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German Pages 16 [17] Year 2016
Theologische Klärung
Frommer Angriff auf Freiheit und Demokratie? Eine sozialethische Kritik des evangelikalen Fundamentalismus Lars Klinnert „Christlicher Fundamentalismus […] [befindet] sich auch in Deutschland auf dem Vormarsch.“1 Mit solchen und ähnlichen Mahnrufen wird die mediale Berichterstattung über evangelikales Christentum nicht selten begleitet.2 In der Tat scheinen die sogenannten Bibeltreuen nicht nur ihre religiösen, sondern auch ihre moralischen und politischen Überzeugungen seit einigen Jahren immer selbstbewusster in der breiten Öffentlichkeit zu vertreten.3 Mit der rigorosen Bindung ihrer Glaubens- und Lebensvorstellungen an den (nach ihrer Meinung aus der Bibel ablesbaren) Willen Gottes erregen sie in einem weitgehend säkularisierten Umfeld jedoch schnell den Verdacht, anstelle der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie eine verbindliche Gesellschaftsordnung auf der Grundlage ihres religiösen Absolutheitsanspruchs anzustreben. Umgekehrt fühlen sich viele Evangelikale diskreditiert, wenn sie (oft durch die Pauschalisierung weniger Extrembeispiele4) als eifernde und geifernde Feinde einer offenen Gesellschaft dargestellt werden.5 Auf der Grundlage einer differenzierten Auseinandersetzung versuchen die folgenden Ausführungen daher zu prüfen, ob bzw. inwiefern 1 2
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http://www.welt.de/fernsehen/article1020190/Christliche-Fundamentalisten-undihrespezielle-Glaeubigkeit.html (Zugriff am 25. August 2015). Sehr ausgewogen hierzu Ulrike Müller, Wer fährt die Kampagne? Der Fundamentalismusvorwurf gegenüber evangelikalen Christen in säkularen und konfessionellen Printmedien in Deutschland, in: Communicatio Socialis 45/2, 2012, 111–124. Vgl. Katja Guske, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Die Religionspolitik der Evangelikalen in Deutschland, Wiesbaden 2014, 103–182. So z.B. teilweise bei Oda Lambrecht/Christian Baars, Mission Gottesreich. Fundamentalistische Christen in Deutschland, Berlin 2009. Vgl. z.B. Eckhard J. Schnabel, Sind Evangelikale Fundamentalisten? Holzgerlingen 2006.
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DOI 10.2364/3846998946
der Fundamentalismusvorwurf gegenüber evangelikalen Christen zu Recht erhoben wird. 1.
Fundamentalismus – eine Phänomenologie
Der Begriff Fundamentalismus wird in politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskursen mit unterschiedlichen Akzentuierungen verwendet: 1. Er geht bekanntlich auf eine historische Selbstbezeichnung konservativer Christen in den USA zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannte die Schriftenreihe „The Fundamentals – A Testimony to the Truth“ die aus Sicht ihrer Verfasser unverzichtbaren Grundlagen des christlichen Glaubens, um so dessen absoluten Wahrheitsanspruch insbesondere gegenüber den modernen Wissenschaften zu untermauern. Mit dem Begriff Fundamentalismus werden infolgedessen zuallererst religiöse Überzeugungssysteme bezeichnet, in denen – aus der Annahme der bedingungslosen Autorität einer heiligen Schrift oder anderer Überlieferungen heraus – für theoretische wie praktische Glaubenssätze göttliche Legitimation beansprucht wird. Identitätsstiftenden Elementen von Dogma, Ethos und Ritus wird unhinterfragbare Geltung zugesprochen, indem man die historische und soziale Relativität sowohl ihrer Entstehung als auch ihrer Auslegung ignoriert. Daraus erwächst die „willkürli6 che Immunisierung“ einer bestimmten Interpretation der in Anspruch genommenen Glaubensgrundlage, die gegenüber anderen (insbesondere symbolischen, historischen und hermeneutischen) Interpretationen als ursprüngliche und authentische Variante verklärt wird. Man kann somit für das Denken und Handeln der eigenen Gruppe behaupten, die angesichts kirchlicher und gesellschaftlicher Krisenerscheinungen für dringend notwendig erachtete Rückbesinnung auf eine durch übernatürliche Erkenntnis gewonnene und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gültige Wahrheit zu leisten. 2. Gegenüber dieser theologischen und historischen Herkunft richten sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmungen ihren Fokus sehr viel stärker auf die politische Dimension. Unter Fundamentalismus fallen dementsprechend ausschließlich solche religiösen Gruppen, die ihre verabsolutierende Weltdeutung nicht nur als partikulare Lebensform verwirklichen (wie z.B. die Amish People), sondern ihr durch apologetische, 6
Thomas Meyer, Was ist Fundamentalismus? Eine Einführung, Wiesbaden 2011, 19.
