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German Pages [248] Year 2015
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 83
Hans Martin Dober
Von den Künsten lernen Eine Grundlegung und Kritik der Homiletik
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit Unterstützung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-525-62433-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de m 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Wir müssen überhaupt doch den Wert aller Theorie, ich sage nicht, nicht überschätzen – ich glaube, er kann gar nicht überschätzt werden –, sondern richtig bestimmen.1 Dem Andenken an Volker Drehsen (†) gewidmet, dem Verteidiger Praktischer Theologie als einer Theorie der Praxis, dessen Aufmerksamkeit auf die Bildenden Künste diese Untersuchung vieles verdankt.
1 V.v. Weizsäcker, Menschenführung, 44.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt in der gegenwärtigen Lage der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur kirchlichen Lage der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Reformatorische Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ist die Predigt noch zentral? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die auf die Praxis bezogene Theorie der Predigt . . . . . . . . . 1.5 Die Analogie von Predigt und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Die Grundlegung der Leitfragen und der Gang der Untersuchung
. . . . . . .
13 13 18 20 23 25 27
2. Grundlegung: Die Vernunft und das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der fundamentale Rang der Doppelbedeutung des Logos . . . . . 2.2 Denken und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Drei Erscheinungsweisen des Wortes als Kerygma, Rede, Schrift . 2.3.1 Anrede, Ruf und Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Kerygma und Rede (oder : Sprache und Nähe) . . . . . . . . 2.3.3 Rede und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Sprache und das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Eine kleine Skizze der semiotischen Theorie . . . . . . . . . 2.4.2 Die Rezeption der Semiotik in der Homiletik . . . . . . . . . 2.5 Andere verstehen und sich ihnen verständlich machen . . . . . . 2.5.1 Die Bedingtheit eigenen Verstehens und des Verstehens der anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Predigen heißt übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Ausblick auf den Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . .
31 31 33 36 37 40 46 52 53 58 61 62 63 65
3. Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen? . . . . . . . . . . . 3.1 Die Predigt als religiöse Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 67
8
Inhalt
3.2 Das umstrittene Verhältnis von Homiletik und Rhetorik . . . . . . 3.2.1 Philosophische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Schleiermacher und Achelis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Position von Achelis im Rückblick . . . . . . . . . . . . 3.3 Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische . . . . . . . . . . 3.3.1 Ernes Blumenberg-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Der rhetorische Umgang des Paulus mit der Rhetorik . . . . 3.4 Der Garten der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Aufgaben des Redners (officia oratoris) . . . . . . . . . . . . . 3.6 Die klassischen Zweckbestimmungen der Rede und der Zweck der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Wie spricht die Predigt das Gemüt an? . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Wie den Willen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Wie den Verstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Klassische Anlässe der öffentlichen Rede und die Anlässe der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Die unterschiedlichen Kasus der Predigt . . . . . . . . . . . 3.7.2 Die Taufansprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Die Konfirmationspredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.4 Die Traupredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.5 Die Bestattungsrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Wie kann die Predigt unterschiedlichen Milieus in der Kirche gerecht werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.1 Die neueren Milieu-Studien und ihre Bedeutung für kirchliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.2 Gemischte Milieus in bestimmten Kasus . . . . . . . . . . . 3.8.3 Der Kasus für bestimmte Milieus . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Der Stil der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik?. 4.1 Rezeptionsästhetik und Performanz als Hauptmerkmale . . . . . . 4.2 Grundlegung: Das Verhältnis von Kunst und Religion . . . . . . . 4.2.1 Elementarer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Differenz im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die Eigenart der Religion (Hermann Cohen) . . . . . . . . . 4.2.4 Ästhetisierung der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Historische Verifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Romantik und Deutscher Idealismus (zum „ältesten Systemprogramm“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Unbestimmtheit und Fragmentarität . . . . . . . . . . . . .
70 70 71 73 75 76 80 82 83 86 88 92 94 96 97 98 100 102 105 109 110 115 117 118 121 121 124 124 127 128 131 133 133 137
9
Inhalt
4.3.3 Die in der Kirche heimischen Künste (Franz Rosenzweig) Exkurs: Das Kreuz als Zeichen und Symbol . . . . . . . 4.3.4 Vermittlung von Kunst und Religion in homiletischer Absicht (Christian von Palmer) . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die „ästhetische Wende“ in homiletischen Konzepten . . . . . 4.4.1 Die Predigt als „offenes Kunstwerk“ (zu Gerhard Marcel Martin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die dramaturgische Predigt (zu Martin Nicol) . . . . . . 4.4.3 Taugt der Film als Modell für die Predigtgestaltung? (zu Jörg Herrmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Die Mehrdeutigkeit der Performation . . . . . . . . . . . 4.4.5 Welche Bedeutung und Funktion hat die Kunst für die Predigtarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die kunstvolle Gestaltung von Predigten: Predigtformen . . . 4.5.1 Der Bezug der Predigt auf einen biblischen Text . . . . . 4.5.2 Die Homilie oder dramaturgische Textpredigt . . . . . . 4.5.3 Die Bildmeditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Die Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Die Filmpredigt als Narration und kritische Hermeneutik 4.5.6 Die Liedpredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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140 147
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202 204 207
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217 220 221 225
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk, was den Prediger vom Künstler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Wie lässt die Kunst Wahrheit erkennen? . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Artisten-Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Aktive Passivität als Wahrheitsmoment des formalen Wesens der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 An der Idee als Konstellation ist festzuhalten . . . . . . . . 5.1.4 Die Wahrheit in der Kunst bedarf der Bewährung . . . . . 5.1.5 Die perspektivische Wahrheit in der Kunst und der Begriff der einen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wem sind Künstler verantwortlich? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Verantwortung des Predigers als Redner . . . . . . . . . . . 6. Von den Tugenden des Predigers . . . . . . . . 6.1 Predigt als Handlung . . . . . . . . . . . . 6.2 Gibt es spezielle Tugenden des Predigers? . 6.3 Die auf Dauer gestellte Aufgabe der Predigt
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10
Inhalt
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Diese Untersuchung ist aus einem Gefühl des Unbehagens angesichts neuerer Konzeptionen zur Homiletik hervorgegangen. Wie es scheint, ist hier im Eifer der Neuentdeckung der Künste als Paradigmen für die Predigtarbeit immer wieder der Bezug zur Tradition in begriffliche Unschärfe geraten. Zugleich bin auch ich davon überzeugt, dass es für die Theorie einer gegenwärtigen – und d. h. auch zeitgemäßen – Predigt nicht ausreicht, sich vor allem an historischen Gestalten zu orientieren.1 Es bedarf in der Tat eines Sich-Einlassens auf die Künste und ihre Theorie, um von ihnen zu lernen. In diesem Spannungsverhältnis kommt es mir einerseits darauf an, Kriterien der Kritik zu entwickeln. Das geschieht hier im Bezug zu den (bisher) orientierenden Theorien der Rhetorik, der Ästhetik und zu maßgeblichen theologischen Theorien, die den Begriff der Predigt zu bestimmen erlauben. Der gewählte Weg ist eine dreifache Grundlegung, die der hier vorliegenden Untersuchung ihre Gliederung vorgibt. Kritik heißt in diesem Zusammenhang, die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen den genannten Bereichen aufzuzeigen, zugleich aber auch festzuhalten, was im Verständnis der Predigt als einer Rede aus guten homiletischen Gründen nicht von anderen Künsten – der dramatischen oder der Filmkunst etwa – substituiert werden kann. Je länger mich diese Fragen beschäftigten, desto mehr wurde mir klar, dass eine solche Kritik letztlich den Zweck haben muss, Platz zu schaffen für einen offenen und längst nicht abgeschlossenen, ja wohl auch kaum abschließbaren Lernprozess. In ihm wird der Prediger sich ebenso an der Kunst der angemessenen Rede messen wie er sich auch auf die anderen Künste einlässt. Andererseits also kommt es mir darauf an, zu zeigen, was der Prediger von den Künsten lernen kann auch und gerade dann, wenn er sich dessen bewusst geworden ist, worin die Predigt etwas anderes ist als ein Kunstwerk. So möchte also auch diese 1 Die maßgeblichen historischen Gestalten habe ich in einer früheren Arbeit zur Darstellung gebracht und mit ihnen eine kritische Diskussion gesucht (vgl. Dober, Evangelische Homiletik).
12
Vorwort
Grundlegung der Homiletik durch die Kritik (im Sinne der Grenzbestimmungen) hindurch den Weg zu einer kreativen Predigtarbeit öffnen. Die folgenden Erwägungen habe ich zweimal als Vorlesung in Tübingen gehalten, zuerst im Sommersemester 2012, und dann wieder im Wintersemester 2013/14. Danken möchte ich den Studierenden für ihre Fragen und gelegentliche Diskussionen, Dekan i.R. Eberhard Gröner und Hans-Christoph Hahn für ihre kritischen Lektüren des Manuskripts, sowie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für die Unterstützung bei den Druckkosten. Tuttlingen, im Februar 2015
Hans Martin Dober
1.
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt in der gegenwärtigen Lage der Kirche „Die für den protestantischen Gottesdienst traditionell kennzeichnende Konzentration auf die Wortverkündigung wird zunehmend abgelöst von neuen Formen symbolischer Interaktion … [So] droht sich auch das überkommene kulturelle Profil des Protestantismus aufzulösen.“1
1.1
Zur kirchlichen Lage der Gegenwart
Die Kirchen befinden sich in einer Umwandlungskrise, die durch Wechselwirkungen mit der sich schnell wandelnden Gesellschaft bedingt ist. Die Wurzeln dieser Krise reichen weit zurück: Um 1800 schon sind ihre Vorboten von aufmerksamen Geistern wahrgenommen worden. Exemplarisch sei die von Friedrich Wilhelm Josef Schelling entwickelte Theorie dreier Epochen der Christentumsgeschichte genannt – der durch Ausbreitung in alle Welt gekennzeichneten petrinischen, der durch Verinnerlichung zu charakterisierenden paulinischen und der durch Lockerung der konfessionellen Bindung, eine Vielfalt religiöser Formen und Synkretismen bestimmten johanneischen. Die Bedeutung der Kirchen schwindet in einer „vom Geist des Christentums durchdrungenen Gesellschaft“, doch eben so geht das Christentum auch „in den Geist der modernen Welt … ein“.2 Einen frühen Vertreter der „johanneischen“ Epoche kann man in Heinrich Heine finden. Der hatte geschrieben: „Ich habe den Weg zum lieben Gott weder durch die Kirche, noch durch die Synagoge genommen. Es hat mich kein Priester, es hat mich kein Rabbiner ihm vorgestellt. Ich habe mich selbst bei ihm eingeführt, und er hat mich gut aufgenommen“.3
Wenn man das Deutungsmuster einer johanneischen Epoche aus seinem idealistischen Denkrahmen löst und mit der empirischen Religionsforschung ins Gespräch bringt, von der die Praktische Theologie sich heute weitgehend in 1 F.-W. Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, 35f. 2 Ich folge einem Beitrag von St|phane Mosxs, der Schelling in diesem Sinne interpretiert hat (Ders., Der Engel der Geschichte, 46). Auch Hegel sah ahnungsvoll eine „Religion der Zukunft“ am Horizont aufziehen, die sich von den konfessionellen Gestalten seiner Zeit unterscheiden werde. 3 Heine, Schriften Bd. 2 [hg. v. Briegleb], 155. Mit Blick auf G.E. Lessing, einen anderen frühen Repräsentanten, hat Heine seinerseits ein variiertes Modell eingebracht, indem er ihn den „Propheten“ nannte, „der aus dem zweiten Testament ins dritte hinüberdeutete“ (Heine, Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 91).
14
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
Anspruch nehmen lässt, hat es immer noch eine gewisse Plausibilität. Ein Reflex findet sich in Dietrich Rösslers Theorie von der dreifachen Gestalt des Christentums in der Neuzeit, in der „das öffentliche oder allgemeine“ und das „individuelle Christentum“ auf das „kirchliche“ bezogen ist, um „identifizierbar“ zu bleiben.4 Vorausgesetzt ist aber, dass die anderen beiden Gestalten die Grenzen der kirchlichen längst überschritten haben. Identifizierbar wird die kirchliche Gestalt des protestantischen Christentums aber nur bleiben, wenn die in ihr verbreitete „Sprachlosigkeit“ und „Bildungsferne“ überwunden wird, die Friedrich-Wilhelm Graf ihr diagnostiziert.5 Er beschreibt diese „Untugenden“ in seinem Buch Kirchendämmerung, in dem er der universitären Theologie, der verfassten Volkskirche und der Zunft der Pfarrerinnen und Pfarrer die Leviten liest. Die Doppeldeutigkeit des Naturphänomens als Vergleichspunkt für den Zustand dieser Institution ist bewusst gesetzt, suggeriert der Titel doch zum einen, dass wir uns am Abend des Zeitalters einer protestantischen Kirche des Wortes befinden, die sich von ihren reformatorischen Anfängen an dadurch auszeichnete, dass Bildung „für den Christenglauben … unverzichtbar“ sei.6 Zum anderen kann der Titel dieses Buches aber auch im Sinne der Hoffnung verstanden werden, dass der evangelischen Kirche die Morgenluft eines neuen Tages blühen könnte, wenn sie sich denn auf ihre Grundlagen und neuzeitlichen Prägungen ausreichend besinnen und ihr Handeln danach ausrichten würde. Dann könnte sie möglicherweise auch auf ein in der Gesellschaft allgemein verbreitetes „Phänomen wie nachlassende Sprachfähigkeit und sogar Sprachunlust überhaupt“ verändernde Wirkungen hervorrufen,7 obwohl sich eben dieses Phänomen auch im binnenkirchlichen Leben spiegelt. Mit einem von ihr so benannten „Reformstress“, unter den die Kirchen sich selbst in den letzten Jahren gestellt haben, hat Isolde Karle einen anderen kritischen Akzent gesetzt. Dieser Stress sei durch einen ökonomischen „Druck“ hervorgerufen worden, der zu Abwägungen und Entscheidungen nötige, „welche Bereiche kirchlichen Handelns weiter finanziert und als zukunftsfähig angesehen und welche vernachlässigt oder ganz von der kirchlichen Agenda gestrichen werden sollen.“8 Die Frage könne aber „nicht ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten“ bearbeitet werden, sondern erfordere theologische Reflexion. Denn sie betrifft das „Selbstverständnis der evangelischen Kirche“ (ebd.). D. Rössler, Überlieferung und Erfahrung, 160–162. Graf, Kirchendämmerung, 31–48, 49–64. A.a.O., 49 mit Bezug auf Philipp Melanchthon. H. Blumenberg, Vor allem Fontane, 141. Auf die hier sich findende Glosse komme ich unter Abs. 3.7.4 noch einmal zu sprechen. 8 I. Karle, Kirche im Reformstress, 11. 4 5 6 7
Zur kirchlichen Lage der Gegenwart
15
Damit dieses Selbstverständnis eine orientierende Kraft zu entfalten vermag, müssen gesellschafts-analytische Gesichtspunkte mit solchen verknüpft werden, die aus der Substanz der christlichen Religion nach evangelischem Verständnis zu gewinnen sind. Zu dieser Substanz wird zu rechnen sein, dass die reformatorische Kirche sich als eine solche des Wortes begriffen hat. Das hat einerseits zu einer Hochschätzung der Predigt geführt, andererseits zur Ausbildung einer „protestantischen Schriftkultur“.9 Auf diesem Hintergrund ist die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen der gegenwärtigen Kirchenkrise auf die Aufgabe zu beziehen, die der Predigt bis heute zukommen kann – der Kanzelrede, die in jeder kleinen Filiale der Großorganisation Kirche, in jeder Gemeinde, Sonntag für Sonntag gehalten wird. Ulrike Wagner-Rau hat in ihrem Buch Auf der Schwelle die zeitgenössische gesellschaftliche Situation in drei analytischen Gesichtspunkten zusammengefasst. Sie lassen sich jeweils auf Funktionen der Predigt beziehen. Erstens ist seit dem Ende der 60er Jahre „die Indifferenz in Bezug auf Kirche und christlichen Glauben bei einem großen Teil der Kirchenmitglieder“ gewachsen.10 Die „Kopplung zwischen bestimmten Lebenslagen, … biographischen Prägungen einerseits und kirchlichen Bindungen andererseits [ist] immer lockerer und fragiler geworden.“ Dennoch wird das Kasualhandeln der Kirche auch weiterhin angefragt. Anlässlich von Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Bestattungen können die Pfarrerinnen und Pfarrer auf die konkreten Lebenslagen der Menschen eingehen. Hierbei kommt der Predigt eine hohe Bedeutung zu. Ihr obliegt es, die stark biographisch gefärbte Situation mit den Verheißungsgehalten der biblischen Texte zu „versprechen“ (um einen Terminus Ernst Langes zu gebrauchen). Nicht nur aber ist das „Passungsverhältnis“ (Wilhelm Gräb) zwischen individuellem Lebenslauf und kirchlicher Bindung flüssiger und bruchstückhafter geworden. Auch der Wahrheitsanspruch des Christentums hat in den öffentlichen Diskursen an Plausibilität verloren. Die Predigt steht unter dem hohen Anspruch, diesen Wahrheitsanspruch zu vertreten, sei es in Gottesdiensten mit besonderem Anlass, sei es an den seltener gewordenen Sonntagen mit (bloßem) Predigtgottesdienst. Das vermag sie, indem sie sich in einer hermeneutischen Anstrengung auf die Texte der Bibel bezieht und diese durch den Filter der reformatorischen Bekenntnisschriften hindurch auf ihre aktualisierbaren Gehalte hin befragt. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, dass das Verständnis dieser Texte sich nicht im heute gängigen Sinn einer Wohlfühl-Religiosität erschöpfen kann. Sie sprechen auch „den Stachel des Negativen im Leben der
9 Graf, Kirchendämmerung, 33–35. 10 U. Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 9.
16
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
Endlichen, Sterblichen“ an.11 Das darf in den Predigten nicht verschwiegen, sondern muss theologisch bearbeitet werden. Ein zweiter Grund für die gegenwärtige Krise der Kirche liegt Wagner-Rau zufolge in den „harten Fakten der demographischen Entwicklung in Deutschland“.12 Es ist unstrittig: Die veränderte Alterspyramide und die Schrumpfung der Gesamtbevölkerung hat Folgen auch für die Kirche und den Gottesdienstbesuch. Wie in den Sozialsystemen der Gesellschaft ist mit Sparzwängen umzugehen. Und diese wirken sich in der Reduktion von Pfarrstellen wie in der Fusion von Kirchengemeinden aus. Das ist für die Beteiligten meist mit Belastungen verbunden. Wie an der richtigen Stelle gespart werden kann, und wie die aus der Gesamtlage entstandenen Zwänge zu sinnvollem Handeln führen können – diese Fragen bewegen die Kirche bis in die Bischofswahlen hinein.13 Die Predigt ist einer der wichtigen „Orte“, an denen eine Reflexion auch über diese laufenden Prozesse stattfinden kann. Drittens ist „ein immer noch ungewohntes Nebeneinander mit anderen Religionen und Weltanschauungen zu verarbeiten“.14 Der Individualisierung des eigenen Lebensentwurfs entspricht eine Pluralisierung der Deutungsangebote. Auch innerhalb der kirchlichen Praxis selbst mischen sich längst unterschiedliche „religiöse Identitäten und Vorstellungen der beteiligten Menschen“ (ebd.). Es wäre „fahrlässig, Entkirchlichung mit Säkularisierung gleichzusetzen. Genauso naiv wäre es allerdings, Entkirchlichung und Entchristianisierung vollständig vom Begriff der Säkularisierung zu lösen … Der Markt der Religionen und Sinnstiftungen ist in Bewegung, theologische Lehrmeinungen spielen kaum eine Rolle, das autonome Subjekt bedient sich aus den unterschiedlichsten Traditionen und bastelt sich ein individuelles religiöses Weltbild. Da theistische Lehren kaum noch überzeugen, bedienen sich selbst kirchennahe Menschen bei Motiven fernöstlicher atheistischer Spiritualität.“15 Auf diesem Hintergrund wird festzuhalten sein: Von der Predigt im Zentrum des Gottesdienstes ist eine Vergewisserung im Christentum (Rössler) zu erwarten. Sie trägt wesentlich dazu bei, ob der christliche Glaube und das christliche Leben Plausibilität gewinnen und behalten kann, wenn das Christentum sich dem Vergleich mit vielfältiger Religiosität und anderen Religionen stellen muss. 11 Graf, Kirchendämmerung, 63. 12 Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 9. 13 Vgl. den Bericht über die Bischofswahl in Baden in der F.A.Z. vom 20. Juli 2013 (Nr. 166), Seite 4. 14 Wagner-Rau, Auf der Schwelle, 10. 15 A. Grau, in: F.A.Z. Nr. 175 [31. Juli 2013] Seite N 4 in seiner Besprechung von: Annette Wilke, „Säkularisierung oder Individualisierung von Religion? Theorien und empirische Befunde“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft Jg. 21, Heft 1, 2013.
Zur kirchlichen Lage der Gegenwart
17
Nach Wagner-Rau befindet sich die Kirche selbst, insbesondere aber befinden sich die in ihr verantwortlich Mitarbeitenden auf der Schwelle, kommend aus einer Vergangenheit, die vergangen ist, blickend in eine Zukunft, die offen ist. Die Schwelle aber ist ein zweischneidiger Ort, gezeichnet von Unsicherheit, wie es weiter geht, ebenso wie von Herausforderungen, die zu ergreifen nicht ohne Risiko ist. Die Schwelle ist ein Raum zwischen Innen und Außen, ein Zwischenraum. Sich in diesen Zwischenräumen kirchlicher Herausforderungen zu bewegen, erfordert Mut. Für die Predigerin und den Prediger wird er sich nicht zuletzt in der Gestaltung seiner Predigt und in der Gestaltung des Gottesdienstes erweisen müssen.16 Denn die Predigt ist ihrerseits eine Schwelle, die von traditionell Vorgegebenem und Gewohntem zu neuem Verständnis und zu neuen Gestaltungen führt. Sie ist gewissermaßen der exemplarische Ort einer Schwellenbegehung. Und so führt die Herausforderung an die Predigt, Orientierungen für die Übergänge des einzelnen wie des kirchlichen Lebens zu geben, zu der Frage: Wo liegen die Quellen solchen Mutes, ja des Lebensmutes überhaupt? Die Antwort wird in erster Linie lauten müssen: Es ist die frohe Botschaft, die auf angemessene Weise mitzuteilen und immer neu zu verstehen zu den Hauptaufgaben der Kirche gehört. Darin ist es begründet, dass die evangelische Kirche die Predigt ins Zentrum des Gottesdienstes gestellt hat und diese religiöse Rede zum Identitätsmerkmal des Protestantismus geworden ist. An der Predigt wird sich die Einsicht zu bewähren haben, dass Zukunft Herkunft braucht, um mit dem Philosophen Odo Marquardt zu sprechen.17 Zu den spezifischen Kompetenzen, über die die Kirche verfügt, gehört das freie, in ihrer Freiheit aber zugleich an die biblische und reformatorische Tradition gebundene Wort, die ihrer Situation angemessene Rede und die Fähigkeit zur Auslegung der Schrift. Wenn man die Kirche sachgerecht als creatura verbi begreift, wird das nicht verwundern. Zu klären ist aber, aus welchen Quellen die Kompetenz zum freien Wort geschöpft wird, und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie erhalten bleibt. Diese Fragen zu vertiefen und den Boden für Antworten zu bereiten – das wird Aufgabe dieser homiletischen Untersuchung sein.
16 Wenn ich im Folgenden vom „Prediger” spreche, ist diese Redeweise selbstverständlich inklusiv. 17 O. Marquardt, Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays.
18
1.2
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
Reformatorische Weichenstellungen
In der Reformation sind die Weichen gestellt worden, der Predigt die Aufgabe einer steten, immer wieder neu ansetzenden Vergewisserung im Glauben und Leben zuzumuten. Das war notwendig geworden, nachdem der Protestantismus gegen „die souveräne Kirche und ihre Glaubenswerke“ den persönlichen Glauben des Individuums gesetzt hatte (ich folge einer Darstellung in der Außenperspektive Hermann Cohens).18 Seither musste der einzelne Mensch sagen können: „ich weiß, woran ich glaube“, um mit dem Titel eines Gesangbuchliedes zu sprechen. Das glaubende Subjekt musste sich auf eine neue Weise orientieren, seit es auf den festen Halt der überkommenen Institution mit ihren bisher in Geltung stehenden Traditionen nicht mehr ohne weiteres bauen konnte. Für Luther kam es darauf an, in der Auslegung der Schrift (sola scriptura) zu einer neuen Vergewisserung im Christentum zu gelangen. Durch seine Übersetzung war die Bibel jedermann zugänglich gemacht worden. Doch der „Buchstabe“, der in deutscher Sprache nun zu lesen war, sollte auch in seinem christlichen „Geist“ verstanden werden können. Zu diesem Zweck führte Luther den steten Bezug auf den „Begriff Christi“19 in seine Bibelhermeneutik ein. Die Bedeutung der Schrift (und d. h. sowohl des Neuen, als auch eines vom Neuen her gelesenen Alten Testaments) erschließt sich ihm im Licht der im Evangelium kondensierten Christusidee (solus Christus). Nach der Schrift zu verstehen heißt seither, den biblischen Text in der Spannung von Gesetz und Evangelium so zu interpretieren, dass sich die Frohbotschaft als das oberste Prinzip der Auslegung durchsetzt. Allein durch göttliche Gnade und nicht durch von der Kirche vorgeschriebene Werke ist der Mensch gerechtfertigt (sola gratia), allein durch den Glauben kann er dieser Gnade teilhaftig werden (sola fide). Um sich im Glauben und Leben der eigenen Existenz vor Gott zu vergewissern, bedarf es dieser einlässlichen Interpretation der Überlieferung in der Gestalt der biblischen Texte. Eben dieser Vorgang der Interpretation obliegt fortan eigens dafür ausgebildeten und zum Dienst der Wortverkündigung berufenen Personen (rite vocatus). Die zentrale Stellung der Predigt im evangelischen Christentum ist also begründet durch die gesteigerte Herausforderung, das Wort Gottes im Licht der Christusidee so zu verstehen, dass es seine orientierende Bedeutung (bzw. Funktion) für den Glauben und für das gelebte Leben immer wieder neu gewinnen kann. Dass hierbei die Subjektivität des Predigers eine stärkere Stellung gewonnen hat als zuvor, liegt ebenfalls auf der Hand. Cohen spricht von der „Subjektivität mit allen ihren Zweideutigkeiten“ (436). Die „Persönlichkeit des Individuums“ muss sich darüber erheben. Ihr 18 H. Cohen, Der Jude in der christlichen Kultur (1917); zit nach: Werke 17, 436–440, hier : 436. 19 Cohen, Der Jude in der christlichen Kultur, 437.
Reformatorische Weichenstellungen
19
kommt nun eine hohe Freiheit und Verantwortung zu. Der Vergewisserung des Einzelnen in der Gemeinde soll durch die Predigt der Weg bereitet werden, doch sie setzt ihrerseits die Glaubensgewissheit des Predigers voraus – eines Glaubens allerdings, der stets durch die Anfechtung hindurch gehen muss. Diese protestantische Prägung des Christentums bildet die Voraussetzung, unter der die Aufgabe der Predigt auf evangelischer Seite bis heute bestimmt werden muss. Die von ihr anzuregende Vergewisserung im Christentum ist nicht möglich ohne eine hermeneutische Anstrengung. Die Predigt interpretiert die biblischen Texte und aktualisiert sie auf diese Weise. Sie bringt die alten Texte ins Gespräch mit der gegenwärtigen Erfahrung. Nur so kann sich das Christentum aus seiner Herkunft verstehen. Odo Marquardt zufolge ist das ein Aspekt der Verlangsamung, der im modernen Leben allgemein – und auch im kirchlichen – den beschleunigten Veränderungen korrespondiert.20 Im kirchlichen Leben kommt der Predigt diese retardierende Funktion zu. Ihre Aufgabe ist – so gesehen –, zu einem reflektierten Innehalten Gelegenheit zu geben. Solches Innehalten ist aber nur auf individuelle Weise möglich. Der Prediger muss darin geübt sein – sonst brächte er im Trubel einer Woche gemeindlichen (und sonstigen) Lebens keine Rede hervor, die zum Innehalten, zum Nachdenken, zur Vergewisserung in Leben und Glauben anregen könnte. Zu predigen ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein persönliches Geschäft, in dem die Lebenserfahrung des Predigers und seine theologische Überzeugung – sein Welt- und Selbstverständnis eingeschlossen – eine enge Verbindung eingehen. Und da unser Verständnis der Welt und unserer selbst dem Wandel unterworfen ist wie die Verhältnisse, in denen wir leben, besteht die Herausforderung der Predigt in einer Aktualität, die auch das gegenwärtige Verständnis der biblischen Texte einbezieht. „Wahrheit ist mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.“21 Dieser von Walter Benjamin in den Notizen zu seiner groß angelegten „Urgeschichte der Moderne“, der „Passagenarbeit“, geltend gemachte Wahrheitsbegriff lässt sich im Sinne einer Entsprechung von Norm bzw. Ideal auf der einen Seite, und gegenwärtiger Wirklichkeitserfahrung auf der anderen verstehen. Er kann auch für die Predigt in Anspruch genommen werden. Nur in einer komplexen Vermittlungsanstrengung, die der Prediger selbst auf sich nehmen muss, wird er diesem Anspruch gerecht werden können. Doch das Bemühen, in dieser Weise gerecht zu sein, ist endlich. Es ist bezogen auf den Zeitpunkt, zu dem die Predigt vorbereitet sein muss, um die 20 Minuten, über 20 Vgl. Marquardt, Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. 21 Benjamin, GS V, 578. Schon Aristoteles hatte einen „auf Zeit bezogenen Wahrheitsbegriff“ ausgebildet, für den sich „das Problem des Wahrheitskriteriums“ (J. Simon, Philosophie des Zeichens, 12) stellte.
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Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
die hinaus der Prediger einer sprichwörtlichen Faustregel zufolge nicht reden sollte, nicht zu überschreiten, auch wenn er „über alles reden darf.“ So verstanden ist die Predigt der exemplarische Fall eines Handelns auf der Schwelle zwischen ihrer intensiven Vorbereitung und dem „Amen“, mit dem sie aller Konvention nach schließt. Die Predigt selbst ist eine „Passage“, ein Übergang im Fluss der Zeit, nach dem Ende der Woche am Samstag zu Beginn der neuen Woche. Die Zeit wird hier zum Raum, wenn sie die Stillstellung erfährt, die ihre Herrschaft unterbricht. Ihre Herrschaft übt die Zeit aber auf zweierlei Weisen aus. Zum einen kann sie darin bestehen, dass sie unwiederbringlich vergeht. Zum andern darin, dass sie nicht vergehen will, wie wir das subjektiv in der Langeweile erfahren. Eine Predigt, die dem Wahrheitsanspruch entspricht, mit Zeit bis zum Zerspringen geladen zu sein, unterbricht beide Weisen der Herrschaft der Zeit, wenn es ihr gelingt, ein Innehalten zu ermöglichen – inmitten des Freiraums, den die Liturgie des Gottesdienstes ihrerseits vorbereitet und schafft. Während im Gottesdienst der Musik, dem Gesang, dem Gebet und der Stille diese Vorbereitung zum Innehalten obliegt, muss sich die Predigt auf die Freiheit des Wortes verlassen, das ein dazu berufenes Individuum in eigener Verantwortung spricht. Das Predigtwort will dann einer Konkretion den Weg bereiten, durch die die Gehalte der Tradition, vor allem ihre „Verheißung“, mit der erfahrenen Wirklichkeit der Gegenwart in Korrelation treten (E. Lange).22 Diese Konkretion hat eben eine zeitliche Signatur: in der mit Zeit geladenen Gegenwart treten erinnerte Vergangenheit und erhoffte Zukunft in ein Gespräch.
1.3
Ist die Predigt noch zentral?
Die These von der Zentralität der Predigt im evangelischen Gottesdienst steht heute allerdings in Frage. Sie muss sich Entwicklungen gegenüber behaupten, die im innerprotestantischen Bewusstsein stark geworden sind: Entwicklungen, die auf die anfangs skizzierte Lage der Kirche in der Gesellschaft der Gegenwart reagieren. Man versucht, das aus dem Lot geratene „Passungsverhältnis“ von individuellen Lebenslagen und überkommenen kirchlichen Formen durch eine vielfältige Vernetzung mit dem allgemeinen Leben der Gegenwart zu kompensieren. Und hierbei bedient man sich einer ganzen Reihe anderer „symbolischer Formen“ (Ernst Cassirer) als der Predigt, für die man Anleihen bei den Künsten macht. Neuere theoretische Zugänge zum Gottesdienst, die das Dramaturgische, das Performative oder das Symbolische betonen, scheinen die traditionelle 22 Einer glücklichen Unterscheidung G. Ebelings folgend muss das Wort der Predigt frei, eigenständig und konkret sein. (Ders., Fundamentaltheologische Erwägungen zur Predigt, 72)
Ist die Predigt noch zentral?
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Bedeutung der Predigt relativiert zu haben. Auch die Integration des Bildes in die Verkündigung, sei es als an die Leinwand projiziertes Gemälde, sei es als handout, ist heute keine Seltenheit mehr. Der nüchtern bildlose Eindruck, den nicht wenige protestantische Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz bis heute vermitteln, scheint wie ein Relikt aus vergangenen Tagen. Insgesamt traut man dem puren, lauteren Wort nicht mehr allzu viel zu.23 Die Sinnlichkeit des Hörens scheint weithin nicht mehr zufrieden zu stellen – gern möchte man auch die Lust des Auges bedienen, oder – wie im modernen Theater – die Gemeinde am dramaturgischen Spiel in dem zur Bühne umfunktionierten Altarraum beteiligen. Überhaupt hat man längst auch im evangelischen Christentum die kulturanthropologische Bedeutung des Rituals erkannt, das im Katholizismus immer schon eine größere Rolle gespielt hatte. Dieses Eindrucks kann sich der Besucher regulärer Gottesdienste nicht erwehren, und das schon längst nicht mehr nur in experimentellen Zentren der Cities, sondern auch in der Peripherie. Hat die Predigt als Identitätsmerkmal des protestantischen Christentums also ausgedient? Wie es scheint, sind sog. „Anspiele“ unterschiedlichster Qualität unter Beteiligung von Kinder- und Jugendgruppen, sowie deren kurze Auslegung durch den Pfarrer, an die Stelle der religiösen Rede getreten, die man einmal im Zentrum des evangelischen Gottesdienstes erwarten durfte. Zum Teil hat die Angleichung an die allgemein verbreitete Erlebniserwartung den regulären Predigtgottesdienst durch „Ostergärten“ verdrängt – christliche Disneylands und Sinnenparks, statt Techno-, nun Religiorama. Um es noch einmal mit F.-W. Graf zu sagen: „Es gibt in der evangelischen Kirche derzeit einen Trend zur Infantilisierung des Christlichen, zu einem Stil religiöser Kommunikation, der sich primär an Kinder und andere vermeintlich Unmündige richtet. Die symbolischen Sprachen der Religion dienen hier oftmals dazu, in einer als abstrakt und entfremdend erlittenen Moderne eine als bergende Heimat empfindbare kleine Gegenwelt zu erzeugen.“24
Schon seit längerem wird die Frage gestellt, ob es denn (angesichts dieser binnenkirchlichen Phänomene) in der von Bildern überfluteten Medienkultur noch zeitgemäß sei, den Gottesdienstbesuchern eine Rede zuzumuten, der sie konzentriert folgen müssen. In den hier vorgelegten homiletischen Reflexionen werde ich eine doppelte 23 Vgl. Graf, Kirchendämmerung, 35ff. Dem entspricht die These des Soziologen Armin Nassehi, „dass das Reflexive hinter dem Ästhetischen immer stärker zurücktrete“, weshalb denn auch „der Katholizismus sehr viel besser in unsere Gegenwart [passe] als der Protestantismus, der immer Wert gelegt habe auf eine gründliche gedankliche Durchdringung des eigenen Lebens und der eigenen Lebensführung.“ (M. Weeber, Predigtstudie zum Reformationstag über Röm 3, 21–28, 10 mit Bezug auf A. Nassehi: Eine Welt, die katholischer wird, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 300, Mittwoch, den 30. Dezember 2009, S. 42.) 24 Graf, Kirchendämmerung, 62.
22
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
Antwort geben. Zum einen ist die bleibende Relevanz der Predigt im evangelischen Gottesdienst (allen Zweifeln zum Trotz) mit Argumenten zu fundieren. Dass sie – als Rede – die geistigste Form der Mitteilung des Glaubens ist, hat seinen Grund in der antiken Bedeutung des Logos, der Vernunft und Wort untrennbar aufeinander bezieht. Diese Bedeutung wird aber in der johanneischen Theologie auf eine für die Homiletik grundlegende Weise zugespitzt: „Das Wort [der Logos] ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“ (Joh 1,14) Doch wie ist dieses Inkarnationsgeschehen zu verstehen? Weniger wird in heutigen homiletischen Programmen die geistige Dimension betont – und die spekulative kommt schon gar nicht mehr vor25 –, als vielmehr die sinnliche, die ästhetische, die bildliche, die dramaturgische. Hans Blumenberg zufolge könnte das Thema des Johannesevangeliums sein, „wie schwierig es für einen Gott ist, Mensch zu werden“.26 Diese Humanisierung Gottes hätte aber für den Menschen zur Folge, dass er zu seiner ganzen Menschlichkeit befreit würde. Die Humanisierung des Menschen wäre demnach das Maß, an dem sich auch die Schwierigkeit zu bemessen hätte, in der Predigt das Wort Gottes aktuell Fleisch werden zu lassen. Wie „im Wort die einzige den heiligen Schriften bekannte ,Tätigkeit‘ Gottes besteht“ (145), so ist diese nun in menschlichen Worten – denen des Predigers – mitzuteilen und weiterzusagen. Zum anderen: Die Predigt bedarf der Worte und sollte doch zugleich Vernunft haben – dies Doppelte liegt in der Bedeutung des Logos beschlossen. Doch welche Vernunft der religiösen Rede ist hier in den Blick zu nehmen? Hinsichtlich der neuzeitlichen Tradition einer Bibelkritik, die sich auf die aufklärerische Vernunft berief, stellt sich die Frage, was der Prediger und was seine Gemeinde mit den Texten der Bibel noch anfangen können. Reicht es hin, auf das gegen die Kritik mobil gemachte Theologumenon des Kerygmas zurückzugehen (s. u. Abs. 2.3.1)? Oder muss man „dominierenden Philosophemen“ wie diesem gegenüber Vorsicht walten lassen, weil sie „weniger die theologische Sprache angereichert als vielmehr durch Aussageverbote eingeengt“ haben (18)? Auf hohe sprachliche Kompetenz kommt es allerdings an, wenn die aus der Bedeutung des Logos begründete Predigt sich auf den „ganzen Menschen“ einlässt, um dem Inkarnationsgeschehen zu entsprechen.27 Der ganze Mensch bringt aber nicht nur ein Bedürfnis mit, zu verstehen, sondern auch sein über die Sinnlichkeit vermitteltes Gefühl und den Willen, ein gutes Leben zu führen. Deshalb wird die Predigt den Verstand, das Gefühl und den Willen gleichermaßen anzusprechen haben. Wie ihr hierbei die Rhetorik und die anderen 25 Auf sie hat sich H. Blumenberg in seinem lesenswerten Buch Matthäuspassion durchaus eingelassen (a. a. O., 12ff, 123–129 u. ö.). 26 Blumenberg, Matthäuspassion, 144. 27 Vgl. Drehsen u. a. (Hg.), Der Ganze Mensch. Festschrift für D. Rössler.
Die auf die Praxis bezogene Theorie der Predigt
23
Künste zu Hilfe kommen können, ist zu untersuchen. Unverzichtbar ist der Gebrauch der theoretischen Vernunft, insofern sie die Kritik an der Reichweite der theoretischen Modelle zu orientieren hat, die in der Homiletik heute im Vordergrund stehen. Konstitutiven Rang werden aber die ästhetische und die praktische Vernunft beanspruchen können: letztere deswegen, weil Predigen ein Handeln ist, das der Regulation bedarf, erstere deswegen, weil im ästhetischen Medium mit der Schwierigkeit umzugehen ist, wie das Wort Gottes in der Predigt als einer Rede Fleisch werden kann. Dass hierbei die Doppelbedeutung des Logos seine Orientierungsfunktion behält, ist durch die theoretische Ausrichtung der Untersuchung zu gewährleisten. Es geht um den Gebrauch von Worten, weshalb auch die Praxis der Predigt Ziel und Prüfstein der theoretischen Bemühung ist. Aber damit die Predigtpraxis Kurs halten kann, bedarf es eben auch der Theorie. Deren Arbeit wird sich in der Gestalt einer von ihr orientierten Predigt niederschlagen, auch wenn sie invertiert bleibt wie der zum Handschuh gewordene Strumpf.28
1.4
Die auf die Praxis bezogene Theorie der Predigt
Meine einleitenden Bemerkungen waren bemüht, Aspekte einer soziologischen Analyse über den Zustand der Kirche in der Gegenwartsgesellschaft mit einer Skizze der Predigtaufgabe zu verknüpfen. Die Kirche befindet sich in einer Zeit des Übergangs – d.i. ein ökumenisches Phänomen, das allerdings auf katholischer Seite eine andere Prägung hat (und auf das man auch anders reagiert) als auf evangelischer. „Auf der Schwelle“ findet sich aber das Christentum in beiderlei Gestalt. Dass die Predigt ihrerseits eine Passage im Sinne eines Übergangs ist, hat die homiletische Theorie im Modell eines Dreiecks reflektiert, in dem die Vorbereitung der Predigt wie auch ihre Rezeption durch die Gemeinde gefasst werden kann. Prediger, Text und Gemeinde verhalten sich zueinander wie die drei Punkte dieser geometrischen Figur. In verschiedenen Hinsichten sind die hier symbolisierten Bezeichnungen als Wechselwirkungen zu verstehen. Erstens verhält sich der Prediger als Hermeneut zum Text und zum gegenwärtigen Leben. Die Predigt muss ein Verständnis der gegenwärtigen Lage der Kirche ebenso voraussetzen wie der existentiellen Situation des Menschen und insbesondere der zu erwartenden speziellen Bedürfnisse in der eigenen Gemeinde. Zweitens sucht der Prediger der Gemeinde als Sprech-Handelnder mitzuteilen, was ihm als doppeltem Hermeneuten selbst relevant geworden ist und plausibel 28 Dieses Bild W. Benjamins ist geeignet, die Inversion theologischer Reflexion für die Predigtarbeit zu veranschaulichen (Benjamin, GS IV/1, 283f [Denkbild Schränke]).
24
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
erscheint. Hierbei ist er drittens als individuelle Person unvertretbar – ein anderer Prediger wäre vielleicht zu einer anderen Mitteilung gekommen. Das Mittel dieser Mitteilung aber ist die Rede. Deshalb wird die Homiletik in stetem Gespräch mit der Rhetorik zu entwickeln sein. Seit sich neuere homiletische Konzeptionen bei unterschiedlichen Künsten Rat gesucht haben, geht es aber nicht mehr nur um die Kunst, eine Rede zu halten. Sondern auch die Kunst des Dramas zog nicht geringes Interesse auf sich, um für die Performanz der Predigt etwas zu lernen. Als letzten Schritt auf dem Weg zur Predigt hatte schon die antike Redekunst die actio bzw. die pronuciatio beschrieben: die Aufführung der vorbereiteten Rede vor der Versammlung. Performanz meint aber mehr als das englische Wort performance suggeriert, mehr als Aufführung, Schauspiel, Darbietung. Performanz ist auch ein sprechakttheoretischer Terminus, der den Überschritt vom selbstgenügsamen Gedanken, der persönlichen Einsicht, zur wirksamen Mitteilung meint. (s. u. Abs. 4.4.4) Um in diesen Herausforderungen zu lernen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die Künste eines immer größeren Interesses für die Homiletik erfreut – bis hin zum Film, an dem Veranschaulichung, Konkretion, Verdichtung, aber auch die Ansprache von Gefühl und Verstand exemplarisch sollte studiert werden können. Es wird also zu fragen sein, wie beide Thesen – die der sog. „rhetorischen Wende“ in der neueren Geschichte der Homiletik, und die sog. „ästhetische Wende“29 zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Die Predigt als ein Kunstwerk zu verstehen muss ja nicht bedeuten, ihr Verständnis als Rede zu verabschieden. Zum Zweck begrifflicher Klarheit ist hinter die modischen Trends im homiletischen Diskurs zurückzufragen, was die Predigt ihrem traditionellen Verständnis nach sei, kurz: es ist nach ihrem Wesen zu fragen. Und das ist in der Bestimmung gefasst, Predigt des Evangeliums zu sein. Doch die Homiletik würde ihre praktische Verantwortung verleugnen, wenn sie in historischen oder systematischen Erörterungen stecken bliebe, die in der prinzipiellen Homiletik verhandelt werden. Deshalb muss die Frage „Was ist das: eine Predigt?“ stets auf die andere bezogen werden: „Wie macht man das: eine Predigt?“ Die Herausforderung im Pfarramt, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort eine Predigt halten zu müssen, ist alles andere als ein unwichtiger Zusatz zu den wesentlichen Bestimmungen der Predigt nach evangelischem Verständnis. Diese praktische Herausforderung ist Teil ihrer Wesensbestimmung selbst. Und darin besteht schon eine Analogie zwischen Predigt und Kunst. In welcher Weise die Predigt einem Kunstwerk analog zu betrachten ist, und 29 Conrad, Ruth/Weeber, Martin (Hg.), Protestantische Predigtlehre. Eine Darstellung in Quellen, 258. Die „rhetorische Wende“ antwortete in den 70er Jahren auf eine Tendenz der Dialektischen Theologie, aus prinzipiellen Gründen die Bedeutung der Rhetorik für die Homiletik abzuschatten.
Die Analogie von Predigt und Kunst
25
wo die Grenze solcher Analogien liegt – d.i. eine Leitfrage dieser Untersuchung. Sie wird zu ihrer Beantwortung erfordern, sich auf die Theorie der Künste – eben die Ästhetik – einzulassen. Denn erst dann ist der Boden für ein Gespräch bereitet, in dem die Predigt als eine spezifische Art der Rede Partnerin sein kann.
1.5
Die Analogie von Predigt und Kunst
In drei Hinsichten kann die in Frage stehende Analogie hier schon – später erst zu Sagendes vorwegnehmend – ausgeführt werden. Erstens wird wie in der Kunst, so auch in der Predigt als einer Rede „das Individuum schlechthin zur Aufgabe“.30 Wenn gilt: „Alles Kunstschaffen ist ein unaufhörliches Zurückgehen auf … [das] Urgefühl des Individuums“ (200), so wird die Analogie lauten können: Auch zu predigen ist ein zutiefst individuelles Geschäft, lässt sich doch die skizzierte Predigtaufgabe eben nur von einem bestimmten Prediger bewältigen. Individualität hat zudem immer eine geschichtliche Signatur, was wie am Kunstwerk, so auch an der Predigt gezeigt – und gesehen – werden kann.31 Schließlich ist nicht nur die Produktion einer Predigt, sondern auch ihre Rezeption – das Hören und zu-Herzen-, Willen- und Verstand-Nehmen – zutiefst individuell.32 Wie in der Homiletik, so lässt sich auch in der Ästhetik die Konstellation der Individualität in einem Dreieck symbolisieren. (Abs. 1.4) Hier besteht sie aus den Beziehungen zwischen dem Künstler, seinem Werk und dem Publikum, dort zwischen dem Prediger, der auf einen Text ebenso wie die Situation sich beziehenden Predigt und der Gemeinde. Doch diese Analogie wurzelt tiefer noch in einem inneren Zusammenhang, der zwischen einer religiösen Rede und der Kunst besteht: in einem differenzierten Verhältnis zwischen Kunst und Religion. (s. u. Abs. 4.2) Zweitens ist wie für die Kunst, so auch für die Predigt eine spezifische Affinität zur Theorie anzunehmen. So muss, um ein Beispiel aus der Musik zu geben, „die Kunsttheorie der persönliche Besitz des Komponisten sein … die beständige Grundlage seines Schaffens“ (202). „Die Originalität wird keineswegs beeinträchtigt, die schaffende Phantasie keineswegs unfrei bei d[ies]er Personalunion 30 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 198. 31 Kritisch gegen Benedetto Croces Begriff der Wahrheit, sie sei „das Absolute“ (Ästhetik I [Werke 8], 30), heißt es bei Cohen: „Die Geschichte ist das Leben, ist das Wesen der Kunst.“ (33) Denn die Individualität des Künstlers und seines Werkes trägt eine historische Signatur. „Das Individuum ist ein geschichtliches“ (34). 32 Um es mit Cohen zu sagen, muss „nicht nur der Schaffende, sondern auch der Genießende, der ein Nachschaffender sein muss, … allen Inhalt … aufzulösen streben in jene Aufgabe des Ich, welche jedes wahrhafte Kunsterlebnis stellt“ (209).
26
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
mit der wissenschaftlichen Theorie, sondern die Schöpfung wird um so zauberhafter an Macht und Vielgestaltigkeit, je mehr sie von der Theorie geregelt und geleitet wird […].“33 Entsprechend wird auch die Predigtarbeit ohne homiletische Theorie nicht zu bewältigen sein. Doch hier wie dort bliebe „alles theoretische Wissen und Können, alle Beherrschung der strengsten Formen frostig und unerquicklich“, wenn nicht die individuelle Art des Schaffens dieses zur Anwendung brächte. Mit Blick auf den Prediger wird zwar nicht wie mit Blick auf den Künstler von seinem „Genius“ zu sprechen sein, aber auch zum Predigen bedarf es der Begabung und des Talents. Entscheidender als diese wird die Liebe zum Menschen sein, die sich in der Predigtarbeit auswirkt. Sie ist auch für eine ästhetische Theorie der Kunst grundlegend. „Wo die Kunst lebendig wird, da regt sich die Liebe zum Menschen.“ (187) Drittens wird wie für die Kunst, so auch für die Predigt gelten können: Das „Grundthema … der Menschenliebe des Künstlers“ wird in „unendlichen“ Variationen durchgespielt. Cohen berichtet davon, der Schriftsteller Berthold Auerbach habe ihm einmal gesagt, „alle Motive der Poesie … [ließen] sich auf den Nagel eines Daumens schreiben“ (224). In dieser Armut an „poetischen Motiven“ bestehe der Reichtum dieser Kunst, müsse man doch als Hauptmotiv eben die Menschenliebe des Künstlers annehmen. Man kann das mit einem Wort des verstorbenen Marcel Reich-Ranicki über die Motive der Literatur variieren: „Liebe und Tod – der Rest ist Mumpitz.“ Auch auf diesem Hintergrund lässt sich eine Analogie zur Predigt ziehen, wenn man als ihr Grundthema das „Evangelium“ annimmt, wie es im Verhältnis zum „Gesetz“ des Lebens immer wieder neu zu entfalten ist. Der Tod gehört zum „Gesetz“ des Lebens, das „Evangelium“ aber verkündet die Stärke der Liebe gegen den Tod (vgl. Cant [Hoheslied] 8, 6). Ich komme auf die Analogie und die Differenz zwischen der Menschenliebe des Künstlers und der Evangeliumsverkündigung des Predigers zurück. (vgl. Abs. 5.3 u. andere Stellen) Jedenfalls ist kein Prediger im Licht des Evangeliums vorstellbar, der nicht seinerseits von einer Liebe zu den Menschen bestimmt wäre.34 Möglich ist die unendliche Variation von Grundthemen sowohl in der Kunst als auch in der Predigt aber aufgrund der Gestaltungskraft von Künstlern und Predigern. Kunst ist nicht die Nachahmung, sondern die Entdeckung von Wirklichkeit (E. Cassirer). Diese Fähigkeit, immer neue Entdeckungen zu machen, wird nicht zuletzt anhand des Umbruchs von bisherigen Ausdrucksweisen und Darstellungsarten in der Geschichte der Kunst sichtbar. Wie hier die bis33 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 162. 34 Vorstellbar ist allerdings ein Prediger, dem sich das Licht des Evangeliums verdunkelt hat. Einen solchen hat I. Bergmann in dem Film Licht im Winter (1963) figuriert.
Die Grundlegung der Leitfragen und der Gang der Untersuchung
27
herige Bedeutung hat verfeinert werden können, so arbeiten auch Predigten an der großen Aufgabe weiter, die Verheißungen des Evangeliums mit den Wirklichkeiten des Lebens zu versprechen. Weder Kunstwerke noch Predigten haben ihren Sinn schon aufgrund eines prästabilierten Zusammenhangs mit der Wirklichkeit, sondern sie erzeugen diesen Sinn erst. Das aber ist nur möglich durch die kreative Arbeit des Menschen.
1.6
Die Grundlegung der Leitfragen und der Gang der Untersuchung
Den Herausforderungen homiletischer Theorie suche ich zu begegnen, indem ich mit einer Grundlegung der Leitfragen beginne. So ist die Frage der Homiletik mit dem allgemeinen Wissen zu verknüpfen und als Wissenschaft zu begründen. Das ist nicht möglich in der bloßen Zwischenlage – wenn man so will: der „Sandwichposition“ – zwischen Rhetorik und Ästhetik, sondern durch den Rückgang auf die Doppelbedeutung des Wortes Logos. Die Predigt ist eine Rede, die an dieser Doppelbedeutung gemessen werden muss. Wenn sie ihr entspricht, entspricht sie ihrem Wesen. Ausgehend vom enzyklopädischen System der Wissenschaften bei Schleiermacher, der die Homiletik als Teil der praktisch-theologischen Wissenschaft begriffen hat, muss § 51 b der Dialektik auch für die Homiletik gelten.35 Von der Doppelbedeutung des Wortes Logos aus muss die „Construction des ganzen Wissens seiner relativen Verwandtschaft nach“ möglich sein. Das suche ich in dieser Untersuchung zu zeigen. Und auf die Frage, warum ein derart philosophisches Unternehmen wie eine „Grundlegung“ in der Homiletik seine Berechtigung hat, kann ich noch einmal mit Schleiermacher antworten. Ihm zufolge setzt das Wissen überhaupt ein „Durchdrungensein mit Philosophie“ voraus (4). Deshalb gilt – auf das denkende Subjekt bezogen –, dass „jeder wissenschaftliche [Mensch] philosophieren [muss], weil sonst sein Wissen nur ein traditionelles sein kann“ (3). Wie in der einleitenden Skizze gezeigt, darf sich die protestantisch verstandene Predigtaufgabe nicht in der Reproduktion eines traditionellen Wissens erschöpfen, wenn anders sie sich nicht verfehlen will. Die erforderliche Vermittlung mit der gegenwärtigen Erfahrung bedarf einer produktiven Denkleistung, die hinsichtlich der Rechenschaft, die sie von sich selbst sollte geben können, philosophischen Ansprüchen genügen muss. Eine Grundlegung ist aber auch erforderlich hinsichtlich der anderen Frage, was unter „Kunst“ verstanden werden soll, wenn gesagt wird, die Predigt sei ein 35 Schleiermacher, Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833).
28
Einleitung: Die Bedeutung und Funktion der Predigt
Kunstwerk. Die minimale Bedeutung ist, Kunst im Sinne von Techniken zu verstehen, die erlernt werden können.36 „Die Technik der Kunst haben aber auch die Bienen; aber sie haben kein Kunstgefühl, obschon sie gewiß auch die Lust bei ihrer Technik haben werden.“ (123) Anspruchsvollere Bedeutungen, die auf dem Gefühl hinsichtlich der Produktion und der Rezeption der Kunst aufbauen, sind aus einer Beschreibung von Kunstwerken in ihren Epochen zu gewinnen. Kunstwerke aus ihrer Geschichte zu begreifen heißt dann, danach zu fragen, ob nicht auch sie als individuelle Äußerungen – wie die Wahrheit – „mit Zeit bis zum Zerspringen geladen“ (s. o.) sind.37 Es steht dann das, was aus einem Kunstwerk „spricht“, in einer Ähnlichkeit oder Korrespondenz zu der Wirkung einer Predigt.38 Zugleich ist aber auch das Unvergleichbare zwischen einer Rede, die die Predigt bleibt, und einem Kunstwerk in den Blick zu nehmen (s. u. 5.2, 5.3).39 Schließlich wird eine Grundlegung der Ästhetik die Frage nach der Einheit der Kunst stellen, und auf diese Weise über kunstgeschichtliche Einzelforschungen hinausgehen müssen (vgl. etwa Abs. 4.2, 5.1). Hierbei muss sie stets auf „die Materie des Problems“ bezogen sein, „das zur Untersuchung vorliegt“.40 Entsprechend ist das „Problem“ der Predigt unter den Gesichtspunkten der Doppelbedeutung des Logos, der Rhetorik und der Ästhetik zu erarbeiten. Die Grundlegungen, aus denen das Problem der Homiletik entwickelt wird, treten im Plural auf. Wie erst im Zuge der Darstellung gesehen werden kann, sind die mehrfach ansetzenden Grundlegungen aber miteinander sachlich verknüpft. Als Rede ist die Predigt ein Kunstwerk in einem genauer noch darzulegenden Sinn. Doch es unterscheidet sie von anderen Kunstwerken ein Moment, das für jede Rede charakteristisch ist: die Gewissheit, von der der Redner sein Publikum überzeugen will. Diese Analogie zu jeder Rede als Rede ist im Fall der Predigt nur inhaltlich zu spezifizieren (s. u. Abs. 5.3). Nicht prinzipiell, sondern in dieser inhaltlichen Hinsicht ist die Predigt eine Rede sui generis. Die Untersuchung wird folgenden Gang nehmen: Zuerst ist es notwendig, sich (im Rahmen prinzipieller Überlegungen) über die Doppelbedeutung des Logos als Wort und Vernunft Gedanken zu machen. Denn diese doppelte Bedeutung schwebt nicht in der Luft unabhängiger Bestimmungen. Ihre Sache ist 36 Vgl. Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 7. Vgl. 219–222. 37 Eben das ist ein von Th.W. Adorno ins Zentrum seiner ästhetischen Theorie gerückter Sachverhalt. Die Werke haben einen durchaus geschichtlichen Charakter. Vgl. Ders., Ästhetische Theorie, 264f., 272. 285 u.ö. 38 Nach einem treffenden Wort Adornos sind Kunstwerke „Sprache … nur als Schrift“. Das habe Paul Klee durch seine „Blätter“ zum Ausdruck gebracht, „die einer gekritzelten Schrift sich nähern“ (Ders., Ästhetische Theorie, 189). 39 In Umkehr des Verhältnisses von Schrift und Sprache in Kunstwerken ließe sich sagen: Predigten sind Sprache nur als Rede, die sich der Schrift lediglich als Stütze bedient. 40 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 75.
Die Grundlegung der Leitfragen und der Gang der Untersuchung
29
vielmehr verwurzelt in fundamentalen Zusammenhängen. Dieser Aufgabe wird das folgende Kapitel gewidmet sein (Kapitel 2). Sodann ist (im Rahmen praktischer Überlegungen) homiletisch zu fragen, wie das Wort Fleisch werden kann, m.a.W. wie die Ideen sinnlich zu werden vermöchten. Das hatte an der Schwelle zur Romantik – und man könnte in Anklang an eine Formulierung von Jürgen Habermas zur Postmoderne sagen: auf der „Drehscheibe“ der Moderne41 – schon das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus gefragt.42 Sinnlich können die Ideen werden zum einen durch das Wort, durch die Mitteilung in Form einer Rede, zum anderen durch ein Rollenspiel, und schließlich durch das Bild (wie auch durch Musik). Aus dem Aufriss dieser homiletischen Reflexion ergibt sich also eine Auseinandersetzung mit der Rhetorik einerseits (Kapitel 3) und mit der Ästhetik andererseits (Kapitel 4). Die „ästhetische Wende“ in der Homiletik betrifft alle unterschiedlichen Kunstformen, legt ihren Fokus aber auf Formen des Bildes und des dramatischen Spiels. In meiner Auseinandersetzung mit diesen neueren Entwürfen zur Homiletik werden aber auch Werke der Musik einbezogen. Während in einem liturgischen Fragehorizont die Musik stärker noch in die Darstellung zu integrieren ist,43 wird sich die homiletische Perspektive (bis auf einige Ausnahmen) auf Analogien zwischen musikalischem und sprachlichem Vortrag wie den Redefluss oder die Sprachmelodie beschränken.
41 Habermas hat die Philosophie Nietzsches als „Drehscheibe“ der Postmoderne bezeichnet (Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, 104). 42 S.u. Abs. 4.3.1. 43 Vgl. Dober, Die Zeit ins Gebet nehmen, 137–144 u. ö.
2.
Grundlegung: Die Vernunft und das Wort „,Das Wort ward Fleisch‘ – an dem Satz hängt ja wohl alles.“1
2.1
Der fundamentale Rang der Doppelbedeutung des Logos
Im Logos sind einmal die Vernunft und das Wort eins gewesen. Die Vernunft bedeutet zugleich Wort und Sprache. Dieser alten Einsicht zufolge ist das Denken, das sich auf sich selbst begründet und von diesem Standpunkt aus alles andere begreifen möchte, also nur ein Aspekt des Logos – der andere ist das Sprechen und Hören. Beide ermöglichen Kommunikation, wenngleich auf eine unterschiedliche Weise. Erst im Hören und Sprechen wird die Einsamkeit des Denkens, seine monologische Form, dialogisch. Logos als Vernunft und Wort führt zum „Dia-logos, der eine ethische Transformierung des Logos anstrebt.“ Erst der Dialog kommt der Unfähigkeit des Logos zu Hilfe, „die Vielfalt der Wirklichkeit zu begreifen.“2 Das Wort fordert die Vernunft auf, zu ant-worten. In Rede und Antwort können dann Gedanken Gestalt gewinnen, die in einsamer Reflexion nicht auf diese „dialogische“ Art hätte entstehen können. Doch das Begreifen der Vielfalt der Wirklichkeit aufgrund der gesprochenen und gehörten Worte fordert nun auch wieder die Vernunft heraus. Sobald die Begegnung von Angesicht zu Angesicht überschritten wird auf den Dritten (und viele andere) hin, setzt ein „öffentliches Ringen um den Konsens über Ziele und Normen gesellschaftlichen Handelns“ ein.3 Es kommt darauf an, dass die hier geforderte Vernunft „konkrete Kommunikation und Interaktion möglich macht“, und nicht „abstraktes Raisonnement bleibt“. M.a.W. muss „das gesellschaftlich wirkende Wort … zur Vernunft“ finden, um nicht „beschränkt kommunikabel“ zu bleiben (59f). Richard Schaeffler hat in seinem immer noch lesenswerten Aufsatz aus dem Jahr 1981 mit dem Titel Die Vernunft und das Wort eben diese Forderung aufgestellt. Sie fordert nicht nur die vielen Worte in der 1 E. Rosenstock, Brief an Rosenzweig vom 28.10.16 (Rosenzweig, Briefe, Berlin 1935, 679 [GS I/ 1, 278]). 2 Rachid Boutayeb, Kritik der Freiheit. Zur ,ethischen Wende‘ von Emmanuel Levinas, 14. 3 R. Schaeffler, Die Vernunft und das Wort, 59 mit Bezug auf Aristoteles.
32
Grundlegung: Die Vernunft und das Wort
Medienkultur mit ihren Talkshows und öffentlichen Reden heraus, sondern auch die abstrakten Gesellschaftstheorien und schließlich die Theorie religiöser Praxis und die Praxis religiöser Rede, die von außen esoterisch scheinen kann. Wie in den auf die Gesellschaft bezogenen Diskursen, so kommt es auch im immanenten Verhältnis von Praxis und Theorie der Religion darauf an, nach Wegen zu suchen, um die verlorene Einheit von Vernunft und Wort wieder zu gewinnen. Das legt sich umso mehr nahe, als das religiöse Wort in stärkerem Maße noch als die Vernunftwissenschaft der Philosophie die beiden ursprünglichen Momente des Logos seit der Antike miteinander verknüpft: „die unausschreitbare Tiefe der Seele“, die die Alten „in unmittelbarer Berührung … mit der Tiefe der Welt“ dachten (59) mit dem öffentlichen Ringen um Konsens. Welche Herausforderung mit der Verknüpfung der beiden Momente des Logos für die Philosophie verbunden ist, hat neuerdings Kurt Walter Zeidler hervorgehoben: „Die Erinnerung an das ,Wort Gottes‘ sollte dem professionellen Philosophen … Aufforderung sein, in sich zu gehen und zu überlegen, ob er das Wort nicht immerzu für bloßen Schall und bloß konventionellen Namen gehalten habe, für ein Strandgut der kulturellen Überlieferung, das nur dank seiner Bearbeitung durch den Philosophen stabile Form, objektiven Gehalt und wahren Wert gewinnt … Hat man mit dem ,Wort, das im Anfang war‘ nicht auch den Ursprungs- und Offenbarungscharakter des Wortes vergessen und ihn durch ein Surrogat von Wörtern ersetzt, die nach technischen, politischen und pragmatischen Beliebigkeiten ausgetauscht, ersetzt, konstruiert und dekonstruiert werden können?“4
Auch die Predigt als religiöse Rede und ihre Theorie ist von der Herausforderung betroffen, die Vernunft und das Wort zusammen zu denken. Ja die Predigt findet sich inmitten eben dieses Spannungsverhältnisses, das im Logos eine Einheit war. An ihr müsste sich bewähren lassen, was Schaeffler überhaupt fordert: „Es kann sich nicht darum handeln, die Philosophie als Wissenschaft der Vernunft und die Religion als Dienst am Wort unvermittelt voneinander zu trennen.“5 Denn die Predigt ist eine „Sprachhandlung“, genauer noch eine „Sprechhandlung“ (s. u. Abs. 6.1.) – d. h. sie hat teil am Wesen der Sprache, das zu erkennen Sache der Philosophie ist. Es braucht also auch die Vernunft als „Kraft zum Postulat in praktischer Absicht“ (87). Denn ohne eine Theorie, die die Leitfragen, Deutungsmuster und Regeln der Praxis erarbeitet, fände die Praxis keine Orientierung und auch keine Korrektur. Es braucht die Theorie zur Kritik einer Praxis, die allerdings der Theorie immer schon voraus gegangen ist. Und es braucht die Praxis des Lebens als Öffnung für eine Theorie, die unter dem Systemzwang der Vernunft sich vor dem Leben auch verschließen kann. Diese 4 K.W. Zeidler, Rosenzweigs Beitrag zum Universalienproblem, 98. 5 Schaeffler, Die Vernunft und das Wort, 62.
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öffnende Praxis ist aber durch das Wort bestimmt, sie ist sprachlich. Und so wird gelten können: Die Homiletik muss „wortfähig“ und die Predigt „wahrheitsfähig“ sein und bleiben – sonst könnte es in der Tat so scheinen, als hätte die religiöse Rede als Identitätsmerkmal des protestantischen Christentums ausgedient.6
2.2
Denken und Sprechen
„Die Sprache ist [zwar] die Geburtsstätte des Geistes“,7 doch „zwischen Geist und Sprache“ ist auch eine Differenz offensichtlich (77). Diese ist nur durch eine kritische und konstruktive Tätigkeit zu überbrücken, in der das Denken auf das Sprechen und das Sprechen auf das Denken verwiesen ist. Um dieser Tätigkeit willen – und auf sie kommt es an (vgl. 69) – muss zwischen beiden ein Anerkennungsverhältnis walten: diese Forderung hat Eugen Rosenstock in dem Programm seiner Sprachlehre aus dem Jahr 19168 und in seinem späteren Buch „Der Atem des Geistes“ (1951) aufgestellt. Im Sinne dieser Sprachlehre, die „im Kern des Logos an[hob]“,9 ist (1.) festzuhalten: Das Denken bedarf des Sprechens, weil es selbst an die Leiblichkeit des Menschen gebunden ist. Und die Sprache ist als „ein leiblicher Vorgang in der Erschaffung des Lebens zu begreifen“.10 Das hat Auswirkungen sowohl für die individuelle Entwicklung zur Sprachfähigkeit, als auch für die Ausbildung unterschiedlicher Sprachen und Dialekte in „bestimmten Sprachkreis[en]“.11 Doch unabhängig von diesen kulturellen Bedingungen, unter denen die Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sprechen steht, muss Schleiermacher zufolge das „reine Denken“ „wesentlich immer gesprochenes sein“. Auf der Suche nach Gründen dafür findet sich bei Hermann Cohen Rat. Der hat in seiner Ästhetik die Sprache als „Ausdrucksbewegung des Denkens“ bestimmt. Die Sprache, in der Worte zu Sätzen verbunden werden, bringt die „Bewegung“ zum Ausdruck, die das Denken vollzieht, indem es das „Bewusstsein“ und seine „Inhalte“ – das sind die „Vorstellungen“ – „erzeugt“. Die Sprache ist die „Aus6 Die Doppelbedeutung des Wortes Logos für die Grundlegung der Homiletik fruchtbar zu machen speist sich aus eben der Hoffnung, Bildung und Sprachkompetenz des Predigers zurückzugewinnen (um noch einmal auf F.-W. Graf zurückzukommen). 7 M. Lazarus, Geist und Sprache, eine psychologische Monographie (zit. n. G. Hartung, SprachKritik, 64). 8 Vgl. Rosenstock, Angewandte Seelenkunde, 1924. 9 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 9. Rosenzweig, auf den ich vor allem im 4. Hauptteil zurückkomme, hat sich für die Ausarbeitung seines „neuen Denkens“ nachweislich auf Rosenstock berufen. Vgl. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 388. 10 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 7; s. u. Teil 4. 11 Schleiermacher, Dialektik, 137 mit Bezug auf 126.
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drucksbewegung des Bewusstseins und seines Inhalts“, der wiederum durch das Denken hervorgebracht wird.12 Im Ausgang vom Satz als einer „Verbindung von Worten“ (359) ist die Sprache dem Denken „nicht äußerlich, nicht nebensächlich“ (361), sondern „mit den kompliziertesten Leistungen des Denkens verwachsen“ (360). Das gilt in einer doppelten Hinsicht. Einerseits ist „das komplizierte Denken selbst durch die Sprache bedingt“ (361), denn die einzelnen Worte, deren „Eruption“, bedeuten latent schon den ganzen Satz. Cohens Beispiel ist der Ausruf „Feuer!“ Durch dieses Wort werde schon ein Satz ausgesprochen, „nämlich die Vereinigung der Vorstellung des Feuers mit der Lokalisationsvorstellung“ (360) im Sinne von „hier brennt es!“13 Andererseits besteht die Funktion des Denkens darin, die „Verbindung“ von Worten in einem Satz als eine „Einheit“ erkennbar zu machen (359f). Zwischen Denken und Sprechen ist somit eine wechselseitige Bezogenheit anzunehmen, die unauflöslich ist. Diese besteht nicht nur in der Anerkennung der Sprache als einer Voraussetzung und Bedingung für das Denken, sondern umgekehrt auch in der Anerkennung des Denkens durch das Sprechen. Das Sprechen muss durch das Denken geleitet und korrigiert werden, will es nicht im Geschwätz enden. Die Begleitung des Sprechens durch das Denken wirkt sich aber in einer ordnenden, gliedernden, den Aufbau eines Satzes leitenden Funktion aus – und nicht nur eines Satzes, sondern dann auch einer Rede, die aus vielen Sätzen besteht. Insofern ein Satz und dann auch eine Rede Verstand und Vernunft haben, erweist sich in der Tat die Sprache als Ausdrucksbewegung des Denkens. Auch in dieser Hinsicht muss, um noch einmal mit Rosenstock zu sprechen, das Denken vom Sprechen „als heilsam anerkannt werden“.14 Wie man sehen kann, ist (2.) eine von der Doppelbedeutung des Wortes Logos ausgehende Grundlegung des Verhältnisses von Denken und Sprechen im Ursprung schon mit – ebenfalls grundlegenden – Fragen der Rhetorik und der Ästhetik verknüpft. Mit Blick auf die Ästhetik als Theorie der Kunst ist das noch deutlicher hervorzuheben. Schleiermacher hat in der schon zitierten Dialektik das reine Denken vom „geschäftlichen“ einerseits, und vom „künstlerischen“
12 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 361. 13 J. Simon hat an diese Gedankengänge angeschlossen, die auch bei Cohen auf Aristoteles zurück verweisen. Doch er hat die Bedeutung des Zeichens hervorgehoben, das in der Geschichte des abendländischen Denkens „gegenüber dem Bezeichneten“ verdrängt worden sei. Simon verortet seine Philosophie des Zeichens in einem „Prozess der Umkehr, der mit Aristoteles begann und in dem auch Kants Kopernikanische Wendung nur eine Station darstellt“ (Simon, Zeichen, 17). Ihm zufolge ist der Satz „nicht ein Teil der Sprache, sondern die der Sprache als Lautsprache vorausliegende (transzendentale) Struktur des Bewusstseins als Zeichenverstehen“ (51). 14 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 79.
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andererseits unterschieden.15 Doch diese Unterschiedenheit ist zugleich eine Verwiesenheit. Denn das reine Denken kann „doch nur zu Stande kommen entweder vermittelst derselben Sprachelemente, die auch auf dem geschäftlichen und künstlerischen Gebiete schon im Gange sind, oder vermittelst ganz anderer.“ (137) Als „wesentlich immer gesprochenes“ Denken bedient es sich der „Sprachelemente“ aus beiden Bereichen. So deutet die Sprachlichkeit des Denkens von Anfang an auf die Kunst der Rede und die Künste überhaupt hin. Dieses Verweis-Verhältnis lässt sich mit Blick auf einen anderen Aspekt noch deutlicher machen. Der ganze Mensch nämlich schaltet sein Gefühl nicht aus, weder wenn er spricht noch wenn er denkt. Dass es einen „Gefühlston“ (Benjamin) der Worte gibt, scheint selbstverständlich, nicht aber, dass auch das Denken von Gefühlen begleitet wird. Es handelt sich um eine Begleitung, denn der Mensch leitet sein Denken nicht aus dem Gefühl ab – eine Klarheit des Gedankens, wie sie in Sätzen ausgesprochen werden muss, wäre auf diese Weise kaum zu erreichen. Aber das Gefühl empfindet auch dann, wenn der Mensch denkt. Bewusstseinsinhalte haben eine Gefühlssignatur, wenn man so will. Das gilt für innere Bilder, Anschauungen, Vorstellungen, für das „Imaginäre“ (Castoriadis), das neben der erkennenden Vernunft und dem die Handlung leitenden Willen sein eigenes Recht hat. Das gilt überhaupt für gesprochene Sätze, ja, auch die „Denkbegriffe“ werden von „Denkgefühlen“16 begleitet. Um nun die „Denkgefühle“, die an Begriffen und „an Worten“ hängen, zum Sprechen zu bringen, bedarf es der Kunst. „Würde die Sprache nur auf das Denken zurückführen, so würden wir den Künsten entrückt werden, weil wir dann nur auf die Erkenntnis fixiert würden. Wenn dagegen die Sprache, als Ausdrucksbewegung des Denkens, zugleich die der Denkgefühle ist, so halten wir die Erkenntnis nur als die Vorbedingung der Künste fest, und bleiben auf das Sondergebiet der Künste unverrückt gerichtet.“ (366)
Der Rückgang auf das enge Verhältnis von Denken und Sprechen, das die Doppelbedeutung des Wortes Logos der Interpretation zu deuten aufgibt, eröffnet ein Verständnis der Künste. Sie sind aus dem menschlichen Vermögen zu verstehen, aus dem sie hervorgegangen sind, und dieses Verständnis ist in einer ästhetischen Theorie zu begründen. Die Grundlegung der Ästhetik ist der Grundlegung der Rhetorik auf diese Weise verwandt. Ein sich vom Sprechen aus bestimmendes Denken hat schließlich (3.) eine zeitliche Signatur – das ist der letzte hier geltend zu machende Gesichtspunkt. Er kann mit Rosenzweigs „nachträglichen Bemerkungen zum ,Stern der Erlösung‘“ aus dem Jahr 1925 herausgearbeitet werden: 15 Schleiermacher, Dialektik, 137 mit Bezug auf 117. 16 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 363, vgl. 160.
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„Das Denken ist zeitlos, will es sein; es will mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen; das Letzte, das Ziel ist ihm das Erste. Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im Voraus, wo es herauskommen wird; es lässt sich seine Stichworte vom andern geben. Es lebt überhaupt vom Leben des anderen.“
Wir brauchen nicht nur Sprache, sondern auch Zeit, fährt er fort. „Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein. Das alles ist dem denkenden Denker völlig undenkbar, während es dem Sprachdenker einzig entspricht. Sprachdenker – denn natürlich ist auch das neue, das sprechende Denken ein Denken, so gut wie das alte, das denkende Denken nicht ohne inneres Sprechen geschah; der Unterschied … liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit: denken heißt hier für niemanden denken und zu niemandem sprechen … sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemanden denken.“17
Eine Predigt kann ansprechen, wenn sie zu jemandem spricht und für jemanden denkt. D.i. der homiletisch aufzunehmende Sinn des Rosenzweigschen „Sprachdenkens“ mit Blick auf die Frage: Wie kann die Predigt als Mitteilung, als Sprechhandlung, verstanden werden? Hinsichtlich der anderen Frage: Wie ist eine solche Mitteilung zu gestalten? Wie macht man das konkret? sind allerdings weitere Gesichtspunkte einzubeziehen, auf die ich in den beiden folgenden Hauptteilen zur Rhetorik und zur Ästhetik eingehen werde (s. u. Teil 3 und 4).
2.3
Drei Erscheinungsweisen des Wortes als Kerygma, Rede, Schrift
In der religiösen Tradition (und nicht nur hier) tritt das Wort auf unterschiedliche Weise, in unterschiedlichen Modi auf: als Anrede und Ruf in der ersten Frage Gottes an den Menschen: „Adam, wo bist du?“, als Rede, die sich an eine Versammlung richtet (etwa bei den Propheten oder in der Mose-Geschichte), sowie als geschriebener Text (etwa in Gestalt der auf Steintafeln geritzten zehn Gebote). Diese drei Modi des Wortes sind kurz zu beschreiben, um auf die Vernunft bezogen zu werden, die sich hier zeigt oder im Licht derer das Wort sich jeweils entfaltet. Im Zuge dieser Beschreibung wird es zu einer Differenzierung im Begriff der Kommunikation kommen, der nach einer bekannten Formel Ernst Langes heute in breitem Konsens den Predigtbegriff bestimmt. Wie stellt 17 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 386f. [Das neue Denken]. Diese Bestimmungen sind von Rosenstock präformiert (Rosenzweig GS I/1, 276, vgl. 301), wie überhaupt der kongeniale Briefwechsel zwischen beiden von Juni bis Dezember 1916 die Zeit des Entstehens von Rosenzweigs „Sprachdenken“ dokumentiert.
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sich die „Kommunikation des Evangeliums“ im Licht der Unterscheidung der drei Modi des Wortes dar, die sich allesamt in den Perikopentexten finden, die von der kirchlichen Ordnung für die Predigt vorgeschlagen werden?18
2.3.1 Anrede, Ruf und Kerygma Der griechische Terminus Kerygma bedeutet ursprünglich „Tätigkeit eines Herolds“, die „Proklamation eines Ereignisses, einer Anordnung oder Ehrung“.19 Rudolf Bultmann hat den Terminus dann als „autorisierte, verfügende Verkündigung“ der Offenbarung Gottes in Jesus Christus verstanden und zum theologischen Leitbegriff erhoben. Im Rahmen seiner Theologie hat das Kerygma die Funktion, die die „Idealisierung Christi“ als „Persönlichkeit“ in der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts hatte:20 der Glaube sollte nicht „durch historisch Vorfindliches“ legitimiert und gesichert werden, sei dies in einem fundamentalistischen Bibelverständnis, sei dies in einer Leben-Jesu-Forschung, die nach dem wahren historischen Kern in den offensichtlich vielfach bearbeiteten Texten des Neuen Testaments fragt. Sondern sein Grund soll in dem göttlichen Wort bestehen, das als in den Texten tradiertes Kerygma „Gottes eschatologische Tat in Jesus Christus“ verkündet und in der Predigt stets neu in seinem „anredenden, Glauben ermöglichenden und fordernden“ Charakter hörbar wird.21 Die Idealisierung Christi, von der Cohen gehandelt hatte, ist hier mehr als ein Ideal der Vernunft – es ist gewissermaßen ein ideales Wort, das ursprünglich als ein geschichtliches Ereignis angesprochen hat, als Schrift fixiert, tradiert und kanonisiert worden ist, und seither aus dieser historisch bezeugten idealen Form einer Anrede, einer Verkündigung in die Sprache der jeweiligen Gegenwart übertragen, übersetzt, „gedolmetscht“ werden muss. Die „Kraft des Kerygmas“ liegt „in dessen Eigenschaft als ,Wortereignis‘ …, durch das Gott an uns handle“. (Sp. 937) Man kann das als Moment sprachlichen Ausdrucks überhaupt verstehen, in dem ein „psychologisches“ und „zufälliges Moment der ,Kundgabe‘ … enthalten“ ist.22 Wenn man diese Einsicht der Phänomenologie auf das christliche Kerygma bezieht, muss man allerdings sagen: Dieses „zufällige“ Moment 18 Mit Gen 3, Gen 22, Ex 3, Ex 20, Jes 5, Jer 1,4ff, Hes 18 seien nur einige der einschlägigen Beispiele genannt. 19 RGG4, Bd. 4, Sp. 935. 20 Vgl. dazu K. Barth, Homiletik, 66 und meine Darstellung des Programms der „modernen Predigt“ bei O. Baumgarten und F. Niebergall (Dober, Die moderne Predigt, 172f). 21 Alle Zitate nach RGG4, Bd. 4, Sp. 935. 22 Husserl hatte davon die „denkerisch zu erfassende ideale Bedeutung ablösen“ wollen, um sie als solche „rein“ zu erfassen und sichtbar werden zu lassen (Kimmerle, Derrida, 31).
