Verbreitung alternativer Inhalte beisteuern, weil deren Autoren bislang nur selten daran interessiert sind, mit professionellen journalistischen Angeboten in Konkurrenz zu treten: Die Inhalte der Weblogs sind oftmals privater Natur und richten sich an ein eingegrenztes Publikum. Podcasts hingegen werden meistens als Selbstdarstellungs- oder Experimentierfläche genutzt. Nur eine Minderheit beider Kanäle beschäftigt sich mit politischen Themen, die eigens recherchiert wurden. • Social-News-Plattformen zeichnen sich durch ein starkes Übergewicht an etablierten Quellen aus: 60% der Beiträge verweisen auf massenmediale oder kommerzielle Angebote. Immerhin 30% beziehen sich aber auch auf nutzergenerierte Inhalte wie Blogs, Foren oder Wikipedia. Das unabhängige Nachrichtenportal Indymedia stellt diesbezüglich zwar eine Ausnahme dar, es entwickelt sich aufgrund mangelnder Qualitätskontrollen jedoch zunehmend zu einer Profilierungsfläche für identitätssuchende jugendliche Rebellen. • Wikipedia weist mittlerweile eine vergleichbare Artikelqualität zu klassischen Enzyklopädien auf. Insbesondere hinsichtlich ihrer Aktualität genießen Wikipedia-Artikel einen Vorteil, bemängelt wurde hingegen ihr sprachliches Niveau sowie ihre Verständlichkeit bei Fachthemen. Die Mehrzahl der Artikel wird von einer sehr kleinen Gruppe an Autoren verfasst, die sich aufgrund ideologischer Ver-
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bundenheit, aus einem allgemeinen Interesse an enzyklopädischen Inhalten oder aus Unterhaltungsgründen engagieren. Wir können festhalten, dass die netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Web von der Mehrzahl ihrer Nutzer hauptsächlich für individualkommunikative bzw. speichermediale Zwecke genutzt werden und tagesaktuelle innovative Sinnangebote kaum verbreitet werden: Communities dienen vordringlich dem persönlichen Networking und Videoportale halten primär unterhaltende Inhalte bereit. Blogs und Podcasts dienen hingegen oft lediglich der Selbstdarstellung und übernehmen tagesaktuelle Inhalte häufig von etablierten Anbietern. Auch Social-NewsPlattformen verweisen nur selten auf nutzergenerierte Inhalte. Auffällig bleibt in allen betrachteten Fällen, dass der Kreis aktiver Autoren relativ klein ist: Im Falle der Social-News-Dienste etwa werden 50% der Beiträge von 10% der Nutzer verfasst, bei Wikipedia werden die Hälfte der Artikel von einem einstelligen Prozentteil der registrierten Benutzer erstellt. Es entsteht der Eindruck, dass sich solche Angebote nur aufgrund der Arbeit weniger Engagierter aufrechterhalten lassen, die oft in typischer Weise der Vorstellung eines ›early adopters‹ entsprechen (jung, gebildet, männlich, technik-affin). Schon aufgrund dieser Homogenität erscheint es unwahrscheinlich, dass sich deren Präferenzen auf die Gesamtbevölkerung übertragen ließen. Nicht einmal innerhalb dieser Netzwerke aber steht die Verbreitung tagesaktueller innovativer Beobachtungsangebote im Vordergrund: Wie Abb. 39 verdeutlicht, erfüllt die Erstellung nutzergenerierter Beiträge für ihre Autoren vielmehr eine Mehrzahl an Funktionen: Weblogs und Podcasts werden größtenteils für die Darstellung der eigenen Identität genutzt, Social-News-Dienste sind auf Tagesaktualität angestellt, verweisen aber primär auf etablierte Quellen, Online-Communities erfüllen beinahe ausschließlich Networking-Funktionen. Wikipedia kann, gemessen an den Nutzerzahlen, als das erfolgreichste User-Generated-ContentProjekt charakterisiert werden, bietet aber qua Struktur keine tagesaktuelle Berichterstattung. Dafür wird in Social-News-Beiträgen und Blogs häufig auf Wikipedia-Artikel verlinkt, deren Kernautoren sich aus ideologischen oder thematischen Interessen, aber auch aus spielerischen Gründen bei dem Open-Content-Projekt engagieren.