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missionarische und politische Aktivitäten universale (oder jedenfalls über die eigene Gemeinschaft hinausgehende) Anerkennung verschaffen wollen. Es geht also um gesellschaftliche Protestbewegungen, die vor einem religiösem Legitimationshintergrund „auf Bewahrung oder Wiederherstellung einer idealisierten [...] Sozialordnung“7 zielen. Aus der Vorstellung, mit den eigenen Glaubensüberzeugungen die perfekte Lösung für persönliche und gesellschaftliche Probleme parat zu haben, wird theoretische Definitions- und praktische Handlungsmacht über menschliches Leben und Zusammenleben beansprucht.8 3. Im alltäglichen Sprachgebrauch (man denke z.B. an die sogenannten Fundis in der Partei Bündnis 90/Die Grünen9) wird daher der Begriff Fundamentalismus häufig auch auf politische Entwürfe nichtreligiöser Provenienz ausgeweitet, die auf kompromisslose Art einen gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch postulieren.10 Die großen Ideologien wie Marxismus11, Nationalismus oder Ökonomismus weisen die Tendenz auf, ihre jeweiligen Ansichten nicht im fairen Wettbewerb immer wieder zur Debatte und zur Abstimmung zu stellen, sondern diese vielmehr als alleingültige Deutungs- und Gestaltungsperspektive für ein gelingendes Zusammenleben durchzusetzen. Darüber hinaus hat in den vergangenen Jahren ein säkularistischer Fundamentalismus Auftrieb bekommen, der die konfliktträchtige Konkurrenz religiöser Weltdeutungen dadurch überwinden zu können glaubt, dass er einen szientistischen Atheismus 12 zur verbindlichen Weltanschauung für moderne Gesellschaften erhebt. Ein abgeschwächter Fundamentalismus ist schließlich auch in sozialen Bewegungen wie Feminismus, Vegetarismus oder Ökologismus vorzu7
Martin Riesebrodt, Die fundamentalistische Erneuerung der Religionen, in: Kilian Kindelberger (Hg.), Fundamentalismus. Politisierte Religionen (Internationale Probleme und Perspektiven 14), Potsdam 2004, 10–27, hier 14. 8 Vgl. Uwe Gerber, Fundamentalismen in Europa. Streit um die Deutungshoheit in Politik, Ökonomie und Medien (Theologisch-Philosophische Beiträge zu Gegenwartsfragen 15), Frankfurt a. M. 2015, 28. 9 Vgl. Christian J. Jäggi, Fundamentalistische Bewegungen in aller Welt, in: Ders./David J. Krieger, Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart, Zürich/Wiesbaden 1991, 75– 184, hier 143–146. 10 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 33. 11 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 66–70. 12 Hierzu Lars Klinnert, Besser leben ohne Gott? Der „neue Atheismus“ als bleibende Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Atheistische Weltdeutungen. Herausforderung für Kirche und Gesellschaft (EZW-Texte 232), Berlin 2014, 29–52.
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finden, sobald diese sich nicht mehr auf den sektoralen Protest gegen einen spezifischen Missstand beschränken, sondern zwecks Sicherung und Ausweitung ihrer eigenen Identitätskonzeption unter der Hand zum alternativlosen Erklärungsmodell für gesellschaftliche Konflikte insgesamt mutieren. In soziologischer Hinsicht lässt sich daher eine rein formale Definition entwerfen, wonach sich fundamentalistische Bewegungen dadurch auszeichnen, dass sie erstens eine religiöse, aber eben ggf. auch eine ethnische oder ideologische Orientierung absolut setzen und von hier aus zweitens politische Kontrolle über ein gesellschaftliches Machtzentrum anstreben.13 Allerdings ist festzuhalten, dass religiöse nicht nur umfassender als säkulare Gedankensysteme die gesamte Existenz „von der Geburt bis zum Tod“14 ansprechen, sondern sich darüber hinaus auf eine transzendente Macht berufen, die den endgültigen Erfolg des eigenen Geltungsstrebens zumindest in einer eschatologischen Dimension garantieren zu können scheint. Im Blick auf politische Ideologien ist daher der Begriff Fundamentalismus (in differenzierender Ergänzung zu Dogmatismus, Radikalismus, Extremismus etc.) vielleicht besser nur für solche (parareligiösen) Bewegungen zu reservieren, die über politischen Absolutheitsanspruch und argumentative Abgeschlossenheit hinaus wenigstens eine Art innerweltliche Erlösungshoffnung vertreten. 4. Eine weitere Möglichkeit ist es, den Begriff Fundamentalismus auf militante Gruppen zu beschränken15, die das eigene religiöse bzw. weltanschauliche Lebensmodell mit Gewalt und Terror anderen Menschen aufzuzwingen versuchen. Der gewaltbereite Islamismus z.B. beruft sich auf eine fundamentalistische Auslegung von Koran und Scharia. Für den muslimischen Fanatiker ist seine Religion „ein vollkommenes System, das sämtliche Belange des menschlichen Lebens erschöpfend und unüberholbar gut regelt“16. Er kann es nicht ertragen, wenn andere Menschen dieser für ihn so offenkundigen Wahrheit nicht folgen – sondern 13 Nach Heinrich Schäfer, Fundamentalismen in religiösem und säkularem Gewand. Der Kampf um Deutungshoheit in einer globalen politischen Kultur, in: Fritz Erich Anhelm (Hg.): Vernünftiger Glaube zwischen Fundamentalismus und Säkularismus. Protestanten in der globalisierten Welt (Loccumer Protokoll 34/2008), Rehburg-Loccum 2008, 19–42, hier 24. 14 Riesebrodt, Erneuerungen, 26. 15 So z.B. Thomas Schirrmacher, Fundamentalismus. Wenn Religion zur Gefahr wird, Holzgerlingen 2010, 15. 16 Klaus Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus. Christentum–Judentum–Islam (Beck’sche Reihe 2013), München 1996, 84.