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der Kundgabe gehört zum idealen Gehalt wesentlich hinzu. Dieses Moment wird vielleicht am deutlichsten im „namentlichen Anruf“ erfahren. Wen ein solcher „nie … hat erzittern lassen, der hat noch gar nicht gelebt“, schreibt Rosenstock.23 Es leuchtet ein, dass mit der kerygmatischen Theologie eine (wie oben gezeigt im Ursprung des Protestantismus angelegte) Aufwertung der Predigt fortgeschrieben wurde. Sie findet sich schon bei Martin Kähler. Der hatte „den für die liberale Theologie charakteristischen Schwerpunkt der Forschung über den historischen Jesus in Frage [… gestellt], indem er darauf insistierte, dass der wirkliche Christus der in der Kirche gepredigte Christus sei“24 – wie Cohen zutreffend bemerkt hat, wird hier ein Ideal realisiert, das allerdings existentielle Bedeutung hat. In dieser Hinsicht liegt Bultmanns Theologie des Neuen Testaments ganz nahe bei Karl Barths Theologie der Offenbarung. Dass sich dessen Lehre von der dreifachen Gestalt des Gotteswortes als Schrift, in Christus inkarniertem Logos und Predigt ohne große Schwierigkeit zur Interpretation der sog. „kerygmatischen Theologie“ brauchen lässt, liegt auf der Hand.25 Barth hat mit dieser Lehre aber die Schwierigkeit vermieden, in die Bultmanns kerygmatische Theologie führte. Der Vorwurf lautete, dass „er die Bedeutung Jesu auf die Tatsache kirchlicher Verkündigung gründe statt umgekehrt“ (Sp. 938) kirchliche Verkündigung auf die Bedeutung Jesu zu gründen. Formen einer im griechischen Wortsinn „kerygmatischen“ Anrede im Sinne eines Rufes Gottes an den Menschen finden sich aber auch schon vor der vom Neuen Testament bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus – im Alten Testament. Etwa zeitgleich mit dem theologischen Neuansatz K. Barths ist diese Sprachform als elementarer Teil der Grammatik der Offenbarung von F. Rosenzweig (wieder-)entdeckt worden: kerygmatisch ist Gottes Ruf an Adam, an Abraham: „wo bist du?“, sowie der Sinn des Liebesgebotes im „Sch’ma Israel“ und die symbolische Analogie des Hohen Liedes für das Verhältnis von Gott und Mensch. Rosenzweig zufolge sind schon in den Texten der Genesis, des Hohen Liedes und der Psalmen Elemente einer „Sprache der Liebe“ zu finden, die das Kerygma in der doppelten Gestalt des Gebotes („Du sollst“, „Du sollst nicht“) und der Zusage („Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ [Ex 20,2], „Ich werde dasein, als der ich dasein werde“ [Ex 3,14]) zu verstehen erlauben – in Gesetz und Evangelium, wenn man es in paulinischer Terminologie sagen will.26 23 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 10. 24 Nach RGG4, Bd. 4, Sp. 936. 25 Vgl. meine Darstellung dieser Lehre Barths in: Dober, Evangelische Homiletik, 106–138. Sie findet sich schon bei M. Luther angelegt (vgl. Müller, Homiletik, 47 f.). 26 Das Verhältnis von Gebot und Gesetz erfordert eine eigene Betrachtung, die ich hier zurückstellen muss. Vgl. aber : Dober, Die Zeit ernst nehmen, 196–199. Ders., „Ich und mich
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Diese Formen „kerygmatischer“ Sprache (oder des Wortes als Kerygma) werden von Rosenzweig aber im Sinne einer Erfahrung interpretiert, die nichts Esoterisches hat, als sei sie nur Eingeweihten zugänglich. Es ist die Erfahrung des „Brückenschlags“ zwischen ihren Elementen Gott, Welt und Mensch.27 Durch die Frage „Adam, wo bist du?“ wird das stumme Selbst aus sich herausgerufen, durch die Antwort „Hier bin ich“ wird es zur sprechenden Seele. Offenbarung ist hier kein supranaturalistisches Ereignis, sondern eine Erfahrung, die im Sprechen und Hören gemacht werden kann, in zwischenmenschlichen Kommunikationsverhältnissen.28 Doch die zwischenmenschliche Erfahrung eines „Dialoges“, in dem Rosenzweig zufolge „mein Ich [erst] … im Du“ entsteht29, setzt zu ihrem Verständnis, ihrem „erzählenden“ Nachvollzug eine Dimension voraus, die über das zwischenmenschliche Verhältnis hinausreicht. Man kann sie mit Schleiermacher und L|vinas Dimension des Unendlichen nennen. Es gibt zwei Weisen des Verhältnisses in dieser Dimension. Zum einen kann das Andere, Göttliche in Gestalt der Stimme ins Endliche einfallen. Davon erzählen die biblischen Texte. Menschliche Rezeptivität ist dann gefragt. Zum anderen tut sich die Dimension des Unendlichen in dem spannungsvollen Verhältnis von Nähe und Ferne auf, das durch die Sehnsucht als strebende Kraft der menschlichen Seele konstituiert wird – menschliches Streben macht dann den Anfang. Auch davon handeln die biblischen Texte, etwa die Psalmen.30 Die hier zum Ausdruck kommende Sehnsucht geht nicht ins Leere, irgendwohin über die Wolken, sondern sie richtet sich auf das aus, was geliebt wird. Cohen zufolge ist die für das Verhältnis von Gott und Mensch unauflösliche Spannung zwischen Nähe und Ferne in der Liebeslyrik vorgebildet: „Die Gelegenheit wird verewigt, und so wird die Wirklichkeit selbst zu einer unendlichen Ferne. Wenn die Liebe als eine Wirklichkeit und Gegenwart besungen wird, so wird die Lyrik zum Epigramm. Die Lyrik selbst bedarf der Ferne, die daher zu einer Idealität der Wirklichkeit wird. Und was räumlich die Entfernung bedeutet, das vollzieht sich als psychologischer Faktor in der Sehnsucht. Sie … verlangt zwar nach der Wirklichkeit des Geliebten, aber sie beruht auf dem Ersatze der Anwesenheit durch das Fernbild, welches sie mit ihren Herzensgluten zeichnet. Sie hält daher die Ferne fest, ohne deren Zielpunkt sie nicht in der Annäherung an ihn ihre Tätigkeit vollbringen,
27 28
29 30
sind immer zu eifrig im Gespräche“, 504–522: an der Gewissenserfahrung ist zu zeigen, wie das Gebot dem Gesetz vorausgeht. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 386 [Das neue Denken]. Ich komme unten in Abs. 4.3.3 und 4.4.5 auf die Bedeutung der Metapher des Brückenschlags zurück. Man kann es mit R. Boutayebs Rosenzweig-Interpretation so sagen: „Gott, Welt und Menschen entziehen sich der totalen Vereinnahmung durch den Logos. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Welt, Mensch und Mensch ist Wort, und die Verantwortung ist immer dialogisch“ (Ders., Kritik der Freiheit, 14f). Rosenzweig, GS I/1, 471 [Brief an Rosenstock vom 19.10.17] D.i. nota bene ein vom ego cogito, vom „Ich“ der Vernunft in der idealistischen Systemphilosophie unterschiedenes Ich. Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, 247f, 435f u. ö.
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Grundlegung: Die Vernunft und das Wort
ihren Pendelschlag in Gleichgewicht halten kann. Die Liebe ist Sehnsucht nach dem Wesen, welches nicht in sinnenartiger Wirklichkeit gegenwärtig ist, noch sein darf, sondern ersehnt wird. Und so ist auch das Gebet die Sehnsucht nach Gott, der überhaupt nicht in einer sinnenartigen Wirklichkeit begehrt werden darf …“31
Im Zusammenhang der Frage nach der ersten Erscheinungsweise des Wortes als Anrede, Ruf und Kergyma ist aber vor allem die andere Weise des Verhältnisses zur Dimension des Unendlichen thematisch: die zum Begehren und zur Sehnsucht in der Weise einer Unterbrechung solcher Intentionalität gegenstrebige Bewegung. Das Hören ist die Weise der hier in Anspruch genommenen Rezeptivität. Es kommt darauf an, dass das göttliche Wort an Adam, an Abraham, an Mose und manch andere Gestalten der Bibel in einem Sprechzusammenhang verstanden wird: Es stiftet eine Beziehung, wenn das angesprochene Du – hier der Mensch – antwortet. Das ist ein Akt der Freiheit und der Verantwortung. Die Antwort, die schon im Terminus steckt, kann nicht erzwungen werden. Wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer einen Mund hat zu antworten, der antworte. Aus Wort und Antwort bauen die biblischen Texte das Drama des Bundes auf, den Gott mit den Menschen geschlossen hat – der redaktionellen Anordnung der Texte folgend zuerst mit Noah, dann mit Abraham, schließlich in Rückblick auf den alten Bund und in Verheißung eines neuen bei Jeremia. Das neutestamentliche Kerygma, das den neuen Bund Gottes mit allen Menschen verkündet, hat viele Vorläufer. Auf sie zurück zu gehen, verspricht einen Zugewinn an Konkretion – es kommt in der Predigt jedenfalls auch darauf an, die Erfahrung zu beschreiben, die im Hören auf einen Ruf, in Frage und Antwort, im inneren Dialog zwischen Freiheit und Verantwortung gemacht werden kann. Der innere Dialog des Hörenden, der auf das ansprechende Wort des anderen antwortet, ist offen.
2.3.2 Kerygma und Rede (oder: Sprache und Nähe) Die Bedeutung des Kerygmas bzw. des Kerygmatischen in sprachlichen Vollzügen lässt sich mit Hilfe eines dichten Textes von Emmanuel L|vinas näher erläutern. Er trägt den Titel Sprache und Nähe.32 Es geht um die Stellung des Wortes zum Logos als Vernunft. Einerseits kann man – um noch einmal mit 31 Cohen, Religion der Vernunft, 434f. 32 Er ist zuerst veröffentlicht im Jahr 1949 und später überarbeitet worden. Vgl. E. L|vinas, En dmcouvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 41982 (2. Aufl. 1967). Ich zitiere den Text nach: L|vinas, Die Spur des Anderen, 261–294. Das Verhältnis von Sensibilität und Nähe findet sich im 2. Hauptwerk beschrieben: Ders., Jenseits des Seins, 142–218. Vgl. zu L|vinas: Dober, Die Begegnung im Angesicht des anderen.
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Rosenzweig zu sprechen – von einem „denkenden Denken“ ausgehen, das seine sprachliche Wurzel von Anfang an gekappt hat. Das Denken ist dann das Erste und Ursprüngliche, die Sprache aber nur ein abgeleitetes Phänomen – ein Zugeständnis an die immer wieder als unzureichend empfundenen Verständigungsmittel. Auch unter dieser Voraussetzung erscheint die Kommunikation nur als „eine beiläufige Funktion“, und das so sehr, „dass sie als schlichter und einfacher Austausch von Informationen mit dem gesellschaftlichen Austausch von Frauen und Waren verglichen werden konnte“.33 So gesehen ist „die Kommunikation … nur eine Folge des Logos, der das Denken belebt und trägt. Die Kommunikation ist möglich aufgrund des Umstandes, dass der Logos mit den Besonderheiten des Denkers und der Erfahrung bricht und so die Universalität erreicht“ (ebd.).
Demgegenüber zeichnet sich das Kerygmatische des Wortes (der Logos als Rede) dadurch aus, dass es an „die Besonderheiten des Denkers und der Erfahrung“ gebunden ist, an die Individualität dessen, der hört oder die Ohren verschließt, spricht oder stumm bleibt. Die Kommunikation, die durch einen Ruf zur Verantwortung, oder nur durch die Anrede, die Nennung des Namens begonnen wird, ist nicht immer schon „von der Sprache sichergestellt“, von der Sprache als einem System von Zeichen, die je ihre oder auch mehrere Bedeutungen haben. In einem vorausgesetzten System von Zeichen ist auch deren Sinn schon gesetzt durch ein Denken, das die Sprache soll begründen können.34 Der Kommunikation, die die Differenz von Sprecher und Hörer ernst nimmt, ohne sie in der vorausgesetzten Einheit der Vernunft harmonisieren zu können, ist aber die Unterbrechung eigen, der Neuansatz des Sprechens und Hörens in jedem Augenblick, die Neukonstitution des „Ichs, das im Du entsteht“ (Rosenzweig) und des Ichs, das sich in der Andacht (Kawana) neu gewinnt.35 Dies geschieht in der Weise eines Ereignisses. Doch Kerygma ist nicht nur das unterbrechende Moment im Wort als Anrede. L|vinas spürt das kerygmatische Moment auch in der thematisierenden Rede selbst auf. Hier macht ein „primäres Meinen“ den Anfang, „das den Sinn verkündet und zugleich selbstherrlich vertagt.“ Hier verleiht das Kerygma dem 33 L|vians, Die Spur des Anderen, 262. Ein derartiger Vergleich basiert auf der – etwa von Nietzsche – vertretenden These, dass das Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner das ursprüngliche zwischen Personen sei, und der Mensch unter dieser Voraussetzung als das „abschätzende Tier an sich“ gelten könne (Ders., KSA Bd. 5, 306 [Genealogie der Moral]). 34 Deshalb kann sich in einem solchen System „ein Seiendes als Seiendes“ „von seinem Sinn her“ zeigen (L|vinas, Die Spur des Anderen, 263), wie L|vinas in Heidegger’scher Terminologie schreibt. 35 Vgl. Cohen, Religion der Vernunft, 432.
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Grundlegung: Die Vernunft und das Wort
Idealen Sinn.36 Dieser Zusammenhang betrifft die Erfahrung überhaupt: sie „setzt … Gedanken voraus, die in überlegener Weise verstehen, d. h. die Identität des Mannigfaltigen verkünden.“ (266) So verstanden ist es die „Aufgabe des Sagens“, „dem Sein einen Sinn zu verleihen“; das Sagen lässt das Sein „in seiner Wahrheit erstrahlen“ (267). Und der Logos als Rede fällt wiederum „ganz und gar zusammen mit dem Logos als Vernunft“ (262, Hervorhebung H.M.D.). Ohne sie beim Namen zu nennen hat L|vinas hier eine Beschreibung der kerygmatischen Theologie Bultmanns gegeben, und diese problematisiert. Diese moderne Theologie hält zwar der relativierenden Verflüssigung der Historisierung stand. Aber sie fasst das erst nach dem historischen Jesus gegebene Bekenntnis zu ihm als dem Christus im Sinne eines „primären Meinens“, das aller Theologie vorausgesetzt werden muss. Die Idealisierung Christi (Cohen) wirkt sich hier als ein anfängliches bzw. ursprüngliches „Verstehen des Sinnes“ aus, ohne das der Glaube nicht möglich wäre, in dessen Licht dann die das christliche Kerygma bezeugenden Texte ihren Sinn entfalten. Es liegt nun aber in der Mehrdeutigkeit des Kerygmas selbst, dass es zu einer Unterbrechung des primären Meinens führen kann, wenn der Andere mit seinem Ruf in die Ordnung des Selben, des Selbst einfällt, um durch dieses antistrukturelle Moment zur Veränderung der Struktur zu führen. Eben von solchen Unterbrechungen handeln die biblischen Texte auf eine vielfältige Weise. L|vinas bringt diese unterbrechende Funktion des Kerygmatischen gegen die eines primären Verstehens von Sinn zur Geltung. Es verdient Beachtung, dass das primäre Verstehen von Sinn mit dem neutestamentlichen Begriff konnotiert ist, das unterbrechende Moment aber zuerst am Alten Testament ausgewiesen werden kann. Selbstverständlich ist es dann auch in den Texten des Neuen präsent und eröffnet dort ein in sich differenziertes Verständnis des Kerygmatischen. Es kommt nun aber darauf an, zu sehen, dass die das primäre Verstehen von Sinn unterbrechende Bedeutung des Kerygmas erst die „Nähe zwischen mir und dem Gesprächspartner“ (273) zu stiften vermag. In einer Erzählung des Neuen Testaments (Mt 15, 21–28), die in die Perikopenordnung aufgenommen worden ist, kommt eben der von L|vinas komplex herausgearbeitete Zusammenhang schön zum Ausdruck. Berichtet wird, wie Jesus sich in die „Gegend von Tyrus und Sidon“ zurückzieht, in einen Bereich außerhalb der von ihm so wahrgenommenen Zuständigkeit. Auch hier erbittet eine Frau seine Hilfe, doch er antwortet nicht. Da die Frau laut schreit, werden die Jünger unruhig. Jesus aber sagt: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ In Reaktion auf diese Abwehr aufgrund eines „primären Meinens“ (wie man mit L|vinas sagen könnte) beweist diese kanaanäische Frau nun ihre Hartnäckigkeit. 36 L|vinas, Die Spur des Anderen, 265.
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Auf Jesu harsches Wort, es sei „nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde“, antwortet sie: „Ja, Herr ; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Jesus hat in dieser Episode den „Sinn“, den er dem „Sein“ verliehen hatte, durch die kerygmatische Unterbrechung dieser Frau einer Veränderung unterworfen. Der Logos seiner Rede fiel zusammen mit dem Logos der Vernunft, doch in dieser Begegnung ließ er sich aus diesem für ihn orientierenden Zusammenhang herausrufen in die vorher vermiedene Nähe zu seiner Gesprächspartnerin. „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ ist sein letztes Wort. In solche Nähe kann auch eine Rede führen. Solche Nähe setzt voraus, dass der andere „in seiner Partikularität erkannt wird“ und nicht durch „unsere Teilnahme an einer transparenten Universalität“ (273). „Welche auch immer die in der Rede übermittelte Botschaft sei, das Reden ist Berührung“ (274; Hervorhebung H.M.D.), schreibt L|vinas und bringt damit eben das andere Moment des Kerygmas zur Ansicht: der Andere als Individuum, das sich der Erkenntnis in allgemeinen Begriffen sperrt, als anderes Ich, das mir zum Du werden kann, kommt aus der Ferne, in der die Identifikation durch Allgemeinbegriffe ihn hält, nahe in seiner Partikularität, indem die Rede ihn berührt, anspricht und aus sich herausruft. „Man muss also zugestehen, dass in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der Rede thematisiert wird, der man sich aber nähert“ (274).
Wer sich ein wenig bei L|vinas auskennt, wird darin keine Neuigkeit erblicken, dass diese Nähe ethischer Art ist. Auf dem Weg der Erkenntnis und des Verstehens des Sinns von Sein lässt sich diese Nähe nur annähern durch bestimmte Negation: der Andere, den die Rede berührt, geht in dieser Weise der Berührung „in kein Thema ein“, er „splittert sich nicht in Bilder auf“, er erscheint nicht als Phänomen, das gedeutet werden kann, und er erschließt sich nicht der Intentionalität des Redenden. Die Begegnung in der Nähe des Anderen ist von anderer Art, sie bedeutet „durch sich selbst“ (274). Das aber ist ein Ausdruck für die Unmittelbarkeit, die L|vinas in der Nähe zu denken sucht. In der Unmittelbarkeit der Nähe wird die intentionale Subjektivität zu einer inneren Umkehr herausgefordert. Und diese Umkehr stellt in eine Verantwortung, mit der bei L|vinas die Ethik beginnt. Er hat den „Dia-logos“ prägnant beschrieben, „der eine ethische Transformierung des Logos anstrebt.“ Und er hat gezeigt, wie der Dialog der Unfähigkeit des Logos zu Hilfe kommt, „die Vielfalt der Wirklichkeit zu begreifen“ (Boutayeb, s. o.), die eine Vielfalt der Begegnung mit anderen Menschen ist. Für L|vinas ist das den anderen in dieser Weise berührende Reden „die ursprüngliche Sprache, das Fundament der anderen“. Das Kerygma im Sinne des
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Logos als Vernunft findet sich in einer sekundären Ordnung des Redens, wenn es durch das Kerygma im Sinne des Logos des Wortes unterbrochen wird. L|vinas hat somit eine ursprüngliche Dimension frei gelegt, die im „Gebrauch von Bedeutungen“ beschrieben werden kann, „die das Ethische bezeichnen“.37 Diese Bedeutungen und Termini stammen aus der biblischen Tradition: „Jenseits der Intentionalität ist die Nähe die Beziehung zum Nächsten im moralischen Sinne des Wortes“. Und: „Was unmittelbar einen Sinn hat, bevor er ihm verliehen wird, genau das ist der Nächste“ (281). Auch L|vinas verknüpft seine Beschreibung der Nähe mit der Aufgabe der Kunst, diese zur Darstellung zu bringen: „Die Poesie der Welt ist untrennbar verbunden mit der Nähe par excellence oder mit der Nähe des Nächsten par excellence.“ (280) Auf diesem Hintergrund ist die Aufgabe in den Blick zu nehmen, die ursprüngliche Dimension, in der Worte berühren und Nähe stiften, in die Rhetorik – und dann auch in die Homiletik – zu integrieren. Sie wäre dann als Lehre von einem angemessenen Reden aufzufassen, das sich die Sprache eben nicht nur nutzbar macht für bestimmte Interessen und Intentionen, sondern die eigene Intentionalität korrigiert an einem ursprünglichen Sprechen, das Nähe zwischen Sprecher und Hörer konstituiert. In dieser Nähe ist der Sprecher nicht nur seinem Thema, der Sache verantwortlich, sondern auch dem anderen, in dessen Angesicht er spricht. Damit ist ein wesentliches Spannungsverhältnis in Begriffe gefasst, in dem auch jede Predigt sich bewegt. Sie hat ein „Thema“, das der Prediger in seiner Meditation über den biblischen Text aufgefunden hat, und sie findet statt in einer idealen Orientierung, die – mit Luther gesprochen – darauf hinausläuft, zu sagen was Christum treibet. Doch eben die frohbotschaftliche Dimension, in der die Predigt erst ganz bei ihrer Sache ist, kann sie nicht mitteilen, wenn sie nicht ihre thematisierende Intentionalität zurückzustellen und einzuklammern bereit ist, um sich in die „Nähe“ zur Hörerschaft zu begeben. Das aber heißt vor allem, einzugehen auf die – die Thematisierung unterbrechenden – Fragen, die hier zu erwarten sind. Sie zu hören, setzt eine besondere Aufmerksamkeit voraus, um die der Prediger bitten muss. Es ist auch in diesem Zusammenhang stimmig, dass die von L|vinas beschriebene ethische Dimension des Sagens als „ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation“ (280) sich in einer anderen Hinsicht als Gebet fassen lässt. Wenn man das Gebet nämlich, Rosenzweig folgend, „als ein Ereignis“ versteht, d. h. als „Korrelation zwischen einem widerfahrenen Anspruch und einer wirkenden Antwort“38, dann ist es in dieser Spannung zwischen Rezeptivität und Spontaneität ein „lebendiges Sagen“, und „als sagende 37 L|vinas, Die Spur des Anderen, 280. 38 Angel E. Garrido-Maturano, Das Gebet als ereignishafter Weg zur Wahrheit, 283.
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Antwort bedeutet es sowohl Handlung wie Wirkung“.39 Es gründet aber in einer „ursprünglichen Herausforderung“ (292), die von L|vinas beschrieben worden ist. Das Gebet umfasst das lautlose Sagen des Herzens und das vernehmliche, gemeinsame Sprechen in ritualisierten Handlungen. Es gibt dem von L|vinas beschriebenen ursprünglichen Sagen eine Form: das Gebet vollzieht sich in propositionaler Sprache. Derart eingebunden verliert das ursprüngliche Sagen den „gespenstischen“ Charakter, den Eberhard Jüngel in den Beschreibungen von L|vinas wahrgenommen hat.40 L|vinas’ Analysen sind mehr und anderes als Träume eines Geistersehers. Vielmehr sucht er eine Dimension des Geheimnisses offen zu legen, die durch instrumentellen Sprachgebrauch und die Auffassung von der Sprache als einem System bloßer Zeichen (Benjamin) leicht verstellt werden kann.41 Zudem wird das ursprüngliche Sagen, wie es auch im Gebet stattfindet, in einem überlieferten Sinn-Zusammenhang auffindbar – in dem Zusammenhang des Sinns, den die Bibel und ihre jüdische wie christliche Interpretation stiftet. Dieser Zusammenhang ist in Martin Luthers Sakristeigebet präsent, das im Kirchenbuch zum Predigtgottesdienst abgedruckt ist. Dass man es bis heute in mancher Sakristei findet, deutet auf einen Zusammenhang zwischen der Predigt und dem Gebet hin, wie er hier mit Hilfe von L|vinas durchsichtiger erscheint. „Herr Gott, lieber Vater im Himmel. Ich bin wohl unwürdig des Amtes und Dienstes, darin ich deine Ehre verkündigen und der Gemeinde pflegen und warten soll. Aber weil du mich zum Hirten und Lehrer des Wortes gesetzt hast, das Volk auch der Lehre und des Unterrichts bedürftig ist, so sei du mein Helfer und lass deinen heiligen Engel bei mir sein. Gefällt es dir dann, durch mich etwas auszurichten zu deiner Ehre und nicht zu meiner oder der Menschen Ruhm, so verleihe mir auch aus lauter Gnade und Barmherzigkeit, dass ich dein Wort recht verstehe, und vielmehr, dass ich’s auch tun möge. Amen.“42
Bevor ich auf die Frage näher eingehe, wie sich die Sprache als Stiftung von Nähe in der Homiletik auswirken kann, sofern sie sich an der Rhetorik orientiert, soll nun die Schrift als Erscheinungsweise des Wortes thematisch werden. 39 L|vinas, Die Spur des Anderen, 284. 40 E. Jüngel, Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, 227. 41 L|vinas selbst hat davor gewarnt, „jedes Denken der Sprache als Zeichensystem aus[zuliefern]“ (Ders., Gott und die Philosophie, 123). Man wird nicht fehl gehen, die von ihm beschriebene Dimension oder Sphäre mit dem Erfahrungsbereich zu vergleichen, den Blumenberg unter Gebrauch von Nietzsches Formel von der „Form an sich“ gefasst hat, „um die elementare, leibliche Dimension der Rhetorik als reinen Ausdruck, auch als Schrei oder Laut unterhalb der Ebene des sprachlich fixierten Ausdrucks anzuzeigen“ (zit. nach Erne, Rhetorik und Religion, 163 Anm.). S.u. Abschnitt 3.1. 42 Zit. nach: Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. Erster Teil. Der Predigtgottesdienst, Stuttgart 1988, 35.
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2.3.3 Rede und Schrift Im Verhältnis von Rede und Schrift ist die Frage nach dem, was zuerst da war, leicht zu beantworten. Entwicklungsgeschichtlich geht das gesprochene dem geschriebenen Wort voraus. Später erst, nachdem die Menschen sprechen konnten, lernten sie zu schreiben. Die Schriftkultur folgte auf die mündliche Kultur des Austauschs der Worte. Schrift ist Fixierung, ein Festhalten des Augenblicks, und das geschieht in einem anderen Medium als dem, in dem die Stimme spricht. Schrift ist, so kann man medientheoretisch sagen, ein Speichermedium.43 Seine Aufgabe ist es, Tradition zu ermöglichen über viele Generationen hinweg. Schrift überdauert die mündliche Tradition, wie sie vom Ahn an den Enkel weiter gegeben wird. Und sie schafft die materiale Bedingung einer Kommunikationsgemeinschaft über die Beziehung von Angesicht zu Angesicht hinweg. Wenn die Schrift ein Speichermedium ist, so muss man freilich fragen, wie der hier gespeicherte Sinn tradiert werden kann. Jan Assmann hat die spezifischen Charakteristika der „Schriftkultur“ (und d. h. die Leistungen ebenso wie ihre Grenzen) aus einer Gegenüberstellung und einem Vergleich mit durch rituellen Vollzug konstituierten Kulturen herausgearbeitet. Jeweils geht es darum, „die Welt in Gang zu halten“.44 In jeder Kultur kommt es darauf an, einen Zusammenhang des Vielfältigen zu gewährleisten und sicher zu stellen. Assmann nennt dasjenige, was die Welt im Innersten zusammen hält, ja mehr noch: was die „Harmonie zwischen Himmel und Erde“ gewährt, „Kohärenz“.45 Während diese in vorschriftlichen Kulturen durch Rituale sichergestellt wurde, hat sich im rabbinischen Judentum eine „textuelle Kohärenz“ ausgebildet, die nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. auch die im Exil weiter gepflegten Formen des Rituals orientierte. Das Judentum ist das Urphänomen textueller Kohärenz. An ihm hat sich die abendländische Kultur orientiert, die durch eine „Verlagerung des Sinns … von den geschichtlichen und kosmischen Phänomenen in die heiligen Schriften und deren Deutung“ beschrieben werden kann.46 Sowohl im Juden- als auch im Christentum ist die textuelle Kohärenz ein Teil der rituellen. Auch der Protestantismus hat daran nichts Wesentliches geändert, 43 J. Hörisch, Eine Geschichte der Medien, 73 u. ö. W. Faulstich, Grundwissen Medien, 105f. 44 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 87. Die im Folgenden skizzierten Zusammenhänge finden sich in einem späteren Werk Assmanns mit Blick auf die Religion weiter ausgeführt: J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Für die Homiletik besonders interessant sind die Kapitel 5 [Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit] und 6 [Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte]. 45 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 87 mit Bezug auf den Judaisten Peter Schäfer. 46 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 88. Er belegt das durch Hölderlins berühmte Verse im Gedicht Patmos.
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blieb doch die auf die Auslegung von Texten verpflichtete Predigt an den Gottesdienst als Ritual gebunden. Vor allem neuere Arbeiten zur Praktischen Theologie haben dieses Verhältnis hervorgehoben und betont.47 Nicht nur das Christusideal (Cohen) leitete die Auslegung der Schrift, sondern auch die Herausforderungen, die aus dem Gegenüber von Prediger und Gemeinde im Gottesdienst gegeben war. Albrecht Grözinger zufolge ist auf der „Predella des Wittenberger Cranachaltars“ die Geste des Predigens dargestellt, und mit ihr die Rolle, die der Prediger im Gesamtzusammenhang des Gottesdienstes als Ritual zu übernehmen hat. Neuere Konzeptionen wie die „dramaturgische Homiletik“ schließen hier an. Doch die Geste des Predigens auf Cranachs Bild ist nur das eine – ein anderes ist der Hinweis auf Christus, das kunstvoll dargestellte Christusideal am Kreuz, das die Auslegung der Schrift leitet. Der in seiner Rolle als Prediger dargestellte Luther vollzieht eben den für die Heraufkunft des Protestantismus so wesentlichen Interpretationsvorgang aufgrund der Schrift. Für die Entwicklung der neuzeitlichen Kultur Europas wird man den Wandel von der rituellen zur textuellen Kohärenz allerdings nicht hoch genug einschätzen können, und hierbei hat das Judentum als Urphänomen eine wichtige Bedeutung und Funktion gehabt wie das protestantische Christentum (man denke nur an die deutschsprachige Literatur, die die Wurzeln des in ihr tradierten Sinns im Judentum hat, an Stefan und Arnold Zweig, Franz Kafka, Walter Benjamin u.v.a.m.).48 Assmann hat den Fokus seiner Darstellung auf die Bedingungen eingestellt, unter denen ein kulturelles Gedächtnis bewahrt werden kann. Auch die Predigt erfüllt diese Bedingungen. An ihr ist zu sehen: das kulturelle Gedächtnis wird sowohl durch ritualisierte „Repetition“ als auch durch geordnete „Interpretation“ kanonisierter Texte bewahrt. Immer schon hat auch der – durch „die periodische Wiederkehr identischer Handlungsabläufe“ strukturierte49 – Ritus einen Sinn vergegenwärtigt, wie Assmann am jüdischen Seder-Mahl verdeutlicht. Doch mit dem Übergang der rituellen in textuelle Kohärenz „tritt das Element der Wiederholung“ zurück (91), weil der Text – und zwar der zum Klassiker avancierte bzw. kanonisierte Text – nun zunehmend als „Gefäß für den Sinn“ verstanden wurde. Durch Vergegenwärtigen des Sinns in einer weitgehend festgelegen Hermeneutik wurde auch durch wiederkehrende Auslegung der Sinn lebendig gehalten. Es ist, als finde man in der den Sinn lebendig haltenden „Zirkulation“ die an der Perikopenordnung orientierte Predigt im Zentrum des 47 Vgl. etwa Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Grözinger, Homiletik, 288f. Dober, Die Zeit ins Gebet nehmen. 48 Nota bene findet auch in der Nähe zum Protestantismus, in der Cohen sein eigenes Denken entwickelt hat, diese Wahlverwandtschaft eine Bestätigung. Vgl. Graf zur Ausbildung einer „protestantischen Schriftkultur“ (s. o.). 49 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 90.
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sonntäglichen Gottesdienstes beschrieben. Deren Herausforderung erhellt allerdings auch daraus, dass „Texte … eine riskantere Form der Sinn-Wiedergabe“ sind, „weil sie zugleich die Möglichkeit bereitstellen, den Sinn aus der Zirkulation und Kommunikation auszulagern, was mit den Riten nicht gegeben ist“ (91). Wer heute homiletisch betont, dass die Predigt in viel stärkerem Maße Teil des Gottesdienstes als Ritual ist, als das etwa die Lehre von der dreifachen Gestalt des Gotteswortes zu zeigen vermag, antwortet – jedenfalls auch – auf dieses Problem. Nota bene scheinen manche (schon angesprochene) Tendenzen im Leben des evangelischen Gottesdienstes auch die Richtung von der rituellen zur textuellen Kohärenz umzukehren: Der Zusammenhang von Bild, Drama und Ritual scheint immer wichtiger geworden zu sein als der von Text und Ritual. Das mag den Seh-, Hör-, Wahrnehmungs- und Rezeptionsgewohnheiten der gegenwärtigen Medienkultur geschuldet sein. Es ist eine offene Frage, wie damit angemessen umzugehen ist – ich werde weiter unten darauf zu sprechen kommen. Jedenfalls scheint mir diese Frage der (verborgene) gemeinsame Nenner zu sein, mit dem viele der Problemstellungen zeitgenössischer Homiletik verwoben sind. Für die Verwurzelung der Predigt im Gottesdienst ist aber jetzt schon an eine alte Einsicht zu erinnern. Das gepredigte Wort ist durch Freiheit auch den Ordnungen gegenüber bestimmt, in die es durch seinen Schriftbezug gebunden wird. Nach evangelischem Verständnis kann der in den Texten gespeicherte Sinn nur angemessen tradiert werden (so lässt sich summieren), wenn eben diese Freiheit der Auslegung und Anwendung (explicatio und applicatio) sich wie ein meta-strukturelles Moment zur Struktur verhält.50 Anders gesagt: Auch der kanonisierte Text erfordert weitere Interpretation – im jüdischen Kontext führt die mündliche die schriftliche Tora weiter, und im christlich-protestantischen fragen die Predigten nach für die Gegenwart und für die Lebenswelten der Zeitgenossen aktualisierbaren Gehalten der Lehre.51 Wie Martin Weeber gezeigt hat, schreibt Schleiermacher der Predigt – aufgrund der mit ihr gegebenen Herausforderung, auf Fragen der Gegenwart im Angesicht der Zeitgenossen zu antworten – „eine Funktion für die Weiterentwicklung der Dogmatik zu“.52 Das Verhältnis von Rede und Schrift ist homiletisch relevant, weil die Predigt in der Regel im Ausgang von einem biblischen Text gehalten wird. Damit ist das Verhältnis der Schrift zum gesprochenen Wort überhaupt angesprochen. Die Vorbehalte gegen die Schrift reichen bis zu Platon zurück.53 So heißt es im Dialog 50 Vgl. dazu die Ritualtheorie Victor Turners. Ders., Vom Ritual zum Theater. 51 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 93–97. 52 Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 170. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 97–103 [Repetition und Variation]. 53 Vgl. Kimmerle, Derrida, 33f.
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Phaidros (275a), die Kunst zu schreiben habe das Gedächtnis zugrunde gerichtet (zum Teil entbehrlich gemacht). Die entlastende Funktion des Speichermediums Schrift habe die Leistungsanforderung an das Gedächtnis geschwächt. Mit dieser Diagnose hat sich auch Kant in seinen Vorlesungen zur Anthropologie auseinander gesetzt. Er schreibt: „Etwas Wahres ist in diesem Satz: denn der gemeine Mann hat [im Unterschied zum zerstreuten Gelehrten] das Mannigfache, was ihm aufgetragen wird, gemeiniglich besser auf der Schnur, es nach der Reihe zu verrichten und sich darauf zu besinnen.“ Dennoch bleibe „die Schreibkunst […] immer eine herrliche Kunst, weil […] sie doch die Stelle des ausgedehntesten und treuesten Gedächtnisses vertritt, dessen Mangel sie ersetzen kann“.54 Trotz der Mängel, die „aus seiner Sicht dem Schreiben anhaften“, hat allerdings auch Platon schon die „Schriftlichkeit der Philosophie“ gegen das mündliche Erzählen als „mythologische Sprachform“ verteidigt.55 „Das, was die Organisation von Wissen betrifft“, müsse begriffliches und daher in erster Näherung schriftlich geäußertes Wissen sein.“56 Die Kritik am Gebrauch der Schrift ist aber nie abgerissen. So hat etwa Moses Mendelssohn, der Zeitgenosse Kants, Ambivalenzen der Schriftkultur bis in die homiletischen Konsequenzen hinein beschrieben: „Die Ausbreitung der Schriften und Bücher … hat den Menschen ganz umgeschaffen“ – „wir sind litteratis, Buchstabenmenschen“ geworden.57 Auswirkungen dieser Entwicklung könne man nicht zuletzt auf den Kanzeln beobachten: „Der Prediger unterhält sich nicht mit seiner Gemeinde, er liest oder deklamiert ihr eine aufgeschriebene Abhandlung vor … Alles ist toter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unterhaltung.“ (104) Mit seinem Freund Gotthold Ephraim Lessing stimmte er hier ganz überein. Den Gebrauch, den man von Luthers Schriftprinzip machte, hat dieser wie folgt kommentiert: „Luther, du! – Großer, verkannter Mann! … Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglicheren Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde!“58
Und Rosenstock schreibt 1951, Bücher würden „leicht zu Sandbänken im Strom der Rede. Diese Sandbänke drohen fünfhundert Jahre nach der Erfindung der Buchdruckerkunst den Strom der Sprache zum Versiegen zu bringen.“59 54 55 56 57 58
Kant, Anthropologie, 90f. Kimmerle, Derrida, 34. W.Chr. Zimmerli, Systemzwang, in: H. Wiedebach (Hg.), Die Denkfigur des Systems, 13. Moses Mendelssohn, Jerusalem, XXII. vgl. 104f. G.E. Lessing, Eine Parabel [1778], in: Ders., Werke Bd. 8, 125f. Auch Heine zitiert diese Stelle (Ders., Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 92). 59 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 7.
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Auf dem Hintergrund solcher Kritik hat man immer wieder die aktuell gesprochene Sprache gefordert. Dass ihr zeitlicher Modus die Gegenwart ist, bietet aber noch keine Gewähr der Geistes-Gegenwart. Wie es scheint, muss man heute, 60 Jahre nach der Diagnose Rosenstocks, angesichts so vieler aufgeregter und gedankenloser Reden in der zeitgenössischen Medienkultur, die Aufmerksamkeit erfordernde Lektüre noch einmal neu bewerten. Der Strom der Worte ohne Gedanken, die durch die talk-shows, Nachrichtensendungen, mittelklassigen Filme, soaps etc. fließt, scheint das Buch (und mit ihm den Buchstaben) längst ertränkt zu haben. Zwar präsentiert sich der Markt für Bücher heute in größter Vielfalt, doch in der Konkurrenz zu anderen Medien ist er eng geworden. Die Homiletik, die das gepredigte Wort aus dem geschriebenen und dem offenbarten ableitet, ist aber offensichtlich ihrerseits von einer Tendenz hin zur Aktualität, zur Gegenwärtigkeit des gesprochenen Wortes geprägt. Das hat einen biblischen Grund: Schon die biblischen Texte setzen eben das gesprochene Wort als Frage, Ruf, Kerygma an den Anfang des Dramas des Bundes: Gott spricht – und es wird Licht. Gott ruft – und der Mensch antwortet. Schleiermacher zufolge entspricht dieser Vorstellung eines Dialoges zwischen Gott und Mensch die Geselligkeit gelebter Religion unter den Menschen: Das Evangelium will kommuniziert werden, um seine befreiende Wirkung ausüben zu können. Dazu reicht die einsame Lektüre des biblischen Textes nicht hin. Es bedarf eben der öffentlichen Mitteilung des Glaubens im Ausgang vom biblischen Text. Welche Rolle kommt hierbei aber der Stimme als Medium der aktuell gesprochenen Sprache zu? Der Weg zu einer Antwort führt über eine genaue Beschreibung des Phänomens des Sprechens. Die Stimme, die spricht, vernimmt sich nämlich selber. So erfährt sie eine Reflexivität, die der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins entspricht. Und diese Reflexivität ist ein geistiger Vorgang, der sich von der Materialität löst, an die die Schrift die Sprache bindet. Man kann im gesprochenen Wort, das sich selbst vernimmt, den „reinste[n] Ausdruck der Reflexionsstruktur der sich auf sich richtenden Vernunft“ entdecken. Sie „findet ihr quasi-ideales Korrelat in der Stimme, die sich selbst vernimmt“.60 Ähnlich hat Rosenstock die Geistigkeit des „artikulierten Sprechens“61 beschrieben: „Meine artikulierte Sprache kehrt zu mir zurück.“ (67) Das muss allerdings nicht immer erhebend sein und den Sprecher bestätigen, sondern kann im Fall des von Markus Werner figurierten früheren Pfarrers und nun praktizierenden Therapeuten Franz Thalmann auch zu einer Entfremdungs-Erfahrung werden. Angesichts des „streng geheimen Pfarrerleidens“ des „Kreuzes-Überdrusses“ und einer „Frohbotschafts-Übersättigung“ lässt der Autor diesen Protagonisten
60 Kimmerle, Derrida, 32. 61 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 63.
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sagen: „Mit Lederzunge singst und predigst du und ringst um Inbrunst und hörst verstört und wie aus weiter Ferne dein mopsiges Wortgeklapper.“62 Ob das Gesprochene Geist gewinnt und damit der Laut „seinen Sprecher selber begeistert“,63 oder ob dieser Vorgang für den Sprecher zum Anlass von Irritationen wird – in jedem Fall kann gelten: Sprechen heißt, sich selber hören. Diese Reflexivität erschöpft sich nicht in Selbstbezüglichkeit. Vielmehr kann man sie auch als eine Kontrolle verstehen, die der Sprecher vollzieht, weil er dem Anderen verantwortlich ist, dem er mit seiner Rede antwortet. Das Sprechen kann kraft der dem Sprechen eigenen Reflexivität eine wichtige Funktion auch dort ausüben, wo der Logos zum Dia-logos geworden ist, und die Reflexivität das Verhältnis zum anderen einbezieht. Doch während die Stimme „keine Spur in der empirischen Welt“64 hinterlässt – die Erinnerungsspuren ausgenommen, die andere an eine Stimme bewahren, die sie gehört haben und die ihnen zu Herzen gegangen ist –, verweist die Schrift wie eine Wagenspur auf einen Funktionszusammenhang ihres Gebrauchs in einer Kultur, in einer religiösen Gemeinschaft, in einer Gesellschaft.65 Einige dieser Funktionen sind schon genannt worden: die Speicherung, das Festhalten von Normen und die Eröffnung neuer Interpretation. Grundlage hierfür sind die Zeichen. Um es mit Werner Stegmaier zu sagen: „Schriften kann man mitnehmen und in wechselnden Situationen wieder vornehmen, und ihre Zeichen verklingen nicht, sie bleiben sichtbar stehen. Sie entlasten das Gedächtnis, man muss nur behalten, wo sie ,stehen‘ und kann dort wieder ,nachsehen‘. Man kann ihrerseits mit dem Finger auf sie zeigen und auf ihnen ,bestehen‘ (,aber hier steht es doch‘).“66
So kommt der Schrift eine eigene Bedeutung und ein eigenes Recht zu. Um mit Josef Simon zu sprechen, ist sie „nicht älter als die gesprochene Sprache, aber sie ist älter als die Vorstellung, sie sei in gesprochene Sprache zu übersetzen, um überhaupt verstanden werden zu können.“67 62 Werner, Froschnacht, 71. 63 Erst der artikulierte Laut „ist Sprache“: Das hätten „die frommen Griechen“ gewusst. Sie kultivierten die Reflexivität des Sprechens und Hörens dadurch, „dass die Sprecher selbst hören müssen, was sie sagen. Chor und Kehrreim haben hier ihre Wurzeln“ (Rosenstock, Der Atem des Geistes, 68). 64 Kimmerle, Derrida, 32. 65 Derrida begreift die Schrift als Spur, „die auf etwas verweist, das nicht statisch präsent ist, sondern weiterverweist innerhalb eines Gefüges von Verweisungen. Das Beispiel der Wagenspur, die zu einem Bauernhof führt, in dem Wagen und andere Geräte bestimmte Plätze einnehmen innerhalb des Funktionszusammenhangs der Bearbeitung des Bodens durch den Menschen, kann diesen Sachverhalt deutlich machen“ (Kimmerle, Derrida, 39). 66 Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 275f. 67 Simon, Philosophie des Zeichens, 251. Mit dieser Vorstellung hat es Derrida kritisch aufgenommen. Sprache überhaupt, einschließlich der geschriebenen, erschöpft sich nicht in
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Grundlegung: Die Vernunft und das Wort
Die Sprache und das Wort
Sei es als geschriebenes, sei es als gesprochenes Wort – in jedem Fall ist es Teil des größeren Zusammenhangs Sprache. Doch welcher Begriff von Sprache ist hier vorauszusetzen? Ein früher Aufsatz Benjamins unterscheidet zwischen der „Sprache überhaupt“ und der „Sprache des Menschen“.68 Auch Tiere und Dinge, und zwar sowohl die geschaffenen wie die kulturell hervorgebrachten können zum Menschen „sprechen“. Zu denken ist an einen Sonnenaufgang, einen Stern, ein Gewitter oder an Werke der Kunst, Gemälde, Musikstücke, auch an die Architektur, an Räume. „Sprechen“ können die Dinge in dem Sinne, dass das Weltverhältnis des Menschen nicht nur durch gestaltende Spontaneität und Aktivität, sondern auch durch Passivität und Rezeptivität bestimmt ist. Im ersten Schöpfungsbericht der Genesis findet sich ein hervorragendes Zeugnis dieser primären Sprachauffassung. Benjamin kommt ausführlich darauf zu sprechen. Denn die für „Sprache überhaupt“ kennzeichnende Rezeptivität als Korrelat der Spontaneität ist hier durch die Schöpfungsworte „Gott sprach“ begründet. In diesem weiteren Kontext der „Sprache überhaupt“ hat die „Sprache des Menschen“ ihren Ort. Sie vollzieht sich in Lesen und Verstehen, Sprechen und Hören. Benjamin hat seine Theorie der Sprache in Opposition zu ihrem „bürgerlichen“ Verständnis konzipiert, Sprache sei ein System von Zeichen mit ihren konventionell festgelegten Bedeutungen. Unter dieser Voraussetzung einer Zeichentheorie der Repräsentanz lasse sich die Sprache dann gut brauchen, um bestimmte Ziele zu erreichen und zweckgerichtet zu handeln. Die von Benjamin beschriebene „bürgerliche“ Sprachauffassung ermöglicht einen vor allem instrumentellen Gebrauch der Sprachzeichen, zu dessen blindem Fleck der mediale geworden ist. Vor diesem Hintergrund hebt sich seine „Theorie der Sprachmagie“ (W. Menninghaus) ab, die einen medialen Sprachgebrauch wieder frei legen möchte, der auf Ähnlichkeiten beruht.69 Zugleich werden Vernunft und Geist unmissverständlich in der Sprache begründet. In den sprachtheoretischen Diskursen ist Benjamins Theorie zum Teil explizit, mehr noch aber implizit vielfach präsent geblieben. Es mag ihrem spekulativen Charakter zuzuschreiben sein, dass allerdings nicht sie, sondern die einem „Begriff der Lautsprache als einem Sprachbegriff, der im Laut das ideale Zeichen sieht, weil er verklingend hinter seiner Bedeutung verschwindet“ (247). Als „Zeichen für den Ton“ wird „die an sich vieldimensionale Schrift“ „in die Linie gezwängt“, also in eine eindimensionale Form – während „die Verschiedenheit der Zeilen, die in andere Dimensionen verweist“, abgeblendet wird (252). 68 Benjamin, GS II/1, 140–157. 69 An anderer Stelle habe ich mich ausführlich mit Benjamins Sprachtheorie auseinander gesetzt (vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 96–119). Vgl. dessen Lehre vom Ähnlichen (Ders., GS II/1, 204–210).
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Semiotik in die Position einer leitenden Orientierung aufstieg. Sie vermochte die Sprache als ein System von Zeichen auf eine komplexere Weise zu bestimmen, als es Benjamins in kritischer Absicht gegebene Skizze der „bürgerlichen“ Auffassung von Sprache nahe legte. Wie Benjamin aber verflüssigte sie die tradierte Zeichentheorie der festgelegten Repräsentanzen. Insbesondere Umberto Ecos semiotische Theorie konnte sich einer breiten Rezeption erfreuen. Ihre Tragweite hat sie bis in die praktisch-theologischen Diskurse hinein erwiesen. Bevor ich darauf eingehe, ist danach zu fragen, wie diese Theorie des Zeichens zu verstehen ist.
2.4.1 Eine kleine Skizze der semiotischen Theorie Zeichen dienen der Orientierung und der Verständigung, sei es, dass sie als hörbare Laute gegeben werden – wie ein Ruf, ein Schrei, ein offener oder verschlüsselter Code, als sichtbare Zeichen – wie der Rauch auf dem Hügel, der weithin zu sehen ist, oder das Licht auf der Burg, das im Spiegel reflektierte Sonnenlicht, oder das Verkehrszeichen, Bildzeichen, icon. Auch der Geruchssinn nimmt den Rauch oder das brutzelnde Fett in der Pfanne als Zeichen wahr – um hier von den Duftnoten zu schweigen, mit denen Tiere ihr Revier bezeichnen. Bevor die Schriftzeichen sich zu ihren festgelegten Formen entwickelt hatten, gab man schon Zeichen mit Hilfe der Stimme, der Hände, oder man legte Spuren in der Wildnis, um den Weg zurück zu finden. Zeichen sind sinnlich, insofern sie aus den ersten Eindrücken der äußern Sinne abgeleitet, als solche gebildet und festgelegt werden müssen: Es führte ein weiter Weg vom bloßen Laut zum artikulierten Wort, vom sinnlichen Eindruck zum bildlichen Zeichen, und vom bildlichen Zeichen (das die Hieroglyphen noch erkennen lassen) zum vom Bildgehalt abstrahierten Buchstaben. Zuerst war die „Absonderung allgemeiner Merkmale“ aus dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck notwendig. „Dieses Herausheben und Beachten des gemeinsamen Merkmals kostet der Seele einige Anstrengung“, so Moses Mendelssohn in seiner immer noch lesenswerten Genealogie der Schriftzeichen. „Nicht lange, so verschwindet das Licht wieder, das die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt des Gegenstandes gesammelt hatte, und er verliert sich in den Schatten der ganzen Masse, mit welcher er vereinigt ist.“70 In dieser Not kam der Seele „ein sinnliches Zeichen“ zu Hilfe, „das, sooft sein Eindruck erneuert wird, auch zugleich dieses [vom sinnlichen Eindruck abgezogene] Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet. So sind, wie bekannt, die aus natürlichen und willkürlichen Zeichen zusammengesetzten Sprachen der 70 Mendelssohn, Jerusalem, 106.
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Menschen entstanden.“ Der Mensch kann, „ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen.“ (106) Auch diese von sinnlichen Eindrücken abgeleiteten Zeichen sind noch sinnlich, vom Bewusstsein als solche wiederzuerkennen. Zuerst üben sie eine Orientierungsfunktion für den wahrnehmenden Menschen selbst aus. „Orientierung ist … weitgehend eine Orientierung in Zeichen.“71 Sie werden gebraucht, „um sie für sich festzuhalten, und sooft es nötig ist, wieder betrachten zu können.“72 Der Zeichengebrauch orientiert nicht nur in der äußeren Welt. Er orientiert auch den inneren Menschen, um sich nicht im „Taumel der Eindrücke“ zu verlieren.73 So betrachtet stellt er eine unverzichtbare kulturelle Bedingung dar, mit den Mitteln der Sprache auch auf den höheren Stufen des Bewusstseins als der sinnlichen – auf der Stufe des sittlichen Bewusstseins etwa – zur „Einheit“ des „sittlichen Ich“ beizutragen, das „von Zerstreuungen, Konflikten und Widersprüchen durchbrochen [ist], die es fortwährend mit Spaltung und Zersplitterung bedrohen“ (440). Als Element der Sprache überhaupt dient das Zeichen aber zugleich der Verständigung: sinnliche Zeichen werden anderen mitgeteilt (Mendelssohn, ebd.). Dazu muss man mit dem verwendeten Zeichensystem, der Sprache, vertraut sein. Oder aber „man muss sich die fremden Zeichen in eigene Vorstellungen zu übersetzen versuchen, d. h. sie solange durch andere Zeichen zu ersetzen suchen, bis man sich selbst erinnert.“74 Für die im Zeichengebrauch spielenden Kommunikationsprozesse vor allem interessiert sich die Semiotik. Sie setzt „die Ablösung der Zeichen aus ihrem metaphysischen Verständnis als Zeichen ,für‘ Seiendes“ ebenso voraus wie die nun nicht mehr prästabilierte Individualität des Zeichengebens (15). „Man muss von sich aus verstehen, ,was‘ andere bezeichnen, d. h. man kommt zu keinem den Zeichen vorausliegenden, in ihre Materie eingeprägten allgemeinen Was.“ (16) So stellt sich das Problem des Verständnisses fremder Zeichen vom eigenen Zeichensystem aus – es fordert die Übersetzungsarbeit zwischen den unter Menschen gesprochenen Sprachen (die auf einander mehr oder weniger fremden „Seelenzuständen“ [13] beruhen). „Es war stets eine Sorge auch der neueren Philosophie der Sprache und des Zeichens, den Sinn arbiträrer Zeichen nicht ,beliebig‘ werden zu lassen, und aus dieser Sorge heraus vermied sie es, Sinnverschiebungen zuzulassen.“75 Diese Einschätzung Werner Stegmaiers ist geeignet, die Einsichten besser zu verstehen, die die neuere Philosophie des Zeichens bzw. die Semiotik eröffnet haben 71 72 73 74 75
W. Stegmaier, Orientierung in Zeichen, in: Ders., Philosophie der Orientierung, 269–290, 273. Mendelssohn, Jerusalem, 105f. Cohen, Religion der Vernunft, 432. Simon, Philosophie des Zeichens, 13. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 279.
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(beide sind nicht miteinander kongruent, aber sie liegen nahe beieinander76). Zeichen sind eben nicht, wie die auf Aristoteles zurückgehende Metaphysik es dachte, durch festgelegte Referenzen zum Seienden bestimmt. Hier steht ein Zeichen für anderes: „die Schrift für die Sprache, die Sprache für die Seeleneindrücke, die Seeleneindrücke für die Form der Dinge“ (15). Dieses Stehen für oder diese Referenz sicherte einen ontologischen Zusammenhang von Schrift, Stimme, Seele und den Dingen. Die Schrift sollte dasjenige „bezeichnen“, „was in ihnen [den Stimmen] ist“, „und das soll ,dasselbe‘ sein wie das, was in der Seele ist, die ihrerseits aufnimmt, was, als deren Eidos, in den Dingen ist“ (11). Dieser Auffassung gegenüber sind die Zeichen „aus ihrem metaphysischen Verständnis als Zeichen ,für‘ Seiendes“ abgelöst worden, und diese Ablösung hat das Individuelle frei gegeben (15). Zeichen sind „arbiträr“. Sie „scheinen darum beliebig zu sein und so der Orientierung keinen Halt zu bieten. Das hat ihnen das Misstrauen der metaphysischen Tradition der europäischen Philosophie eingebracht“.77 Wir werden sehen, dass dieses Problem in der theologischen Diskussion der Semiotik wiederkehrt (s. u.). Für diese moderne Theorie der Zeichen zeichnet sich „die Referenz von Zeichen in der Interferenz [der Überschneidung, Überlagerung des Zeichengebrauchs] der Zeichenverwender ab, ohne dass sich diese Interferenz irgendwo ,außerhalb‘ der Zeichen festmachen ließe“.78 So ist „eine bewegliche Semiotik der Kultur im ganzen denkbar“ geworden (ebd.). Umberto Eco hat „alle gesellschaftlich-kulturellen Prozesse als Zeichenprozesse“ verstanden „und die kulturelle Welt als Konglomerat von Signifikationssystemen“.79 Zeichen aber stehen nicht „für einen eindeutig fixierbaren Bedeutungsgehalt“, sondern für „die Funktion, die das Zeichen in seinem jeweiligen konkreten Verwendungszusammenhang hat“.80 Die Bedeutung eines Zeichens erschließt sich deshalb erst durch Interpretation, und d. h. durch einen
76 Vgl. Simon, Philosophie des Zeichens, 18f. 77 Stegmaier, Philosohie der Orientierung, 273f. Wegbereiter dieser Kritik aristotelischer Ontologie, einer Philosophie des Zeichens und der semiotischen Einsicht in einen endlosen Prozess der Neuinterpretation ist F. Nietzsche gewesen. „Die ganze Geschichte eines ,Dings‘, eines Organs, eines Brauchs kann … eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein … Die Form ist flüssig, der ,Sinn‘ ist es aber noch mehr …“ (Ders., KSA Bd. 5, 314 [Genealogie der Moral]). Später wird „das flüssige, ihr ,Sinn‘“ schon mit der „semiotischen“ Zusammenfassung eines „ganzen Prozesses“ in Begriffen in Verbindung gebracht (a. a. O., 317). 78 Stegmaier, Orientierung, 281. 79 B. Weyel, Umberto Eco: Religion als poetisches Konzept der Weltdeutung, 321. Der von Eco in Umlauf gebrachte semiotische Begriff des „Zeichens“ erläutert den Begriff der „symbolischen Form“, von der Ernst Cassirer in seinem dreibändigen philosophischen Werk gehandelt hat. Vgl. zum Verhältnis von Cassirer und Pierce: Moxter, Kultur als Lebenswelt, 146. 325ff u. ö. 80 Weyel, Umberto Eco, 322.
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„aktiven Rezeptionsprozess“, in dem dem Zeichen Bedeutung zugewiesen wird. Birgit Weyel summiert: „Was Eco für die Bestimmung des Kunstwerks als Kunstwerk betont hatte, dass nämlich das Kunstwerk erst durch Interpretation zum Kunstwerk wird, kann mit Hilfe der Zeichentheorie auf alle kommunikativen Phänomene ausgedehnt werden. Erst durch Interpretation wird ein Zeichen zum Zeichen“.81
Bloßer Zeichengebrauch kann völlig gedankenlos geschehen. Die Semiotik kann als eine Methode verstanden werden, hier Abhilfe zu schaffen. So verstanden ist sie eine Anleitung zu komplexem Denken. Sowohl die geschriebene als auch die gesprochene Sprache kennt unscharfe Ränder der Bedeutung – hier die Buchstaben (Grapheme), dort die Laute (Phomene) als Zeichen. Benjamin hat davon gesprochen, dass hier das Ausgesprochene auf das Unausgesprochene und das Aussprechliche auf das Unaussprechliche verweist.82 Eine Differenz besteht schon darin, dass nicht alles Aussprechliche auch tatsächlich ausgesprochen worden ist oder aktuell ausgesprochen wird. Das kann strategische, taktische Gründe ebenso haben wie solche, die in fehlender Kompetenz liegen. Der Gegenpol ist hier das (eben aus bestimmten Gründen oder Motiven) Unausgesprochene. Darüber hinaus gibt es aber auch Unaussprechliches wie etwa den hebräischen Gottesnamen: Das Tetragramm ist so punktiert (und d. h. vokalisiert), dass man nicht einmal „Jahwe“ lesen kann, sondern „Jehowa“ – im masoretischen Text sind die Vokale vertauscht. Wer im jüdischen Kontext den Gottesnamen ausspricht (so wie er schon in der Genesis vorkommt [Gen 2,5]), spricht allerdings eine Punktation, die gar nicht da steht – die nämlich von „Adonai“; d. h. einzig die Beziehung des Menschen zu Gott als „Herrn“ ist hier aussprechlich. Der Name Gottes selbst aber bleibt unausgesprochen, denn er ist unaussprechlich.83 Bezogen auf die Zeichen der hebräischen Schrift ist deren Bedeutung (eines bestimmten Konsonanten als Konsonanten, einer bestimmten Punktation als bestimmter Vokalisation) an dieser einen Schlüsselstelle des Gottesnamens ebenfalls festgelegt, aber auf eine
81 Weyel, Umberto Eco, 322. Nicht nur ist diese Semiotik (nach Charles Sanders Pierce) kulturphilosophisch fundiert, sondern sie hat auch ein „bloß dyadisches Repräsentanzmodell zugunsten der prinzipiell triadischen Struktur von Kommunikation“ ausgeweitet (ebd.): zum Zeichen (sign) tritt nicht mehr nur der „eindeutig fixierbare Bedeutungsgehalt (object)“, sondern eben auch der Rezipient und Interpret, ohne den das flüssige Verhältnis von Bedeutungen nicht festgestellt werden könnte. 82 Benjamin, GS II/1, 156 [Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen]. 83 Vgl. H. Assel, Name und Begriff Gottes. Die Bedeutung des Namens überhaupt wie des Gottesnamens im Besonderen hat Sibylle Lewitscharoff neuerdings literarisch herausgestellt (Dies., Vom Guten, Wahren und Schönen, 7ff bes. 14ff).
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verfremdete Weise. Eben so wird in der Darstellungsweise der Zeichen die Dimension des Geheimnisses für spätere Generationen bewahrt.84 Doch nicht nur an dieser exponierten Stelle des Gottesnamens lässt sich mit einer erweiterten Zeichentheorie ein offener Raum von noch nicht ausgeschöpften Bedeutungen fassen. Eco hat in diesem Sinne von der „poetischen Wirkung eines [jeden] Textes“ gesprochen, „immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen“.85 Gewissermaßen ist der offene Prozess der Interpretation über die festgelegte Bedeutung der Zeichen hinaus angewiesen auf eine mögliche Bedeutungsvielfalt in den Verweisen zwischen den Worten und ihrer Kontextgebundenheit – man könnte auch sagen: Die Offenheit von Rezeptionsprozessen baut auf der Dimension des Geheimnisses auf, die zwischen das Ausgesprochene und Unausgesprochene wie zwischen das Aussprechliche und das Unaussprechliche eingespannt ist. Um es – ein wenig plakativ – mit Rosenstock auf den Punkt zu bringen: „Bevor wir uns nicht der Wirklichkeit des Unbegreiflichen versichert haben, haben wir einander nichts zu sagen“.86 Man kann „das Zeichen als Medium kommunikativer Prozesse“87 verstehen. Dieses Verständnis baut auf die Einsicht auf, an die mit Benjamin erinnert wurde: Es besteht ein wesentlicher Unterschied in der Sprachtheorie darin, ob ich es mit einem instrumentellen Gebrauch gut sein lasse, oder ob ich die Sprache als ein Medium entdecke.88 In einem medialen Verständnis von Sprache geht es nicht nur um die Bedeutungen, die entweder festgeschrieben oder variabel sind, sowie um die Prozesse der Interpretation des Verweises der Zeichen aufeinander – all das kann man noch der Semantik zuordnen. Sondern es geht auch um die Pragmatik des Zeichengebrauchs, insofern sich inmitten der Instrumentalisierung für bestimmte Ziele und Zwecke ein offener Raum auftun kann – die Sprache zeigt sich nun als Medium. Auch Ecos Begriff der Semiose als „prinzipiell unabschließbare prozesshafte Bedeutungsgenerierung“89 erschließt einen offenen Horizont, in dem die Unterbrechung des instrumentellen durch den medialen Sprachgebrauch ihren Platz finden kann. Bei Eco wird dieser unabschließbare Prozess allerdings immer wieder vorläufig abgeschlossen, um Bedeutungen festzustellen, die Kommunikation erlauben.90 84 Vgl. zu Ex 3, 14 (Cohen, Religion der Vernunft, 49f). Rosenzweig, Der Ewige, in: Kleinere Schriften, 182ff. Am Gottesnamen hängt in der Tat die ganze Gottesbeziehung. 85 Zit. nach Weyel, Umberto Eco, 323. 86 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 58. 87 Weyel, Umberto Eco, 321. 88 Diesen Unterschied hat J. Anderegg ausgearbeitet (Ders., Sprache und Verwandlung, 35–80). 89 Weyel, Umberto Eco, 323. 90 In Anklang und Differenz zur Induktion und zur Deduktion spricht Eco von Abduktion. Sie ist „das versuchsweise und risikoreiche Aufspüren eines Systems von Signifikationsregeln, die es den Zeichen erlauben, seine Bedeutung zu erlangen“ (ebd. Zitat Eco).
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2.4.2 Die Rezeption der Semiotik in der Homiletik Was tragen diese sprachtheoretischen Differenzierungen nun aber für die Homiletik aus? Die Semiotik ist inzwischen in der Praktischen Theologie überhaupt breit rezipiert worden. Insbesondere Wilfried Engemanns Semiotische Homiletik hat den Ertrag dieser Theorie für die Schärfung eines predigttheoretischen Problembewusstseins festgehalten.91 Die Predigt wird in diesem theoretischen Zugang von ihren „Aneignungsprozessen“ her betrachtet, und das in dieser Hinsicht erzielte Problembewusstsein wirkt sich dann auch auf die Produktion aus. „Man wird einer Botschaft gerecht“, so Engemann, „wenn man sie in ihrer zeichengenerierenden Funktion akzeptiert und sich von keinem Dogma und keiner Ideologie dazu überreden lässt, den Prozess der Semiose abzuschließen“.92 Mit den theoretischen Mitteln der Semiotik wird hier die seit Ernst Lange in die Homiletik eingebrachte Aufmerksamkeit auf Kommunikation fortgeschrieben93, und mit ihr eine Kritik an einem „deduktiv verengten Begriff von ,Verkündigung‘“.94 Das Problem des Verhältnisses von Kerygma und Rede kehrt hier wieder. Wie (mit L|vinas) gezeigt, sind diese beiden Modi der Erscheinung des Wortes aber wechselseitiger miteinander verknüpft als eine allzu einfache Gegenüberstellung des Modells der Verkündigung und der Kommunikation in der Homiletik suggeriert. Engemann jedenfalls wendet sich „gegen eine Predigt, die sich der Hörer nach wenigen Sätzen auch selbst halten könnte“ (41), weil er das, was nun kommt, aus früheren Predigten schon weiß. Stattdessen soll die Predigt „offener“ werden in dem Sinn, dass der persönlichen Aneignung des Hörers und der Hörerin mehr Raum gegeben wird. Die einzelne Predigt lässt sich also, um in der Terminologie Ecos zu sprechen, als Abduktion in dem unabschließbaren Prozess der Bedeutungsgenerierung (Semiose) verstehen, d. h. Predigten eröffnen die Zuordnung bestimmter Bedeutungen zu bestimmten Zeichen nach den Regeln, die entweder vom Text oder von der Interpretation durch den Prediger, durch seinen theologischen Deutungsrahmen gesetzt sind. Man kann ein Gleichnis nicht beliebig deuten, sondern man muss sich an die Rollen, Kontraste und an die Ebenendifferenz halten, die im Gleichnis schon gegeben sind. Damit ist die Pointe aber noch nicht selbstverständlich gefunden. Als Beispiel bietet sich das Gleichnis von der bittenden Witwe und dem ungerechten Richter (Lk 18, 1–8) an. Man würde die Pointe des Gleichnisses verfehlen, wenn man es als Allegorie von Gott als einem Richter verstehen wollte. 91 W. Engemann, Semiotische Homiletik. Vgl. dazu Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen, 34ff. 92 Engemann, Semiotische Homiletik, 24. 93 Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 140–151; Dober, „Kommunikation des Evangeliums“. 94 Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen, 42.
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Dies ist, wie die Einleitung es ausdrücklich macht, kein Gleichnis für Gott, sondern für die menschliche Erfahrung des Wartenmüssens, der Abhängigkeit vom anderen bzw. von der „untilgbaren Zeit“95 sowohl im zwischenmenschlichen als auch im Verhältnis von Gott und Mensch. Mit der Beschreibung dieser Erfahrung will dieses Gleichnis dann Mut zum Beten machen.96 Auch die Interpretation einer Stelle in den Briefen des Paulus wird den Kontext beachten müssen, sei es der Kontext eben dieses Briefes, sei es der einer Rekonstruktion der Theologie des Apostels. Unter dieser Voraussetzung wird die individuelle Predigt aber immer noch ausreichend eigene Akzente setzen können, die dann für die Hörerschaft gewissermaßen Angebote zur Bedeutungsgenerierung machen. Denn das gehört zum Kern der „semiotischen Neuformatierung der Predigtlehre“97 durch Engemann, dass eine Predigt „Anhaltspunkte für eine Fortsetzung“ bieten sollte (293). Nur in einer solchen Offenheit, die hier den Sinn einer Wegbereitung für die eigene Aneignung bzw. Anverwandlung der Predigt durch den Hörer hat, soll vermieden werden können, dass die frohe Botschaft „zu stilistischen Lösungen“ gerinnt (291), dass es beim Predigen zu „redundanten Exzessen“ kommt (293) oder dass sich Langeweile in der Rezeption von Predigten breit macht. Beide Probleme sind nicht neu. Schon die sich um 1900 als „modern“ empfehlenden praktischen Theologen Otto Baumgarten, Friedrich Niebergall und Paul Drews haben es mit der Langeweile beim Predigthören aufgenommen. Und was die „redundanten Exzesse“ betrifft, hat schon Kant angemerkt, „gedankenlose Wiederholungen“ führten zur „Monotonie“ und würden „dadurch lächerlich“. „Angewöhnte Flickwörter (Phrasen zu bloßer Ausfüllung der Leere an Gedanken) machen den Zuhörer unaufhörlich besorgt, das Sprüchelchen wiederum hören zu müssen, und den Redner zur Sprachmaschine.“98 Neu ist allerdings, dass die Rezeptionsperspektive heute stärker betont wird als früher. Kant setzte vor allem auf die Freiheit des Menschen, die seine sprachliche Kompetenz – und Kreativität – einschließt. Damals wie heute braucht es die Offenheit in der Rezeption von Texten und von Predigten, damit die Lebenswelt der Erfahrung mit der Verheißung der Botschaft in eine fruchtbare, erhellende, befreiende Beziehung zu treten vermag. Das semiotische Modell lässt sich nämlich zugleich auf den einzelnen biblischen Text anwenden, im Ausgang von dem eine Predigt entwickelt wird. Denn auch schon die biblischen Texte geben Zeichen, insofern etwas in ihnen „,als 95 Simon, Philosophie des Zeichens, 107. 96 Vgl. H.M. Dober / H.M. Müller, Predigtmeditation zu Lukas 18, 1–8: Durchbrochenes Schweigen, in: PrSt V/II (1994/95), Stuttgart 1995, 178–284. Ich komme im Abs. 3.6.2 noch einmal auf dieses Gleichnis zurück. 97 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 291. 98 Kant, Anthropologie, 40.
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signifikant‘ wahrgenommen“, eine „Zeichengestalt“ (Signifikant) also einem Inhalt, einer Bedeutung zugeordnet werden kann und also zu einem Signifikat wird.99 Hinsichtlich dieser Zuordnungen ist vieles in der Schwebe, und das zumal wenn die biblischen Texte selbst sich der Formen von Metapher und Gleichnis bedienen, wenn sie sich selbst als „offene“ verstehen lassen, die nicht nur ein einsinniges Verständnis zulassen. So vermag die Semiotik das Bewusstsein von der Differenz der Bedeutungen zu schärfen, die in unterschiedlichen Kontexten mit den Zeichen verknüpft worden sind. Das gilt etwa für neutestamentliche Texte, die den in der alttestamentlichen Tradition vorgefundenen Zeichen und ihren bisher festgelegten Bedeutungen neue Bedeutungen verliehen haben (vgl. die Gottesknechtslieder Jesajas, Genesis 22). Neue Bedeutungsgenerierung findet aber auch im Verhältnis von Prediger und Gemeinde (und den dort angetroffenen oder vermuteten Interpretationen) statt. „Zeichen nötigen zum Nachfragen“,100 so Michael Meyer-Blanck, und im Diskurs, im Gespräch über Bedeutungsnuancen oder gar unterschiedliche Bedeutungen lässt sich vorankommen, um besser zu verstehen. Deshalb plädiert Meyer-Blanck aus religionspädagogischer Sicht für eine neu zu konzipierende „Symboldidaktik“ nach semiotischer Methode. Während ein „situationslos gebrauchter Begriff Symbol“ „Begriffsnebel“ verbreite (115 Anm.), vermöchte die Semiotik die Vieldeutigkeit im Zeichengebrauch zu analysieren und zu klären. In der Tat kommt es darauf an, den Gebrauch von Symbolen auf die Situation ihrer Erkennbarkeit zu beziehen. Denn „flüchtig“ offenbart sich der symbolische Gehalt „im Lichte der Erlösung“, wie man – eine Formulierung Benjamins variierend – sagen könnte.101 Darüber hinaus bleibt es aber eine Frage, ob dem Symbol nicht auch weiterhin ein Mehrwert im Verhältnis zum Zeichen zukommt – auch und gerade dann, wenn man um ein theologisch angemessenes Verständnis biblischer Texte bemüht ist. Bei allen Bedeutungsunterschieden, die zwischen den Zeichen spielen, die etwa ein Gleichnis gibt, ist doch dieses Spiel auf die hermeneutische Grundregel zu beziehen, dass evangelische Predigt Predigt des Evangeliums ist. Das ist die symbolisch festgelegte Bedeutung, im Licht derer jeder Bibeltext zu lesen ist, der dann als „Schrift“ gepredigt wird. Auch für Meyer-Blanck gilt: Die bewusst intendierte Mehrdeutigkeit in der Produktion einer Predigt darf nicht zu einer Unschärfe in der Mitteilung der eindeutig frohen Botschaft des Evangeliums führen. An dieser Referenz ist
99 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 292. 100 M. Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen, 110ff. 101 Vgl. Benjamin, GS I/1, 343 [Ursprung des deutschen Trauerspiels]. Den erkenntniskritischen Zusammenhang eines auf die Situation bezogenen Gebrauchs von Symbolen nach Benjamin habe ich an anderer Stelle rekonstruiert (Dober, Die Moderne wahrnehmen, 156–165).
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festzuhalten, auch wenn die Verweise zwischen den Zeichensystemen in hohem Maße flüssig sind. Allgemein wird aber gelten können: Bloße Zeichen bleiben stationär und isoliert, d. h. sie setzen keinen systematischen Zusammenhang voraus wie die Symbole. Eben diese Voraussetzung macht eine „symbolische Form“ Ernst Cassirer zufolge erst zu dem, was sie ist.102 Dass der einzelne Eindruck als Einzelphänomen der Erfahrung symbolischen Charakter bekommt – sei es im Bereich der Sprache, des Mythos, der Wissenschaft –, geschieht des methodischen Zusammenhangs wegen, in dem der Gegenstand zu einem Gegenstand geworden ist. M.a.W. beruht eben die Konstitution des Gegenstands als symbolische Form auf einem Begriff von Wirklichkeit, die aus einem komplexen System von Abhängigkeiten in der methodische Korrelation von Subjekt und Objekt besteht. Bei Cassirer wird dieses System von Abhängigkeiten nicht mehr im Sinne eines substantiellen Verständnisses von Wirklichkeit verstanden wie in der aristotelischen Tradition (s. o.), sondern im Sinne eines funktionalen in der Tradition des kritischen Idealismus eines Immanuel Kant bzw. Hermann Cohen. Die in dieser Denktradition bestimmte Funktion des Symbols, das einzelne als Teil eines Zusammenhangs zu betrachten (pars pro toto), impliziert erst einen systematischen Zusammenhang. Und eben diese Implikation führt das Zeichen nicht mit sich, weshalb es vielfach ausdeutbar ist – eben arbiträr.103
2.5
Andere verstehen und sich ihnen verständlich machen
Andere zu verstehen – das ist eine Herausforderung, die den Text, das Predigtbeispiel (etwa einen Film) und traditionelle Bedeutungen des Christentums ebenso betrifft wie die Situation, die zu erwartende Hörerschaft, die Vielfalt der in einer Gemeinde versammelten Plausibilitäten. Andere zu verstehen und sich anderen verständlich zu machen ist deshalb die Frage, die zur Rhetorik als Lehre der Rede, die ihrer Situation angemessen ist, überleitet. Nach dem eben Gesagten ist aber Verständnis nicht möglich in einem Spiel von Zeichen, sondern durch Transformation des bloßen Zeichengebrauchs zu symbolischen Formen. Die nämlich sind aus ihren Voraussetzungen zu verstehen. Man muss sich über die unterschiedliche Bedeutung von Zeichen austau102 Darin unterscheidet sich Cassirer nicht von Benjamin, der in seinem Sprachaufsatz den biblischen Text der Genesis als eine symbolische Darstellung der Urgeschichte verstanden hat (vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 111–115). 103 Die Tragweite dieser Unterscheidung von Zeichen und Symbol wird in den materialen Erwägungen etwa zum Symbol des Hirten (Abs. 3.6.1) oder des Kreuzes (Exkurs in 4.3.3) nachträglich erst sichtbar werden.
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schen, um dem anderen die Möglichkeit des Verständnisses einzuräumen und um ihn zu verstehen.
2.5.1 Die Bedingtheit eigenen Verstehens und des Verstehens der anderen Josef Simon zufolge bedeutet „andere (auch als Subjekte) zu verstehen …, die Bedingtheit des eigenen Verstehens zu verstehen.“104 Das eigene Verstehen beruht aber immer auf hypothetischen Voraussetzung wie das Verstehen der anderen auch. „Wir stellen aus unserer Sicht Hypothesen über das Denken anderer auf, und wir sprechen so mit ihnen, wie diese Hypothesen es uns nahelegen.“ (ebd.) Im Gespräch mit den anderen finden wir dann diese Hypothesen „entweder bestätigt oder in Frage gestellt.“ In beiden Fällen wird die Hypothese, von der wir ausgegangen waren, nicht die gleiche bleiben wie zuvor. Wer so zu verstehen sich bemüht, hat von Anfang an Vorsicht walten zu lassen im Verständnis des anderen. In dieser Vorsicht aber zeigt sich die „Achtung vor anderem Denken. Achtung ist Beachtung der Andersheit … Ohne diese Achtung versteht man nichts“, so Simon weiter. „Ihr Gegenteil ist das Vorurteil. Es ist die verfestigte, dogmatisch gewordene Hypothese. Hypothesen müssen variabel bleiben, wenn Verstehen möglich bleiben soll.“ (106)105 Wenn man diese Einsichten noch einmal auf die Reichweite der Semiotik bezieht, lässt sich zusammenfassend festhalten: Um andere verstehen zu können, muss deren Zeichengebrauch durch eine „Energie des Geistes“ (Cassirer) zu einer symbolischen Form umgewandelt werden. Nicht schon im bloßen Zeichengebrauch besteht das „System der Kultur“ nach Cassirer, sondern in der Transformation von Zeichen in symbolische Formen. Auf diesem Hintergrund kann die Semiotik eine relevante Kulturtheorie nur sein, wenn sie zur „Philosophie der Zeichen“ (Simon) umgewandelt wird. Denn das rechte Verständnis des Zeichengebrauchs hängt eben an einer kritischen Interpretation des komplexen Systems von Abhängigkeiten zwischen dem – auf Hypothesen beruhenden – Begriff und der Wirklichkeit.106 104 Simon, Philosophie des Zeichens, 105. 105 Exemplarisch lassen sich die von Simon begrifflich gefassten „Kriterien für ein gelingendes Gespräch“ anhand des von W. Benjamin mitgeteilten Briefes von F. Schlegel an Schleiermacher aufzeigen, in einer Dialogform also (Benjamin, GS IV/1, 233). Vgl. G. Hartung, Sprach-Kritik, 76–80 [Das Verstehen in der Sprache oder das Gespräch], 79. 106 Das wird auch für ein Verständnis von Kunstwerken gelten können, die die Wirklichkeit nicht nachahmen, sondern sie überhaupt erst zur Entdeckung bringen. Marc de Launay hat das in seiner Interpretation des Werkes von Aertsen, Christus bei Maria und Martha (1552) gezeigt (Ders., Kontemplation im Bild reflektiert, in: Krijnen u. a. [Hg.], Kulturphilosophie, 207–224]). Dieses Bild spielt nicht einfach mit Zeichen, sondern mit den Darstellungsformen der Typologie und der Allegorie. Der Ausgangspunkt aber ist die symbolische Form
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Der hypothetische Charakter des eigenen Denkens und des Denkens des anderen bleibt aber bestehen. Und auf diesem Bleiben beruht Simon zufolge „die untilgbare Zeit“.107 Die Frage, wie es möglich ist, andere zu verstehen und sich ihnen verständlich zu machen, verweist also noch einmal auf den schon eingangs auf die Predigtaufgabe bezogenen Satz Benjamins, die Wahrheit sei mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. Auch in der Predigt bleiben „das Individuelle des Versuchs und das Individuelle des zu Verstehenden … sich gegenüber“, um es mit Simon zu sagen. „Sie bleiben einander andere. Die Zeit bleibt (in Fluss), indem dieses Gegenüber bleibt.“ (107) Homiletisch gesprochen ist dieses bleibende Gegenüber auf die beiden Verhältnisse des Dreiecks zu beziehen, die vom Prediger gesteuert werden können: sein Verhältnis zum biblischen Text bzw. der in ihm gespeicherten Sachgehalte und sein Verhältnis zur Situation bzw. zur Gemeinde. In beiden Verhältnissen hat er es mit Andersheit zu tun, und was er an Vorverständnis mitbringt, trägt hypothetischen Charakter. Beide Verhältnisse stellen sich für ihn selbst anders dar, ob er sich auf eine erst zu haltende Predigt noch vorbereitet, oder ob er sie schon gehalten hat. Seine Hypothesen sind dann entweder bestätigt oder nicht, sie sind jedenfalls zu anderen geworden. Das Maß dieser Veränderung aber findet sich in dem Verhältnis der beiden Punkte im Dreieck, die nur durch die Vermittlung des Predigers sich zueinander verhalten – des Textes bzw. der Gehalte der Tradition einerseits und der Situation bzw. der Gemeinde als Vielzahl individueller Rezipienten andererseits. In diesem Verhältnis muss sich bewähren, ob die Wahrheit der Rede mit Zeit zum Zerspringen geladen war. D.i. gleichbedeutend mit der Frage, ob die Übersetzungsarbeit einer Predigt gelungen ist.
2.5.2 Predigen heißt übersetzen Von der Predigt ist freilich nur in metaphorischer Rede als einer Übersetzung zu handeln, baut sie doch auf dem biblischen Text in Gestalt einer Übersetzung schon auf. Ihren unscharfen Rändern zum Trotz bringen Metaphern aber einzelne Aspekte derart präzis auf den Punkt, dass eben deswegen ihr Gebrauch gerechtfertigt scheint. So wird man sagen können: „Wo die eine Sprache etwas zum Ausdruck bringt, was in der andern bisher so nicht gesagt und nicht sagbar ist, da beginnt … das Übersetzen in seinem eigentlichen Sinn.“108 In einer geder biblischen Geschichte, bezogen auf das christliche Symbol der Erlösung in der Passion Christi. 107 Simon, Philosophie des Zeichens, 107. 108 H.-Chr. Askani, Das Problem der Übersetzung, 122.
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nuinen Übersetzung wird die eine Sprache durch die andere in eine Bewegung hinein gezogen, die sie verändert (vgl. 123f). So wird „die Sprache der Übersetzung … geradezu zum Modell für das, was sich im Sprechen an Innovatorischem, an schöpferischer Leistung überhaupt ereignet. Denn alles Sprechen ist in seinem wesentlichen, exemplarischsten Fall (das) Sagen eines Neuen.“ (127) Und mit diesem Neuen ist in jeder Übersetzung – auch in der Luthers – eine Deutung verknüpft. Denn „an der Sprache hängt der Sinn“.109 Der Sinn der zu übersetzenden Worte ist zu erfassen, um ihn in den Worten der anderen Sprache wiederzugeben. So geht die Über-setzung zu einer anderen Sprache mit einer Neuakzentuierung des Sinns einher. Dass Rosenzweig Luthers Bibelübersetzung einen „sprachlichen Eroberungszug“ genannt hat (204), kann auf seine christologische Deutung des Alten Testaments bezogen werden.110 Unter dem Anspruch, „ein Neues“ zu sagen, steht auch die aktuelle Predigt. Wie die Übersetzung bewegt sie sich in dem Zwischenraum zwischen den Sprachen der Tradition und der Gegenwart, der biblischen Geschichte und eines Beispiels der Erfahrung „in der vollen Erkenntnis ihrer beider Eigenständigkeit“. Der Prediger muss das von ihm selbst Verstandene in eine für die Gemeinde verständliche Sprache fassen. So stiftet die Predigt einen Zusammenhang,111 und wird zu einer „Kunst im emphatischen Sinne des Wortes“ (130). Predigen heißt übersetzen in diesem Sinn, der sich auch mit Simon skizzieren ließ. Im homiletischen Dreieck ist die Idee einer Struktur symbolisiert, die während des offenen und flüssigen Prozesses der Predigtarbeit ein Bleibendes und Beständiges festhält. Dieses ist aber rein funktional eben zum Zweck einer Orientierung, die der Prediger nicht verlieren darf, wenn anders die Freiheit, Individualität und Konkretion seiner Arbeit die verantwortliche Bindung an Text und Situation nicht verlieren will. Es gibt keinen ontologisch oder metaphysisch prästabilierten Zusammenhang zwischen den drei Punkten des Dreiecks. Aber diesen Zusammenhang festzuhalten ist zum Zweck der Steuerung durch den Fluss der Zeit notwendig. Sonst würde die Predigt ihren Kurs verlieren, schlingern und ggf. kentern. Sie würde sich selbst als Predigt verlieren, weil sie aus dem Gegenüber fallen würde, in dem ihre immer wieder neu zu wagende Aktualität besteht: dem Gegenüber des „Individuellen des Versuchs und des Individuellen des zu Verstehenden“ (Simon).112
109 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 61. 110 Vgl. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 141–166 [Die Schrift und Luther (1926)], und meinen Beitrag Rosenzweig und Luther. 111 Vgl. Askani, Das Problem der Übersetzung, 260. 112 „An die Stelle des Problems der babylonischen Sprachenverwirrung ist heute das andere des Übersetzens getreten, d. h. des ersteren Heilung, die zugleich immer neue Verwirrung
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2.5.3 Ausblick auf den Fortgang der Untersuchung Dieses flüssige Verhältnis und die orientierende Idee einer Struktur sind im Blick zu behalten, wenn nun danach gefragt wird: Wie ist es möglich, sich in einer ihrer Situation angemessenen Rede anderen verständlich zu machen? Denn das ist die Wirkung, um derentwillen „jede Übersetzung geschieht“.113 Die antike Rhetorik setzt einen komplexen Zusammenhang von Fragen voraus. Zu ihnen gehört die Frage nach den Formen einer Rede wie die nach ihren Inhalten. Wer sich anderen verständlich machen will, wird beide – Inhalte und Formen – stets aufeinander beziehen müssen. Einen Vorrang der einen vor den anderen zu behaupten, wäre im Sinne der eben mit Simon skizzierten Herausforderung, andere zu verstehen und sich um Übersetzung zu bemühen, nicht zielführend. Zumal den Formen einen Vorrang einzuräumen, folgte dem Interesse, „sich im Selben zu verstehen“ und vernachlässigte das andere Interesse, „anderes Verstehen zu verstehen“ (107). Sprechen selbst ist ein Übersetzen vom Einen (Selben) zum Andern, und das vielmehr, als dass es die sprachliche Reproduktion dessen ist, was immer schon vom Einen (Selben) gewusst ist. In diesem Sinne liegt Gerechtigkeit in der Sprache als einer Weise des Ausdrucks oder – Rede (Le langage est justice, so L|vinas). Sie erfolgt, wie Simon bemerkt, „aus der Stärke im Ertragen des anderen“ (108). Unter der Leitfrage so verstandener Gerechtigkeit wenden wir uns nun der Rhetorik zu.
schafft … Heute gilt es, Christentum den einzelnen, abgelösten Individuen zu übersetzen“, schreibt Rosenstock an Rosenzweig am 19. 11. 1916 (Rosenzweig, GS I/1, 301). 113 Simon, Philosophie des Zeichens, 249.