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Abbildung 39: Funktionen netzwerkkommunikativer Anwendungen
Quelle: Eigene Überlegungen Die Annahme, dass die neuen netzwerkkommunikativen Möglichkeiten im Online-Nexus zu einer Demokratisierung in der gesellschaftsübergreifenden Realitätskonstruktion führen könnten, kann folglich bislang kaum bestätigt werden: Von den wenigen Web-Aktivisten empfindet es wiederum nur ein kleiner Teil als sinnvoll, massenmediale Darstellungen zu konterkarieren. Aus Sicht unseres Ansatzes erscheint dies durchaus nachvollziehbar: Der technische Aufwand für eine Veröffentlichung mag durch die neuen Kommunikationsstrukturen im Web gesunken sein, nicht aber der kognitive bzw. zeitliche Aufwand, um innovative Sinnangebote auf eine Weise darzustellen, die zeitnahen Anschluss an die Sinnaktualisierungen vieler anderer psychischer Systeme finden kann. Eine Repriorisierung zugunsten der aktiven Publikation im Internet kann dem Einzelnen allerdings nur vorteilhaft erscheinen, solange er aus seiner Sicht irgendeinen Nutzen daraus ableiten kann, sei es nur ideologische bzw. emotionale Befriedigung oder der Aufbau sozialen Kapitals. Im Horizont dieser Bedürfnisse erscheint es naheliegend, sich an einem Projekt wie Wikipedia zu beteiligen, das schon im Vorfeld des Engagements allgemeine Aufmerksamkeit bindet. Ihre übergreifende Beachtung erfährt die Wikipedia allerdings nur aufgrund ihrer Verlässlichkeit, die auf strukturell verfestigten Mechanismen der Qualitätssicherung beruht. Da es im tagesaktuellen Bereich kein vergleichbares Portal gibt, liegt die Vermutung nahe, dass dezentral organisierte Qualitätskontrollen durch 185
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die Nutzer zu langsam ablaufen, um bei aktuellen Ereignissen erfolgreich zu wirken und der virale Austausch in der Blogosphäre daher professionellen Nachrichtennetzwerken unterlegen ist. Dem Eindruck, dass im Online-Nexus kaum eigenrecherchierte Inhalte verbreitet werden, wirken allerdings einige Angebote entgegen, z.B. das Blog netzpolitik.org, das sich mit der Freiheit im Netz auseinandersetzt, das Blog spreeblick.com, das sich als Gegenpol zur massenmedialen Berichterstattung versteht, oder das Autorenblog carta.info für Politik, Ökonomie und digitale Freiheit. Diese Angebote erreichen im Vergleich mit anderen Blogs einen relativ weiten Rezipientenkreis und sind mittlerweile teilweise in Unternehmenskontexte eingebunden2. Es existieren also in der Tat wenige nutzergenerierte Angebote, die Alternativen zu massenmedial verbreiteten Inhalten bieten wollen und von Teilen der Netzöffentlichkeit regelmäßig rezipiert werden. Ob es aufgrund dieser Angebote zu Veränderungen in der Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung kommen kann, hängt allerdings auch davon ab, ob und inwieweit die Massenmedien diese innovativen Sinnangebote beobachten und weiterverarbeiten.
Professioneller Journalismus und Web 2.0 Auch wenn sowohl die Nutzungspräferenzen der deutschen Gesamtbevölkerung als auch die beobachteten Qualitäten der Netzwerkkommunikation der Hoffnung kaum Anlass geben, dass nutzergenerierte Inhalte maßgeblich zur Aktualisierung einer gesellschaftsweit geteilten Gegenwart beitragen könnten, existieren durchaus einige wenige Angebote, die sich als Konkurrenz bzw. Ergänzung zu den klassischen Massenmedien verstehen und insofern auch Rechercheoptionen für den professionellen Journalismus bieten. Dies könnte mit der Zeit auf indirekte Weise zu einer neuen Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten führen, selbst wenn Blogs, soziale Plattformen oder Wiki-Webs vom Bevölkerungsdurchschnitt kaum als primäre tagesaktuelle Quellen genutzt werden: Da Massenmedien darauf abgestellt sind, kommunikative Unterschiede herauszustellen, und auch Journalisten wie alle psychischen Systeme mit begrenzten kognitiven Ressourcen zu kämpfen haben, erscheint es einerseits wahrscheinlich, dass die erhöhte Sichtbarkeit inno-
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Das Blog »Netzpolitik.org« wird von Markus Beckedahl und seinem Unternehmen »newthinking communications« betrieben. Das Weblog »spreeblick.com« ist der »Spreeblick Verlag KG« angeschlossen.