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stattdessen konkurrierende Vorstellungen gelingenden Lebens in seine traditionellen Zusammenhänge eindringen. Er gerät daher in die (im Blick auf den desillusionierten Gesinnungsethiker schon von Max Weber17 beschriebene) Versuchung, seine theokratischen Ordnungsvorstellungen schließlich mit (als „Dschihad“ legitimierter) Gewalt durchzusetzen. Mit gewissem Recht wird kritisiert, wenn christliche Fundamentalisten, die in aller Regel keine Gewalt anwenden, durch die Verwendung derselben Bezeichnung mit islamistischen Terroristen in einen Topf geworfen werden.18 Allerdings bleibt die auf Ausgrenzung und Unterwerfung zielende Verabsolutierung einer religiösen Weltsicht nach den drei vorherigen Definitionen auch dann noch fundamentalistisch, wenn sie ausschließlich mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden soll. Als Schnittmenge dieser unterschiedlichen Bedeutungsvarianten lässt sich die (theoretische oder praktische) Ambition aufzeigen, das eigene Überzeugungssystem dem gesamten Gemeinwesen als unüberbietbare Lebens- und 19 Handlungsorientierung anzuempfehlen : In der Abgrenzung zum pluralen, säkularen und liberalen Selbstverständnis moderner Gesellschaften wird ein absoluter Wahrheitsanspruch in religiösen, politischen, moralischen, kulturellen oder auch wissenschaftlichen Fragen vertreten, aus dem zwangsläufig ein dualistisches Weltbild resultiert: Wer die eigenen Überzeugungen nicht teilt, muss aus fundamentalistischer Perspektive entweder dumm oder böse sein. Es wird also für die eigene Gruppe ein privilegierter Wirklichkeitszugang postuliert, den der Andersglaubende oder Andersdenkende letztlich nur durch Bekehrung erreichen kann. Dabei scheint vom unbeirrbaren Festhalten an der epistemischen und moralischen Eindeutigkeit der eigenen Einstellungen zugleich das letztgültige Gelingen des eigenen Lebens insgesamt abzuhängen. Der Fundamentalist kann einen offenen Streit über das Wahre und Gute nicht ertragen, weil er sich durch plausible Argumente 20 anderer letztlich als in seiner Reinheit gefährdet betrachten muss. Nur ohne derartige Anfechtungen weiß er sich unzweifelhaft „der kleinen Schar
17 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, 505–560, hier 551–560. 18 Vgl. Reinhard Hempelmann, Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? In: EZW-Materialdienst 69, 2006, H. 1, 4–15, hier 6. 19 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 33. 20 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 68.
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der Erwählten zugehörig, die der großen Menge der Verlorenen gegenübersteht.“21 Erklärbar ist eine solche Haltung am ehesten als Protestreaktion auf tatsächliche Verwerfungen oder empfundene Überforderungen durch Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse: Die unvermeidliche Komplexität der verfügbaren Lebensoptionen soll mittels der „gewissheitsbasierten [...] Identitätspolitik eines geschlossenen Welt- und Politikverständnisses“22 reduziert werden, um auf diese Weise psychosoziale Sicherheit zurückzugewinnen.23 Dabei hilft ein Freund-Feind-Denken, welches sich nach innen durch kulturelle und soziale Abschottung, nach außen durch politisches und moralisches Vormachtstreben realisiert. Herbeigesehnt wird eine Societas perfecta24, in der keinerlei Ambivalenzen mehr ausgehalten werden müssen. Deren tatsächliche Realisierbarkeit wird nicht selten durch einen eschatologischen Zukunfts- bzw. einen mythischen Vergangenheitsentwurf illustriert. 2.