3.
Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen? „Ich möchte den heute geglaubten Unterschied zwischen […] Kunstwerk und Rede relativieren, ja vergessen machen.“1
Die Predigt ist eine Rede, genauer : sie ist eine religiöse Rede. Diese Bestimmung ist nach dem schon Gesagten nicht zufällig, sondern weist der Predigt einen distinkten Ort innerhalb der drei Modi des Wortes zu. In der Regel nimmt sie ihren Ausgang zwar von einem biblischen Text, aber sie erfüllt sich nicht in dessen Wiederholung. Vielmehr ist ihr eine freie, eigene und konkrete Auslegung aufgetragen, die als „Fortführung“ (G. Ebeling) des Textes verstanden werden kann. Dies aber geschieht in einer Rede, die der Prediger zu verantworten hat. Inwiefern jeder Rede ein kerygmatisches Moment eignet, ist oben Gegenstand der Diskussion gewesen. Vom Zwiegespräch oder von der geselligen Unterhaltung unterscheidet sie sich durch ihren öffentlichen Charakter. Und dieser unterwirft sie – wie jede andere öffentliche Rede auch – den rhetorischen Kriterien. Auch hier ist die Vernunft zu suchen, die das Wort der Predigt – als Rede – orientiert. Die Doppelbedeutung des Wortes Logos hat sich an der Rede zu bewähren als menschliches Wort in Gestalt von Sätzen und in einer Ordnung, die Vernunft hat.
3.1
Die Predigt als religiöse Rede
Zu klären ist allerdings auch, was den religiösen Charakter der Predigt als Rede ausmacht. Der Terminus ist Schleiermachers Vorlesungen zur Homiletik entlehnt, hat aber aktuelle Bedeutung darüber hinaus. Hier geht es erst einmal nur darum, die abgrenzende, die Identität der religiösen Rede sicherstellende Funktion des Terminus zu bestimmen. Auf die positive Bestimmung muss ich hier verzichten, weil sie eine längere Erörterung des Religionsbegriffs erfordern würde.2 Ich komme aber immer wieder darauf zurück (vgl. etwa Abs. 4.4, 5.1.2). 1 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 8. 2 Vorausgesetzt wird hier Schleiermachers Begriff vom formalen Wesen der Religion auf den Spuren der 2. Rede (vgl. Chr. Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 193f), nicht aber die in Apologie und Polemik entwickelte Differenz individueller Gestalten der Religion aus dem jeweiligen „frommen Selbstbewusstsein“, wie das die 5. Rede unternimmt. Vgl.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Unter den Anlässen einer Rede (genera causarum), die die antike Rhetorik unterschied, und den ihnen entsprechenden Gattungen hatte die Predigt noch keinen Ort gefunden. Noch war das Christentum nicht zur römischen Staatsreligion geworden, und der Staat unter Konstantin war noch nicht christlich. Weder als politische Rede (genus deliberativum), die auf die Gestaltung des Gemeinwesens Einfluss nehmen will, noch als Rede vor Gericht (genus iudiciale), die zur Entscheidung eines Falles beiträgt, zu einer Verurteilung oder einem Freispruch, ist die Predigt angemessen zu verstehen. Am ehesten noch ließe sie sich als eine Festrede (genus demonstrativum) in das Schema der alten Rhetorik einordnen, die zu bestimmten Gelegenheiten gehalten wird, sei es als laudatio für eine öffentliche Person, sei es zu einem Volksfest, einem Feiertag, zu Kriegsbeginn oder Friedensschluss.3 Doch die Predigt wird sich hüten, in den Dienst nationaler, parteilicher, wirtschaftlicher Interessen gestellt zu werden. Nicht weltlichen Interessen ist sie verpflichtet, sondern – mit Karl Barth zu sprechen – dem Wort Gottes, oder – mit Schleiermacher zu sprechen – der Mitteilung des christlichen Glaubens in der Dimension der Religion.4 Nahe der ästhetischen und der sozialen Erfahrung ist die religiöse von beiden auf charakteristische Weise zu unterscheiden. Kraft dieser Unterscheidung wird dann zu entscheiden sein, was die Homiletik von der Rhetorik und der Ästhetik lernen kann – und was nicht. Das Verhältnis von Religion und Politik ist im europäischen Kontext weitgehend geklärt. Die Kirchen anerkennen, dass der Staat weltanschaulich neutral ist, und also eine Pluralität von Kirchen und Religionsgemeinschaften nebeneinander gelten lässt. Und der Staat enthält sich der Einflussnahme auf das, was in den Kirchen gepredigt wird. Er stellt sicher, dass sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts ihre inneren Belange selbst regeln können. Denn die institutionelle Gewährleistung von Bildungsaufgaben (im weitesten Sinn) und diakonischer Arbeit, wie die Kirchen sie leisten, liegt auch im Interesse des Staates. Um deutlich zu machen, dass die Predigt als religiöse Rede eine zwar begrenzte, nichtsdestotrotz aber eminent wichtige Bedeutung und Funktion für den Staat und die Gesellschaft hat – bis heute –, lohnt ein Blick in Moses Mendelssohns Jerusalem, in ein Buch, das Kant als „unwiderleglich“ bewunderte.5 Dober, „Reflektierender Glaube“. Die Vernunft der Religion in klassischen Positionen, 23–103. – Neuerdings hat W. Gräb eine Homiletik vorgelegt, die aus dem religiösen Charakter der Rede entwickelt wird (vgl. Ders., Predigtlehre. Über religiöse Rede). 3 Vgl. dazu Chr. v. Palmer, Predigt am 14. August 1870 in der Stiftskirche zu Tübingen, Tübingen 1870. Ders., Predigt zur Friedensfeier am 5. März 1871 in der Stiftskirche zu Tübingen, Tübingen 1871. Vgl. dazu: Dober, Christian Palmer. Ein Praktischer Theologe im Zeitalter der bürgerlichen Denk- und Lebensform, 201 Anm. 4 Vgl. schon W. Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. 5 Vgl. Kants Brief vom 16. August 1783, zit. in: M. Albrecht, Einleitung, in: M. Mendelssohn, Jerusalem, VII.
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Darin heißt es: „Aller Beistand, den die Religion dem Staate leisten kann, ist Belehren und Trösten.“ (45) Belehren kann die Religion hinsichtlich der innersten Triebgründe, Motive und Beweggründe von Handlungen. Sie kann dazu beitragen, dass diese auf Überzeugungen beruhen (43), die moralischer und religiöser bzw. theologischer Natur sind. Und sie vermag dazu anzuleiten, diese Überzeugungen zu Gesinnungen zu verfestigen (40ff). „Die Religion … kennt keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Übereinstimmung im Tun ohne Übereinstimmung im Sinne“ (44). Recht verstanden übt die Predigt (neben dem kirchlichen Unterricht und der Einzelseelsorge) eben diese Funktion der Religion für die Gesellschaft aus. Doch als eine religiöse Rede erschöpft sie ihre Bedeutung nicht in dieser Funktion. Vielmehr realisiert sie in ihrer unveräußerlichen Individualität die Gesichtspunkte, die aus der Doppelbedeutung des Wortes Logos erschlossen worden sind: (1.) das kerygmatische Moment des anredenden Wortes, das auch ein Ruf zur Verantwortung sein kann, (2.) das Verständnis der Sprache als Nähe, die sich nicht selbst genügt, sondern zu Herzen geht, (3.) das Differenzmoment in der Sprache selbst, das dem Verstehen ihrer Zeichen eignet, und eben so in die Offenheit eines Neuverstehens des christlichen Glaubens und des menschlichen Lebens vor Gott zu führen vermag, bei dem Erlösung ist. Erlösung aber ist als Befreiung zu verstehen, sei es von der Erdenschwere, sei es von der Last der Vergangenheit des Selbst, sei es von Sorgen und Angst.6 Solcher Befreiung will die Predigt den Weg bereiten, indem sie die in biblischen Textformen tradierte Verheißung mit den Wirklichkeiten des Lebens ins Gespräch bringt. Eine so verstandene Predigt setzt zu ihrer Vorbereitung (im Sinne des oben gegebenen Rosenzweig-Zitats [Abs. 2.2]) ein „antwortendes Denken“ voraus, das zwar in die Dimension des Unendlichen hinein fragt, aber „keinen Freibrief für metaphysische Antworten“ hat.7 „Das, wonach dieses Denken fragt, bewahrt seine Relevanz, fast möchte man sagen: seine Wahrheit unangetastet nur solange das Fragen währt.“ (ebd.) Dieses Fragen richtet sich sowohl auf den Sinn des Evangeliums als der spezifischen Differenz des Inhalts, der die Predigt zur Predigt macht (vgl. Abs. 1.6; 5.3), als auch auf die Wirklichkeiten des Lebens, bezogen auf die die Predigt als eine Rede zu halten ist (vgl. Abs. 1.4). Dass beide Fragerichtungen in den Horizont des Unendlichen weisen, macht den religiösen Charakter aus. Der aber ist ans Praktische gewiesen, um sich zu bewähren. Es entspricht der in der theologischen Tradition vielfach bearbeiteten Unterscheidung von Nähe und Ferne Gottes, wie auch seiner Offenbarkeit nur im Modus der Verborgenheit von Metapher und Gleichnis, dass der Blick dem 6 Dass „Erlösung“ heute als Befreiung zu verstehen ist, hat M. Theunissen in seinem Aufsatz über den Gebetsglauben Jesu gezeigt (Ders., Negative Theologie der Zeit, 321–377, hier: 364f). 7 Wiedebach, Pathische Urteilskraft, 183.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Unendlichen entsagen muss, um „sich zurück auf die Endlichkeit“ zu wenden. So aber steht er im Zeichen der Hoffnung, das „durch die Frage aufgerufene“ Unendliche „möge … dem Endlichen eine neue Qualität verleihen“ und „die Befangenheit in Leben und Leiden unter ein verändertes Licht stellen“, damit, was „,trübe‘ Wirklichkeit war, nun als ,ein erklingend Farbenspiel‘ aufleuchten kann“ (184 zit. Goethe).
3.2
Das umstrittene Verhältnis von Homiletik und Rhetorik
3.2.1 Philosophische Kritik Weil die Predigt eine Rede ist, orientiert sich die Homiletik an der Rhetorik. Die aber stand nicht immer in Ehren, und das nicht nur in der Homiletik nicht. Seit ihrer Kritik durch die antike Philosophie wurde der Rhetorik der Anspruch bestritten, der Wahrheit fähig zu sein. Gegen die Sophisten hatte Platon schon den Vorwurf erhoben, deren Rhetorik suche durch den schönen Schein zu hintergehen, sie wolle eigentlich nur überreden und nicht überzeugen, und überhaupt sei ihr Gegenstand, die Rede, nicht das Medium, in dem wesentliche Wahrheit kommuniziert werden könne, sondern nur ihr Schein. Diese Linie lässt sich bis zu Kant nachvollziehen. In der Kritik der Urteilskraft heißt es: „Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwäche der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen […], gar keiner Achtung würdig.“8
Die Kunst, „über einen vorgegebenen Gegenstand in wohlgesetzten Worten zu handeln“,9 ist dieser Einschätzung nach durchaus begrüßenswert. Gefährlich aber scheint eine interessegeleitete Willensbildung dann, wenn sie versucht, „durch den schönen Schein zu hintergehen“.10 Sie sucht dann, mit – vor dem Forum des Verstandes – unlauteren Mitteln zu überreden, nicht aber mit guten Argumenten zu überzeugen. Eine Beeinflussung der Hörerschaft, die nicht jederzeit die Freiheit der anderen respektiert und fördert, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist für den aufgeklärten Geist der Humanität Kants illegitim. Auch für einen Redner gilt die ethische Grundregel, den anderen Menschen nie nur als Mittel für fremde Zwecke zu betrachten und zu behandeln, sondern immer auch als Zweck an sich selbst.11 Wer ihn nur überreden, nicht
8 9 10 11
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 431. M. Josuttis, Homiletik und Rhetorik, in: Homiletisches Lesebuch, 290. Kant, Kritik der Urteilskraft, 430. D.i. die zweite Formel für den kategorischen Imperativ, wie Kant ihn in der Grundlegung zur
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aber überzeugen will, bedient sich der Rede als eines Mittels nur für die eigenen Zwecke. Gegen die Tendenz, die Rhetorik hinsichtlich ihres problematischen Gebrauchs abzuwerten, kommt es darauf an, sie (im Sinne eines allgemeinen kulturellen Kommunikationserfordernisses) als ein Integral der Erkenntnis zu begreifen. Auf diesem Weg ist Blumenberg vielleicht am weitesten gegangen. Er soll deshalb in diesem Abschnitt ausführlicher zu Wort kommen. Denn die Homiletik wird mit Erkenntnisgewinn in den ihr eigenen Grundlegungsfragen hier anschließen können. Sie soll in diesem Abschnitt als eine Rhetorik zur Darstellung gebracht werden, die der Wahrheit fähig ist.
3.2.2 Schleiermacher und Achelis Dass es zur Mitteilung des Glaubens oder zur Kommunikation des Evangeliums der Fähigkeit bedarf, eine Rede zu halten, ist den Praktischen Theologen seit der Einrichtung dieser wissenschaftlichen Disziplin bewusst gewesen. Deutlich genug hat Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie den Anschluss an die Kunstlehre der guten Rede gesucht, wie sie in der Antike entwickelt worden ist (an Aristoteles, Cicero u. a.).12 Schon in der 4. seiner Reden über die Religion (17991) – thematisch ist hier die Geselligkeit der Religion – heißt es, für die Mitteilung der Religion bedürfe es einer Atmosphäre, die sich vom „gemeinen Gespräch“ unterscheidet. Es bedürfe der Vorbereitung, der Ruhe, der Sammlung, der Konzentration. „Religiöse Ansichten, fromme Gefühle und ernste Reflexionen darüber kann man sich … nicht in kleinen Brosamen einander zuwerfen wie die Materialien eines leichten Gesprächs“. Vielmehr gebühre es sich, „auf das Höchste, was die Sprache erreichen kann, auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden“, doch nicht um des Schmuckes, sondern um des Zusammenhangs willen. Deswegen kann Religion nicht anders mitgeteilt werden als „rednerisch“, und es sei sachgemäß, dass die Predigt das rhetorische Wissen um die Gestaltung einer Rede nicht verachtet.13 Auch bei Carl Immanuel Nitzsch und Christian von Palmer finden sich längere Betrachtungen des Verhältnisses von Homiletik und Rhetorik. Als Zusammenfassung der vorher schon geltend gemachten, wichtigsten Gesichtspunkte kann der Abschnitt im Lehrbuch der Praktischen Theologie von Ernst Metaphysik der Sitten entfaltet hat. Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 140ff., 221. Vgl. 213. 12 Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 98–103. 13 Schleiermacher, Reden, 180f. [zitiert wird nach der Seitenzahl der Erstausgabe von 1799].
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Christian Achelis gelten, der das Verhältnis des Predigers zu seiner Predigt bestimmt (Bd. 1, 656–659). Achelis geht – für das 19. Jahrhundert charakteristisch – historisch vor: die „ersten Homiletiker des Christentums“ Chrysostomos und Augustin sind ebenso im Blick wie die jüngsten, zu denen etwa Franz Theremin gezählt wird, der Autor eines im 19. Jahrhundert viel beachteten Buches mit dem Titel Die Beredsamkeit eine Tugend.14 Doch der historische Rückblick verliert sich keineswegs im Archivarischen, noch hält er sich bei der Darstellung der monumentalen Gestalten auf. Vielmehr dominiert von Anfang an ein auf die gegenwärtige Situation bezogener kritischer Gesichtspunkt, der dazu nötigt, das Verhältnis von Predigt und Rhetorik „aus dem Wesen der Sache“ zu bestimmen.15 Diese Intention von Achelis ist hoch aktuell und relevant, auch wenn die Wahrnehmung seiner Gegenwart und seine Bestimmung des in Frage stehenden Verhältnisses nicht einfach beerbt werden kann. Schon er bemerkt aber eine Tendenz in den Plausibilitäten seiner Zeit, die in der unseren ungleich stärker noch sich ausgewirkt hat: „Die für das religiöse und sittliche Urteil nicht ungefährliche Neigung unserer Tage, überall den ästhetischen Massstab vorwiegen zu lassen und dem augenblicklichen Erfolg zu huldigen“, stelle eine problematische „Verlockung für den Prediger“ dar. Es geht um den Unterschied zwischen Homiletik, Rhetorik und Ästhetik, der umso schwieriger zu fassen ist, je deutlicher diese drei Bereiche (seien es „Kunstlehren“, Theorien, Erkenntnisbereiche oder Handlungsorientierungen) ineinander greifen, sich überlappen und Schnittmengen bilden. Achelis geht es darum (in implizit kritischer Auseinandersetzung mit Theremin), jede Verwechslung der Predigt mit einem der genus der antiken Rhetorik auszuschließen. Diese Intention zu unterscheiden dürfe aber nicht im Sinne einer „Verachtung von Kunst und Wissenschaft“ missverstanden werden, wie er gleich hinzufügt. Es bedarf also einer kritischen Analyse. In einer „rein formalen“ Hinsicht gibt die Rhetorik die „Landkarte“ (Grözinger) von Fragen und Herausforderungen auch für die Predigt ab.16 Achelis fasst darunter die Wahrnehmung des Hörers und der Situation ebenso wie die Leitlinien für die Gestaltung einer Rede („die Gesetze der Logik, der Dialektik, der Ästhetik“) – die produktions-und die rezeptionsästhetischen Gesichtspunkte also. Seine eigene Position gewinnt er aber in dem Gesichtspunkt, „dass durch Wesen und Begriff der Predigt als der Verkündigung des göttlichen Wortes das Überzeugtsein des Predigers von der Wahrheit seines Wortes, das religiöse und sittliche Einssein der Person mit der Sache gefordert ist.“ (659) Hier sind die 14 F. Theremin, Die Beredsamkeit eine Tugend. 15 E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie Bd. I, 656. 16 Grözinger, Homiletik, 197. Vgl. Ders., Die Sprache des Menschen, 81.
Das umstrittene Verhältnis von Homiletik und Rhetorik
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Tugenden des Predigers stillschweigend angesprochen, auf die ich am Ende zurückkommen werde. Bis in die soziologische Perspektive der Gegenwart hinein ist die Glaubwürdigkeit des Predigers „das wichtigste Gut“.17 Glaubwürdig bleibt der Pfarrer aber dann, wenn er in seiner Rede „das Kriterium der Echtheit“ nicht missachtet.18 So viel zur Aktualität von Achelis. Anders als das heutiger Plausibilität entsprechen könnte, rekurriert er aber auf ein Gemeindeverständnis, das eine „Gemeinsamkeit des Bodens“ zwischen dem Prediger und seinen Hörern darstelle. Das ist der theologisch zentrale Aspekt der „in Christus … geschenkten Gnade Gottes“. Aber wenn Achelis dann in einem Atemzug von „Auswahl“ und „Berufung durch das Evangelium“ spricht, geht er in einer Selbstverständlichkeit von lebensweltlichen Bedingungen aus, die in einer milieuspezifisch ausdifferenzierten gesellschaftlichen Lage der Gegenwart keineswegs mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden können. (659)
3.2.3 Die Position von Achelis im Rückblick Mit Blick auf die Geschichte der homiletischen Reflexion im 20. Jahrhundert nimmt Achelis eine mittlere Stellung ein, meinte man doch von den 20er Jahren an, auf die Orientierung an der Rhetorik verzichten zu können. Später aber, nach 1970, fand man zu einer verstärkten Aufmerksamkeit auf die (rhetorische) Gestaltung von Predigten zurück. Wenigstens drei Aspekte sind hier relevant: Erstens geht Achelis noch von einer Gemeindesituation aus, die nach der Wahrnehmung und den Analysen der als „modern“ sich empfehlenden und die Empirie einklagenden praktischen Theologen (Paul Drews, Otto Baumgarten, Friedrich Niebergall) schon um 1900 nicht mehr selbstverständlich gegeben war. Einem von Baumgarten als „spekulativ“ abgetanen Kirchen- und Gemeindeverständnis, das nach deduktiver Methode aus Schrift und Bekenntnis vorausgesetzt wurde, steht damals schon eine „wirkliche“ Gemeinde gegenüber, die binnenkirchlichen und -theologischen Vorverständnissen weitgehend entfremdet war. Dieser (in der Moderne veränderten) Situation in der Lehre der Predigt Rechnung zu tragen, forderte eine erneute Auseinandersetzung mit der Rhetorik.19 Denn die Situation, in der zu predigen ist, setzt die Fähigkeit voraus, 17 I. Karle, Kirche im Reformstress, 202. „In einer glaubwürdigen und existentiell relevanten Verkündigung liegt nach wie vor die zentrale Herausforderung der evangelischen Kirche“ (227). 18 Wie E. Beutel gezeigt hat, ist dies das Maß, an dem Fontane die Pfarrer gemessen hat, denen er begegnete (vgl. E. Beutel, Fontane, 71–93). 19 Es reicht nicht, hierfür auf die dreibändige Homiletik Friedrich Niebergalls und die Predigtprobleme Otto Baumgartens zurückzugehen. Vgl. Dober, Die moderne Predigt.
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sich mit Worten in einer unsicheren, nicht ontologisch oder metaphysisch prästabilierten Kommunikationssituation zwischen Individuen und Gruppen öffentlich zu verständigen. Auch wenn er diese Situation nicht in Rechnung stellte wie manche seiner Zeitgenossen, hat Achelis zweitens aber die Orientierung an der Rhetorik nicht aufgegeben, weil sie in der Predigtaufgabe hilfreich sein kann. Zum einen fordert er ein – alles andere als selbstverständliches – Überzeugtsein von der Wahrheit des Evangeliums auf Seiten des Predigers, das den „Massstab“ begründet, unter dem der „Wert“ einer Predigt theologisch angemessen bestimmt werden kann.20 Zum anderen ordnet er die rhetorischen Arbeitsschritte der inventio, dispositio und elocutio aber der Wirksamkeit des göttlichen Wortes unter. Dass der Prediger ihr den Weg bereiten, sie aber nicht hervorbringen kann, entlastet ihn in hohem Maße vor Überforderung. Bei den „Modernen“ fiel aller Akzent auf diese Wegbereitung, während die theologisch reflektierte Begründung der Predigt als spezieller Gattung der Rede verflachte. Drittens ist bei Achelis die im 19. Jahrhundert durchaus präsente Einsicht in den orientierenden Charakter der Rhetorik für die Homiletik (wie auch immer man ihn genauer bestimmte) noch nicht in den Hintergrund des praktischtheologischen Bewusstseins getreten. Erst unter dem Einfluss der sog. „dialektischen“ Theologie dominierte der Ruf zur „Sache“, zur wesentlichen Predigt als Verkündigung (und weniger als eine Herausforderung an die Fähigkeit zur Kommunikation) auch die Homiletik.21 Die Aufmerksamkeit für die empirischen Daten und eine Erforschung der (in soziologischer Hinsicht) „wirklichen“ Situation der Gemeindepredigt trat in den Hintergrund, und das Verhältnis der Homiletik zur Rhetorik wurde abgeschattet.22 Die Predigt ist eine Rede. In den 60er und 70er Jahren musste diese Bestimmung der Predigt als konzeptionelles Programm erst neu wieder entdeckt werden.23 Man wollte das Schema der explicatio des biblischen Textes und der applicatio an die Gemeindesituation in der Starrheit seiner Form verflüssigen. Dieses in der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts entwickelte Schema hatte Karl Barth der Homiletik ins Stammbuch geschrieben und man hielt sich in den Nachkriegsjahrzehnten noch weitgehend daran. Die Predigt erneut als eine Rede zu begreifen, hat dann vielen die Augen dafür geöffnet, dass 20 Achelis, Lehrbuch I, 659–667. 21 Als ein besonders sprechendes Beispiel für diese Tendenz kann das aus Seminaren Anfang der 30er Jahre hervor gegangene Bändchen Karl Barths zur Theorie der Predigt gelten (vgl. dazu: Dober, Evangelische Homiletik, 106–138). 22 Vgl. die neuere Darstellung, die Chr. Grethlein dem Verhältnis von Praktischer Theologie und Empirie gewidmet hat (Ders. [Hg.], Praktische Theologie, 289–352). 23 Gert Otto, sein Schüler Henning Luther und Walter Jens sind einige hier zu nennenden Namen.
Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische
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es nicht nur den Text gibt, der eine Auslegung fordert, sondern auch die Gemeinde, der die Gehalte des Textes so mitgeteilt werden wollen, dass sie etwas für ihr Leben und für ihren Glauben Bedeutsames mit nach Hause nehmen können. Unter volkskirchlichen Bedingungen besteht die Gemeinde aber nicht selbstverständlich aus Eingeweihten oder Familienmitgliedern, so dass der Prediger als „Bruder […] zu Brüdern redet“.24 Der Boden des gemeinsamen Verständnisses im Christentum ist nicht so fest und unerschütterlich, wie Achelis es Ende des 19. Jahrhunderts noch hatte voraussetzen können. Weil die Predigt mehr ist als eine Auslegung, mehr als ein hermeneutisches Unternehmen, das vor allem einem biblischen Text gerecht werden möchte, eben eine Rede, die auf die – religiös zu nennenden – Fragen zu antworten hat, die von der Gemeinde erwartet werden können, muss das Verhältnis von Homiletik und Rhetorik grundlegend neu bestimmt werden. Zu diesem Zweck ist der weite Horizont auszuleuchten, in dem auf zeitgenössischem Reflexionsniveau die Frage nach der Rhetorik behandelt wird.
3.3
Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische
In diesem Abschnitt wird der Prozess der Verflüssigung im Verständnis von Zeichen unter einer anderen Perspektive weiter beschrieben, als dies bisher geschehen ist. Philosophisch ist es ein „Prozess der Umkehr, der mit Aristoteles begann und in dem auch Kants kopernikanische Wendung nur eine Station darstellt“.25 Die Kontextgebundenheit des Zeichengebrauchs, die dazu nötigte, „sich die fremden Zeichen in eigene Vorstellungen zu übersetzen“ (13), kehrt nun wieder in der Frage, welche Funktion eine Rede unter den Bedingungen bestimmter lebensweltlicher Vertrautheit und deren Gefährdung hat. Mit der Pluralisierung der Lebenswelten steht die Rede unter der gesteigerten Herausforderung, verstanden zu werden. Diese Herausforderung besteht nicht zuletzt in der Referenz, die sich „in der Interferenz der Zeichenverwender“26 abzeichnet. Zwar wird gelten können: Was selbstverständlich ist, muss nicht eigens thematisiert werden. Wenn aber dies Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist, wird das Verstehen zunehmend schwieriger : was verstanden ist, muss nun explizit gemacht werden.
24 Achelis, Lehrbuch I, 659. 25 Simon, Philosophie des Zeichens, 17. 26 Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 281.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
3.3.1 Ernes Blumenberg-Rezeption Thomas Erne hat in Anlehnung an einen Terminus J. Kopperschmidts die Rhetorik von dem „Rhetorischen“ (bzw. von der „Rhetorizität“) unterschieden. Die Rhetorik als ars bene dicendi versammelt die „Summe der Mittel, eine vorausgesetzte Wahrheit zu verdeutlichen.“27 Demgegenüber meint das Rhetorische dasjenige, „was bei der platonischen Kritik an der sophistischen Rhetorik verdeckt geblieben ist“: Die rhetorische Situation, welche von einer Pluralität von Vorverständnissen und Wahrheitsansprüchen gezeichnet ist. Selten ist sie durch lebensweltlich Selbstverständliches abgesichert, über das man nicht viel reden muss. Häufiger muss das lebensweltlich Selbstverständliche angesichts seiner Gefährdung durch Worte geschützt werden. „An den Rändern (und im Zentrum) lebensweltlicher Vertrautheit“ kann „das Moment einer bedrohlichen Unbestimmtheit … jederzeit aufbrechen“ (163). Blumenberg hat hierfür ein schönes Beispiel in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg gefunden. Bei Saarow lässt sich der Reisende von einem Zwölfjährigen und seiner Schwester über den See rudern. Obwohl er erkennt, dass „der Junge seiner Sache vollkommen sicher war und den Scharmützel ohne sonderliche Mühe bezwingen würde“28, interessiert er sich für „das Sicherheitsmoment … Ob sie denn auch schwimmen könnten, oder wenigstens er? »Nei.« – »Ja, da kannst du ja mal ertrinken.« – »O, ick wihr doch nich.« – »Nu nimm mal an, wenn euer Boot umkippt.« – »Uns’ Boot kippt nich.« Und dabei sahen sie sich an und kicherten und ruderten weiter. Das ist die Lebenswelt“, so Blumenberg, „nur wer von außen in sie eintritt, sieht Risiken jenseits des Randes alltäglicher oder erinnerter oder jemals auch nur vorgestellter Vorkommnisse.“ (ebd.) Sobald aber derart Bedrohliches das lebensweltlich Selbstverständliche in Frage stellt, vermag menschlicher Sprachgebrauch davon zu distanzieren, und mit dem Sprachgebrauch ist das „Rhetorische“ angedeutet, die „Rhetorizität“ als Kategorie, unter der die Rhetorik als Disziplin überhaupt erst aus ihren Voraussetzungen und Gründen verstanden werden kann. Wenn man die Rede auf die von der antiken Rhetorik unterschiedenen typischen Anlässe bezieht, so ist ohne weiteres einzusehen, dass ihre Funktion jeweils darin besteht, entweder bisher unangefochtene Vertrautheiten zu sichern oder das Selbstverständliche aus seinen Bedingungen aufs Neue als selbstverständlich erscheinen zu lassen. Im eben gegebenen Beispiel erfüllt schon die vorsprachliche Äußerung eines Einverständnis signalisierenden Kicherns diese Funktion. Demgegenüber bedarf es in öffentlichen Kontexten des artikulierten Wortes in geformten Sätzen. 27 Erne, Rhetorik und Religion, 164. 28 Blumenberg, Vor allem Fontane, 96 zit. Fontane (kursiv bei Blumenberg).
Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische
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Die politische Rede (genus deliberativum) bezieht sich immer auf die Frage, ob Bestehendes erhalten oder verändert werden soll. Sie kann mit Feuer und Flamme für einen Wandel der Verhältnisse eintreten oder aber die Bedenken, Sorgen und Ängste vor derartigen Wandlungsprozessen beschwichtigen. Die Gerichtsrede (genus judiciale) hat immer eine Gefährdung der bestehenden Ordnung zum Gegenstand, sei es, dass sie Anklage gegen einen Gesetzesbrecher erhebt, sei es, dass sie gegen derartige Anklagen verteidigt. Immer aber steht die selbstverständlich geltende Ordnung der Verhältnisse auf dem Spiel. Und die Fest- oder Lobrede (genus demonstrativum) hebt eine Person oder ein Ereignis auf die Bühne des öffentlichen Bewusstseins, die für das Leben des Gemeinwesens von Bedeutung waren oder sind. Was scheinbar selbstverständlich ist, wird hier sichtbar als etwas, das alles andere als selbstverständlich ist – als etwas Besonderes, als etwas Außerordentliches, als ein Anlass eben zum Lob und zum Feiern. Zu einem Teil spielen alle drei Gesichtspunkte, vor allem aber der letztgenannte in das kirchliche Kasualhandeln hinein. Denn ob es sich um eine Ansprache anlässlich der Taufe (und also der Geburt eines Kindes) oder um eine Bestattungsrede handelt, eine Konfirmationsansprache oder eine Hochzeitspredigt – jeweils wollen sich die persönlich Betroffenen und ihre Angehörigen in den Unterbrechungen bisheriger Selbstverständlichkeiten orientieren. Die Geburt eines Kindes stellt die Eltern vor die Herausforderung, nun ein Familienleben gestalten zu müssen. Die Pubertät bedeutet nicht nur für die Konfirmandinnen und Konfirmanden eine Verunsicherung ihres bisherigen Standes als Kinder, sondern auch für die Eltern die schwierige Aufgabe, die Kinder loszulassen, freizugeben in ihr schrittweise zu wagendes eigenes Leben. Auch die Eheschließung versetzt das Paar in einen neuen sozialen Stand, und das betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Herkunftsfamilien. Dass bisher selbstverständliche Vertrautheiten nicht mehr bestehen, und man sich in einer verunsichernden Lage neu zurechtfinden muss, ist vielleicht am deutlichsten im Angesicht des Todes zu sehen. Mit einem Menschen muss man von einer ganzen bisherigen Welt Abschied nehmen, und die Hinterbliebenen müssen mit der entstandenen Lücke erst langsam zu leben lernen. In der sprachlichen Bewältigung derartiger Situationen erfüllt Erne zufolge die Metapher eine wichtige Funktion. Ihre Bestimmung würde verkürzt und insofern verfehlt, wenn man sie (mit Aristoteles) in „uneigentlicher Rede“ gefunden zu haben meinte.29 Vielmehr ermöglicht die Metapher die „Distanznahme gegenüber einem unmittelbaren Eindruck“30 und erhält somit die – für die praktischen Lebensvollzüge immer vorauszusetzende – Selbstverständlich29 Vgl. dazu E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit. 30 Erne, Rhetorik und Religion, 163.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
keit des in Geltung Stehenden aufrecht. Metaphern heben „den Stau des Fragens … auf“31 und verweisen umgekehrt auf die Fragen, die in sie eingegangen sind. Überhaupt kann mit den Mitteln des Wortes und der Sprache „die Lebenswelt als Inbegriff selbstverständlicher Weltvertrautheit“ aufrechterhalten werden.32 Außer der Metapher sind hier Mythos und Symbol zu nennen. Betrachtet man sie von ihrer rhetorischen Funktion her, so werden viele der biblischen Geschichten, aber auch der kirchlichen Symbole – wie etwa das Kreuz – auf eine neue Weise lesbar. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, steht das „Kreuz der Wirklichkeit“ (Rosenstock) – all die sich kreuzenden Linien der Welt- und Lebenserfahrung – in der Perspektive eines Symbols.33 Doch dessen Funktion erschöpft sich nicht darin, von der Sperrigkeit dieses „über-Kreuz-Liegens“ zu distanzieren. Hinzu tritt in christlicher Perspektive eine deutende Funktion, die eben diese Wirklichkeit als Gesetz des Lebens versteht, auf das befreiend, errettend, erlösend das Evangelium zu beziehen ist. Mythos, Symbol und Metapher bzw. Gleichnis treten nun in den Blick als Formen, das Evangelium zu kommunizieren. In diese Kommunikation werden heute auch die „Trümmer“ der Symbole einbezogen und bedacht werden müssen.34 Auch Witz und Humor werden zu dem Arsenal zu rechnen sein, das der die Lebenswelt stabilisierenden Distanzierungsfunktion des „Rhetorischen“ zu Gebote steht.35 Insbesondere der jüdische Witz bietet sich hier als ein Beispiel an. Angesichts höchst konkreter Bedrohungen des bisher Selbstverständlichen hat er dazu beigetragen, die Dinge wenigstens subjektiv einigermaßen im Lot zu halten. Ein Beispiel: „1933. In einem deutschen Amtsgebäude meldet sich ein Jude mit der Bitte, seinen Namen ändern zu dürfen. Der Beamte: ,Im allgemeinen lassen wir uns auf Namensänderungen nicht ein. Aber Sie werden wohl starke Gründe haben. Wie heißen Sie denn?‘ – ,Adolf Stinkfuß.‘ – ,Ja, da muss man schon Verständnis haben. Und wie möchten Sie heißen?‘ – ,Moritz Stinkfuß.‘“36
Die Dinge werden hier im Lot gehalten durch Distanzierung von dem Vornamen, der für das ganze Elend des Antisemitismus steht. Dass der Nachname geeignet bleibt, unter denen, die ihn nennen, Hohn und Spott zu verbreiten, wird demgegenüber vernachlässigt. Oder : 31 Wiedebach, Pathische Urteilskraft, 203. 32 Erne, Rhetorik und Religion, 164. 33 Rosenzweig ist darauf im 3. Teil des Sterns der Erlösung eingegangen (Ders., Der Stern der Erlösung, 418–420). S. u. Abs. 4.3.3. 34 Vgl. Kert|sz, Ich – ein anderer, 54. 35 Das entspricht der inneren Verwandtschaft von Frömmigkeit und Humor. Vgl. Dober, Die kathartische Funktion des Gebets. 36 S. Landmann, Jüdische Witze, 324.
Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische
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„Nazizeit. Zwei Juden begegnen einander auf der Straße. ,Herr Kohn, ich hab Ihnen zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte.‘ – ,Zuerst bitte die gute!‘ – ,Hitler ist tot.‘ – ,Großartig! Und jetzt die zweite, schlechte?‘ – ,Die erste stimmt nicht.‘“ (326)
Der unerfüllte Wunsch, das Elend des sog. „dritten Reiches“ möge zu Ende gehen, wird hier im Witz zuerst erfüllt, um dann mit der Realität der NichtErfüllung konfrontiert zu werden. Doch diese Realität ist nun für einen Augenblick lang leichter zu ertragen, weil man über die verfremdende Funktion des Witzes lachen kann. Ein drittes Beispiel deutet die rhetorische Funktion an, durch Verfremdung ins Absurde das in Geltung stehende Selbstverständliche zu bewahren: „Unter irgendeiner tyrannischen Regierung stehen drei Juden vor dem Hinrichtungskommando. Der Offizier bietet ihnen eine letzte Zigarette an. Die beiden ersten nehmen sich eine, der dritte lehnt ab. Der zweite dreht sich zu ihm und sagt: ,Moische, forder nix heraus!‘“37
Das Reden in der Funktion, einer bedrängenden Wirklichkeit gegenüber Distanz zu gewinnen, kennt unterschiedliche Formen. Es kann unter dem Begriff des „Rhetorischen“ gefasst werden. Als weitere Beispiele bieten sich auch die Monologe und Dialoge in Woody Allens Filmen an: Auf den ersten Blick wird hier viel zu viel geredet, und nicht alles, was hier in Worte gefasst wird, scheint sinnvoll oder für den Verlauf der Handlung notwendig. Doch diese Sicht mag sich als zu oberflächlich erweisen, wenn man die vielen Worte in Manhattan, im Stadtneurotiker oder auch in Verbrechen und andere Kleinigkeiten bis hin zu Vicki Christina Barcelona als Distanznahme gegen alle möglichen Bedrohungen des bisher Selbstverständlichen versteht, um die bestehende lebensweltliche Vertrautheit aufrecht zu erhalten. Insgesamt handelt es sich bei dem „Rhetorischen“ um ein „rhetorisches Verfahren“, „eine Welt, die der Gründe nicht bedarf, vor reflexiver Thematisierung abzuschirmen“,38 sei es durch die legitimierende Kraft der Mythen, sei es durch „die suggestive Qualität der Metaphern“ (ebd.), sei es durch die Stiftung „einer Welt selbstverständlicher Vertrautheit“ durch Symbole (160), sei es durch Distanznahme auf dem Weg witziger Verfremdung. Bei aller Kritik der Aufklärung am Mythos ist dieses Verfahren keineswegs „irrational“, wird es doch getragen durch eine Aufklärung zweiter Ordnung über die Notwendigkeit, lebensweltliche Vertrautheit zum Zweck geordneten Handelns aufrecht zu erhalten. In diesem Sinne kann es Blumenberg zufolge „vernünftig sein, nicht bis zum Letzten vernünftig zu sein“ (165 zit. Blumenberg). So verstanden führt das „Rhetorische“ auch in die Dimension, die mit L|vinas eine „Sprache vor der 37 Peter L. Berger, Erlösendes Lachen, 109. 38 Erne, Rhetorik und Religion, 165.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Sprache“ genannt wurde, eine „ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation“.39 Man könnte auch im Anschluss an Nietzsches Formel von der „Form an sich“ davon sprechen, dass hier „die elementare, leibliche Dimension der Rhetorik als reiner Ausdruck“ angesprochen ist, „auch als Schrei oder Laut unterhalb der Ebene des sprachlich fixierten Ausdrucks“.40 Vor allem Vernunftgebrauch findet sich der Mensch als zoon logon echon schon in einer Situation, die „das Rhetorische“ genannt werden kann. Blumenberg nähert sich dieser Dimension anthropologisch an. Darauf ist noch kurz einzugehen. Denn mit dem Verlust lebensweltlicher Vertrautheiten auch in der Kirche „auf der Schwelle“ (s. o. Abs. 1.1) – d.i. ebenfalls eine Metapher, die ihre Funktion im Sinne der „Rhetorizität“ erfüllt –, ist der Rekurs auf allgemeine anthropologische Einsichten hilfreich. Wie Ernst Cassirer geht auch Blumenberg „vom Faktum der symbolischen Formen aus, die in der Kulturwelt in Erscheinung treten“ (168) – eben von Mythos, Symbol und Metapher. Anders als Cassirer thematisiert Blumenberg die symbolischen Formen aber „nicht mehr im Blick auf die kulturelle Anreicherung der menschlichen Existenz, sondern im Blick auf die elementaren Distanzierungsleistungen …, die im Daseinsvollzug erbracht werden müssen.“ (169) Es ist für den Menschen als ein weltoffenes Wesen, als das – mit Nietzsche zu sprechen – noch „nicht festgestellte Tier“ notwendig, dass er „von der Unbestimmtheit seiner Umwelt nicht überwältigt wird“. Und die symbolischen Formen sind immer schon Mittel gewesen, um sich von dieser Unbestimmtheit zu distanzieren. Zugleich haben diese Formen aber, indem sie einen „Raum des Vertrauten“ geschaffen haben, in Gestalt der Metapher Unbestimmtheit auch wieder zugelassen, „um in diesen vertrauten Räumen nicht zu erstarren“ (169). Anders gesagt: Das „Mängelwesen Mensch“ kann existieren, weil es seine Mängel als animal symbolicum kompensiert. Das geschieht aber auf eine komplexe Weise so, dass einerseits Sicherheiten durch Bestimmtheit geschaffen werden, andererseits in dieser Bestimmtheit um der Weltoffenheit willen auch Unbestimmtheit zugelassen wird. So stellt das Rhetorische als ein „imaginatives Verfahren“ (172) „den vernünftigen Umgang mit den Deckungslücken der Vernunft in der Moderne dar“ (171).
3.3.2 Der rhetorische Umgang des Paulus mit der Rhetorik Die Unterscheidung der Rhetorik von dem „Rhetorischen“ ermöglicht es, einem zu eng gefassten Verständnis von Rhetorik als einer erlernbaren Technik wirksamen Redens zu widersprechen. Einschlägig für dieses Problem ist die Perikope 39 L|vinas, Sprache und Nähe, 280. 40 Erne, Rhetorik und Religion, 163 Anm.
Grundlegung: Die Rhetorik und das Rhetorische
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1 Kor 2, 1–10. Hier setzt sich Paulus mit Worten, die wohl gewählt sind, kritisch von einer rhetorischen Kunst ab, die ihre Hörer überreden will, um auf diese Weise – zum gegenwärtigen Anlass – eine Orientierung zu geben. Das stillschweigend und selbstverständlich in Geltung Stehende, dass er als Apostel nun diese Aufgabe erfülle, stellt er mit seinen Worten in Frage: auch das ist eine rhetorische Leistung, die sich jedoch nach der Regel des Überzeugens verhält. Wovon will Paulus überzeugen? Dass Gott das Geheimnis der Welt ist, und dass ein für den christlichen Glauben zureichender Begriff von Weisheit den „widerständigen, törichten Sinn“41 des Wortes vom Kreuz integrieren muss. Es geht eben nicht um eine Kritik der Weisheit oder gar der Philosophie überhaupt, wenngleich das griechische Denken von Homer bis Aristoteles sich grundlegend von dem des Paulus unterscheidet. Eine Philosophie aber, die zwischen dem Rhetorischen und der Rhetorik unterscheidet, vermag Hilfen zu geben, die paulinische These von der Torheit des Kreuzes in den Zusammenhang von Wissen und Erkenntnis einzuordnen. Paulus fordert dazu auf, „die eigene Perspektive grundlegend zu verändern“; das aber ist ein Thema der phänomenologisch vorgehenden Philosophie. So wird die christliche Weisheit erkennbar als „die einzige widerständige Rationalität in den Irrationalitäten der gegenwärtigen Welt und ihrer vermeintlichen Sicherheiten“ (103). Ralf Kunz macht dann einige rhetorische Formen auch bei Paulus aus (106): es kommt in der Tat darauf an, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Paulus weist an dieser Stelle auf eine Dimension hin, die in und unter Voraussetzung des „Rhetorischen“ geheimnisvoll und auratisch ist, eine Dimension der Nähe, die in der Sprache selbst verborgen ist, ein Sagen vor allem Gesagten. Bestimmt wird dies Unbestimmte aber durch das „Wort vom Kreuz“, verstanden als Gottes Zuwendung zum Menschen, als Gabe vor allem Wollen, auch vor allem Überreden- und Überzeugenwollen. Die Rhetorik ist mehr als eine erlernbare Technik des wirksamen Sprechens. Denn alles Reden, das alltägliche wie das öffentliche, findet sich immer schon in die Dimension gefährdeter lebensweltlicher Vertrautheit eingebettet. Das ist im Blick zu behalten, wenn nun die Rhetorik als ars bene dicendi für die Homiletik fruchtbar gemacht werden soll – als Regulativ in der Erfüllung des Predigtauftrags, das Evangelium zu kommunizieren. Eben diese Kommunikation beruht aber auf der Einsicht des Predigers, dass der mit dem Evangelium gegebene Wahrheitsanspruch in einer gesellschaftlichen Situation kommuniziert werden muss, in der viele andere Wahrheitsansprüche vertreten werden. Die „Kommunikation des Evangeliums“ muss der moderngesellschaftlichen Plausibilität standhalten, dass es die eine, absolute Wahrheit nicht mehr gibt (s. u. Abs. 5.1.1). 41 Thomas Schlag / Ralph Kunz, 1 Korinther 2,1–10: Widerständige törichte Weisheit, in: PrSt IV/1 [2011/ 2012], 102–108, hier : 102.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Eben diese – mit Heidegger gesprochen – „metaphysikgeschichtliche“ Situation fordert die Rhetorik heraus. Das Rhetorische umfasst eben auch die Pluralisierung der Wahrheit, und mit ihr die Notwendigkeit, den eigenen Wahrheitsanspruch nach allen Regeln der Kunst – eben im Sinne der ars bene dicendi – öffentlich zu vertreten.
3.4
Der Garten der Rhetorik
Die antike Rhetorik ist auf die unterschiedlichsten Fragestellungen eingegangen. Sie versammelt Gesichtspunkte zur Wahrnehmung der Situation, des Redeanlasses und der zu erwartenden Rezeptionsbedingungen mit einer Anleitung zur Vorbereitung einer Rede und zu einem angemessenen Sprachgebrauch. Die in ihr versammelten thematischen Felder können unterschieden werden wie die Teile eines Gartens. Man kann hindurchlaufen und verweilen, sich an Blüten erfreuen, ihren Duft atmen, aber auch am Komposthaufen vorbeikommen oder bei den Giftpflanzen. Wie der Garten kultivierte Natur, so ist die Rhetorik eine Lehre kultivierter Kommunikation, „umfassendes Regelwerk“ und „reflektierendes Fach“, „allgemeiner Bildungsfaktor“ und „dominierendes Kulturphänomen“. So hat es Øivind Andersen formuliert.42 Mit der Metapher des Gartens – die sich in einem im 16. Jahrhundert verbreiteten Lehrbuch findet (11) – hat er schon rhetorisch auf Unsicherheit geantwortet, wie diese Disziplin denn in das System der Wissenschaften eingeordnet werden soll. Man kann terminologisch an die Rhetorik herangehen, und die „technischen Ausdrücke griechischer und lateinischer Herkunft“ deuten, oder man betrachtet diese Disziplin historisch und ist auf den Wandel der Gestaltung aufmerksam. Oder aber man wählt den systematischen Weg, auf dem die Rhetorik als ein „Lehrgebäude“ oder „Begriffsapparat“ rekonstruiert werden kann.43 Schließlich kann man unter bestimmten Fragestellungen an die Sache herangehen und nach „problemorientierten Aspekten wie Kommunikation, Argumentation, Pädagogik“ fragen. Dieser Weg begreift die anderen Zugänge mit ein, versteht sich aber selbst wie ein „Spaziergang“ – eben durch einen Garten. In dieser Metapher ist die Rhetorik eine umgrenzte Disziplin. Aber das in diese Grenze gefasste Ganze ist aus Teilen zusammengesetzt, die auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind. Die Verbindungslinien, die sich zwischen den Teilen ergeben, werden von dem Spaziergänger oder dem Flaneur gezogen, der eben mit bestimmten Fragestel42 Andersen, Im Garten der Rhetorik, 12. 43 A.a.O., 11. Auf exemplarische Weise hat Manfred Fuhrmann die historische und systematische Methode in seiner Darstellung verknüpft (Ders., Die antike Rhetorik). Die terminologische und historische Methode findet sich bei Werner Eisenhut kombiniert (Ders., Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte).
Die Aufgaben des Redners (officia oratoris)
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lungen diesen Garten durchschreitet. Für die Frage, was die Homiletik von der Rhetorik lernen kann, scheint das eine angemessene Herangehensweise zu sein.44 So sind etwa die beiden Fragen, in welche Situation hinein eine Rede zu halten ist, und wie man eine Rede gestaltet, schon in der antiken Rhetorik eng miteinander verknüpft. Es ist also nicht von vornherein klar, womit man zu beginnen habe, wenn man die ars bene dicendi darstellen will. Die Frage nach dem Anlass und dem Zweck einer Rede spielt immer schon in die andere hinein, was der Redner sagen soll und wie er sein Thema gestaltet. „Wenn es so aussieht, als ob die rhetorische Kommunikation eine Einbahnstraße sei – der Redner redet, die Zuhörer hören zu –, dann trügt der Schein. Die Signale gehen in beide Richtungen.“45 Schon die Auffindung des Redestoffes setzt ein Bewusstsein von den objektiven Bedingungen voraus, unter denen zu reden ist. Diese Bedingungen umfassen alle Aspekte der Rede-Situation. Deren zureichende Wahrnehmung wird also als erste Aufgabe des Redners anzusehen sein. Ohne ihr gerecht geworden zu sein, wird auch die Gestaltung der Rede kaum zureichend gelingen. Wenn ich nun einen Abschnitt über die vorbereitenden Arbeitsschritte der weiteren Ausführung des Anlasses und der Zwecke vorausschicke, so deswegen, weil die folgenden Abschnitte auf die hier zu entwickelnde Begrifflichkeit aufbauen. Ich wende mich also nun den schon von der antiken Rhetorik unterschiedenen Arbeitsschritten zu, die vom Redner in der Vorbereitung bis zum Halten seiner Rede durchlaufen werden müssen.
3.5
Die Aufgaben des Redners (officia oratoris)
Das erste ist die Auffindung des Redestoffes (inventio). Die Rede braucht eine Idee, einen leitenden Gedanken, der sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Teile verfolgen lässt, oder – um in einem anderen Vergleich zu sprechen – eine Konstellation von Gesichtspunkten, die von den einzelnen Teilen aus als solche wiedererkennbar sein muss. So erst gewinnt die Rede als ein in sich gestaltetes Ganzes Zusammenhang, so erst unterscheidet sich ihre Gliederung von einem „trockenen Schematismus“ (Schleiermacher), so erst kann man in der Rezeption wahrnehmen, was der Redner hat sagen wollen. Diese Idee muss dem Anlass der Rede entsprechen, und in ihrem Licht wird entscheidbar, was in die Sammlung des Stoffes aufgenommen werden soll. 44 Vgl. meinen Essay zur homiletischen Produktionsästhetik: Dober, Flanerie, Sammlung, Spiel. 45 Andersen, Im Garten der Rhetorik, 31.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
Für die Predigt wird die inventio in der Regel aus dem Wechselverhältnis der Hermeneutik des Textes und der Situation hervorgehen. Welcher im Text ausgesprochene Gedanke als ein Hauptgesichtspunkt der Predigt gewählt wird, erschließt sich eben nicht nur der Arbeit am Text. Sondern es kommt auf den Antwortcharakter dieses Gedankens auf die Fragen an, die sich aus der Situation der Gemeinde oder dem speziellen Anlass ergeben, zu dem die Predigt zu halten ist. Im Auffinden des Redestoffes und der seinen Zusammenhang gewährleistenden Idee – des „Predigteinfalls“ – bewährt sich die Kreativität der Predigtarbeit. Sie ist gebunden an den Prediger, seine Kompetenz, die Schleiermacher zufolge hier vor allem auf seinem Gefühl beruht.46 Für den Prediger mit einem Auftrag zu regelmäßiger Rede wird zudem gelten können, was Blumenberg vom „Gelegenheitsdichter“ sagt. Wie dieser „auf die Gelegenheit … sehenden Auges ohne Einfall zugehen“ muss, lässt auch den Prediger „gesichertes Handwerkszeug … auf das vertrauen, was er oft schon probiert hat: Vor dem weißen Bogen mit der Feder in der Hand wird ihn der Einfall nicht im Stich lassen.“47 Eine kreative Rationalität ist hier erforderlich. Denn der in der Sphäre seines Gefühls entstehende Einfall vermag der Predigt ihre Einheit erst in dem weiteren „combinatorischen Prozess“48 der Vorbereitung zu verleihen. Während in der ersten Phase ein „freies Fantasieren“ (81) unentbehrlich ist, ein Einklammern des Bedürfnisses, das Einzelne schon in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen oder ein Aussetzen der normativen Zensuren, die manche Einfälle vielleicht gar nicht zuließen, ist in einem weiteren Schritt die Stoffgliederung (dispositio) erforderlich. Erst durch sie als ein ordnendes Bemühen wird die subjektive Einheit der Idee im Gefühl objektivierbar. Schleiermacher hat sie als Bedingung dafür ins Spiel gebracht, dass das „Gleichgewicht des objektiven und subjektiven“ gehalten werden kann. Die dispositio ist das „Grundverhältnis des mannigfaltigen zur Einheit“.49 Der Prozess der Predigtproduktion ist zwar in Arbeitsschritte unterscheidbar, doch in der „vollkommensten Production“ treten sie in eine Wechselwirkung, in der „beides zugleich“ wird: die „Fortentwicklung der Disposition“ und das Entstehen der „einzelnen Gedanken“ (250). Nicht nur inventio und dispositio sind aufeinander bezogen zu denken, sondern auch die elocutio tritt zu beiden in Korrelation. Das hat seinen Grund darin, dass Denken und Sprechen untrennbar aufeinander verweisen. Die Sprache ist der Ausdruck des Denkens, und das Denken vollzieht sich entlang von Worten, ja es bewährt sich in der Bildung von Sätzen (s. o. Abs. 2.2). Die einzelnen Gedanken treten in sprachlichen Ausdrü46 47 48 49
Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 102f. Blumenberg, Vor allem Fontane, 92. Schleiermacher, Dialektik, 79. Schleiermacher, Praktische Theologie, 221.
Die Aufgaben des Redners (officia oratoris)
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cken auf, und diese erfordern die Arbeit an der Sprachform. Erst so gewinnt ein Gedanke Prägnanz, wenn er in ein Sprachbild eingeht, in eine Metapher, in ein Gleichnis, in eine gelungene Formulierung. Prägnante Sprache ist insbesondere zu Beginn und am Ende einer Rede erforderlich. Es kommt darauf an, schon mit dem ersten Satz das Publikum aufhorchen zu lassen und für das Folgende zu interessieren (captatio benevolentiae). Und am Ende empfiehlt es sich, den Kerngedanken bzw. das zentrale Anliegen des Redners noch einmal zusammenfassend auf den Punkt zu bringen. Die elocutio betrifft nicht zuletzt den guten Stil, der dem Anlass entsprechen muss. „Man darf nicht vergessen, dass jede Art von Reden ihren besonderen Stil hat, der ihr angemessen ist.“50 Die Antike unterschied einen „einfachen oder schlichten Stil“51, der „sparsam mit Schmuckmitteln“ umgeht, aber mit „scharfsinnigem Witz“ gewürzt sein darf (87), einen „mittleren“ oder auch „geglätteten“, „eleganten“, der sich durch „maßvollen Schmuck“ auszeichnet (87) und einen „hohen“, oder „üppigen“, „großartigen“, „gewichtigen“ Stil (88), der insbesondere die Gefühle der Hörerschaft bewegen will. In jedem Fall beruht der gute Stil auf einer „korrekten, klaren, angemessenen und ausgeschmückten“ Sprache (64). Das Maß der Korrektheit bezieht sich auf die allgemeine grammatikalische Bildung (auf auctoritas und usus im Sprachgebrauch), das der Klarheit auf die Kontrolle der Sprache durch ein sie ordnendes Denken, das für „Durchsichtigkeit“ (perspicuitas) sorgt. Das Maß der Angemessenheit hat einen ethischen Aspekt („was sich gehört“ [quod decet]) und einen auf die Situation bezogenen: Es kommt auf das Passungsverhältnis der gewählten Sprache zu Ort und Zeitpunkt der Rede an, damit die Predigt als „Ausdruck einer schlichten Kunst“ wahrgenommen werden kann, die Theodor Fontane an einer der von ihm beschriebenen Pfarrergestalten gelobt hat.52 Das Nacheinander der von der antiken Rhetorik unterschiedenen Arbeitsschritte ist mit Schleiermacher als ein Ineinander zu verstehen. Erst so vermag die Rede eine „innere Einheit“ zu gewinnen.53 Die weiteren Arbeitsschritte der memoria und der pronuntatio sind auf das Halten der Rede, ihre „Aufführung“, den Zeitpunkt bezogen, zu dem die Vorbereitung an ihr Ziel kommt: auf den Kairos der rhetorischen Situation.54 Diese Arbeitsschritte bedürfen an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung – sie sind auf die für die Predigt grundlegende Frage zu beziehen, ob in ihr „Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen“ zur Mitteilung kommt oder nicht (s. o. Abs. 1.2). Im speziellen Kontext dieses Teils ist nach den Kriterien zu fragen, von denen 50 51 52 53 54
Aristoteles, Rhetorik III, 12,1, zit. nach Andersen, Im Garten der Rhetorik, 84. Andersen, Im Garten der Rhetorik, 86. E. Beutel, Fontane, 74. Vgl. weitere Gesichtspunkte zum Stil in Abs. 3.8. Schleiermacher, Praktische Theologie, 218. Vgl. Andersen, Im Garten der Rhetorik, 28ff.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
sich der Prediger im kreativen Prozess seiner Arbeit leiten lässt. Nicht jeder Einfall ist geeignet, nicht jede Gliederung überzeugend, nicht jede Sprachform angemessen („nicht alles sprachlich gut Gesagte ist auch in rhetorischem Sinn gut“ [31]). Der verantwortliche Redner muss sich fragen, was er bezwecken will, wenn er seine Rede so oder anders gestaltet. Der von ihm gewählte Zweck wird die Wahl der Mittel beeinflussen. Und die Wahl der Mittel wird die Wirkung mitbestimmen – als ganze hat der Prediger die Wirkung aber nicht in der Hand. „Nicht jede Rede wirkt auf jede Seele gleich“ (32).
3.6
Die klassischen Zweckbestimmungen der Rede und der Zweck der Predigt
Es ist eine Konsequenz des Auftrags, das Evangelium zu kommunizieren, dass Predigten bei ihren Hörern ankommen wollen. Hierzu müssen sie das Gefühl, den Willen und den Verstand ansprechen. Diese sind zwar voneinander zu unterscheiden, nur um den Preis des Verlusts des „ganzen Menschen“ aber zu trennen. Um dafür ein Beispiel zu geben, sei eine Beobachtung Henning Ritters zitiert. Ihm zufolge liebte es „die Romantik …, Verstand und Gefühl gegeneinander auszuspielen, und entzog dem Verstand, was sie dem Gefühl zusprach. Rückblickend erscheint deswegen die Aufklärung als eine Bewegung, die umgekehrt verfahren ist und die Rechte des Gefühls an den Verstand abgetreten hat. In Wirklichkeit waren Verstand und Gefühl im Denken der Aufklärung durchaus nicht so getrennt, dass sie gegeneinander ausgespielt werden konnten.“55
Sowohl Verstand und Gefühl als auch Denken und Sprechen sind gleich ursprünglich (s. o. Abs. 2.2). Und der Wille tritt zur Erkenntnis in Spannung. Die antike Rhetorik setzt die Einheit dieser drei Grundvermögen des Menschen voraus, um sie dann den Redezwecken entsprechend zu differenzieren und zu gewichten. Diese Einheit seiner Grundvermögen als Einheit des Menschen ist aber zugleich das „Urmodell der Kunst“, d. h. eine Voraussetzung zum Verständnis der Kunst in der Ästhetik. „In diesem Urmodell treten alle Richtungen des Bewusstseins in Spannung, die Erkenntnis wie der Wille. Und aus dieser Spannung schnellt … das reine Gefühl“ hervor.56 Das Spannungsverhältnis, in dem die menschlichen Grundvermögen zueinander stehen, ist eine subjektive Bedingung der Produktion wie der Rezeption auch von Predigten – hier nun ist erst einmal die Produktion thematisch.57 55 H. Ritter, Notizhefte, 284. 56 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 188. 57 Zur Rezeption s. u. Abs. 4.1.
Die klassischen Zweckbestimmungen der Rede und der Zweck der Predigt
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Wenn man nun danach fragt, wie Predigten wirksam werden können, steht erneut eine Unterscheidung aus dem ersten Teil der Grundlegung zur Diskussion: Soll das geschehen in der Weise einer Thematisierung, so dass der Logos als Vernunft die Rede leitet, um die Hörer zu vertieftem Verstehen, zur Einsicht, zur Erkenntnis zu bringen? Oder wollen Predigten mehr noch dem Logos als Wort dienen, das eine Nähe zwischen Redner und Hörerschaft stiftet, dem Wort, das die Gemeinde anspricht, um sie zu befreien, zu trösten oder in die Verantwortung zu rufen? Diese durch die Phänomenologie (vor allem mit L|vinas) neu aufgeworfenen Fragen sind früh schon in der Rhetorik thematisiert worden, die eben die Intention des Redners, zu belehren, zu erfreuen und zu motivieren unterschied. In der Predigt geht es nicht um abstrakte Darlegungen von Sachverhalten, die vor dem Forum der Vernunft standhalten können. Aber die Intention zu belehren spielt doch neben den andern beiden, zu motivieren und zu erfreuen, auch in die Predigtarbeit hinein. Vor allem geht es darum, ansprechende Worte zu finden, die aufhorchen lassen, vielleicht unter die Haut, zu Herzen gehen und zugleich den Verstand fordern. Predigten dürfen sich nicht damit zufrieden geben, einer Redegattung sui generis anzugehören und deshalb in die Irrationalität abgleiten zu können. Als gesprochenes Wort muss die Predigt mit der Vernunft kompatibel bleiben. Gerade so wollen Predigten im guten Sinne des Wortes „erbauen“, wie man mit einem aus der Mode gekommenen Terminus sagen kann, der seine Wurzeln im Pietismus hat, sich bei Schleiermacher und später auch bei Christian von Palmer findet.58 Die beiden Zwecke der Vergewisserung und der Orientierung sind im Terminus der Erbauung zusammengefasst. Jede gute Predigt, die das Christentum darstellt (um eine Formulierung Schleiermachers zu verwenden), wird Auswirkungen haben nicht nur auf die Einsicht und das Verständnis, sondern auch auf den Willen und auf das Gemüt. Diese Wirkungen wollen die Intentionen des docere, movere und delectare begünstigen. Das Religiöse an der Predigt, das belehrt, bewegt und erfreut, ist protestantischem Verständnis folgend aber das Evangelium, das als befreiendes Wort in die Lebensverhältnisse des Gesetzes hinein übersetzt sein will. Es liegt in dieser „Fundamentalunterscheidung“ (Ebeling) begründet, dass der Trost zwar zu den Hauptintentionen der Predigt gehört. Aber die Predigt des Evangeliums erschöpft sich nicht darin. Ihres Bezugs zum „Gesetz“ wegen stellt sie auch kritische Fragen und legt Unwahres offen. Sie trägt zur Klarheit des Verständnisses menschlicher Existenz bei und kann sich – bei aller Vorsicht, hierbei nicht in selbstgerechte Rede abzugleiten – zuweilen auch der Ermahnung nicht enthalten. Dieser kategorialen Bestimmtheit wegen gewinnt die Predigt ihren 58 Vgl. Dober, Christian Palmer.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
spezifischen religiösen Charakter. Sie widersteht der Gefahr, vor der Henning Ritter zufolge für die Religion überhaupt warnt: sie würde sich „auf[.]geben, wenn sie nur noch Trost spendet und so zum Behagen beiträgt.“59 Um ihrer komplexen Aufgabe gerecht zu werden, will die Predigt als religiöse Rede das Gemüt ansprechen, den Willen bewegen dadurch, dass sie ihn am Evangelium als der Idee des Guten ausrichtet, und die Erkenntnis erweitern bzw. vertiefen. Die Predigt integriert alle drei Zwecke, die die antike Rhetorik unterschieden hatte, entfaltet sie aber weder ausschließlich als Lehrvortrag, noch als Moralpredigt, noch als Festrede – es sei denn, der spezielle Anlass erforderte das.
3.6.1 Wie spricht die Predigt das Gemüt an? Die Antwort kann in einer prinzipiellen Hinsicht nur lauten: Durch Mitteilung des Evangeliums als befreiender Botschaft. Der Glaube an Gottes Güte wirkt sich wohlwollend auf das menschliche Gemüt aus. Diese prinzipielle Hinsicht fordert nun aber die praktische heraus: Welche Predigtsprache dient diesem Zweck am besten? Welche Predigtform? Und wie mache ich das – eine das Gemüt ansprechende Predigt? Nicht zu unterschätzen ist schon die Wirkung der Ordnung der Gedanken auf das Gemüt. Diese abzuschatten warnt schon Kant in seiner Anthropologie: „Das Gemüt verlangt zu aller Mitteilung der Gedanken eine gewisse Ordnung, wobei es auf die einleitenden Vorstellungen und den Anfang ebensowohl im Diskurse wie in einer Predigt sehr ankommt.“60
Zudem wird gelten können, was Imre Kert|sz sagt: „In begrifflicher Klarheit steckt immer ein wenig Trost.“61 Das Gemüt wird nicht nur von gelungenen Sprachformen, Bildern, Vergleichen, Metaphern, Beispielen als Ergebnissen der elocutio, sondern auch von begrifflicher Klarheit in der Ordnung der Gedanken als Frucht der dispositio angesprochen. Beide Schritte der Vorbereitung laufen aber auf die actio (oder die Performanz) hinaus, und d. h. auf die Weise, wie der Prediger dann tatsächlich sagt, was er sagt, und was er damit bewirkt. Ein trauriger Osterprediger wird die diesem Fest zugeordnete Freude schwer nur weitergeben können. Ein enttäuschter, mit sich und seinem Leben unzufriedener Pfarrer wird vielleicht eine Stimmung verbreiten, die der Gemeinde nicht gut tut. Und wenn er in ironischer Distanz seine Befindlichkeit zu verwinden sucht, wird 59 H. Ritter, Notizhefte, 298. 60 Kant, Anthropologie, 79. 61 Kert|sz, Ich – ein anderer, 66.
Die klassischen Zweckbestimmungen der Rede und der Zweck der Predigt
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er die Nähe zur Gemeinde nicht erreichen, zu der die Sprache der Predigt – wie Sprache überhaupt (s. o. Abs. 2.3.2) – in der Lage sein kann. Diese Nähe wird vor allem dann erfahrbar werden, wenn die Predigt das Gemüt anspricht. Im Folgenden ist dem Gebrauch von Sprachbildern, gelungenen Metaphern und stimmigen Vergleichen die Aufmerksamkeit zu widmen. Das gelungene Bild wie etwa das des guten Hirten bietet den Hörerinnen und Hörern die Möglichkeit, in es einzugehen (d.i. ein erster Punkt). Denn dieses Bild bietet der Not der Seele in ihren Ängsten und Sorgen ein Asyl, ihrer Suche auch nach dem, was dem Menschen nottut: „gute Weide, frisches Wasser“, Erquickung und Beistand auf den schweren und schwersten Wegstrecken (Psalm 23). Die angefochtene Seele kann ihren Schmerz und ihren Kummer in dieses Bild hineinlegen. Dazu wird sie in dem Maß in der Lage sein, in dem sie sich der Vertrauenswürdigkeit dieses Symbols überlässt, sie nicht zu verführen oder auszunutzen. Gelingt das, vermag sie selbst darin Geborgenheit zu finden. Denn in der Geborgenheit, die ein guter Hirte vermittelt, ist alles gut aufgehoben, was die Seele bewegen mag. Ein rechter Gebrauch des Bildes vom guten Hirten setzt aber voraus, dass der von Schleiermacher für die Frömmigkeit geltend gemachte Unterschied zwischen Verhältnissen relativer und „schlechthinniger“ Abhängigkeit stets gewahrt bleibt. Auf der Bildhälfte der Metapher waltet immer ein Verhältnis relativer Abhängigkeit auch und gerade dann, wenn man das Bild auf die soziale Sphäre bezieht: Eltern können ihren Kindern, Lehrer ihren Schülern und Pastoren können ihren Gemeinden zu „Hirten“ werden (wie es der Name schon anzeigt). Auf der Sachhälfte, wie sie das Gebet des 23. Psalms klar benennt (und das Johannesevangelium schließt hier an [10, 11. 14f]), kann es eine schlechthinnige Abhängigkeit aber nur im Verhältnis des Menschen zu Gott geben. Nur wenn Gott im Symbol mit dem Hirten identifiziert wird, vermag dieses Bild seine Trostfunktion auszuüben, ohne dass man problematische Projektionen und Substantialisierungen befürchten müsste. Als könne ein relatives Abhängigkeitsverhältnis, wenn es – wie im Fall eines kirchlichen Amtsträgers – symbolisch aufgeladen und gar im Sinne einer Repräsentanz verstanden wird, mit einem schlechthinnigen verwechselt werden. Für die seelsorgerliche Predigt ist es aber unverzichtbar, solche Bilder wie die des guten Hirten vor das innere Auge der Seelsorge-Suchenden zu malen. Dem Vergleich entlang kann die Seele Trost suchen – und finden. Denn im Licht des Unendlichen erscheint das Selbstverständliche alles andere als selbstverständlich. Deswegen sind Metaphern und Gleichnisse angemessene Sprachformen, um auf das Spiel von Selbstverständlichem und Nicht-Selbstverständlichem in der Lebenswelt einzugehen. Auf der theologischen Einsicht, dass das Unvergängliche, Unendliche, Göttliche insbesondere in der Weise
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
eines Gleichnisses in seinem Verhältnis zum Menschlichen, Endlichen, Vergänglichen ausgesagt werden kann,62 beruht der rechte Gebrauch auch des Bildes vom guten Hirten. Doch ob die angefochtene Seele dieses Bild aufnimmt und es für sich selbst im Betrachten nachzeichnet (so wie die Ästhetik der Produktion auf die der Rezeption verweist und umgekehrt), liegt nicht mehr in der Hand des Predigers und der Predigerin. Es kommt darauf an, mit dem persönlich angeeigneten oder auch anverwandelten Bild unabhängig und selbständig zu werden in der eigenen Lebensgewissheit. In diesem Sinne lässt sich eine von Walter Benjamin in der Berliner Kindheit mitgeteilte Geschichte aus China aufnehmen. Sie „… erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumbelag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlass bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt“.63
Diese kleine Geschichte aus China sagt auch etwas über die Bilder, die die Seele braucht – gegenständliche Darstellungen, an denen die Wahrnehmung sich abarbeiten kann, um auf diesem Wege Trost zu finden. Wie der Maler in dieser Geschichte, so ist auch Christus in das Bild vom guten Hirten eingegangen. Und wie der Hörer dieser Geschichte, so kann auch der Betrachter des Bildes vom guten Hirten vor seinem inneren Auge in die Geborgenheit eingehen, die dieses Bild seiner Betrachtung anbietet. Möglich ist die Ansprache des Gemütes aber (zweitens) auch in Predigten, die den Texten von Kirchenliedern entlang die Frömmigkeit vergegenwärtigen, welche den Dichter geleitet hat. Ich komme unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung von Predigten in bestimmten Formen auf die Liedpredigt zurück (s. u. Teil 4.5.6). Rhetorik und Ästhetik sind eben weder Gegensätze noch Alternativen in der Predigtarbeit. An der Frage, wie die Predigt das Gemüt anzusprechen vermag, kann gesehen werden, dass die Rhetorik ästhetische Formen integriert – Bilder, Metaphern, Gleichnisse, lyrische Formen wie die Psalmen oder Lieder – seien es solche aus dem Gesangbuch, seien es solche, die nicht ins Gesangbuch aufgenommen worden sind.64 Die neuere Rezeptionsforschung, auch die empirische Religionsforschung hat darüber hinaus die Frage aufgeworfen, ob nicht in 62 Vgl. Dober, Vermittlung – Korrelation – Dialektik – Analogie. Wie ist das „Drama des Bundes“ zu denken? 63 Benjamin, GS IV/1, 262 f. Auf eben diese Geschichte kommt auch Rosenzweig in einem Brief an Rosenstock zu sprechen (Ders., Die „Gritli“-Briefe, 13). 64 Hierfür ist das Lied „Alle Jahre wieder / kommt das Christuskind“ ein Beispiel. W. Benjamin hat ihm in seiner Berliner Kindheit ein Denkmal gesetzt. (Benjamin, GS IV/1, 283)
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verstärktem Maße auch Bilder aus Filmen dazu geeignet sind, Einstellungen, Fokussierungen der Kamera, jüngere Menschen emotional anzusprechen. Auch auf diese Frage komme ich im dritten Hauptabschnitt zurück. Drittens wird eine Predigt immer dann das Gemüt ihrer Hörer ansprechen können, wenn ihre Sprache zur Nähe führt (s. o. Abs. 2.3.2). Die Sprache kann den Angesprochenen berühren, wie Heine das an den „Goethe’ schen Liedern“ so beschrieben hat: „Das Wort umarmt dich, während der Gedanke dich küsst“.65 Dass Worte dem andern nahe kommen können, hängt aber nicht an der Gedichtform, sondern ist ein Potential des gesprochenen Wortes überhaupt. Verfehlt wird die durch Sprechen geschaffene Nähe auf eine doppelte Weise, wenn entweder die Distanz, ohne die sie nicht wäre, aufrechterhalten bliebe, oder wenn die Distanz aufgehoben würde, so dass einer dem andern zu nahe tritt, und die Worte unter die Haut gehen. Im Vergleich mit der Berührung aber bleibt die Nähe in ihrem Spannungsverhältnis zur Distanz. Nähe „verschrumpft“ dann nicht zur Identität, wie Cohen einmal gesagt hat.66 Und es kommt zu keinem „Verschmelzen“, das dem Menschen als Individuum gar nicht gemäß ist.67 L|vinas hat die Berührung mit der Liebkosung verglichen und folgendermaßen beschrieben: „Eine Liebkosung zeichnet sich in der Berührung ab, ohne dass diese Bedeutung in Erfahrung der Liebkosung umschlägt. In der Liebkosung bleibt die Nähe Nähe, ohne sich zur Intention von etwas zu machen, obwohl die Liebkosung zur Ausdrucksgeste und zum Träger von Botschaften werden kann.“68
Reden können eine Nähe zwischen Redner und Hörerschaft erzeugen. Das gilt auch für Predigten. Man kann diese Dimension vermeiden, weil sie immer heikel ist. Umgekehrt kann man es mit dem Nähebedürfnis zur eigenen Gemeinde aber auch übertreiben. Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich die nur individuell zu begünstigende Möglichkeit, dass Predigten das Gemüt ihrer Hörer ansprechen. Ob sich dann eine Nähe zu ihr einstellt, fügt sich nicht dieser Intention allein. Im Unterschied zu den anderen Aspekten, auf die nun einzugehen ist, wird die Predigt nur dann das Gemüt ansprechen können, wenn sich der Prediger auf eine kreative Rationalität einlässt, die in seinem Gefühl wurzelt.
65 66 67 68
Heine, Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 121. Cohen, Religion der Vernunft, 127. L|vinas, Die Zeit und der Andere, 61. L|vinas, Sprache und Nähe, 278f.
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3.6.2 Wie den Willen? Eine Antwort auf diese Frage verlangt ebenfalls, aus der Fundamentalunterscheidung von Evangelium und Gesetz entwickelt zu werden. Dietrich Korsch zufolge hat die protestantische Theologie ihre fundamentalen Einsichten im Bruch mit dem auf Augustin zurückgehenden Modell gefunden, dass die Abgründigkeit der Sünde durch spezielle Handlungen kompensiert und die Sündenschuld auf diese Weise abgebaut werden könnte. Demgegenüber ist nach reformatorischer Überzeugung der ganze Mensch Sünder, einschließlich seiner Handlungen. Versöhnung kann er nur in der unbedingten Gewissheit der Gnade erfahren. Dazu ist nichts anderes erfordert als der Glaube. Aus dieser fundamentalen Einsicht haben sich nun aber sowohl logische als auch praktische Schwierigkeiten ergeben, und zwar erstens aus der Polyvalenz des Terminus „Gesetz“, das Paulus und Luther zufolge zum Handeln anleitet und zugleich das eigene Ungenügen aufzeigt, zweitens aus der Dialektik von „Gesetz“ und „Evangelium“, die einen ihrerseits polyvalenten Terminus der „Gerechtigkeit“ aus sich heraus setzt: Gerecht wird der Mensch aus Gnade, an die er glauben muss, nicht aber durch seine Leistungen. Dem sog. „gesunden Menschenverstand“ ist aber dieser andere Sinn der Gerechtigkeit geläufiger, der besagt, einer „Sache“, einer Aufgabe, einer Herausforderung gerecht zu werden. Zwischen diesem und dem von Paulus und Luther entdeckten theologischen Sinn waltet eine nicht auflösbare Spannung. Drittens ergibt sich eine Schwierigkeit aus der Frage, wie es zusammenzudenken ist, dass der vor Gott gerechtfertigte Sünder wieder in seine Sündhaftigkeit zurückfallen kann. Ein Schwanken in der ethischen Substanz scheint in der protestantischen Theologie kaum vermeidbar.69 Die Predigt, die ihre Hörerinnen und Hörer im Christentum vergewissern und im Leben orientieren will, und die deswegen auch den Willen anspricht, darf sich aber nicht auf ein solches Schwanken einlassen. Wenn sie den Willen ansprechen will, wird sie sich an Jesu Antwort auf den Schriftgelehrten anlehnen, der das Doppelgebot der Liebe richtig aus den Schriften zitiert hatte: „Tu das, so wirst du leben“ (Lk 10, 28 mit Bezug auf Dtn 6,5 und Lev 19, 18). Die Predigt wird die Motivation zu neuem Lebensmut und einem gerechten Lebenswandel in ihre „Kommunikation des Evangeliums“ integrieren.70 Solche Kommunikation ist aber nicht möglich außer in kritischer Auseinandersetzung mit dem „Gesetz“ als
69 D. Korsch, Hermann Cohens Verständnis der Sünde vor dem Hintergrund der reformatorischen Tradition, 195–198. 70 Was unter einem „gerechten Lebenswandel“ zu verstehen ist, muss die Ethik bestimmen, die (wie es schon Chr. Palmer in seiner enzyklopädischen Reflexion forderte) mit praktischtheologischer Arbeit in enger Korrelation zu halten ist.
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Lebensmacht in seinen als Tora, Nomos und Jus unterschiedlichen Gestalten.71 Unter dieser Voraussetzung wird die Motivation des Willens durch die Predigt des Evangeliums nicht zuletzt in der Läuterung der tiefsten Motive menschlichen Handelns liegen. Weil diese nicht nur im Willen, sondern auch im Gefühl wurzeln, setzt dieser Vorgang die Ansprache des Gemütes schon voraus, geht aber hinsichtlich der zu treffenden Unterscheidungen darüber hinaus. Die Leitfrage ist, wie der Mensch „gute Werke“ tun kann, ohne meinen zu müssen, dass seine Seligkeit daran hängt. Läuterung heißt daher Kritik eines unzulänglichen Werk-Begriffs, der durch Entschädigung, Lohn oder Strafe, Erfolg oder Misserfolg definiert wird, und zudem mit dem Begriff der Person (theologisch) unzulässig vermengt wird, als sei (um mit Luther zu sprechen) die Person durch ihre Werke „gerechtfertigt“, als könne der Mensch definiert werden durch das, was er tut. Die Predigt muss theologisch sachgemäße Unterscheidungen voraussetzen, um zur Motivation des Willens beitragen zu können. Auch in dieser Hinsicht ist die Frage zu stellen: Wie mache ich das? Welche Predigtformen sind geeignet, um diesen Zweck zu erfüllen? Ohne argumentative Passagen wird die Predigt hier nicht auskommen. Die (dem Evangelium angemessenen) Unterscheidungen sind klar und distinkt darzustellen, um mit Blick auf die wirkliche Erfahrung plausibel werden zu können. Wie schon Martin Luther empfahl, und Dietrich Rössler ist ihm in einem homiletischen Essay gefolgt, braucht es dazu Beispiel und Erfahrung aus dem gegenwärtigen Leben, aus den Lebenswelten der Gegenwart.72 Diese sind nicht allein aus Handbüchern zu gewinnen, die für jeden Anlass das passende Exempel bieten. Mit Vorteil für die durch Beschreibung zu gewinnende Prägnanz sind hier andere Medien einzubeziehen wie die Literatur oder der Film. Wenn gilt: „Kein heiler Wille ohne die genaue bildliche Vorstellung“,73 dann ist sowohl das einzelne Bild bzw. die einzelne Einstellung, das einzelne Zitat hier von Belang (im Sinne der Prägnanz in der elocutio), als auch der Zusammenhang von Handlungen, Verstrickungen in Handlungszusammenhänge und die Herausforderung des Einzelnen, sich zu entscheiden. Die Predigtform, in der lebensnahe Beschreibungen gegeben werden können, ist die Narration. (vgl. Abs. 4.5.4)
71 Vgl. dazu: Dober, Einleitung: Das Beispiel des Films in der Predigt des Gesetzes und des Evangeliums, in: Ders., Filmpredigten II, 14–20. 72 D. Rössler, Beispiel und Erfahrung. 73 W. Benjamin, GS IV/1, 116 [Einbahnstraße].