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vativer Sinnangebote im Web zu einer partiellen Integration in die massenmediale Berichterstattung führt. Gleichzeitig operieren die Massenmedien aber auch vor dem Horizont einer möglichst breiten Anschlussfähigkeit, was die Kompatibilität jeder Aktualisierung an die bereits verbreiteten Wirklichkeitsbeschreibungen voraussetzt. Daher wird andererseits vermutet, dass nutzergenerierte Inhalte erst dann als Quellen erwägt werden, wenn sie zur bisherigen Berichterstattung passen.
Webaktivisten als Themenmacher Wenn wir als Gradmesser zunächst die Nennungen der Begriffe ›Blog‹ bzw. ›Weblog‹, ›Podcast‹ und ›Wikipedia‹ in führenden deutschsprachigen Printmedien reflektieren, entsteht der Eindruck, dass das Interesse der Massenmedien an diesen Angeboten in den letzten Jahren beständig zugenommen hat: 2005 beschäftigten sich in der gedruckten »Welt« gerade einmal 32 Artikel mit Weblogs, Podcasts oder Wikipedia, 2008 verfünffachte sich diese Zahl auf 182 Artikel. Ähnlich fällt die Steigerung bei der Wochenzeitung »Die Zeit« aus (2005: 62, 2008: 196 Artikel). »Der Spiegel« hingegen scheint sich weniger für Blogs & Co. zu interessieren, steigert aber die Anzahl an Nennungen von 5 (2005) auf 41 (2008). Eine hohe Relevanz wird dem Web 2.0 dagegen in der »Süddeutschen Zeitung« zugesprochen (2005: 115, 2008: 400 Nennungen). Blogs, Podcasts und Wikipedia werden von den Massenmedien also als Phänomen durchaus beachtet, dies bedeutet aber nicht, dass es Laien im Regelfall gelingt, innovative Sinnangebote in die Berichterstattung einzubringen: Neuberger et al. (2007: 107) kommen denn auch zu dem Schluss, dass es »Weblogs in Deutschland nur in wenigen Fällen gelungen [ist], Themen zu setzen«. De facto existieren denn auch nur wenige Fälle von sogenannten ›Blog-Skandalen‹. Hier einige Beispiele: • Im Dezember 2004 veröffentlichte Häusler einen Meinungsartikel zu den Praktiken des Klingeltonanbieters »Jamba GmbH« (Häusler 2004), der kritisierte, dass die Aufmerksamkeit der jungen Zuschauer in der »Jamba«-Werbung bewusst auf schrille Animationen und Töne gelenkt werde, um von den schwer lesbaren Hinweisen abzulenken, dass bei einer Bestellung auch ein Abonnement abgeschlossen wird. Er traf damit den Nerv der Blogger-Gemeinde, die den Artikel derart oft referenzierte, dass die entsprechende Seite in kürzester Zeit im »Google«-Ranking nach oben schoss (Stöcker 2005). Die Massenmedien griffen das Thema auf, bis der Konflikt im April 2005 in einem Showdown zwischen Blog-Aktivisten und »Jamba«Sprechern in der Fernseh-Sendung »Stern-TV« gipfelte.