Zum Verhältnis von Evangelikalismus und Fundamentalismus
Während religiöser und politischer Fundamentalismus unter prekären politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen häufig revolutionäre Widerstandspotenziale mit explizitem Machtanspruch entwickelt, begegnet er in demokratischen Wohlstandsgesellschaften, wo kulturelle Identitätskrisen vor dem Hintergrund elementarer Stabilität stattfinden, eher als subkulturelle Lebensform mit peripherem Einfluss.25 Als ein solches Milieu26 lässt sich im deutschen Sprachraum auch der evangelikale Protestantismus verstehen.27 21 Friedrich-Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, 24. 22 Meyer, Fundamentalismus, 17. 23 Vgl. a. a. O., 28–30. 24 Vgl. Hansjörg Hemminger, Christlicher Fundamentalismus: Der Traum von der „societas perfecta“, in: Loccumer Pelikan 23/4, 2013, 153–159, hier 157f. 25 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 70–72. 26 Vgl. auch Jörg Stolz, Evangelikalismus als Milieu, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 25/1, 1999, 89–119. 27 Zur Geschichte vgl. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989) (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte – Reihe B 53). Göttingen 2013. – Stephan Holthaus, Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 2 19. und 20. Jahrhunderts (Biblia et symbiotica 1), Bonn 2003 – Friedhelm Jung, Die
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Dessen Faszination scheint darin zu bestehen, dass er sich – anders als das durch die moderne Theologie aufgeklärte Christentum – nicht fortwährend selbst infrage stellt, sondern durch dogmatische Eindeutigkeit und ethischen Rigorismus, unterstützt durch ein starkes Gemeinschaftsbewusstsein, scheinbar unerschütterliche Identität zu stiften vermag.28 Diese Variante engagierten Christseins lässt sich am ehesten beschreiben als spirituelle Lebensform, die ausgerichtet ist auf eine im subjektiven Glaubensvollzug erfahrbare Aneignung objektiver Heilswahrheiten29: − Gemeinsames Kennzeichen aller entsprechenden Strömungen30 ist erstens die hohe Wertschätzung der Heiligen Schrift, die über ihren Charakter als autoritatives Glaubenszeugnis hinaus als göttliche Mitteilung heilsrelevanter Fakten gilt. − Darum werden zweitens insbesondere christologische und eschatologische Bekenntnisaussagen (wie Auferstehung, Himmelfahrt oder Wiederkunft Jesu Christi) als historische Tatsachenbeschreibungen gedeutet, aber tendenziell auch moralische Normen (wenngleich selektiv) als zeitlose Kundgebungen eines göttlichen Willens betrachtet. − Hinzu kommt drittens eine das ganze Leben durchdringende Frömmigkeit, die als persönliche Beziehung zu Jesus Christus charakterisiert und nicht selten als durch ein datierbares Bekehrungserlebnis ausgelöst begriffen wird. − Aus der Überzeugung heraus, dass letztlich das Heil jedes Menschen an dessen Annahme des christlichen Glaubensbekenntnisses hängt, resultiert schließlich viertens ein hoher Stellenwert von Mission und Evangelisation.
deutsche evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie (Biblia et 3 symbiotica 8), Bonn 2001. 28 Da der vorliegende Beitrag eine sozialethische Perspektive einnimmt, verzichtet er auf eine theologische Kritik im engeren Sinne. Auf innerkirchliche Auseinandersetzungen um Evangelikalismus und Fundamentalismus kann daher nicht eingegangen werden. 29 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 66. 30 Grob unterscheiden lassen sich (mit zahlreichen Schnittmengen) pietistische Evangelikale, Bekenntnisevangelikale, pfingstliche bzw. charismatische Evangelikale, wertkonservative Evangelikale sowie pragmatische Evangelikale. Vgl. Lars Klinnert, Fromme Wünsche nach einer frommen Gesellschaft. Evangelikale Christen vertreten ihr antimodernes Weltbild immer selbstbewusster, wehren sich aber gegen jede kritische Auseinandersetzung mit ihren theologischen und politischen Geltungsambitionen, in: Novo Argumente 105/3-4, 2010, 90–94, hier 90. Eine etwas andere Differenzierung findet sich bei Reinhard Hempelmann, Evangelikale Bewegungen. Beiträge zur Resonanz des konservativen Protestantismus (EZW-Texte 206), Berlin 2009, 10f.