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3.6.3 Wie den Verstand? Die schon für die Läuterung der Handlungsmotivation in der Ansprache des Willens notwendigen Unterscheidungen richten sich an den Verstand und seine Fähigkeit, auf analytischem und synthetischem Wege zu Erkenntnissen zu gelangen. Doch auch Gefühl und Verstand dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Davon ist die antike Rhetorik ausgegangen, indem sie die Bedingungen im Blick behielt, unter denen der ganze Mensch im Medium (und durch das Instrument) öffentlicher Reden angesprochen werden kann – der ganze Mensch mit seinem Vermögen zu Verstand und Vernunft. Daran kann die Homiletik anschließen. Um mit einer geläufigen Unterscheidung Kants zu sprechen, kommt es darauf an, Begriffe in Anschauungen und vice versa Anschauungen in Begriffe zu übersetzen. Die Metaphorik der Übersetzung (s. o. Abs. 2.5.2) leitet die Predigtarbeit bis in ihre produktions- und rezeptionsästhetischen Herausforderungen. Ohne sich auf sie einzulassen, wird der Anspruch des Glaubens auf Erkenntnis nicht zu erfüllen sein. Glaubenserkenntnis vollzieht sich eben nicht nur in der diskursiven Form etwa der paulinischen Briefe, sondern auch (und für das Mitteilungserfordernis relevanter noch) im Medium von Bildern, die symbolischen (oder wenigstens reflexiven) Charakter haben. Die Sprach-Bilder der Psalmen sind hier ebenso in den Blick zu nehmen wie die Gleichnisse Jesu oder die metaphorische Sprache des Johannesevangeliums. In den Begriffen finden Verstand und Vernunft ihren Ausdruck. Ohne ihre Mitarbeit bei der Deutung würden die Metaphern und Sprachbilder nicht ausreichend verständlich. Doch das auf Verständnis zielende Wort spricht auch in Bildern und Vergleichen. Ohne deren Prägnanz bliebe die Sprache strohern – das gilt auch für die des Begriffs. Wenn nun der Logos Fleisch geworden ist, und die Predigt diesem inkarnatorischen Vorgang mit ihren Worten entsprechen möchte, indem sie sich den Menschen in ihren Lebenswirklichkeiten annähert, um der befreienden Botschaft des Evangeliums den Weg zu bereiten, wird sie nicht die eine Bedeutung des Logos gegen die andere ausspielen dürfen. Dagegen spricht schon die prägnante Formulierung des christlichen Wahrheitsanspruchs im Johannesevangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32). Möglich ist die Erkenntnis der Wahrheit nur unter Einbeziehung des Verstandesvermögens. Weil der Glaube auf Erkenntnis verweist, wird die Predigt nicht darauf verzichten können, den Verstand anzusprechen. Als ein formaler Gesichtspunkt ist hier zuerst die dispositio in den Blick zu nehmen, die klare Gliederung, der nachvollziehbare Aufbau der Predigt. Denn es wird gelten können, was Wilhelm Busch einmal in die Formel gefasst hat: Es sei bei jeder Rede angenehm, dass erstens, zweitens, drittens käm. Die Hörer möchten sich orientieren, wenn sie einer Rede ihr Ohr leihen. Die Disposition
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sucht diesem Bedürfnis zu entsprechen eben durch eine ordnende Funktion, die dem Verstand in der Produktion schon zukommt und die eben dieses Vermögen auch in der Rezeption anspricht. Der Gefahr, dass es hierbei zu einem Schematismus kommen kann, der trocken und hölzern wirkt, ist Schleiermacher in seiner Theorie der religiösen Rede dadurch begegnet, dass er die dispositio im Wechselverhältnis mit der elocutio im Licht einer leitenden Predigtidee dachte.74 Schon ein antiker Kehrreim lautet: „Je größer die Anlehnung an ein Schema, desto wirkungsloser ist eine Rede in der Praxis … Tatsächlich gehen die theoretischen Analysen eines Demosthenes und Cicero fast nie auf. Je begabter ein Redner ist, desto freier geht er mit dem Schema um. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine schlecht gegliederte Rede ein Zeichen von Begabung ist.“75 Hinzu tritt der inhaltliche Aspekt, darf man doch nicht meinen, die Hörer von Predigten klammerten ihren Verstand (im Sinne des Realitätssinns) ein. Um den ganzen Menschen ansprechen zu können, muss die Minimalforderung lauten, dass die Predigt dem Verstand wenigstens keine Anfechtung bieten darf. Über die Gestaltungsfragen hinaus erstreckt sich diese Forderung auch auf das Passungsverhältnis zwischen dem allgemein zu erwartenden und dem in der Predigt vertretenen Wahrheitsanspruch. Ohne dieses im Blick zu behalten, könnte es sein, dass „Schindluderei … mit dem Wort“ getrieben und „nichts als Qualm, nichts als Gebimmel produziert“ wird, um es mit der schon zitierten Romanfigur Thalmann von Markus Werner zu sagen.76 Das hier in Frage stehende Problem lässt sich mit einer Anekdote konturieren, die Blumenberg überliefert. Ihm zufolge hat der berühmte Altphilologe Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf berichtet, dass ein liberaler Theologe einen orthodoxen fragte, mit welcher Geschwindigkeit denn Christus zum Himmel aufgefahren sei und wo eigentlich der Himmel liege. Unumwunden soll der orthodoxe gesagt haben: „Der Himmel liegt jenseits des Sirius, und Christus wird wohl mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel dorthin geflogen sein.“ Darauf antwortet lapidar der liberale: „Dann fliegt er noch.“77 Mit der Frage, wie die Predigt den Verstand ansprechen kann, steht m.a.W. die Plausibilität der christlichen Botschaft zur Disposition. Die negative Bestimmung, dass die Predigt dem Verstand keine Anfechtung bieten dürfe, bereitet aber der positiven den Weg, dass die Predigt darauf zielt, das Individuum – als Rezipient – in seiner Wahrheit zu konstituieren. Dazu ist über den Verstand hinaus auch die Vernunft in einem umfassenden Sinne anzusprechen. Und die Predigt vermag in diesem komplexen Bildungsprozess nur 74 75 76 77
Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 103. Andersen, Im Garten der Rhetorik, 52. Werner, Froschnacht, 75. Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, 181.
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einen Beitrag zu leisten. Der allerdings ist abhängig sowohl von einer gelungenen Produktion wie auch von der Rezeption. Was die Produktion betrifft (und sie ist hier thematisch), wird das Verweisverhältnis des Logos als Vernunft auf den Logos als Sprache immer im Blick zu behalten sein. Die Predigtsprache, die dem Logos in seiner doppelten Bedeutung dient, wird sich aber – wenn sie sich denn in einer öffentlichen Rede verwirklicht – an einer Rhetorik orientieren, die der Wahrheit fähig ist. Durch das Gesagte sollte das Missverständnis ausgeschlossen sein, wer den Glauben mitteilen wolle, müsse sich um die Ansprüche des Verstandes keine Gedanken machen, sei doch – um mit Paulus zu sprechen – das Evangelium vom „gekreuzigten Christus den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1 Kor 1, 24). Die fundamentalen Probleme, vor die eine theologia crucis auch und gerade in Auseinandersetzung mit der Weisheit dieser Welt (1 Kor 1, 20) stellt, können nur um den Preis der Unsachlichkeit als Vorwand dienen, die Predigt von dem Anspruch zu entlasten, auch den Verstand anzusprechen. Im Gegenteil ist nur mit den Mitteln des Verstandes die Vernunft der Religion zu erkennen und festzuhalten, die in anderer Perspektive als Torheit erscheint. Umgekehrt werden aber auch erst mit den Augen des Glaubens wie der Kritik aus den Quellen und Kräften der Vernunft selbst deren Torheiten in den Blick treten können.78 Torheit ist eine Möglichkeit auch der Vernunft, und das zumal dann, wenn sie ihre Grenzen überschreitet, m.a.W. – um mit Kant zu sprechen – ihre Ansprüche nicht auf die Reichweite der „bloßen Vernunft“ beschränkt. Mutatis mutandis gilt das freilich auch für den Glauben, der seinerseits der Vernunft und des Verstandes nicht entraten kann, um von sich selbst Rechenschaft zu geben (logon didonai ist bekanntlich ein alter Anspruch der Vernunft selbst).
3.7
Klassische Anlässe der öffentlichen Rede und die Anlässe der Predigt
Das oberste Kriterium einer guten Rede, gleich welcher Gattung, lautete schon in der antiken Rhetorik: sie müsse ihrer Situation angemessen sein. Das galt für die Anlässe, die eine vor allem motivierende oder eine vor allem belehrende oder eine vor allem erfreuende Rede erforderten, für die Rede also, die die Verantwortlichen im Gemeinwesen zum Handeln aufruft (ob Krieg zu führen sei oder nicht), oder die zur Entscheidung in einem Streitfall führt (vor Gericht meistens), oder die zur Begrüßung wie zur Verabschiedung von öffentlichen Re78 Vgl. dazu: H. Holzhey, Hermann Cohen und der Glaube an Jesus Christus, 147–161.
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präsentanten und Amtsträgern lobt (das galt ebenfalls anlässlich von Feiertagen und zu feiernden Festen). Die Forderung der Angemessenheit gilt auch für die Predigt, erfordert doch die gewöhnliche Sonntagsrede eine andere Ausrichtung und Vorbereitung als die Bestattungs-, Hochzeits-, Konfirmations- oder auch die Weihnachtspredigt. Den klassischen Anlässen sind von der antiken Rhetorik eben die Intentionen des Redners zugeordnet worden, die im vorigen Abschnitt schon thematisch waren. Diese Intentionen finden sich, wie gezeigt, auch in der Predigt wieder. Zur Gewissheit im christlichen Glauben beizutragen wird nicht ohne belehrende Elemente möglich sein, weil Gewissheit auf Erkenntnis verwiesen ist. Doch auch motivierende Elemente werden nicht fehlen dürfen, wenn es auch darum geht, zu dem Mut beizutragen, ein gutes, Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Die Gewissheit des Lebens wächst in seinem Vollzug. Schließlich wird die Intention zu erfreuen schon deshalb in der Predigt eine Rolle spielen, und vielleicht sogar die Hauptrolle zu spielen haben. Denn es ist immer ein festlicher Anlass, wenn die befreiende, erlösende und versöhnende Kraft des Evangeliums wirksam wird.
3.7.1 Die unterschiedlichen Kasus der Predigt Jede Predigt hat ihren Kasus: das wird auch für die regulären Sonntage gelten können. Denn die Predigt ist immer eine auf ihre Situation bezogene Rede. Und die kann dadurch bestimmt sein, dass ein allgemein die Menschen bewegendes Ereignis stattgefunden hat, sei es ein Tsunami, der das Mitgefühl der Menschen erregt, oder der Unfall in einem Atomkraftwerk am andern Ende der Welt, sei es der Beginn eines Krieges in der Ferne (doch die deutsche Diplomatie ist involviert und deutsche Flughäfen dienen als Drehscheiben für den Transport), sei es eine Wahl zum Bundestag, zum Landtag, oder eine Volksabstimmung über den Einspruch gegen ein Großbauprojekt wie etwa die Erweiterung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Es kann aber auch sein, dass Ereignisse im Nahbereich die Menschen bewegen – die Familie der von einem Seilbahnunglück betroffenen Kinder können in der Kirchenbank sitzen, oder es ist für den Pfarrer sichtbar eine Trauerfamilie anwesend. Ein nicht genauer definierter, nichtsdestoweniger aber sich abzeichnender Kasus ist beinahe immer dadurch gegeben, dass das übrige Leben in den Gottesdienst hinein spielt. Für den Prediger stellt sich die Frage, ob er in der Predigt darauf eingehen will oder lieber in den Gebeten. Wenn er gar nicht erkennen ließe, dass ihm bewusst ist, was die Menschen bewegt, würde ihm das – nicht zu Unrecht – als Gleichgültigkeit, Weltfremdheit oder Ignoranz ausgelegt. An welcher Stelle im Gottesdienst er die jeweils bestehenden (manchmal auch nur zu ahnenden) Anliegen einbeziehen wird, liegt aber in seinem Ermessen.
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Von den durch die – mit Ernst Lange zu sprechen – „homiletische Großwetterlage“ gegebenen Situationsfärbungen unterschieden sind aber die festgelegten Kasus. Sie haben damit zu tun, dass das kirchliche Handeln überhaupt auf regelmäßig wiederkehrende Schnittstellen im Leben des einzelnen bezogen ist. Es hat auf diese Weise teil an den Ritualen, auf die kaum jemand verzichten möchte, wenn ein Kind geboren worden ist, wenn die Kinder erwachsen werden, wenn zwei sich das Ja-Wort geben und heiraten, oder wenn ein Mensch gestorben ist und die Herausforderung nicht vermieden werden kann, Abschied zu nehmen. Kirchliches Kasualhandeln ist auf die Lebensschwellen bezogen, die einzelne aufgrund der Zeitlichkeit ihres Daseins zu begehen haben. Doch in den seltensten Fällen befinden sie sich allein auf der Schwelle, sind sie doch zumeist eingebunden in die Netze des Lebens der Familie, der Öffentlichkeit, der Arbeit. Das kirchliche Kasualhandeln betrifft die einzelnen in den Kontexten und Beziehungen ihres persönlichen Lebens.79 Einige dieser Kasus sind in aller Kürze zu charakterisieren, um die Herausforderung deutlich werden zu lassen, die sich zu diesen Anlässen für die Predigt ergibt.
3.7.2 Die Taufansprache Die Taufe ist das Fest des Anfangs80 – das ist auch für die Ansprache ein wesentlicher Gesichtspunkt. In der Regel bringen Eltern und Paten ihre kleinen Kinder zur Taufe, um sie segnen zu lassen. Der Aspekt der Segenshandlung steht hier ganz im Vordergrund. Das wird bestätigt etwa auch durch die Wahl vor allem eines Taufspruchs, der die Geborgenheit segnenden Begleitens auf dem Lebensweg mit seiner Metaphorik besonders prägnant auf den Punkt bringt: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuss nicht an einen Stein stoßest.“ (Ps 91, 11f) So häufig wird dieses Wort gewählt, dass es dem Prediger schwer fällt, noch einmal darüber zu sprechen. Es bedarf der Kunst der Überzeugung, die Eltern dazu zu ermuntern, vielleicht doch ein anderes Bibelwort in Erwägung zu ziehen. Theologisch bedeutet die Taufe gewiss mehr als dass sie eine individualisierte, durch eine Ritualhandlung vermittelte Segnung des Kindes ist. Mit der Taufe beginnt das individuelle Leben eines Christenmenschen, und d. h. auch: Klein 79 Aus der Fülle sei einige Literatur genannt: Chr. Albrecht, Kasualtheorie. V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? W. Gräb, Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Ders., Lebensgeschichtliche Sinnarbeit. Die Kasualpraxis als Indikator für die Öffentlichkeit der kirchlichen Religionskultur, in: Drehsen, V. u. a. (Hg.), Der „Ganze Mensch“, 219–240. Chr. Grethlein, Grundinformation Kasualien. 80 Vgl. Dober, Die Zeit ins Gebet nehmen, 194–201.
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wie immer das Kind sein mag, gehört es doch seither zur christlichen Gemeinde, und zwar nicht nur zur Parochie vor Ort, nicht nur zur evangelischen Kirche, sondern zur Christenheit, wird doch die Taufe interkonfessionell anerkannt. Doch es fällt auch nicht schwer, den mit der Taufe gesetzten Anfang eines Christenlebens im Rahmen einer Segenshandlung zu begreifen. Denn mit dem Anfang ist neue Zukunft eröffnet, in die hinein nicht nur die Entwürfe des eigenen Lebens entwickelt werden und das Vorlaufen des einzelnen zu seinem Tod geschieht. Vielmehr ist die durch die Taufe erschlossene Zukunft durch den Glauben als Gottvertrauen, durch die Hoffnung als Lebensmut und durch die Liebe als Offenheit, Bereitschaft, Engagement für den anderen bestimmt – durch „diese drei“, die einem der bekanntesten Paulusworte zufolge „bleiben“, auch wenn das einzelne menschliche Leben vergeht (1 Kor 13, 13). Eben diese Verknüpfung der im Taufbegehren gewünschten Segenshandlung mit einer Theologie des christlichen Lebens ist Aufgabe der Taufansprache. Das aber ist alles andere als einfach. Denn „Selbstdeutung und Fremddeutung der Religion [stimmen heute meistens] nicht überein“.81 Anhand einer exemplarischen Beschreibung eines Taufgottesdienstes hat Dietrich Korsch deutlich gemacht, dass diese „Grunddifferenz“ zu den „Grundzügen des gegenwärtigen Bewusstseins“ gehört (ebd.). Korsch resümiert: „In den Erlebniskategorien der Familie steht der religiöse Akt in einer nur schwer unterscheidbaren Menge anderer zur Selbstfindung angebotener Auslegungsformen. Die Gottesdienstgemeinde empfindet diese Irritation; auch deshalb, weil sie ihr selbst nicht fremd ist. Der Pfarrer agiert auftragsgemäß, aber weiß nicht, ob er, im Gefolge seiner theologischen Logik, den Überschuss des Evangeliums zur Geltung bringen kann – oder ob seine Bemühungen in dem Bewusstsein untergehen, dass hier doch nur eine Inszenierung wie auch anderwärts vorgenommen wird. Der religionstheoretische Beobachter, der der Pfarrer ja auch zugleich ist, kann zwar einigermaßen beschreiben, welche Interferenzen zu spüren sind; aber auch und erst recht dieser Beobachterperspektive fehlt eine Sprache, die die Gegensätze wieder zusammenbringen könnte; Dogmatik und Religionstheorie haben sich voneinander geschieden, und das nicht nur aus subjektivem Unvermögen der Theologen“ (56).
Sich dies klar gemacht zu haben, ist als eine Hilfe bei der Gestaltung von Taufansprachen anzusehen, und das zumal dann, wenn mit Korsch die „Lebensgeschichte als Deutungszusammenhang“ (56–61) entdeckt und darauf in der Taufansprache prägnant Bezug genommen wird. Die Kunst hierbei besteht darin, in Kürze anhand eines bestimmten Aspekts, einer Metapher, eines Gedankens, wie der Taufspruch es vorgibt, die Verheißung des christlichen Glaubens aufscheinen zu lassen, in den das kleine Kind erst nach und nach hinein wachsen wird. Beliebte Metaphern sind der Weg, der Gott anbefohlen wird, (Ps 81 Korsch, Religion mit Stil, 49–51, 50.
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32, 8; Ps 37, 5; Ps 86, 11), die schützende, bergende, stützende Hand Gottes (Ps 139, 5; Jes 41, 10), das Licht, in dem die Orientierung des Lebens zu finden ist (Ps 27, 1; Ps 36, 10), beliebte Inhalte der Verheißung die Furchtlosigkeit (Jes 41, 10; Jes 43, 1; Ps 27, 1), die Innerlichkeit des Herzens, auf die es im Glauben ankommt (1 Sam 16, 7), der Bund mit Gott (Jes 54, 10), die Nähe Gottes (Ps 145, 18), seine Güte (Ps 36, 6). Diesen alttestamentlichen Worten lassen sich ohne Schwierigkeit neutestamentliche zur Seite stellen. Prägnanter sind hier die Metaphern der Gotteskindschaft (Röm 8, 14; 1 Joh 3, 1) und die Zusage des göttlichen Geistes zur Sprache gebracht. Die Beispiele mögen genügen. Phänomenologisch ist mit dem „Fest des Anfangs“ die Erfahrung der Lebenszeit schon impliziert. Wie Rosenstock treffend beobachtet hat, verändert sie sich mit dem Lebensalter. „Kinder haben endlos Zeit. Dieser Glaube an die Endlosigkeit der Zeit ist biologisch die Mitgift der Jugend.“82 Im Konfirmandenalter zeigen sich dann schon erste Erschütterungen dieses Kinderglaubens: „Der jugendliche Glaube ist … das bloße Noch-nicht-an-das-LebensendeDenken … sozusagen ein noch ungeprüfter, natürlicher Vorschuss auf den echten, todesüberspringenden Glauben“ (ebd.). Für die Erwachsenen besteht eine Herausforderung darin, einerseits Bilder von der Zukunft ihrer Kinder zu entwerfen, um sie in ihr selbstgestaltetes Leben zu begleiten, andererseits aber auch darin, diesen Bildern zu entsagen. Denn ohne solche Entsagung würden sie den Kindern eine zu starke Hypothek der eigenen Vorstellungen mitgeben, die es ihnen erschwert, den Weg in ihr eigenes Leben zu finden und zu gehen. Auf dem Hintergrund dieser Spannung gewinnt der Glaube der Eltern die Bedeutung, den eigenen Tod unerschüttert hinzunehmen und zu einer „Zukunft ohne mein Selbst“ Ja zu sagen.83
3.7.3 Die Konfirmationspredigt Wie der Name es nahe legt, ist die Konfirmation das Fest des bestätigten Anfangs. Während die (weithin übliche) Kindertaufe aber den Anfang im vorbewussten Leben des Menschen gesetzt sein lässt, wird das bestätigende Ja der Konfirmandinnen und Konfirmanden in vollem Bewusstsein gesprochen. So wird im Nachhinein der Symbolgehalt der Taufe ganz einsehbar : Von Gott angenommen zu sein als ein individueller und unverwechselbarer Mensch, der mit seinem Namen benannt ist, als sein „Kind“, ist nach (lutherisch) evangelischem 82 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 133. 83 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 147. Diese Deutung hat Bestand sowohl im christlichjüdischen Gesprächskontext als auch im Horizont der phänomenologischen Arbeit, die L|vinas vollzog. Vgl. auch die Auslegung bei Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 336f u. ö.
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Verständnis nicht auf eine Entscheidung zurückzuführen, zu der sich das alles mögliche Für und Wider abwägende Subjekt durchgerungen hat. Vielmehr ist diese mit der Taufe gegebene Zusage eine Gabe, die allen weiteren Lebensentscheidungen voraus liegt. Auf der Schwelle zum Erwachsenenalter, auf der sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden befinden, ist aber nun im Nachhinein mit Bewusstsein zu verstehen und zu bestätigen, was vor der Reifung des Bewusstseins aufgrund einer Fremdentscheidung – der Eltern und Paten – in der Symbolhandlung der Taufe (performativ) zugesagt worden ist. Die Konfirmation setzt einen längeren Weg des Unterrichts voraus, auf dem eben diese Prüfung des Bewusstseins Schritt für Schritt (dem Katechismus entlang) hat vollzogen werden können. Wie ernst es hierbei den einzelnen gewesen ist, liegt in deren eigener Verantwortung – der Unterricht hat hierzu nur Wegbereitung sein können. Diese Wegbereitung so interessant, jugendgerecht, geistesgegenwärtig und freundlich wie möglich zu gestalten, liegt aber in der Verantwortung des Konfirmators. Nach wie vor wird gelten können: „Die Erfahrungen, die Jugendliche mit der Kirche machen, werden am nachhaltigsten durch den kirchlichen Unterricht und die Person des Pfarrers [und der Pfarrerin] geprägt.“84 In der Auseinandersetzung mit einer von der Kirche bestallten erwachsenen Person liegen große Chancen, jungen Menschen auf dem Weg zum Erwachsenenalter behilflich zu sein. Diesen Weg als Konfirmator zu gehen, kann aber auch subjektiv anstrengend sein (so anstrengend, wie es für Mütter und Väter ist, die Kinder durch die Zeit der Adoleszenz zu begleiten). Es scheint mir heute darauf anzukommen, bei allem Bemühen, diesem Lebensalter zu entsprechen und nach Möglichkeit die unterschiedlichen Milieus zu integrieren, die sich in einer Konfirmandengruppe versammeln können, doch den Charakter des Unterrichts nicht zu verdrängen. Spiel und Spaß, Ausflüge und Freizeiten, gemeinsame Erlebnisse beim Kochen und Basteln, beim ersten Abendmahl gehören heute unverzichtbar in die Konfirmandenzeit hinein. Man muss aber aufpassen, dass das Gespräch, der offene Austausch über Fragen des Glaubens dabei nicht zu kurz kommen. Vor allem werden sich immer wieder Situationen ergeben, in denen die persönliche Meinung des Konfirmators, sein theologisches Urteilsvermögen gefragt ist. In der Konfirmationspredigt ist es möglich, auf diesen gemeinsamen Weg aufzubauen, den der Prediger oder die Predigerin mit den jungen Leuten gegangen ist. Um ein Schwellenritual handelt es sich hierbei in ausgezeichneter Weise insofern, als dieser Blick zurück mit dem Blick nach vorn zu verknüpfen ist eben in der erfüllten Gegenwart des Gottesdienstes, in dem die Predigt ihre Hauptfunktion gewinnt, auf die Einsegnung vorzubereiten. In der Regel werden die Konfirmanden heute an der Gestaltung dieses Gottesdienstes beteiligt sein, 84 TRE 17, 414 mit Bezug auf A. Feige.
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sei es, dass sie in traditioneller Weise (gut vorbereitet) auf Fragen antworten, die der Katechismus stellt, sei es darüber hinaus durch musikalische oder andere darstellerische Beiträge. Die Predigt wird die Herausforderung des Erwachsenwerdens überhaupt (wie auch immer diese dann prägnant präzisiert wird) in den Horizont eines glaubenden Vertrauens rücken, um auf diese Weise – in alter Terminologie gesprochen – das Evangelium auf das Gesetz (in der ihm eigenen Polyvalenz) beziehen. Auch die Konfirmation ist eine Segenshandlung, bei der allerdings – im Unterschied zur Kindertaufe – die Gesegneten in stärkerem Maße auf ihren Willen, ihren Verstand und ihr Gemüt angesprochen werden. Auf dem Hintergrund dieser Aufgabenbestimmung ist dann nach möglichst passgenauen Texten zu suchen, die offen sind für eine Auslegung, die dem Anlass zu entsprechen vermag. Möglich ist etwa auch hier die Aufnahme der Wegmetapher. Sie kann im Ausgang von Ps 31, 9b („Du stellst meine Füße auf weiten Raum“) entfaltet und unter dem Titel der „Fußspuren“ konkretisiert werden. Oder es wird mit Bezug auf Ps 86, 11 („Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte“) die Bitte des Liedes entfaltet „Ich möcht’, dass einer mit mir geht“. Oder die ethische Herausforderung, das gute Leben zu suchen und zu finden, wird anhand von Micha 6, 8 ausgeführt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Andere mögliche Texte sind: Lk 9, 62 („Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“), 1 Kor 13, 12a („Wir sehen jetzt nur wie durch einen Spiegel in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht“), Gal 5, 13 („Gott hat euch zur Freiheit berufen, meine Brüder und Schwestern! Aber missbraucht eure Freiheit nicht als Freibrief zur Befriedigung eurer selbstsüchtigen Wünsche, sondern dient einander in Liebe“). Die Reihe ließe sich fortsetzen.85
3.7.4 Die Traupredigt Es ist heute alles andere als selbstverständlich, dass zwei sich trauen, sich öffentlich das Ja-Wort in einen Horizont der Zukunft hinein zu geben, den keiner überschauen kann, und das als Antwort auf die Frage, ob dieses Ja-Wort gelten soll „bis dass der Tod euch scheidet“. Man kann die Formel drehen und wenden, wie man will: Auch wenn man unter dem Tod den Tod der Beziehung versteht, wird die Formel doch meistens im Sinne des natürlichen Todes rezipiert.86 Es 85 Vgl. Dober, Jugendpredigt. 86 Vgl. Jüngel, Tod, 25ff [zum biologischen Tod], 113f [der in die „Verhältnislosigkeit“ treibende Tod als „Fluch der bösen Tat“].
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gehört also Mut dazu, sich zur Trauung zu entschließen und damit ein öffentliches Bekenntnis im Privaten zu vollziehen. Außer in den kirchlichen Amtshandlungen kommen derartige Zumutungen nur bei solchen Menschen vor, die ein öffentliches Amt antreten und sich aus diesem Anlass vor den Augen und Ohren der Welt verpflichten. Die Ehe beruht auf der Macht und Kraft von Worten. Sprache schafft hier eine neue Realität, die vorher noch nicht war. Rosenstock zufolge sind an dem JaWort, das die Ehepartner einander geben, die „Hauptleistungen der Sprache“ exemplarisch zu erkennen: „Sie versetzt ihre Sprecher in eine epochemachende, neue Lage und erzwingt von allen, vor denen das vollmächtige Wort gesprochen wird, die Anerkennung dieser neuen Lage“.87 Die durch derartige Sprechakte konstituierte Realität wird als ein „gemeinsamer Zeitkörper“ (130) erfahren. „Die Gemeinschaft der Ehe“ – wie auch die der Kirche oder der Freundschaft – kommt „nur unter der Bedingung zustande, dass man ihr Ende nicht von vornherein ins Auge fasst“ (132). Dem Glauben und der Hoffnung solcher Gemeinschaft konstituierenden Sprechakte entsprechend endet die gemeinsame Zeit eben erst, „bis dass der Tod euch scheidet“. Bis dahin bedarf es der „geglaubten Zeit“, um – wie es bei Thomas Mann einmal so schön heißt – jeden Tag erneut miteinander im Gespräch zu sein. Die auf Worten beruhende Ehe kann aufgrund ihrer sprachlich konstituierten Eigenart als eine Institution verstanden werden, die dem von Hans Blumenberg in der allgemeinen Gesellschaft beobachteten „Phänomen … nachlassender Sprachfähigkeit und sogar Sprachunlust“ Widerstand entgegenzusetzen vermöchte.88 Denn als Lebensform verlangt sie die Kultivierung einer „Sprachkunst“, auf die der „nackte Lebensdienst“ auch verzichten könnte. (144) Doch eben die institutionelle Bedeutung der Ehe einschließlich der mit ihr verknüpften rechtlichen Aspekte scheint immer mehr aus dem Bewusstsein zu schwinden. Unter den moderngesellschaftlichen Plausibilitäten der Gegenwart gilt weitgehend die Freiheit der Gestaltung der persönlichen Verhältnisse, in die man sich weder vom Staat noch von der Kirche hineinreden lassen will. Auch im Bereich des Rechts haben die Bestimmungen, die die Ehe zwischen Mann und Frau regeln, eine Relativierung erfahren. Die Ehe ist nicht mehr selbstverständlich die bevorzugte gemeinsame Lebensform. Die Problematisierung des Verhältnisses von Ehe und Liebe ist aber so alt wie die Moderne: Goethe hat dieses Verhältnis in den Wahlverwandtschaften thematisiert, und schon der Romantiker Friedrich Schlegel nahm sich die Freiheit
87 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 44. 88 Blumenberg, Vor allem Fontane, 141 in einer Glosse über einen Brief Theodors an Emile Fontane vom 6. August 1875.
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heraus, mit Dorothea Veith in außerehelicher Gemeinschaft zu leben.89 In Kants sittlicher und moralischer Bestimmung der Ehe – Benjamin zufolge „sachlich vollendet und im Bewusstsein ihrer Ahnungslosigkeit erhaben“90 – stellt sich das Problem noch gar nicht in seiner Brisanz. Der schrieb: „die Ehe … ist Wahrheit“ und deshalb die Lösung des Problems, das durch ein allzu ungebundenes Spiel der Einbildungskraft entsteht – sich ihrer dichterischen Phantasie zu überlassen und dabei die Wirklichkeit zu verfehlen.91 Dass Wahrheit in der Ehe liegt, ist theologisch nicht zu bestreiten. Ob aber die durch die „dichtende Einbildungskraft“ hervorgehenden Versuchungen damit schon als überwunden gelten können, dass man die Ehe eingeht, eine andere Frage. Es wird unter die Vorgänge abnehmender kirchlicher Kontrolle zu rechnen sein, dass in den gesellschaftlichen Diskursen der Gegenwart nicht nur die romantische Haltung weiter fortlebt, sich auf sein Gefühl in stärkerem Maße zu verlassen als auf die gesellschaftlichen Konventionen, sondern dass die traditionelle Bestimmung der Ehe als Institution überhaupt in Frage gestellt wird. Diesen Entwicklungen zum Trotz gehört die kirchliche Trauung immer noch zum Profil der im Pfarramt regelmäßig vorkommenden Kasualien, wenngleich mit abnehmender Häufigkeit. Die gesellschaftliche Tendenz ist eindeutig, doch es gibt auch Gegentendenzen einer neuen Suche nach tragfähigen Lebensformen, nach verlässlichen Strukturen des privaten Lebens als Gegengewicht gegen gestiegene Mobilitätsanforderungen im beruflichen. So unerreichbar es manchen Zeitgenossen auch scheinen mag, sich zur Ehe zu entscheiden, so wenig hat diese Lebensform doch auch an Faszination eingebüßt. Es ist nicht nur die Verlässlichkeit und Sicherheit eines „Hafens“, die ihre Attraktivität ausmacht, sondern auch das in der Sphäre objektiver Sittlichkeit gegebene Pendant zu dem Wunsch, mit einem geliebten Menschen durchs Leben zu gehen, Kinder zu haben und schließlich gemeinsam alt zu werden. Dem die berufliche Mobilität spiegelnden Konzept von „Lebensabschnittspartnerschaften“ steht mit der Ehe ein alternatives Konzept der Stetigkeit und Verlässlichkeit gegenüber. Ein Grundproblem des Lebens, wie das Diskontinuierliche auf Kontinuität bezogen werden kann, ist in dieser Gegenüberstellung zwar präsent, nicht aber schon gelöst. Wer sich heute anschickt, eine Traupredigt zu halten, wird sich diese ambivalenten Plausibilitätsbedingungen im Hintergrund dieses Kasus bewusst halten. Sie müssen nicht ausdrücklich thematisiert werden. Wer aber so tut, als gäbe es sie nicht, wird das Ohr der versammelten Hochzeitsgemeinde kaum ohne 89 Vgl. W. Benjamins Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften (Ders., GS I/1, 123–201) und meine Interpretation (Dober, Die Moderne wahrnehmen, 279–303). C. Stern, „Ich möchte mir Flügel wünschen“. 90 Benjamin, GS I/1, 129. 91 Kant, Anthropologie, 84.
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weiteres erreichen. Doch diese Bedingungen sind nur Hintergrund, nicht eigentliches Thema der Trauung. Das ist zu entfalten zwischen der Verheißung des Evangeliums, nun auf die Gemeinsamkeit von Mann und Frau hin ausgelegt, und dem Gesetz des tatsächlichen Lebens, zu dem außer dem Gebot „Was Gott zusammen gefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“ eben auch die manchmal komplexen bis komplizierten Verhältnisse des wirklichen Lebens gehören. Auch die Frage, wie sich das Begehren in der Liebe zu den Gewohnheiten in der Ehe verhalte, kann durchaus zum Kolorit des wirklichen Lebens gehören, das zu beschreiben in der Predigt angemessen sein kann. Dass „die gute Ehe ein ew’ger Brautstand sei“ (Karl Theodor Körner92), ist als Einsicht aus Erfahrung bzw. aus der Wahrnehmung der Phänomene ohne weiteres mit der Einsicht Franz Rosenzweigs zu kombinieren, dass der Christ ein „ewiger Anfänger“ sei.93 Neu anfangen zu können – dazu vermag der Glaube an Gottes Güte „all Morgen frisch und neu“ in Stand zu setzen. Die Kehrseite dessen, dass die Liebe Gottes „in immer frischem Trieb durch die Welt“ wandelt94, ist allerdings die Gewohnheit. Honor| de Balzac hat sie „ein Ungeheuer“ genannt, das die Ehe zu bekämpfen habe, da es „alles verschlingen will, was an ihr erhaben ist“.95 Bei allen Gefahren, die die Gewohnheit mit sich bringt, wird man ihr allerdings auch zugute halten dürfen, dass ohne sie der Alltag, auch der Alltag einer Ehe, einer Familie gar, kaum würde zu bewältigen sein.96
3.7.5 Die Bestattungsrede Ohne Zweifel stellt die Bestattungsansprache vor besondere Herausforderungen. In der Regel ist ein Gespräch mit den nächsten Angehörigen vorhergegangen. Die Prediger weiß also um das Leben der Verstorbenen, gesprochen wurde über den Ablauf der Aussegnung, die Wahl der Lieder, die musikalische Gestaltung. Noch ist es nicht unüblich, dem Pfarrer den Konfirmations- oder Hochzeitsspruch zu geben. Doch häufiger schon überlässt man die Wahl des biblischen Textes dem kirchlichen Trauer-Redner. Ihm obliegt es nun, die biographischen Daten – oft sind es nur Stichworte – mit dem biblischen Text derart zu versprechen, dass einerseits das gelebte Leben in der ihm eigenen Charakteristik aufscheinen kann, andererseits die sich hier ergebenden Fragen auf den Verheißungsgehalt des biblischen Textes verweisen können. Für das Gelingen der Beerdigungsansprache hängt vieles davon ab, ob der Redner bzw. die Rednerin 92 93 94 95 96
Nikel, Schön, dass ihr euch traut, 12. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 399. Rosenzweig, zit. nach K. Marti, Die gesellige Gottheit, 87. Nikel, Schön, dass ihr euch traut, 32. Vgl. weiter : H. Ziebritzki (Hg.), Traugottesdienste gestalten.
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sich im Gespräch schon ein zureichend scharfes Bild vom Leben des Verstorbenen wie auch von der Situation hat machen können, in der die Hinterbliebenen sich befinden. Insgesamt wird die Rede nicht dem Verstorbenen gehalten, sondern den Hinterbliebenen. Wenn zuweilen in Nachrufen am Grabe der Name des Verstorbenen direkt angesprochen wird, so kann hierbei ein trügerischer Eindruck entstehen. Alles, was in der Aussegnungshalle zu sagen ist, wird an den seelsorgerlichen Zwecken der Situation zu bemessen sein. Die Rede steht hier in besonderer Weise mit dem Anlass in Zusammenhang, insofern ihr erster Zweck sein muss, sicher über die Schwelle des Abschiednehmens zu geleiten. Eben diese Funktion haben die feste Form, der bekannte Ablauf, das Wissen um die Abfolge der einzelnen Schritte. Die Predigt nimmt in dem Gesamtzusammenhang des Rituals eine zentrale Rolle ein. Die eröffnenden Worte benennen den Anlass klar und deutlich – schon dieses Benennen vermag das Schreckliche ein Stück weit zu bannen. Das Psalmgebet und das erste Lied haben die Funktion, das einzelne Ereignis als ein allgemein-menschliches wahrzunehmen: die Sprache der Tradition stellt die Betroffenen in einen größeren Kontext als den der eigenen Seelennot und des eigenen Familienkreises. Schließlich macht die Predigt das Ende eines individuellen Lebens öffentlich und sucht darüber hinaus Orientierung zu geben.97 Warum empfiehlt sich die Nennung einiger biographischer Daten? Was spricht dafür, auf das gelebte Leben der Verstorbenen einzugehen? Die erste und wichtigste Antwort wird sein: Weil der Tod ein Skandal ist, ein Ereignis, das die Betroffenen immer überfordert (wie allgemein-menschlich er auch ist), ist das gelebte Leben als ein Gegengewicht gegen die Last des Endes in die Waagschale zu werfen. Intensiv gelebtes Leben hat dem Tod bis zu seinem Ende widerstanden. Die Maxime carpe diem vermochte über viele Jahrzehnte hinweg das Wissen um den später einmal kommenden Tod abzuschatten. Wer seine Lebenszeit entworfen und in seine eigene Zukunft vorgelaufen ist, wer seine Pläne gemacht und sie in die Tat umgesetzt hat, dem schlug lange Zeit keine Stunde. Wer es vermochte, Freude in seinem Leben zu finden und anderen Freude zu machen, hat in vielen Augenblicken erfüllter Gegenwart der Herrschaft der Zeit schon zu Lebzeiten widerstanden. Und wer die religiösen Tugenden der Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Gerechtigkeit und Zufriedenheit eingeübt hat, vermochte auch das Sperrige in der eigenen Erfahrung, die Widerfahrnisse, die bewältigt werden mussten, in den eigenen Sinnhorizont zu integrieren.98 „Der 97 Vgl. D. Rössler, Die Vernunft der Religion, 31–36. 98 Vgl. Zur Phänomenologie der Herrschaft der Zeit: Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 38–54. In meiner Filmpredigt zu Das Beste kommt zum Schluss (USA 2007; Regie: Rob Reiner) bin ich näher darauf eingegangen (Dober, Film-Predigten, 127–135).
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Tod hört auf, das factum brutum zu sein, wenn er noch Ausdruck des Lebens sein konnte: zu diesem einen Leben gehörte – wahrnehmbar gehörte.“99 Die Wahrheit dieses Satzes lässt sich nicht nur anhand von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg belegen, sondern (gewiss nicht immer, aber immer wieder) auch in den Kasualgesprächen, die ein Pfarrer über die Jahre zu führen hat. Die Erinnerung an das individuelle Leben, das nun sein Ende gefunden hat, stellt nach der Bannung der unausweichlichen Realität („heute müssen Sie Abschied nehmen“) einen zweiten, an Relevanz den ersten übertreffenden Widerstand gegen den Tod dar. Damit das Gedenken an den Verstorbenen gesegnet sein kann – so lautet die Bitte in der jüdischen Tradition („Sichrono livracha“) –, ist das zwar noch keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Bedingung. Die anderen Bedingungen liegen im Ethischen ebenso wie im Religiösen. Wer heute in aufgeklärten volkskirchlichen Milieus die Frage stellt: „Was bleibt?“ wird zumeist zur Antwort bekommen: Die Erinnerung. Es findet hierin eine Einsicht Kants Bestätigung, der sagte: „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen wird.“100 Viele sind sich dessen bewusst und lassen sich auch darauf ansprechen, dass eben dies Bleibende in der Verantwortung der Hinterbliebenen liegt. Die Verstorbenen haben das ihnen eigene Bedürfnis, nicht vergessen zu werden – nach allem Bemühen zu ihren Lebzeiten, sich einen Namen zu machen – ganz in die Hände der anderen legen müssen. Ihnen mussten sie sich anvertrauen wie Tiziano Terzani die Erzählung seines Lebens dem Sohn Folco in dem Film Das Ende ist mein Anfang.101 Doch wie schwierig ein wahrhaftiges und zugleich barmherziges Erinnern sein kann, ist schon durch die beiden Kautelen für öffentliche Reden über Verstorbene angedeutet: de mortuis nil nisi bene und de mortuis nil nisi vere. Niemand sollte im Nachhinein sein Mütchen an denen kühlen wollen, die nun nicht mehr da sind; denn sie können nicht mehr antworten, sie können selbst nichts mehr gerade rücken, sie können sich nicht mehr verteidigen. Niemand sollte aber auch im Nachhinein das Negative verklären, die Schwierigkeiten leugnen und das Sperrige runden wollen. Wer den Verstorbenen gekannt hat und eine derart harmonisierende Rede hört, wird dem Redner kein weiteres Wort glauben können.102
99 Blumenberg, Vor allem Fontane, 67. 100 Das Zitat vermag ich leider nicht nachzuweisen. 101 D 2010; Regie: Jo Baier (Vorlage: T. Terzani, Das Ende ist mein Anfang). Vgl. dazu meine Filmpredigt in: Dober, Filmpredigten II, 123–131. 102 Wenn man den Tod des anderen nach den zivilisierten psychischen Bedürfnissen betrachtet, wird allerdings Freud Recht zu geben sein: „Die Rücksicht auf den Toten, deren er doch nicht mehr bedarf, steht uns über der Wahrheit, den meisten von uns gewiß auch über
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Damit das Gedenken gesegnet sein kann, wird es sich als hilfreich erweisen, auch die eigene Erinnerungsarbeit entlang den Gedächtnisspuren in die Dimension der Religion zu stellen. Das entlastet nicht von dem ethischen Anspruch, dass das Gedenken in der Verantwortung der Hinterbliebenen liegt. Der bleibt bestehen. Aber es setzt das ethische Subjekt allererst in Stand, diesem Anspruch gerecht werden zu können, wenn die willkürliche Erinnerung mit der unwillkürlichen in Korrelation tritt, wenn die Spuren des Gedächtnisses ins Unbewusste weisen, wenn es schwer wird, die Negativität in diesem gelebten Leben anzuerkennen und mit ihr einen versöhnenden Umgang zu pflegen – betroffen ist sowohl die erfahrene Negativität im Sinne von Widerfahrnissen, als auch die in Gestalt der Entscheidungen und Handlungen zurechenbare Negativität. Die Frage „was bleibt?“ treibt somit über die erste Antwort hinaus, dies Bleibende sei die Erinnerung. Im Sinn des Pauluswortes aus 1 Kor 13 bleiben „Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei“, weil sie die praktische Orientierung auch noch für ein gesegnetes Gedenken zu geben vermögen. Insgesamt wird sich an ausgewählten Texten aus der religiösen Tradition die Bedeutung und Funktion der Religion für das Gedenken prägnant präzisieren lassen. Einschlägig ist etwa die Strophe aus dem Lied zum Jahreswechsel von Jochen Klepper : „Der du allein der Ewge heißt / und Anfang, Ziel und Mitte weißt / im Fluge unserer Zeiten: / bleib du uns gnädig zugewandt / und führe uns an deiner Hand, / damit wir sicher schreiten.“103
Oder die andere Strophe aus dem bekannten Passionslied Paul Gerhards: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür ; / wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein.“104
Eben diesen rhetorischen Zweck hat auch das Zitat eines Bibelwortes, sei es des Konfirmations-, sei es des Hochzeitsspruches der Verstorbenen, sei es eines Wortes, das der Predigerin nach dem Gespräch mit den Hinterbliebenen eingefallen ist, dass die Dimension der Religion sich öffnen kann von einem in der Tradition verwurzelten Punkt aus, im Ausgang von einer Autorität, für die dieser alte biblische Text steht. Wie der Prediger nun die Verknüpfung von Biographie und Bibelwort ins Werk setzt, ist seine Sache, seine kreative Leistung, seine theologische und ethische Verantwortung – denn verantwortlich ist er eben nicht nur dem biblischen Text gegenüber, sondern auch denen, in deren Ander Rücksicht für den Lebenden“ (Ders., StA IX, 50 [Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)]). 103 Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 64, 6. 104 A.a.O., Nr. 85, 9.
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gesicht er das Wort ergreift in einer Situation, in der die wenigsten von sich aus den Mund auftun wollen. Denn der Tod „ist der Fall, in dem wir über etwas nicht schweigen können, obwohl wir darüber nicht zu sprechen imstande sind.“105 In literarische Sprache gebracht hat Markus Werner dieses Paradox seinem Protagonisten Thalmann in den Mund gelegt: „Ich stand an manchem Sterbebett. Als Pfarrer. Und immer überfordert, hilflos, schuldbewusst. Es war nicht Teilnahmslosigkeit, im Gegenteil, ich spürte einfach meine Ohnmacht, ich spürte, dass für den Todgeweihten der Trost, nach dem er sich sehnt, erbärmlich klingt …“106
Um in der pastoralen Aufgabe, reden zu müssen, wenn andere eher schweigen wollen, zu bestehen, und das in einer Regelmäßigkeit, die je nach Gemeindegröße 20–30 Bestattungen im Jahr dem Prediger abverlangen, bedarf es nicht nur eines umfassenden Wissens über die Situation der Trauer und ihre Herausforderungen. Sondern der Leichenredner wird auch einen festen Stand in den Fragen gewonnen haben müssen, die das Leben im Angesicht des Todes, die Hoffnung über den Tod hinaus, und das Bleibende betreffen, das dieser „größten Negativität“ (Hegel) zu widerstehen vermag. Ohne in diesen Fragen eigene feste Überzeugungen ausgebildet zu haben, und ohne die Bereitschaft, diese stets an den Realitäten sich bewähren (auch prüfen) zu lassen, wird diese Tätigkeit auf Dauer kaum ausgeübt werden können. In dieser verantwortlichen Tätigkeit entlastend kann allerdings das Bewusstsein davon wirken, dass ein Prediger nur Spuren zu einem Trost zu legen vermag, die in den Zeichen seiner Rede wahrzunehmen und denen dann selbst zu folgen den Trauernden überlassen werden muss.107
3.8
Wie kann die Predigt unterschiedlichen Milieus in der Kirche gerecht werden?
Nicht nur der Kasus, auch der sonntägliche Gottesdienst ist heute meist durch eine Vielfalt von Milieus bestimmt. Daraus ergeben sich spezifische GestaltungsHerausforderungen, die erst einmal eine zureichende Wahrnehmung der milieuspezifischen Ausdifferenzierung voraussetzen. Die auf empirischem Wege ermittelten idealtypischen Milieus sind für den Prediger, der sich Gedanken 105 Blumenberg, Vor allem Fontane, 21. 106 Werner, Froschnacht, 135. 107 Weiterführende Literatur : Dober, Art. Tod. H. Luther, Tod und Praxis. Die Toten als Herausforderung kirchlichen Handelns. M. Josuttis, Der Pfarrer und der Tod, in: Ders., Der Pfarrer ist anders, 107–127. E. Jüngel, Tod. P. Noll, Diktate über Sterben und Tod. U. Roth, Die Beerdigungsansprache. Y. Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
über die Situation macht, in die hinein er wird zu predigen haben, Hypothesen über das Denken, die Erfahrung und die Gewohnheiten anderer (s. o. Abs. 2.5). Den anderen als einem bestimmten Milieu zugehörig wahrzunehmen, heißt: eine Hypothese über seine typischen Prägungen und Vorlieben aufzustellen. So tragen wir der Andersheit des anderen Rechnung, doch der kann sich noch einmal anders darstellen, wenn er antwortet. Ihn zu achten heißt deshalb, diese Hypothesen variabel zu halten.
3.8.1 Die neueren Milieu-Studien und ihre Bedeutung für kirchliches Handeln Für eine Skizze der Forschungsergebnisse aus der neueren Milieutheorie folge ich einem Beitrag von Gerald Kretzschmar (2008).108 Angeregt durch die Milieutheorie Gerhard Schulzes109 sind die Milieus in Kirche und Gemeinde seit Mitte der 90er Jahre religions- und kirchensoziologisch intensiv erforscht worden. Der aktuelle Stand der Forschung wird im Folgenden am Beispiel der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft illustriert. Die neueren Sinus-Studien differenzieren den Befund weiter aus. Zu Beginn des präsentierten Lebensstilspektrums steht erstens ein hochkulturell-traditions-orientierter Lebensstil. Er zeichnet sich durch Hilfe für andere Menschen aus, Naturverbundenheit, einen gehobenen Lebensstandard, politisches und gesellschaftliches Engagement und die Abgrenzung von der Jugendkultur. Der Altersdurchschnitt dieses Lebensstils ist 63 Jahre. Es folgt zweitens ein gesellig-traditionsorientierter Lebensstil. Die Fürsorge für andere Menschen, Naturverbundenheit, die Orientierung an traditionellen Normen, die Abgrenzung zu Jugend-und Hochkultur und ein niedriges Einkommens- und Bildungsniveau prägen diesen Lebensstil. Sein Altersschwerpunkt liegt im Rentenalter. An dritter Stelle folgt ein jugendkulturell-moderner Lebensstil. Kinobesuch, Tanzen, Beschäftigung mit dem Computer sind hier häufig anzutreffende Freizeitaktivitäten. Ferner grenzt sich dieser Lebensstil von der Hochkultur ab und zeigt keine Naturverbundenheit. Einkommen und Bildungsniveau sind überdurchschnittlich. Das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren. Es schließt sich viertens ein hochkulturell-moderner Lebensstil an. Bei Freizeitaktivitäten und Musikgeschmack ist er überdurchschnittlich hoch- und jugendkulturell orientiert. Ein überdurchschnittliches Einkommens- und Bildungsniveau geht mit liberalen Einstellungen einher. Der Altersdurchschnitt liegt bei 44 Jahren. 108 G. Kretzschmar, Grenzen in der Kirchengemeinde, 762–764. 109 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft.
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Ein fünfter Lebensstil ist modern, von Do-it-yourself geprägt. Personen, die sich diesem Lebensstil zuordnen lassen, arbeiten gerne im Garten, unternehmen Kino- und Discothekenbesuche, beschäftigen sich mit dem Computer und treiben Aktivsport. Dieser Lebensstil weist eine große Nähe zum dörflichkleinstädtischen Bereich auf. Der Altersdurchschnitt liegt bei 42 Jahren. Das Lebensstilspektrum dieser EKD-Studie wird sechstens beendet mit einem traditionsorientierten, unauffälligen Lebensstil. Hier existieren keine Nachbarschaftskontakte und kein geselliges Verhalten. Von Hoch- und Jugendkultur grenzt man sich ab. Es gibt eine Vorliebe für die Volksmusik. Traditionelle Einstellungen sowie ein niedriges Einkommens- und Bildungsniveau sind kennzeichnend für diesen Lebensstil. Der Altersdurchschnitt liegt bei 53 Jahren.110 Der milieutheoretische Blick auf die Kirche zeigt (ich folge G. Kretschmar): die Mitglieder der Kirche und ihrer Gemeinden lassen sich den gleichen Milieus und Lebensstiltypen zuordnen, die sich auch in der Gesellschaft als ganzer finden. Betrachtet man die steckbriefartig genannten Charakteristika der einzelnen Lebensstile, ist eine trennscharfe Abgrenzung möglich – etwa zwischen dem hochkulturell-traditionsorientierten und dem hochkulturell-modernen, oder zwischen dem jugendkulturell modernen und dem hochkulturell modernen Lebensstil. Man kann hier ohne weiteres den jeweiligen Musikgeschmack einzutragen versuchen, ob Klassik, Jazz, Rock, Pop oder Rap jeweils begeistern. Im Einzelfall sind gewisse Berührungspunkte zwischen Lebensstilen und Milieus denkbar. Ein Beispiel dafür ist etwa die gemeinsame Abgrenzung von der Jugendkultur des hochkulturell-traditions-orientierten und des gesellig-traditionsorientierten Lebensstils sowie die Nähe beim Altersschwerpunkt beider. Doch weisen andererseits Faktoren wie das Bildungsniveau, das gesellschaftliche Engagement und der soziale Status deutliche Unterschiede auf. Insgesamt ist davon auszugehen, dass es zwischen den gesellschaftlichen Milieus und den mit ihnen verbundenen Lebensstilen nur wenige und oftmals gar keine Verbindungslinien gibt. Mehr noch: Das Verhältnis zwischen einzelnen Milieus kann sogar durch Abstoßungseffekte geprägt sein.111 Differenzen ästhetischer Vorlieben, bei Freizeitinteressen, Bildung und sozialem Status sind als soziale Grenzen zu verstehen, die das Verhältnis zwischen den einzelnen Milieus bestimmen. Als Konsequenz daraus folgt, dass die Angehörigen unterschiedlicher Milieus auch verschiedene Formen der Kirchenbindung aufweisen. So werden Menschen, die einem gesellig-traditionsorientierten Lebensstil zuzuordnen sind, andere Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber der
110 F. Benthaus-Apel, Lebensstilspezifische Zugänge zur Kirchenmitgliedschaft. 111 Vgl. C. Schulz/E. Hauschildt/E. Kohler, Milieus praktisch, 223f.
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Kirche pflegen als Angehörige eines modernen, von Do-it-yourself geprägten Lebensstils. Eine Kirchengemeinde weist also keine homogene, sondern eine komplexe und in hohem Maße differenzierte soziale Struktur auf. In milieutheoretischer Perspektive erscheinen Kirchengemeinden vor allem als ein Geflecht von Grenzen. In diesem Geflecht sind alle gemeindeleitenden Aktivitäten verortet.112 Die Chancen und Probleme dieser neuen Forschung lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens bilden diese empirisch vorgehenden Studien eine Situation ab, die nicht neu ist. Das kann auch für das Bewusstsein gelten, bestimmten Milieus anzugehören und durch diese auch biographisch geprägt zu sein, ja bis in die „feinen Unterschiede“ des Geschmacks, des Gefühls, der Empfindungen hinein.113 Wie Kretschmar schreibt, ist „die kirchliche Milieudifferenzierung … an die gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesse gekoppelt, deren Beginn im Wesentlichen mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert anzusetzen ist.“114 Historisch geht das Bemühen, die sich wandelnden Plausibilitätsstrukturen der Gesellschaft über den subjektiven Eindruck des einzelnen Beobachters hinaus zu erforschen, auf die sich als „modern“ empfehlenden praktischen Theologen um 1900 zurück. Insbesondere die Arbeiten von Paul Drews sind hier zu nennen (religiöse Kirchenkunde, religiöse Volkskunde115). So hatte man es – um ein Beispiel zu geben – auch schon im Schulunterricht vor 60 Jahren mit unterschiedlichen Milieus zu tun. Das zeigt etwa der FilmKlassiker Die Saat der Gewalt (USA 1955). Ein engagierter Lehrer versucht in diesem Film, in einer Klasse, an der seine Kollegen schon gescheitert sind, mit Hilfe des Mediums Film Interesse am Lernstoff zu wecken. Zu einem guten Teil gelingt ihm das auch. Man könnte meinen, die These McLuhans, das Medium sei die Message, werde hierbei bestätigt. Doch zugleich erfährt diese Lehrmethode an der fehlenden Homogenität der Klasse wie auch an der Bosheit einzelner ihre Grenze. Erst die Konfrontation von Angesicht zu Angesicht bei Gefahr für Leib und Leben vermag die Situation zu klären. Zweitens verhält es sich in Sachen empirischer Milieuforschung ähnlich wie in der Meinungsforschung, die von bestimmten Instituten betrieben wird, um den politischen Parteien einen Spiegel vorzuhalten, damit sie ihr Handeln daran 112 Als Überblick zum Thema Gemeinde und Milieus vgl. G. Kretzschmar, Kirche und Gemeinde, 77–88. 113 Um ein Beispiel zu geben, lohnt es, in den 1925 gehaltenen 4 Vorträgen von V.v. Weizsäcker zur „Menschenführung“ (ursprünglich: „Seelenbehandlung und Seelenführung“) auf das Vorkommen des Terminus zu achten (Ders., Menschenführung, 31.38.43). 114 Kretzschmar, Grenzen in der Kirchengemeinde, 764. 115 Vgl. dazu: Chr. Grethlein, Praktische Theologie und Empirie.
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korrigieren können. Nur so, lautet die herrschende Meinung, werden auch die Chancen steigen, die eigene Position bei der nächsten Wahl zu stärken. Verhalten sich die Verantwortlichen in einer Kirchengemeinde, Ehrenamtliche wie Pfarrer, aber wie Parteien, die stets um die Gunst ihrer Wählerschaft besorgt sein müssen? Und hängt diese Gunst daran, ob die Wählerschaft den empirischen Forschungsergebnissen entsprechend bedient wird? Es stellt sich also die Frage, was mit milieutheoretischen Forschungsergebnissen im kirchlichen Bereich anzufangen ist. Die hier bestehenden Organisationsstrukturen haben andere Zwecke als die der politischen Parteien im Wettstreit um die politische Macht. Kirchenpolitisch aber ist heute damit zu leben, dass die Mitgliederzahlen zurückgehen und der „geordnete Rückzug“, von dem schon Ernst Troeltsch gesprochen hatte, in die Tat umgesetzt werden muss. Konkret heißt das: Pfarrstellen sind zu streichen oder zusammenzulegen, kirchliche Gebäude sind zu veräußern, weil die Haushaltspläne auf Dauer deren Erhalt nicht ermöglichen. Es besteht also Bedarf, bloß subjektiv scheinende Einschätzungen wissenschaftlich abzusichern. Dem eigenen Argument verleiht es Gewicht, wenn man sagen kann: „Die Wissenschaft hat festgestellt …“. Drittens sind Zweifel anzumelden, ob sich die analytische Einsicht, die diese Studien bereitstellen, ohne den Zusatz von bestimmten Interessen überhaupt in handlungsleitende Konzepte umsetzen lassen. Eben diesen Zusatz gilt es aufzuklären – er besteht meistens schon, bevor die stützenden Gesichtspunkte aus empirischen Forschungen bereit gestellt sind. Deshalb bedarf die Orientierung im kirchlichen Handeln einer kritischen Reflexion der Argumente, die sich aus Interesse und empirischer Erkenntnis ableiten. Kretzschmar plädiert für die Koordination pluraler Milieus in modernen Gesellschaften durch „mediatisierte Kommunikation“. Es verhalte sich ähnlich wie bei der medialen Darstellung von Differenz in Fernsehen und Internet: diese erlaubt nicht nur „Inkonsistenzen“116, sondern gewöhnt auch daran. In einer durch mediatisierte Kommunikation gegebenen Distanz soll das Unterschiedliche leichter nebeneinander bestehen können als „in den traditionellen Beziehungsformen im sozialen Nahraum“ (158). Das mag für das Nebeneinanderbestehen-können von unterschiedlichen Religionen mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen in einer pluralen Gesellschaft und in einem weltanschaulich neutralen Staat ein relevanter Aspekt sein: Man klammert die bestehenden Differenzen (gerade im Wahrheitsanspruch) aus und beschränkt sich auf die Ebenen, auf denen Gemeinsamkeit vorstellbar ist: auf den Austausch von Erfahrungen oder auf ritualisiertes Verhalten. Im „sozialen Nahraum“ einer Kirchengemeinde scheint dies aber ebenso schwierig zu sein wie in einer
116 Grethlein, Praktische Theologie und Empirie, 156.
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Schulklasse, in der auf die kognitive Bearbeitung der Wahrheitsfrage in den Religionen nicht verzichtet werden kann. Das Gespräch von Angesicht zu Angesicht wird jedenfalls nicht ohne weiteres durch eine „mediatisierte Kommunikation“ zu ersetzen sein, sondern seinen geschützten Ort in handy-freien Zonen behaupten müssen. Sonst könnten Situationen wie die auch in den Kirchengemeinden und in der Arbeit von Pfarrern alltäglich werden, die im Film Der Gott des Gemetzels ad absurdum geführt werden.117 Obwohl der von Christoph Walz gespielte Manager seine Frau zu einem klärenden Gespräch in die Wohnung der Eltern begleitet, dessen Sohn von seinem Sohn mit einem Stock derart verletzt worden war, dass ihm zwei Zähne abgebrochen sind, telefoniert er ohne Unterlass in geschäftlichen Dingen. Dieses multi-tasking ist hier zugleich Ausdruck und Begünstigung des Scheiterns der Kommunikation zwischen diesen beiden Elternpaaren. Man wird also genau zu bedenken haben, was unter einer „mediatisierten Kommunikation“ zu verstehen ist, wann sich der Einsatz bestimmter Medien empfiehlt und wann nicht. Der Einsatz unterschiedlicher Medien wie ein Bild, das meditiert werden kann, eines Films, den man gemeinsam anschaut, oder eines Textes, den man hört und diskutiert, kann durchaus sinnvoll sein. Zu denken ist auch an die Integration unterschiedlicher Musikstile wie die Volksmusik im Seniorenkreis, die Orgelmusik im regulären Gottesdienst, zeitgenössische Musik (Jazz und Pop) anlässlich der Konfirmationen etc. Kretzschmar nennt das „Milieu-Profilierung der gemeindlichen Arbeit“,118 die allerdings ein vielfach zu gewinnendes und zu schärfendes „Milieubewusstsein“ voraussetzt (770). Die Milieutheorie lässt aber auch in kritischer Perspektive die Illusion zerbrechen, dass es „eine gemeindliche Veranstaltung“ geben könne, „die alle Milieus der Gemeinde erreicht“ (771). Eine Ausnahme machen hier vielleicht bei günstigen Bedingungen gut organisierte Gemeindefeste. „Ein Drängen auf soziale Nähe [kann aber] gerade das Gegenteil des eigentlich angestrebten Zieles“ erreichen: „Statt einer Stärkung der Kirchenbindung erfolgt ihre Schwächung“ (771). Um es in traditionell kirchlichem, an biblischen Texten gebildetem Ausdruck zu sagen: das Problem der babylonischen Sprachverwirrung ist nicht alt geworden. Wie dieses in den Beschreibungen der Milieudifferenzen wiederkehrt, so die Hoffnung auf Überwindung der Differenz in der Erfindung einer Sprache, auf die alle Menschen sich sollten einigen können. Sehr schön hat Amos Oz in der letzten seiner Miniaturen über den Kibbuz der 50er Jahre unter dem Titel Unter Freunden die messianische Spannung zur Darstellung gebracht, die aus 117 Der Gott des Gemetzels (F/D/P 2011; Regie: Roman Polanski). 118 Kretzschmar, Grenzen in der Kirchengemeinde, 771.
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dem Wunsch und Willen entsteht, die Sprachverwirrung zu überwinden. In dieser kleinen Geschichte setzt ein Shoa-Überlebender seine Hoffnung auf „Esperanto“. Im Kibbuz bietet er dazu einen Kurs an, den nur wenige Interessierte besuchen. Und da seine Lebenskraft im Schwinden ist, kann er nur noch eine Stunde geben. Die jüngere Frau, die ihn länger schon mit Essen versorgt hatte, möchte nach seiner Bestattung einen Satz auf Esperanto sagen. Doch sie kann das nicht, da die Zeit, es zu lernen, zu kurz gewesen ist. Ist das nicht ein schönes Gleichnis für die Spannung zwischen der Hoffnung auf Verständigung unter allen Menschen, egal welcher Herkunft, Sprache und welchen Milieus, und dem Ausstand der Erlösung in dieser Gestalt?119
3.8.2 Gemischte Milieus in bestimmten Kasus Was aber sind die besonderen Herausforderungen, vor die die Milieuvielfalt in der Kirche die Gestaltung der Predigt stellt? Die neuere Forschung bietet eine Erklärung dafür an, warum es für den Prediger nicht leicht ist, die Sprache – oder gar die Sprachen – seiner Gemeinde zu sprechen. Er muss Abstraktionen ebenso wie Plattheiten, Esoterisches ebenso wie Anbiederung vermeiden. Es hilft ihm, wenn er (der alte Ausdruck sei erlaubt) auf eine Seelenverwandtschaft zwischen Prediger und Gemeinde bauen kann. Diese beruht auf der Schnittmenge zwischen dem, was dem Prediger selbstverständlich ist und was die Gemeinde erwartet. Die Milieuforschung zeigt aber deutlich genug: Eine solche Gemeinschaft zwischen Prediger- und Gemeindeseele ist immer nur gebrochen möglich. Denn das Bruch-Differential ist die Milieuzugehörigkeit und -gebundenheit. Spannend wird es allerdings immer dann, wenn die Grenzen hier aufgebrochen, verschoben und durchlässig werden. Meist haben es die Pfarrerinnen und Pfarrer heute mit gemischten Milieus zu tun, auch wenn selten alle Milieus sich gleichzeitig in der Kirche versammeln. Das macht die Antwort nicht leichter, was die Erkenntnisse der Milieuforschung für die Gestaltung von Predigten austragen. Praktisch gibt es eben diese beiden Möglichkeiten, von gemischten Milieus in den Gottesdiensten auszugehen, oder – weil sich nicht alle Milieus in diese Mischungsverhältnisse begeben wollen – Gottesdienste für bestimmte Milieus anzubieten. Die erste Option ist wenigstens dadurch realisiert, dass sich unterschiedliche Altersgruppen zur Sonntagspredigt versammeln: jedenfalls mischen sich einige Konfirmanden unter die Erwachsenen, deren Durchschnittsalter meist recht hoch ist. Die zweite Option setzt einen erhöhten Arbeitsaufwand und eine engagierte Mitarbeiterschaft 119 A. Oz, Unter Freunden, 187–216.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
voraus. Sie wird sich nur punktuell als zielgruppenorientierter Gottesdienst realisieren lassen. Anlässlich von Kasualien – insbesondere von Taufen und Konfirmationen – sind die Milieus so gemischt wie in Kindergärten und Schulklassen auch. Im Fall von Familiengottesdiensten unter Beteiligung des Kindergartens wird sich die Gestaltung nach dem Potential richten, das Erzieherinnen und Kinder mitbringen. Die Kinder stellen etwas dar, sie singen etwas, denn ohne dass sie nicht in Aktion träten, wäre der ganze Gottesdienst im Urteil vieler Eltern nichts wert. Das Niveau, die Medien und die Darstellung richten sich nach den Kindern. Damit ist das Kriterium der Milieu-Gerechtigkeit meist schon erfüllt. Schwieriger stellt sich die Situation im Fall von Taufgottesdiensten dar, und das zumal dann, wenn die Taufe – mit gutem theologischem Grund – im regulären Sonntagsgottesdienst stattfindet. Gemischte Altersgruppen sind hier ebenso wie gemischte Milieus anzutreffen. Gut ist es, wenn für die begleitenden Kinder ein Parallelprogramm während der Predigt angeboten wird – während der Taufe werden sie im Kirchenraum bleiben, um dem Geschehen mit allen Sinnen zu folgen. Probleme können auftreten, wenn weder die Taufeltern noch die Kinder der Tauffamilien einer Rede zuzuhören gewohnt sind. Es können dann Enttäuschungen sowohl auf Seiten der Tauffamilien als auch auf Seiten der übrigen Gottesdienstbesucher entstehen. Gut ist es, den Tauf- als Familiengottesdienst zu gestalten, um derartigen Enttäuschungen entgegenzuwirken. Doch nicht immer lässt sich das einrichten, zumal es in der Verantwortung der Pfarrerin und des Pfarrers liegt, ein ausgewogenes Maß von Gottesdiensten für Kinder und für Erwachsene anzubieten. Die Integration unterschiedlicher Gewohnheiten, unterschiedlicher Vorstellungen auch dessen, was sich ziemt und was nicht, gehört zu den hohen Herausforderungen in einem gegenwärtigen Pfarramt. So schien es etwa bis vor Kurzem für Tauffamilien mit russland-deutschem Hintergrund nicht unschicklich, wenn die Männer nach der Taufe die Kirche verlassen, um rauchen zu gehen. Auch kann es vorkommen, dass sich die Onkels und Väter mehr daran freuen, dass die Kinder mit Spielzeugautos durch den Altarraum fahren als an dem, was der Pfarrer von der Kanzel zu sagen hat. Nicht nur in Tauf-, sondern auch in Konfirmationsgottesdiensten muss damit gerechnet werden, dass unterschiedliche Milieus anwesend sind. Wenn in diesen Gottesdiensten aber die Konfirmanden selbst beteiligt werden, richtet sich die Aufmerksamkeit aller auf diese jungen Leute, die sowieso an diesem Tag im Zentrum stehen. An der agendarischen Vorgabe, dass der Katechismus darzustellen ist, wird mit gutem Grund nicht zu rütteln sein (auch wenn landauf – landab hier vieles im Fluss ist). Und auf eine Konfirmationspredigt wird man nicht verzichten wollen, wenn die jungen Leute mit ihren Familien mit einem kirchlichen Leben bekannt bleiben sollen, wie es üblicherweise erfahren wird.
Wie kann die Predigt unterschiedlichen Milieus gerecht werden?
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Über die musikalische Gestaltung lässt sich aber eine Gesamt-Stimmung begünstigen, die nicht nur der traditionsbewussten Gemeinde, sondern auch den jungen Leuten selbst – und ihren Eltern – gut tut. Es muss keine Jugendband sein, die hier spielt. Möglich ist auch Orgelmusik, die moderne Rhythmen integriert, oder ein Posaunenchor, der auf der Höhe der Zeit spielt, oder eine JazzCombo, deren Pianist auch traditionelle Kirchenlieder zu begleiten vermag.
3.8.3 Der Kasus für bestimmte Milieus Teens machen Kirche – Gottesdienste für alle lautet der Titel eines 2012 erschienenen Buches.120 Der Gedanke ist nicht neu: Wenn man einen Kindergottesdienst nur gut genug mache, dann würden auch die Erwachsenen dadurch ausreichend angesprochen. Hier nun, in diesem neuen Vorschlag, sind es die Konfirmanden, die ihre Unterrichtserfahrung in den allgemeinen Gottesdienst einbringen. Derartige Experimente können gelingen. Und dass die Gottesdienste besser besucht sind, in denen die Kinder und Jugendlichen selbst an der Darstellung des Christentums mitwirken, ist durch Erfahrung vielfach bestätigt. Wenn man aber fragt, warum das so ist, wird man die Antwort leicht in einem bekannten Sachverhalt finden, der mit der Darstellung des Christentums noch nicht viel zu tun hat: Die Eltern und Familien haben ihre Freude daran, die Kinder im Altarraum wie auf einer Bühne zu erleben. Zuweilen geht diese Freude so weit, dass alle bekannten (und auf Schildern erinnerten) Bitten, das Filmen und Photographieren im Gottesdienst zu unterlassen, in den Wind geschlagen werden: reihenweise knien die Väter nun vor dem Altarraum, doch nicht etwa um zu beten, sondern um ein besonders schönes Bild vom singenden oder sprechenden, als Engel oder Hirte verkleideten Spross mit nach Hause zu nehmen. Auch d.i. ein Beispiel für „mediatisierte Kommunikation“. Man wird fragen müssen, zu welchen Themen die Darstellung des Christentums auf diese Weise gelingen kann (und dass das möglich ist, ist überhaupt nicht zu bestreiten). Es sind die elementaren Themen des Segens, die Vergegenwärtigung zentraler Metaphern wie der des guten Hirten, oder es sind szenisch dargebotene Gleichnisse Jesu. In Gottesdiensten, die sich diesen (und anderen elementaren Gegenständen wie etwa der Taufe) widmen, können „Teens“ oder „Kids“ Kirche machen, und diese Gottesdienste sind dann in der Tat „für alle“. Wie ist es aber mit den Themen des Glaubens, die als „schwierig“ gelten? Mit ethischen Fragen, mit der drängenden Realität des Bösen, die von der Bibel als 120 Anna-Katharina Szagun, Teans machen Kirche – Gottesdienste für alle, Göttingen 2012.
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
solche angesprochen wird? Wie ist es mit Fragen eines erwachsenen Glaubens, die die Deutung des eigenen Lebens, die Verwindung von Krankheit und Schmerz, den Umgang mit Verlusten betreffen? Die Vergewisserung im eigenen Glauben ist ein anspruchsvolles Geschäft, das in unterschiedlichem Alter und Stand auch unterschiedliche Zugänge erfordert. Die religiöse Rede von Erwachsenen für Erwachsene aus dem Profil zu verdrängen, das hier erforderlich ist, hätte fatale Folgen, zu denen die zunehmende Selbstmarginalisierung der Kirche in der Gesellschaft gehörte.
3.9
Der Stil der Predigt
Aus der Milieuforschung lässt sich lernen, dass die Prägungen der Herkunft und des Gewohnten tief wurzeln und als Aspekte sozialer Realität anerkannt werden müssen. Zu denken ist an all das, was den Sinn und Geschmack fürs Endliche ausmacht, also an die Frage, welche Musik man mag, wie man sich kleidet oder was man gern isst. Es ist leichter, im Wissen um derartige Differenzen in der eigenen Gemeinde mit Enttäuschungen umzugehen, die sich aus Bemühungen ergeben haben, Grenzen zwischen den Milieus zu überschreiten. Die vielleicht wichtigste Einsicht, die aus der neueren Milieutheorie gezogen werden kann, betrifft aber die Milieugebundenheit dessen, der Milieus unterscheidet – hier : des Predigers. Die eigene Milieuprägung ist oft ein blinder Fleck in der Selbstwahrnehmung, von der Milieuforschung wird er beleuchtet. Wenn aber der eigenen Prägung eine derartige Bedeutung zukommt, folgt daraus eine Pluralisierung. Diese erfordert viel mehr die Anerkennung der Koexistenz als das beliebige Mischen von Milieus. Doch das ist schon eine Konsequenz aus der Analyse der Situation. Sie ist nicht von der Person dessen zu trennen, der sich unter den Bedingungen der Pluralität orientieren muss und zu handeln hat. Der Prediger muss seine eigene Individualität ernst genug nehmen, wenn er sich auf bestimmte Milieus einlässt oder den Jazz-Gottesdienst wie auch die Jugendpredigt vielleicht besser anderen Kollegen überlässt, die sich hier zu Hause fühlen. Sprachlich wird sich die eigene Milieuprägung im Stil seiner Rede zum Ausdruck bringen. Doch sein Stil ist mehr als nur eine Konsequenz aus dem, was ihm gewohnt ist und selbstverständlich. Der Soziologe Gerhard Schulze, auf den die neuere Milieuforschung sich bezieht (s. o.), hat die „Erlebnisgesellschaft“ in einer „Hermeneutik der Stile“ beschrieben. Das macht Sinn, wenn man bedenkt: Die „innere Bearbeitung“ von Erlebnissen „folgt bestimmten konstanten, Vielfalt reduzierenden Mustern, die man Stil nennen kann.“121 Solche Muster werden kulturell schon vorgefunden. 121 Korsch, Religion mit Stil, 9.
Der Stil der Predigt
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Sie treten in der Mode auf, in der Weise, wie man sich kleidet, in der Vorliebe für bestimmte Bücher oder Filme, im Geschmack überhaupt. „Es sind im wesentlichen ästhetische Phänomene, Phänomene alltäglicher Wahrnehmung, die strukturbildend auf Subjekte wirken.“ (10) Für die innere Verarbeitung eines Erlebnisses, das auf „äußeren Eindrücken“ beruht, können diese stilprägenden Muster übernommen werden oder nicht. Oft kommt es hierbei auf die Vorbildfunktion an, in die sie eingezeichnet werden. Diese Muster sind zugleich „individuell akzeptiert und gestaltet wie sie auch überindividuellen Charakter tragen.“ (9) Wie am ästhetischen Phänomen zu sehen ist, ist in es „schon gesellschaftlich vermittelter Ausdruck eingegangen“ (10). Der Begriff des Stils hat also eine doppelte Prägung. Einerseits bedeutet er die individualisierte Äußerungs- und Darstellungsform, andererseits eine auf Muster bezogene gesellschaftliche Vermittlung. Die antike Rhetorik hatte den Stil als ein „objektives Phänomen“ behandelt, „das dem Redner zur freien Verfügung steht.“122 Man unterschied den höheren vom mittleren und einfachen Stil. (s. o. Abs. 3.5) Je nach Anlass sollte er in der Sprache des Redners seinen Niederschlag finden, weil an Festtagen anders zu reden sei als in einer Volksversammlung auf dem Markt oder vor begrenztem Publikum bei Gericht. Die hier unterschiedenen Stilarten konnte man lernen und dann zu gegebenen Anlass anwenden. „Der gute Redner müsse für jeden Komplex den rechten Ton treffen, daher über alle Stilarten verfügen.“123 Die Anforderung, den Stil der eigenen Rede dem entsprechenden Anlass anzupassen, wird in eingeschränktem Maße auch für den Prediger gelten können, wenngleich es angesichts der heute sich findenden Milieuvielfalt in den Gemeinden niemanden geben wird, der jedem Anlass gleich gut zu entsprechen vermag. Dem sind durch die eigene Individualität Grenzen gesetzt. Auch die antiken Autoren hatten schon einen Blick für die „subjektive Note“, die der Ausdruck Stil heute meist hat.124 Auch sie wussten: „Jeder hat seinen eigenen Stil, in dem sich seine individuelle Persönlichkeit äußert“.125 Dieser wird sich allerdings erst durch viel Erfahrung (wie auch in Auseinandersetzung mit dem Stil anderer) zum Ausdruck bringen. In jüngeren Jahren wird sich der Prediger an den Vorbildern abzuarbeiten haben, denen er in der Wahl seines Berufes eine Orientierungsfunktion zuerkannt hatte (und wie in der Kunst lässt sich auch in der Geschichte der Predigt der Stil einer Epoche ausmachen). Mit 122 123 124 125
Andersen, Im Garten der Rhetorik, 83. Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik, 65. Das belegen die von Andersen gewählten Zitate (Ders., Im Garten der Rhetorik, 83–89). A.a.O., 83. Ähnlich hat Cohen dem „geschichtlichen“ Verständnis des „Stilbegriffs“ „das Gesetz des Individuums“ gegenüber gestellt. „So ist dasjenige Moment, welches in der Gesetzlichkeit das Allgemeine der Kunst bezeichnen müßte, vielmehr das Allerindividuellste.“ (Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 49).
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Was kann die Homiletik von der Rhetorik lernen?
zunehmendem Alter wird er den erlernten Anspruch immer mehr an der Rezeption seiner Predigten geprüft haben. Den eigenen Stil, der sich in diesen Prozessen ausbildet, gilt es zu achten wie den der anderen. Denn auch an ihm hängt es, ob der Prediger als Person zu überzeugen vermag. In wie starkem Maß der eigene Stil das Gewicht der Persönlichkeit zum Ausdruck bringt, und wie andererseits die Persönlichkeit auch erst den Stil trägt, hat Rosenstock so formuliert: „Im Stil hat jede spontane Äußerung das Gewicht einer materiellen Wahrheit, einer sprechenden Tatsache“.126 Das ist möglich nur, wenn der Prediger im Stil ganz er selbst ist, unvertretbar. Verhält es sich so, dann kann er seinen Stil aber auch nicht beliebig verändern, es sei denn, der Prediger sei zugleich ein Schauspieler von Rang, der die Rollen wechselt wie die Kleider, die er trägt. Der Stil jedenfalls ist eine Sache der Bildung zur eigenen Persönlichkeit als Prediger, als Pfarrer, als Theologe. D.h. aber : Seine Erfahrungen aus der Seelsorge, der Gemeindeleitung, den organisatorischen Aufgaben, des Schulunterrichts, seiner das Amt begleitenden Lektüren und Hobbies spielen in den Stil hinein, an dem er einmal wird wiedererkannt werden können. Es gilt dann, was Heine insbesondere an Lessing bewunderte: „Der Stil ist der Mensch selber“.127
126 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 185. 127 Heine, Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 89.
4.
Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik? „So ist es also nicht allein die Produktion, sondern auch die Reproduktion, die bei der Kunst mitspielt, und deren Interessen daher von einer erschöpfenden Theorie der Kunst zu berücksichtigen sind.“1
4.1
Rezeptionsästhetik und Performanz als Hauptmerkmale
Die Predigt ist eine Rede, genauer : sie ist eine religiöse Rede – das war die These des voran gegangenen Hauptabschnitts. Kunstvoll müsse sie gestaltet sein, das Beste der Redekunst müsse sie zu sehen und zu hören geben. Denn der Gegenstand der Religion sei erhaben, geht es doch ums Unbedingte, Unendliche, Andere des Menschen, der Gesellschaft, der Politik, der Ökonomie. Nicht die niedere Sprache des alltäglichen Verkehrs – und schon gar nicht der Vulgarität – sei der religiösen Rede angemessen, sondern sie müsse eine wohl gestaltete Form haben und eine gehobene, wenngleich einfache, gut verständliche Sprache sprechen. So hat schon Schleiermacher die religiöse Rede beschrieben, die es vermag, das Gesellige in der Religion wirklich werden zu lassen. Christian Palmer ist ihm gefolgt (s. u. Abs. 4.3.4). Schon mit diesem produktionsästhetischen Anspruch an die religiöse Rede steht das Verhältnis von Religion und Kunst zur Diskussion. Denn in der Tat bedarf es zur Hervorbringung eines Kunstwerks wie einer Predigt einer leitenden Idee (inventio), die in der Disposition des ganzen Werkes und der Ausarbeitung der einzelnen Teile auszuführen ist. Schließlich kommt die Predigt aber wie ein Kunstwerk zur Aufführung. Über die Produktionsästhetik hinaus werden nun die Performanz und die Ästhetik der Rezeption relevant. Es kommt jetzt darauf an, wie die Gemeinde die gehaltene Predigt aufnimmt – ob sie den Hörer erreicht oder nicht, ob er dem, was er verstanden hat, zustimmen kann oder nicht. Wie ein Kunstwerk, so vollendet sich auch die Predigt in der Rezeption. Dieser Prozess, wie er anhand der Theorie der Zeichen schon thematisch war, tritt nun noch einmal in den Fokus.2 Denn die „ästheti1 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 59. 2 Die Wiederentdeckung der rezeptionsästhetischen Fragestellung hat die Homiletik der vergangenen Jahrzehnte in starkem Maße beschäftigt. Es verdient Erwähnung, dass der Anschluss an die Semiotik nur ein Zugang zur Fragestellung war, wenngleich ein besonders
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Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik?
sche Wende“, von der Ruth Conrad und Martin Weeber in ihrem homiletischen Arbeitsbuch sprechen,3 hat zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit auf die Hörerinnen und Hörer geführt. Für deren Verstehen und eigenständige Interpretation soll der Weg bereitet werden. Diese neueren Tendenzen der Homiletik werden nicht zureichend zu beurteilen sein, wenn sie nicht auf ihre systematischen Konsequenzen befragt und in die Perspektive historischer Entwicklungsprozesse gestellt werden. Dazu ist eine ausführliche Grundlegung erforderlich. (Abs. 4.2) Denn das vorauszusetzende Verhältnis von Kunst und Religion (4.2.1) ist nicht eindeutig festgelegt, sondern vielmehr Gegenstand einer kontroversen Diskussion (vgl. Abs. 4.2.2 und 4.2.3). Zudem hat sich die Bedeutung und Funktion der Ästhetik für das Leben im Laufe der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung verändert. Das Phänomen einer „Ästhetisierung der Lebenswelt“, auf das die in Frage stehenden homiletischen Tendenzen zu beziehen sein werden, ist aus für die Modernität überhaupt charakteristischen Entwicklungen zu erklären.4 (Abs. 4.2.4) Auf dem Hintergrund dieser Prozesse kann deutlich werden: die Frage, was die Predigt mit einem Kunstwerk vergleichbar macht, unterliegt einem geschichtlichen Wandel. Anhand eines unter dem Namen Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus bekannt gewordenen Fragments ist die Bedeutung der Ästhetik in der Konstellation der Modernität exemplarisch aufzuzeigen und auf die homiletischen Grundlegungsfragen zu beziehen (Abs. 4.3.1 vgl. 2.1), um dann in der romantischen Bestimmung der Fragmentarität der Werke ein Modell auch für die Predigt wieder zu entdecken (4.3.2). Weiterhin ist in der Außenperspektive Rosenzweigs eine kurze Darstellung der Künste zu geben, die in der Kirche im Laufe ihrer Geschichte Heimat gefunden haben (4.3.3), um den Boden für eine Diskussion der neuerdings vielfach vertretenen Forderung zu bereiten, die Predigtaufgabe müsse in verstärktem Maße im Gesamtzusammenhang des Gottesdienstes begriffen werden. Schließlich ist die Homiletik Christian Palmers in Erinnerung zu rufen, weil sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon ihre Konsequenzen aus den romantischen Weichenstellungen der Modernität gezogen hat und im Geist ihrer Zeit ein Modell dafür bietet, die Predigt als Kunstwerk zu begreifen (4.3.4). Erst nach diesem längeren Umweg ist auf die „ästhetische Wende“ zurückzukommen. Da sie sich insbesondere für die Rezeption interessiert, sucht sie konsequent der Pluralisierung von Perspektiven Rechnung zu tragen, die schon breitenwirksamer. Auch in hermeneutischer Perspektive ist die Bedeutung der Rezeption aufgearbeitet worden (vgl. H.-U. Gehring, Schriftprinzip). 3 R. Conrad/M. Weeber (Hg.), Protestantische Predigtlehre, 258. Sie ist vor allem mit den Namen G.M. Martin und M. Nicol konnotiert (s. u. Abs. 4.4). 4 Es ist in den 80er Jahren intensiv diskutiert worden. Vgl. R. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik.