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Ende 2006 traf der gebündelte Zorn der deutschen Blogossphäre die Betreiber der sozialen Plattform »StudiVZ«: Blogger hatten sexuell orientierte Forengruppen in der Community aufgespürt, welche trotz Beschwerden nicht gelöscht wurden. Beinahe zeitgleich gelang es Fritsch, innerhalb von wenigen Stunden über eine Millionen Nutzerprofile der Plattform unautorisiert abzurufen (Lueke 2006). Auch diese Beiträge erreichten eine gesteigerte Aufmerksamkeit im Web und nachfolgend in den Massenmedien (Kleinz 2006). 2005 starten Medienunternehmen die Kampagne »Du bist Deutschland«, die im Web rasch für zahlreiche Diskussionen sorgte. Richtig Fahrt nahmen die Blogger aber erst auf, als 11/2005 ein Foto auftauchte, dass ein Banner mit dem Slogan »Denn Du bist Deutschland« aus der NS-Zeit zeigte. Gleich mehrere Blogs verbreiteten das Photomaterial am gleichen Tag (Sixtus 2005, Spreeblick 2005). Am 24.11.2005 wurde das Thema durch »Spiegel Online« aufgegriffen (Freiburg 2005). Im Februar 2006 beschäftigte sich schließlich das TV-Magazin »Zapp« (NDR) mit der Angelegenheit. Ein aktuelles Beispiel besteht in der Öffentlichkeitswerdung des brisanten Interviews, das letztlich zu Horst Köhlers Rücktritt führen sollte: Am 22. Mai 2010 sendete der »Deutschlandfunk« ein gekürztes Interview mit Köhler. Die längere Originalfassung, in der militärische Einsätze mit wirtschaftlichen Interessen in Verbindung gebracht wurden, blieb in der Öffentlichkeit zunächst unbeachtet. Am Tag der Veröffentlichung beschäftigten sich jedoch mehrere Blogger mit den Aussagen Köhlers (Quellenliste: Lupe 2010) und in den folgenden Tagen verbreitete sich der Unmut darüber in der Blogosphäre (z.B. Lupe 2010b). Erst am 27. Mai berichteten etablierte massenmediale Kanäle (z.B. Spiegel 2010) über Köhlers Aussagen.
Abgesehen vom letztgenannten Fall handelt es sich bei diesen ›BlogSkandalen‹ um kleinere Eklats, über die hinaus sich auch laut Basic (2008), eine der zentralen Figuren der Blogging-Szene, kaum Themen ausmachen lassen, die eine breite Öffentlichkeit erreichen konnten: »In Deutschland sind es die Stickblogs, die am besten untereinander vernetzt sind [...]. Den Rest kann man als Sammelsurium von Personen betrachten, die ein Blog betreiben, aber weder einen gemeinschaftlichen Sinn entwickelt haben noch sonst ein irgendwie geartetes Interesse aufzeigen. [...] Ist das alles? [...] Sich hin und wieder über ihre Wehwehchen und alltäglichen Erlebnisse auslassen? [...] Das bisserl furzen ins Wasser, dass sich vermeintlich irgendwelche Firmen fürchten, [...] irgendwelchen Journalisten aufgezeigt wird, dass die irgendwas falsch geschrieben haben, irgendwelchen Politikern die Leviten gelesen werden?« 188
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Ein Nutzerkommentar zu diesen Ausführungen fasst noch einmal zusammen, warum es so schwer fällt, als einfacher Graswurzel-Journalist eine übergreifende Öffentlichkeit zu erreichen: »Blogs machen Menschen, um sich selbst zu produzieren und die wissen wollen, wie andere darüber denken. [...] Wer mehr schaffen will, muss die Informationen so aufbereiten, dass sie Tagesschau-reif sind. 5 Monate investigativ an einer heißen Sache arbeiten mit vielen Ortsbesuchen, Videos und Statistiken und einem schockierenden Ergebnis. [...] Aber soviel Ausdauer hat ja kein Blogger.« (Basic 2008)
Wir können also resümieren, dass Podcaster und Blogger bislang nur selten von der breiten Öffentlichkeit als Themenmacher wahrgenommen werden. Es liegen zwar Fälle vor, in denen von Bloggern erkannte Missstände Eingang in das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein finden konnten, diese bleiben jedoch in ihrer Menge »weit hinter dem zurück, was professioneller Journalismus täglich leistet« (Neuberger 2007: 107).