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Insgesamt zeigt sich hier ein ahistorisches und ahermeneutisches Glaubensverständnis, welches sich schwertut, die eigenen Denkvoraussetzungen selbstkritisch zu reflektieren. Tiefgreifende (aus pragmatischen Interessen aber häufig übertünchte31) Differenzen innerhalb der evangelikalen Bewegung lassen allerdings erkennen, dass es sich bei dieser keineswegs um ein einheitliches Gebilde handelt. Wenngleich also mitnichten alle Evangelikalen tatsächlich als Fundamentalisten zu charakterisieren sind32, gibt es doch in nahezu allen Strömungen (mit fließenden Übergängen) einen evangelikalen Fundamentalismus, der zuallererst daran erkannt werden kann, dass er eine generelle Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift behauptet33 (und damit vor allem eine generelle Irrtumslosigkeit der eigenen Glaubensauffassung meint). Hieraus resultiert ein dualistisches und apokalyptisches Weltbild, das in abweichenden Glaubens- und Lebensformen nur dämonische (also gotteswidrige) Kräfte am Werk sehen kann. Wenn z.B. der bekannte Evangelist Theo Lehmann zu missionarischen Aktivitäten mahnt, weil die Ungläubigen „ohne [...] Bekehrung in der Hölle“34 landeten, wird ein totalitärer Machtanspruch auf subtile Weise in die transzendente Dimension verlagert. Theologische, politische und moralische Streitfragen lassen sich auf diese Weise „zur dramatischen Entscheidung zwischen Gottestreue und Gottesverrat“35 inszenieren. Eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaftsordnung kann aus dieser Perspektive nur toleriert, nicht aber akzeptiert werden, da die in ihr herrschende Vielfalt niemals als bereichernd, sondern immer nur als bedrohlich empfunden wird. So wirbt der u. a. vom ehemaligen württembergischen Landesbischof Theo Sorg unterzeichnete „Freudenstädter Aufruf“ für eine Neuevangelisierung Europas, da nur der „authentische“ christliche Glaube eine gemeinsame Wertegrundlage darstellen könne.36
31 Vgl. Guske, Bibel,183–189. 32 Hierzulande gibt es ungefähr 1,5 Millionen Christinnen und Christen evangelikaler Prägung in Landeskirchen, Freikirchen und unabhängigen Gemeinden. Von ihnen vertreten (nach einer Schätzung von Hemminger, Fundamentalismus, 156) etwa 10 bis 30 Prozent fundamentalistische Auffassungen. 33 Hierfür steht etwa die sogenannte Chicago-Erklärung. 34 Zitiert nach Jennifer Stange, Evangelikale in Sachsen. Ein Bericht, Dresden 2014, 27. 35 Graf, Götter, 244. 36 Erster Ökumenischer Bekenntnis-Kongress, Freudenstädter Aufruf. Der christliche Glaube und die Zukunft Europas, http://www.ikbg.net/pdf/fa.pdf (Abruf: 25. August 2015).
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Es verwundert nicht, dass es – insbesondere angesichts einer heilsgeschichtlich dramatisierte[n] Auseinandersetzung mit dem Islam“37 – inhaltliche und personelle Überschneidungen zum Rechtspopulismus z.B. der Pegida-Bewegung oder der Alternative für Deutschland gibt.38 In der imaginierten Verteidigung eines christlichen Abendlandes vereinigen sich diffuse Sehnsüchte nach religiöser, kultureller und ethnischer Homogenität.39 Katja Guske kommt in ihrer politikwissenschaftlichen Studie zu dem Ergebnis, die Deutsche Evangelischen Allianz als maßgebliche Dachorganisation der evangelikalen Bewegung vertrete in politischen Fragen im Großen und Ganzen einen „undogmatische[n] Pragmatismus“40, der es ihr ermögliche, „mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaften umzugehen und ihr politisches Agieren von religiöser Unmittelbarkeit zu befreien.“41 Allerdings gehe sie zur effektiveren Durchsetzung ihrer Positionen immer wieder auch Allianzen mit solchen Gruppierungen ein, die sie in eine fundamentalistische Richtung drängen würden.42 Hinzu komme angesichts medialer Kritik „eine Verteidigungs- und Rechtfertigungsposition, die einen gelassenen Umgang mit pluralistischen Ansichten“43 erschwere. Die evangelikale Bewegung hierzulande stehe in Anbetracht dessen vor der Entscheidung, ob sie als zivilgesellschaftlicher Akteur an demokratischen Aushandlungsprozessen teilnehmen44 oder in konsequenter Fundamentalopposition auf einem absoluten Wahrheitsanspruch beharren wolle.45 Es bleibt aufmerksam zu beobachten, inwiefern von einflussreichen Protagonisten letztlich nicht doch ein kulturelles Überlegenheitsstreben propagiert wird, das einer liberalen Gesellschaft ihre theologische und ethische Legitimität bestreitet. Solange der Andere in seiner Andersartigkeit in erster 37 Jennifer Stange, Die frommrechte Revolte, Es herrscht Aufbruchstimmung am rechten Rand in Deutschland unter christlichen Fundamentalist_innen, Lebensschützer_innen und Rechtspopulist_innen [sic], in: Friedrich Burschel (Hg.), Aufstand der „Wutbürger“. AfD, Pegida, christlicher Fundamentalismus und ihre gefährlichen Netzwerke (Papers 7 / 2015), Berlin 2015, 9–26, hier 24. 38 Vgl. Gert Pickel, Wahlverwandtschaften. Konservative Protestanten und Rechtspopulisten, in: Zeitzeichen 16, 2015, H. 8, 8–11. 39 Vgl. T. Meyer, 115. 40 Guske, Bibel, 202. 41 Ebd., 211. 42 Vgl. Ebd., 202. 43 Ebd., 222. 44 Vgl. Deutsche Evangelische Allianz, „Sucht der Stadt Bestes“. Zur Verantwortung der Christen in Staat und Gesellschaft, Bad Blankenburg 2009, 4–6. 45 Vgl. Guske, Bibel, 210.