Rezeptionsästhetik und Performanz als Hauptmerkmale
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unter dem Gesichtspunkt der Semiotik (Abs. 2.4) und der Rhetorizität (Abs. 3.3) im Kontext der Verunsicherung lebensweltlicher Vertrautheiten thematisch geworden ist. Doch nicht nur zu diesem Zweck haben die diese Wende tragenden Autoren die Einbeziehung unterschiedlicher Künste empfohlen, die den Stellenwert der Rede-Kunst relativieren. Das Drama und die zu seiner Aufführung erforderliche Schauspielkunst schien auch für die Performanz der Predigt lehrreich zu sein. Man wird heute – und d. h. mit einem gewissen Abstand zu diesen Tendenzen, die inzwischen nicht mehr ganz neu sind – die Frage stellen müssen, welche Kunst sich denn insbesondere als Lehrerin der Homiletik empfiehlt – die Rede, das Drama, oder gar der Film. (Abs. 4.4.3) Um in dieser Diskurs-Lage zu einer begründeten Kritik zu kommen, war der Weg über die Grundlegung und eine historische Besinnung zu gehen. Nun ist die Frage zu präzisieren, ob eines der Hauptmotive der „ästhetischen Wende“ nicht in der Erwartung lag, auch die religiöse Rede müsse sich in einer Umwelt behaupten, die in der Moderne in immer höherem Maße ästhetisiert worden ist. Diese Erwartung wird verständlich in einem Rückbezug auf die Rolle, die die Ästhetik in der Geschichte des Christentums immer schon gespielt hat. Doch die Frage muss gestellt werden, ob man nicht den rhetorisch gut begründeten Anspruch beschränkt oder aufs Spiel setzt, die Predigt sei als eine religiöse Rede zu halten, indem man sich am Drama und Theater als anderen Formen einer öffentlichen performance orientiert. Lebt das Wort noch, das Vernunft hat und anspricht, oder hat es seine Bedeutung Darstellungen gegenüber, die keineswegs nur an Worte gebunden sind, eingebüßt? Das Wort, das einem bekannten Gedicht Gottfried Benns zufolge „ein Glanz, ein Flug, ein Feuer“ ist, „ein Flammenwurf, ein Sternenstrich“? Wenn ein Wort Ereignis wird, so kann gelten: „aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn, / die Sonne steht, die Sphären schweigen / und alles ballt sich zu ihm hin“.5 Eben darin besteht die Vernunft des Wortes, dass es unser Dasein zu erhellen vermag, indem es ein Verständnis menschlicher Existenz in den Verhältnissen der Welt aufblitzen lässt. Wenn nun aber einem Vertrauen auf die Kraft von Worten gegenüber andere Darstellungen betont werden – sei es im Bild, im Bühnen-Setting oder im dramatischen Dialog – stellt sich das Problem, ob die Rede – und mit ihr die religiöse – ausgedient habe. Das allerdings müsste sich bestätigen lassen durch einen Rückgang der Bedeutung der öffentlichen Rede in den modernen Gesellschaften überhaupt. Es bestehen aber angesichts der Erwartungen, die sich etwa an einen Bundespräsidenten gerichtet haben, der nicht zuletzt seiner rhetorischen Kompetenzen wegen gewählt worden ist, berechtigte Zweifel an dieser Einschätzung. Gewiss kommt es auch bei öffentlichen Reden auf die 5 G. Benn, Ein Wort, zit. nach K.O. Conrady, Das große deutsche Gedichtbuch, 761.
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Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik?
performance an. Eine Rede so gut wie irgend möglich zu halten ist aber etwas anderes, als eine Rolle auf der Bühne zu spielen. Das im Drama pluralisierte subjektive Moment tritt hier ganz in den Vordergrund. Dieses subjektive Moment ist unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart jedoch nicht nur mit Nachteilen behaftet, sondern trägt eine eigene Bedeutung – diese These soll am Ende in abschließenden Reflexionen herausgestellt werden. (Abs. 5 und 6)
4.2
Grundlegung: Das Verhältnis von Kunst und Religion
4.2.1 Elementarer Zusammenhang Wie im Verhältnis von Denken und Sprechen, so ist es auch hier die Leiblichkeit des Menschen, die den Weg zu einer näheren Bestimmung weist.6 Bestehend aus Leib und Seele ist der Mensch nicht nur auf seine Sinne angewiesen – auf sein Gespür in Gehör, Gesicht, Getast, Geruch, Geschmack –, um vermittels seiner Eindrücke sich auf die Außenwelt zu beziehen. Er ist angewiesen auch auf den anderen Menschen, auf Gemeinschaft und Gesellschaft, in der er sich zu orientieren und zurechtzufinden hat. Beide Verhältnisse finden sich schon in zwei bekannten Formeln zusammengefasst, die auf Aristoteles zurückgehen. Als zoon logon echon bezieht sich der Mensch kraft seiner Sprache und Vernunft auf die ihn umgebende Welt. Hierzu muss er sich einer „Sphäre von Bezeichnungen und Benennungen“ – von Namen und Zeichen – bedienen, „die Verknüpfungen vorzunehmen erlaubt“.7 Als zoon politikon ist der Mensch aber immer schon Teil einer Gemeinschaft, einer Familie, eines Stammes, eines Volkes, einer Nation. In dieser spezifischen Prägung hat er seine Sprache gewonnen. Er hat ein Gefühl dafür ausgebildet, was ihm selbstverständlich ist. Er hat sich an lebensweltliche Vertrautheiten gewöhnt, und er vermag die Gestalt seines Lebens mitzuprägen. Sobald es aber in den Verständigungsprozessen, die sich aufgrund der geselligen Anlage des Menschen ergeben, zu Bedeutungsvariationen im gewohnten Zeichensystem kommt, muss die bisherige Deutung der Welt, und mit ihr nicht selten auch das Verständnis von sich selbst, variiert werden. Ein Prozess der Bedeutungsvariation wird nun in Gang gesetzt, der sich in Rede und Gegenrede, Darstellung und Gegendarstellung vollzieht. Die menschliche Kultur besteht in solchen Verständigungsprozessen, die dann gelingen können, wenn Andersheit ausgehalten wird. Das ist die ethische Bedingung, unter der ein Verständnis des 6 Mit Rosenstock war „die Sprache als ein leiblicher Vorgang in der Erschaffung des Lebens zu begreifen“ (Ders., Der Atem des Geistes, 7). S.o. Abs. 2.2. 7 Korsch, Religion mit Stil, 41.
Grundlegung: Das Verhältnis von Kunst und Religion
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Anderen möglich wird und das Bemühen gelingen kann, sich ihm verständlich zu machen (s. o. Abs. 2.5). Wer die Welt verstehen will, muss sie deuten. Die eigene Deutung aber muss in eine Darstellung überführt werden, und das nicht nur, um sie anderen mitzuteilen, sondern auch um für sich selbst im „Taumel der Eindrücke“ (Cohen) etwas Bleibendes zu gewinnen. Auf diese Weise sind – wie Mendelssohn gezeigt hat (s. o. Abs. 2.4.1) – die Sprachen entstanden, und darüber hinaus die Mythen, Symbole und Metaphern, die in einer Kultur lebendig sind. Deutung „besteht … nur als Darstellung“.8 Für andere erschließt sie sich „nur in sinnlicher Gestalt“, seien dies Sprachzeichen in Laut und Schrift, Veranschaulichungen im Bild oder die Ausdrucksform des Gefühls im Ton. „Die räumlich organisierte Sichtbarkeit und die zeitlich aufgebaute Lautabfolge [erlauben] am ehesten symbolische Fixierungen … (im Unterschied zum nahezu völlig individuellen Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn)“ (42). Für symbolisierende Darstellungen, die Kommunikationsprozesse anzuregen vermögen, scheinen also Bilder und Gemälde wie auch dramatisch gesprochene Texte und Musikstücke besonders geeignet zu sein. Aufgrund dieser elementaren Zusammenhänge ist deutlich genug zu sehen, dass religiöse Welt- und Selbstdeutungen Teil der kulturellen Vielfalt an Darstellungen der Deutung von Welt und Selbst in sinnlicher Gestalt sind. Sie treten in der „Rolle des Werkes“ auf, in dem der „Vorgang der Darstellung“ zu einer „gebildeten Erscheinung“ ausgearbeitet ist (43). Doch nicht nur in den Künsten kommen Werke (in diesem weiten Verständnis) vor, sondern auch in Staat, Wissenschaft und freier Geselligkeit (um mit dem „Viererschema Schleiermachers“ zu sprechen). Zu denken ist an Verfassungen, Gesetze, wissenschaftliche Werke, aber auch „Normen und Umgangsweisen“ im „geselligen Verkehr“ (43). Sowohl in der Kunst als auch in der Religion kommt dem „individuellen Symbolisieren“ eine spezifische Funktion zu, um die Deutung in Darstellung zu überführen. Das geschieht in Medien, die für die Darstellung der Welt- und Selbstdeutung in Kunst und Religion „identisch“ sind: in denen des Tons und der Musik, der Anschauung und des Bildes, des sprachlichen Zeichens und der Prosa, der Poesie, des dramatischen Dialogs. In diesen Medien bedient sich das religiöse Darstellungsbedürfnis der Kunst. Jede Darstellung von Religion „besitzt … eine künstlerische Vorder- oder Außenseite“, so dass man mit einer Wendung Schleiermachers sagen kann: Die Kunst ist „Sprache der Religion“. Aber auch Kunstwerke, die für sich selbst nicht als religiös gelten, können „über sich hinausweisen und – so unbeabsichtigt wie unerzwingbar – religiöse Funktionen übernehmen.“ (45) Mit Blick auf die mittelalterliche Kunst, die kirchlicher Kontrolle unterlag, ist solche Funktionsübernahme offensichtlich. 8 Korsch, Religion mit Stil, 41.
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Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik?
Wilhelm Gräb zufolge kann der Erfolg, den die Kirchen als „eigentümlichen Orten ästhetisch-religiöser Erfahrung“9 im corpus christianum hatten, auf die Deutung zurückgeführt werden, die die „religiöse Semantik“ der „ästhetischen Erfahrung“ angedeihen ließ. (738) Doch auch die Kunst der Moderne hat „eine Darstellungsfunktion … für religiöse Unbedingtheitsgehalte“ (737) gewonnen, insofern sie von der Frage nach Sinn ihren Ausgang nimmt und mit ihren Werken Antworten darauf sucht. Es ist „auch in der modernen Kultur der Kunst eigentümlich …, jene ausgezeichnete Form der Bildung von Kultur zu sein, mit der sich Sinn in sinnliche Ausdruckszeichen verwandelt“ (739). Mit Bezug auf den Philosophen Dieter Henrich fährt Gräb fort: „Die Kunst der Moderne wird zur Ausdruckskultur eines menschlichen Lebens, das sich im Dunkel eines Grundes aufkommen sieht, aus dem heraus es – vermittelt über resonanzfähige Weltgehalte wie sie die Kunst schafft – zu einem wissenden Selbstverhältnis und in eine sinnorientierte Lebensführung findet“. (739)
Eben darin besteht die Affinität auch der modernen Kunst für Religion, darin sind Ästhetik und Religion verwandt und – um einen Terminus Max Webers zu verwenden – „funktional äquivalent“. Über die Substanz der Sinngehalte als „religiöser Unbedingtheitsgehalte“ ist damit allerdings noch nichts gesagt. Gesagt ist nur, dass auch die moderne Kunst eine Erfahrung ermöglichen kann, die im Deutungsmuster einer auf Schleiermacher zurückgehenden Theorie offen ist für eine religiöse Interpretation.10 Auch ästhetische Erfahrung kann „das Subjekt aus seiner Selbstbezogenheit“ befreien und es „in intensive, sprachlich nur begrenzt beschreibbare Prozesse einer die eigene Teilhabe am Absoluten empfindenden Selbstdeutung“ involvieren (738). Die ästhetische Erfahrung ist dann das erste, die religiöse Deutung nur eine Zutat. Allerdings gibt es auch solche Werke der modernen Kunst, die sich einer religiösen Deutungsperspektive verschließen. Und es ist grundsätzlich „nicht … zu vermeiden, dass jemand in der Rezeption von Religion bei … [der] künstlerischen Erscheinungsweise stehenbleibt.“11 Man kann in den Psalmen nur die lyrische Form sehen, ohne anzuerkennen, dass die lyrische Form hier zum Gebet geworden ist.12 Oder man kann in der kirchlichen Malerei der Tradition, in den Skulpturen an alten Domen, nur ein kunstgeschichtliches Interesse hegen, nicht aber sich auf die religiöse Bedeutung einlassen, die hier zur Darstellung ge9 10 11 12
Gräb, Art. Ästhetik, 737. S.o. Abs. 3.1 Anm. 2. Korsch, Religion mit Stil, 45. H. Cohen, Religion der Vernunft, 432f. Vgl. zum Verhältnis von „religiösem Gehalt und ästhetischer Form“ auch: F. Rosenzweig, Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen. Martin Buber zum 8. Februar 1928, in: Ders., Kleinere Schriften, 167f.
Grundlegung: Das Verhältnis von Kunst und Religion
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kommen ist. Auch ist es möglich, die geistliche Musik des Barock, der Klassik und der Romantik nur unter ästhetischen Gesichtspunkten zu analysieren, ohne den symbolischen Gehalt ernst zu nehmen, der auf eine religiöse Deutung verweist.
4.2.2 Die Differenz im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) Um das Verhältnis von Kunst und Religion in der Moderne zu verstehen, muss ein Religionsbegriff vorausgesetzt werden, der die in Schleiermachers „Reden“ entwickelte Offenheit und Weite hat.13 Auch das ist eine spezifisch moderne Prägung. Religion hat dann zu tun mit den „Rändern“ der Bedeutung, die wir den Gegenständen des Bewusstseins verleihen, sofern hier „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ im Spiel ist. Damit ist schon die Subjektivität des Empfindens, Erlebens und Erfahrens angesprochen, die in „Anschauung und Gefühl“ ihr Metier hat. Schleiermachers weiter und offener Religionsbegriff erschließt einen Horizont, in dem alles Planen und Gestalten im alltäglichen Leben, aller Pragmatismus, alle begrenzte Sicht auf die Dinge in eigentümlicher Relativität erscheint. Denn während dem Gegenstandsbewusstsein das einzelne bedingt ist durch ein anderes, reicht die Dimension der Religion ins Unbedingte. Während die Dinge dieser Welt und auch das menschliche Leben endlich sind, ist die Dimension der Religion unendlich. Während das alltägliche Leben sich in Beschränkungen verfahren kann, erschließt die Religion Offenheit und Weite. Mit Schleiermacher lässt sich Religion verstehen als die Dimension, die das gewöhnliche Leben übersteigt, indem sie Transzendenz eröffnet. Kunst und Religion kommen in dieser Deutungsperspektive so weit überein, dass sie schwer nur zu unterscheiden sind. Doch auch Schleiermacher hat im Ausgang vom „Gefühl“ als „Einheit [des] menschlichen Wesens“ eine Unterscheidung vollzogen. Zwar intendiert auch die Kunst „die Zusammenstimmung des Verschiedenen im Hinblick auf die Einheit des Gefühls.“14 Das heißt: der Künstler ist nicht nur der Urheber seines Werkes, sondern die Kräfte, aus denen er sein Werk zu gestalten vermochte, liegen in ihm selbst. In seinem Gefühl ist die Idee zum Werk entstanden. Geleitet durch sein Gefühl hat er sie mit Hilfe gestalterischer Fähigkeiten zu einer Konzeption ausgearbeitet. Und dank der ihm zu Gebote stehenden Technik hat er die Konzeption umgesetzt, bis sein Werk fertig war. Hierzu waren freilich auch Fleiß, 13 Vgl. meine zusammenfassende Darstellung in: Dober, „Reflektierender Glaube”, 49–74. 14 Korsch, Religion mit Stil, 45.
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Durchhaltevermögen und Willenskraft erforderlich. Die Quelle seiner Schaffenskraft aber liegt in seinem Gefühl. Demgegenüber vermittelt Religion „aufgrund von gestalteten Darstellungen die Gewissheit, dass diese Einheit des Gefühls ihrerseits auf einem Grund aufruht, der mit der Gefühlseinheit nicht identisch ist.“ (45) Denn Schleiermachers Glaubenslehre zufolge beruht der Glaube als die subjektive Instanz religiöser Gewissheit auf einem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Der „Grund“, auf dem die subjektive Einheit des Gefühls aufruht, erschließt sich allerdings wiederum nur dem Gefühl. Doch in der nachträglichen Rekonstruktion stellt er sich als ein Anderes eben dieser subjektiven Gefühlseinheit dar. So begründet das religiöse Verhältnis eine Deutungsperspektive, die einen fundamentalen Unterschied zwischen Kunst und Religion auszumachen erlaubt, obwohl es in den Begriffen der Ästhetik entwickelt worden ist. Die Predigt als eine religiöse Rede wird auf diesen Unterschied zu beziehen sein.
4.2.3 Die Eigenart der Religion (Hermann Cohen) Anders stellen sich die Verhältnisse dar, wenn man mit Hermann Cohen „Anschauung“ und „Gefühl“ von vornherein als ästhetische Begriffe entwickelt und den Begriff der Religion davon unterscheidet. Um der Kunst als „Eigenart der Kultur“ im Denken zu entsprechen, bringt er im Rahmen seiner Ästhetik des reinen Gefühls die „Eigenart des ästhetischen Bewusstseins“ zur Erkenntnis. Für Cohen ist das auf dem Weg der Kunstwissenschaft nicht möglich. Denn die „Kunstgeschichte“ erklärt das einzelne Werk hinsichtlich der Epoche, in der es entstand, des Stils, der in ihm zum Ausdruck kommt, der verwendeten Formen und dargestellten Inhalte und der Kontexte, die es verständlich machen. Ihre Antworten bleiben auf das einzelne Werk bezogen. Demgegenüber vermag erst die Ästhetik auf das Problem der „Einheit der Kunst“ zu antworten. „Für diese allein und in ihr allein gibt es eine Kunst, die Kunst … Außerhalb der Ästhetik und scheinbar unabhängig von ihr gibt es nur Künste, kann es solche nur in ihrer Mannigfaltigkeit geben. Sobald das Problem der Einheit innerhalb der Kunstgattungen selbst entsteht, erwacht der ästhetische Gedanke“. Und der ist von der Philosophie „zu rechtfertigen“.15 Der „Wegweiser“ zur Erkenntnis der „Eigenart des ästhetischen Bewusstseins“ ist aber „das Gefühl“ (115). Mit dieser Bestimmung folgt Cohen Kant, der die Gefühle des Schönen und des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft analysiert, setzt sich aber mit ihm (wie Schleiermacher auf andere Weise) auch kritisch auseinander (22–24). Die Religion gewinnt Cohen zufolge ihre Eigenart 15 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 46.
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gegenüber der Ethik und der Ästhetik erst durch eine bestimmte Individualisierungsfunktion. Der Mensch ist noch nicht in vollem Sinne Individuum, wenn er sich als Teil dem Ganzen gegenüber begreift oder indem er sich auf den allgemeinen Anspruch der Ethik bezieht (in der Pflicht vor dem Sittengesetz etwa), sondern indem er als ganzer Mensch in Korrelation zu Gott tritt: „zu Gott“, nicht zu einer relativ unbestimmten „religiösen Unbedingtheit“. „Im Hinblick auf“ Gott,16 den Schöpfer und Offenbarer, und nicht in einer relativ unbestimmten Dimension des Unendlichen, gewinnt er sich selbst als ganzer Mensch, der erkennen will, der handeln muss und dessen Selbstverhältnis in einem tiefen eigenen „Lebensgefühl“ wurzelt. Davon handelt allerdings auch Cohen im Gebetskapitel des Spätwerks, wenn er schreibt: „Mein Gemüt erringt die Unschuld des Glaubens an den Gott der Güte.“17 Eine distinkte semantische Bestimmtheit zeichnet Cohens Religionstheorie im Unterschied zu der Schleiermachers aus. Und diese distinkte semantische Bestimmtheit konkretisiert sich in einer grammatischen Struktur, in der das menschliche „Ich“ zum göttlichen Gegenüber „Du“ zu sagen wagt. Das ist etwas anderes als sich in einer Dimension des Unendlichen zu finden, den bestirnten Himmel anschauend und hierbei Gefühle erlebend, und sei es das Gefühl, an ein „Unbedingtes“ zu rühren. Die Frage ist zudem, ob das Verhältnis Gottes zum Menschen schon zureichend bestimmt ist, wenn man es (mit Schleiermacher) als ein Grund-Verhältnis begreift. Theologisch gesprochen ist das in der Perspektive der Schöpfung gesagt. Das Andere, von dem der Mensch sich in einer religiösen Hinsicht abhängig fühlt, ist in letzter Instanz Gott als der Schöpfer der Welt und des Menschen, nicht aber die Welt mit ihren relativen Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn man die schöpfungstheologische Perspektive aber auf die offenbarungstheologische bezieht, gewinnt das religiöse Verhältnis andere Konturen. Gott ist dann nicht nur hinsichtlich seiner Schöpfung in der Vergangenheit „Grund“ der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen, sondern sein aktuelles Gegenüber. Die Gegenwart Gottes lässt sich nun denken als ein Korrelationsverhältnis, wie Cohen sagt. Weniger formal in biblischer Terminologie gesprochen ist er nun als Bundespartner des Menschen denkbar (so bei Rosenzweig und Karl Barth), und im Gebet kann der Mensch Gott ansprechen. In diesem erweiterten Verhältnis Gottes zum Menschen gewinnt dann auch die Sprache die Bedeutung, Medium für die Nähe und Ferne Gottes zu sein. So stellt sich das Gottesverhältnis im Modell von Frage und Antwort, Ruf und Verantwortung, Kerygma und Verkündigung dar (s. o. Abs. 2.3). Das Gefühl, an Unbedingtes zu rühren, und als endlicher Mensch in der 16 Cohen, Religion der Vernunft, 432. 17 Cohen, Religion der Vernunft, 440.
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Dimension des Unendlichen zu stehen, lässt sich in der Tat im ästhetischen Weltverhältnis erleben. Bilder Caspar David Friedrichs kann man so deuten. Und insofern gesteht Cohen der Kunst auch die Funktion der Wegbereitung für Erlebnisse und Erfahrungen zu, die der religiösen ähnlich sind, nicht aber mit ihr übereinstimmen. Denn die Ästhetik gehört wie die Ethik und die Logik zum Weltwissen der Philosophie. Die Religion aber findet nicht ursprünglich in diesem System der Wissenschaft ihren Platz, ist sie doch ein „Mischprodukt“, für das „das ästhetische Bewusstsein bestimmend“ ist.18 Cohen folgt Schleiermacher darin, dass er „das sogenannte religiöse Gefühl … [als ein] vorwiegend … ästhetisches“ versteht (183). Denn „die religiösen Inhalte [haben] selber schon die ästhetische Einkleidung erfahren, und werden nur in dieser fortgepflanzt“ (184). Deshalb ist der Begriff der Religion unter Voraussetzung des ästhetischen Verhältnisses noch nicht zureichend bestimmt. Ihre „Eigenart“19 gewinnt die Religion erst, wenn ihre spezifische Bedeutung und Funktion in den Blick getreten ist, eine Lücke füllen zu können, die von Logik, Ethik und Ästhetik gelassen worden ist: die Gewinnung einer unverwechselbaren Individualität des Menschen, der mit seinem Namen benannt ist. Der individuelle Mensch gewinnt sich als Einheit „im Hinblick auf“ den einen und einzigen Gott, und dieser Selbstgewinn ist Frucht der Korrelation zwischen beiden. Der Weg dorthin führt aber durch einen Bruch, durch die Erfahrung einer Differenz hindurch. Cohen scheut sich nicht, von der Sünde zu sprechen, die der Mensch vor Gott einsehen, bekennen, und aus der er umkehren muss in der Erfahrung einer Versöhnung, die er einzig von Gott erbitten kann. Es liegt auf der Hand, dass die Beschreibung solcher Erfahrung ganz nahe bei der elementaren reformatorischen Einsicht Martin Luthers liegt – Cohen war sich dessen bewusst. Deutlich genug sieht man auch, dass Cohen mit seinem Marburger Universitätskollegen, dem Systematischen Theologen Wilhelm Herrmann, „um die Selbstwerdung des Menschen“20 hat ringen können. Während also Schleiermacher Religion inhaltlich unbestimmt in formalster Allgemeinheit denkt und ihren Begriff aus der Struktur des Bewusstseins generiert – Gegenstände des Bewusstseins werden „angeschaut“21 und in der Anschauung des Universums erwacht das religiöse Bewusstsein –, hat Religion für Cohen erst einmal im System der Wissenschaft keinen Ort. Das System der Wissenschaft aber besteht aus Logik, Ethik und Ästhetik – die geplante Psy18 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 168. 19 Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, 16f, 106f u. ö. 20 P. Fischer-Appelt, Wilhelm Herrmann und Hermann Cohen. Der frühe Diskurs um die Selbstwerdung des Menschen. D. Korsch, Hermann Cohens Verständnis der Sünde vor dem Hintergrund der reformatorischen Tradition. 21 Vgl. dazu: D. Korsch, Dialektische Theologie, 279.
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chologie hat Cohen nicht mehr geschrieben. Erst nachträglich wird von ihm der „Begriff der Religion“ im Verhältnis zum „System der Philosophie“ gebildet – als ein Phänomen der Resonanz und als ein – in historischen Formen überlieferter – Deutungs- und praktischer Orientierungsrahmen. In ihm lassen sich erst die (für die Religion) spezifischen Erlebnisse und Erfahrungen machen, die sich einer Deutung im System der Philosophie bzw. der Wissenschaften verschließen. Unter diesen Bedingungen gewinnt die Religion in Theorie und Praxis ihre Selbständigkeit.
4.2.4 Ästhetisierung der Lebenswelt Weder Schleiermacher noch Cohen hatten allerdings das für die heutige Situation charakteristische Phänomen einer „Ästhetisierung der Lebenswelt“ schon vor Augen. Wie auch immer man es bewerten mag und welche Folgerungen man dann für die homiletische Theorie meint, ziehen zu müssen – es wird Gräb recht zu geben sein, dass „die Ästhetisierung der Lebenswelt … insgesamt eine Folge der Suche nach Sinn [ist], die wiederum aus einem Hunger nach Erfahrung resultiert. Gesucht wird die Erfahrung einer Lebensfülle, in der das eigene Selbst seine Verwirklichung finden kann.“22
Zwischen Suchen und Finden wird man aber unterscheiden müssen: nicht in der Analyse des verborgenen Bedürfnisprofils hinter dem Phänomen der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ liegt schon das Problem, sondern in der Frage, ob die Sehnsuchtsbilder der Werbung, die den Alltag begleitende Musik, das Unterhaltungsprogramm im Fernsehen, das Bedürfnis nach schönem Wohnen, modischer Kleidung, schicken Autos schon angemessene Antworten auf die zugrunde liegende Frage sind. Gräb ist sicher auch darin recht zu geben: die Mentalität der Gegenwart fordert, dass „das eigene Erleben gerade gesucht und der Sinn nur dort erkannt und angeeignet wird, wo er sich dem Subjekt im Erleben und dem eigenen, emphatischen Dabeisein auch selbst erschließt“ (741). Die Unbestimmtheit des Lebenssinns erfordert aber nähere Bestimmung, die sich für die jüdische und die christliche Religion (in reformatorischen Verständnis) eben über den Begriff der Individualität erschließt. Schleiermacher hat Individualität als Bildungsprozess verstanden – auch für ihn muss eine Bildung zum „ganzen ungeteilten Menschsein“ durch die Erfahrung der Differenz hindurch. Es scheint aber, als ließe sich eben diese Erfahrung im Prisma einer Rezeption Cohens prägnanter
22 Gräb, Art. Ästhetik, 737.
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und präziser noch beschreiben als auf einem Weg, der durch die Monologen Schleiermachers führt.23 Kehren wir zurück zur Bedeutung und Funktion der Ästhetik in der Moderne, wie sie sich dem Phänomen der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ ablesen lässt. Schon verwendete theoretische Zugänge sind hier noch einmal zu erinnern, weil sie unter dieser neuen Perspektive zu erkennen geben, dass die Fragestellungen vernetzt sind. So ist die vom Soziologen Gerhard Schulze konstatierte „Erlebnisorientierung“ der meisten Menschen in der (postmodernen) Konsumgesellschaft konnotiert mit einer „Ästhetisierung des Alltagslebens“. Die Art und Weise, wie diese Ästhetisierung stattfindet, ist allerdings abhängig von der subjektiven Wahl: der eine stattet sein Wohnzimmer mit Originalen zeitgenössischer Künstler aus, dem anderen reicht es, Kunstdrucke moderner Werke rahmen zu lassen, und wieder andere lassen es mit den Angeboten gut sein, die sich in Baumärkten, Einkaufszentren oder bei IKEA günstig erwerben lassen. Nicht nur der Geldbeutel spielt hierbei eine Rolle, sondern auch die unter der Frage nach der Angemessenheit der Predigt schon angesprochene „Segmentierung von Milieus“.24 Je nach Milieu wird die „Ästhetisierung des Alltagslebens“ unterschiedlich ausfallen, dass aber ein solches Bedürfnis nach Ästhetisierung besteht, lässt sich in den unterschiedlichsten Milieus bestätigen. Das Ästhetische ist ein Paradigma der Modernität, und der ästhetische Typus eine moderne Erscheinung. Für den Philosophen Alasdair MacIntyre ist der Ästhet neben dem Therapeuten, dem Manager und dem bürokratischen Fachmann einer der „grundlegenden Charaktere der modernen Gesellschaft“. Er verkörpert eine „emotivistische Art und Weise“ in seinem Verhalten.25 Die angesprochenen Phänomene sind zwar erst in den letzten Jahrzehnten für die aufmerksamen Beobachter auffällig geworden. Dass sie sich unter moderngesellschaftlichen Bedingungen derart haben entwickeln können, ist aber nicht nur soziologisch erklärbar, sondern trägt eine historische Signatur. Man kann die historischen Urphänomene dieser Entwicklung in der Romantik um 1800 finden. Und die praktisch-theologische Literatur des 19. Jahrhunderts bietet Zeugnisse dafür, dass ein ästhetisches Paradigma der Lebensdeutung als Konkurrenz zum religiösen wahrgenommen worden ist. Christian von Palmer etwa ist einer dieser Zeugen, der schon zitierte Ernst Christian Achelis ein anderer. Beide suchten sie mit ihren Theorien kirchlichen Handelns darauf zu reagieren.
23 Vgl. dazu U. Barth, Das Individualitätsprinzip der Monologen. 24 Grethlein, Praktische Theologie, 327. 25 MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 102f.
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4.3.1 Romantik und Deutscher Idealismus (zum „ältesten Systemprogramm“) Anhand einer von Franz Rosenzweig aufgefundenen Handschrift Hegels ist nun exemplarisch die Bedeutung der Ästhetik im Diskurs der Moderne aufzuzeigen. Rosenzweig hat diese Handschrift Das Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus genannt und Schelling als Autor vermutet.26 Im hier zu bearbeitenden Kontext spielt weniger die Frage nach dem System der Philosophie eine Rolle als vielmehr die andere, wie der Logos als Vernunft der Kunst bedarf, um sich – als Wort – verständlich zu machen. Das nämlich ist die Überzeugung, von der dieses Fragment ausgeht, und in der Hegel mit Schelling und Hölderlin übereinstimmte. Diese symphilosophierenden Kollegen des Tübinger Stifts nehmen hiermit einen Gedanken Schillers auf, der die Erziehung des Menschengeschlechts dem ästhetischen Vermögen aufgetragen hatte: eine an Kant gebildete Ethik und die Ästhetik müssten zusammenarbeiten, damit die Würde des Menschen nicht auf Kosten seiner Anmut gewahrt, der ethische Anspruch nicht auf Kosten der Natürlichkeit erhoben werde, sondern beide: eine die menschliche Kultur tragende Ethik und die Natur des Menschen eine Einheit bilden. Die „Idee der Schönheit“ nämlich, so heißt es in dem von Rosenzweig aufgefundenen Text, vereinige alle anderen Ideen,27 die Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit. Das „älteste Systemprogramm“ bezieht sich hier auf Kant. Und wenn es weiter heißt, das Wort „Schönheit“ sei „in höherem platonischen Sinne genommen“ (ebd.), dann kongruiert es mit dem Guten als höchster Idee. Was gut ist, muss m.a.W. auch schön sein, und was schön ist, gut. Es geht hier nicht darum, diese fragwürdige These zu problematisieren, sondern erst einmal nur zu zeigen, in welch hohes Ansehen die Ästhetik um 1800 gerückt ist.28 „Ich bin nun überzeugt“, heißt es weiter, „daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind – der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter.“ (233f; Hervorhebung im Original)
26 Zur Fragwürdigkeit „individualistischer Autorschaft“ vgl. W.Chr. Zimmerli, Systemzwang, 12. Zum Systemprogramm vgl. weiter : W. Schmidt-Biggemann, Rosenzweigs Konzept von System, 36–38. 27 F. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Ders., Kleinere Schriften, 233. Vgl. dazu auch: Korsch, Religion mit Stil, 51–53. „Das Tableau der Ideen ist … vollständig“ (52). 28 Vgl. Cohens kritische Auseinandersetzung mit Schelling (in: Ästhetik I [Werke 8], 9f; 125f).
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Ähnlich wie man in der homiletischen Theorie dogmatische oder exegetische Predigten kritisiert hat, weil sie die Menschen in den sie betreffenden Lebensfragen nicht ansprechen könnten, heißt es hier schon im Verhältnis von Philosophie und Ästhetik: „Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen, – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.“ (234)
Man wird diese Zeilen so verstehen dürfen, dass es des exemplarischen Bildes bedarf, um einen Gedanken für viele rezipierbar zu machen, des prägnanten Ausdrucks, um einen Gedanken im Gedächtnis zu behalten, des anschaulichen Zusammenhangs, um nachvollziehen zu können, was ein Lehrer, ein Redner, ein Prediger denn nun eigentlich gesagt hat. Nicht die bildende Kunst hat das „älteste Systemprogramm“ vor allem im Blick, sondern die Sprachkunst in ihrer (idealistisch verstanden) höchsten Form: der Poesie,29 und in ihrer ältesten: der Mythologie als Erzählung vom Ursprung, von der Herkunft, vom Anfang. „Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben. Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ists, was wir bedürfen.“ (234; Hervorhebung im Original)
Von der Philosophie wird hier das gefordert, was die Homiletik von der Mitteilung des Glaubens, von der „Kommunikation des Evangeliums“ verlangt: Begriffe auf Anschauungen zu beziehen und umgekehrt (s. o. Abs. 3.6.3). Der Sinn, den Menschen in ihrem Leben gefunden haben, braucht auch eine sinnliche Erscheinung. Nota bene ist es dieses Bedürfnis, das dann den Darstellungen der Kunst Wahrheit zuzuerkennen fordert (s. u. Abs. 5.1). Auch der zweite Teil des kantischen Diktums ist hier ernst genommen, dass nämlich auch Anschauungen ohne Begriffe blind seien, wird doch die gerechtfertigte „Einbildungskraft“ auch wieder auf Vernunft und Verstand zurückbezogen.30 Die leitenden Begriffe sind hier (1.) der Monotheismus der Vernunft. Zwar 29 So auch Schleiermacher (vgl. Korsch, Stil, 46) und Cohen (nach Poma, Yearning For Form, 90). 30 Kant kann überhaupt als ein Wegbereiter des Systemprogramms in Anspruch genommen werden, hat er doch in seiner Anthropologie anlässlich „der ästhetischen Behandlung“ darauf hingewiesen, dass „deren erste Forderung Popularität“ sei (Kant, Anthropologie, 37).
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gibt es unterschiedliche Aspekte – und also auch unterschiedliche Begriffe von Rationalität. Herbert Schnädelbach unterscheidet die „vielen Rationalitäten“ von der „einen Vernunft“.31 Die unterschiedlichen Begriffe, dass die Sprache schon Vernunft habe – und nicht erst die mathematische oder logische Form, dass es eine Rationalität im Verfahren, in der Verständigung gebe – und nicht nur in Berechnungen („Tabellen und Registern“), dass zum Verstehen Vernunft gehöre, und sie also auch ein hermeneutisches Vermögen sei, und schließlich dass es einen theoretischen und einen praktischen Zweig der Vernunft gibt: diese unterschiedlichen Begriffe sprechen nicht gegen die Einheit der Vernunft. Dass sie in der Vielfalt ihres Gebrauchs eine sei – darauf will die Formel vom „Monotheismus der Vernunft“ hinaus.32 Hier geht es um allgemeine Gültigkeit und objektive Strukturen (die Geltungsansprüchen genügen). Beim Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst aber – d.i. ein 2. leitender Begriff – geht es um die Subjektivität des Gefühls, der Wünsche, der Träume, der Vorstellungen, die dann erst (in einem zweiten Schritt) objektive Gestalten suchen. Und insofern diese objektiven Gestalten bestimmten Idealen entsprechen, einzelnen Sternen am Ideenhimmel gewissermaßen, macht die Rede vom „Polytheismus“ auch Sinn. In diesem Fragment ist auf engstem Raum gedanklich zusammengehalten, was in der gegenwärtigen Diskussion weit auseinander gedriftet ist: die Frage, wie der Logos als Vernunft mit dem Logos als Wort in Übereinstimmung bleiben kann, wenn die Poesie oder die Mythologie (als zwei Gattungen des „Wortes“) als Darstellungsweisen der wahren Ideen gefordert werden, wenn m.a.W. die Kunst in ihrer Bildungsfunktion für die Wahrheit des Individuums unverzichtbar erscheint. Dieser Zusammenhalt ist in einem bisher abgeschatteten Aspekt eigens fokussiert. Nicht nur wurde zu Beginn ein Monotheismus der Vernunft, sondern auch „des Herzens“ angesprochen – d.i. ein 3. leitender Begriff. Die Einheit der Vernunft ist somit verwiesen auf die Einheit des Menschenherzens, oder der Person, die denkt, handelt, fühlt – der „ganze Mensch“ ist hier gemeint. Auf ihn muss die Übereinstimmung des Logos als Vernunft mit dem Logos als Wort bezogen bleiben. Benannt wird diese Übereinstimmung, in der die Kunst ihre Bildungsfunktion ausübt, nun noch einmal in dem folgenden Satz: „Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssten eine neue Mythologie haben, diese Mythologie muss im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.“ (234)
31 Schnädelbach, Vernunft, 120–141. 32 Cohen hat diese Formel auf seine Weise im Spätwerk mit reichem Inhalt gefüllt.
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Vor allem dieser Formel verdankt das „älteste Systemprogramm“ seine Berühmtheit. „Ehe wir die Ideen ästhetisch und d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.“ (234)
Eine romantische Vision von der Einheit der Menschheit ist das. Vereint sind – so könnte man im homiletischen Kontext sagen – die Gebildeten und die weniger Gebildeten, die Älteren und die Jüngeren, vereint sind die unterschiedlichsten Milieus. Und diese Einheit soll von der Ästhetik vollbracht werden. Ihr wird die praktische Funktion zugetraut, auf die auch schon die Philosophie dem „ältesten Systemprogramm“ zufolge nach Kant hinaus laufe. Auf „profane Erleuchtung“ komme es an33, um zur rechten Zeit das Richtige zu tun, um der Situation angemessen zu handeln, ja um – d.i. prinzipieller noch gesagt – nicht der Versuchung des Wissens zu verfallen, welche Emmanuel L|vinas anhand einer Talmudstelle so beschrieb: Man nimmt dann einen theoretischen Standpunkt ein, um das Geschehen zugleich beobachten und sich aus ihm heraushalten zu können.34 Eine vollendete Praxis müsste die Frage nach dem richtigen Leben auf die wirkliche Situation ebenso beziehen wie auf die Technik, mit der sich zu befassen den Anfang des Philosophierens ausmache. Das aber traut dieses Textfragment – wie gesagt – eben der Kunst zu. Die jedoch ist nicht auf die Einheit der Vernunft bezogen, sondern auf den Polytheismus der Einbildungskraft, und d. h. auf eine Pluralität der Darstellungsmöglichkeiten, die sich aus der Subjektivität und Individualität des einzelnen Standpunkts ergibt. Diese Pluralität wird heute weniger im philosophischen Gedanken, als vielmehr auf den weiten Feldern, ja Spielwiesen der Ästhetik eingeholt. Die Verknüpfung der Sinnlichkeit und des Sinns in Roman und Drama, Gedicht und Film entspricht erst dem Anspruch, „die Idee ästhetisch“ zu machen,35 damit „das Volk vernünftig“, und die Philosophen sinnlich werden. Der Zusammenhang bzw. „das System“, das hier gefordert wird, bezieht Anschauung und Vorstellung auf den Begriff (und umgekehrt), das Bild auf den Gedanken (und umgekehrt), die Idee auf die Wirklichkeit (und umgekehrt). Möglich scheint das dem Programm zufolge in einer „neuen Mythologie“. 33 So lautet ein Terminus W. Benjamins, der ohne Schwierigkeit auf den jüdischen Religionsphilosophen Maimonides bezogen werden kann (vgl. Warren Zev Harvey, Maimonides’ Guide: A System-lovers’s Critique of Systematic Philosophizing, bes. 196). 34 L|vinas, Vier Talmud-Lesungen, 64–69. 35 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 234.
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Wie aber soll eine solche „im Dienste der Ideen stehen“ und „eine Mythologie der Vernunft werden“ können?36 Ein Blick in die Geschichte deutet schon auf das Problem hin. So hat etwa einer der Romantiker selbst, Novalis, sich nicht mit der trockenen und spröden Sprachlichkeit im Protestantismus zufrieden geben wollen – er entdeckte für sich die bunte Bildlichkeit des Katholizismus und redete ihr das Wort. So haben Wackenroder und Tieck in ihren Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders die aus Gefühl und subjektivem Erleben hervorgegangenen Werke der bildenden Kunst neu entdeckt und auf ihre Weise den „Polytheismus der Einbildungskraft“ gelobt. So hat später im 19. Jahrhundert Richard Wagner im Rückbezug auf die deutsche Mythologie ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das die verlorene Totalität der Erfahrung in einer „Kunst-Religion“ wieder herzustellen suchte. Nietzsche hat sich eine Zeit lang dafür begeistern können, erkannte aber in diesen kunstreligiösen Bestrebungen später nur die von ihm bekämpfte „Dekadenz“ seines Zeitalters in einer höheren Potenz.37
4.3.2 Unbestimmtheit und Fragmentarität Auch das gegenwärtige Zeitalter noch tut sich schwer, all die erneut auftretenden Mythologien mit dem Anspruch der Vernunft zureichend zu vermitteln. Für die Homiletik lässt sich die Frage zuspitzen: Wie sind all die Erscheinungsweisen des Wortes, die in die heutige Gottesdienstgestaltung zu integrieren gefordert wird, und nicht nur des Wortes, sondern auch des Bildes und des Tons, in Übereinstimmung zu bringen mit dem Logos als Vernunft? Vielleicht muss man auf die Offenheit von Verweisstrukturen zurückgehen, in der Gottesdienste heute zu gestalten sind – auch die Predigt muss sich dann in diese offene Verweisstruktur fügen. Es käme dann auf die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, kombinatorische Verbindungen und „feine Übergänge“ (Andreas B. Kilcher) an. Hierfür ist in der Tat weniger die Formstrenge der Logik, als vielmehr die offene Struktur ästhetischer Werke exemplarisch (die dann ihrerseits durchaus formenstreng sein kann). 36 Ebd. 37 Vgl. Dober, „Reflektierender Glaube“, 125–137. Es ist bedenkenswert, wie Heine das Phänomen der frühen Romantik in Deutschland gedeutet hat: „Das Gefühl, das sie für Heimweh nach der katholischen Mutterkirche hielten, war tieferen Ursprungs als sie selbst ahnten, und ihre Verehrung und Vorliebe für die Ueberlieferungen des Mittelalters, für dessen Volksglauben, Teufelthum, Zauberwesen, Hexerei … alles Das war eine bei ihnen plötzlich erwachte, aber unbegriffene Zurückneigung nach dem Pantheismus der alten Germanen, und in der schnöde beschmutzten und boshaft verstümmelten Gestalt liebten sie eigentlich nur die vorchristliche Religion ihrer Väter“ (Heine, Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 120).
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Sie wird historisch zuerst anhand solcher Werke aus der romantischen Epoche zu verifizieren sein, die „die ästhetische Sphäre als einen freiheitlichen Experimentierraum mit dem letztlich Unverstandenen“38 aufgefasst haben. Die als bedrohlich empfundene Unbestimmtheit wurde hier als eine Chance zum Neuverstehen begriffen. Exemplarisch hierfür ist etwa Friedrich Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit, in dem es heißt: „Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“39
Beginnend mit der Romantik sind in den Werken der Kunst die Differenzverhältnisse zur Darstellung gebracht worden, auf die – in anderer Perspektive – rhetorisch eine Antwort gesucht werden konnte. Wie gesehen (s. o. Abs. 3.3) liefert „das Rhetorische“ als lebensweltliche Bestimmtheit der Rhetorik ein Modell, unter dem auch die Leistungen der modernen Kunst beschrieben werden können. Zudem: Seit die Unfähigkeit eingestanden werden musste, das Ganze als das Wahre zu erkennen, ist nicht nur mit den unscharfen Rändern an den Grenzen dessen, was wir verstehen und bestimmen können, umzugehen, sondern auch einzugestehen, dass die Form des Werkes Fragment wird sein müssen. Fragmentarisch ist das Werk mit Blick auf das Ganze des Wissens oder Darstellbaren. Fragmentarisch ist es aber auch hinsichtlich der Produktion, zu der ein Künstler (oder ein Wissenschaftler) zum Zeitpunkt der Veröffentlichung fähig gewesen ist.40 Auch diese Einsichten sind mit F. Schlegel einschlägig zu belegen, hat er doch seinen theoretischen Reflexionen den Titel der ,Athenäums‘-Fragmente gegeben. Die historische Signatur der Fragmentform ist etwa in folgender Notiz zum Ausdruck gebracht: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung“ (79). Oder die historische Signatur des Fragmentarischen zeigt sich hinsichtlich der an Kommunikation gebundenen Darstellungsform. Dann nämlich lässt sich sagen: „Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten …“ (85). Auch der „komische Witz“, auf den Schlegel immer wieder zu sprechen kommt, ist seiner Form nach ein auf eine bestimmte Situation bezogenes Fragment. Insgesamt aber ist, so hat Walter Benjamin Schlegel in seiner Dissertation interpretiert, das Fragment eine genuine Denkform41 – nicht nur „eine litera38 Benjamin Dober, Offenlegung und Lebenskunstsinn – Zur Ironie bei Friedrich Schlegel und E.T.A. Hoffmann, ms. Manuskript S. 14. 39 F. Schlegel, Über die Unverständlichkeit, 370. 40 Schlegel, Kritische und theoretische Schriften, 109. 41 Benjamin, GS I/1, 115.
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rische Gattung, eine unvollendete Werkform oder eine rezeptionsgeschichtliche Situation“.42 Schlegels „kombinatorischem Geist“ zufolge gibt es „kein Fragment allein“. Es wird „erst mit dem Anderen zu dem …, was es selbst ist“ (212). Eben dieser Gedanke ist für die Homiletik fruchtbar zu machen, wobei an Henning Luther angeknüpft werden kann. Ihm zufolge vermittelt die Predigt „nur als Fragment … eine Ahnung von jenem Sinnganzen, das verschwiegen wird, wenn die einzelne Predigt sich selbst als dieses endgültige Sinnganze präsentieren würde.“43 Ihren fragmentarischen Charakter gewinnt die Predigt aufgrund ihres Situationsbezuges – sie ist eine auf den Zeitpunkt ihres „Haltens“ bezogene Rede – und weil sie in dieser Eigenart nur „zeitgebunden, zeitgenährt“ (Rosenzweig) der auf Dauer gestellten Aufgabe des Übersetzens entsprechen kann. Diese Bestimmung allerdings ist nicht auf eine beliebige Weise unbestimmt, sondern in einer geschichtsphilosophischen oder – theologisch gesprochen: eschatologischen – Perspektive klar und distinkt. Was wir jetzt erkennen und zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen können, ist nur „Stückwerk“ (1 Kor 13, 9). Es mit „Unbestimmtheiten“ und zuweilen auch mit „Unverständlichkeiten“ zu tun zu haben, muss dem Wahrheitsanspruch nicht widersprechen, den zu vertreten keiner Predigt wird abgesprochen werden dürfen. Das ist kein Freibrief, es mit der dispositio und der elocutio in der Ausarbeitung der Rede nicht so ernst nehmen zu müssen. „Unbestimmtheit“ und „Unverständlichkeit“ sind keine produktionsästhetisch leitenden Termini, sondern betreffen die unscharfen Ränder menschlicher Erfahrung. Von ihr Rechenschaft geben zu wollen bedeutet für die Wahrheit, dass sie vom Menschen immer gesucht werden muss.44 Und was er dann findet, um es mit seinem Wahrheitsanspruch zu vertreten, wird Wahrheit in einer bestimmten Perspektive bleiben, gewonnen von seinem existentiellen und historischen Standpunkt aus. Anderen wird er sich verständlich machen müssen, solange er im Differenzverhältnis der Sprache lebt. Schließlich besteht auch zu den Herausforderungen an die Gestaltung kein Widerspruch, ist doch auch ein Fragment als ein klar umgrenztes Ganzes zu sehen, das aus verschiedenen Teilen konzipiert und komponiert wird: „Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel“.45 Letztgenannte Metapher Schlegels wird allerdings für die Homiletik nur eine begrenzte Tauglichkeit beanspruchen können, kann doch die auf „Kommunikation des Evangeliums“ ausgerichtete Predigt sich nicht in ihrer inneren Einheit und Abge42 Jacobi, Vom System zum Fragment, 210. 43 H. Luther, Identität und Fragment, bes. 180–182, hier : 181. Vgl. Dober, Flanerie, Sammlung, Spiel. 44 Vgl. Cohen, Ethik, 91.97; Logik1, 260. 45 Schlegel, Kritische und theoretische Schriften, 99.
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schlossenheit genügen – und sich hierbei wie ein Igel mit seinen Stacheln gegen die Außenwelt schützen – wollen. Mit Marc de Launay zu sprechen, denunzieren Kunstwerke die Unabgeschlossenheit der Aufgabe, die erfüllt zu haben zur Abgeschlossenheit eines Werkes führt. Von der nicht abschließbaren Aufgabe her gedacht denunziert dann wiederum die Rezeption eines Werkes dessen Abgeschlossenheit. In diesem für das geschichtliche Schaffen des Menschen charakteristischen Spannungsfeld von Abgeschlossenheit und Unabgeschlossenheit kann man Kunstwerke als „ein Spiel der Ironie“ betrachten, „die die These der Ontologie denunziert“.46 Auch diese Perspektive ist, wie man leicht sehen kann, eine Erbschaft der Romantik. Nota bene trägt sie einen anderen Akzent als Heideggers These von der „eigentümlichen Schwebe … von Verbergen und Entbergen“, in der die Wahrheit eines Kunstwerks sich als Schönheit zeigt.47 Näher ist sie der „Dialektik von Präsentation und Entzug im Verfolg ästhetischer Wahrnehmung“, wie sie für Benjamins messianische Ästhetik kennzeichnend ist, deren Grundzüge im Anschluss an romantische Weichenstellungen entwickelt worden sind.48
4.3.3 Die in der Kirche heimischen Künste (Franz Rosenzweig) Rosenzweig hat mit seinem „neuen Denken“ auch an die Problemstellungen angeschlossen, die die Romantik aufgeworfen hatte. Sein Verständnis von Erfahrung geht davon aus, dass man nur auf individuelle Weise Erfahrungen machen kann – als einzelner, unverwechselbarer Mensch, der sich selbst nie ganz wird begreifen und das über sich selbst Begriffene nie ganz wird „aussagen“ können. Im Individuellen bleibt ein Rest, der sich dem sprachlichen wie dem denkenden Zugriff verschließt. Das ist der Sinn der Formel, die Rosenzweig dem Deutschen Idealismus entgegenhält: individuum ineffabile triumphans.49 Ineffabilität – d. h. es gibt keine völlige Aussagbarkeit, hier des Menschen als eines Individuums, dessen Bestimmung sich nicht im Gegenüber zum Allgemeinen erschöpft, der mehr ist als ein Teil: Selbst, wie Rosenzweig sagt.50 Nur auf individuelle Weise Erfahrungen machen zu können, heißt aber aus 46 Redebeitrag von M. de Launay im Anschluss an seinen Vortrag in Turin, 11.10.13. Ders., Kontemplation im Bild reflektiert, in: Krijnen u. a. [Hg.], Kulturphilosophie, 207–224. 47 Vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, 63 mit Bezug auf M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, 93. 48 Grözinger, Praktische Theologie, 150. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 210–267, 270–278. 49 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 359 [„Urzelle“ des Stern der Erlösung. Brief an R. Ehrenberg vom 18. 11. 1917]. 50 Der Begriff des menschlichen Selbst wird in Der Stern der Erlösung I, 3 entfaltet.
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der Perspektive des Systems, und d. h. des Anspruchs, das einzelne mit anderem einzelnen in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen, dass hier ein anarchisches Moment vorliegt. Rosenzweig hat zwar das alles in sich einbegreifende idealistische System der Kritik unterworfen, wie es in der Philosophie Hegels vorliegt.51 Vom Systemanspruch überhaupt aber hat er nicht Abschied genommen. Im Stern der Erlösung (1921) wird vielmehr „die unverstellte Faktizität des Anarchischen … so gedacht und bedacht …, dass daraus eine tragfähige Wegleitung für das menschliche Leben hervorgeht“.52 Dieser Anspruch wird im 3. Teil seines Hauptwerkes auf eine religionsphilosophische Orientierung hin zugespitzt. Hier hat Rosenzweig bekanntlich Judentum und Christentum als zwei Gestalten positiver Religion beschrieben, die unterschiedliche Wege zur einen Wahrheit beschreiten. Dem Judentum als „ewigem Feuer“ entspricht in dieser Darstellung das Christentum als „ewiger Weg“ durch die Zeit, durch die Geschichte. Uns kann hier nur die Frage interessieren, welche Rolle die Ästhetik hierbei immer schon gespielt hat und bis heute spielt. Es ist sicher kein Zufall, dass Rosenzweig diese Fragen im Zuge seiner Darstellung des Kirchenjahrs, des kirchlichen Lebens behandelt. Denn das Christentum breitet sich aufgrund seines missionarischen Charakters in die Welt aus. Um sich in sie zu inkulturieren, bedurfte es von allem Anfang an der Medien der Kunst.53 Die Forderung des Ältesten Systemprogramms, dass die Poesie Lehrerin der Menschheit, dass der Sinn sinnlich gemacht werde und dass die Kunst eine allgemeine Bildungsfunktion übernimmt, sieht Rosenzeig in der Geschichte des Christentums verwirklicht. Auch das Judentum bediente sich freilich ästhetischer Formen, erforderte doch auch hier die Deutung des religiösen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott eine angemessene Darstellung, um kommuniziert werden zu können. Doch hier vertraute man in stärkerem Maße auf die Sinnlichkeit der Stimme und des Ohres, während man die des Auges auf das Lesen von Schriftzeichen zu kon51 Vgl. Dober, Die Zeit ernst nehmen, 34–47. Treffend hat R. Wiehl die Unterschiede des Hegelschen und des Rosenzweigschen Denkens anhand des Erfahrungsbegriffs herausgearbeitet: Ders., Die Erfahrung im neuen Denken Franz Rosenzweigs. 52 H. Wiedebach, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Denkfigur, 7. 53 In einer systematischen Hinsicht sind die ästhetischen Erörterungen auf verschiedene Teile des Stern verteilt: Die Ästhetik als „Systemteil“ im klassischen Sinn findet sich „in allen Büchern des ersten und zweiten und im zweiten Buch des dritten Bandes“ (Rosenzweig, Kleinere Schriften, 376 [Das neue Denken]). Letztgenannte Stelle ist der Ort, an dem das Christentum dargestellt wird. Die Voraussetzung dafür ist die „negative“ oder erfahrende (die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gebende) und die „positive“ oder erzählende (von der Erfahrung der Offenbarung Rechenschaft gebende) Philosophie – um mit den Termini Schellings zu sprechen, die Rosenzweig übernimmt. Vgl. neuerdings dazu: W. Schmidt-Biggemann, Rosenzweigs Konzept von System.
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zentrieren suchte. Die Sinnlichkeit diente einer Erkenntnis des Sinns, und dieser Sinn suchte die – primär auf das Wort bezogenen – monotheistischen Ansprüche der Vernunft gegen den Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst – einschließlich der Bilder – zu sichern (s. o. Abs. 4.3.1). Diese strikte Beschränkung beruhte biblisch auf dem Bilderverbot des Dekaloges, das über die prophetische Kritik der Götzenbilder hinaus seine legitimierende Kraft behauptete. Von allem Anfang an hat das Christentum – aus eben genannten Gründen – diese strikte Beschränkung aufgehoben. Wilhelm Gräb bestätigt das für die Gegenwart, wenn er schreibt: „Der christliche Glaube braucht Bilder … Auch der am Wort hängende Glaube lebt und leibt in Bildern, den inneren Bildern, die zugleich immer schon mitgeformt sind durch die äußeren Bilder, die an uns herankommen. Der Glaube lebt damit auch durch die Bilder der Kunst.“54
Es verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung, dass Schleiermacher in der Glaubenslehre bemüht ist, das Christentum von der „ästhetischen Frömmigkeit“ zu unterscheiden (GL §9).55 In den Reden hatte er die Religion überhaupt als „Anschauung und Gefühl des Universums“ bestimmt und diese Bestimmung durch die andere spezifiziert, Religion sei „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Religion und Ästhetik waren hier eine Verbindung eingegangen, die die Differenz zwischen beiden verdeckte. Später schlägt er nun aber die „ästhetische Frömmigkeit“ der „hellenistischen Vielgötterei“ zu. Das sei ein „Charakter“, dem das Christentum „auf das schärfste“ entgegengetreten sei (62). Hierbei sei die Idee des Reiches Gottes (63) leitend gewesen. Dieses Reich könne sich nicht in der Darstellung „verschiedener Verhältnisse in den Tätigkeiten der menschlichen Seele“, vergegenständlicht in Göttern, erschöpfen. Der christliche Monotheismus behauptet sich hier gegen die Tendenzen einer ästhetischen Frömmigkeit zum Polytheismus in Gestalt einer „teleologischen Frömmigkeit“ (61). Denn das Reich Gottes ist zwar einem neutestamentlichen Wort zufolge schon „mitten unter euch“, steht aber zugleich noch aus. Deshalb besteht für die christliche Frömmigkeit auch die Herausforderung, „das Reich zu erbeten“. Mit dieser „Möglichkeit“ eröffnet Rosenzweig eben den dritten Teil seines Hauptwerkes, in dem er die – im Universalismus der Propheten wurzelnden – messianischen Hoffnungen des Judentums auf die Reich-Gottes-Hoffnung des Christentums bezieht.56 Damit hat er – Schleiermachers Typologie der Religionen variierend – die „teleologische Frömmigkeit“ auch für das Judentum in Anspruch genommen. Doch dieses kann die – etwa im Prophetismus angelegten 54 Gräb, Art. Ästhetik, 743. 55 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 59–64. Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk. 56 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 295 [Teil III, Einleitung]
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Momente eigener Religiosität – nur in Korrelation zum Christentum realisieren, eben indem die Theorie der zwei Wege zur einen Wahrheit anerkannt wird. Damit geht Rosenzweig weit über Schleiermacher hinaus, der das Judentum als die monotheistische Religion eingeordnet hatte, die „unter dem Gebot des Sollens“ steht, das Christentum aber als solche, „bei der das Sollen sich in ein sittlich verantwortetes und gestaltetes Sein übersetzt hat“ – als ob es das im Judentum nicht auch gäbe. Die spezifische Eigenart des Christentums läuft aber – darauf deutet schon sein Name hin – auf die Bedeutung der „empirischen Einzelheit Jesu“ als „Erscheinungsgestalt“ der „Präsenz des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ hinaus. Und eben diese Erscheinungsgestalt steht in Analogie „zur Einheit des Werkes in der Kunst.“57 Aufgrund seiner „teleologischen Frömmigkeit“ ist das Christentum auch bei Rosenzweig von der „ästhetischen Frömmigkeit“ der „hellenischen Vielgötterei“ unterschieden, doch aufgrund der christologischen Bedeutung Jesu hat es die Kunst in viel stärkerem Maße als das Judentum in die teleologische Frömmigkeit integriert. Denn mit Christus ist ein „Bild“ Gottes (vgl. Röm 5,14; 2 Kor 3,18) gegeben, auf das der christliche Glaube gar nicht verzichten kann. Rosenzweig hat dem in seiner Darstellung der Ästhetik des Christentums Rechnung getragen. Um auf dem Weg durch die Zeit innehalten und sich der eigenen Sendung bewusst zu bleiben, braucht es gewissermaßen Sammelpunkte in Raum und Zeit. Ohne sie wäre eine Orientierung auf diesem Weg kaum möglich – es braucht die Vergewisserung der Herkunft, damit Zukunft möglich bleibt.58 Es bedarf der Einigung unterschiedlichster Teilnehmer auf eine Richtung, die nicht im subjektiven Belieben allein ihren Grund haben kann, sondern im christlichen Glauben haben muss. Es braucht zuerst und vor allem Räume, in denen die Gemeinde sich versammeln kann. Rosenzweigs „Soziologie der bildenden Künste“ beginnt mit dem Kirchenbau.59 Nicht geht es ihm um die Epochen der Kirchengeschichte, die in der romanischen, der gotischen, der klassischen, der modernen Baukunst ihren Niederschlag gefunden haben. Vielmehr geht es ihm um die Frage, wie die idealisierende Kunst in der Kirche ihren verlorenen Bezug zur Wirklichkeit wieder gewonnen hat, wie das „zur Einsamkeit verurteilte“ Kunstwerk im Kirchenraum zu anderen in eine Konstellation tritt, wie die „Flucht“ ins „Traumland der Eigensucht“, zu der die idealisierende Kunst immer schon angeleitet hat, nun abgeschnitten wird (394). „Erst indem die Werke aus dem magischen Bannkreis ihres idealen Raums
57 Korsch, Religion mit Stil, 47f. mit Bezug auf den §9 der Glaubenslehre. 58 Vgl. O. Marquardt, Zukunft braucht Herkunft. 59 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 393–397 (zit. nach der 1988 bei Suhrkamp in Frankfurt a.M. erschienenen Ausgabe. Sie ist seitenidentisch mit der 1976 bei Haag erschienenen Ausgabe im Rahmen der Gesammelten Schriften Bd. II).
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heraus und in einen wirklichen Raum hineingestellt werden, erst damit werden sie selber vollwirklich und hören auf, bloß Kunst zu sein.“ (394) Rosenzweig hat das zu einer Zeit geschrieben, zu der es das Gesamtkunstwerk Wagners schon gab, aber bevor die moderne Kunst ihrerseits sich anschickte, ihren „Idealismus“ abzustreifen, die Phänomene so zu zeigen, wie sie sich dem Betrachter zeigen (Impressionismus) oder wie sie als Phänomene Allgemeinmenschliches zum Ausdruck geben (Expressionismus), lange bevor sie readymades in Gestalt von Alltags- und Gebrauchsgegenständen ästhetisierte oder durch Provokationen anderer Art wachzurütteln suchte. Rosenzweig erblickt in der Kirche einen „vollwirklichen“ Raum insofern, als er die Gemeinschaft der Menschen ermöglichen will – tendenziell aller Menschen. Die Kirche nimmt die Wirklichkeit in Beziehung und Gemeinsamkeit vorweg. Dem entspricht es, dass die von der Kirche freigegebenen biblischen Motive in der Regel den Menschen in seiner Sozialität zeigen, sei es in der Geburtsszene, in der Mutter-Kind-Beziehung, in der Gruppe von Jüngern bzw. Schülern, Aposteln bzw. Lehrern, von Mann und Frau im Garten Eden und in der Entfremdung. Dieser Ikonographie der Sozialität entspricht der Raum überhaupt als eine der Bedingungen ihrer Möglichkeit neben der Gegenwart als Zeitmodus. Alle anderen Räume in „Wohn-, Geschäfts-, Amtsgebäuden“ (395) sind einzelnen Zwecken gewidmet. „Nirgends weilt … der Mensch bloß, um in einem Raum gemeinsam mit andern zu weilen. Solcher Raum schlechthin ist ihm nur das Gotteshaus, das einzige unter allen mit überall gleicher, fester Orientierung und mit ganz notwendiger Einräumigkeit.“ (395) „An der Wirklichkeit des architektonischen Raums“ nehmen nun auch die anderen Künste teil – die Fresken und die Bilder, die Glasfenster und die verzierten kultischen Gegenstände. Zur Architektur und zum sakralen Raum, der die Werke bildender Kunst vereinigt, tritt die „Soziologie der tönenden Künste“ hinzu (399–403). Die Kirchenmusik ist die Kunst, die die in den kirchlichen Räumen versammelte Gemeinde in ihrem Zeitbewusstsein zu sammeln vermag. „Durch die Öffnung des Augenblicks“ bricht „der Strahl der Zeit in das breite Becken des geschaffenen Raums, und die Musik ist die Kunst, die aus dem Augenblick eine Zeit hervorspinnt. Jedes Musikwerk erzeugt seine eigene Zeit. Der Wirklichkeit des inneren Lebens gegenüber ist es eine ideale Zeit“ (400). Rosenzweig geht um 1920 davon aus, dass schon längst die Musik aus den Kirchen in die „Museen und Konzertsäle“ ausgewandert ist. Hinsichtlich der Idealisierung der Zeit besteht hier kein Unterschied, wohl aber kommt es ihm darauf an zu zeigen, wie die Verleugnung der wirklichen (400) kontrolliert und in Schach gehalten werden kann. „Für ihre Verehrer“, so Rosenzweig, wird die Musik „zur Flucht aus den Aufregungen oder je nachdem auch der lähmenden Langeweile ihres wirklichen Lebens“ (400).
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„Das Musikwerk … [trägt] seinen Hörer … bei wachem Leibe hinüber zu den Träumenden, von denen es heißt, dass sie ein jeder seine eigene Welt haben … Das Freventliche an der Musik sind die idealen Zeiten, mit denen sie die wirkliche Zeit zersetzt“ (400f).
Dieser Gefahr könnte der musikalische Mensch erst widerstehen, wenn er sich aus dem Jenseits der Traumwelt wieder ins „Diesseits der Zeit“ führen, wenn er „ihre ideale Zeit eingliedern [lassen würde] in die wirkliche.“ Eben das aber geschieht in der Kirche, weil ihre Existenz in der Welt gebunden ist an den archimedischen Fixpunkt der Erfahrung, den der zweite Teil des „Stern“ mit der „Offenbarung“ beschrieben hatte. Das ist – neben der Schöpfung und der Erlösung – der theologische Terminus, mit dem Rosenzweig seinen Begriff der Erfahrung präzisiert. „Alles, was wir erfahren“, heißt es in den Nachträglichen Bemerkungen zum ,Stern der Erlösung‘ (1925), „sind Erfahrungen solcher Brückenschläge“ zwischen Mensch und Mensch, Ich und Du, zwischen Mensch und Welt, Ich und Es, und schließlich zwischen Mensch und Gott. „Gott selber“, so Rosenzweig, „verbirgt sich“, wenn wir ihn begreifen wollen, „der Mensch, unser Selbst, verschließt sich, die Welt wird zum sichtbaren Rätsel. Nur in ihren Beziehungen, nur in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung tuen sie sich auf.“60 Indem Gott, Welt und Mensch in Beziehung zueinander treten, wird Wirklichkeit konstituiert. Die Erfahrung der Wirklichkeit besteht in „Brückenschlägen“ zwischen ihren Elementen. Und die so verstandene Erfahrung ist durch Singularität, Mehrdimensionalität und Offenheit bestimmt.61 Die Kirche ist nach Rosenzweig unterbestimmt, wenn man sie der soziologischen Theorie in der Schule Max Webers zufolge als eine „Gegenwelt“ neben den anderen versteht: der Welt der Politik, der Wirtschaft oder der Kunst – mit denen sie freilich vieles verbindet. Die Kirche ist vielmehr der Ort in der Welt, an dem die Erfahrung der Wirklichkeit auf eine Weise eingeübt werden kann wie sonst nirgends (außer in der Synagoge, doch hier sind die Eintrittsbedingungen für Nicht-Juden hoch). Zu voller Wirklichkeit kommt die Erfahrung aber erst, wenn sie ihre drei Elemente einbezieht: das eigene Menschliche, die Welt und Gott. Und diese Erfahrung der Wirklichkeit ist begründet in der „wirklichen Weltzeit“, die „nach und nach alles Geschehen ergreift und durchdringt“62 – die Zeit der Schöpfung, der Offenbarung und der Erlösung. Diese „wirkliche Weltzeit“ spiegele sich „im geistlichen Jahr“ der Kirche, das von Musik begleitet wird. Die Kirchenmusik ergreift das Herz des einzelnen, sie reicht in die Tiefe des individuellen Gefühls. Zugleich vereint sie aber auch das Gefühl der Individuen, indem sie in die „Einmütigkeit des Chors“ (402) führt. 60 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 386 [Das neue Denken]. 61 Vgl. hierzu: R. Wiehl, Die Erfahrung im neuen Denken von Franz Rosenzweig. 62 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 401.
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„Wer einen Choral mitsingt, wer Messe, Weihnachtsoratorium oder Passion hört, der weiß ganz genau, in welcher Zeit er ist; er vergißt sich nicht und will sich nicht vergessen; er will sich nicht aus der Zeit flüchten, sondern im Gegenteil: er will seine Seele mit beiden Beinen in die Zeit, in die allerwirklichste Zeit, in die eine Zeit des einen Welttags, dessen alle einzelnen Welttage nur Teile sind, hineinstellen. Dahin soll ihm die Musik das Geleit geben … Die Musik ist es, die jene erste im gemeinsamen Raum und dem gemeinsamen Hören des Wortes gegründete Zusammengehörigkeit nun steigert zur bewußten und tätigen Zusammengehörigkeit aller Versammelten.“ (401f)
Das gemeinsame Singen stimmt vor „zur wirklichen Gemeinschaft“ (402). Als drittes (nach der Architektur und der Musik) behandelt Rosenzweig die „Soziologie der darstellenden Künste: [das] Volksspiel“ (412–415). Die Poesie erst entspricht dem „ganzen Menschen“, der mehr ist als „die Räumlichkeit des Leibs“, „mehr auch als die Zeitlichkeit der Seele“ (412). Im „Heim der Poesie“, dem „Bücherschrank“ sitzt sie allerdings „ihre Gefangenschaft ab“. Demgegenüber gewinnt diese geistigste Kunstform ihre volle Wirklichkeit erst in der Darstellung auf der Bühne: im Theater. Ihm kommt eine „Zwitterwirkung“ zu, insofern das Theater in der Idealität der „dramatischen Dichtung“ wurzelt, zugleich aber sich auf die wirkliche Welt „eines versammelten Publikums“ einlassen muss. (413) Eine Formulierung des Ältesten Systemprogramms aufnehmend, muss Rosenzweig zufolge „auch die Dichtung aus den Buchdeckeln ihrer idealen Welt erlöst und in die wirkliche eingeführt werden“, um zur „Führerin einer Menschenmenge“ werden zu können. Dazu müsste die Dichtkunst Gebärde werden, leiblicher Ausdruck, der durch das Wort hindurch gegangen ist und nun schweigen gelernt hat: Ausdruck, Darstellung, Mitteilung nach dem Wort, ohne Worte, in der Gestik des ganzen Menschen. Die Gebärde vollendet „den Menschen ganz zum Sein, zu seiner Mensch=heit.“ „Wo ein Mensch sich ganz in seiner Gebärde ausdrückt, da fällt in einer ,wunderbar leisen‘ Rührung der Raum, der Mensch von Menschen trennt; da verflüchtigt sich das Wort, das sich kopfüber in den trennenden Zwischenraum geworfen hatte, um ihn mit seinem eigenen Leibe auszufüllen und so … Brücke zu werden zwischen Mensch und Mensch.“ (414)
Die Gebärde ist ein Beispiel für den „Brückenschlag“, der Erfahrung konstituiert. Sie setzt das Wort voraus. Ohne seine Wegbereitung könnte sie ihre Bedeutung nicht gewinnen. Aber sie vollendet das Werk des Wortes und weist darüber hinaus. Der Ort ihrer öffentlichen Darstellung ist die Bühne des Theaters, heute der Film, und – so Rosenzweig – der Tanz: in die europäische Kirche hat er nicht hinein gefunden, wohl aber in die Synagoge der Chassidim (sowie in manche Kirchen Afrikas und Lateinamerikas). Doch erst vor Gott kann der Mensch in der Unterschiedenheit der Lebensalter, in der Zersplitterung der
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Rollen, die er spielt, und der Sehnsüchte, die ihn antreiben, seine Einheit gewinnen. Der „Einheit seines Lebens im Wandel der Zeit versichert ihn [aber] … das selber in diesem Wandel immer wiederkehrende Jahr, das beide, die Erhaltung und die Erneuerung … in seinen Reigen schlingt.“ (418) Exkurs: Das Kreuz als Zeichen und Symbol Man kann das Kreuz als ein Zeichen für all die sich kreuzenden Linien der Weltund Lebenserfahrung verstehen, das dann als „Kreuz der Wirklichkeit“ (Rosenstock) symbolischen Charakter gewinnt. Als Kunstform, die den Weg des Christen orientiert, „faßt [es den Gegensatz] … zur Gestalt.“ (418) So leistet es die von Bildern überhaupt zu fordernde Reflexivität auf exemplarische Weise. Durch den immanenten Bezug der gegenständlichen Darstellung des Gekreuzigten (wie man sie auf vielen älteren Kruzifixen findet) auf die bloße Kreuzform – und umgekehrt – bringt es zum Ausdruck, dass es „letztendlich auf das Sprachlose, nicht Sagbare, Ungesagte, nicht Darstellbare“ zielt. Damit realisiert es „die Bildkritik, das Bilderverbot“.63 Dieser Aspekt christlicher Ästhetik, der sie in einer Verwandtschaft mit der modernen Kunst zeigt, lässt sich mit Rosenzweig nun noch durch einen materialen Gesichtspunkt zuspitzen. Im Kreuz nämlich findet alle tragische Kunst ihre Zusammenfassung. Es ist mehr als ein Zeichen, an dem man jemanden erkennt, der sich dem Christentum zugehörig weiß. Es ist Symbol, in dem die tragische Dimension menschlicher Existenz überhaupt zusammengefasst ist, wie die Werke der Kunst sie in allen ihren Formen darstellt. Damit es aber als Symbol verstanden werden kann, ist die Darstellung des Kreuzeszeichens in der Kunst notwendig. Sie kommt dem hermeneutischen Anspruch entgegen, der sich für das Christentum hier stellt. Denn „auch die Kunst überwindet nur, indem sie das Leiden gestaltet, nicht indem sie es verneint. Der Künstler weiß sich als der, dem gegeben ist, zu sagen was er leidet. Die Stummheit des ersten Menschen ist auch in ihm selbst. Er versucht weder, das Leiden zu ,verschweigen‘ noch es ,herauszuschreien‘: er stellt es dar. In der Darstellung versöhnt er den Widerspruch, dass er selber da ist und doch auch das Leiden da ist; er versöhnt ihn, ohne ihm den geringsten Abbruch zu tun.“64
So gibt die Kunst ihr „Janusgesicht“ zu erkennen: sie erschwert das Leiden des Lebens, indem sie es darstellt und nicht verschweigt, nicht verdrängt. Zugleich hilft sie dem Menschen aber auch, „es zu tragen“ – sie wird zu seiner „Begleiterin durchs Leben“ (419). „Die Kunst schmiedet … diesen Ring des Lebens“ (419). Bedarf es dann aber überhaupt noch der durch das Kreuz erschlossenen 63 Gräb, Art. Ästhetik, 743. 64 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 419.
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hermeneutischen Perspektive, um die tragische Dimension der Kunst zu verstehen? Rosenzweig geht auch auf diese Fragen ein, die sich aus der soziologischen These der Äquivalenz der Kunst zur Religion ergeben haben. In der Tat kann man die spezifisch christliche Deutungsperspektive der Kunst ausblenden, wenn man von der Substanz der christlichen Religion absieht, wie sie im Symbol des Kreuzes zusammengefasst ist. Funktional lassen sich in der Tat viele Äquivalenzen ausmachen,65 denen allerdings die Substanz der christlichen Religion einen Widerstand entgegenhält. Denn der Glaube, der sich am Bild und Symbol des Kreuzes seiner selbst vergewissert, bringt ein Vertrauen mit, das die Äquivalenz zum ästhetischen Zugang zur Wirklichkeit übersteigt. Rosenstock, dem Rosenzweig für seine Darstellung des Christentums vieles verdankt, hat das so formuliert: „Der Herr am Kreuz ist nicht ein ,Imago‘, nicht unser Urbild oder Vorbild. Er starb ja gerade ein für alle Mal so, wie wir selbst sterben sollen, damit wir leben.“66 Rosenzweig hat sich durch seinen christlichen Freund zu einer prägnanten Bestimmung von Kunst und Religion anregen lassen. Der Kunstliebhaber, der ästhetische Mensch, der Ästhet bleibt ein einsames Individuum. Sein „weiches Herz“ lernt nicht ohne weiteres zu schlagen „im Gleichtakt aller Herzen. Das Kreuz, das zu tragen die Kunst die Menschen lehrte, war nur eines jeden sein eignes Kreuz.“ Die Kunst als solche lehrte nicht „die Einheit allen Kreuzes“ (420). Eben diesen Schritt vollzieht aber die Kunst, die in der Kirche ihren Ort gefunden hat, oder mit der die Kirche – weltoffen, wie sie ist – das Gespräch sucht, um ihre spezifische Deutungsperspektive auf sie anzuwenden. Die allen Menschen zugängliche Erfahrung des Kreuzes erfährt „die Einheit allen Kreuzes nur angesichts des Kreuzes auf Golgatha“. Denn hier kann „die einsame Seele aus Heidenstamm“ eine „ewige Erquickung“ gewinnen, weil sie sich „an dem ewigen Schmerz“ orientiert. (420) Es ist die Gemeinschaft dieses Glaubens, die den Unterschied ausmacht. Vorbereitet wird sie durch die Rezeption der Kunst, die in der Kirche ihren Ort gefunden hat; realisiert wird sie allerdings erst durch das gemeinsame Gebet um das Kommen des Gottesreiches als ein Handeln im Sinne des „Brückenschlags“, in dem die Erfahrung der Erlösung besteht. Die christliche Religion bedarf des steten Gesprächs und der Auseinandersetzung mit der Kunst. Doch die Kunst, auf deren Sprache sie rekurriert, um sich selbst als Religion zu gewinnen, wird im kirchlichen Raum prägnant präzisiert auf eine Bedeutung hin, die die autonome Kunst sich selbst nicht verleihen kann. Diese prägnante Präzisierung ist eine Folge der Deutung von Kunst im Licht der 65 Zur Differenz von funktionalem und substantiellem Religionsbegriff vgl: Dober, „Reflektierender Glaube“, 13–24, 104–106, 166–168 u. ö. 66 Rosenstock, Der Atem des Geistes, 136.
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christlichen Frohbotschaft, die sich für den Rezipienten so auswirkt, dass er aus seiner Vereinzelung im ästhetischen Erleben zur Gemeinsamkeit mit den anderen findet, die – dem Sinn der christlichen Botschaft nach – alle anderen einbezieht. Im Rekurs auf Rosenzweig ist somit ein Hintergrundwissen erarbeitet, das die oben mit Korsch erinnerten Bestimmungen Schleiermachers unter Einbeziehung des jüdisch-christlichen Dialoges reformuliert. Im Fall Rosenzweigs ist tatsächlich der Dialog mit Rosenstock die Voraussetzung dafür, eine Darstellung des Christentums in jüdischer Perspektive gegeben haben zu können. Dieses Hintergrundwissen erlaubt es, die gesamtkulturelle Bedeutung des christlichen Gottesdienstes mit der Predigt in ihrem Zentrum zu bestimmen. Selbstverständlich ist die Predigt in den liturgischen Gesamt-Zusammenhang einbezogen. Was das für ihr Verständnis entweder als religiöse Rede oder als Kunstwerk bedeutet, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Die neueren Konzeptionen der Homiletik werden auf dem mit Rosenzweig erschlossenen Hintergrund der historischen Bedeutung zu beurteilen sein, die die Kunst für das Christentum gehabt hat. Hierbei spielen die Fragen der Rezeption und die Annäherung an das Drama als Paradigma eine Rolle. Beide für den gegenwärtigen Diskurs relevanten Aspekte sind mit Rosenzweig in einen größeren Kontext gestellt worden.