Nutzergenerierte Inhalte als Recherchequellen Neben der direkten Themensetzung besteht für nutzergenerierte Inhalte die Chance, als Recherchequellen Eingang in die massenmediale Berichterstattung zu finden: So nutzten nach einer frühen Analyse von Zerfaß/Boelter (2005) über 15% der deutschen Journalisten Weblogs während des Rechercheprozesses. Anknüpfend wird hier auf folgende Studien zurückgegriffen: Eine Befragung der Redaktionsleiter von 55 Tageszeitungen, 29 Radio- und 6 TV-Sendern sowie 3 Nachrichtenagenturen durch Neuberger/Nuembergk/Rischke (2007/2009) und eine nichtteilnehmende Beobachtung von 235 Redakteuren sowie eine anschließende Befragung von 601 Journalisten von Machill/Beiler/Zenker 2008. Neuberger et al. stellten in ihrer Redaktionsleiterbefragung zunächst fest, dass in 53 der 90 beobachteten Redaktionen Blogs in den Rechercheprozessen keine Rolle spielten. In den 37 verbleibenden Büros traten hingegen drei Suchziele hervor: 42% der Redaktionsleiter gaben an, dass Weblogs durch ihre Redaktionen häufig aufgerufen werden, um Themenideen zu entwickeln, und Weblogs als Phänomen wurden von 28% der Redaktionen häufig bearbeitet. Gespalten fiel die Reaktion hingegen auf die direkte Frage aus, inwieweit Blogs als Fakten-Quellen verwendet werden: Während 45% antworteten, dass dies nie der Fall sei, gaben 31% an, dass dies häufig geschehe. Mit Nennungen von ca. 15% wurden Weblogs zudem eher selten aufgesucht, um Augenzeugenberichte, kritische Positionen oder Resonanzen zu akquirieren (Abb. 40). 189
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Abbildung 40: Suchziele der Redaktionen, die Blogs nutzen
Quelle: Neuberger et al. 2007/2009 Blogs werden in Rechercheprozessen neben der schlichten Beobachtung des Phänomens also primär genutzt, um neue Themen zu entdecken und Fakten zu Ereignissen ausfindig zu machen. Allerdings können folgende Einschränkungen gemacht werden: (1) Da Blogs häufig auf die Angebote massenmedialer Anbieter verweisen, lässt sich vermuten, dass diese oft nur als nicht-algorithmische Verteilerstellen für massenmedial eingeführte Sinnangebote dienen. (2) »Gute Ideen liegen auf der Straße« war schon in den 1920er Jahren ein vielskandierter Slogan. Insofern liegt es nahe, dass der journalistische ›Spürhund‹ im 21. Jahrhundert natürlich ebenso die digitalen Asphaltbahnen abgrast. Damit ist aber noch keine Aussage über die Intensität dieser Ermittlungen getroffen. Genau dieser Frage nach dem Häufigkeits- und Daueranteil der Quellen in journalistischen Rechercheprozessen gehen Machill/Beiler/ Zenker (2008) in einer nichtteilnehmenden Beobachtung (8 Stunden pro Fall) am täglichen Arbeitsplatz von 235 Journalisten von 34 Medienangeboten nach. Sie untersuchten auf diese Weise eine Stichprobe, die »in den wesentlichen Tendenzen der Grundgesamtheit der vier einbezogenen Mediensparten entspricht« (Machill et al. 2008: 517). Die Medienschaffenden recherchierten im Schnitt 3 Stunden am Tag, davon wurden ca. 1 Stunden für die Themenfindung und Bewertung der Nachrichtenlage aufgewendet. Einen ebenso großen Anteil nahm die Ermittlung von Zusatzinformationen ein. Für die Überprüfung von Quellen und Fakten wendeten die beobachteten Journalisten hingegen nur fast unglaubliche 11 Minuten pro Tag auf. Insgesamt recherchierten die Journalisten ca. 1:18 Stunden pro Tag computergestützt, davon 22 Minuten via E-Mail. Das zweitwichtigste computergestützte Recherchemittel waren Suchmaschinen (Tab. 15). 190
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Auffällig ist, dass die Suchmaschine in 90% der Fälle »Google« hieß und Online-Journalisten im Schnitt nur 6 mal pro Tag auf dieses Tool zugriffen, während TV-Journalisten 12 Anfragen am Tag starteten. Tabelle 15: Recherchemittel: Häufigkeit/Dauer pro Journalist
Recherchemittel
Häufigkeit %( )
Dauer % Dauer ( ) ( )
Spannweite Häufigkeit %
Computergestützt
47
37
1:18 h
42-55
E-Mail
12
11
0:22 h
8-15
Suchmaschinen/Kataloge
8
4
0:09 h
5-12
8
4
0:08 h
n. a.
8
6
0:13 h
3-12
Unternehmen
2
2
0:03 h
n. a.
Ministerien, Behörden etc.
2
2
0:03 h
n. a.
Vereine, Verbände, NGOs
2
2
0:03 h
n. a.
Wissenschaft
1
1
0:01 h
n. a.
Privatpersonen