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Linie als Missionsobjekt wahrgenommen wird, der seiner eigentlichen Bestimmung erst noch zuzuführen ist, muss daraus ein problematisches Verhältnis zu den gleichen Grundrechten aller Menschen resultieren. Die latente Prognose drohender Verdammnis macht es jedenfalls schwer, den nichtbzw. andersgläubigen Mitbürger ernsthaft als gleichwertiges Ebenbild Gottes anzuerkennen. So steht dem engagierten Eintreten gegen weltweite Christenverfolgung nicht selten die pauschale Ablehnung einer gesellschaftlichen Integration von Musliminnen und Muslimen gegenüber. Diese antagonistische Aufteilung in Christen und Nichtchristen, wie sie in frommen Kreisen mitunter vorzufinden ist, ist einer an der allgemeinen Menschenwürde orientierten Gesellschaftsordnung fremd! 3.
Evangelikales Christentum im Rahmen grundrechtlicher Religionsfreiheit
Die in Art. 4 Abs. 1f. GG verbürgte Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit besteht u. a. darin, religiöse Vorstellungen nicht nur im privaten Rahmen pflegen, sondern diese auch ins öffentliche Leben einbringen zu dürfen. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung muss es aushalten können, wenn manche Gruppierungen lebenspraktisch befremdliche, intellektuell absurde oder moralisch fragwürdige Auffassungen vertreten und kundtun, solange sie sich dabei rechtskonform verhalten. Über die inhaltliche Richtigkeit individueller Glaubens- und Lebensformen steht dem weltanschaulich neutralen Staat kein Urteil zu. Da die einzelnen Bürgerinnen und Bürger allerdings niemals weltanschaulich neutral agieren, verlangt die wechselseitige Achtung der Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit ihnen 46 das Paradox einer „verkennenden Anerkennung“ ab: Wenn ich den Anderen als Person mit grundlegenden Freiheitsrechten anerkenne, muss ich in diesem Rahmen notwendigerweise seine identitätsbestimmenden Überzeugungen respektieren, die ich aufgrund meiner eigenen identitätsbestimmenden Überzeugungen häufig gerade nicht anerkennen kann. Mithin ist „die Toleranz [...] eine hohe Kunst, setzt sie doch voraus, dasjenige zu dulden, mit dem man nicht übereinstimmt.“47 46 Thomas Bedorf, Unversöhnte Anerkennung und die Politik der Toleranzkonflikte, in: Ethik und Gesellschaft 8/1, 2014, 1–15, hier 4. 47 Rainer Forst, Die hohe Kunst der Toleranz. Eine Orientierungshilfe in Zeiten der Religionskämpfe, in: Peter Kemper/Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.): Wozu Gott? Religion zwischen Fundamentalismus und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2009, 243–249, hier 249.
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Wie es funktionieren kann, dass Bürgerinnen und Bürger mit divergierenden Wertvorstellungen und vermutlich noch stärker divergierenden religiösen bzw. weltanschaulichen Hintergrundüberzeugungen friedliches und gerechtes Zusammenleben in einer Demokratie organisieren, hat z.B. John Rawls mit seiner Vorstellung eines overlapping consensus rekonstruiert.48 Danach kann von allen an politischer Meinungsbildung teilnehmenden Personen und Institutionen erwartet werden, glaubensgebundene Argumente so zu übersetzen, dass sie in ihrer moralischen, rechtlichen und politischen Funktion auch von nicht- oder andersgläubigen Menschen nachvollzogen sowie in der Folge mit guten Gründen angenommen oder abgewiesen werden können. Im Sinne des sog. Böckenförde-Diktums („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren 49 kann.“ ) ist dabei letztlich darauf zu hoffen, dass sich in den verschiedenen Konzeptionen eines guten Lebens elementare Ähnlichkeiten entdecken lassen, die sich immer wieder zu konsens- oder doch zumindest mehrheitsfähigen Regeln des gerechten Zusammenlebens verdichten.50 Der gläubige Staatsbürger muss also keineswegs von seinen Wahrheitsansprüchen ablassen, ist aber aufgefordert, sie auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, die den Wahrheitsansprüchen anderer Personen den gleichen Respekt erweist, den er umgekehrt erwarten kann.51 Da letztlich kein Mensch auf einen vorausgesetzten Sinnhorizont verzichten kann, verbleiben jenseits von Fundamentalismus einerseits und Relativismus andererseits nur Bereitschaft und Fähigkeit, mit divergenten Weltbildern konstruktiv umzugehen. Damit eine demokratische Rechtsordnung Bestand haben kann, ist also eine Art öffentlicher Basiskultur unentbehrlich52: Eine maßgebliche Anzahl 48 Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998. 49 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 42–64, hier 60. 50 Vgl. Wilfried Hinsch, Glaube und Legitimität in liberalen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 63/24, 2013, 10–16, hier 13. 51 Der christliche Glaube als solcher vertritt, recht verstanden, ohnehin keinen assertorischen Wahrheitsanspruch, sondern versucht durch verantwortliches Glauben und Handeln im Vorletzten auf die ergangene Verheißung einer im Letzten durch Gottes Allmacht verbürgten Wahrheit zu antworten. Vgl. Peter Dabrock, Fundamentaltheologische Bioethik angesichts der Herausforderungen moderner Gesellschaft, in: Ders/Lars Klinnert/Stefanie Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 19–56. 52 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 116.