4.3.4 Vermittlung von Kunst und Religion in homiletischer Absicht (Christian von Palmer) In diesem größeren Kontext einer Verhältnisbestimmung von Christentum und Ästhetik ist auch schon die frühe Auseinandersetzung Christian Palmers zu verorten, auf die ich nun exemplarisch zu sprechen komme. Denn Palmer hat sich einerseits kritisch mit der Tendenz romantischer Ästhetik auseinandergesetzt, die Grenze zur Religion unscharf werden, ja Religion und Ästhetik interferieren zu lassen. Zugleich findet sich bei ihm in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Anspruch ausgearbeitet, die Predigt als ein Kunstwerk zu begreifen. In einer Zeit, in der nach einem Diktum Nietzsches die Kunst ihr Haupt erhob, während die Religion abnahm, suchte Palmer den Anschluss an die Kunst seiner Zeit – es ist die von kirchlicher Kontrolle schon emanzipierte Kunst, wie sie in pluraler Vielfalt auftritt. Palmer wusste in Vorträgen über Bach, Haydn und Beethoven ebenso zu handeln wie über Schiller und Abraham a Santa Clara. Um sich auf die Kunst seiner Zeit einlassen zu können, suchte er nach gemeinsamen Schnittmengen im Sinnhorizont und Deutungsrahmen mit der „christlichen Sitte“ (um einen Terminus der damaligen Zeit zu verwenden). Für ihn bedurfte es vor allem eines ethischen Konsenses. Palmers Vermittlungsbemühungen orientieren sich am Inhalt der Kunstwerke sowie am Selbstverständnis der
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modernen Künstler. Exemplarisch hierfür ist seine Argumentation, die für eine Würdigung Schillers, aber gegen Goethe spricht.67 In der Vorrede zu Geistliches und Weltliches für gebildete christliche Leser, d.i. ein Sammelband mit Vorträgen und Aufsätzen zur Kultur seiner Gegenwart, geht Palmer auf das in der Romantik neu bestimmte Verhältnis zur Religion ein. „Man hat uns neuestens die Dichter und Künstler als die wahren Heilande der Menschheit gepriesen. An ihnen sich zu erbauen, soll die rechte, die einzige Erbauung sein. Wir aber, die wir unser Heil bei einem Andern und Höhern suchen, können und wollen beweisen, dass jene köstlichen Blüthen am Baume der Menschheit mit nichten blos dem Unglauben ihren Duft spenden.“68
Palmer sucht „das Schöne, das Gute, das Rechte, wie es in den weltlichen Formen der Kunst, der Wissenschaft, der Politik u.s.w. vorliegt“ (a. a. O., 290) zu würdigen und sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Hierbei verwechselt er aber nicht den Kirchenraum mit dem Konzertsaal, die Kunst mit der Religion, als könne die Ästhetik an ihre Stelle treten. In diesem Sinne hatte Friedrich Schlegel geschrieben: „Es ist sehr einseitig und anmaßend, dass es grade nur Einen Mittler geben soll. Für den vollkommenen Christen, dem sich in dieser Rücksicht der einzige Spinoza am meisten nähern dürfte, müsste wohl alles Mittler seyn.“69
Das dem Christentum in seinem dogmatischen Kern eigene Konzept der „Vermittlung“ durch den Sohn Gottes, der zum Mittler geworden ist, wird hier nur noch vorausgesetzt, um in einem pantheistischen Sinne auf alle möglichen „Vermittlungen“ zwischen Endlichem und Unendlichem, Individuum und Allgemeinheit, Subjekt und Objekt ausgeweitet werden zu können, sei es in der Kunst, sei es in der Politik. Man erkennt nicht nur ohne weiteres Schleiermachers Begriff vom formalen Wesen der Religion wieder, sondern auch das Lob Spinozas in der 2. Rede.70 Dessen Pantheismus hatte Schleiermacher später dazu geführt, die Möglichkeit einer Religion auch ohne Gott zuzugestehen.71 In der kritischen Außenwahrnehmung jüdischer Philosophie ist hier die im christli67 Vgl. meinen Beitrag dazu (Dober, Christian Palmer, 202–204; überarbeitet und hinsichtlich der leitenden Thesen neu gefasst: Dober, Ist Palmer ein Vermittlungstheologe?). 68 Palmer, Geistliches und Weltliches, VII. 69 F. Schlegel, Fragment 234, in: Kritische und theoretische Schriften, 104. 70 „Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war er und voll heiligen Geistes; und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und Bürgerrecht“ (Schleiermacher, Reden, 54f [Seitenzahl der Erstausgabe von 1799]). 71 Schleiermacher, Reden, 123–130.
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chen Bekenntnis ohnehin anfechtbare, weil nicht mehr reine Gestalt des Monotheismus vollends verleugnet.72 Palmers Aufmerksamkeit auf die Unschärferelation zwischen Religion und Ästhetik in der allgemeinen Kultur und insbesondere in der Kunst seiner Zeit, sowie seine Konstatierung möglicher Wahlverwandtschaften ist jedenfalls mit der von F. Schlegel in Anspruch genommenen „Vermittlung“ nicht zu verwechseln. Schlegel zufolge ist ein Mittler „derjenige, der Göttliches in sich wahrnimmt, und sich selbst vernichtend Preis giebt, um dieses Göttliche zu verkündigen, mitzutheilen, und darzustellen allen Menschen in Sitten und Thaten, in Worten und Werken. Erfolgt dieser Trieb nicht, so war das Wahrgenommene nicht göttlich oder nicht eigen. Vermitteln und Vermitteltwerden ist das ganze höhere Leben des Menschen, und jeder Künstler ist Mittler für alle übrigen.“73
Demgegenüber hat Palmer die Ästhetik im Sinne von Kunstverstand und –fertigkeit in das Zentrum seiner Tätigkeit als praktischer Theologe integriert: in die Praxis und Theorie der Predigt. Hier ist für ihn der Ort, an dem über eine praktisch-theologisch angemessene Verhältnisbestimmung zur Ästhetik entschieden werden muss. Folgerichtig findet denn auch die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion und Kunst in seiner Homiletik ihre Fortsetzung. Palmer vergleicht die Produktionsbedingungen des Dichters mit denen des Predigers: „Während … der Dichter zunächst nur für sich selbst, um seinem eigenen Schaffensdrang zu genügen, seine Gedanken bildet: so tritt der Redner in lebendigen, unmittelbar persönlichen Rapport mit den ihm persönlich gegenüberstehenden Zuhörern. Jene Lebendigkeit der rednerischen Darstellung wird sich also auch darin kundgeben, dass die Rede sich stets an den Zuhörer wendet, dass sie zu ihm spricht, so dass er fortwährend sich angesprochen fühlt.“74
72 Vgl. H. Cohen: „Schelling, wie Hegel, und trotz mancher Abweichung auch Schleiermacher, sie sind alle im Pantheismus befangen“ (Ders., Ethik, 16). Vgl. Dober, „Reflektierender Glaube“, 100f. 207–211. „Über den Wert des Pantheismus … entscheidet [Cohen zufolge] allein die methodische Systematik der Philosophie. Diese aber … beruht … auf der Unterscheidung … zwischen Natur und Sittlichkeit.“ Nicht die Methodik „der Romantik aller Art“ vermöchte in diese elementare humane Unterscheidung zu geleiten, sondern die „Methode Kants“. In solcher Orientierung müsse dann gelten: „Wenn Natur und Sittlichkeit nicht dasselbe sind, so muß der Gott falsch sein, der diese Selbigkeit zu bedeuten habe.“ Spinozas „deus sive natura“ lässt grüßen. (Cohen, Werke Bd. 17, 477 [Was einigt die Konfessionen? (1917]) 73 F. Schlegel, Ideen 44, in: Athenäum Bd. 3, a. a. O., 11f. (zit. nach M. Bienenstock, Hermann Cohens Heine und der Kampf um Spinoza, in: Heine-Jahrbuch 49 (2010), 192–200, dort: Anm. 31). 74 Palmer, Evangelische Homiletik, 354.
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Der Dichter kann, so wird Palmer hier zu verstehen sein, ohne die Rezeption im Blick zu haben, möglichst genuin und authentisch sich selbst zum Ausdruck bringen oder sich an die Abwesenden wenden; nicht so der Prediger : „Giebts wohl etwas Widersinnigeres, als denen, die da sind, solches zu verkündigen, was sie schon wissen, ihnen solches zu beweisen, was sie schon glauben, eine Rede also gar nicht an die Anwesenden, sondern an die Abwesenden zu halten?“75 Um die Anwesenden in dem Sinn erbauen zu können, den Palmer diesem Terminus gegeben hat, „muss das Beste von menschlicher Rede auch der Form nach gegeben werden.“ Als ein „Kunstwerk“ (EH, 349ff) sei die Predigt insofern zu gestalten, als man doch von ihr fordern müsse, dass sie „oratorisch gebildet“ sei (EH, 214). In der Ausarbeitung einer Predigt zu einer Rede zeigt sich das Kunstvolle an ihr. Wie es für Palmer „das Höchste in der Kunst“ ist, „einen Grundgedanken festzuhalten, und diesen … durch die Mittel, die die Kunst darbietet, immer neu zu gestalten“, so soll auch die Predigt ein Ganzes sein, in der Form durchgestaltet. Und wie die Kunst nicht „eine buntschillernde Menge von Melodien auf einen Haufen“ wirft „oder sie wie ein Kaleidoskop untereinander“ rüttelt, darf auch die Predigt „nicht in Stücke … zerfallen, sondern [sie soll] sich gliedern … wie ein lebendiger Leib“ (EH, 356). Doch die Form müsse ihrem Inhalt entsprechen wie das Schöne dem Wahren (man erkennt eine Forderung des Ältesten Systemprogramms wieder), und wahr werde eine Predigt erst dadurch, dass in ihr Kunst und Leben zu einer Einheit geworden sind. Diese Einheit ist in der Predigt darzustellen und vom Prediger als Person zu repräsentieren. Die Integration der Kunst in die Predigtarbeit wird hier zusammengedacht mit dem Anspruch an die Person des Predigers, authentisch und für sein Handeln verantwortlich zu sein. Erstens ist vom Prediger eine stete Vergewisserung im Denken und Handeln zu erwarten, die der Vermittlung von Frömmigkeit und Theologie bedarf: nicht nur im Gedanken ist die Gewissheit des eigenen Glaubens zu bewähren, sondern auch in der Bereitschaft, das eigene Leben im Horizont christlicher Wahrheit zu führen. Für Palmer ist diese Herausforderung aber keine Überforderung, weil er zweitens von einer in der Gesellschaft immer noch wirksamen Moral des Christentums ausgeht, die für ihn in göttlicher Ordnung gegründet und in geschichtlicher Tatsächlichkeit verbürgt ist.76 Drittens ist die Bildung zur „wahrhaft christlichen Persönlichkeit“ (EH, 544) des Predigers als ein unabgeschlossener Prozess anzusehen, der mit der ersten Probepredigt während des Studiums beginnt und auch beim erfahrenen Prediger eine nicht erlahmende Selbstwahrnehmung, Übung und Korrektur erforderlich macht. Nota bene stellt Palmers Homiletik schon das „Modell im Sinne der Wahrheit“ bereit, von dem Sibylle Lewitscharoff schreibt, heute 75 Palmer, Evangelische Homiletik, 14. [folgend zitiert: EH] 76 Vgl. Dober, Christian Palmer (2003), 204–207.
Historische Verifikationen
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trauten „viele Leser … [ihr] nur noch dann …, wenn sie durch das eigene Leben beglaubigt ist“.77 Um wieviel bedeutsamer ist dieses Verständnis von Wahrheit als einer im eigenen Leben zu bewährenden78 in der Medienkultur geworden, in der der Schein des Schönen, Guten und Wahren nur allzu oft trügt. Für Palmer jedenfalls wird die Kunst der Predigt in der Verantwortung des Predigers zum Medium symbolischer Wiederherstellung bzw. Neukonstitution eines zerbrechenden Zusammenhangs von Sinn und gesellschaftlicher Realität. Derart hoch hat er von der Predigt gedacht, dass sie als kirchliche Rede in der Gesellschaft überhaupt diesen gefährdeten Zusammenhang verbürge. Dafür ist auch der gottesdienstliche Rahmen konstitutiv. Es ist der Kultus, in dem als einem Gesamtkunstwerk „an jede Darstellung in seinem Bereich die Anforderung [aufzustellen sei], dass sie schön, dass sie ein Kunstwerk sei“ (EH, 214). So kann Palmer den Prediger mit dem Musiker vergleichen: die Rede müsse im Fluss sein wie die Musik. „Es sind die Wellen, von denen sich der Zuhörer muss getragen fühlen; daher hat ja beim Hören einer tüchtigen Rede Geist und Gemüt den Eindruck, die wohlthuende, kräftigende Empfindung, die dem Körper ein Bad im freien Strome gewährt“ (EH, 353f).
Palmer, der in seiner Homiletik weitgehend Schleiermacher folgt, hat die Predigt als eine festliche Rede verstanden, welche, in der Form vollendet, die Gedanken zu erheben imstande sei (EH, 16). Als ein Akt des Segnens sei sie ihrem Wesen nach zu begreifen (EH, 17): als eine Erbauung, die erfreuen will. Die so begriffene Predigt nimmt die Kunst in Dienst; sie winkt „der Rhetorik herbei, daß sie der Homiletik die Hand reiche“ (EH, 350). Und wenn, „was schön sein soll“, Gestalt haben müsse, dann habe der Prediger seine Rede auch plastisch zu gestalten. Was er zu sagen habe, müsse „so konkret gefasst und hingestellt werden, dass auf dem, was der Redner vor dem Zuhörer ausbreitet, das geistige Auge ruhen kann, wie auf einem Bilde“ (EH, 353). Palmer vergleicht den Prediger auch mit einem Maler, insofern er die im Text gegebenen Bilder ausmale (EH, 415ff) oder Geschichten zur Entfaltung des Anschauungs-, des Erfahrungsgehaltes von Begriffen, von „Erzählungen und Notizen aus dem kleineren Leben“ (EH, 430) heranziehe. Palmer hat die Predigt vor allem unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten mit einem Kunstwerk verglichen, hierbei aber die besondere Eigenart der Predigt nie aus dem Blick verloren. Zu ihr gehört, dass die Fragen der Rezeption immer schon bei der Produktion mitbedacht werden müssen.
77 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 39. 78 Vgl. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 395 [Das neue Denken].
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Was ist und wie weit trägt die „ästhetische Wende“ in der Homiletik?
Die „ästhetische Wende“ in homiletischen Konzepten
4.4.1 Die Predigt als „offenes Kunstwerk“ (zu Gerhard Marcel Martin) Anders stellt sich die 120 Jahre später entfaltete Konzeption von der Predigt als einem „offenen Kunstwerk“ dar. Kritisch gegen Gerd Otto, der das rhetorische Paradigma neu entdeckt und der Homiletik ins Stammbuch geschrieben hatte, hat G. M. Martin in seiner Marburger Antrittsvorlesung im Jahr 1984 diese These vertreten. Mit anderem Akzent als Wilfried Engemann (s. o. Abs. 2.4.2) hat er sich hierbei an Umberto Ecos Semiotik orientiert. Martin möchte „den selbstproduktiven Anteil des Hörers innerhalb des Predigtgeschehens angemessen würdigen können“.79 In seinem Text von 1984 nimmt auch Martin die Ästhetik als eine „Verbündete“ in Anspruch.80 Doch es ist nicht mehr die Kunst der Klassik, die Dichtung und das Drama Schillers und Goethes, an der er sich orientiert. Vielmehr ist die semiotische Theorie Umberto Ecos leitend. Im Fokus dieser Theorie steht nicht mehr die moralische Dignität der Inhalte der dargebotenen Kunst (wie bei Palmer), sondern die Bedeutungsvielfalt, die sich der Rezeption der Werke eröffnet. Wie Eco zufolge das Kunstwerk erst durch Interpretation zu dem wird, was es ist (bzw. sein kann), kommt auch die Predigt erst in der verstehenden (kritischen, verfremdenden) Rezeption der Hörer zu ihrem Ziel. Der schon von Rosenzweig in Weiterführung und Kritik der idealistischen Ästhetik entfaltete Gedanke, dass die ideale bzw. idealisierende Kunst tendenziell der Wirklichkeit verlustig gehe, wenn sie einsam genossen werde, und diese also wieder zu gewinnen sei in Gemeinschaft stiftenden Rezeptionsweisen, ist diesem Anliegen ähnlich, wenngleich nicht kongruent. Jedenfalls ist im „Publikum“ immer schon die Frage der Rezeption mitbedacht worden. Rosenzweig ist der Auffassung, dass das vom Künstler produzierte Werk erst vom Publikum „erlöst“ werden könne aus seiner vom sonstigen Leben getrennten Apartheit. Erst das Publikum holt das Werk in das wirkliche Leben. So verhält es sich auch mit der Predigt: Erst die Gemeinde, die mit dieser Mitteilung des Glaubens umgeht, die sie sich gesagt sein lässt bzw. sie sich aneignet oder anverwandelt, verleiht der Kanzelrede Wirklichkeit. Martin schlägt nun mit Blick auf die Homiletik der 70er Jahre einen „Koalitionswechsel der Homiletik von der Kommunikationswissenschaft zur Ästhetik“ vor.81 Karl-Wilhelm Dahm, Ernst Lange und andere hatten das Paradigma 79 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 255. 80 A.a.O., 258. 81 G.M. Martin, Predigt als ,offenes Kunstwerk‘? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in EvTh 39 (1984), 46–58. Ich zitiere nach dem Neuabdruck in: Conrad/ Weeber, Protestantische Predigtlehre, 258–271, hier 261.
Die „ästhetische Wende“ in homiletischen Konzepten
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der Kommunikation gegenüber dem der Verkündigung in der Predigt etabliert. Das Konzept der Verkündigung ging davon aus (s. o. Abs. 2.3.1), dass eine vorausgesetzte Wahrheit aus- und weiterzusagen ist. Es war hier das kerygmatische Verständnis von Wahrheit leitend, mit dem L|vinas sich kritisch auseinandergesetzt hatte, um ihm die andere Bedeutung des Kerygmas entgegenzustellen, die sich im Angesicht des anderen Menschen erschließt (s. o. Abs. 2.3.2). Dem (insbesondere in der Dialektischen Theologie vorherrschenden) kerygmatischen Verständnis der Wahrheit gegenüber hatten nun Ernst Lange u. a. das Bemühen entgegengehalten, mit den Hörern der Predigt das „Gespräch“ zu suchen, um auf die Fragen eine Antwort zu finden, die in der Gemeinde wirklich gestellt werden. Hiermit war ein kommunikatives Verständnis von Verifikationsprozessen in den homiletischen Diskurs eingebracht worden: Der Wahrheitsanspruch des Christentums, wie er sich in einschlägigen Bibelworten (etwa Joh 14,6) und in Bekenntnissen zum Ausdruck gebracht hat, kann nur verifiziert werden, wenn er denn in einem gegenwärtigen Bewusstsein verstanden, angeeignet, anverwandelt werden will. Es ging darum, sich auf tatsächliche Dia-loge einzulassen, die „Lernprozesse“ sind. Und in diesen Lernprozessen deutete die Frage nach den Gesprächsteilnehmern auf ein Kerygma anderer Art als des immer schon als wahr vorauszusetzenden Bekenntnisses. Dahm aber hatte schon zu Beginn der 70er Jahre konstatiert, dass die Predigt ihre „Einbahn-Kommunikation“ nur schwer überwinden könne: „ihr fehlt die Reziprozität, die wirkliche Kommunikation erst konstituiert“ (259). Zudem meinte man durch empirische Untersuchungen herausgefunden zu haben, dass Predigten „kognitiv … so gut wie wirkungslos“ blieben, emotional aber „überwiegend positiv wirkten“. Man wollte damals auch Bewusstseins-verändernde Wirkungen mit der Predigt erzielen. Doch diese Veränderungen waren langwierig und schwer nur nachweisbar. Auch schien ein weiteres Problem der Kommunikation nicht lösbar : Das Dilemma der Sonntagspredigt, eine inhomogene Gemeinde vorzufinden, die der Prediger zwar als ganze ansprechen wolle, stattdessen aber tatsächlich höchstens einzelne erreiche. Zwar wolle der Pfarrer, der mit seiner Gemeinde das wirkliche Gespräch suche, gern jeden einzelnen persönlich ansprechen. Ernst Lange zufolge könne die sonntägliche Predigt „trotz aller Bemühungen um Situationsgemäßheit“ aber „niemals etwas anderes als das ,Wort für alle‘, das ,Wort für viele‘“ sein; es bleibe „ein allgemeines, in der notwendigen Konkretion behindertes Wort“.82 Auf dieses Dilemma sucht Martin nun zu antworten. In der Tat wird der Prediger nicht umhin können, ein angemessenes „Wort für alle“ bzw. „für viele“ zu sagen. Wenn es aber „in der Rezeption der Hörer verschiedene Konkretionen“ findet, muss es kein „in der notwendigen Konkretion behindertes Wort“ sein 82 Lange, Predigen als Beruf, 12, zit. in: Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 260.
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(262). Jeder könne die Predigt so hören, wie er sie zu hören vermag. Die Predigthörer sind in der Lage, je ihre Situation „in das Predigtgeschehen ein[zu] bringen“. Nicht muss der Prediger „die Situation anderer und für andere … klären“ – das tun die Predigthörer schon selbst. Und auch das andere Dilemma, dass das „Wort für alle“ die einen langweilen, die andern aber überfordern könne, wäre in der Offenheit einer Rezeption aufzufangen, in der verschiedene „wiewohl nicht beliebige Konnotationsmöglichkeiten“ offen sind. Denn eben das ist die Erkenntnis der Rezeptionsästhetik gewesen, dass in der Aufnahme eines Werkes durch den Rezipienten eine „konnotative Aura“ entsteht, ein „Suggestivitätsfeld“ oder „Reizfeld“, in dem man unterschiedlich Position beziehen kann (Zitate nach 262). Angeregt sind die Konnotationen der Hörer durch das, was der Prediger sagt – das Predigtwort begrenzt die Mehrdeutigkeit. Deswegen ist sie nicht beliebig, zugleich aber steht sie auch nicht unter dem Zwang der Eindeutigkeit. Die neue Fragestellung sucht Martin nun fundamentaltheologisch zu verwurzeln, indem er dem Evangelium selbst eine befreiende Wirkung zuspricht, die sich in der Offenheit der Rezeption realisiert: „Aus der gefängnishaften Eindeutigkeit und Blindheit der Welt wird [im Anschluss an die Terminologie des Johannesevangeliums] sehende Mehrdeutigkeit.“ (264) Indem die Botschaft Jesu „starre Plausibilitätsstrukturen in Politik und Religion, im Krankheitsverständnis und im Ritualverhalten aufgebrochen und in Bewegung gebracht“ hat (264), habe sie „sich selbst und die Welt zusammen zu einem offenen Kunstwerk gemacht“ (265), so dass man sagen könne: Das offene Kunstwerk entspricht „einer Wirkung des Evangeliums“. Es scheint aber, als sei mit diesen Feststellungen ein komplexer Zusammenhang, wie er schon im Johannesevangelium und dann auch etwa in der Auslegung der Gleichnisse Jesu vorliegt, verkürzt worden. Denn die „sehende Mehrdeutigkeit“, zu der Johannes die Welt befreien möchte, ist doch begründet in der Eindeutigkeit von Sätzen Christi wie diesen: „Ich bin der Weg die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“. (Joh 14,6) Überhaupt zeichnen sich die „Ich-bin“- Worte Jesu durch Eindeutigkeit aus. Und was das Verständnis der Gleichnisse betrifft, so läuft doch die Mehrdeutigkeit im Verhalten von Arbeitgebern, Hausherren, Säemännern und anderen Protagonisten auf eine vergewisserte, gestärkte Eindeutigkeit hinaus: Die scheinbare Ungerechtigkeit der Entlohnung der Arbeiter im Weinberg (Mt 20) soll eben im Kontrast die Gerechtigkeit Gottes erkennbar machen. Die Ausreden der zum Fest geladenen Gäste deuten – ebenfalls im Kontrast – auf die (eindeutige) Einladung hin, die allen Menschen gilt, ungeachtet ihres gesellschaftlichen Rangs (Mt 22, 1–14; Lk 14, 16–24). Und die schlechten Bedingungen, unter denen sich ein Same nicht zur Frucht entwickeln kann, deuten auf die guten hin, unter denen eben dieser Prozess glückt (Mk 4, 1–9; Mt 13, 1–9; Lk 8, 4–8).
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Martin hat den Einwand im Blick, wenn er auf die „Eindeutigkeit von Gottes ,Ja‘ (2 Kor 1,19f)“ anspricht. (265) An ihr will auch eine rezeptionsästhetische Relecture der Homiletik nicht rütteln. Wohl aber weist er auf die „Mehrdeutigkeit aller Erfahrung“ hin. Wie kann die Predigt darauf eingehen? Martin möchte „die Dynamik des Evangeliums … neu vollziehen, im Eco’schen Sinne zur ,Aufführung‘ bringen.“ (266) Die dramaturgische Homiletik lässt schon grüßen, ehe sie denn mit diesem Namen benannt worden ist. Denn in der Tat ist das dramaturgische Spiel das Modell, in dem sich das Programm Martins am besten denken und darstellen lässt, „verschiedene Lesarten der Gottes-, Weltund Selbsterfahrung neben- und ineinander[zu]stellen“ (266). Eben diese Pluralität ist fundamental-anthropologisch in der Individualität des subjektiven Standpunkts begründet, und diese wiederum verweist auf einen ins System der Philosophie nicht völlig integrierbaren Rest der Individualität (individuum ineffabile triumphans, s. o. Abs. 4.3.3). Offene Gesellschaften ermöglichen die Lebbarkeit einer etwa mit Rosenzweig begrifflich zu erschließenden Pluralität. Wird aber unter diesen Bedingungen die Wahrheit – als subjektiv begründeter Anspruch verstanden – nicht selbst zu einer Sache der Perspektive?83 Jedenfalls hat sich „,die‘ Wahrheit … in unsere Wahrheit“ gewandelt. „Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ,ist‘, und wird das, was als wahr – bewährt werden will“84, um es noch einmal mit Rosenzweig zu sagen. Unter den Künsten hat der Film eben dieses Problem zur Darstellung gebracht – es ist eine das Drama vielleicht am besten beerbende Kunstform (wenngleich es auch Romane gibt, die die dramatische Rollenpluralität mit einer literarischen Schnitt-Technik in die eigene Gattung integriert haben).85 Ein Beispiel ist der Film Rashomon von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950. Die von der Kamera eingefangene Bilderfolge kann hier als Konstrukt einer Bühne im übertragenen Sinne verstanden werden, auf der ein Zusammenhang menschlicher Erfahrung gezeigt wird. In diesem Film wird der Tathergang eines Verbrechens, der Vergewaltigung einer Frau und der Ermordung ihres Mannes in unterschiedlichen Perspektiven so erzählt, dass die einfache Sicht auf das Geschehen eine komplexe Verfremdung erfährt. Das Drama vermag so die Begrenztheit der einzelnen Erzählperspektive (und d. h. auch des subjektiven Zeugnisses) aufzuzeigen und zu anderen möglichen Varianten in ein Spannungsverhältnis zu bringen. Was wir als wirklich erfahren, ist immer gebunden an unsere subjektive Sicht der Dinge, und d. h. an Interessen ebenso wie an kulturell geprägte Deutungsmuster. Das gilt auch für das Zeugnis, das sich vor 83 Diese Konsequenz hat Nietzsche gezogen (s. u. Abs. 5.1.1). 84 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 395 [Das neue Denken]. 85 Der Film kann als „Schauspiel“ beschrieben werden, ja nicht wenige Filme spielen mit dieser Analogie, die eigentlich eine Steigerung der dramatischen Möglichkeiten der Bühne durch den Film ist. Vgl. dazu: M. Seel, Die Künste des Kinos, 85–111.
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einem gerechten Gericht der Frage nach der Glaubwürdigkeit des Zeugen stellen muss. Was trägt nun aber diese Offenheit für die Homiletik aus? Anders gefragt: Wie offen sollen oder dürfen Predigten sein, wenn sie denn auf Texte bezogen sind, deren Erfahrungszeugnisse mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten? Noch einmal anders gefragt: Wie ist in der Mehrdeutigkeit der Erfahrung die Eindeutigkeit der christlichen Botschaft zu finden und festzuhalten? Martin zufolge ist eine Begrenzung der Mehrdeutigkeit immer schon gesetzt, wenn das Kunstwerk selbst ein „Feld“ von Bedeutungen begrenzt. Auf diesem Feld aber werden „Beziehungen kommunikativ“. So erst werde eine Rezeption möglich, die mit einem bloßen „Rauschen“ oder dem „Chaos der Relationen“ nicht zu verwechseln ist. Auch von einem „solipsistisch wahnhaften Phantasieren“ sei eine an das Werk gebundene Rezeption unterschieden – man kann nur aus ihm „herausnehmen“, was schon „drin“ ist, und das sei etwas anderes als bloße Projektion (266). Im Vergleich der Predigt mit einem Kunstwerk wird der Prediger selbst einen hermeneutischen „Schlüssel“ einführen, der dafür sorgt, „dass die Predigt ,in einem bestimmten Sinn‘ gehört wird“. Und dieser Schlüssel wird aus dem Metall theologischer Begriffe gefertigt sein müssen, weil nur so gewährleistet ist, „dass das Evangelium nicht mit dem Gesetz verwechselt wird“ (266). Evangelische Predigt ist eben Predigt des Evangeliums – was immer das im Verhältnis zum „Gesetz“ genauerhin heißt. Eben die für reformatorische (insbesondere lutherische) Theologie fundamentale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium aber ist in sich mehrdeutig, wie am Begriff des Gesetzes gesehen werden kann. Es ist als Tora oder Gottes gute Weisung, als Nomos oder schicksalhafter, gesetzmäßiger Lebenszusammenhang, oder Ius – als Gesetzestext, dessen Einhaltung vom Staat gefordert wird, zu verstehen.86 Wie in den theologischen Grundbestimmungen die Eindeutigkeit auf Mehrdeutigkeit bezogen ist, so auch in der Rezeption der Kunst. Sie kann dazu verhelfen, dieses flüssige Beziehungsverhältnis von Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit einzuüben. So ist moderne Kunst „ein pädagogisches Instrument mit befreiender Funktion“ (267).87 Insgesamt ist auch für Martin „das Beobachtungs- und Theoriefeld der ,Rezeptionsästhetik‘ kein Schwert, um Gordische Knoten in der Homiletik zu zerschlagen“ (271). Alte Fragen erscheinen aber in neuem Licht, eine Verflüssigung 86 Die Mehrdeutigkeit des Terminus „Gesetz“ habe ich im einleitenden Essay zu meinen Filmpredigten II näher ausgeführt (vgl. dort S. 14–20). 87 Sowohl hinsichtlich des „in Literatur und Leben überlieferten ,Materials‘“ als auch des „politischen und sozial-psychologischen Ortes ihrer ,Aufführung‘“ konstatiert Martin allerdings „erhebliche“ Unterschiede zwischen Kunst und christlicher Predigt. Mir kommt es – nota bene – darauf an, hinzuzufügen, dass sich die Predigt als Rede in bestimmten Hinsichten prinzipiell von einem Kunstwerk unterscheidet (s. u. Abs. 5).
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der Perspektiven wird in Gang gesetzt. Martin vergleicht am Ende den Praktischen Theologen mit dem „Intellektuellen“, als den Eco sich 1983 in Paris bezeichnete: „… ich tue nur meine Pflicht als Intellektueller, d. h. ich löse keine Krisen, sondern ich schaffe sie überhaupt erst.“ (271) Über die Krise, in die die Homiletik über den Vergleich der Predigt mit einem Kunstwerk gestürzt worden ist, wird weiter nachzudenken sein. Es spiegelt sich in ihr die Krise „einer Welt, die durch radikalen Verlässlichkeitsmangel und große Schwierigkeiten charakterisiert ist, etwas, das als wahr gelten kann, in ihr zu finden“.88
4.4.2 Die dramaturgische Predigt (zu Martin Nicol) Nicol hat die rezeptionstheoretische Perspektivierung mit Blick auf die Kunstform des Dramas akzentuiert. Die „dramaturgische Homiletik“ möchte sich nicht mehr (vor allem) am Vorbild eines Vortrags, einer Rede ausrichten, in der ein einzelner seine Interpretation vorstellt, seine Überzeugung zum Besten gibt, um andere zu überzeugen. Vielmehr will sie unterschiedliche Rollen von Interpreten, Zeugen, Diskussionsteilnehmern einander konfrontieren. Für eine solche Multiperspektivität ist das dramatische Spiel auf der Bühne exemplarisch. Schon die äußere Form seiner 2002 zuerst erschienenen Schrift bildet die „ästhetische Wende“ in der Homiletik ab: Weniger ist dies eine wissenschaftliche Untersuchung als vielmehr eine „homiletische Programmschrift“.89 Locker werden hier Beobachtungen, Exzerpte bzw. Zitate aneinander gereiht, um eine Collage von Texten zu erzeugen, in der der Leser sich dann zurechtfinden muss wie der Rezipient moderner Kunst angesichts der ausgestellten Werke. Es ist, als wolle dieser homiletische Text selbst dasjenige sein und zur Darstellung bringen, was von der „Predigt als Kunst unter szenischen Künsten“ erwartet wird – ein Kunstwerk. Während man von der Schleiermacherschen Homiletik noch sagen konnte, sie bewege sich zwischen Kunst und Wissenschaft,90 hat diese Homiletik den Anspruch wissenschaftlicher Diskursivität aufgegeben. Das Modell ist nicht mehr die Argumentation, sondern die Improvisation, wie sie am Beispiel des Klavierspiels anschaulich gemacht wird: zitiert wird Eugene Lowry, der davon berichtet, dass sein „Klavierspiel“ vollständig sein Predigen verändert habe. 88 S. Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 33. – Eine kritische Auseinandersetzung mit Martin hat früh schon A. Beutel geführt. Vgl. Ders., Offene Predigt. Homiletische Bemerkungen zur Sprache und Sache, in: Pastoraltheologie 77 (1988), 518–537 (neu abgedruckt in: Conrad/Weeber, Protestantische Prediglehre, 272–291). 89 M. Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, neu abgedruckt in: Conrad/ Weeber, Protestantische Predigtlehre, 296–307, hier : 296. 90 Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 70ff.
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Nicht mehr der „thematische Prediger“ sei gefragt, sondern die „narrative Form der Kunst“, wie ein Pianist sie pflege, sei nun als Modell des Predigens empfohlen. So könne erreicht werden, was erreicht werden solle: „nicht mehr über die Dinge zu reden, sondern machen, dass die Dinge selbst geschehen“ (298) – das englische to make things happen wird hier versuchsweise direkt ins Deutsche übertragen. Schön solle die Predigt als ein Kunstwerk sein. Doch „Schönes lässt sich nicht zusammenfassen“, es lässt sich nur genießen. Diese Einsicht Paul Val|ry’s soll nun für die Homiletik fruchtbar gemacht werden. Nicht mehr deduktiv solle sie vorgehen, wie das im altprotestantischen Schema der explicatio und applicatio methodisch vorgegeben war. Die Methode der Predigt müsse vielmehr von den Künsten lernen, dass sich Inhalte nicht erst „zusammenfassen und dann in Form packen ließen“ (299). Inhalte gebe es nie ohne Form, Phänomene zeigten sich immer schon in einer bestimmten Gestalt. Diese gelte es auszulegen. Und insofern hierbei von den Künsten zu lernen sei, könne auf diese hermeneutische Art auch Wirklichkeit erschlossen werden. Das ist alles recht vereinfacht, Komplexität reduzierend gesagt – programmatisch gegen eine von Texten und dogmatischen Wahrheiten ausgehende Predigt, die unter dem Einfluss der dialektischen Theologie des Wortes Gottes in der Tat weit verbreitet gewesen ist. Wie Albrecht Grözinger in seinem homiletischen Lehrbuch aus dem Jahr 2008 schreibt, ist hier ein methodischer Zugang in einen konzeptionellen verwandelt worden. Eben diese Transformation sei auch bei anderen „neueren Ansätzen zu Rhetorik und Homiletik erkennbar“.91 Eine Wiederentdeckung wirke sich hier aus, die nämlich, dass die Predigt zusammen mit der Liturgie „im Rahmen einer einheitlichen gottesdienstlichen Dramaturgie zu verstehen“ sei.92 In der Tat besteht ein einheitlicher Zusammenhang des Gottesdienstes, der sich unter ästhetischen Gesichtspunkten darstellen lässt: Mein Rekurs auf Rosenzweigs Darstellung der Künste, die in der Kirche heimisch geworden sind, hatte auch die Aufgabe, eben dies zu zeigen. (s. o. Abs. 4.3.3) Predigt und Liturgie verweisen aufeinander als „zwar differenzierte, aber nicht zu trennende“ Elemente. Nicol nun geht es nicht darum, die Differenz zwischen beiden hervorzuheben, sondern die Einheit des Zusammenhangs. „Der Gottesdienst ist als ein dramatisches Gesamtgeschehen gesehen, in dem die Predigt ein Moment darstellt, das nicht unabhängig von diesem Gesamtgeschehen begriffen, analysiert und konzipiert werden kann.“93 Dramatisch ist etwa das Wechselspiel von Liturgenwort und Antwort der Gemeinde. 91 Grözinger, Homiletik, 294f. 92 Nicol, Gestaltete Bewegung. Zur Dramaturgie von Gottesdienst und Predigt (2001), 151, zit. nach: Grözinger, Homiletik, 295. 93 Grözinger, Homiletik, 295.
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Hat man aber nicht immer schon um diesen Zusammenhang gewusst, auch wenn man die Liturgik und die Homiletik unterschied und je eigens bearbeitete? Wird hier nicht ein Vorwurf erhoben und eine Argumentationsfront aufgebaut, die – ähnlich wie im Fall der „deduktiven“ Predigt – etwas künstlich ist?94 Die schon zitierte Einsicht Val|ry’s, dass Schönes sich nicht zusammenfassen lasse, wird nun in der Tat zur Konzeption einer Handlungstheorie ausgeweitet. Die Predigt müsse begriffen werden in Analogie zu den „performing arts“. „Gemeint sind Künste, die zeitlich bewegte Abläufe gestalten und auf das Ereignis der Aufführung (performance) zielen, also etwa Tanz, Musik, Theater oder Film“.95 In entsprechender Weise müsse die Predigt zum „Ereignis“ werden. Das sei möglich, wenn die Sprache der Wirklichkeit entspräche wie die Form dem Inhalt. Exemplarisch hierfür seien die Gleichnisse Jesu, in denen „die Wirklichkeit des Gottesreiches als Ereignis der Sprache zur Geltung“ komme (300).96 Diese (und wohl auch andere) Gleichnisse gelte es zu entfalten – auch diese Forderung wird wieder polemisch gegen die „Zusammenfassung“ ins Feld geführt, die das Schöne verfehle. Man möchte fragen, ob Jesu Gleichnisse jemals ohne Interpretation verstanden worden sind. Schon in den Evangelien gibt es erklärende Passagen, die einzelnen Gleichnissen hinzugefügt worden sind (etwa Mt 13, 10ff). Wie kann sich der die komplexen Verhältnisse eines Gleichnisses entfaltende Prediger davor bewahren, sich im Labyrinth der Bedeutungen zu verirren, die durch diese kunstvolle Form der Rede vom Gottesreich freigesetzt werden? Wie leicht ist etwa das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16) misszuverstehen, als wolle es gerechte Arbeitsverhältnisse abwerten. Angesichts solcher Schwierigkeiten möchte man wenigstens ergänzen: Die vorgeschlagene Entfaltung eines zu predigenden Gleichnisses, will sie kunstvoll sein wie die Vorlage, wird ohne vorausgesetztes Verständnis, und d. h. ohne Arbeit an den Bildern nicht auskommen können. Diese Arbeit an den Bildern ist eine Arbeit an den Bedeutungen – ohne Begriffe wird sie blind bleiben. Oder aber die geforderte Entfaltung wird dem beliebigen Spiel von Bedeutungen gleichen, das durch eine Drehung eines Kaleidoskops verursacht werden kann. Das Mosaik, das sich aus den erkannten Bedeutungen eines Gleichnisses zusammengesetzt hat, wird durch eine einfache Drehung zu einem ganz anderen – und so immer fort. Man müsste also ergänzen: Der Prediger als Künstler bedarf einer Idee, in deren Licht
94 Jedenfalls wusste man immer schon um die Rücksicht, die das Drama auf den Zuschauer zu nehmen hat (vgl. Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 59). Und man wusste um „das Verhältnis zwischen dem Drama und der Religion“ (a. a. O., 44). 95 Zit. nach Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 299. 96 Und es wird Nicol zuzustimmen sein: In der Tat: „Die Metapher bzw. das Gleichnis als entfaltete Metapher ist die Keimzelle elementaren Redens von Gott“ (305).
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sich das Mosaik von Bedeutungen, das sich einer Arbeit am Gleichnis-Text erschließt, in seinem Zusammenhang zeigt. An dieser Forderung wird desto mehr festzuhalten sein, je stärker der Prediger sich an der narrativen Form einer „gestalteten Bewegung“ orientiert. Wenigstens Ursprung und Ziel dieser Bewegung müsste der Prediger wissen, wenn er den Weg zwischen diesen Punkten denn gestalten soll. Dieser grundlegende Zusammenhang bleibt aber bei Nicol verborgen hinter der – quasi dogmatischen – Entgegensetzung von einem „Denken in Ideen“ und einem „Denken in Geschichten“ (301). Die Geschichte eines Gleichnisses Jesu wird dann etwa so genommen wie der biblische Text überhaupt in Karl Barths Homiletik: Sie hat von vornherein recht, sie bietet die Form, zu der der Inhalt noch gefunden werden muss; an dieser Form die Predigt zu orientieren heißt, die biblische Vorlage einfach nachzuerzählen. Hier liegen Probleme, hat doch der biblische Text selbst zuweilen die evangelische Pointe eines Gleichnisses zerstört, wenn am Ende mit Strafen gedroht und das Verderben angekündigt wird (so im Gleichnis von der königlichen Hochzeit Mt 22, 1–1497; par. Lk 14, 15–24), wenn für die, die zu spät kommen, nur noch „Heulen und Zähneklappern“ bleibt. Ohne theologische Korrektur kann das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21, 33–46; Mk 12, 1–12; Lk 20, 9–19) antijudaistisch ausgelegt werden, und im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Mt 25, 14–30, par. Lk 19, 12–27) kann man sich in einem ökonomischen Paradigma verfangen. Man wird die Forderung, dass es in der Vorbereitung der Predigt wie beim Predigen selbst um Erkenntnis im Licht der Idee als einer Konstellation geht, nicht herabstufen können, wenn man nun den Film als das Paradigma empfiehlt, das die Vorlesung längst abgelöst habe – und in der Predigt auch ablösen müsse. Ein Denken in Ideen ist auf ein Denken in Geschichten wechselweise zu beziehen, nicht aber sind beide gegeneinander auszuspielen. Erst in der Korrelation von beidem werden theologischer Ursprung und Ziel sachgemäß im Verweisverhältnis von Anfang, Ende und Struktur der Geschichte wiedererkannt werden können. Dieses Wechselverhältnis, wie Barth es in seiner Homiletik gedacht hat, ist unauflöslich, wenn es sich – kunstvoll wie immer sie gestaltet sein mag – um eine Predigt handeln soll, die ihrem Begriff entspricht. Nicol geht es um Darstellung und Performance. Der Prediger als Künstler müsse von der Kanzel sprechen wie jemand, der „bewegte Bilder in Sequenzen oder Moves inszeniert“ (301). Nicht habe er sich an einer Gliederung zu orientieren, in der „erstens, zweitens, drittens käm“ (W. Busch). Angesichts dieser 97 Vgl. dazu E. Jüngel, Schmecken und Sehen, 72f. Und Ders., Unterbrechungen, 86 (zu Mt 25, 14–30). Jüngel zufolge hat Matthäus mit dem Verweis auf das „Heulen und Zähneklappern“ hier „die Pointe … verdorben“.
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Empfehlung kommt die Frage auf, wie eine Predigt ohne dispositio noch Struktur und Gestalt soll gewinnen können, wie man nach dem Hören der Predigt die Folge der gebrauchten Sprachbilder oder die Folge der Gedanken rekonstruieren kann, ja wie man überhaupt jemandem sollte erzählen können, was der Prediger denn nun gesagt habe. Ein guter Film hat – wie ein kunstvoll gestaltetes Bild und wie ein guter Roman – eine Botschaft, ein Thema, eine oder gar mehrere Bedeutungen und Lesarten. Ohne dass der Roman, der Film – in welcher Struktur immer – durchgestaltet wäre, wäre er als Kunstwerk nicht gut. Doch wenn er kunstvoll gestaltet ist, ist die Frage nach seiner Idee noch nicht beantwortet. Will er wahre Geschichten erzählen, wie das Leben sie schrieb? Das ist der Fall in Louis Malle’s Auf Wiedersehen Kinder (1987), in Filmen über die Wirklichkeit in der DDR wie in Christian Petzold’s Barbara (2012). Doch eben diese Filme lassen sich im Licht einer Idee verstehen. In Auf Wiedersehen Kinder ist dies ein philosophisch ausgearbeiteter Gedanke, belegbar aus der späten Religionsphilosophie (und vorher schon aus der Ethik) Hermann Cohens, dass der Hass (im Unterschied zum Neid) kein ursprüngliches Gefühl ist, sondern psychisch „grundlos“.98 Und in Barbara ist dies eine Verantwortung, die bis zur Stellvertretung geht, indem die von Nina Hoss gespielte Protagonistin einer von der Stasi geschundenen jungen Frau ihren Platz zur Flucht aus dieser Republik überlässt. Um diese Ideen, die in den Filmen zur Darstellung gebracht werden, herausarbeiten zu können, bedarf es allerdings einer freien Interpretation, die der Film selbst noch nicht gibt. Andere Filme stellen für die menschliche Erfahrung typische Situationen und vielleicht mögliche Weisen des Umgangs mit ihnen dar, ohne den Anspruch, eine wahre Geschichte erzählen zu wollen. Zu denken ist an die auf der Berlinale 2012 gezeigten Streifen Gnade und Was bleibt?, aber auch an ältere Western, die existentielle Fragen berühren wie etwa Der Verwegene, Red River und The Shootist mit John Wayne, oder Der weite Ritt. Dass auch sie – als Kunstwerke – im Licht der Idee rezipiert werden können, die sich nach intensiver Wahrnehmung und Interpretation als die Idee eben dieses Werkes hat erkennen lassen, ist in der Tat ein Vergleichspunkt mit den Gleichnissen Jesu. Auch in der Interpretation von Filmen kommt man nicht sehr weit, wenn man hermeneutisch unterkomplex verfährt. Man kann das Drama als frühe Vorform des Films, wie den Film als dramatische Darstellung verstehen. Es findet auf einer Bühne statt, auf der Rollen zu spielen sind, die untereinander Spannungen aufbauen, ohne dass sie vollends gelöst – „zusammengefasst“ – werden könnten. Im Unterschied zur Erzählung aus der Perspektive des Erzählers ist das Drama durch eine Pluralisierung von 98 Vgl. dazu: P. Schmid/P. Fiorato (Hg.), Hermann Cohen: «Ich bestreite den Hass im Menschenherzen».
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Perspektiven bestimmt. Auf einer Bühne können mehrere Rollen aufeinander treffen, um auf diese Weise ein erhöhtes Reflexionspotential zu erzeugen.99 Der Film steigert noch einmal diese Pluralisierungsfunktion, indem die „Anarchie der kinematographischen Darstellung … jede Hierarchie der Blickpunkte [untergräbt], aus denen das entfesselte Bühnengeschehen zur Anschauung kommt.“100 Die Spannungen zwischen diesen Rollen gilt es zu „entfalten“ sowohl im Verständnis der Vorlage als auch in der Ausarbeitung der eigenen Predigt. „In der Predigt werden biblische Worte, Bilder, und Geschichten für die Kanzel inszeniert. Das ist die Grundvoraussetzung dieser Dramaturgischen Homiletik. Sie begreift den gesamten Predigtprozess als dramaturgische Aufgabe“.101 Über den schon genannten Aspekt hinaus, dass die Predigt sich ins Gesamtdrama des Gottesdienstes einzufügen habe, wird der Begriff des Dramas nun auch theologisch spezifiziert. Nicol zufolge muss die Predigt „dramatisch sein, insofern sie ihrerseits auf einer dramatischen Grundlegungsgeschichte beruht“.102 M.a.W. gibt es eine theologisch begründete Analogie der Predigt zum Drama, weil die Gottesgeschichte selbst dramatische Form hat. Der dialektischen Theologie zufolge, an die Nicol anschließt (namentlich an Hans Joachim Iwand)103 handelt es sich um das „Drama des Bundes“, den Gott mit den Menschen geschlossen hat. Dass dieses Drama vielschichtig ist und multiperspektivisch interpretiert werden kann (was selbst zum Begriff des Dramas gehört), ist besonders eindrücklich in der lange verschollenen Markuspassion Johann Sebastian Bachs zu sehen, die 1731 in Leipzig uraufgeführt wurde. Die dramatische Ursprungsgeschichte des Christentums wird hier in Gestalt eines musikalischen Werkes aufgeführt. Deutlich genug ist das dramatische Element selbst etwa an der Rolle zu erkennen, die der Chor spielt, wenn er den Ruf der Menge „kreuzige ihn“ oder vorher das zynische „weissage uns“ mit Inbrunst singt. Für den Gottesdienst gibt die neutestamentlich fundierte Form des Dramas des Bundes den Grund. Wie schon im Psalmgebet, so spielt in der Predigt aber auch die alttestamentliche und die jüdische Form eine Rolle, wird doch das Verhältnis von Christen und Juden nicht nur am Israelsonntag (10. n. Trinitatis) immer wieder thematisch werden müssen. Denn die zu predigenden (alttesta99 Vgl. F. Dürrenmatt, Sätze über das Theater (1970). 100 Seel, Die Künste des Kinos, 86. Mit Blick auf Short Cuts von Alexander Altmann (USA 1993) kann man in diesem Sinne von einem „Perspektivengewirr“ sprechen (128). Seel führt die Differenz zwischen Theater und Kino an weiteren Aspekten durch, die aber allesamt auf die schon von Erwin Panofsky erkannten „spezifischen Möglichkeiten des Films“ der „Dynamisierung des Raums“ und der „Verräumlichung der Zeit“ zurückgeführt werden können (87). 101 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 301. 102 Grözinger, Homiletik, 295. 103 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 256.
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mentlichen) Texte kennen nicht nur die christliche Interpretation, sondern auch eine jüdische. Hier besteht immer wieder neu Klärungsbedarf. Ihm wird ohne distinkte Unterscheidungen und argumentative Sprachformen kaum zu entsprechen sein. In der dramaturgischen Homiletik kommen die diskursiven Predigtformen zu kurz, und das auch dann, wenn sie „nicht von vornherein aus [schließt], dass die Predigt nötigenfalls durch Information Sachverhalte klären hilft“.104 Es geht um mehr als um ein Oszillieren „zwischen den Polen Information und Imagination“. Anders gesagt: Die fundamentaltheologische Verwurzelung des Dramatischen im Gottesdienst vermag nicht zu begründen, dass nun die Form einer Rede dem Drama als Kunstform gegenüber ausgedient habe. Die Predigt wird über der Herausforderung, biblische Texte und Gegenstände des Glaubens „zu entfalten“ (ja sie auf dem Weg einer möglichst genauen Beschreibung von Erfahrung „auszuführen“ [G. Ebeling]) nicht vergessen dürfen, dass es auch darauf ankommt, zu unterscheiden und zu argumentieren. Im Zuge meiner Kritik komme ich noch einmal auf die Markuspassion Bachs zurück. Wenn die Predigt, die mit diesen in der Kirche heimischen Kunstformen in eine Konstellation treten soll, nun selbst dramatische Form annimmt: Wer deutet dann die hoch dramatische Passionsgeschichte, in der der (zum Teil falsch verstandene)105 jüdische Monotheismus auf den christologischen Kern des Christentums trifft? Wer hält dann die Interessen der religiösen und politischen Oberen, der Hohenpriester und der Römer, die Aggressionen der Menge, die Unzuverlässigkeit der Jüngerschar und die Wehrlosigkeit des angeklagten Jesus so auseinander, dass es nicht zu Fehlurteilen kommt? M.a.W. wer bildet die Rezipienten, dass sie nicht den Keim des Antijudaismus, wie er in die Passionsgeschichte gesät ist, zu einer Pflanze züchten? Ein Drama zu sehen bildet nicht schon von allein. Der Bildungseffekt wird hier erst dann eintreten, wenn man die Rollen auf der Bühne einzuordnen und kritisch zu sehen versteht. Es braucht jedenfalls auch die Deutungskompetenz der Predigt, um mit den schon bestehenden dramatischen Darstellungen des „Dramas des Bundes“ reflektiert umzugehen.
4.4.3 Taugt der Film als Modell für die Predigtgestaltung? (zu Jörg Herrmann) Nicol zufolge soll die Theorie der Predigt im Wechselspiel von „moves“ und „structures“ entwickelt werden. „Structure“ als „Gesamtplan eines textualen 104 Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 303. 105 Im Rezitativ heißt es, Pilatus habe gewusst, „dass ihn [Jesus] die Hohenpriester aus Neid überantwortet hatten.“ Das verkennt den Affront, den der Anspruch bedeutete, der Sohn Gottes zu sein.
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Zusammenhangs“ soll sich zu „moves“ verhalten wie ein allgemeines Muster zum einzelnen Detail – das Spiel zwischen diesen beiden theoretischen Bestimmungen lässt sich auf ein Drama ebenso anwenden wie auf einen Film, auf einen Comic wie auf eine Text- oder Bildcollage oder auf ein musikalisches Potpourri. Im konzeptionellen Programm dramaturgischer Homiletik soll es nun auch ein zureichender Begriff der Predigt sein. Ist dieses offene Verhältnis von moves und structures aber nicht zu unbestimmt? Öffnet es nicht Tür und Tor für alle möglichen performances im Altarraum und auf der Kanzel, deren Hauptkriterium die interessante Inszenierung ist, die Aufführung, nicht aber mehr die gelungene evangelische Bezugnahme des Evangeliums auf die Wirklichkeit des menschlichen Lebens als Gesetz? Und bedarf es zu einer solch gelingenden Bezugnahme nicht ebenso der Rede wie der szenischen Darstellung von Spannungsverhältnissen? Wir sind bei einem kritischen Punkt angekommen, an dem homiletische Entscheidungen zwischen Rhetorik und Ästhetik anstehen. Der Prediger als Dramaturg und Schauspieler in einer Person hält keine Rede mehr, sondern führt ein Stück auf. Wenn man dieses Programm an der „Landkarte“ des „,Systems“ der alten Rhetorik“106 spiegelt, liegt hier nun aller Akzent auf der pronuntatio (actio). Die in die Nähe zum Theater gerückte Predigt bedarf zwar immer noch der inventio, doch die dispositio wirkt sich nun in der Anordnung von Szenen und einzelnen Akten aus, nicht mehr entfaltet sie sich als Gliederung des Redestoffes, und die elocutio wird sich auf Rede und Gegenrede, auf die Ausarbeitung von Rollen konzentrieren müssen, die der Prediger dann miteinander ins Gespräch bringt. Statt dass die Predigt sich auf Filme als Beispiel bezieht, ahmt die Form der Predigt nun Szenenwechsel und Schnitt im Film nach. Predigten sollen nicht mehr (oder jedenfalls nicht primär) deuten, zum Verstehen anleiten, interpretieren und Zusammenhänge klären, sondern offene Verweisverhältnisse darstellen – man sieht, wie Nicols Programm an die frühere These von der Predigt als einem offenen Kunstwerk anschließt. Die Predigt wird ganz und gar zu einem Medium der Darstellung. Die Arbeit des Verstehens muss der Hörer – oder vielleicht besser noch der Zuschauer – selbst für sich leisten. Es fragt sich, ob eine so verstandene Predigt nicht grundlegender Aspekte des Wort- und Sprachgeschehens verlustig geht, auf die sie selbst sich am Beispiel der Gleichnisse Jesu bezogen hatte. Diese Probleme sind von Jörg Herrmann nicht ausgeräumt worden, der Nicols Programm ausdrücklich gewürdigt hat. Zu den Konsequenzen, die er aus den Ergebnissen seiner Fallstudien zur Medienreligion zieht, gehört zum einen, „religiös valente Medienerfahrungen in Gottesdienst und Predigt aufzugreifen“, und zum anderen, „von der Ästhetik der Medien zu lernen und das Predigt106 Grözinger, Homiletik, 197.
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machen noch stärker unter ästhetischen Gesichtspunkten zu fassen“.107 Die dramaturgische Homiletik Nicols wird unter dem zweiten Aspekt einer Handlungsempfehlung, einer zeitgenössischen homiletischen Produktionsästhetik referiert. Für den ersten Aspekt einer Integration von Medienerfahrungen werden die Experimente mit Film- und Literaturgottesdiensten genannt. Die Gestaltung von Predigten müsse die „durchkomponierte Dramaturgie“ des Films ebenso wie „seine sinnliche Bildlichkeit“ sich zum Vorbild nehmen (358). Fragt man wieder nach dem Verhältnis zum alten rhetorischen Schema, so erkennt man leicht die dispositio einerseits und die elocutio andererseits wieder. Doch nicht mehr dient die Disposition nun dem Aufbau einer Rede, sondern dem Zusammenhang bzw. dem Muster („structure“) von „bewegten Einheiten“ („moves“). Die Entwicklung eines Gedankens hat ausgedient, an Stelle des Schemas eines Aufbaus ist nun das der Fläche oder eines Gewebes getreten. Es kommt nun auf die Oberfläche und nicht auf den Tiefgang an. Den möchte man – wenn die Hörer weiterer Begründungsfragen denn bedürfen – der Gemeinde selbst überlassen; der Prediger soll seine Arbeit gut gemacht haben, wenn er auf der Oberfläche bewegte Einheiten in einen lockeren Zusammenhang bringt. Und für das Material, aus dem diese bewegten Einheiten gebaut sind, sei viel mehr das Bild als der Gedanke zu bevorzugen, mehr das Bild auch als Schriftzitate und Textfragmente. Das, so scheint es, gewinnt seine Plausibilität daraus, dass die Predigt nicht im luftleeren Raum gehalten wird, sondern jeweils auf die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen antworten muss – heute auf die „Dominanz des Visuellen“. Deshalb wird auch empfohlen, nicht nur Bilder der Medienkultur zu zitieren, sondern auch die Bilder in den biblischen Texten neu zu entdecken, um sie „lebendig, bedeutsam und wirksam“ zu machen. (359) Kommt aber nicht der Anspruch hermeneutischer Arbeit des Verstehens zu kurz, wenn der Akzent nun ganz auf der Darstellung, der Inszenierung, der Kombination von „Einheiten“ liegt? Um ein Beispiel zu bringen, stellt sich die konkrete Frage, wie der Predigttext Offenbarung 5, 1–14 ausgelegt und der Gemeinde nahe gebracht werden kann, wenn man ihn nur in Szene setzt und die Bilder des Löwen, des Lammes und des Buches mit sieben Siegeln nicht kritisch betrachtet. Wenn Herrmann nun fortfährt – ähnlich wie schon Grözinger das trinitätstheologische Drama als Grundmuster dramaturgischer Predigt in Anspruch genommen hatte: „Predigt wäre also auch als ein Inkarnationsgeschehen zu reflektieren, bei dem zur Debatte steht, wie gut es gelingt, bestimmte Inhalte nicht nur auszusagen, sondern eben auch in ihrer szenenhaften Ganzheitlichkeit zur ästhetisch gelungenen Aufführung zu bringen“ (359), so ist hier die Metaphorik des johanneischen Satzes, dass das Wort Fleisch wurde, festgelegt auf die 107 Herrmann, Medienerfahrung und Religion, 354.
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Sinnlichkeit unserer menschlichen Sinne, wobei nun nicht mehr die Kompetenz des Ohres (das Hören, aus dem der Glaube kommt), sondern die der Augen (das Sehen mit all seiner Begehrlichkeit) ins Zentrum gerückt worden ist. Zudem soll es auf Gestik und Mimik verstärkt ankommen, wird doch das darstellende Handeln des Predigers nun nahe an die Schauspielkunst herangeführt. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sinnlichkeit und dem Sinn scheint in derartigen konzeptionellen Programmen kaum noch ausreichend reflektiert zu sein – ebenso wenig übrigens wie das Verhältnis von Bild und Gedanke. In der Tat sind Begriffe ohne Anschauungen leer, weshalb schon das Älteste Systemprogramm forderte, dass die Philosophen sinnlich würden (s. o. Abs. 4.3.1). Zugleich muss aber die andere Einsicht festgehalten werden, dass Anschauungen ohne Begriff blind sind. Man möchte fragen, ob nicht in der kritischen Deutung der Bilderflut in der zeitgenössischen Medienkultur die vielleicht noch größere Herausforderung – auch für die Predigt – besteht, als in dem ästhetischen Programm, biblische Texte in Szene zu setzen (H. Luther), Predigten dramaturgisch aufzubauen und wie in einer collage Textfragmente bzw. Bildsequenzen miteinander zu kombinieren. Folgte man dieser produktionsästhetischen Maxime, so wäre der Schritt nicht weit, sich auch am „rasanten Filmschnitt“ zu orientieren, der einer trefflichen Deutung von Sibylle Lewitscharoff zufolge „der Pate“ des „Kurzsatzes“ ist. Mit der beißenden Ironie, die ihr zu Gebote steht, beschreibt sie den „Kurzsatz“ folgendermaßen: „Er nährt sich von Fast-Food-Packages, die ein Angestellter vom Band nimmt, der ein kurzärmeliges Uniformhemdchen trägt.“108 Vom durchdachten, schlüssigen Aufbau einer Rede in gelungenen sprachlichen Formulierungen bleibt so kaum mehr etwas übrig. In der Tat scheint „das enge Aufeinanderbezogensein von Form und Inhalt, von sinnlicher Darstellung und Sinnperspektive … einer Predigt Wirkung“ zu verleihen.109 Warum aber soll die am Film orientierte Kombinatorik zu einer größeren Wirkung beitragen als der alte Anspruch, als Redner mit seiner Rede überzeugen, und als Seelsorger mit seiner Predigt trösten zu wollen? Wie soll die offene Kombinatorik diesen Zwecken besser dienen sollen als der überlegte, schlüssige Aufbau? Gelungen ist die gesuchte Einheit von Form und Inhalt wohl nie, wenn allgemeine Wahrheiten dogmatischer Art mitgeteilt wurden. In der Tat kommt es darauf an zu fragen, „ob Allgemeinaussagen auch sinnlich gedeckt sind, ob sie deutend auf Erfahrung bezogen sind“ (ebd.). Diese Forderung ist aber keineswegs neu. Sie war schon im alten Schema von explicatio und applicatio impliziert und in der Forderung nach Konkretion präsent.
108 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 103. 109 Hermann, Medienerfahrung und Religion, 359.
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4.4.4 Die Mehrdeutigkeit der Performation „Orientiert sich also die Erarbeitung der Predigt mit guten Argumenten am Film-Paradigma, so ist die Theorie ihrer konkreten Aufführung an das TheaterParadigma verwiesen“ (359f) – so liest es sich bei Herrmann. Diese Weichenstellung in der homiletischen Produktionsästhetik wirft die Frage auf: Wie verhält sich das Rollenspiel zur Authentizität dessen, der hier zum Schauspieler geworden ist? Für den Prediger gibt es aus dieser Spannung kein Entrinnen. Gewiss hat er seine Rolle als Liturg zu spielen, und die beginnt meist damit, dass er sich den Talar überwirft. Kleider machen Leute – nun ist er eine priesterliche Gestalt: so jedenfalls nehmen ihn die Leute wahr, die zumeist nicht wissen, dass der Talar einmal ein Gelehrten-Gewand war. Doch als diese priesterliche Gestalt soll er nun auch predigen, und d. h. er soll – mit Gerhard Ebeling zu sprechen – sein freies, eigenes und konkretes Wort sagen. In dem Maße, in dem er eben diesem subjektiven Anspruch nachkommt, und ihn als das menschliche Individuum erfüllt, das er als „ganzer Mensch“ auch ohne Talar ist, tritt die Authentizität zum Rollenspiel in ein Spannungsverhältnis. Nietzsche hat es mit kritischer Polemik auf den Punkt gebracht. „Ich liebe … eure Feste nicht: zu viele Schauspieler fand ich dabei, und auch die Zuschauer gebärdeten sich oft gleich Schauspielern“, heißt es in Also sprach Zarathurstra.110 Der Anspruch, dass Homiletik als eine Rhetorik begriffen werden kann, die der Wahrheit fähig ist, gerät auf diese Weise in ein Zwielicht. In diesem Sinne hatte Kant geschrieben: Ein Schauspieler „will repräsentieren und erkünstelt einen Schein von seiner eigenen Person; wodurch, wenn man diese Bemühung an ihm wahrnimmt, er im Urteil anderer einbüßt, weil sie den Verdacht einer Absicht zu betrügen erregt.“111 Diesem kritischen Gesichtspunkt fügt er aber einen gewissermaßen phänomenologischen hinzu, der eine kulturanthropologische und ethische Bedeutung hat. „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler ; sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen, weil ein jeder andere, dass es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständig ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über“ (43)
Damit ist zwar noch nicht die Performation im Blick, von der die spätere Theorie handeln wird. Aber das Argument Kants geht doch in die gleiche Richtung: Die gesellschaftliche Rolle, die ein Mensch spielt, schließt darstellerische Fähigkei110 Nietzsche, KSA Bd. 4, 78. [Teil I: Von der Nächstenliebe] 111 Kant, Anthropologie, 18.
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ten ein. Durch die Darstellung einer Rolle (performance) wird ein Bildungsprozess in Gang gesetzt, der auch am Darsteller nicht spurlos vorübergeht. Was genau aber ist gemeint, wenn heute vielfach gefordert wird, es komme darauf an, die Predigt als einen performativen Akt zu begreifen? Der Begriff ist in der homiletischen Literatur m.W. zuerst durch Henning Luther eingeführt worden, der in einem Beitrag den Begriff der Predigt als Handlung ausgearbeitet hat (s. u. Abs. 6.1).112 Indem er an die Leitfrage der Sprechakttheorie anschloss, how to do things with words, hob er auf die Wirksamkeit der Predigt als Rede ab. Es kommt eben nicht nur darauf an, (im Sinne bloßer Information) etwas zu sagen, sondern in eine bestimmte Situation hinein zu sprechen, um mit performativen Sprechakten etwas zu bewirken. Die bloße Lokution (man sagt etwas ohne spezifischen Sinn und Zweck) ist über die Stufe der Illokution (man bezieht sich mit seinem Sprechen auf eine Situation, auf eine Sache, auf jemand anderen) zur Perlokution geworden (man ruft mit seinen Worten eine beabsichtigte Wirkung hervor). Für die Predigt ist eben diese dritte Art des Sprechens erstrebenswert; es kommt aber darauf an, dass man mit seinen Worten auch das bewirkt, was man hat bewirken wollen. Homiletische Rezeptionsprobleme entstehen dann, wenn etwas ganz anders gewirkt hat als es intendiert wurde, wenn also statt aufklärender Information ein drohender Ton wahrgenommen wurde, wenn statt in tröstende Nähe das Wort in die dünne Luft der Abstraktion aufgestiegen war. Der Trost der Religion kann nur so mitgeteilt werden, dass die seelsorgerlich ausgerichtete Predigt auch tröstet, indem sie die Trostbedürftigen anspricht (vgl. dazu Abs.3.6.1; 3.7.5). Die Versöhnung mit Gott ist kein theoretischer Gegenstand allein, sondern wird praktisch und d. h. für den diese Versöhnung Suchenden erleb- und erfahrbar erst durch Worte, die die Vergebung der Sünden zusprechen. Das Kind wird nicht getauft durch Erklärungen, was die Taufe eigentlich bedeutet, sondern durch die Worte „Ich taufe dich auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. So wirkt auch die gelingende Predigt den Glauben. Eine performative Predigt lässt den vorher vielleicht verstimmten Hörer wie ein gut gestimmtes Instrument nach Hause gehen. Wo vorher grau in grau vorherrschte, ist es nun bunt geworden. Der Trübsinn ist in Freude verwandelt. Sorgen und Ängste sind neuem Lebensmut gewichen. Nun erfreut sich der Begriff der Performanz aber einer weiteren Verbreitung als nur in der Sprechakttheorie oder in der Predigtlehre. Man kann seine Deutungsfunktion ausweiten über die Wirkungen von Reden hinaus, indem man ihn 112 H. Luther, Predigt als Handlung, 222–239. Vgl. weiter: Frank M. Lütze: Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik (Arbeiten zur praktischen Theologie 29), Leipzig 2006. A. Grözinger, Homiletik, 290–300.
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auf Diskurse bezieht. In diesem Sinne verfolgt etwa auch Ulrich Wickert mit seinem Buch der Tugenden ein performatives Interesse. Er will „Worte wie Tugend wieder in das bewusst erkannte System der Ethik einordnen, so dass sie besser funktionieren und nicht nur Wünsche oder Ideen bleiben“.113 Und der Soziologin Eva Illouz zufolge wird (mit Bezug auf P. Bourdieu) „ein Diskurs … dann performativ, d. h. er wird dann in der Lage sein, aus eigener Kraft die Wirklichkeit zu benennen und zu verändern, wenn diejenigen, die diesen Diskurs führen, auch für das ,symbolische Kapital‘ der Gruppe stehen, die sie repräsentieren“.114 Wer performativ handelt, sei es mit Worten, sei es mit Taten, „benennt“ Wirklichkeiten, um sie zu „verändern“; er bewirkt etwas, so dass man sagen kann, was er auf den Weg gebracht hat, hat „funktioniert“. Verfremdet kann man in diesen Äußerungen einen Zusammenhang wiedererkennen, der auch für die Kommunikation des Evangeliums vorauszusetzen ist. Doch der Anspruch, die Predigt möge ein performativer Sprechakt sein, ist zugleich bescheidener und herausfordernder, weil er sich weder auf den Repräsentanten einer Gruppe noch auf die Gruppe noch auf beide zugleich stützt, sondern in einer unverfügbaren Wirkung gründet. Die Performanz der Predigt liegt m.a.W. in einem Zwischenbereich zwischen verantwortlicher Rede und auf Wirksamkeit bedachtem Handeln einerseits und nicht durchweg planbarem Wirken der Worte, die ein Prediger spricht, andererseits. Ob es „funktioniert“, liegt nicht in der Hand des Predigers allein, sondern ubi et quando visum est deus. Wie an der ästhetischen Wende in der Homiletik zu sehen ist, bei G.M. Martin und M. Nicol (um es hier mit den besprochenen Autoren gut sein zu lassen), ist der sprechakttheoretische Sinn der Performation aber eng verknüpft mit dem dramatischen. Es schwingt in dem Terminus eben auch die Bedeutung des englischen Ausdrucks performance mit, d. h. der „Aufführung“, die im Schauspiel, im Theater, auf der Bühne ihr Vorbild hat. Es gibt performative Sprechakte ohne große performance: sie geschehen unspektakulär und bewirken doch, was sie haben bewirken wollen. Andererseits gibt es auch performances im Sinne von Aufführungen, die selbstgenügsam sind und also kaum das bewirken, was sie sagen – nicht also performativ sind, sondern vielleicht nur informativ oder vielleicht nicht einmal das. Bei Nicol gewinnt das Performative im Rahmen seines dramaturgischen Paradigmas noch einmal einen anderen Akzent. Mit Bezug auf Jürgen Flimm, einen Regisseur am Theater, macht er die Wechselseitigkeit deutlich, in der Prediger und Gemeinde s. E. „einander ins Bild setzen“ sollten. Flimm zufolge ist
113 U. Wickert, Das Buch der Tugenden, 31. 114 E. Illouz, Die Errettung der modernen Seele, 102.
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„das Theater aufs Mitmachen der Zuschauer angewiesen. Ein Theaterabend ist ein Dialog. Ein Dialog zwischen dem Schauspieler und dem Publikum. Die entscheidende Frage also ist: Werden die Geschichten auf der Bühne so erzählt, dass die Leute noch daran teilhaben können? Oder fühlen sie sich ausgesperrt, überfordert? Wenn im Theater kein Dialog stattfindet, sondern nur noch ein Monolog – dann führt das zu dieser elenden, präpotenten Langeweile“.115
Performanz wird hier auf Mitspielen, Mitmachen, Beteiligung zugespitzt – d.i. eine weitere Bedeutung noch, als die sprechakttheoretische oder die einer Aufführung. Man muss also spezifizieren, was man meint, wenn man von der performativen Predigt spricht. Und man wird fragen dürfen, ob der Begriff der Performanz nicht überspannt wird, wenn er in dem Sinne aufgefasst wird, dass Gottesdienste zur Mitspielshow werden.116
4.4.5 Welche Bedeutung und Funktion hat die Kunst für die Predigtarbeit? Es kommt darauf an, genau zu unterscheiden, was Analyse eines Werkes, eines Romans, eines Films, und was Handlungsempfehlung für die Predigt ist. Es ist zu bestimmen, was genau die Predigt von den Künsten lernen, und auf welche Weise der Bezug auf sie in der Predigtarbeit seinen Platz finden kann. In der Tat wird zu den wichtigsten hier zu nennenden Aspekten eine geschärfte Wahrnehmung gehören: Was sind die Phänomene, die in der Predigt zu beschreiben sich lohnt? Die Antwort wird lauten: Es sind alle Phänomene des Menschlichen, die Liebe und der Tod, das Verhältnis von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, von Lehrern und Schülern, die Einsamkeit und die Erfahrung von Gemeinschaft, die Krankheit und die Behinderung, das Jungsein und das Älterwerden, die kulturelle Prägung, ohne die wir nicht wären, was wir sind. Es sind die Verhältnisse von Arbeit und Muße, Gerechtigkeit und Frieden, Schuld, Sühne und Vergebung. In der Tat kommt es darauf an, das Menschlich-Allzu Menschliche in der Predigt zu beschreiben, um auf diesem Hintergrund der Wirklichkeit des Lebens als einer Gestalt des Gesetzes all die positiven Kräfte namhaft zu machen, die durch das Evangelium hervorgerufen und gestärkt werden können: die Hoffnung und den Lebensmut, das Vertrauen in sich selbst, in die anderen und in Gott, das Mitleid, die Verantwortung für den anderen und die Gelassenheit in den Unwägbarkeiten des Lebens. Wie sind die Phänomene des Menschlichen möglichst dicht, treffend und 115 Zit. nach Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 305. 116 P. Iden, Der Pastor als Entertainer. Wenn Gottesdienste zur Mitspiel-Show werden, in: Frankfurter Rundschau vom 14. Oktober 1995, 9.
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genau zu beschreiben? Hierbei kann die Kunst dem Prediger zu Hilfe kommen. Romane erzählen von der wirklichen Erfahrung der Menschen eines Zeitalters, seien dies die Geschichten von der Bildung des jungen Zeitgenossen zu einem erwachsenen, der Selbstfindung in dem Sinn, dass die erkannten subjektiven Bedürfnisse, Fähigkeiten und Gaben in ein einigermaßen stimmiges Passungsverhältnis zu den Lebensbedingungen gebracht werden, der Erfahrung von Widersprüchen zwischen subjektivem Willen und Chancen, die die objektive Ordnung der Gesellschaft eröffnet oder verschließt. Zu denken ist an die Klassiker wie Goethes Dichtung und Wahrheit, Jane Austens Darstellung der Emanzipation einer jungen Frau in Verhältnissen zwischen Aristokratie und Bürgertum in England, die französischen Gesellschaftsromane (Flauberts Madame Bovary, Victor Hugos Les Miserables, sowie die deutschen: Fontanes Effi Briest, Thomas Manns Die Buddenbrocks). In den Blick zu nehmen sind aber nicht nur die Werke der klassischen Moderne, sondern auch die Kritik des Bildungsromans in Werken wie James Joyce’ Ulysses, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Einzubeziehen sind schließlich auch solche Werke der Gegenwartsliteratur, die die Technik des Filmschnitts für ihre Erzählkunst fruchtbar gemacht haben: so haben sie Antizipationen und Rückblicke „inszeniert“ und überhaupt die Schwierigkeit der menschlichen Erinnerung thematisch gemacht, wie sie sich etwa in Bild- und Szenenfolgen zum Ausdruck bringt, die der scheinbar so wirren Ordnung des Traums ähnlich sind. Paul Auster und Martin Suter haben die Technik des Filmschnitts überzeugend in ihre Produktionsästhetik von Romanen integriert, um hier nur zwei Autoren zu nennen. Filme haben für die Predigtarbeit eine ähnliche Bedeutung und Funktion: sie zeigen die Wirklichkeit und inszenieren Abfolgen von Ereignissen in Vor- und Rückblenden. Sie bringen komplexe Strukturen mit den Mitteln des Schnitts auf die Leinwand, um etwa das Funktionieren eines Geheimdienstes zu zeigen (vgl. neuerdings: Der Mann, der niemals lebte mit Leonardo DiCaprio und Russel Crowe, oder die Verfilmung von John le Carre’s Marionetten – A Most Wanted Man). Sie zeigen den Wahnsinn des Krieges (so in Von Löwen und Lämmern über Afghanistan, bzw. im Klassiker Die Brücke am Kwai oder in dem russischen Film Die Kommissarin). Sie zeigen die Schwierigkeiten des Alterns (in An ihrer Seite), oder die Differenz gesellschaftlicher Milieus, kultureller Prägung, sowie die Möglichkeit, unter dieser Voraussetzung Brückenschläge zwischen den getrennten Bereichen, getrennten Personen zu erleben (vor wenigen Jahren mit großem Erfolg in Ziemlich beste Freunde). Dank ihrer narrativen Potenz vermögen Filme aber auch den Weg eines Menschenlebens nachzuzeichnen und darzustellen mit allen Hoffnungen, Verfehlungen, Umwegen und Bildungserlebnissen. Sie vermögen zu zeigen, wie ein in sich verschlossenes stummes Selbst zur sprechenden Seele werden kann (so in
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Tsotsie), wie ein Trauerprozess nach dem schmerzhaften Verlust der eigenen Familie zur Versöhnung mit sich selbst und dem Leben der anderen führt (so in Drei Farben Blau), wie die Kritik an der Zivilisation und der eigenen Herkunftsfamilie, dem eigenen Herkunftsmilieu in eine Flucht vor allem Bisherigen und eine Einsamkeit führen kann, die einen abenteuerlustigen und freiheitsliebenden jungen Mann am Ende das Leben kostet (wie in Into the Wild), oder wie die Gruppendynamik als Schicksalsmacht auch modern-aufgeklärter Verhältnisse den Weg bereitet, dass ein Einzelner sich der Gewalt von Verbrechern gegenüber in eine Verantwortung ziehen lässt, die bis zur Stellvertretung geht (im Western Man nannte ihn Hombre) – die Reihe der Beispiele möge genügen, sie ließe sich fortführen.117 Doch es ist nicht nur die narrative Potenz, die Filme geeignet erscheinen lässt, um in einer wirklichkeitsnahen Beschreibung von Erfahrung voran zu kommen. Es verbindet sie mit den großen Gemälden und mit der Photographie, dass sie in einzelnen Einstellungen den Ausdruck von Gesichtern, von Gesten und mimischem Spiel einfangen, der menschliche Haltungen und Möglichkeiten auf den Punkt bringt – das Auslachen etwa als unsolidarische Form des Lachens, oder das befreiende Lachen über eine eingesehene Dummheit, oder das in sich versunkene Lächeln dessen, der sich mit Humor über seine eigene, vielleicht schwierige, Lage ein wenig hinweg zu setzen vermag.118 Es kommt auf klare Unterscheidungen an „zwischen dem Lachen der Selbstgefälligkeit, der Sattheit, der Überhebung, der Schadenfreude, des Hohnes und dem Lächeln, das von der himmlischen Heimat der menschlichen Seele ausgeht.“119 Das Lächeln gilt Hermann Cohen als „Wetterscheide zwischen Himmel und Hölle“: es spiegelt sich in ihm das „untrügliche Sonnenlicht der Güte“ (305). In besinnlichem Schmunzeln und in sich versunkenem Lächeln, zu dem die von diesem jüdischen Philosophen der Moderne besprochenen Künstler mit ihren Werken anleiten oder das sie zeigen, kommt Menschenliebe zum Ausdruck. In diesem Sinne deutet Cohen u. a. die Portraits Rembrandts, aber auch Details in den großen Werken von Rubens, Michelangelo, Raffael, Leonardos und vieler anderer mehr ; auch in den Werken der Musik hat er Humor entdeckt, bei
117 Vgl. dazu meine Filmpredigten (I [2010, 22011], II (2012]), in denen ich mich mit vielen der genannten Filme auseinandergesetzt habe. 118 Als Beispiel für das Auslachen sei die Szene von der missglückten Flucht Virgil Starkwels (Woody Allen) aus dem Gefängnis in dem Film Take The Money And Run (USA 1969) genannt. Ein Lachen über die eigenen Irrwege findet sich am Ende des Films Der Schatz der Sierra Madre (USA 1948) dargestellt. Nachdem die drei Kollegen im Goldrausch alles verloren haben, lacht der übrig Gebliebene – gespielt von W. Huston – über all die Gier und die Dummheit, von der sie sich immer stärker haben leiten lassen, sowie über die Ironie der Geschichte (vgl. Dober, Filmpredigten, 22011, 109–117). 119 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 306.
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Mozart und Beethoven etwa.120 Letztlich ist die Menschenliebe das Kriterium des guten, angemessenen Humors. Und wenn es stimmt, dass man an die Menschenliebe zu glauben lernen müsse (vgl. 306), dann kommt der Kunst die Aufgabe zu, zu solchem Lernen den Weg zu bereiten – der Kunst jedenfalls, in der „der Geist des Humors die Seele … [der] Menschenliebe“ des Künstlers ist.121 Der Unterscheidung mit Hilfe der Begriffe entspricht hier die Anschauung von Bildern, die das Phänomen des Lachens in unterschiedlichen Variationen zeigen. Für eine deskriptive Predigt kommt es darauf an, dass Begriff und Anschauung so aufeinander bezogen sind, dass die Anschauungen nicht blind und die Begriffe nicht leer werden. „Einander ins Bild zu setzen“, um eine Formel von Nicol zu gebrauchen, setzt voraus, dass man weiß, worüber man ins Bild setzen möchte. Schließlich ist auch die Differenzierung, die zu Beginn hinsichtlich des Gebrauchs von Sprache überhaupt gemacht wurde – dass sie ein Instrument ebenso wie ein Medium sein kann – als ein mögliches Thema für eine Predigt in Anspruch zu nehmen. Die Perikopenordnung ist vielfältig und reich an Texten, die die Fülle der Erfahrung ansprechen. So gibt es auch zur Predigt vorgeschlagene Texte, die über das Wesen des Wortes nachzudenken anregen, wenn etwa in Heb 4, 12 die Rede davon ist, das Gotteswort sei ein „zweischneidiges Schwert“, oder wenn es Jes 55, 11 heißt, es werde „nicht wieder leer zu mir [zu Gott] zurückkommen“. Worte können trennen, die Spreu vom Weizen scheiden, sie können aber auch in eine Nähe führen, in der das zwischenmenschliche Vertrauen ebenso wie das zu Gott seinen phänomenologisch überzeugenden Ort hat. Worte können binden und Realitäten schaffen, wie die Sprechakttheorie lehrt. Im Ausgang von derartigen Predigttexten ist die Predigt als Gestalt des Gotteswortes herausgefordert, reflexiv zu werden. In welcher Form dieser sachliche Aspekt dann dargestellt, auf die Bühne gebracht und inszeniert wird, ist nicht von vornherein ausgemacht – dramaturgische wie argumentative Formen stehen als Optionen zur Verfügung, und es empfiehlt sich um des Wahrheitsanspruchs der Predigt willen nicht, eine Form prinzipiell der andern vorzuziehen. Denn dieser Wahrheitsanspruch hängt daran, ob das geschriebene Wort der Bibel, welches das Evangelium bezeugt, durch das Wort der Predigt befreiend, lösend, erlösend wirken kann. Es ist der Wahrheitsanspruch eines Entsprechungsverhältnisses, das dem schon zitierten Wort Benjamins zufolge „mit Zeit bis zum Zerspringen geladen“ ist. Welche Darstellungsform vom Prediger gewählt wird, ist weniger wichtig als die andere Frage, ob in der gewählten Darstellungsform die Entsprechung von Verheißung des Evangeliums und Wirklichkeit des Lebens 120 Cohen, Ästhetik II [Werke 9], 175–184 (zu Mozart). Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 326–330 (zu Beethoven). 121 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 302.