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von Bürgerinnen und Bürgern muss sich implizit oder explizit mit freiheitlichen Grundwerten identifizieren, welche hinsichtlich der religiösen, weltanschaulichen und moralischen Orientierungen, der jeweiligen Eigenlogiken gesellschaftlicher Systeme wie Kunst oder Wissenschaft sowie der persönlichen Lebensführung größtmögliche Freiheitsräume für alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit sicherstellen.53 Ein solches „Ethos der Toleranz ist [...] kein Ethos der Indifferenz“54, sondern verbürgt angesichts normativer Differenzen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern deren persönliche Autonomie. Demgegenüber versucht der moderne Fundamentalismus die demokratischen Verfahren dafür zu instrumentalisieren, eine möglichst umfassende religiöse und sittliche Ordnung in alle gesellschaftlichen Teilbereiche hinein zu implementieren.55 Diese Problematik zeigt sich, wenn demokratische Verfahren unter Berufung auf eine göttliche Autorität als unzureichend hingestellt werden.56 Nur drei Beispiele: − Eine von mehreren Kirchlichen Sammlungen um Bibel und Bekenntnis mitgetragene Erklärung beklagt einen „Niedergang unseres Volkes“, welches „die im Evangelium begründete Werteordung weithin preisgegeben habe“57. − Der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus vertritt die Position, dass über die Zulässigkeit „alternativer Partnerschaften [...] kein Parlament demokratisch gewählter Volksvertreter zu entscheiden“58 habe, sondern allein das Gebot Gottes. − Der Generalsekretär der Evangelischen Allianz in Deutschland, Hartmut Steeb, interpretiert die deutsche Abtreibungsgesetzgebung so, dass damit „die Todesstrafe [...] im privatisierten Rahmen [...] mehr als 100.000 Mal jedes Jahr in unserem Land praktiziert“59 werde. 53 Vgl. ebd., 118–121. 54 Julian Nida-Rümelin, Über die Vereinbarkeit von Universalismus und Pluralismus in der Ethik, in: Ders., Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M. 1999, 207–222, hier 221. 55 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 123. 56 Vgl. Graf, Götter, 244f. 57 Peter Beyerhaus/Oskar Sakrausky/Hanns Schrödl, Spandauer Bußwort. Unser Volk unter Gottes Gericht und Gnade, http://www.ikbg.net/pdf/ga.pdf (Abruf: 25. August 2015), 3. 58 Peter Beyerhaus, Die Christus-Wahrheit im Spannungsfeld zwischen Toleranz und Fundamentalismus, http://www.ikbg.net/pdf/vortr4.pdf ), 4 (Abruf am 25. August 2015). 59 Hartmut Steeb, 10-Punkte-Programm für den Lebensschutz, http://www.ead.de/fileadmin/daten/dokumente/arbeitskreis_politik/10_Punkte_f%C3%B Cr_das_Leben.pdf (Abruf am 25. August 2015), 14.