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gelingt. Das nämlich ist das Kriterium der Wahrheit, die in der Predigt auf Zeit bezogen ist. Wenn Predigten auch den Willen ansprechen wollen, und wenn diese Ansprache nur durch eine Läuterung der Motive zum Handeln hindurch möglich scheint (weil die Predigt des Evangeliums der feinen Unterscheidungen bedarf, um nicht gesetzlich zu werden), dann wird es argumentativer Predigtpartien bedürfen.122 Es wäre fatal, wenn die ästhetische Wende in der Homiletik nicht nur zu einer Reduktion der Predigtformen, sondern – wie en passant – auch der Gegenstände führte, die in einer Predigt thematisch werden können. Für eine deskriptive Predigt ist es nicht nur u. a. hilfreich, sondern gewissermaßen notwendig, dass der Prediger sich bei den Künsten Rat holt. Denn in Skulptur und Bild, in Drama und Film sind Phänomene zur Darstellung gebracht worden, auf die die Predigt mit gutem Grund zu sprechen kommen kann. Als ein letztes Beispiel sei hier die Erfahrung von Nähe genannt, wie sie zu Beginn mit L|vinas beschrieben worden ist (Abs. 2.3.2). Sie kann sich auch ohne Worte einstellen, durch Blicke, durch zutreffende Wahrnehmung der Situation des anderen, durch das Entstehen von Mitleid aufgrund der Einsicht, dass der andere ist „wie ich“ und meiner Hilfe bedarf. Sehr schön ist das in dem Film Ein Sommer in New York dargestellt, der einen unter seiner Lebenskrise leidenden Universitätsdozenten auf ein asylsuchendes Paar treffen lässt. Zwischen dem trommelnden Exilsyrer und seiner Freundin aus Westafrika, dann auch der Mutter des Flüchtlings aus Syrien, und dem einsamen Witwer Walter Vale stellt sich unter der Bedingung größter Distanz immer wieder eine Nähe ein, die zutiefst human ist.123
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Predigten erfordern, dass das Höchste menschlicher Kunst daran gesetzt wird, um dieser Mitteilung des Glaubens Gestalt zu verleihen (vgl. Abs. 4.3.4). Diese Forderung leitet sich erstens aus der Einsicht ab, dass Predigen – wie jede Kunst – ein Handwerk ist. Der Vergleichspunkt besteht in erlernbaren Fähigkeiten und in einer Übung, die erforderlich ist, damit eine Predigt in einer angemessenen Zeit entstehen kann. Nicol hat aber zurecht daran erinnert, dass der Vergleich mit dem Handwerk seine Grenze in der spezifischen Bestimmung des Produkts findet. Die Predigt ist zweitens immer Schritt auf einem Weg, der noch andauert, Fragment aufgrund ihres Situationsbezug, das nur „zeitgebunden, zeitgenährt“ (Rosenzweig) der auf Dauer gestellten Aufgabe des Übersetzens entsprechen 122 S.o. Abschnitt 3.6.2. 123 Englisch: The Visitor (USA 2007, Regie: Thomas McCarthy).
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kann. (s. o. Abs. 4.3.2) Aufgrund dieser Bestimmung ist die Predigtkunst „eine Tätigkeit, ,deren Wirkung riskant bleibt, die aber gewagt werden muss‘“.124 Auch in dieser Hinsicht ist die Predigt einem Kunstwerk ähnlich: Sie kann bis kurz vor dem Zeitpunkt, an dem sie zu halten ist, verändert werden. Nicol spricht vom „Predigtmachen“ als einer „Kunst eigener Art und eigener Würde“ (307). Doch diese muss nicht in den schon bekannten Oppositionsverhältnissen von „Vortrag“ und „Drama“ bestimmt werden. Sie muss sich auch nicht an der Technik des „Filmemachers“, des „Theater- oder Liedermachers“ (ebd.), sondern kann sich auch weiterhin am Ideal des guten Redners orientieren. Damit aber nicht „alles nur gemacht“, und also kraftlos bleibt, wird es auch „gezeugt“ sein müssen, um mit einer Stelle aus einem Brief Fontanes an seine Frau zu sprechen, von der Blumenberg sich zu einer Glosse hat anregen lassen. „Genitum“ ist „als Lebensäußerung“ eben viel mehr als „factum“ – wenigstens das lässt sich sagen, wenn man die „Formel des Credo“ für ein ästhetisches Produktionsverhältnis in Anspruch nimmt.125 Ohne Schwierigkeit ließe sich dann mit Heine anschließen: „Die That ist das Kind des Wortes“, während alles, „was [nur] durch die Kunst entstanden ist“, unfruchtbar, kinderlos, „schöne Statue“ bleiben muss.126 Drittens wird aber die Predigt als eine Rede unter ästhetischen Gesichtspunkten unter dem Kriterium der „Formenstrenge“ zu beurteilen sein. Das mit diesem Kriterium Gemeinte wird deutlich, wenn man es via negativo, aus einem Manko bestimmt: „Die Formlosigkeit der Hemdsärmel ist immer nur als Nachlassen und Ablassen von der Formstrenge fasslich: Formlosigkeit ist Nachlässigkeit“, heißt es bei Rosenstock.127 Weil „Reden … gefährlich“ sind, die „Akte eines Redners so präzis wie chirurgische Operationen“ (48), deshalb gehört es zur Verantwortung des Redners, jede Nachlässigkeit zu vermeiden. In dieser Gefahr stünden die Gelehrten und die Kinder – letztere weil sie die Form noch nicht kennen, erstere weil sie „die Formenstrenge der sprachlichen vollen Macht … [leicht] vernachlässigen und die Sprache ihrer Namensmacht … entkleiden“ (54f). Die Form ist aber nicht „aus der Formlosigkeit“ zu erklären, „die Vollmacht nicht aus der Nachlässigkeit“, wie die „Kindergartenfanatiker“ das tun (48). Im Gegenteil sei Formstrenge eine Bedingung der Namenssprache, die im Unterschied von der Begriffssprache die Verantwortung für das Gesagte auf sich nimmt (s. u. Abs. 5.3.). Es geht nicht um eine „ungefähre Sprechweise“ (49), wie sie der Kindersprache eigen sei. Bei seinem Namen gerufen zu sein und in dieser Verantwortung zu leben fordere vielmehr die unablässige Bildung zu einem Erwachsenen, bzw. die fortschreitende Bildung des Erwachsenen. Ein 124 125 126 127
Nicol zit. H. Luther, Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 306. Blumenberg, Vor allem Fontane, 147f. Heine, zit. nach Cohen, Werke 12, 225f [Heinrich Heine und das Judentum]. Rosenstock, Der Atem des Geistes, 48.
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Kennzeichen dieser Bildung ist die Formenstrenge, die im Fall der Predigt keineswegs zuerst und vor allem in der Homilie zu realisieren ist. Die Formenstrenge ist für alle Predigtformen zu fordern, weil nur so der „Dreistigkeit und Unbestimmtheit“ zu begegnen ist, die sich beim „,bloßen‘ Reden“ einstelle (52). Schließlich wird man sagen können: die kunstvolle Gestaltung von Sprache erst erlaubt die fundamentalen theologischen und sprachtheoretischen Unterscheidungen darzustellen und zu sehen: theologisch die zwischen Gesetz und Evangelium, sprachtheoretisch die zwischen instrumentellem und medialem Sprachgebrauch (s. o. Abs. 2.4). Sprache ist zwar ein System von Zeichen, ihr Wesen (als Medium) geht aber nicht in einem funktionalen Gebrauch von Zeichen auf. Erst in der Sprache, die zum Medium geworden ist, wird dieser Unterschied offensichtlich in Erscheinung treten. Nur in der Sprache als Medium wird die Spur dessen, der gesprochen und geschrieben hat, nun aber „schon vorüber gegangen ist“, sichtbar gemacht werden können.128 Eben auf diese Weise aber ließ sich die Dimension des Geheimnisses fassen, die in der gesprochenen Sprache zwischen dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Aussprechlichen und dem Unaussprechlichen spielt (2.4.1), oder – um es mit einem Romanzitat zu sagen – „die Epiphanie, durch Worte etwas zu erkennen, was sich in Worte nicht fassen lässt.“129 Je nachdem, ob und wenn ja: in welchem Maße die Predigt das Gespräch mit den Künsten als Ausdrucks- , Darstellungs- und Reflexionsmedien der allgemeinen Kultur sucht, wird es zudem darauf ankommen, die Rationalität zu pflegen, die oben mit Andreas Kilcher angesprochen wurde (Abs. 4.3.2): Es kommt dann auf die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, kombinatorische Verbindungen und „feine Übergänge“ an. Nur unter Gebrauch einer solchen Methode werden das Gedicht und der Roman, das künstlerische Bild und das szenische Spiel, sowie der Film in die Predigtarbeit einbezogen werden können. Auch im Fall solcher Einbeziehung bleibt aber die Grundlage der evangelisch verstandenen Predigt der biblische Text, dessen umfassendes Verständnis für jede Predigt vorausgesetzt werden muss.
4.5.1 Der Bezug der Predigt auf einen biblischen Text Es ist angesichts aller möglicher Programme und neuerer Entwürfe in der Homiletik erstaunlich, wie beharrlich die Predigt sich bis heute am für den Sonntag vorgeschlagenen Bibeltext orientiert. Es genügt ein Blick in die Literaturgattung 128 L|vinas hat die Metapher von der „Spur des Anderen“ in freier Interpretation von Ex 33, 32b entwickelt. 129 J. Williams, Stoner, 126. Vgl. 272.
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der „Predigtmeditation“, um zu sehen, welch starke Aufmerksamkeit hier der exegetischen Analyse, Erklärung und dem Verstehen des biblischen Textes gewidmet wird. Ob auf die exegetische Analyse nach allen Regeln bibelwissenschaftlicher Kompetenz oder auf die Hermeneutik des Verstehens hier mehr Wert gelegt wird, hängt an den Richtlinien, denen etwa Für Arbeit und Besinnung, die Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Göttinger Predigtmeditationen oder die von Ernst Lange begründeten Predigtstudien folgen. Die Pluralität theologisch reflektierter Haltungen zur Bibel wirkt sich schon in diesen Hilfsmitteln zur Predigtvorbereitung aus. Dass dem biblischen Text für die Predigtarbeit bis heute ein derart wichtiger Stellenwert zuerkannt wird, hat seinen Grund vor allem in den theologischen Weichenstellungen, denen ein evangelisches Verständnis des Christentums seine Eigenart verdankt. (s. o. Abs. 1.2). Schleiermachers in den Reden empfohlene Möglichkeit, sich selbst eine eigene Bibel zusammenzustellen, die dem Begriff vom formalen (und so allgemeinen) Wesen der Religion auf eine zeitgemäße Weise zu entsprechen vermöchte, hat sich – bei aller Offenheit für Beispiel und Erfahrung, für szenisches Anspiel und Gleichnisse, für Narrationen und Gedichte – auch in den neueren Konzeptionen zur Homiletik nicht durchsetzen können. „Nicht der hat Religion“, heißt es in der 2. Rede, „der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.“130 Die von Cohen bemerkte Idealisierung Christi seit der Reformation hat in der Religionstheorie Schleiermachers ihre maßgebliche moderne Gestalt gewonnen, und das bis in die Konsequenz hinein, sich in größter Freiheit und Unabhängigkeit zu den historischen Quellen zu verhalten, zu denen nicht nur das Neue, sondern auch das Alte Testament gehört. „Nirgends ist die Religion so vollkommen idealisiert als im Christentum.“131 Doch das von Cohen prägnant hervorgehobene und an den Reden Schleiermachers verifizierbare Moment der Idealisierung Christi ist eben nur ein Punkt in einer spannungsvollen Konstellation. Ein anderer ist das Schriftprinzip, das keineswegs zufällig aufgerichtet worden ist, ein dritter die Situation der Gemeinde, auf die die Predigt bezogen ist.132 Nach der Kritik und Abkehr von der hierarchischen Ordnung der katholischen Kirche, die sich eben auch aus historisch überkommenen Traditionen legitimierte, bedurfte es einer Instanz, an der die neue Gestalt des evangelischen Glaubens auf seine Rechtmäßigkeit hin geprüft werden konnte. Der Bezug auf die Schrift legitimierte seither die Art und Weise, wie das Evangelium dem Gesetz gegenüber gepredigt wurde. Der neuen 130 Schleiermacher, Reden (1799), 122. 131 Schleiermacher, Reden, 295. 132 Dieser dritte Aspekt mag hier abgeschattet bleiben, ist er doch in Kapitel 3 ausführlich behandelt worden.
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Freiheit subjektiven Interpretierens und Verstehens war so eine objektive Instanz gegenüber gestellt worden, an der die Subjektivität ihre Grenze sollte finden können. Es wäre aber nun in der Tat ein Missverständnis, im protestantischen Schriftprinzip die Erneuerung eines Buchstabenglaubens sehen zu wollen. Wie Cohen zurecht bemerkt hat, begegnete man der Verwechslung von Buchstabe bzw. Text und Schrift in der neu gewonnenen Perspektive der Idealisierung Christi. Luther zufolge ist die Schrift auszulegen und dann auch zu predigen in Orientierung daran, „was Christum treibet“. Nota bene ist dieses hermeneutische Prinzip, notwendig, wie immer es zur Wahrung des Wesens evangelischer Predigt ist, angesichts der heutigen Herausforderungen interkultureller und -religiöser Verträglichkeit zu ergänzen durch die Kautele, „was Christum treibet“ dürfe nicht gegen die Juden oder andere religiöse Orientierungen ausgelegt werden. Schleiermachers historisch treffende Einsicht, das christliche Religionsverständnis müsse geradezu, weil es die Religion „in höchster Potenz“ erfasst habe, „durch und durch polemisch“ sein,133 wird in gegenwärtigem Bewusstsein kritisch hinterfragt werden müssen. Schließlich verdient eine Bemerkung Henning Ritters Beachtung, ob auf der Grundlage der skizzierten Verhältnisse, wie sie im sog. homiletischen Dreieck symbolisiert sind, mit der „ästhetischen Wende“ nicht doch eine Schwerpunktverlagerung stattgefunden hat. In einer Notiz heißt es: „Das Verstehen hat sich von der Genese auf die Rezeption verlagert. Der Text ist, was man aus ihm macht. Auf ein eigentlich Gemeintes zurückzukommen ist keine sinnvolle kritische Forderung mehr. So gibt es weder Kanonisierung noch echte Kritik, weder Glauben noch Wissen.“134
Ob man die Konsequenzen in dieser Radikalität ziehen muss, sei dahingestellt. Die Verlagerung des Interesses, das den Interpreten biblischer Texte in der Mehrheit leitet, wird sich aber kaum bestreiten lassen. Dass sich „das Verstehen … von der Genese auf die Rezeption verlagert“ hat, wird durch die referierten neueren homiletischen Programme deutlich genug bestätigt. Doch es ist eben nicht ein exegetisches, sondern ein homiletisches Interesse am biblischen Text, das sich hier auswirkt, und das hat sein eigenes Recht. Das homiletische muss aber an das exegetische zurückgebunden bleiben. Unter dieser Voraussetzung kann der Homilie als einer der Form des Textes folgenden Predigt ebenso Raum gegeben werden wie anderen Formen der Predigt, die sich zu ihrer Legitimität (und Selbstkorrektur) auf die Analogie zum (schriftgemäßen) Textgehalt berufen. Dazu wird die Bildmeditation zu rechnen 133 Schleiermacher, Reden, 294. 134 Ritter, Notizhefte, 149.
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sein, die aufgrund der Werke der bildenden Kunst die Ausführung der (symbolischen und metaphorischen) Bildlichkeit wagt, die dem christlichen Glauben eigen ist (s. o. Abs. 4.3.3), aber auch die Film- oder Literaturpredigt,135 die sich auf Darstellung und Reflexion von Erfahrung in diesen Medien der allgemeinen Kultur einlässt, um auf dem Hintergrund dichter Beschreibungen der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ (Blumenberg) das Evangelium zur Geltung zu bringen, und schließlich die Liedpredigt, die mit dem Liedgut auf protestantische Frömmigkeitstradition rekurriert. In diesen Formen geht es jeweils um eine Begegnung der Sprache der Bibel mit der der entsprechenden Kunst, ohne dass der Anspruch einer vollständigen Übersetzbarkeit der einen Sprache in die andere erfüllt werden könnte oder müsste. Wenn aber gilt: Predigen heißt übersetzen (s. o. Abs. 2.5.2), wird man es mit bloßen „Gegenüberstellungen, Spiegelungen und Kreuzungen“ nicht gut sein lassen können.136 Hier nun steht zuerst die Homilie zur Diskussion.
4.5.2 Die Homilie oder dramaturgische Textpredigt Ob die älteste Predigtform der Homilie je ohne die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten mit der allgemeinen Erfahrung der Zeit ausgekommen ist, mag hier auf sich beruhen. Mit ihrem Formanspruch verzichtet sie jedenfalls auf ein Gespräch mit oder gar auf eine Integration der Medien allgemeiner Kultur, weil alles, was zu sagen sein wird, schon im Text stehen soll. Dieser Voraussetzung folgt dann auch ihre Methode, die nämlich, die die altprotestantische Dogmatik mit den (vielfach schon zitierten) Temini der explicatio und der applicatio umrissen hatte. Man kann die Homiletik Karl Barths aus den frühen 30er Jahren als moderne Adaptation dieser Form verstehen.137 Auf dem Hintergrund der skizzierten grundsätzlichen Beobachtungen muss es nicht verwundern, dass die Homilie auch bei G.M. Martin eine ausdrückliche Würdigung erfahren hat. Man kann diese Predigtform ohne Schwierigkeit mit Ecos Semiotik zu neuen Ehren bringen.138 Der Text, so die Überzeugung, ist in sich selbst viel reicher an Bedeutungen als die bestimmte, positionelle Theolo135 Der Literaturpredigt wird hier kein eigener Abschnitt gewidmet, da diese Form der Filmpredigt sehr ähnlich ist. Vgl. S. Goldschmidt/I. Richter-Rethwisch, Literaturgottesdienste. Chr. Siebold/M. Siebold, Predigen mit moderner Literatur. 136 J.H. Claussen, Spiegelungen, 12. Gegenüberstellungen und Spiegelungen sind einer Anthologie durchaus angemessen, die eine „Wiederbegegnung von Religion und moderner Lyrik … in Szene“ setzt (ebd.), und auf diese Weise ihren Beitrag leistet, dass die Bibel „weitergeschrieben“, „das Wort Gottes in die Sprache ihrer Zeit übersetzt“ wird (15 zit. H. Kurzke). 137 Vgl. dazu: Dober, Evangelische Homiletik, 106–138. 138 Vgl. Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 267ff.
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gie, die ihn einzig in der eigenen Perspektive auszulegen unternimmt. Eben diese Bedeutungsfülle gelte es zuzulassen und in den gegebenen Spannungen zur Darstellung zu bringen. So gesehen vermöchte die Textpredigt ein „Feld von Relationen“, von „konnotativen Signifikaten“, eine „konnotative Aura“, ein „Suggestivitätsfeld“ zu erzeugen. „Auf diese Weise kann Predigt sich und den ihr zugrundeliegenden Text wirklich zu Gehör bringen, ein Gehör, das nicht sofort eingeschränkt und kanalisiert wird durch die Einsinnigkeit, die ein bestimmtes Lehr-, Erzähl- oder Handlungsziel penetrant durchzusetzen versucht.“ (268) Zu fragen ist, ob dieses Vertrauen auf den Text sich an jeder Gattung in gleicher Weise wird bewähren lassen, oder ob das (verborgen) leitende Paradigma hier nicht vor allem mit den Gleichnissen Jesu gegeben ist. Wie geht die Textpredigt mit solchen Stellen aus den Briefen des Neuen Testaments um, die ihrerseits schon „einsinnig“ zu sein scheinen und – in ihrer historischen Situation – „ein bestimmtes Lehr-, Erzähl- oder Handlungsziel penetrant durchzusetzen“ versuchten? Als Beispiel mag etwa die Darstellung des Glaubensbegriffs in Heb 11 gelten, oder die paulinische Forderung, dass das Evangelium von der Freiheit der Kinder Gottes nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bzw. des Gesetzes gebracht werden dürfe (Gal 5, 1). Jedenfalls wird die Predigt über ein Gleichnis eine andere Methode und Kompetenz erfordern als die über einen Psalm, einen historischen, einen prophetischen Text aus dem Alten Testament, oder einen visionären aus der Offenbarung des Johannes. Die Gestaltungsfrage einer Predigt ist noch nicht zufriedenstellend beantwortet, wenn man die Form der Predigt an der Form des Textes orientiert. Und die Forderung der Schriftgemäßheit ist noch nicht zureichend erfüllt, wenn man mit Karl Barth empfiehlt, die (Text-)predigt habe immer „bergab“ zu gehen: von der Höhe des biblischen Textes und seiner Dignität in die Niederungen der so unübersichtlichen Verhältnisse gegenwärtiger Erfahrungen und Erlebnisse.139 Insgesamt gibt die Textpredigt aber eine mögliche Antwort auf die Frage, wie die offene Predigt ihre theologische Legitimation bewahren kann. Sie bietet eine Option, keineswegs die einzige, die Eindeutigkeit (hier verbürgt durch den biblischen Text) mit der Mehrdeutigkeit der Rezeption (seines Verständnisses) in ein homiletisch plausibles Verhältnis zu setzen. Zudem finden sich in den kanonisierten Texten selbst, an denen in der Predigtform der Homilie nicht zu rütteln ist, „messianische Splitter“ (Benjamin) eingesprengt, die dazu auffordern, „das Unmögliche im Gewand des Möglichen zu denken“140. Sibylle Lewitscharoff sieht im biblischen „Kurzsatz“ dieses immanente Differenzverhältnis angelegt. 139 Barth, Homiletik, 38. 140 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 122.
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Er „regiert … um der Hell-Dunkel-Effekte, um des Unausgesprochenen willen … da öffnet sich zwischen den Sätzen ein Abgrund, in dem die psychologischen und metaphysischen Fragen sich tummeln, ihre Arme emporrecken und nach dem Leser fassen“ (103).
Nicht zuletzt dieser immanenten Differenzmomente wegen lassen sich biblische Texte in Szene setzen. In einem Predigtband von Henning Luther werden erzählende Texte aus den Evangelien ebenso ausgelegt wie Passagen aus den Briefen des Paulus.141 Mal wird die Offenbarung des Johannes als Textgrundlage gewählt, mal eine Stelle aus dem Propheten Maleachi oder der Beginn der Abrahamgeschichte in Genesis 12. H. Luther hat sein homiletisches Programm wohl in Kenntnis der Empfehlung G.M. Martins, sich am „offenen Kunstwerk“ zu orientieren, unabhängig aber von der „dramaturgischen Homiletik“ M. Nicols entwickelt. Das Paradigma, an dem er sich in den einleitenden Bemerkungen bezieht, ist denn auch weniger ein ästhetisches als ein geschichtsphilosophisches: „Spätmodern“ wollen seine Predigten sein. Sie schließen zwar an das Programm F. Niebergalls an, der schon gefragt hatte, „wie … wir dem modernen Menschen“ predigen (10).142 Was nun dieses homiletische Anliegen um 1900 von einem „spätmodernen“ 80 Jahre später unterscheidet, wird sich wohl kaum ohne Bezug auf die Ästhetik zeigen lassen. Auch H. Luther möchte Abschied nehmen „von einem Verständnis der Auslegung nach dem Repräsentationsmodell der Bedeutung“ (11). Die Bedeutung der Textzeichen sei eben alles andere als festgelegt – sie ist offen, und diese Offenheit soll die Inszenierung biblischer Texte zur Ansicht bringen. Offenheit bedeutet hier Mehrdeutigkeit und Differenz. „Erst im Aufeinandertreffen der Unterschiede erwächst der ,fruchtbare Moment‘ neuer, kreativer Bedeutung, die nicht nur das Bekannte, also Stereotypien, rekapituliert.“ (11) H. Luther möchte solchen neuen, kreativen Bedeutungen die Tür öffnen, indem er den Text der Bibel mit den „Texten der Welt“ konfrontiert (13), sie einander gegenüberstellt, ins Gespräch bringt, Spannungsverhältnisse zwischen beiden auf die imaginäre Bühne seiner Predigt bringt. Pluralität ist ein Hauptkennzeichen dieser neuen, kreativen Bedeutungen, und diese Pluralität erschließt sich der offenen Rezeption. „Spätmoderne Predigt will nicht ,Wahrheit‘ produzieren“ – die eine Wahrheit, die im Text stecke, wie man unter den Bedingungen alter Metaphysik meinen konnte. „Sie inszeniert den biblischen Text, so dass vielleicht – so ihre Hoffnung – ,Wahrheit‘ in dieser Konstellation verschiedener Texte, des biblischen Textes in Szenen unserer Welt, aufscheinen kann“ (13). Das ist kein Abschied von der Suche nach einer Wahrheit, die sich in der Pluralität der Bedeutungen auch verbergen kann. Aber es ist der Abschied 141 H. Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. 142 Vgl. Dober, Die moderne Predigt.
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von einem Wahrheitsanspruch, den der Prediger – legitimiert durch den Text – als den einzig möglichen einmal meinte, vertreten zu können. Wahrheit gibt sich in einer intensiven Rezeption, sei es eines Textes, sei es eines Phänomens, sei es einer Konstellation. Und indem Wahrheit sich in dieser Weise gibt, hat sie eine zeitliche Signatur. Es ist nicht die ewig gleiche Wahrheit, die zu erlangen dem Menschen unmöglich ist. Denn die eine, ewige Wahrheit ist einzig bei Gott. Die dem Menschen erreichbare Wahrheit aber ist mit Zeit zum Zerspringen geladen. Als ein Beispiel mag die Predigt über Lukas 18, 1–8 unter dem Thema „Das Ende der Bescheidenheit“ dienen. Das Gleichnis von der beharrlichen – H. Luther spricht von der „lästigen“ – Witwe, die über den Schatten einer falsch verstandenen Bescheidenheit springt, und vom „ungerechten Richter“ (wie es im biblischen Text heißt) bietet sich geradezu an, diese beiden Rollen dramatisch auszugestalten – das Gleichnis selbst hat ja schon dramatische Form. Der Prediger gestaltet diese Rollen aus und bringt sie zur Aufführung. So erscheint das Verhalten der Witwe als „ein Modell des Betens“ (60) und der auf ihr Anliegen lange nicht eingehende Richter steht für die ambivalente Erfahrung, warten zu müssen, bis Recht gesprochen wird. So führt das Gleichnis „mitten in den Widerstreit von Glaube und Erfahrung“ (61). Das zu konstatieren ist freilich schon mehr als nur eine Ausgestaltung der Vorlage – eine Interpretation im Licht der Idee als Konstellation, die im Text selbst angelegt ist. Es geht um die Frage, wie der Mensch überhaupt beten kann und wie er dazu in der Lage ist, im Gebet nicht nachzulassen (Lk 18,1). Die Idee des Gebets ist nur in korrelativer Form erkennbar – als ein Geschehen „zwischen zwei unendlichen Perspektivpunkten: der Einzigkeit Gottes und dem Individuum“.143 Diese formale Struktur ist im Gleichnis aber aufgeladen mit der Erfahrung von Verzögerung, Verweigerung, Vereinzelung – kurz, mit der Erfahrung der Differenz, die zwischen Gott und Mensch (wie zwischen Mensch und Mensch) bestehen kann, einer Differenz, die nie selbstverständlich oder automatisch oder nach dem Plan einer prästabilierten Harmonie überwunden wird, sondern nur durch immer überraschende „Brückenschläge“ (Rosenzweig). Dass der Mensch nicht aufhört, Gott zu bitten auch durch Anfechtung und Zweifel über den Sinn dieses Tuns hindurch, und dass Gott, auf den sich das Vertrauen richtet, sich auch verbergen kann, dass seine Gerechtigkeit den Schein der Ungerechtigkeit tragen kann, sein Licht den Schatten einer dunklen Seite: diese Spannung ist dramatisch und erfordert auch eine dem Drama entsprechende Aufführung. H. Luther lässt es aber nicht mit der puren Darstellung der Rolle gut sein, wie er sie sich vorstellt. Seine Ausführung der dramatischen Vorlage ist verwoben mit einer Interpretation, auf die der Prediger nicht verzichten will. Wenn diese (und andere) Predigten Luthers denn dramaturgisch genannt werden können, 143 Korsch, Dialektische Theologie, 55.
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dann ist das Dramaturgische nur ein Moment ihrer Form – das andere ist die Interpretation aus der Perspektive und in der Sprache des Predigers.
4.5.3 Die Bildmeditation In Szene gesetzt sind biblische Geschichten oder alltägliche Begebenheiten, auch Außeralltägliches, in den Bildern der Kunst – seit es die Malerei gibt (und d. h. einschließlich der uralten Höhlenmalereien).144 Die Betrachtung solcher Bilder und ihre Analyse, ihre Auslegung, kann als eine Vorschule der dramaturgischen Homiletik angesehen werden. Die Bildmeditation erlaubt, eben das Rezeptionsverhalten einzuüben, dem Martin mit seinem Rekurs auf Eco den Weg bereiten will. In der Tat leben wir in einer vielfältig auf Bilder bezogenen Kultur. Es ist nicht leicht, sich in diesen medialen Bildwelten zu orientieren.145 Angesichts solcher Schwierigkeit bietet eine Bildmeditation die Chance, sich auf ein einzelnes Bild einzulassen, und somit aus der Flut der Bilder aufzutauchen, um die schnelle Folge von Bildern stillzustellen, damit das einzelne Bild als Bild besser verstanden und begriffen werden kann. Auch anhand von Werken der bildenden Kunst muss der Rezipient nach dem „Schlüssel“ suchen, der es erlaubt, das Bild „in einem bestimmten Sinn“ zu sehen, zu deuten, zu interpretieren (266). Dieser Schlüssel kann die Form sein, die den Perspektivwechsel zu sehen erlaubt (im Kubismus etwa), oder die Farbe (bei A. Hölzel etwa). Im Fall des Portraits wird der Schlüssel die Darstellung des Menschlichen sein. An anderen Beispielen kann die Ikonographie als Schlüssel dienen, wenn etwa Werke der Moderne wie die Polynesische Weihnacht von Gauguin, Die Akrobatenfamilie von Picasso oder Segantinis Werden als Weihnachtsbilder interpretiert werden. Die Meditation von ausgewählten Bildern der Kunst ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der Erfahrung, die der Maler gemacht hat und mit den Mitteln der Farbe, der Form, der Gestalten kommuniziert. Eine Bildmeditation wird also – wenigstens in aller Kürze – über Leben und Werk des Malers informieren, ehe dann das Bild selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird. Denn Bilder haben eine zeitliche, eine biographische Signatur. Wenn es Bilder der Vergangenheit sind, tritt die Gegenwart der Betrachter mit dieser anderen Zeit in eine Korrespondenz. Das geschieht nicht ohne Information, doch diese ist nur Vorbereitung für einen Lernprozess, in der die Differenz der Zeiten in eine Spannung zu den Momenten der Erfahrung tritt, die sich gleich geblieben sind. 144 Vgl. dazu den entsprechenden Film Die Höhle der vergessenen Träume (2011; Regie: Werner Herzog). 145 Vgl. Nicol zit. nach: Conrad/Weeber, Protestantische Predigtlehre, 304.
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Die Polynesische Weihnacht erschließt sich also erst, wenn man weiß: Der Maler Gauguin hat sich einige Jahre in Polynesien aufgehalten, dort mit den Menschen gelebt und von einer Frau ein Kind bekommen. Diese Mutter zeigt er auf diesem Bild, kurz nach der Geburt. Das Kolorit dieser fernen Kultur wird vom Maler in die Motivik der biblischen Weihnachtsgeschichte eingetragen: Sie hat er in diesem Augenblick seines Lebens neu entdeckt – darauf deuten Esel und Rind im Hintergrund hin. Das Bild lässt sich zudem als Beispiel für die Kraft der Inkulturation des Christentums rezipieren. Gauguin jedenfalls hatte kein Problem damit, die Symbole der polynesischen Naturreligion mit denen des Christentums zu verknüpfen. Entscheidend für eine christliche Rezeption dieses Bildes wird sein, ob sich das Licht der Erlösung, das von der Weihnachtsgeschichte aus scheint, auch auf diesem Bild wiederfinden lässt. Um ein weiteres Beispiel zu geben, wird man zu Eduard Munchs Bild Der Tod und das Kind, gemalt 1899/1900, kaum einen Zugang finden, wenn man nicht weiß, dass der Maler den Verlust der eigenen Mutter auf diesem Bild verarbeitet, auch wenn er nicht sich selbst, sondern seine ältere Schwester Sophie hier ins Bild gesetzt hat. Zu einer berührenden Erfahrung mit diesem Bild wird es aber erst kommen können, wenn die Meditation bei dieser Information nicht stehen bleibt, sondern fortschreitet zur Beschreibung des Menschlichen, wie es auf diesem Bild dargestellt ist: Ein Kind hält sich die Ohren zu und hat einen Schrei der Not ausgestoßen, weil die Realität der toten Mutter schrecklich ist. Wiederum ohne Information wird kaum nachzuvollziehen sein, wie der Künstler seine eigene Deutung in dieses Gemälde eingetragen hat, welche Bedeutung die Form der liegenden Mutter und des davor stehenden Kindes, welche die grau-grünen Farben des Hintergrundes im Verhältnis zum Strohblonden im Haar des Mädchens haben. Die eigene Situation des Betrachters wird allerdings erst dann berührt, wenn er Analogien zwischen dem dargestellten Geschehen und dem eigenen Leben zu entdecken vermag, und wenn das Lebendige in der Gestalt des Kindes einen Ausblick auf das Leben überhaupt eröffnet, das im Angesicht des Todes diesem widersteht.146 Um von der Vorschule der Bildbetrachtung zur dramaturgischen Homiletik zurückzukehren: Wenn Predigen heißt, einander ins Bild zu setzen, dann möchte Nicol allerdings mehr erreichen als nur ein besseres Verständnis des Bildes. Verstehen scheint ihm zu einseitig kognitiv konnotiert zu sein, als ob 146 Vgl. Zink, Dia Bücherei der christlichen Kunst Bd. 8 [Spuren des Religiösen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts], 49–51. Ein anderes Beispiel dafür, ein Bild als Predigtbeispiel zu wählen, und es auch aus der biographischen Situation zu verstehen, in der der Maler es geschaffen hat, ist V. Drehsens Predigt über Jesaja 25, 8–9 an Ostern 1995, in der er sich auf Max Beckmanns großes Auferstehungsbild eingelassen hat (Drehsen, Rechtfertigungsgeschichten, 195–199). Vgl. auch die Interpretation des Isenheimer Altarbilds von Matthias Grünewald in einer Predigt über Joh 1, 29–34 (a. a. O., 86–88).
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nicht der ganze Mensch beteiligt wäre, wenn er zu besserem, tieferem, reiferem Verstehen gelangt, wie es auch eine Freude ist, verstanden zu werden. Dem Prediger wird zugemutet, dem Eintritt seiner Hörer in das Bild den Weg zu bereiten. Das ist in der Tat eine Methode, die über die bloße Betrachtung hinausgeht. Doch ist die Betrachtung nicht Voraussetzung dafür, in ein Bild eintreten zu können? Der Eintritt in ein Bild, das dann vereinnahmen kann, ist aber nicht ohne Gefahren, insofern das Bild dann mächtig gegenüber seinem Betrachter zu werden vermag. Es kann dann der Fall eintreten, den W. Gräb folgendermaßen beschrieben hat: „Wo Menschen sich … von Bildern in den Bann schlagen, sich verzaubern und betören lassen, dort verlieren sie ihre Freiheit. Dort geraten sie in die faszinierende Macht fremder Gewalten, in den ideologischen Nebel von Wahnideen und Totalitarismen. Dann können Bilder auch heute gefährlich werden. Dann erregen sie und verführen. Dann täuschen sie über die Wirklichkeit und verdunkeln den Verstand“.147
Treffend hat Martin Seel diese Gefahr mit dem Terminus der „Darstellungsvergessenheit“ spezifiziert.148 Man kann von Bildern „absorbiert“ werden (173). Das aber ist durch „Imagination“ zu erklären (178). Damit ist ein „ästhetisches Erscheinen“ gemeint, in dem das „Ins-Bild-Gesetzte“ den Zuschauer ins-Bildsetzt. Vor allem das künstlerische Bild vermag „in den Konfigurationen seines Erscheinens eine Sicht auf das in oder von ihm Präsentierte zur Darbietung zu bringen.“ (187) Wie Bilder überhaupt, so verschaffen uns auch Filme „reale, unvertretbare Ansichten dessen, was immer sie zeigen – und erweitern eben dadurch das Spektrum der menschlichen Wahrnehmung.“149 Wer sich das bewusst hält, wird die Macht der Bilder in Schach halten können. Auf sie geht allerdings auch das Bemühen zurück, Trost zu spenden. Das Trostbild will mächtig gegen die Angst werden, gegen den Schmerz. Es will Orientierung und Halt geben. (vgl. Abs. 3.6.1).
4.5.4 Die Narration Die Predigtform, in der lebensnahe Beschreibungen gegeben werden können, ist die Narration (s. o. Abs. 3.6.2). Es spricht zwar manches dafür, „dass es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht“.150 Schon Walter Benjamin hat in seinem 147 W. Gräb, Art. Ästhetik, 744. 148 M. Seel, Die Künste des Kinos, 177. 149 A.a.O., 180. Die „Dynamik eines Spielfilms“ verdoppelt das „imaginierende Sehen“, doch erspart es dem Zuschauer auch (179). 150 W. Benjamin, GS II/2, 439 [Der Erzähler].
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großen Essay über den Erzähler Nikolai Lesskow seine Wahrnehmung mitgeteilt, „die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können“, werde „immer seltener“. Vor allem mit Blick auf die Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg habe sich der Eindruck verstärkt, dass „das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“ abgenommen habe (ebd.). Als „Ursache für diese Erscheinung“ macht Benjamin eine kulturelle Entwicklung aus, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etwa beim Dichter Charles Baudelaire nachweisen lasse,151 dass das Erlebnis immer mehr die Stelle der Erfahrung eingenommen habe. Die These lautet: Was einmal als Erfahrung bestand, ist „längst als Erlebnis verweht“.152 Es wird sich kaum bestreiten lassen, dass die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse das diskontinuierliche Moment des Erlebnisses gegenüber der auf Kontinuität aufbauenden Erfahrung begünstigt haben. Diese Entwicklung hat sich massiv in der praktisch-theologische Literatur der Gegenwart ausgewirkt (und hier insbesondere in der Religionspädagogik), Spuren finden sich aber auch schon in den Schriften der „modernen“ Praktischen Theologen um 1900. Doch in allem Wandel – und nota bene auch in den innerkirchlichen Wandlungsprozessen – bleiben Erfahrung und Erlebnis als Momente des menschlichen Weltverhältnisses aufeinander verwiesen. Die zeitliche Signatur dieses Verhältnisses wird sich ohne Rekurs auf diese Begriffe nicht zureichend beschreiben lassen, ist doch das Erlebnis an den gegenwärtigen Augenblick gebunden (und insofern diskontinuierlich), die Erfahrung aber an die Kontinuität zur Vergangenheit. Im Wissen um das polare Spannungsverhältnis von Erfahrung und Erlebnis hat Benjamin selbst in besagtem Essay über den Erzähler die „elementare Rolle, die das Erzählen im Haushalt der Menschheit spielt“ gegen alle Gefährdung zu retten versucht.153 Kraft des ihr eignenden „Eingedenkens“ (456) könne die Erzählung ihren Hörern bzw. Lesern Rat wissen. Der Erzähler wisse Rat – „nicht wie das Sprichwort: für manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele.“ (464) Bei Lesskow drängten sich „alle, die die Weisheit, die Güte, den Trost der Welt verkörpern, … um den Erzählenden“ (459), weil der in aller Diskontinuität des Erlebnisses die Kontinuität seiner Lebenserfahrung zu stiften vermag. Er ist „der Mann, der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen.“ Und deshalb begegne in der Gestalt des Erzählers „der Gerechte sich selbst.“ (464f) Predigten in der Form der Narration können etwas von der Eigenart des so begriffenen Erzählens spiegeln. Durch ihren Textbezug ist die Predigt der 151 Vgl. Benajmin, GS I/2, 605–653 [Über einige Motive bei Baudelaire]; Dober, Walter Benjamin. 152 Benjamin, GS I/1, 123–201, hier 199 [Goethes Wahlverwandtschaften]. 153 Benjamin, GS II/2, 457.
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christlichen Tradition verpflichtet. Doch sie ist ihr nicht verhaftet, wenn es ihr denn darauf ankommt, auf eine aktuelle Weise die frohe Botschaft mit den Wirklichkeiten des Lebens zu ver-sprechen. So steht sie ihrerseits in der Spannung zwischen Erfahrung und Erlebnis. Und es stellt sich für den Prediger die Frage, wie er diese Spannung auf eine produktive, ansprechende und überzeugende Weise zur Darstellung bringen kann, um mit ihr umzugehen. Zu diesem Zweck kann ihm das Gespräch mit modernen Kunstgattungen eine Hilfe sein, sei dies der Roman, sei dies der Film. Predigten, die mit Filmen das Gespräch suchen, können die dicht beschreibende und nacherzählende Konkretion gewinnen, die sie brauchen, um ihrerseits den Hörern „Rat zu wissen“.154
4.5.5 Die Filmpredigt als Narration und kritische Hermeneutik In neueren Konzeptionen der Homiletik spielt der Film in unterschiedlichen Hinsichten eine Rolle. Die dramaturgische Version empfiehlt, sich an der Erzählund Schnitttechnik dieses Mediums ein Beispiel zu nehmen und diese Technik in die Predigtarbeit zu integrieren (s. o. Abs. 4.4.2, 4.4.3). Andere Empfehlungen gehen dahin, von der Prägnanz der Phänomenwahrnehmung und -darstellung in Filmen zu lernen (s. o. 4.4.3). Filmszenen können zitiert werden, wenn zu erwarten ist, dass sie bekannt genug sind. Das gilt für dargestellte Typen, Charaktere, Handlungs- und Sinnzusammenhänge auch. Insbesondere in der Gewinnung exemplarischer Bilder, derer die anschauliche Predigt bedarf, ist vom Film vieles zu lernen. Die Form der Filmpredigt, der in diesem Abschnitt besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, geht von noch einmal anders akzentuierten Voraussetzungen aus. Sie können mit den bisher genannten Empfehlungen übereinkommen, gehen aber darüber hinaus. Als für die Filmpredigt geeignete Gesprächspartner können solche filmischen Darstellungen gelten, die auf eine für die meisten Zeitgenossen nachvollziehbare Weise Geschichten erzählen, wie das Leben sie geschrieben hat und schreibt. Auch wenn die Nacherzählung in der Predigt sich auf das bloße Wort verlässt, vermag sie doch innere Bilder in den 154 Gegen einen mainstream narrativer Filme, der sich (wie die „narrative Affinität“ anderer Künste) der „narrativen Disposition des Menschen“ verdanke (Seel, Die Künste des Kinos, 121), weist M. Seel darauf hin, dass es auch „nicht-narrative Kinofilme“ gebe und „Spielfilme aus ihrer eigenen Erzählung aussteigen können“ (117). In dieser Möglichkeit komme die spezifische „zeitliche“, „räumliche“ und „auditive Struktur“ des Films zur Geltung (120). Der Film verfüge zwar „über ein besonderes narratives Potential“, dürfe aber „nicht durchweg ,als Erzählung‘ aufgefasst werden“ (119). Diese filmtheoretisch differenzierte Sicht spricht aber keineswegs gegen, sondern für die Chance, sich das narrative Potential dieser Kunst homiletisch zunutze zu machen.
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Hörern hervorzurufen, die den Film nicht gesehen, und Erinnerungsbilder in den anderen, die den Film gesehen haben. Diese Narration als Form, derer die Filmpredigt sich bedient, wird sich an einem bestimmten Thema ausrichten, das im Film bearbeitet worden ist und sich für eine Deutung im Licht des Evangeliums eignet.155 Die Kindheit und Schwierigkeiten der Erziehung wäre ein solches Thema, wie es in Das weiße Band aufgefunden werden kann, Adoleszenz und Erwachsenwerden in Denn sie wissen nicht, was sie tun, das Älterwerden und der Gang ins Pflegeheim in An ihrer Seite, die Konfrontation mit der Wirklichkeit des Sterbenmüssens und mögliche Umgangsformen damit in Das Beste kommt zum Schluss, die Frage, was dem Frieden dient in harten Interessenskonflikten um die natürlichen Lebensgrundlagen in Weites Land, wie mit Blindheit und Behinderung zu leben ist in Erbsen auf Halbsechs. Die Beispiele mögen genügen.156 Die Auffindung des Themas, das im Film bearbeitet wird und zugleich ein biblisches ist – auf diese Entsprechung kommt es an, wenn die Predigt sich nicht zu weit von ihrer Verwurzelung in kirchlicher Tradition entfernen will –, ist allerdings nur ein erster Gesichtspunkt. Der zweite ist die Frage, wie dieses Thema im Film zur Darstellung kommt und auf welche Weise die Predigt damit das Gespräch suchen kann. Kindheit und Jugend, Alter und Sterbenmüssen, die Gefährdung des Friedens und der Umgang mit Behinderungen können in der Weise des Gesetzes behandelt werden. Dargestellt findet sich im Film dann die Lebenswirklichkeit, wie sie auf unterschiedliche Weise erfahren wird: Ein Blinder kann an seiner Blindheit verzweifeln, der gefährdete Frieden kann in den Krieg münden, die Konfrontation mit dem Tod kann jegliche Hoffnung zunichte machen, die Humanität kann an den Herausforderungen der Lebensalter scheitern. Das Gesetz des Lebens tritt dann auf in Gestalt einer unausweichlichen Schicksalsmacht, der nicht zu entfliehen ist. Als solche kann auch die Sphäre des Rechts sich zeigen – dargestellt ist das etwa in Die Verurteilten. Manche der genannten Filme weisen selbst Auswege aus dieser Negativität: in Die Verurteilten gibt der Protagonist trotz übelster Enttäuschungen die Hoffnung nicht auf, in Das Beste kommt zum Schluss hilft eine gesteigerte Aktivität im Sinne des „carpe diem“ aus Lethargie und Depressivität. In Weites Land finden sich Wege des Friedens, die im Konflikt und aus ihm heraus begangen werden können. Theologisch gesprochen findet sich „Evangelium“ im „Gesetz“ gespiegelt, wie die Filme es darstellen. Es ist diese theologische Deutungsperspektive, in der
155 Nur einer rein ästhetischen Betrachtung kann das Thema ein „abgeschmacktes Ding“ erscheinen (V. Lueken, Natürlich kann er fliegen [Besprechung von A.G. Inwrritus’ Film Birdman], in: F.A.Z. Nr. 23 [28. Januar 2015], Seite 9). 156 Mit den genannten Filmen habe ich mich auseinandergesetzt in: Dober, Filmpredigten; Film-Predigten II.
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mehr in den Blick tritt als das Thema des Films und der Predigt – die Idee als Konstellation, die unterschiedliche Gesichtspunkte miteinander verbindet. Nun mag die Idee, die die einzelnen Aspekte des Films in einen Zusammenhang zu fassen erlaubt, zwar eine andere sein als die der theologischen Deutungsperspektive, in die der Film durch die Predigt gestellt wird. Eine solche Differenz erst lässt das Gespräch, in das die Predigt den Film zieht, spannend und interessant werden. In derartigen Spannungsverhältnissen wird die Gemeinde sich nicht langweilen, die den Film schon kennt. Und indem das Evangelium der Predigt sich gegen die Macht des Gesetzes durchzusetzen – wenigstens zu behaupten – vermag, die im Film konkret geworden ist, wird die spezifische Kompetenz der religiösen Rede zweifelsfrei sich bewähren können. Die Filme sind zwar als eigenständige Kunstwerke anzuerkennen und zu würdigen. Aber der Grundsatz, dass evangelische Predigt Predigt des Evangeliums ist, wird sich auch in einer Filmpredigt auswirken müssen. In der Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium ist der „Schlüssel“ zu finden, den der Prediger in seine Predigt einführt, um die Mehrdeutigkeit der Rezeption zu begrenzen.157 An dieser Forderung der „offenen Predigt“ ist auch für diese Predigtform festzuhalten. Im Gebrauch dieses hermeneutischen Schlüssels wird die einen Film interpretierende Predigt allerdings nicht ohne weiteres als ein offenes Kunstwerk gelten können. Das wird nur insoweit möglich sein, als die Mehrdeutigkeit des Films als solche offen gelassen wird, um dann unter dieser Voraussetzung die eigene Deutung des Predigers vorzutragen. Diese wird er seiner Gemeinde nicht vorenthalten können, ist diese doch u. U. schon gespannt darauf zu hören, warum er eben diesen Film ausgewählt und interessierten Kirchgängern zu sehen ermöglicht hat. Die Nacherzählung des gewählten Films in der Predigt reduziert die Offenheit, insofern der Prediger den plot des Films nach seiner Wahrnehmung nacherzählt. Die Offenheit der Rezeption wird aber belassen, insofern die Gemeinde weiß, dass die Narration in der Perspektive des Predigers geschah, und man selbst als Betrachter des Films die Akzente vielleicht anders setzen würde. Vielleicht hat der Prediger etwas übersehen oder ausgelassen, was anderen Betrachtern wichtig geworden ist. Um der Wahrung einer gewissen Offenheit willen darf diese Perspektivität sein – es gibt für den Prediger gute Gründe, zu ihr zu stehen.158 Schließlich tragen Filmpredigten gerade kraft ihres Anspruchs, einen Film zu verstehen, ihn zu interpretieren und sich ggf. kritisch mit ihm auseinanderzusetzen zu der Medienkompetenz bei, die in einer durchaus von Bildern durchfluteten Kultur ein hohes Bildungsziel darstellt. Schleiermachers Dialektik zu157 Vgl. dazu den einleitenden Essay meiner Film-Predigten II. 158 vgl. Conrad/ Weeber, Protestantische Predigtlehre, 268.
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folge überwindet erst das Denken „die chaotische Mannigfaltigkeit der Impression“ im bloßen Sehen (§108). Diese Überwindung ist im Fall der Rezeption von Filmen auf einer höheren Ebene des Sehens gefordert. Nicht nur geht es um einzelne Bilder, sondern um Bildfolgen und deren Zusammenhang. Und es geht um die Kombination von Bild und Ton, die Abwesendes anwesend erscheinen lassen kann und Gefühle weckt, die die Bildfolgen begleiten.159 Auch in dieser Hinsicht, die den Film zu einem Gesamtkunstwerk sui generis macht, ist kritische Selbstdistanz des Rezipienten erforderlich. Sowohl die analytische, als auch die synthetische Kompetenz des Denkens ist gefordert, um die Idee des Dargestellten zu erkennen (Dialektik §89), und dann – in einem nächsten Schritt auf der Metaebene der „Erkenntnis“ eines Films – diese Idee mit der des Evangeliums ins Gespräch zu bringen. Es ist kein Geheimnis: die Bilderflut der Medien vermag derart in den Alltag einzubrechen, dass infolge einer Überforderung der Wahrnehmung längst nicht alles verstanden werden kann, ja dass die Distanz zu dem im Film Dargestellten und eine kritische Haltung zur medial gegebenen Rezeptivität abnehmen. Bilder und Bildfolgen in ihrem Zusammenhang sehen und zudem damit kritisch umgehen zu können ist alles andere als selbstverständlich. Kulturpessimistische Medienschelte führt aber nicht weiter. Sie ruft leicht einen Überdruss hervor, der aus der Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Realität (aus der die Medien nicht mehr hinwegzudenken sind) und einer Verteufelung bestimmter Technologien hervorgeht. Nicht die Präsenz der Medien im Leben der Gegenwart ist das Problem, sondern ihr rechter Gebrauch. Die Gewöhnung folgte der Einführung des Radios, des Fernsehers, des PC und des Zugangs zum Internet auf den Fuß – bei den Älteren dauert es etwas länger, bei den Jüngeren geht es schneller. Doch wie geübt auch immer man im Umgang mit diesem technischen Gerät ist – angesichts der neuen Ambivalenzen, in die seine selbstverständliche Einbeziehung in den Alltag führt, stellt sich die Frage nach Haupt- und Nebensachen, nach Prioritäten und Angemessenheit. Die Freiheit ist gefordert, einen Apparat auch wieder auszuschalten, nachdem man ihn eingeschaltet hat. Die Medien selbst – und unter ihnen insbesondere der Film – reflektieren die Frage des rechten Gebrauchs. Das ist im Klassiker 2001: Odyssee im Weltraum schon der Fall.160 Unter den neueren Streifen ist Der Gott des Gemetzels ein gutes Beispiel für die Ambivalenz, in die die technische Möglichkeit der Omnipräsenz eines Geschäftsmanns und Unternehmers führen kann, der immer erreichbar sein will – auch dann, wenn er gemeinsam mit seiner Frau bei den Eltern des Kindes zu Besuch ist, dessen Sohn unter der Gewalt des eigenen Kindes zu leiden 159 Vgl. hierzu: Seel, Die Künste des Kinos, bes. 17–84. 160 Hier wird die Frage nach den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz in Gestalt des Computers gestellt.
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gehabt hat. Mit der Frage des rechten Gebrauchs wird hier auch die nach der psychischen Funktion etwa des stets auf Empfang gestellten handys aufgeworfen. Filmpredigten vermögen ihren eigenen Beitrag zu einem reflektierten und kompetenten Gebrauch dieses Mediums (und anderer Medien) zu leisten.
4.5.6 Die Liedpredigt Wenn Filmpredigten sich von einer Filmkritik unterscheiden und ihren Platz im Gottesdienst behaupten wollen, bedürfen sie der Einbettung in dessen Gesamtkontext. Dazu gehört ihr (wenigstens) thematischer Bezug zu biblischen Gehalten, zu einem Perikopentext, zum Psalm, zu den Liedern und Gebeten. Als eine Predigtform, die der Textpredigt – auch der dramaturgischen Variante – gegenüber sich in größter Offenheit auf die Kultur der Gegenwart einlässt, bedarf sie besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich der Vernetzung mit den im Gottesdient immer schon gebräuchlichen Medien des Textes, der Stimme, des Gesangs. Die inzwischen schon vielfältig geübte und fest etablierte Form der Liedpredigt war einen anderen Weg gegangen. Der Textpredigt gegenüber hatte sie sich der Tradition der Frömmigkeit zugewandt. Ohne aus dem gegebenen Rahmen zu fallen, war das ermöglicht durch den Schriftbezug der Lieder selbst. Oft sind Psalmen oder einzelne Psalmworte die Grundlage der Lieder, auf die eine Predigt sich einlässt, etwa Ps 37,5. Weil in Liedern erfahrene Frömmigkeit zum Ausdruck gebracht wird, können Liedpredigten entlang einer oder mehrerer Liedstrophen die Erfahrung der Frömmigkeit nahe bringen. Das protestantische Liedgut der Tradition wird heute nicht mehr derart im Gedächtnis der Gemeinde verankert sein wie zur Zeit Fontanes, als das zwölfstrophige Kirchenlied Befiehl du deine Wege dem Wanderer durch die Mark Brandenburg vollkommen präsent war, ein „verlässliches Besitztum“,161 auch wenn er nicht „die Sprache der Theologie“ sprach (102). Doch dass Mittenwalde mit seiner St. Moritz-Kirche, der Sitz des Propstes Paul Gerhardt von 1651 bis 1657, zu einem Ziel Fontanes werden konnte – und nicht nur „Gohlis, um das Haus zu sehen, darin Schiller das Lied ,an die Freude‘ dichtete“162 – ist Blumenberg eine ganze Glosse wert. „Paul Gerhardt hat mit seinem ,großen deutschen Tröstelied‘ auch das ,größere Lied an die Freude‘ gesungen – ohne Schillers Pomposität, weil er der ,Teufel‘ und ,Höhle‘ gedachte, bevor er ,die Sonn der schönsten Freud‘ erblicken ließ.“ (102) In einer Dichte, die nur der dichterischen Sprache eigen ist, findet sich in 161 Blumenberg, Vor allem Fontane, 101. 162 Blumenberg, a. a. O., 99 zit. Fontane (kursiv im Original).
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Liedern eine Erfahrung des Glaubens verdichtet, die diskursiv und systematisch zu entfalten nicht nur drei Strophen, sondern ein ganzes Buch erforderte. So kann, um ein zweites Beispiel zu geben, eine Predigt in der Epiphaniaszeit etwa auf das Lied Morgenglanz der Ewigkeit eingehen, deutet hier doch ein ganz normaler Morgen (und das zumal in der dunklen Jahreszeit) die Ewigkeit an – mitten in der Zeit.163 Das ist möglich, weil Gott Licht ist, das erst das Licht erschuf, in dem wir zu sehen beginnen:164 Licht vom unerschaffnen Lichte. Für den Glauben ist das natürliche Licht nur ein Gleichnis für das göttliche. Um glauben zu können, und d. h. im Ausgang von diesem Lied: um die Emotionen, die den Tag über begleiten, auf ein Selbstgefühl des Gottvertrauens beziehen zu können, das den ganzen Menschen trägt, ist die Bitte erforderlich: Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte. Die Strahlen des göttlichen Lichts sollen die Menschenseele erreichen. In ihrer Tiefe gibt es das Helle und das Dunkle, das Schwarz-Sehen (die Melancholie) und die Kraft zum hoffnungsvollen Blick nach vorn. Weil das so ist, bittet dieses Lied um den göttlichen Beistand: und vertreib durch deine Macht / unsre Nacht. In der Metaphorik des Lichts wird hier das Evangelium auf die Lebenswirklichkeit des inneren Menschen und seiner Erlösungsbedürftigkeit bezogen. Deiner Güte Morgentau / fall auf unser matt Gewissen, heißt es in der zweiten Strophe. Matt ist das angefochtene, und manchmal auch das schlechte Gewissen. Es stellt in Frage, es klagt an, es hält uns den Spiegel vor, und deutet auf ein Mitwissen mit sich selbst als die Kehrseite allen Strebens hin. Das Unternommene will nicht recht gelingen, oder das eigene Tun entsprach nicht dem leitenden Ideal. Indem solche Diskrepanzen vom Gewissen – meist unbarmherzig – registriert und wach gehalten werden, weist diese Instanz auf die Vorläufigkeit allen Tuns hin.165 Um an dieser Einsicht nicht zu ermatten, sondern durch sie hindurch neuen Mut zu gewinnen, zögert das Lied nicht, die Sprache der Bitte zu sprechen, hierin ohne weiteres auf die Güte Gottes vertrauend: Lass die dürre Lebens-Au / lauter süßen Trost genießen / und erquick uns, deine Schar, / immerdar. Dieser Bezug auf die Lebenswirklichkeit führt vom individuellen Leben zur Gemeinschaft, ohne die der innere Mensch vereinzelt bleiben müsste. Die derart 163 Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, Nr. 450. Das Folgende basiert auf meiner Liedmeditation in: Erleuchtung statt Verblendung. Predigtstudie zu 2 Kor 4, 1–6, gemeinsam mit Jan Hermelink, in: Predigtstudien VI/1 (2013/14), 118–121. Weitere Literaturhinweise: R. Koerrenz/J. Remy (Hg.), Mit Liedern predigen. M. Rößler, Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung. Chr. Möller, Ich singe Dir mit Herz und Mund. Chr. Zippert, Liedpredigten. 164 Ps 36,10 vgl. Joh 8,12. 165 An anderer Stelle habe ich mich ausführlicher mit der Theorie des Gewissens auseinandergesetzt: Dober, „Ich und mich sind immer zu eifrig im Gespräche“.
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gewonnene Kraft zur Lebensgestaltung nach einem Erwachen aus dem Schlaf will sich aber im Alltag auswirken: in einem evangelisch begründeten carpe diem, das die von Gott verliehene Lebenszeit zu nutzen versteht trotz und im Bewusstsein menschlicher Endlichkeit. Was der einzelne nun tut, das findet seine Orientierung in einer Liebe zum Nächsten, die ihre Quelle in dem Gefühl hat, selbst geliebt zu sein. Gib, dass deiner Liebe Glut / unsre kalten Werke töte, fährt die dritte Strophe fort, und erweck uns Herz und Mut / bei entstandner Morgenröte, / dass wir, eh wir gar vergehn, / recht aufstehn.
5.
Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk, was den Prediger vom Künstler? „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“1 „Kunst eignet Wahrheitssinn und stellt als Manifestation befreiender Praxis zugleich die Frage nach dem richtigen Handeln, das in rein technisch-funktionaler Wirklichkeitsbewältigung nicht aufgeht, sondern immer auch kritisch-konstruktiv Sinnpotentiale zu begreifen und zu verwirklichen sucht.“2
5.1
Wie lässt die Kunst Wahrheit erkennen?
5.1.1 Artisten-Metaphysik Einem berühmten Aphorismus Nietzsches zufolge ist die wahre Welt zur Fabel geworden.3 Die besprochenen homiletischen Konzeptionen schließen hier der Sache nach an, indem sie – wie etwa Henning Luther – das „vormoderne“ Verständnis der Predigt so beschreiben: Sie sei „Auslegung der ,wahren‘ Welt, des Gottes Wortes selber“ gewesen.4 Unter den Bedingungen vormoderner Plausibilität mag die Identität von Gotteswort und (gepredigtem) Menschenwort im Sinne einer alten Metaphysik verstanden worden sein. Ob der von Barth prominent zitierte Satz Bullingers, prädicatio verbi Dei est verbum Dei auf diese Weise zureichend verstanden und interpretiert ist, mag hier auf sich beruhen.5 Möglich ist sein Verständnis auch so, dass sich im Augenblick des Hörens auf das Gotteswort eine solche Identität einstellt, ohne dass diese in einer vorgegebenen Identität von wahrer und wirklicher Welt begründet gedacht werden müsste. Das Kerygma, so wurde oben gesagt, muss nicht im Sinne der Verkündigung einer immer schon (und einzig) wahren Lehre bzw. eines historischen Anspruchs verstanden werden. Mit L|vinas hat gezeigt werden können, dass das Kerygmatische als Ruf zur Verantwortung in der Praxis der Predigt auch eine andere Bedeutung haben kann – wie respektive auch in der Produktion und Rezeption
1 Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Stuttgart (Kröner) 12 1980, 554 [Hervorhebung im Original]. 2 Drehsen, Rezension von: A. Grözinger, Praktische Theologie, Sp. 465. 3 Nietzsche, KSA Bd. 6, 80f [Götzendämmerung]. 4 H. Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine, 11. 5 Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 131.
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der Künste. Der eben angedeutete alte metaphysische Zusammenhang aber ist für das moderne – und zumal für das postmoderne – Bewusstsein zerbrochen. Doch was heißt das für die Wahrheit? Ist sie, wie Nietzsche lehrte, nun bloß noch als ein Anspruch in spezifischer Perspektive denkbar? Eben das hat den Wahrheitsbegriff in die Nähe eines ästhetischen Phänomens gerückt, als könnten Wahrheitsansprüche nicht mehr anders in Erscheinung treten als vom subjektiven Standpunkt eines Künstlers aus, der in seinen Werken zeigt, wie er die Welt anschaut. In diesem Sinne (und in den Konsequenzen weit darüber hinaus reichend) hat Nietzsche von einer „Artisten-Metaphysik“ gesprochen: sie ist ihm die „eigentliche metaphysische Tätigkeit“.6 Doch damit ist die Bedeutung dieses – mit Blick auf die abendländische Tradition – nach-metaphysischen Zugangs zur Kunst noch keineswegs erschöpft. Nietzsche hat auch eine Hermeneutik ihrer Werke möglich gemacht, durch die der Betrachter mehr zu sehen lernt als er bisher gesehen hat (vgl. Abs. 4.3.2, 2.5.2 Anm. 106), der Hörer mehr hört, als er bisher hörte (s. u. zu Adorno). Kunst überhaupt ist für Nietzsche „nichts anderes als der Einspruch und der Protest gegen eine erstarrte Welt, die sich ihrer Ursprünge und Bewegungsgesetze nicht mehr bewusst ist“.7 Oder um es mit dem Film zu sagen, der „eine Art Spannung zwischen phänomenaler Bewegung und leiblich-seelischer Bewegtheit her [stellt], wie sie so in den anderen Künsten nicht zu finden ist“,8 gewähren uns seine „Imaginationen … eine Weise des Durchfühlens und Durchdenkens von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des menschlichen Inderweltseins [sic], wie es sie sonst in der Welt nicht gibt.“ (218) Heidegger hatte diese Funktion der Kunst, zum „Ort der Wahrheit“ werden zu können, schon an Bildern aufgezeigt. So lässt etwa Van Gogh’s Souliers aux lacets (Schuhe mit Schnürsenkeln) „das Ding Ding sein – fernab allen Verfügungsinteressen des Subjekts“.9 Zuerst entfaltet wird der Terminus der Artisten-Metaphysik in dem frühen Werk Die Geburt der Tragödie anhand „des Antagonismus der beiden Grunderfahrungen“, die Nietzsche „mit den Namen der Götter Apoll und Dionysos benennt“.10 Schon hier findet die „Artisten-Metaphysik“ sich im Gesamtzusammenhang eines theologisch und ethisch problematischen Deutungsrahmens eingebettet. W. Benjamin hat es damit kritisch aufgenommen. Ihm zufolge gilt Nietzsche „der tragische Mythos … als rein ästhetisches Gebilde und das Widerspiel von appolinischer und dionysischer Kraft bleibt ebensowohl, als Schein und Auflösung des Scheines, in die Bereiche des Ästhetischen gebannt.“11 6 7 8 9 10 11
Nietzsche, zit. nach A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, 59. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, 58. M. Seel, Die Künste des Kinos, 234. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, 62. G. Wohlfahrt, Artisten-Metaphysik, 18 Anm. Benjamin , GS I/1, 281 [Ursprung des deutschen Trauerspiels].
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Benjamins Vorwurf lautet, Nietzsche habe die Ästhetik von ihrer geschichtsphilosophischen Signatur gelöst wie von ihrer Bindung an die Sittlichkeit entlastet. Und dadurch, dass der Ästhetik die Funktion einer „Rechtfertigung des Daseins“ zugesprochen werde – „nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“12 – habe „diese geniale Intuition zuletzt alle Begriffe verlor[en]“.13 Mit Bezug auf die zitierte Stelle aus der Geburt der Tragödie fährt Benjamin fort: „Wo die Kunst dergestalt die Mitte des Daseins bezieht, dass sie den Menschen zu ihrer Erscheinung macht anstatt gerade ihn als ihren Grund – nicht als ihren Schöpfer, sondern sein Dasein als den ewigen Vorwurf ihrer Bildungen – zu erkennen, entfällt die nüchterne Besinnung überhaupt.“ (GS I/1, 281f)
Zu einer nüchternen Besinnung der „Rechtfertigung des Daseins“, die ohne den Begriff und die Erfahrung der Versöhnung nicht sinnvoll wird gedacht werden können, bedarf es aber einer über die ästhetische hinausgehenden Perspektive – sei es die „religiöse“, sei es eine theologische. In diesem Sinne heißt es schon im Goethe-Essay : „Wahre Versöhnung [des Menschen] gibt es in der Tat nur mit Gott“.14 Günter Wohlfahrt hat die frühe „Artisten-Metaphysik“ im Licht der späteren Lehre Nietzsches von der ewigen Wiederkunft interpretiert.15 Hermeneutischer Schlüssel hierfür ist eine Bestimmung des Augenblicks, die Analogien zur „christlichen Metaphysik des Schönen bei Cusanus“ erkennen lasse (47–52).16 Indem Nietzsche früh schon von „der ewigen Rechtfertigung der Welt als ästhetisches Phänomen“ (54) ausgehe – so auch Wohlfart –, könne man (eine Metapher Benjamins aufgreifend) sagen: Nietzsches „antichristliche Kunstreligion“ (55) verhalte sich „wie das Löschblatt zur Tinte“ christlicher Theologie (58–60). Das so verstandene Löschblatt vermag aber nur aufzunehmen, was diese kunstreligiöse Rezeption aufzunehmen willens ist – etwa den Augenblick als „ästhetische Epiphanie“ „plötzlicher Ewigkeit“ (35). Wenn Benjamin demgegenüber davon sprach, sein Denken verhalte sich zur Theologie „wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen“,17 dann 12 Nietzsche, KSA Bd. 1, 47 [Die Geburt der Tragödie]. 13 Das ganze Zitat lautet: „Mit dem Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Erkenntnis des Mythos der Tragödie hat Nietzsche die Emanzipation von der Schablone der Sittlichkeit, die man dem tragischen Geschehen aufzulegen pflegte, teuer erkauft … Der Abgrund des Ästhetizismus tut sich auf, an den diese [Nietzsches] geniale Intuition zuletzt alle Begriffe verlor.“ (Benjamin, GS I/1, 281) 14 Benjamin, GS I/1, 184. 15 Wohlfart, Artisten-Metaphysik, 52–60. 16 Dass das Mittelalter „Gottes Wahrheit als seine Schönheit“ dachte, zeigt A. Grözinger an Augustin und Thomas von Aquin (Ders., Praktische Theologie und Ästhetik, 38–43). 17 Benjamin, GS V/1, 588 [Das Passagenwerk].
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ist durch das Prädikat „ganz“ schon einer kunstreligiösen Reduktion wie der Nietzsches widersprochen. Dass die Notiz fortfährt: „Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben“ (ebd.), ist durch Wohlfarts Interpretation noch nicht erschöpft, Nietzsche habe Momente der christlichen Tradition in seine „antichristliche Kunstreligion“ aufgehoben. Man kann Benjamins Fragment vielmehr (1.) so verstehen, dass das für die Rezeption der Theologie einstehende Löschblatt nicht in der Lage ist, die ganze Menge des Geschriebenen in sich aufzunehmen – es bleiben Reste dessen, was sich in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick vollkommen rezipieren lässt, und (2.) dass das in der Geschichte der Theologie Aufbewahrte seinen Sinn erst dadurch gewinnt, aktuell in seiner Bedeutung erkannt werden zu können.18 Nota bene kehrt hier die differenzierte Bezogenheit von geschriebenem und gesprochenem Wort wieder, die oben einlässlich behandelt worden ist (s. o. Abs. 2.3.3). Insgesamt – das zeigen Benjamins kurze Zusammenfassungen ebenso wie Wohlfarts Untersuchung deutlich genug – hat Nietzsche mit seiner frühen „Artisten-Metaphysik“ ein Modell entwickelt, das er in seiner späteren Philosophie vielfältig variiert, auf das er sich aber auch immer wieder konstitutiv bezogen hat. Hier soll nur kurz auf den gedanklichen Kontext verwiesen werden, der mit der Kritik des Platonismus auf die ganze Weite der Bedeutung von Nietzsches Kritik der abendländischen Metaphysik bezogen ist.19 Denn dieser Kontext ist in allen neueren Entwürfen zur Homiletik vorausgesetzt, ohne eigens thematisch entfaltet worden zu sein. „Platonismus“ ist für Nietzsche ein Kampfwort, das – wohl unterschieden von den Lehren Platons selbst – für eine Zweiteilung der Welt in eine „obere“ und „untere“ oder eine „hintere“ und vordergründige steht. Aufgrund eines „Hinterweltlertums“ (wie es in Also sprach Zarathustra heißt) habe man die alltägliche Welt des Scheins (und d. h. eben auch die Darstellungen perspektivischer Kunst, wie auch die interessegeleitete Kunst der Rede) abgewertet gegen die wahre Welt. Diese zeige sich nur wenigen, vor allem den Philosophen, die sich nicht so sehr um Reichtum und Ehre sorgen, sondern um ihre Seelen (Platon, Apologie 29, e2), und die in der Sorge um ihre Seele das Licht der Ideen zu erblicken in der Lage seien. Erst wer diese Höhe der Erkenntnis erlangt habe, könne auch einsehen, dass das, was wir „Wirklichkeit“ nennen, zumeist nur eine Welt des Scheins ist. Diese alte Metaphysik und den von ihr getragenen Wahrheitsbegriff unterzieht Nietzsche einer grundlegenden Kritik. 18 Dieser zweite Gesichtspunkt lässt sich ohne Schwierigkeit mit Nietzsches Lob der kritischen Historie kombinieren, die nach deren Nutzen und Nachteil für das Leben fragt. (Vgl. Dober, Die Verwindung des Historismus. Ernst Troeltschs und Walter Benjamins geschichtsphilosophische Reflexion im Vergleich). 19 Den im Folgenden knapp skizzierten Zusammenhang habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargestellt: vgl. Dober, Seelsorge, 113–119.
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„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch oder rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“20
Dieser alten, nun destruierten Metaphysik setzt Nietzsche die neue „ArtistenMetaphysik“ entgegen. Die subjektive Perspektive wird nicht mehr abgewertet, sondern gelobt als notwendige Voraussetzung dafür, sich als ein Individuum eine eigene Weltanschauung zu schaffen.21 Der Abwertung des schönen Scheins im Namen einer übergeordneten Wahrheit wird widersprochen wie der Abwertung der Sinnlichkeit überhaupt. Sie war im Platonismus mit einer Abwertung des Leibes zugunsten eines aufgewerteten Geistes einhergegangen, der die Seele beseelte – all das lässt sich anhand einschlägiger Passagen aus dem Zarathustra leicht nachvollziehen (vgl. „Von den Hinterweltlern“, „Von den Verächtern des Leibes“). Die in Heideggers Interpretation gebrauchte Formel von der „Umdrehung des Platonismus“22 fasst eine Umwertung dieser alten metaphysischen Bewertung zusammen, die vor allem – daran hatte sich Nietzsches Kritik entzündet – in der Moral zu Verhältnissen des Zwangs, der Angst, der Stromlinienförmigkeit geführt hatte. Seine Kritik der Metaphysik der Tradition ist im Kern eine Kritik der Moral und ihrer Begründungsstrukturen in der alten christlichen Theologie bis hin zu Kant: das kann anhand des Aphorismus aus der Götzendämmerung „Wie die ,wahre‘ Welt schließlich zur Fabel wurde“ nachvollzogen werden (s. o.). Mit der Neubewertung des Leibes (die nota bene alte Selbstverständlichkeiten in ihr Recht einsetzt, wie das Alte Testament sie bewahrt) wird auch die Sinnlichkeit in ihr Recht eingesetzt. Nicht mehr gibt ein metaphysisch legitimierter Sinn vor, was den Sinnen zuträglich ist, was gezeigt und gehört werden darf, sondern die Sinne erschließen sich den Sinn. Diese „Umwertung der Werte“ ist von den Künsten immer schon, und sei es nur im Ansatz, gewusst und praktiziert worden – „im Ansatz“, denn freilich gab es im corpus christianum Vorgaben, was überhaupt Gegenstand künstlerischer Darstellung werden durfte 20 Nietzsche, KSA Bd. 1, 880f [Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne]. 21 A. Grözinger zufolge endet Nietzsches Weg „in der äußersten Subjektivität“ (Ders., Praktische Theologie und Ästhetik, 61). In einem Vergleich mit Baudelaire (54–57, 59) stellt Nietzsches Weg eine Radikalisierung dar. 22 M. Heidegger, Nietzsche I, 231–242. Vgl. auch D. Jähnig: „Nietzsche konfrontiert die ,Kunst‘ mit dem europäischen Maßstab der Wirklichkeit. Er intendiert am anderen Ende der philosophischen Tradition die Umkehrung dessen, womit bei Plato die Philosophie begann.“ (Ders., Welt-Geschichte: Kunstgeschichte, 126)
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und was nicht. In die großen Auftragswerke haben die Künstler aber auch damals ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, ihre eigenen Perspektiven eingetragen. Sie haben das im Verborgenen geübt, was in der modernen Kunst programmatisch wurde: dass der Künstler auch sein Eigenes in seinen Werken zum Ausdruck bringe.23
5.1.2 Aktive Passivität als Wahrheitsmoment des formalen Wesens der Religion Es gelte für alle Kunstformen, für den Film aber insbesondere, dass er verspreche, „im Offenen das Verborgene, in der Zeit das Vergehen, im Handeln das Widerfahren, im Wissen das Nichtwissen, in der Bewegung das Bewegtsein zu exponieren“, schreibt Martin Seel mit Bezug auf den Film Blow up.24 Entsprechend bringen „inspirierende Werke fast jeder Kunstgattung … das, was sie jeweils präsentieren, in eine Form, die Leser, Betrachter oder Hörer zu einem spürenden, im selben Atemzug fesselnden und befreienden Auffassen nötigt: zu einer Belebung zugleich ihrer Rezeptivität und Spontaneität, zu einer Aktivierung ihrer mit Einbildungskraft und Einsichtsfähigkeit gepaarten Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, wie es das übrige Denken nicht zu entfachen vermag“.25
Im Anschluss an Th.W. Adorno nennt Seel die im Kunstgenuss zu verschränkende Rezeptivität mit der Spontaneität „aktive Passivität“. „Die Begegnung mit Werken der Kunst verlangt die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich ihnen so zuzuwenden, dass ihre Prozessualität sich entfalten kann, und zwar so, dass die Hörer, Betrachter und Leser von diesem Prozess mitgenommen werden. Sie bestimmen sich aktiv auf ein passives Bestimmtwerden hin.“ (238)
Ohne dass es an Ort und Stelle Erwähnung gefunden hätte, ist damit ein zentrales Moment des formalen Wesens der Religion im Medium der Ästhetik reformu23 Als ein Beispiel unter vielen mag das Bild Die Kreuztragung Christi von Pieter Breughel d.Ä. (1564) gelten, das heute in Wien hängt. Der Regisseur Lech Majewski hat das Zeitkolorit, die Erfahrung des Malers in dem Film Die Mühle und das Kreuz aufgeschlüsselt. Dabei ist ein sehenswerter Film herausgekommen, der die spanischen Machthaber in Flandern des 16. Jahrhunderts mit den römischen Soldaten überblendet, die folterten und kreuzigten. Und der Gott mit dem Müller vergleicht, der auf seiner Mühle auf dem Felsen das Geschehen überblickt, und zudem durch sein Tagwerk das Lebensbrot hervorbringt. Auch so lässt sich das Medium Film nutzen: um kunsthistorische Exkurse für viele anschaulich zu machen. 24 Seel, Die Künste des Kinos, 236. 25 A.a.O., 236f. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass auch das Denken mit Gefühlen einhergehen kann, wie oben mit Cohen gezeigt werden konnte. Doch die „Denkgefühle“ erreichen selten und längst nicht bei jedem den Grad an Intensität, den die Rezeption von Kunst hervorrufen kann (s. o. Abs. 2.2).
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liert worden. Der Religionstheorie Schleiermachers zufolge ist die Haltung „aktiver Passivität“ auch für die Rezeption religiöser Phänomene charakteristisch, wie leicht anhand der 2. der Reden Über die Religion nachvollzogen werden kann.26 Auf der Seite des Subjekts stehen Spontaneität und Rezeptivität in einem lebendigen Wechselverhältnis. Niemand bringt immer nur Gedanken, Gefühle, Töne oder Worte aus sich selbst hervor, sondern er nimmt auch auf, was andere hervorgebracht haben und mitteilen. So ist auch das Anschauen des Universums – d.i. Schleiermachers Beispiel in der 2. Rede – keine eindimensionale Beziehung, als erzeuge das Subjekt ständig Bilder vom Universum oder in ihm, wie die Sternbilder etwa. Sondern es geht auch eine Wirkung vom Angeschauten aus, vom Universum selbst, vom wieder entdeckten Sternbild am nächtlichen Himmel, oder – im Bereich der ästhetischen Erfahrung – von einem Gemälde, das ich anschaue, von einem Musikstück, das ich höre. Doch in diesem Wechselverhältnis ist das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewusstsein auch produktiv. Es bringt Vorstellungen, Bilder und Metaphern hervor wie ein Künstler in seiner Phantasie. Diese Bilder müssen dann allerdings auch auf ihre gedanklichen Gehalte hin befragt werden. Schleiermacher hat die Religion zuerst der Form nach beschrieben (E. Cassirer). Eben dieser Zugang ermöglicht es auch, in einer Analogie zur Rezeption von Kunstwerken ein Wahrheitsmoment der Religion in den Künsten selbst wiederzuerkennen. Kunstwerke regen dazu an, die Haltung „aktiver Passivität“ einzuüben, ohne die auch keine religiöse Erfahrung wird gemacht werden können. Und insofern kann man sagen: Die Kunst ist einer praktischen Wahrheit fähig, derer auch die Religion bedarf. Wenn man in einer homiletischen Perspektive nach der Wahrheit fragt, die in der Kunst liegt, wird man allerdings in einem zweiten Schritt auch die Inhalte in die Betrachtung ziehen müssen, die in den Werken der Kunst ihre Darstellung erfahren haben. Inwiefern diese der Predigtaufgabe zu Hilfe kommen können, ist oben anhand der Bedeutung und Funktion der Kunst für die Predigtarbeit mit Blick auf die Bildenden Künste, die Literatur und den Film näher erläutert worden (vgl. Abs. 4.5). Kein Phänomen des Menschlichen wird hier auszuschließen sein. Doch die Darstellung dieser Phänomene ist auf die Deutung zu beziehen, die meist schon der Künstler selbst mitbringt. Und in der Frage der (perspektivischen) Deutung schwingt immer schon die nach der Wahrheit mit. Sie wird, wie der kritische Rekurs auf Nietzsches „Artisten-Metaphysik“ gezeigt hat, in einen Diskurs führen, in dem das in den Künsten aufzufindende Wahrheitsmoment der Religion ihrem formalen Begriff nach dem inhaltlich bestimmten Wahrheitsanspruch der Theologie auszusetzen ist. Das muss längst nicht immer in der Weise der Konfrontation geschehen, aber doch in kritischer 26 Vgl. dazu: Dober, „Reflektierender Glaube“, 57–59.
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Aufmerksamkeit und Reflexivität.27 Auch auf diese Weise lässt sich Wahrheit in der Kunst finden.
5.1.3 An der Idee als Konstellation ist festzuhalten Um noch einmal auf die auch für die homiletische Lage der Gegenwart einschlägige „Umdrehung des Platonismus“ durch Nietzsche zurückzukommen, ist ein Aspekt eigens hervorzuheben. Das Problem im Einzelnen zu entfalten, würde zu weit führen.28 Für den hier thematischen Zusammenhang ist aber die Frage von zentraler Bedeutung, ob die von Platon gedachte Idee denn von Nietzsches polemischer Charakterisierung des Platonismus aus überhaupt noch zureichend in den Blick treten kann. An dieser Frage hängen die ethischen, anthropologischen, historischen und theologischen Implikationen von Benjamins oben referierter Kritik an einer einzig „ästhetischen Rechtfertigung des Daseins“. Außerhalb einer Konstellation von Gesichtspunkten, die in ihrem Verhältnis zueinander Orientierung zu geben vermöchten, wird die theologisch verstandene Rechtfertigung nicht auf die konkrete Wirklichkeit zu beziehen sein – eben darin aber besteht die Aufgabe der Predigt des Evangeliums. Man kann die Idee (mit Kant) als Postulat oder (mit Cohen) als Hypothese verstehen.29 Als Postulat stellen die Ideen der Freiheit, Gottes und der Unsterblichkeit in Kants praktischer Philosophie den Zusammenhang von Gedanken sicher, der seinen moralphilosophischen Erörterungen überhaupt einen stimmigen Sinn verleiht. Die Idee als Postulat ist ein notwendiger Gedanke, der vorausgesetzt werden muss, damit eine Argumentation als stimmig gelten kann. Dass Cohen sich mit diesem funktionalistischen Verständnis der Idee nicht zufrieden geben wollte, ist von der Korrelation aus zu erklären, in die bei ihm der freie, selbst verantwortliche Mensch und Gott als Schöpfer, Offenbarer und Erlöser zu stehen kommen (s. o. Abs. 4.2.3).30 Weder sind der Begriff des Menschen noch der Gottes für Cohen schon zureichend gefasst, wenn die Freiheit und Gott bloß eine regulative Idee sein sollen.31 Wenn in besagter Korrelation Erfahrungen von Gott gemacht werden (und auch von ihnen handelt die späte 27 Wie man nach Einklammerung theologischer Wahrheitsansprüche durch Beschreibung der Phänomene zur religiösen Dimension gelangen kann, die am Ende das Wort „Gott“ zu gebrauchen sich nicht scheut, habe ich in einem Vergleich von Schleiermacher und L|vinas zu zeigen versucht. (Dober, Schleiermacher und Lmvinas) 28 S.o. Heidegger, Nietzsche I, 231–242. 29 H. Holzhey, Gott und Seele, 85–89, bes. 88f. 30 Nota bene ist „Korrelativität überhaupt“ auch ein Moment des formalen Wesens der Religion nach Schleiermacher. Vgl. Chr. Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 194. 31 Und in der Tat ist auch bei Kant schon die regulative Idee der Freiheit durch die Tat zu bewähren, um Wirklichkeit zu gewinnen.
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Religionsphilosophie Cohens), dann ist seine Idee mehr als regulativ, sie ist konstitutiv für die Erkenntnis, die sich an eine solche Erfahrung anschließt. Und diese konstitutive Idee ist als Hypothese zu denken: eine Voraussetzung des Denkens, die durch Erfahrung verifiziert werden kann. Auf beide Weisen aber ist die Idee als eine Voraussetzung der Erkenntnis gefasst, die nicht im Nietzscheschen Sinn „platonisch“ sein muss. Die Idee kann als Konstellation von Gesichtspunkten verstanden werden (wie sie in dieser Untersuchung auch verstanden worden ist), ohne deren Voraussetzung weder ein Kunstwerk noch eine Predigt hinsichtlich eben der Dimensionen gedeutet werden können, die der frühe Nietzsche in den „Abgrund“ seines „Ästhetizismus“ verbannt hatte (Benjamin). Es gibt die Wahrheit der Kunst nicht unabhängig von ihrer Rezeption, und um von dieser Rezeption Rechenschaft geben zu können, bedarf es der Leitung durch die Idee als Konstellation. Ohne diesen von Benjamin in der Vorrede zu seinem Trauerspielbuch entwickelten Terminus ausdrücklich zu machen, hat Adorno eben diesen Zusammenhang in seiner Ästhetik-Vorlesung im Wintersemester 1958/59 am Beispiel der Musik beschrieben: „Wenn Sie etwa wirklich einen komplexen symphonischen Satz so hören, dass Sie alle sinnlichen Momente, die es darin gibt, wirklich aufeinander beziehen, also in ihrer Einheit und in ihrer Vermitteltheit hören, sinnlich wahrnehmen, wenn Sie also das, was Sie hören, nicht nur als das hören, als was es Ihnen jetzt erscheint, sondern auch in seiner Relation zu dem, was schon vergangen ist in dem Werk, und zu dem, was in dem Werk Ihnen noch bevorsteht, und schließlich zu dem Ganzen, dann ist das sicher das höchste Maß an präziser sinnlicher Erfahrung, das überhaupt möglich ist.“32
Die so beschriebene Erfahrung lässt aufscheinen, was eine Rezeption im Licht der Idee als Konstellation bedeutet. Man kann sie ohne Schwierigkeit aus der Sphäre der Musik in die des Films übertragen. Nur in einer Konstellation von unterschiedlichen Gesichtspunkten war auch die Frage zu bearbeiten, inwiefern die Predigt als ein Kunstwerk gelten kann. Der Weg dieser Untersuchung beschritt einen Weg von grundlegenden Leitfragen, die miteinander eine Konstellation bilden. Die erste nach dem Verhältnis von Wort und Vernunft verwies auf die anderen beiden nach der Rhetorik und der Ästhetik. Für eine homiletisch angemessene Verhältnisbestimmung dieser beiden Punkte der Konstellation ist nun zweierlei festzuhalten: Erstens ist die Rhetorik – wie schon gesagt – als eine potentiell der Wahrheit fähige Lehre von der öffentlichen Rede auch der Homiletik zu integrieren. In einer Rede wird nicht die absolute Wahrheit mitgeteilt oder abgebildet. Sondern Reden vertreten Wahrheitsansprüche, von denen der Redner überzeugen will. 32 Zit. nach: Seel, Die Künste des Kinos, 237.
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Reden tragen in ihrem Ursprung (im Subjekt) schon der Pluralisierung der Wahrheitsansprüche Rechnung, die für die moderne Plausibilität so charakteristisch ist. Es gibt heute m.a.W. auch keinen anderen Zugang zu der in den biblischen Texten bezeugten Wahrheit als durch subjektive Interpretation, für die die Rede diejenige Form bereitstellt, die der subjektiven Intention des Überzeugens genügt. Die Predigt als eine der Wahrheit fähige Rede wird freilich nur „winzige“ „Wahrheitsportionen“ mitteilen können,33 Wahrheit „in homöopathischen Dosen“ (139), weil mehr nicht „zumutbar“ ist (107). Das ist nicht nur dem „perspektivischen, kaleidoskopischen Denken“ geschuldet, „das uns heute natürlich vorkommt“ (138). Diese Einsicht ist schon den biblischen Offenbarungsgeschichten eingeschrieben, „wie das Beispiel des Mose lehrt, der vor dem brennenden, gleichwohl vom Feuer unverzehrten Dornbusch sein Antlitz verhüllte, um nicht an der Schau Gottes zu sterben“ (139). Am Ideenhimmel der Konstellationen, die die theologischen Begriffe bilden, ist allerdings als Grenzbestimmung auch die Transzendierung der bloß partiellen Wahrheit zu denken – und festzuhalten, die dann nicht mehr in der Kompetenz des Predigers und seiner Predigt liegt. Wenngleich nicht mehr im alten metaphysischen Sinn lässt sich auf diese Weise durchaus die Hegelsche Formel vom „sinnlichen Scheinen der Idee“ aufnehmen, wenn sie denn auf die einzelne Idee als Konstellation beschränkt bleibt, die als Regulativ festzuhalten sowohl für die Interpretation eines Kunstwerks, als auch für die Produktion und Rezeption einer Predigt notwendig ist. Zweitens ist von der Ästhetik – und zwar sowohl hinsichtlich der die Produktion als auch die Rezeption betreffenden Fragen – zu lernen, dass ihre Werke auf perspektivische Standpunkte bezogen werden müssen, um interpretiert werden zu können. In bestimmten Perspektiven werden Eindrücke und Erlebnisse gedeutet. Und diese Deutungen finden in den Kunstwerken ihre Darstellung. Genuine Kunstwerke stellen wahre Sachverhalte dar, ohne dass sie allerdings diese Darstellungen ihrerseits schon in der Sphäre des Begriffs auf ihre Wahrheit überprüften. „Einen philosophischen“ – respektive: einen theologischen – „Gedanken zu verstehen bedeutet, ihn mit den eigenen Worten reformulieren zu können … Etwas als ein künstlerisches Objekt aufzufassen dagegen bedeutet, sich mit seiner individuellen Gestaltung zu konfrontieren, ohne die Erwartung, diese in irgendeiner Weise ersetzen zu können.“34
So bringen „die nichtbegrifflichen Exerzitien der Kunst … die Individualität des Wirklichen und seiner Erfahrung zum Erscheinen, die im Diskurs der Philo33 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 107. 34 Seel, Die Künste des Kinos, 229.
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sophie unterbestimmt bleiben muss“ (232) – Entsprechendes wird für das Verhältnis von theologischem Lehrbegriff und Erfahrung gelten können, die durch Singularität, Mehrdimensionalität und Offenheit bestimmt ist (vgl. Abs. 4.3.3). Von solcher Erfahrung gibt die Kunst Rechenschaft, und eben darin besteht ihr Wahrheitsanspruch mit Blick auf die dargestellten Inhalte. An den Künsten ist zu sehen, dass ihre Singularität die Erfahrung an denjenigen bindet, der etwas erfährt. Das Subjekt der Erfahrung ist das menschliche Selbst (und nicht das „Ich“ des Idealismus oder das „Es“ des Unbewussten), das sich – wie seine Weltsicht – in seinen Werken zum Ausdruck und zur Darstellung bringt. Eben das kann durch das Denken nicht vorweggenommen werden – es bleibt ihm nur, sich deutend auf diese Darstellungen zu beziehen. Die Mehrdimensionalität der Erfahrung bindet sie an die Form des „und“, wenn es denn stimmt, dass der Mensch sich selbst, die Welt und Gott erfahren kann. Erst das „und“ konstituiert die Bedingungen der Erfahrung, und eben nicht die Eindimensionalität einer auf das Ich bezogenen Erkenntnisrelation oder einer dialektischen Methode, die durch alle Phänomene hindurch den Anspruch zu realisieren antritt, das Ganze als das Wahre zu denken.35 Schließlich ist die Offenheit eine Bestimmung der Zeitlichkeit der Erfahrung, in der sich „nichts vorwegnehmen“ lässt, vielmehr der Erfahrende sich „vom Andern abhängig machen“ muss.36 Für eine so begriffene Erfahrung, wie die Künste sie zur Darstellung bringen, gibt es durchaus Neues unter der Sonne. Es gehört zu der Wahrheit, die sich in der Kunst finden lässt, dass die hier dargestellte Erfahrung Überraschungen zulässt: Die Wahrheit in der Kunst ist, um es mit der schon zitierten Formel Benjamins zu sagen, mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. Verhält es sich so, ist ihre Wahrheit aber ohne Bezug zur Ethik und zur Geschichte nicht tragfähig.
5.1.4 Die Wahrheit in der Kunst bedarf der Bewährung Dass die Wahrheit in der Kunst der Bewährung bedarf, ist am Beispiel Heinrich Georges, eines der großen Schauspieler der 30er und 40er Jahre in Deutschland zu konkretisieren. Den Satz „In der Kunst lebt die Wahrheit“ hat er auf die großen klassischen dramatischen Werke bezogen, etwa auf Goethes Der Götz von Berlichingen oder auf den Faust oder auch auf Shakespeares King Lear, den zu spielen er anderen überlassen musste. In dem Film George, in dem der Vater durch den Sohn „Götz“ gespielt wird, spricht er diesen Satz während eines 35 Wiehl, Die Erfahrung im neuen Denken Franz Rosenzweigs, 44. 36 Vgl. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 387 [Das neue Denken].
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Verhörs durch einen sowjetischen Offizier, um seine Arbeit als Schauspieler und Intendant in Nazi-Deutschland zu rechtfertigen.37 Heinrich George meinte, dass die Wahrheit, die in der Kunst liegt, auch noch durch die Vereinnahmung durch die Nazis hindurch – als Stachel dieser Vereinnahmung gewissermaßen – wirken könne. Die Frage ist, bis zu welcher Grenze das möglich war. Das Freiheitspathos des Götz von Berlichingen jedenfalls wurde von Goebbels als Ausdruck eines nationalsozialistisch definierten Deutschtums dem System einverleibt. Und dass Heinrich George in Jud Süß mitspielte, dass er gar den späten Durchhaltefilm Kolberg mittrug, lässt das Urteil von Andreas Kilb nicht übertrieben erscheinen, er sei „ein Grandseigneur“ gewesen, „der immer nur spielte, immer nur für die Kunst leben wollte, und dafür das Lied der Schlächter mitgesungen hat“ (F.A.Z., a. a. O.). Später in der sowjetischen Haft bot allerdings der Faust ein Deutungsmuster für das Jüngstvergangene: der Pakt mit dem Teufel, den Faust geschlossen hatte, scheint das eigene Engagement des Schauspielers präformiert zu haben. Kann die Wahrheit, die in der Kunst lebt, im Sinne des „l’art pour l’art“ zur Geltung kommen, wie George die Freiheit der Kunst verstand? Im Sinne der Kunst als Spiel, das immer einen Freiraum braucht, um als Kunst zu wirken? D.i. die Bedingung, die dann fällt, wenn eine ideologische oder politische Vereinnahmung erfolgt, gleich welcher Art – möglich ist das auch in einer religiösen Hinsicht, die sich dann allerdings über sich selbst noch nicht zureichend bewusst geworden ist. Eben in dieser Grauzone hat Heinrich George sich bewegt – erst im Rückzug auf seine individuelle Gesinnung („die Gedanken sind frei“), dann in begrenzter Kooperation (er trat nie in die Partei ein) und schließlich bis zur Mitarbeit am ideologischen Geschäft selbst. Ob die Wahrheit, die in der Kunst liegt, sich bewährt, hängt jedenfalls auch an den Individuen, die von ihr Gebrauch machen. Und es hängt an den Verhältnissen, die die freie Erkenntnis dieser Wahrheit ermöglichen.
5.1.5 Die perspektivische Wahrheit in der Kunst und der Begriff der einen Wahrheit Insgesamt ist die unter modern- bzw. spätmodern-gesellschaftlichen Verhältnissen festzuhaltende Perspektivik der Kunst (in produktions- wie in rezeptionsästhetischer Hinsicht) auch auf die vertretenen Wahrheitsansprüche zu beziehen: Dass es den Anspruch auf Wahrheit nur im Plural gibt, ist an der Kunstform des Dramas und des Films in der Tat deutlicher noch zu studieren, 37 Der Film lief am 22. 7. 2013 im Fernsehen. Vgl. F.A.Z. Nr. 165 (19. Juli 2013), Seite 43.
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anschaulicher als im Hören einer Rede.38 Wer sich darauf einlässt, muss ein Bewusstsein dieser Pluralität gewissermaßen schon mitbringen. Dieses Bewusstsein kann anhand des strikten Perspektivismus der Standpunktphilosophien etwa Schopenhauers, Kierkegaards und Nietzsches begrifflich, anhand von modernen Werken der Kunst über den Weg der Deutung von Anschauungen ausgebildet werden.39 Die Kunst bewährt sich hier in der ihr eigenen Bildungsfunktion. Und mehr noch: „Wie schön“, um noch einmal mit Lewitscharoff zu sprechen, „dass ausgerechnet in der hochmögenden Literatur … herrliche Wahrheitskapseln verborgen liegen, die, schließen wir sie auf, es vermögen, uns zu erheitern, uns zu beglücken, und dabei unmerklich, still und leise, hinterrücks an unserer Zivilisierung raspeln und feilen, deren wir immerzu bedürftig sind.“40 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird aber gelten können, dass es die Wahrheit nur noch im Plural gibt und sich die eine Wahrheit nur einzelnen Perspektiven erschließt, wodurch jeder Wahrheitsanspruch begrenzt ist. Prägnant und salopp hat es Lewitscharoff formuliert: „Im Unterschied zu der Zeit, zu der sich die Offenbarung ereignet hat, bekommt uns die Wahrheit womöglich nicht mehr.“41 Heißt das aber auch, dass man darauf verzichten muss, die Einheit der Wahrheit zu denken (was ihrem Begriff entspricht)? Wenn man diese Frage verneint, ist die Grenze erreicht, bis zu der ein Rekurs auf Nietzsches „ArtistenMetaphysik“ für die Homiletik eine klärende, erschließende Funktion haben kann. Diese Grenze erreicht zu haben heißt aber, eine neue Frage zu stellen: Wie ist eine Wahrheitstheorie möglich, die die Vielzahl von Wahrheitsansprüchen mit dem Gedanken der einen Wahrheit zusammenzudenken vermag? Rosenzweigs Stern der Erlösung ist in dieser Hinsicht schon referiert worden (s. o. Abs. 4.3.3). Es liegt hier eine Theorie wenigstens zweier Wege zur einen Wahrheit vor, die Wege des Judentums und des Christentums. Die eine Wahrheit ist aber einzig bei Gott. Diese beiden „positiven“ Religionen führen ein Reflexionspotential mit sich, das es erlaubt, den eigenen – sei es christlichen, sei es jüdischen (und man wird ergänzen müssen: auch den islamischen) – Wahrheitsanspruch zu begrenzen auf eine Bewährung, die nicht in menschlicher Hand allein liegt, sondern in dem Maße gelingen kann, in dem die Ausrichtung auf Gott, der die Wahrheit ist, aufrecht erhalten wird.42 38 S.o. zum Film Rashomon (Abs. 4.4.1) 39 Rosenzweig hat sein System der Offenbarungsphilosophie auf der metaphysikgeschichtlich neuen Situation eben des Perspektivismus der Standpunktphilosophien aufgebaut (s. o. Abs. 4.3.3). 40 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 154. 41 Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 107. Vgl. 135ff. 42 Die Grenze auch dieser Theorie von Rosenzweig, die L|vinas in hohen Worten gewürdigt hat
210
Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk?
Auch homiletisch ist dieser regulative Zusammenhang von Gedanken relevant. Denn er erlaubt es, die Rhetorik und die Ästhetik als Wissenschaften bzw. Lehren in Anspruch zu nehmen, um auf dem christlichen Weg der Bewährung der einen Wahrheit Orientierung zu gewinnen. Die Ästhetik ist als Lehre von der Perspektivität der Rezeption von Wahrheitsansprüchen thematisch geworden. Am Ende ist sie noch einmal mit der Rhetorik als Lehre von den Bedingungen subjektiver Wahrhaftigkeit ins Gespräch zu bringen. Wenn im Folgenden nach der Verantwortung des Künstlers gefragt wird, so wird die Kunst nicht unter ein Diktat der Sittlichkeit gestellt. Vielmehr ist der gute Sinn des „l’art pour l’art“ hierbei stets vorausgesetzt. Der Künstler muss unabhängig von religiösen, ideologischen oder politischen Vorgaben in Freiheit darstellen können, was und wie es seiner Intuition (und dann auch seiner Idee) entspricht.43
5.2
Wem sind Künstler verantwortlich?
Kunst dürfe provozieren, heißt es immer wieder. Der Künstler sei der Zeitgenosse, der sich vielleicht am wenigsten den ungeschriebenen Gesetzen der political correctness verpflichtet fühlen muss.44 Ist nicht auch das ein Aspekt der „Offenheit“ von Kunstwerken? In der Tat wird man sagen müssen: ein Künstler ist vor allem sich selbst, dem Anspruch an sein künstlerisches Vermögen und also dem Gelingen seines Werkes verantwortlich. Das ist ein auf berufliche Funktionen bezogener Begriff der Verantwortung, der hier im übertragenen Sinne seine Be(Ders., Zwischen zwei Welten), wird aber darin zu erblicken sein, dass der Islam in die Bewährungstheorie der Wahrheit nicht gleichberechtigt einbezogen wird. Darin ist W. Schmied-Kowarzik zuzustimmen (vgl. schon Ders., Franz Rosenzweig, 172f. mit Ders., Differenzierungen zum ,Wir‘ bei Rosenzweig, 44.46). 43 Vgl. das Buch von D. Fenner, das eine ethische Regulation von Phänomenen im heutigen Kunstbetrieb zu begründen sucht (Dies., „Was kann und darf Kunst?“ Ein ethischer Grundriss, Frankfurt/New York 2013), hierbei aber noch nicht zu überzeugen vermag (vgl. die Rezension von P. Geimer in: F.A.Z. Nr. 233 [8. Oktober 2013], S. 26). Die zu stellende Frage betrifft das Verhältnis von Kunst und Sittlichkeit. Sie muss so beantwortet werden, dass die Kunst ihre Autonomie, ihre Freiheit behält, sich selbst ihre „Gesetze“ zu geben (d.i. der gute Sinn des „l’art pour l’art“), zugleich aber in ästhetischer Reflexion als „Herz der Kultur“ (Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 222) begriffen werden kann. Dieser Begriff impliziert einen zutiefst humanen Sinn der Kunst, welcher auf die Grundvermögen des Menschen bezogen werden muss – das der Erkenntnis ebenso wie das des Wollens, das des Verstehens wie das des Handelns. Ästhetisches Integral dieser Vermögen aber ist das „Gefühl“ (s. o. Abs. 3.6.1). Im Licht einer derart konturierten ästhetischen Theorie wird es für die Beurteilung von Kunstwerken nicht ausreichen, eine Arbeitsteilung von Kunstkritik auf der Grundlage von Geschmacksurteilen und grundlegenden ethischen Erwägungen zu empfehlen. Beide sind miteinander zu korrelieren, wofür die Cohensche Ästhetik ein historisches Vorbild abgibt. (vgl. etwa a. a. O., 234f) 44 Heute scheint vor allem das Theater „immer noch dem Gebot der Schockhaftigkeit verpflichtet“ (Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, 100).
Wem sind Künstler verantwortlich?
211
deutung gewinnt. Die primäre Bedeutung des Terminus ist aber situiert in all den Verhältnissen, die die Beziehung zu einem anderen betreffen, der reden und antworten kann. Dies kann der andere Mensch sein, der fragt, fordert, bittet, zur Verantwortung ruft. Dies kann aber auch eine Stimme sein, die nicht eindeutig einem anderen Menschen zuzuordnen ist, und von der die Bibel sagt, es sei die Stimme Gottes, die Abraham rief und zu Mose aus dem Dornbusch sprach – die Stimme dessen, der schon vorüber gegangen ist, und wir haben nur noch eine Spur von ihr. In den einfachen Worten überlieferter Frömmigkeit gesagt: Man kann und muss Gott und den Menschen verantwortlich sein. Auch der Künstler antwortet in diesem elementaren Sinn, aber er antwortet auf die Ansprüche und Wünsche, auf das Orientierungsbedürfnis und die Fragen des Publikums nicht direkt (wenn er sich nicht ideologisch in Dienst nehmen lässt). Er intendiert nicht mit Hilfe von Strategien der Darstellung, dass sein Werk im Zuge von Rezeptionsprozessen dann doch dem fragenden Betrachter zu einer Antwort werden kann. Dieses Ereignis findet statt oder auch nicht – es liegt nicht in der Hand des Künstlers (und manchmal nicht einmal in seiner Intention), auch wenn erst in gelingender Rezeption sein Werk aus der Apartheit vom Leben „erlöst“ werden kann, wie es bei Rosenzweig heißt. Die Prozesse der Rezeption von Kunstwerken beschränken die Verantwortung des Künstlers auf die Treue zu sich selbst und das technische Können, ein Werk zu vollenden (auch wenn das nur in der Weise eines Fragments möglich ist [s. o. Abs. 4.3.2]). Ob auch der Künstler eine Stimme gehört hat, die er nicht zweifelsfrei zuordnen kann, sei es aus einem Dornbusch, sei es aus der Dimension des Unendlichen, wie sie sich der Betrachtung des Sternenhimmels erschließt, ist einem Werk nur indirekt zu entnehmen: Solche Intentionen sind nur auf dem Wege der Einfühlung, der Interpretation unter Beiziehung von Tagebuchaufzeichnungen oder Briefen zu erschließen, die das Zeugnis eines Bildes besser zu verstehen helfen. (vgl. Abs. 4.5.3) In der modernen Kunst ist die Frage nach der Verantwortung des Künstlers offen. Das ist nicht immer so gewesen. Die kirchliche Auftragskunst etwa hatte immer auch eine Botschaft zu übermitteln. Mit Bildern suchte sie zu erzählen, die Betrachter anzusprechen und – dem Auftrag der Kirche entsprechend – die Botschaft des Evangeliums zu verkündigen. Visibile parlare war die Leitlinie kirchlicher Auftragskunst wie auch der Künstler, die in ihrer Arbeit aus den Quellen eigener Frömmigkeit geschöpft haben (seien dies die großen Werke Leonardos, Michelangelos, Caravaggios u. a. oder die der kleineren, weniger bekannten Künstler gewesen). Die Auffassung der Musik als „Klangrede“ lässt sich dieser an Werken der bildenden Kunst orientierten Betrachtung leicht zur Seite stellen: audibile musicare (dem Gehör entsprechend zu musizieren) wäre
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Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk?
dann die Leitlinie.45 Man muss nur an die großen musikalischen Werke etwa Johann Sebastian Bachs erinnern, an seine Passionen (s. o.), um zu sehen, dass sich sein kompositorischer Anspruch – und in diesem Fall kann man durchaus auch sagen: seine kompositorische Verantwortung – nicht mit der korrekten Wiedergabe der neutestamentlichen Passionsgeschichten zufrieden gegeben hat. Arien vertiefen den Gefühlseindruck, den ein biblisches Wort zu hinterlassen in der Lage ist, oder sie interpretieren es im Horizont eigener innerlicher Gotteserfahrung, oder sie verwandeln sich die biblische Geschichte so weit in subjektiver Frömmigkeit an, dass diese Aneignung die Form von Bekenntnissen annimmt. Der Chor nimmt in Gestalt des Gemeindechorals den evangelisch verstandenen Sinn einer Botschaft auf und antwortet auf das Geschehen nicht mehr nur in der Sprache des „ich“, sondern des protestantischen „wir“. Die klassische Kunst in der Kirche war nicht nur der kirchlichen Obrigkeit verantwortlich,46 sondern auch der Botschaft des Evangeliums47 und – wie besonders prägnant an Bach zu sehen ist – einer subjektiven Frömmigkeit, die eigene Akzente zu setzen wagte. Das Verhältnis von Kunst und Verantwortung ist offen. D.h. nicht, Kunst sei eo ipso verantwortungslos, weil sie sich ganz auf die Subjektivität des Künstlers verlässt oder weil sie sich über bisher geltende Konventionen hinwegsetzt, weil sie sich getraut, ihre eigenen Maßstäbe zu setzen. Aber ein Künstler ist nicht wie ein Redner dafür verantwortlich, dass sein Werk verständlich ist, dass es bei denen ankommt, die es rezipieren, ja dass es überhaupt in einer bestimmten Weise rezipiert werden kann, die der Intention dessen entspricht, der es schafft.48 Das aber ist bei einem Redner der Fall, der – so weit das in seiner Kompetenz liegt – eben diese Verantwortung seiner Hörerschaft gegenüber trägt. Kein Geringerer als Ernst Lange hat der Homiletik eben diesen Gesichtspunkt ins Stammbuch geschrieben. Prägnant hat er im Vorwort zu seinem Predigtband Die verbesserliche Welt das Beispiel der Predigtkritik eines Schülers aus der 11. Klasse und eines Industriearbeiters zitiert, der ihm gestanden hatte, von seinen Predigten nicht viel verstanden zu haben. „Genau das wäre doch die Aufgabe deiner Predigt“, antwortet er, „so vom Glauben zu reden, dass seine Relevanz für das Leben dieses Mannes unbestreitbar wird. Ob er dann glaubt oder nicht glaubt, …. Das ist eine andere Frage, die du nicht zu beantworten 45 Das ist schön dargestellt in dem Film Der Klang des Herzens (USA 2007, Regie: Kirsten Sheridan). 46 Dass sie das auch war, ist nicht selten der Stoff von Konflikten gewesen. 47 Sie begegnete gefiltert durch die Lehre der katholischen Kirche – auch hier fand sich immer wieder der Stoff zu einem spannungsvollen Konfliktpotential. 48 Im Extrem kann das zu einer Haltung führen, die N. Minkmar an M. Houellebecq beschrieben hat: „Er übt seine Verantwortung als Schriftsteller aus, indem er sie verweigert“ (F.A.Z. Nr. 17 [21. Januar 2015], S. 9).
Die Verantwortung des Predigers als Redner
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vermagst. Aber dass er versteht, wie die Verheißung mit seinem Leben zusammengehört, wie sie die Wirklichkeit seines alltäglichen Lebens verändert, wenn er ihr traut, dafür bist du als Prediger haftbar. Genau das ist deine Verantwortung als Prediger.“49
Eben diese Verantwortung wird vom Künstler nicht erwartet. Von Belang ist im Zuge der gestellten Frage, wem denn die Künstler verantwortlich seien, zudem, dass es verworrene Formen der Äußerung von Künstlern gibt, die Verantwortung zu übernehmen vorgeben, auf den zweiten Blick aber verantwortungslos sind. Als Beispiel für diesen Grenzfall dient mir das kontrovers diskutierte Gedicht von Günter Grass über Israel (veröffentlicht in der Karwoche 2012). In diesem Gedicht (wenn es denn eines ist) wirft der Nobelpreisträger Israel vor, den Weltfrieden zu gefährden und mit der Gefahr zu spielen, ein ganzes Volk auszulöschen. Der Agitator aus Iran aber, der nicht müde wurde, das Verschwinden des Staates Israel von der Landkarte zu fordern und den Holocaust zu leugnen, wird als ein bloßer „Maulheld“ verharmlost. So verkehrt ein ausgewiesener Künstler von Rang die wirklichen Verhältnisse, als ob nicht die Existenz des Staates Israel auf dem Spiel stünde, wenn mit der Atombombe gedroht wird, sondern Israels Potenz zum präventiven militärischen Vorgehen die Existenz anderer Völker – im aktuellen Kontext: des iranischen – gefährde. Ein Schelm, der hier alte antisemitische Deutungsmuster wiederkehren sieht, die dem nun „mit letzter Tinte“ schreibenden Grass früher einmal in die Wiege gelegt worden waren. Kunst dieser Art ist alles andere als harmlos und unschuldig. Von der Verantwortung für die gewählten Worte ist auch der Künstler nicht frei zu sprechen.50
5.3
Die Verantwortung des Predigers als Redner
Auf dem Feld zwischen Rhetorik und Ästhetik stehen vor allem zwei kritische Fragen zur Disposition (abgesehen von den konstruktiven, die schon behandelt worden sind): die nach der Wahrheit und die nach der Verantwortung. Mit Blick auf beide Fragen ist vom Prediger als einem Redner mehr und anderes zu erwarten als von einem Künstler. Der oben erarbeitete Vergleich der Homiletik mit der Rhetorik gipfelte in der Frage nach der Angemessenheit einer guten Rede an ihren Anlass – auch für die Predigt ist das ein oberes Kriterium. Zudem konnten die von der antiken Rhetorik ausgearbeiteten Intentionen des Redners, die sich 49 E. Lange, Predigen als Beruf, 55. Vgl. meinen Beitrag: „Kommunikation des Evangeliums“, 261ff. 50 Vgl. F. Schirrmacher, Was Grass uns sagen will. Das Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass ist ein Dokument der Rache. Eine Interpretation, in: F.A.Z. Nr. 82 (5. April 2012), S. 29. Sowie das persiflierende Gedicht über dieses „Gedicht“ in: F.A.Z. Nr. 83 (7. April 2012), S. 2.
214
Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk?
gemäß dem Anlass gewichten, in der Homiletik verifiziert werden: die Predigt wird sich, je nach ihrem Kasus, am movere, docere oder delectare orientieren. Um nun die Unterscheidung der Predigt als Rede von einem Kunstwerk auf den Begriff zu bringen, muss noch ein Schritt über diesen Vergleich hinaus getan werden. Unter seiner Voraussetzung gerät nämlich die entscheidende Differenz in den Blick. Eine Predigt wird ihrem Gegenstand erst dann angemessen sein können, wenn sie das Evangelium mitteilt als die frohe Botschaft, von der der Prediger selbst überzeugt ist. Dem Tübinger Rhetoriker Joachim Knape zufolge bedarf jede Rede im Unterschied zum Kunstwerk eines Zertums, von dem der Redner überzeugen will. Das kommt mit der wahrheitstheoretischen Einsicht überein, dass „die Wahrheit … nicht aus der Unparteilichkeit, sondern aus der Parteilichkeit für den Sachverhalt“ stammt.51 Dass ein Redner von seinem Zertum überzeugen will, gilt für alle Gattungen der öffentlichen Rede, auch für die Predigt, in der die subjektive Überzeugung des Predigers sich an dem Evangelium nährt, das er sich selbst gesagt sein lässt. Der Prediger wird sich (wie andere Redner, die öffentlich das Wort ergreifen, auch) auf seine eigene Wahrhaftigkeit ansprechen lassen müssen. Zugleich wird er aber kraft seines Predigtauftrags für die Konstitution der anzunehmenden Lebenswahrheit auf der Seite seiner Hörerschaft eine Mitverantwortung tragen. Sie ergibt sich aus der Herausforderung, mit seinen Worten das Evangelium zu kommunizieren. Das wird ohne das Wagnis nicht möglich sein, ein eigenes Verständnis des biblischen Textes, des christlichen Glaubens und der für dieses Verstehen immer schon leitenden Begriffe zu entfalten. In diesem Sinne wird man an die Überzeugung Fontanes anschließen können, dass der Pfarrer als Prediger „zur Bekenntnismäßigkeit verpflichtet“ ist,52 und eben unter dieser Voraussetzung „Mittler von religiöser Tradition und Individuation“ sein kann (223–229). Überzeugtsein ist nun aber nicht allein vom Prediger zu erwarten. Es eignet dem Menschen, wenn er ganz bei einer Sache ist. Wissen überhaupt wird von einer Überzeugung begleitet.53 Von dem, was ich weiß, muss ich überzeugt sein (§59), sonst würde ich mein Wissen als Wissen gar nicht ernst nehmen (§66). Wer aber davon überzeugt ist, dass er weiß, was er weiß, wird dieses Wissen auch mit Überzeugung weitergeben: dieser Aspekt der Mitteilung verweist in das Gebiet der Rhetorik. Nota bene hat Schleiermachers Denken eine starke Affinität zu diesem Gebiet und dem, was in ihm verhandelt wird. Es ist kein Zufall, dass er seine Religionstheorie in Form von Reden entfaltet. Die Frage ist allerdings, wie 51 Vgl. Volker Gerhardt, Der Wert der Wahrheit wächst. Die Unparteilichkeit der Wissenschaft als Parteilichkeit für die Erkenntnis der gemeinsamen Welt, in: Forschung & Lehre 5/12, 360–367, 367. 52 E. Beutel, Fontane, 78. 53 Schleiermacher, Dialektik, §88.
Die Verantwortung des Predigers als Redner
215
die subjektive Überzeugung (§88) – als ein mit Überzeugung gesetztes Urteil – von anderen übernommen werden kann, so dass mehrere Subjekte die gleiche Überzeugung teilen. Der Weg dahin ist Kommunikation, eines ihrer „Instrumente“ die Rede. Dass „Überzeugen ein Akt auf Gegenseitigkeit“ sein kann, hängt also daran, dass „man … [nur] überzeugt …, wenn man selbst überzeugt wird“ bzw. überzeugt worden ist.54 Insofern ist – bei aller Analogie – die Predigt durch ihr Zertum von einem Kunstwerk unterschieden, das als „offenes“ die Mehrdeutigkeit auf der Seite der Rezipienten auch durch die Gestaltung auf der Seite der Produzenten begünstigen will. Diese Offenheit ist aber für eine Rede nicht der anzustrebende End-, sondern nur erst der Ausgangspunkt. Im Verlauf entfaltet der Redner sein Zertum, das den Hörern am Ende so klar und deutlich vor Augen stehen muss, dass sie es entweder ablehnen oder ihm zustimmen. Der auch homiletisch anzunehmende subjektive Nachvollzug, dass der Hörer sich die Predigt noch einmal für sich selbst hält, wird seine Grenze in dem finden, wovon der Prediger zu überzeugen suchte. Das Evangelium kann sich niemand selbst predigen. Man muss es sich sagen lassen. Und der Prediger kann es anderen nur sagen, sofern er selbst überzeugt davon ist, dass bei Gott die Quelle des Lebens ist und wir in seinem Licht das Licht sehen. Spätestens hier geht die mehrdeutige Offenheit, die auch einer Predigt in manchen ihrer Passagen eignen kann, in Eindeutigkeit über. In den tiefsten Fragen der eigenen Existenz bedarf es der Eindeutigkeit einer Zusage. Deshalb wird dem Prediger mehr und anderes abverlangt als dem Künstler, auch und gerade dann, wenn er vom Künstler viel zu lernen hat. Die Predigt ist primär dem Evangelium als dem Wort Gottes verantwortlich. Mit Blick auf diese Idee des Guten vertritt sie ihr Zertum. Das aber ist ohne Orientierung am Ideal des vir bonus kaum denkbar. „Im Namen kreuzen sich … drei Existenzweisen desselbigen lebendigen, hörenden, sprechenden und denkenden (um sich selbst wissenden) Wesens“, heißt es bei Rosenstock.55 Deshalb lässt sich „nur in strengster Form, nur mit vollem Namen … die Wahrheit sagen“ (56). Und im Zentrum des Stern der Erlösung hat Rosenzweig geschrieben: „Name ist nicht Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer.“56 Dass „der gute Name des Pastors“ eine pastoraltheologische Bedeutung hat, kommt auch in der unvertretbaren Verantwortung des Predigers zur Geltung.57 Bevor ich abschließend diesen m. E. entscheidenden Unterschied zwischen der Bedeutung der Rhetorik und der Ästhetik in der Predigtarbeit anhand der Frage nach den Tugenden des Predigers und der Predigerin zu präzisieren suche, 54 55 56 57
Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe, 34 [Brief an Rosenstock vom 8. 9. 1917]. Rosenstock, Der Atem des Geistes, 55. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 209. Achelis, Praktische Theologie II, 230ff.
216
Was unterscheidet die Predigt von einem Kunstwerk?
komme ich auf die eingangs gestellte Frage zurück, worin sich das Evangelium vom „Grundthema der Menschenliebe“ in der Kunst unterscheidet. Die Quelle der Menschenliebe liegt für den Prediger nicht im Menschen allein, der zur Liebe fähig ist, sondern in der Korrelation des Menschenherzens als menschlicher Quelle der Liebe und Gott als der Güte, von der auch das menschliche Herz sich noch nährt. Weder dem Künstler noch dem Prediger darf das Menschliche – auch und gerade das in seinen Ambivalenzen Menschliche – fremd sein. „Das Menschenherz in allen seinen Tiefen und mit allen seinen Falten muss ihm [dem Künstler wie dem Prediger] ein offenes Buch sein.“58 Wenn das zutrifft, bedarf das Menschenherz selbst eines reinigenden, klärenden Umgangs mit sich selbst. Mit diesem Bedürfnis der Menschenliebe ist die religiöse Dimension erreicht. Bei Cohen verweist dieses Erfordernis von der Ästhetik auf die Religion (s. o. Abs. 4.2.3). So stellt auch die Predigt des Evangeliums auf dem Hintergrund des Gesetzes eine Praxis derartiger Reinigung, Läuterung und Klärung dar, wenngleich nicht die einzige. Gebet, Buße und Beichte, wie auch das Abendmahl sind andere Formen. Die Predigt ist aber als eine wesentliche Form dieser Art anzusehen. In protestantischem Verständnis ist sie die Vorschule der anderen.
58 Cohen, Ästhetik I [Werke 8], 224.
6.
Von den Tugenden des Predigers1
Die Gestaltung der Predigt fordert hohe Kompetenz, und das zumal unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, die unter den Stichworten „Plausibilitätskrise des Christentums“, Kirchenkrise,2 Milieuvielfalt etc. beschrieben worden sind. Der Selbststeuerung des Predigers und der Predigerin wird vieles zugemutet, und es ist ihr auch vieles zuzutrauen. Der subjektive Faktor ist in der Predigtarbeit überhaupt nicht zu vernachlässigen, kommt doch der Person des Predigers im homiletischen Dreieck eine sowohl kontrollierende als auch regulierende Funktion zu. Deshalb verdienen auch die Tugenden des Predigers eine erneuerte Aufmerksamkeit. Weder im allgemeinen Bewusstsein noch in der theologischen Diskussion steht die Tugend allerdings hoch im Kurs. Sie ist zwar nie ganz aus dem Diskurs verschwunden, aber die Apologie, die etwa Ulrich Wickert ihr gewidmet hat, scheint doch eher zu den Randerscheinungen der gegenwärtigen Kultur zu gehören.3 „Auf der Höhe der Zeit ist eher, wer einen ironisch-spöttischen Umgang mit … [den] Begriffen [der Tugend] pflegt“, schreibt G. Schrader.4 Die Bürger jedenfalls in der westlichen Welt scheinen sich gern vor übergroßen Tugendforderungen zu entlasten, womit sie das von Heine zitierte Wort eines „Narrs des Shakespeare“ bestätigen: „Meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben?“5 Andere Vorbehalte sind im Namen der Theologie erhoben worden. So bedarf es nach Martin Luther zum Heil nicht zuerst eines tugendhaften Wandels, sondern der geistgewirkten Gewissheit von der Wahrheit des Evangeliums.6 1 Das Folgende stellt die gekürzte Fassung eines Vortrags dar, den ich im Januar 2012 vor der Evang.-theol. Fakultät Münster gehalten habe. Vgl. Dober, Arbeit an der eigenen Gesinnung. 2 Vgl. F.-W. Graf, Kirchendämmerung. 3 Vgl. Wickert (Hg.), Das Buch der Tugenden. Ders., Der Ehrliche ist der Dumme. 4 G. Schrader, Rezension von: Chr. Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a.M. 2013, in: F.A.Z. Nr. 48 (26. Februar 2014), S. 26. 5 Heine, Deutschland I. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 72f. 6 M. Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend, 170–173.
218
Von den Tugenden des Predigers
Während die Tugenden im Nachdenken über Moral entstanden, von allem Anfang im griechischen Denken an,7 ist die Moral nach evangelischem Verständnis kein Weg, vor Gott gerecht zu werden. Gerecht wird der Mensch vor Gott durch den Glauben an die göttliche Gnade, und unter dieser Voraussetzung wird er dann auch fähig zu guten Werken. Religion und Sittlichkeit sind im evangelischen Christentum seit Luther eben auf diese Weise miteinander verknüpft. Es kommt darauf an, diese spezifische Eigenart der Religion, diese Prägnanz nicht zu verleugnen und zugleich die Kontinuität zur Sittlichkeit aufrecht zu erhalten.8 Doch auch aufgrund kultureller Prägungen scheint die Lehre von den Tugenden problematisch. In der Tat sind viele von ihnen auf bestimmte „Lebensgebiete“ bezogen.9 Mit Trutz Rendtorff lässt sich sagen: „Tugenden sind individuelle Lebensformen persönlicher Verantwortung“,10 in welchem Beruf, in welcher gesellschaftlichen Stellung und Funktion auch immer. So verstanden können sie als „die Individualisierung des Ethos der Kultur“ (128) gelten, das einem historischen Wandel unterworfen ist. Schon die Etymologie deutet darauf hin, dass die griechische „arete“, die Tüchtigkeit, Tauglichkeit oder „Bestheit“ (so Schadewaldt), ins Lateinische übersetzt mit „virtus“, als männliche Tugend verstanden wurde, die sich nach den Erfordernissen kriegerischer Auseinandersetzungen definierte.11 Andere Tugenden sollten dann als spezifisch weiblich gelten.12 So schrieb etwa Schopenhauer : „Gerechtigkeit ist mehr die männliche, Menschenliebe mehr die weibliche Tugend. Der Gedanke, Weiber das Richteramt verwalten zu sehn, erregt Lachen …“, oder Friedrich Schiller : „Tugenden brauchet der Mann, er stürzet sich wagend ins Leben,/ Tritt mit dem stärkeren Glück in den bedenklichen Kampf. / Eine Tugend genüget dem Weib; sie ist da, sie erscheinet / Lieblich dem Herzen, dem Aug lieblich erscheine sie stets!“13
Wieder andere sollten vor allem dem Machterhalt dienen, wie etwa die „Tugenden des Herrschers“ bei Machiavelli.14 Leicht konnte es hier zum Konflikt mit 7 H. Cohen, Religion der Vernunft, 464. Honecker, Schwierigkeiten, 168f. 8 Vgl. D. Korsch, Hermann Cohens Verständnis der Sünde vor dem Hintergrund der reformatorischen Tradition, 198 (s. o. Abs. 3.6.2). Schon Troeltsch sprach davon, dass „man aus Sorge um die Behauptung der alleinigen Rechtfertigungsgnade die Ethik überhaupt möglichst zurückschob“ (Ders., Luther, der Protestantismus und die moderne Welt, 226). Nach den Tugenden des Predigers zu fragen heißt, auf dem Feld der Homiletik dieser Gefahr zu begegnen. 9 Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 250 Anm. Der Terminus geht auf Nicolai Hartmann zurück. 10 T. Rendtorff, Ethik Bd. II, 127. 11 O.F. Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, 24f. Rendtorff, Ethik II, 200. Cohen, Ethik des reinen Willens, 470. Cohen, Religion der Vernunft, 466. 12 Rendtorff, Ethik II, 159. 13 Zit. nach Wickert, Das Buch der Tugenden, 30. 14 R. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 52.56.
Von den Tugenden des Predigers
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anderen Tugenden kommen, und die Frage trat auf, ob es sich bei ihrer Aufstellung nicht vor allem um ein perspektivisches Denken handle. Das betrifft auch die Frage nach dem Verhältnis der sog. „sekundären“ Tugenden Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Fleiß zu den primären, „kardinalen“ (s. u. Abs. 6.2). Eine problematische Konsequenz aus einer derart skizzierten Diskurslage scheint es mir aber zu sein, der subjektiven Kontrolle und Regulierung immer weniger, dafür aber der systemischen immer mehr zuzutrauen. Die Tugenden bedürfen m. E. erneuerter Aufmerksamkeit, weil so vieles von der Selbstorganisation und Selbststeuerung der Individuen abhängt. Ich verstehe die Tugenden als Orientierung im Handeln, das sich an einem auch von anderen geteilten „Verständnis von Gütern“ ausrichtet.15 Für ein neuzeitliches, an Kant gebildetes Denken, ist entscheidend, dass die Tugenden „als bleibende sittliche Richtung des Willens“ verstanden werden, der sich auf das Gute ausrichtet.16 Das liegt auf der Linie der Ethik Cohens, dessen moderne, der Aufklärung treue Ethik sich auf den „reinen Willen“ gründet. Die extreme Möglichkeit, die Nietzsche ergriff, ist nur eine unter anderen. „Dass wir auf unser Wollen zurückgeworfen werden“, muss nicht bedeuten, „dass der Wille auf sich selbst und das heißt auf seine Steigerung ausgerichtet“ sein muss.17 Möglich ist auch, dass der Wille sich auf das Gute ausrichtet, wie Kant es im kategorischen Imperativ gedacht hat. Auch so werden wir allerdings „zurückgeworfen … auf unsere Gefühle, Wünsche, Motive“ (218). Wollen ist „eine notwendige Grundlage aller Moral“, auch wenn sie „durch die autoritäre Begründung des Müssens verdeckt“ wird (88). Die Tugend ist also kein Werk, sondern ein Wegweiser zu guten Werken.18 Sie ist auch nicht zureichend bestimmt, wenn man sie als eine charakterliche Eigenschaft des Handelnden begreift (s. u. Abs. 6.2). In dieser doppelten Abgrenzung bereitet die orientierende und stützende Kraft der Tugenden einer Handlungskontinuität den Weg. Ohne hier näher auf die etwa zwischen Ernst Tugendhat und Alasdair MacIntyre kontrovers diskutierten Begründungsfragen eingehen zu können, ist damit ein homiletisch brauchbarer Begriff ganz knapp skizziert. Es geht mir um die Tugend als Wegweiser und Orientierung für die in der Predigtarbeit notwendige Selbstkontrolle des Predigers und der Predigerin. In einem ersten Schritt suche ich den Anschluss an den Begriff der Predigt als Handlung – hiermit schließe ich an das in Kapitel 3 Gesagte an: die als eine Rede begriffene Predigt ist eine Handlung. Zweitens frage ich nach den Tugenden, die sich für die Regulation des Handelns überhaupt und insbesondere als Tugenden des Predigers empfehlen. In einem dritten Schritt suche ich die notwendige 15 A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 344. Davon geht auch Kant aus (Tugendhat, Ethik, 216). 16 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, 21. 17 Tugendhat, Ethik, 218. 18 Anders Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff Tugend, 171.
220
Von den Tugenden des Predigers
Orientierung im Handeln des Predigers am Leitfaden der Tugenden auf die Regelmäßigkeit der Predigtaufgabe zu beziehen.
6.1
Predigt als Handlung
Wenn man nach den Tugenden fragt, tritt die Predigtaufgabe unter dem ethischen Aspekt des Handelns in den Blick. Das ist für die Theorie der Predigt wichtig und elementar. Nach den Tugenden zu fragen, die den Prediger bei seiner Arbeit leiten, heißt aber, einen anderen Aspekt als den sprechakttheoretischen zu fokussieren. Es geht jetzt um das Subjekt des Handelns. Wie hält der Prediger seine Motivation in der Regelmäßigkeit durch, in der zu predigen sein Dienstauftrag ihn verpflichtet? Und wie findet er in den komplexen Handlungserfordernissen, die durch das sog. homiletische Dreieck symbolisiert sind, die für die Situation und für ihn selbst angemessene Option, die er dann in seiner Predigt ausarbeitet? Ethische Kompetenz ist ein Integral der theologischen, weil im Zuge der Predigtarbeit Entscheidungen zu treffen sind, in denen der Prediger unvertretbar ist. Freiheit bedeutet hier, auf sich zu nehmen, was ich als ein unverwechselbares Selbst in einer bestimmten Situation und in einer bestimmten beruflichen Funktion zu sagen habe. Von dieser Freiheit kann nicht gehandelt werden, ohne zugleich von Verantwortung zu sprechen. Die sich an diese Herausforderung anschließende ethische Reflexion muss über die Frage der Orientierung der Pflicht auch die nach der Tugend einbeziehen. Es reicht m. E. nicht aus, die Relativierung des „Gedankens Tugend vom Leitbegriff der Pflicht“ bei Kant zu betonen. Ihm zufolge ist zwar „Tugend … die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ bzw. ist „die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen“.19 Zugleich wird man aber sagen müssen: Die Tugenden treten in die Lücke ein, die zwischen bloß pflichtgemäßen Handlungen und Handlungen „aus Pflicht“ klaffen kann.20 Die konkrete Handlungssituation lässt diese Lücke auftreten. Schon bei Aristoteles ergänzen die Tugenden die Pflicht.21 Mit Tugendhat kann man die Tugenden auch als „positive Pflichten“ verstehen (230). Diese Sichtweise ist aber von der absoluten Pflicht dem kategorischen Imperativ gegenüber zu unterscheiden –
19 Zit. nach Honecker, Schwierigkeiten, 172f. 20 Vgl. G. Prauss, Moral und Recht, 11–35; Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, 162–171 [„The Nature of Virtue“]. 21 Tugendhat, Ethik, 253.
Gibt es spezielle Tugenden des Predigers?
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ebenso wie „positive Pflichten“ von einer übergeordneten Regel wie dem homiletischen Verfahren zu unterscheiden sind.22 Predigen ist ein kreatives Handeln innerhalb eines geregelten Rahmens. Das ist der Sinn der Rede vom „homiletischen Verfahren“.23 Im Durchlaufen dieses Verfahrens können aber Fragen zur Entscheidung anstehen, die durch die Regel allein nicht zu beantworten sind und als ethische die Sphäre der Kreativität übersteigen. Wer zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen zu wählen hat, wird sich eben um Angemessenheit seiner Entscheidung bemühen. Dazu aber muss er ein „Mittleres“ finden – als Prediger zwischen einem Minimum und einem Maximum der Schwerpunktsetzung im homiletischen Dreieck. Um sich überlegt in die Aufgabe einzubringen, die der Prediger zu erfüllen hat, können ihm die Tugenden als Wegweiser dienen. Es geht um „praktische Urteilsfähigkeit“ im konkreten Fall.24
6.2
Gibt es spezielle Tugenden des Predigers?
In seinen Tischreden hat Martin Luther folgende Eigenschaften und Tugenden genannt, die ein guter Prediger haben sollte. „Zum Ersten, dass er einen fein richtig und ordentlich lehren könne. Zum Zweiten soll er einen feinen Kopf haben. Zum Dritten wohl beredt sein. Zum Vierten soll er eine gute Stimme haben. Zum Fünften ein gutes Gedächtnis. Zum Sechsten soll er wissen, aufzuhören. Zum Siebten soll er seines Dinges gewiss und fleißig sein. Zum Achten soll er Leib und Leben, Gut und Ehre daran setzen. Zum Neunten soll er sich von jedermann verspotten lassen.“25
Zu einem Teil sind diese Eigenschaften auf die spezifische Redeverpflichtung des Predigers und auf die Voraussetzungen bezogen, die er als Person mitbringen muss. So sind die Tugenden (in einem aristotelischen Sinn) als „durch Gewöhnung und durch Übung erworbene ,Haltungen‘“ verstanden.26 Sie kommen nahe bei den Charaktereigenschaften zu stehen, (die man auf angeborene Dispositionen zurückführen könnte). So droht man aber in ein mythisches Erklärungsmuster abzugleiten, das der Freiheit und Verantwortlichkeit des einzelnen 22 Die Leistung einer Tugendlehre ist nicht mit einer „Regelethik oder einer Institutionentheorie“ kongruent, welche „eine Beschreibung der Inhalte des Guten“ anbieten (Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend, 180). 23 Vgl. dazu: J. Hermelink, Die homiletische Situation. 24 Tugendhat, Ethik, 230. 25 Martin Luther, Tischreden, 150. 26 K. Stock, Art. Tugenden, in: RGG4, Bd. 8, Sp. 651ff. (Hervorhebung von H.M.D.). Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, 20f. Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend, 168f. Vgl. Tugendhat, Ethik, 227. MacIntyre, Tugend, 249.
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nicht ausreichend Rechnung trägt.27 Man wird diesem Problem nur begegnen können, wenn man die Tugenden in einem an Kant gebildeten Sinn strikt als Wegweiser des Willens begreift, und nicht als Eigenschaften.28 Als Orientierungen des Willens (in einem kantischen Sinn) leiten die Tugenden nämlich auch die Gesinnungen, die (als Gestalten des Wissens) ihrerseits auf Freiheit und Autonomie zu beziehen sind. Zum andern Teil lassen sich in den von Luther genannten Tugenden ohne Schwierigkeit die antiken Vorgänger der Besonnenheit bzw. der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und des Maßes, der Tapferkeit bzw. des Mutes, sowie der Weisheit wieder erkennen. Platon hatte im Staat (429c–434e, 514aff, 524d–534e) einen Kanon von vier kardinalen Tugenden aufgestellt, die Weisheit (sophia), Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sophrosyne) und Gerechtigkeit (diakaiosyne). Cohen interpretiert die Sophrosyne als „Besonnenheit der Wahrhaftigkeit“;29 sie sei „Stecken und Stab“ menschlichen Handelns. Zugleich ist Sophrosyne „mehr als Weisheit und mehr als Tugend“: „die Heilheit des Gemütes …; das Ganze in seiner Unversehrtheit; die Einheit in ihrer Unverletzlichkeit und Unerschütterlichkeit“ (630).30 Wenn in den Tugenden der Wahrhaftigkeit, der Besonnenheit, des Mutes und der Gelassenheit „wesentliche Seiten des menschlichen Daseins“ zu sehen sind, werden sie nicht nur für Prediger gelten können. Ihr Verlust würde „eine eingreifende Verarmung menschlichen Lebens bedeuten“.31 Doch auch wenn man den Prediger mit einem anderen Redner in der Öffentlichkeit vergleicht, werden sich schwerlich spezifische Tugenden ausmachen lassen. Es ist also erforderlich, auf die spezifische Differenz einer religiösen Rede von anderen Redegattungen zurückgehen. Die ethischen Tugenden, die die Predigt als Handlung orientieren, sind dann zu unterscheiden von den religiösen. Während die ethischen Tugenden der Kontinuität im Handeln zugute kommen, haben die religiösen mit der Begründung der Tätigkeit des Predigens überhaupt zu tun. Die Wahrhaftigkeit (oder Authentizität) etwa gehört der Ethik 27 Auf dieses Problem hat schon H. Cohen hingewiesen (Ders., Ethik, 630f). W. Benjamin hat es dann in einem Aufsatz, den er zu seinen gelungensten Arbeiten zählte, ausgearbeitet (GS II/1, 171–179 [Schicksal und Charakter]). 28 Wenn der Charakter allerdings im Sinne „einer festen Willensdisposition …, das Gute zu wollen“, verstanden wird (Tugendhat, Ethik, 229), ist das Problem abgeschwächt. 29 Cohen, Ethik, 522. 30 Aristoteles hatte dann die schon genannten ethischen Tugenden von den dianoetischen (auf die Erkenntnis bezogenen) unterschieden. Seither hat es eine Vielzahl von Variationen gegeben, je nachdem, welche sachlichen Verbindungen sich zwischen den einzelnen Tugenden herstellen ließen, oder welche Herausforderung zu neuer „Individualisierung des Ethos der Kultur“ (Rendtorff) ergriffen wurde. Für eine feste Zahl hat man sich nicht entscheiden können. 31 Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, 16. Vgl. Tugendhat, Ethik, 222.
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ebenso wie der Religion zu. In beiden Bereichen bedarf sie des Korrelates der Bescheidenheit als Korrektur. Ethisch kann die Wahrhaftigkeit als Übereinstimmung mit sich selbst und den ethischen Prinzipien verstanden werden, als Verlässlichkeit in den als wahr erkannten Grundüberzeugungen – gewissermaßen ist die Subjektivität hier die Wahrheit. Religiös aber muss die Wahrhaftigkeit auf den Ursprung der eigenen Religiosität bezogen werden. Und der liegt nur vermittelt in der eigenen Subjektivität. Gewiss: ohne auf das subjektive Erleben zu rekurrieren, wird unter den Bedingungen des modernen Bewusstseins kein zureichender Begriff von Religion möglich sein. Aber die Subjektivität, das eigene Erleben, der eigene Glaube muss doch auf Objektivität bezogen werden: das im Gefühl wurzelnde „wahrlich“ auf den Wahrheitsanspruch der Tradition, in der die Predigt steht. Der Prediger jedenfalls muss in diesen Fragen, wie sich das religiöse Bewusstsein zum Wort Gottes, und wie sich die allgemeine Kultur zur kirchlichen Tradition verhält, seine Position gewonnen haben. Seine Bescheidenheit besteht dann darin, eben diese individuelle Position in Relativität zu den anderen zu sehen. Deutlich genug ruft die konstitutiv in der Unverfügbarkeit religiöser Wahrheit liegende Offenheit nun auch die andern Tugenden des Mutes und der Gelassenheit auf den Plan. Denn es kommt auf den Mut an, das eigene „wahrlich“ zu sagen, die eigene Interpretation der christlichen Botschaft in „kreativer Abweichung von klischeehaften kirchlichen Sprachmustern“.32 Schon für Fontane bestand „das Mißliche der pastoralen Redeweise“ in der „frommen Phrase“, in der „keine Spur wahren Lebens mehr ist“ und die dem Hörer nur „dürres Reisig“ in die Hand gibt.33 Und es kommt auf die Gelassenheit an, es gut sein zu lassen, wenn der Prediger es so gut gemacht hat wie möglich. Es ist eine Gelassenheit, die sich in der Reflexion auf das eigene Tun einstellen kann, und diese „im Lot“ hält.34 Auch sie wird nicht nur unter die ethischen Tugenden zu rechnen sein, sondern bedarf zu ihrer Gründung der Religion. Denn der Glaube, den die Predigt mitteilen will, ist subjektiv konstituiert durch ein Vertrauen, das theologisch angemessen als Gabe verstanden wird. Hier wird der wichtigste Grund dafür zu suchen sein, dass Glaube, Hoffnung und Liebe weithin als christliche Tugenden gelten. In der Liebe lässt sich der Ermöglichungsgrund dafür finden, dass die Mehrzahl der Tugenden mit ihrer unterschiedlichen Steuerungsfunktion eine Einheit bildet. Dazu muss man die Tugenden aber in eine religiöse Perspektive stellen, wie das früh schon Augustin
32 Karle, Kirche im Reformstress, 241. 33 Zit. nach E. Beutel, Fontane, 86f. 34 Vgl. Wiedebach, Pathische Urteilskraft, 68.
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und Thomas von Aquin getan haben.35 Hier betreffen sie „das Individuum in seiner Korrelation mit Gott“.36 In dieser Korrelation besteht die Chance, dass die Tugenden etwas von ihrer Unzeitgemäßheit verlieren, wenn man sie hat, als hätte man sie nicht. Die Herausforderung der Gerechtigkeit wird aber ihrerseits durch das Maßhalten in einem Verhältnis wechselseitiger Korrektur gehalten. Es wird seine korrektive Funktion ausüben, indem es auf die „Billigkeit“ auf der subjektiven Seite und auf die „Billigung“ auf der objektiven verweist.37 Ob ein Handeln als angemessen gelten kann, ist kein absolutes, sondern ein relatives Kriterium. Das sei mit Blick auf die Predigtaufgabe an drei Beispielen gezeigt: Erstens liegt es im Ermessen der Predigerin und des Predigers, entweder – je nach Situation – betont „ich“ zu sagen oder den Text als Autorität aufzurufen oder auf bestimmte Belange der Gemeinde beratend, tröstend, ermahnend einzugehen. Bis in die neueste Literatur hinein spielt die Frage nach dem „Ich“ auf der Kanzel eine Rolle. Während allerdings Otto Baumgarten „Ich-Predigten“ als besonders „interessant“ anpries,38 plädiert neuerdings Fulbert Steffensky für die Schutzbedürftigkeit des sich enthüllenden Ichs.39 Allgemeine gesellschaftliche Plausibilitäten spiegeln sich hier – und sei es im Sinne eines Widerstands gegen sie – in homiletischen Empfehlungen. Was als angemessen gelten soll, ist also historisch relativ. Zweitens stellt sich regelmäßig die Frage, wie passend ein Predigtbeispiel, eine narrative, eine beschreibende Passage in einer Predigt ist. Die Kunst des Predigens spielt in diese Zusammenhänge hinein, wenn denn die Deskription der menschlichen Situation zu den Aufgaben der Predigt gehört.40 Und der Prediger wird zu entscheiden haben, welche der ihm zu Gebote stehenden Predigtformen in einer bestimmten Situation angemessen ist (vgl. Abs. 4.5). Was als angemessen gelten soll, ist auch relativ hinsichtlich der Individualität des Predigers. Drittens ist eine Predigt eben nicht allein deswegen angemessen, weil sie ihrer Situation gerecht geworden ist und weil sie auf die wirklichen Fragen ihrer Hörerschaft geantwortet hat. Denn diese Antwort wird auf Gott, den Anderen, oder auf das Transzendente verweisen. Predigten stehen unter dem Anspruch, das Geheimnis Gottes (1 Kor 2,1) sagbar zu machen. Deshalb muss die Sprache 35 MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 245. Bollnow, Wesen und Wandel, 25. Vgl. K. Stock, Art. Tugenden, in: RGG4, Bd. 8, Sp. 653. Honecker, Schwierigkeiten, 169f. 36 Cohen, Religion der Vernunft, 472. 37 Vgl. Cohen, Ethik, 618–621. Schon Aristoteles hatte die „aretai“ auf Lob und Tadel bezogen (Tugendhat, Ethik, 248). 38 Baumgarten, Predigtprobleme, 52f. 39 Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 2008, 145. 40 Das hat Rainer Preul der neueren Homiletik ins Stammbuch geschrieben (Ders., Deskriptiv predigen!).
Die auf Dauer gestellte Aufgabe der Predigt
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der Predigt zwischen dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem Aussprechlichen und dem Unaussprechlichen spielen. Was als angemessen gelten soll, ist hier relativ zu einer Dimension, die die Predigt als Handlung – ihre ethische Dimension durch die religiöse – übersteigt. Auch in dieser Hinsicht ist zu predigen eine unendliche Aufgabe, in der zu wachsen, voran zu kommen und sich immer wieder korrigieren zu lassen die Tugenden Orientierung zu sein vermögen. Um auf das Zitat aus seinen Tischreden zurückzukommen, hat Luther jedenfalls „keinen Prediger vor Augen, der bestechlich ist durch Liebesentzug, der angefüllt ist mit Menschenfurcht, der sich voller Minderwertigkeitsgefühle fragt, wie er den Menschen gefallen könnte, wie er wohl am besten ankommt und sich am besten inszeniert. Luther hat einen Prediger vor Augen, der weiß, was er sagen will, der innerlich frei ist und mit Liebe zu den Hörerinnen und Hörern um deren kompliziertes Leben weiß, um ihre kritischen Fragen im Hinblick auf Religion und Glauben, um ihre Dunkelheiten und Ambivalenzen, ihre Belastungen und Hoffnungen, ihre Sehnsüchte und ihr Verlangen nach Geborgenheit und der diesen Fragen und Bedürfnissen mit großer Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit zu begegnen weiß.“41
6.3
Die auf Dauer gestellte Aufgabe der Predigt
Es bedarf des Mutes nicht nur, sich seines eigenen Verstandes bzw. seiner theologischen Kompetenz zu bedienen, sondern auch sein eigenes Wort in Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit zu sagen. Es bedarf der Besonnenheit, dieses freie Wort konkret werden zu lassen und hierbei einer komplexen Handlungsanforderung gerecht zu werden. Und es bedarf der Weisheit, die mit erworbenen wissenschaftlichen Fähigkeiten nicht deckungsgleich, wohl aber ohne sie für die Predigtarbeit nicht zu erwerben ist. Weisheit bedeutet hier vor allem eine „kluge Vorläufigkeit und Vagheit“, die mit „Unschärfe im Ausdruck“ oder Verzicht auf Begründung keineswegs zu verwechseln ist,42 wohl aber um die Begrenztheit des eigenen Tuns weiß. Gerhard Ebelings zutreffende und prägnante Formulierung, das Wort des Predigers müsse frei, eigen im Sinne von selbstverantwortet und konkret in dem Sinne sein, dass es immer auf die wirkliche, aktuelle Situation bezogen ist, erfordert zu seinem vertieften Verständnis jedenfalls auch eine Reflexion auf die Tugenden des Predigers.43 Als Wegweiser des Willens tragen sie dazu bei, die Gesinnung im Laufe eines Predigerlebens so kontinuierlich zu halten, dass sie wiedererkennbar bleibt, 41 Karle, Kirche im Reformstress, 241. 42 Wiedebach, Pathische Urteilskraft, 68. 43 Ebeling, Fundamentaltheologische Erwägungen zur Predigt, 72.
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zugleich aber in ihrer Darstellung so flexibel, dass sie sich selbst in die Sprache der Gegenwart und in den Kontext der aktuellen Fragen übersetzt. Eben auf diese differenzierte Weise motivieren die Tugenden eine fortlaufende Arbeit an der eigenen Gesinnung, die für den Beruf der Pfarrerin und des Pfarrers konstitutiv ist.44 Eine ähnliche Bedeutung und Funktion haben die Tugenden für die Regulation der Haltungen. Das ist ein heikler Punkt, kann doch der Habitus eines Menschen in Widerspruch geraten zu den Herausforderungen der Freiheit und des angemessenen Handelns. „Es ist fraglich, ob sich Kritik hier lohnt, / denn sie sind es so gewohnt“, hat der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch einmal im Refrain gesungen. Gewohnheiten können hinderlich sein, wenn es darauf ankommt, sich auf neue Situationen einzustellen. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere ist: Ohne gewisse Gewohnheiten erworben zu haben, wäre der Alltag mit seinen vielfältigen Übergängen – auch und gerade der Alltag eines Pfarrers – kaum zu bewältigen. Wer regelmäßig zu predigen hat, handelt unter Zeitdruck. Für die Vorbereitung einer Predigt steht nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Selbstkritisch gegen die eigenen Gewohnheiten und Vorlieben muss der Prediger bald wissen, was er sagen wird. Auf Dauer wird in dieser Aufgabe nur bestehen können, wer in der Auffindung des Stoffes, im Treffen von Entscheidungen und in der Ausarbeitung einer Predigt geübt ist. Hierzu ist eine immer wieder neu zu gewinnende Motivation ebenso erforderlich wie die Bereitschaft zu weiterem Lernen, zur Aufmerksamkeit, zur Wachheit. Im Spannungsfeld dieser regelmäßig begegnenden Herausforderungen, die sich unter dem Gesichtspunkt der Pflicht allein nicht beschreiben und auch nicht bewältigen lassen, hat die Tugend ihren Sitz.
44 D. Rössler hat vom Pfarr- als einem „Weltanschauungsberuf“ gesprochen (Ders., Grundriss der Praktischen Theologie, 118f).
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Namensregister
Abraham a Santa Clara 148 Achelis, Ernst Christian 71–75, 132, 215 Adorno, Theodor W. 28, 202, 205 Albrecht, Christian 67f., 98, 204 Allen, Woody 79, 174 Allison, Henry E. 220 Altmann, Alexander 164 Anderegg, Johannes 57 Andersen, Øivind 82f., 85, 95, 119 Aristoteles 19, 31, 34, 55, 71, 75, 77, 81, 85, 124, 220, 222, 224 Askani, Hans-Christoph 63f. Assel, Heinrich 56 Assmann, Jan 46–48 Augustin 72, 92, 199, 223 Austen, Jane 173 Auster, Paul 173 Bach, Johann Sebastian 149, 164f., 212 Baier, Jo 197 Barth, Karl 37f., 68, 74, 129, 132, 162, 181f., 197 Barth, Ulrich 37f., 132, 162, 182, 197 Baudelaire, Charles 188 Baumgarten, Otto 37, 59, 73, 224 Beethoven, Ludwig van 149, 175 Berger, Peter L. 79 Benjamin, Walter 19, 23, 35, 45, 47, 52f., 56f., 60–63, 90, 93, 104, 136, 138, 140, 175, 182, 187f., 198–200, 204f., 207, 222 Benn, Gottfried 123 Benthaus-Apel, F. 111 Bergmann, Ingmar 26
Beutel, Albrecht 159 Beutel, Eckart 73, 85, 159, 214, 223 Blumenberg, Hans 14, 22, 45, 71, 76, 79f., 84, 95, 103, 107, 109, 177, 181, 193 Bollnow, Otto Friedrich 218f., 221f., 224 Bourdieu, Pierre 171 Boutayeb, Rachid 31, 39, 43 Breughel, Pieter 202 Bubner, Rüdiger 122 Bultmann, Rudolf 37f., 42 Busch, Wilhelm 94, 162 Caravaggio 211 Cassirer, Ernst 20, 26, 55f., 61f., 80, 203 Castoriadis 35 Chrysostomos 72 Cicero 71, 95 Claussen, Johann Hinrich 181 Cohen, Hermann 18, 25f., 28, 33–35, 37–42, 47, 54, 57, 61, 86, 91f., 96, 119, 121, 125f., 128–131, 133–135, 139, 151, 161, 163, 174f., 177, 179f., 202, 204f., 210, 216, 218f., 222, 224 Conrad, Ruth 24, 122, 154f. Cranach, Lukas 47 Croce, Benedetto 25 Crowe, Russel 173 Dahm, Karl-Wilhelm 154 Demosthenes 95 Derrida, Jacques 37, 48–51 DiCaprio, Leonardo 173 Döblin, Alfred 173
240 Dober, Benjamin 138 Drehsen, Volker 5, 22, 98, 186, 197 Drews, Paul 59, 73, 112 Dürrenmatt, Friedrich 164 Ebeling, Gerhard 20, 67, 87, 165, 169, 225 Eco, Umberto 53, 55–58, 154, 157, 159, 181, 185 Eisenhut, Werner 82, 119 Engemann, Winfried 58f., 154 Erne, Thomas 45, 76–80 Feige, Andreas 101 Fenner, Dagmar 210 Fiorato, Pierfrancesco 163 Fischer-Appelt, Peter 130 Flaubert, Gustave 173 Flimm, Jürgen 171 Fontane, Theodor 14, 73, 76, 84f., 103, 107, 109, 173, 177, 193, 214, 223 Fontane, Emile 103 Freud, Sigmund 107f. Friedrich, Caspar David 13, 130 Fuhrmann, Manfred 82 Garrido-Maturano, Angel E. 44 Gauguin, Paul 186 Gehring, Hans-Ulrich 122 George, Heinrich 207f. Gerhardt, Paul 193 Gerhardt, Volker 214 Goethe, Johann Wolfgang von 70, 91, 103f., 150, 154, 173, 188, 199, 207 Gräb, Wilhelm 15, 68, 98, 126, 131, 142, 147, 187 Graf, Friedrich-Wilhelm 13–16, 21, 33, 47, 217 Grass, Günter 213 Grethlein, Christian 74, 98, 112f., 132 Grözinger, Albrecht 47, 72, 140, 160, 164, 166f., 170, 197–199, 201 Habermas, Jürgen 29 Halbig, Christoph 217 Hartmann, Nicolai 218
Namensregister
Hartung, Gerald 33, 62 Hauschildt, Eberhard 111 Haydn, Joseph 149 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 109, 133, 141, 151 Heidegger, Martin 40f., 82, 140, 198, 201, 204 Heine, Heinrich 13, 49, 91, 120, 137, 151, 177, 217 Henrich, Dieter 126 Hermelink, Jan 194, 221 Herrmann, Jörg 165–169 Herrmann, Wilhelm 130, 167, 169 Herzog, Werner 185 Hörisch, Jochen 46 Houllebecq, Michel 212 Holzhey, Helmut 96, 204 Honecker, Martin 217–221, 224 Hoss, Nina 163 Hüsch, Hanns Dieter 226 Hugo, Victor 173 Huston, Walter 174 Iden, Peter 172 Illouz, Eva 171 Inwrritu, Alejandro Gonzwlez 190 Iwand, Hans Joachim 164 Jacobi, Rainer M.E. 139 Jähnig, Dieter 201 Jens, Walter 74 Josuttis, Manfred 70, 109 Joyce, James 173 Jüngel, Eberhard 45, 77, 102, 109, 162, 237 Kant, Immanuel 34, 49, 59, 61, 68, 70, 75, 88, 94, 96, 104, 107, 128, 133f., 136, 151, 169, 201, 204f., 219f., 222 Karle, Isolde 14, 73, 223, 225 Kert|sz, Imre 78, 88 Kilb, Andreas 208 Kilcher, Andreas B. 137, 178 Klee, Paul 28 Klepper, Jochen 108 Knape, Joachim 214
241
Namensregister
Kohler, E. 111 Körner, Karl Theodor 105 Kopperschmidt, J. 79 Korsch, Dietrich 92, 99, 118, 124–127, 130, 133f., 143, 149, 184, 218 Kretschmar, Gerald 111f. Kunz, Ralph 81 Kurosawa, Akira 157
Mozart, Wolfgang Amadeus 175 Müller, Hans Martin 38, 59 Munch, Eduard 186 Musil, Robert 173 Nicol, Martin 122, 159–162, 164–167, 171, 175–177, 183, 185f. Niebergall, Friedrich 37, 59, 73, 183 Nietzsche, Friedrich 29, 41, 45, 55, 80, 137, 149, 157, 169, 197–201, 203–205, 209, 219 Nitzsch, Carl Immanuel 71 Noll, Peter 109 Novalis 137
Lange, Ernst 15, 20, 36, 58, 98, 154f., 179, 212f. Launay, Marc de 62, 140 Le Carr|, John 173 Leonardo da Vinci 174, 211 Lessing, Gotthold Ephraim 13, 49, 120 Lesskow, Nikolai 188 L|vinas, Emmanuel 39–45, 58, 65, 79f., 87, 91, 100, 136, 155, 176, 178, 197, 204, 210 Lewitscharoff, Sibylle 56, 152f., 159, 168, 182, 206, 209f. Lowry, Eugene 159 Lueken, Verena 190 Lütze, Frank M. 170 Luther, Henning 18, 38, 44, 47, 49, 64, 74, 92f., 109, 139, 168, 170, 177, 180, 183f., 197, 218, 222, 225 Luther, Martin 18, 38, 44f., 47, 49, 64, 92f., 109, 130, 139, 168, 170, 177, 180, 183f., 197, 217f., 221f., 225
Palmer, Christian 68, 71, 87, 92, 121f., 132, 149–154 Panowsky, Erwin 164 Petzold, Christian 163 Pierce, Charles Sanders 55f. Platon 48f., 70, 200, 204, 222 Plüss, David 47 Polanski, Roman 114 Poma, Andrea 134 Prauss, Gerold 220 Preul, Rainer 224
MacIntyre, Alasdair 132, 219, 221, 224 McCarthy, Thomas 176 Macchiavelli, Nicolo 218 Majewski, Lech 202 Malle, Louis 163 Mann, Thomas 103, 173 Marquardt, Odo 17, 19, 143 Marti, Kurt 105 Martin, Gerhard Marcel 12, 24, 38, 122, 126, 154–159, 171, 181, 183, 185, 187, 202 Mendelssohn, Moses 49, 53f., 68, 125 Meyer-Blanck, Michael 58, 60 Michelangelo 174, 211 Mosxs, St|phane 13 Moxter, Michael 55
Raffael 174 Reiner, Rob 106 Rembrandt 174 Rendtorff, Trutz 218, 222 Ritter, Henning 86, 88, 180 Rosenstock-Hussey, Eugen 31, 33f., 36, 38f., 49–51, 57, 64f., 67, 78, 90, 100, 103,120, 124, 147–149, 177, 215 Rosenzweig, Franz 31–33, 35f., 38f., 41, 44, 57, 64f., 69, 78, 90, 105, 122, 126, 129, 133, 136, 139–149, 153f., 157, 160, 176, 184, 207, 209–211, 215 Rössler, Dietrich 14, 16, 22, 93, 106, 226 Roth, Ursula 109 Rubens, Peter Paul 174
Otto, Gerd 74, 154 Oz, Amos 115
242
Namensregister
Schadewaldt, Wolfgang 218 Schaeffler, Richard 31f. Schelling, Wilhelm Josef 13, 133, 141, 151 Schiller, Friedrich 133, 149f., 154, 193, 218 Schlag, Thomas 36, 81 Schlegel, Friedrich 62, 103, 138f., 150f. Schleiermacher, Friedrich 27, 33–35, 39, 48, 50, 62, 67f., 71, 83–85, 87, 89, 95, 121, 125–132, 134, 142f., 149–151, 153, 179f., 191, 203f., 214 Schmid, Peter 163 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 133, 141 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 210 Schnädelbach, Herbert 135 Schrader, Gerd 217 Schulz, C. 111 Schulze, Gerhard 110, 118, 132 Seel, Martin 157, 164, 187, 189, 202 Shakespeare, William 207, 217 Sheridan, Kirsten 212 Simon, Josef 19, 34, 51, 54f., 59, 62–65, 75 Spaemann, Robert 218 Spiegel, Yorick 109 Spinoza, Baruch de 150f. Steffensky, Fulbert 224 Stegmaier, Werner 51, 54f., 75 Suter, Martin 173
Thomas von Aquin 199, 224 Tieck, Ludwig 137 Troeltsch, Ernst 113, 200, 218 Tugendhat, Ernst 71, 218–222, 224 Turner, Victor 48
Terzani, Tiziano 107 Theremin, Franz 72 Theunissen, Michael 69, 100, 106
Zeidler, Kurt Walter 32 Zev Harvey, Warren 136 Ziebritzki, Henning 105
Val|ry, Paul 160f. Van Gogh, Vincent 198 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 137 Wagner, Richard 137, 144 Wagner-Rau, Ulrike 15–17 Wayne, John 163 Walz, Christoph 114 Weber, Max 126, 145 Weeber, Martin 21, 24, 48, 122, 154f. von Weizsäcker, Viktor, Motto, 112 Werner, Markus 50f., 82, 95, 109, 185 Weyel, Birgit 55–57 Wickert, Ulrich 171, 217f. Wiedebach, Hartwig 49, 69, 78, 141, 223, 225 Wiehl, Reiner 141, 145, 207 Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich von 95 Williams, John 178 Wohlfart, Günter 199f.
Bibelstellen Die biblischen Bücher werden abgekürzt nach der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), Bd. 17 (Register Bd. 1–17), Berlin/New York 1990.
Gen 2,5 56 Gen 3 37 Gen 12 183 Gen 22 37, 60
Jes 41,10 100 Jes 43,1 100 Jes 54,10 100 Jes 55,11 175
Ex 3 37f., 57, 178 Ex 3,14 38, 57, 211 Ex 20 37f. Ex 33,22 178
Jer 1,4ff. 37
Lev 19,18 92 Dtn 6,4–9, 38 Dtn 6,5 92 1 Sam 16,7 100 Ps 23 89 Ps 27,1 100 Ps 31,9b 102 Ps 32,8 100 Ps 36,6 100 Ps 36,10 100, 194 Ps 37,5 193 Ps 86,11 100, 102 Ps 91,11f. 98 Ps 139,5 100 Ps 145,18 100 Hohes Lied 8,6 26, 38 Jes 5 37, 100, 175 Jes 25,8–9 186
Hes 18 37 Mi 6,8 102 Mt 13, 1–9 156, 161 Mt 15,21–28 42 Mt 20 156, 161 Mt 21,33–46 162 Mt 22,1–14 156, 162 Mt 25,14–30 162 Mk 4,1–9 156 Mk 12,1–12 162 Lk 8,4–8 156 Lk 9,62 102 Lk 10,28 92 Lk 14,16–24 156, 162 Lk 18,1–8 58, 184 Lk 19,12–27 162 Lk 20,9–19 162 Joh 1,14 22, 28, 31, 94, 167 Joh 1,29–34 186 Joh 8,12 194 Joh 8,32 94
244
Bibelstellen
Joh 10,11.14f. 89 Joh 14,6 155f.
2 Kor 3,18 143 2 Kor 4,1–6 194
Röm 5,14 143 Röm 8,14 100
Gal 5,1 182 Gal 5,13 102
1 Kor 1,20 96 1 Kor 1,24 96 1 Kor 2,1 224 1 Kor 2,1–10 81 1 Kor 13,12a 102 1 Kor 13,9 139 1 Kor 13,13 99, 108
Heb 4,12 175 Heb 11 182 1 Joh 3,1 100 Offb 5,1–14 167
Bilder
Christus bei Maria und Martha (von Aertsen, 1552) 62 Das Kind und der Tod (Edvard Munch, 1899/1900) 186 Die Akrobatenfamilie mit einem Affen (Pablo Picasso, 1905) 185 Die Kreuztragung Christi (Pieter Breughel d.Ä., 1564) 202 Polynesische Weihnacht (Paul Gauguin, 1896) 185f. Portraits von Rembrandt 174 Predella des Wittenberger Cranachaltars 47 Souliers aux lacets / Schuhe mit Schnürsenkeln (Vincent Van Gogh, 1886) 198 Werden (Giovanni Segantini, 1898/1899) 185
Filme
A Most Wanted Man (GB/USA/D 2013; Regie: Anton Corbijn) 173 An ihrer Seite (Kanada 2006; Regie: Sarah Polley) 173, 190 Auf Wiedersehen Kinder (F, D, I 1987; Regie: Louis Malle) 163 Barbara (D 2012; Regie: Christian Petzold) 163 Birdman (USA 2014; Regie: Alejandro G. IÇwrritu) 190 Blow up (GB 1966; Regie: Michelangelo Antonioni) 202 Das Beste kommt zum Schluss / The Bucket List (USA 2007; Regie: Rob Reiner) 106, 190 Das Ende ist mein Anfang (D 2010; Regie: Jo Baier) 107 Das weiße Band (Deutschland/Österreich/Frankreich/Italien 2009; Regie: Michael Haneke) 190 Denn sie wissen nicht, was sie tun (USA 1955; Regie: Nicholas Ray) 190 Der Gott des Gemetzels (F/D/P 2011; Regie: Roman Polanski) 114, 192 Der Klang des Herzens (USA 2007, Regie: Kirsten Sheridan) 212 Der letzte Scharfschütze / The Shootist (USA 1976; Regie: Don Siegel) 163 Der Mann, der niemals lebte (USA 2008; Regie: Ridley Scott) 173 Der Stadtneurotiker (USA 1977; Regie: Woody Allen) 79 Der Verwegene (USA 1968; Regie: Tom Gries) 163 Der weite Ritt (USA 1971; Regie: Peter Fonda) 163 Die Brücke am Kwai (GB/USA 1955; Regie: David Lean) 173 Die Höhle der vergessenen Träume (F, Kanada, USA, GB, D 2010; Regie: Werner Herzog) 185 Die Kommissarin (Sowjetunion 1967/1988; Regie: Alexander Askoldow) 173 Die Saat der Gewalt (USA 1955; Regie: Richard Brooks) 112 Die Verurteilten (USA 1994; Regie: Frank Darabont) 190 Drei Farben Blau (Frankreich/Polen 1993; Regie: Krzysztof Kieslowski) 174 Ein Sommer in New York / The Visitor (USA 2007, Regie: Thomas McCarthy) 176 Erbsen auf Halbsechs (D 2004; Regie: Lars Büchel) 190 Gnade (Norwegen/Deutschland 2012; Regie: Matthias Glasner) 163
248
Filme
Into the Wild (USA 2007; Regie: Sean Penn) 174 Jud Süß (D 1940; Regie: Veit Harlan) 208 Kolberg (D 1945; Regie: Veit Harlan) 208 Licht im Winter (Schweden 1962; Regie: Ingmar Bergmann) 26 Manhattan (USA 1979; Regie: Woody Allen) 79 Man nannte ihn Hombre (USA 1967; Regie: Martin Ritt) 174 2001: Odyssee im Weltraum (UK/USA/Frankreich 1968; Regie: Stanley Kubrick) 192 Rashomon (Japan 1950, Regie: Akira Kurosawa) 157 Red River (USA 1948; Regie: Howard Hawks) 163 Tsotsi (Südafrika/Großbritannien 2005; Regie: Gavin Hood) 174 Verbrechen und andere Kleinigkeiten (USA 1989; Regie: Woody Allen) 79 Vicki Christina Barcelona (USA / Spanien 2008; Regie: Woody Allen) 79 Von Löwen und Lämmern (USA 2007; Regie: Robert Redford) 173 Was bleibt? (D 2012; Regie: Hans-Christian Schmid) 163 Weites Land (USA 1958; Regie: William Wyler) 190 Ziemlich beste Freunde (F 2011; Regie: Oliver Nakache, qric Toledano) 173