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Selbstverständlich steht es jedermann frei, demokratische Entscheidungen als ungerecht, unmoralisch oder unvernünftig zu kritisieren und mit friedlichen Mitteln für eine gerichtliche oder parlamentarische Neubewertung einzutreten – davon lebt Demokratie. Daraus lässt sich jedoch keine Erlaubnis ableiten, geltendes Recht (zumindest rhetorisch) nur unter der Bedingung anzuerkennen, dass es den eigenen Moralvorstellungen voll und ganz entspricht. Eventuelle Gewissensvorbehalte sind im individualethischen Bereich selbstverständlich denkbar.60 Im Rahmen der sozialethischen Abwägung besteht jedoch die prinzipielle Verpflichtung, die Interessen, Bewertungen und Auffassungen aller anderen als genauso legitimen Ausdruck individueller Persönlichkeitsrechte zu berücksichtigen wie die eigenen.61 Der demokratische Rechtsstaat hat die Aufgabe, größtmöglichen Freiraum für unterschiedlichste Glaubens- und Lebensvorstellungen abzusichern und durchzusetzen. Es ist daher zulässig, wenn er mittels politischer Steuerung (also z.B. durch den Ausschluss von staatlicher Förderung) solche Ideologien in ihrer öffentlichen Wirksamkeit beschränkt, welche dieses Selbstverständnis in nachhaltiger Weise zu untergraben drohen.62 Allerdings darf eine elementare Gefährdung der verfassungsmäßigen Grundlagen wechselseitiger Anerkennung nicht einfach schon all denjenigen unterstellt werden, die bestimmte Grundrechte aus ihren partikularen Überzeugungen heraus lediglich im Widerspruch zum Commonsense auslegen und abwägen. Die meisten evangelikalen Christen bestreiten z.B. homosexuellen Personen keineswegs das Freiheits- und Persönlichkeitsrecht, ihre sexuelle Orientierung auszuleben; sie lehnen aber aus ihrer speziellen Interpretation des christlichen Ethos eine solche Lebensform als natur- und sittenwidrig ab und halten daher eine dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie entsprechende Förderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen 63 64 für nicht angebracht. Die Toleranzzumutung gilt hier beiderseits : So wie evangelikale Christen sich mit der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit unterschiedlichster Partnerschaftsmodelle abzufinden haben, müssen Schwule 60 So dürfen Ärztinnen und Ärzte zu Recht nicht dazu verpflichtet werden, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. 61 Allein unter dieser Voraussetzung ist in einer demokratischen Rechtsordnung bei eklatanten Grundrechtsverletzungen ggf. auch ziviler Ungehorsam in Betracht zu ziehen – nicht aber zur bloßen Sicherung partikularer Wertvorstellungen. 62 Vgl. Rawls, Liberalismus, 291f. 63 Vgl. Deutsche Evangelische Allianz, 7f. 64 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 82.
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und Lesben die gegenüber ihrer Lebensweise bekundeten Missbilligungen ertragen, solange diese ohne Angriffe auf ihre persönliche Integrität vorgebracht werden. In der Logik der liberalen Rechtskultur geht eine Inanspruchnahme rechtlicher Anerkennung für die vielfältigen Ausdrucksformen der eigenen Identität mit dem (idealerweise freiwilligen) Verzicht auf eine politische Erzwingung ihrer allgemeinen moralischen Anerkennung einher. 4.
Nochmal: Sind Evangelikale Fundamentalisten?
In der gegenwärtigen Empörungskultur wird jede von den eigenen Urteilen und Vorurteilen abweichende Meinung gerne vorschnell skandalisiert. Viele Menschen haben anscheinend kein Interesse mehr daran, mit den „schrillen Dissonanzen des öffentlichen Meinungsstreites [...] [umzugehen], ohne das 65 soziale Band [...] [des] politischen Gemeinwesens zu zerreißen.“ In klassischen Medien wie (erst recht) im Internet erhalten markante Extrempositionen überdurchschnittliche Aufmerksamkeit. So prallen dann z.B. herabsetzende Ressentiments evangelikaler Christen gegenüber sexueller Vielfalt auf einen doktrinären Hegemonieanspruch konstruktivistischer Gender- und Queertheorien. Dabei mangelt es allen Beteiligten häufig an einer fairen Berücksichtigung „der Selbstbeschreibungen derjenigen, gegen die man protestiert. Man versucht nicht: zu verstehen“66 oder gar voneinander zu lernen. Da die meisten Evangelikalen ihren persönlichen Glauben innerhalb und zugunsten der demokratischen Gesellschaft praktizieren67, ist einer stigmatisierenden „Fundamentalismus-Hysterie“68 antireligiöser Interessengruppen69 entgegenzutreten. Es ist schlichtweg unanständig, missliebige Geltungsansprüche mit überzogener, pauschaler und nicht selten unkundiger Kritik zu überziehen oder gar durch publizistische Denunziation oder lautstarke Randale den Versuch zu unternehmen, sie aus der politischen Sphäre zu verban65 Jürgen Habermas, Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft, in: Peter Kemper/Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.): Wozu Gott? Religion zwischen Fundamentalismus und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2009, 137–147, hier 138. 66 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a. M. 1997, 855. 67 Vgl. z.B. Thomas Schirrmacher u. a., Christ und Politik. 50 Antworten auf Fragen und kritische Einwände (Edition Pro mundis 14), Bonn 2005. 68 Vgl. Christfried Kulosa, Die Fundamentalismusdebatte und die Evangelikalen. Eine theologische Ausarbeitung (Idea-Dokumentation 25/1993), Wetzlar 1993, 28. 69 Vgl. Hansjörg Hemminger, Feindbild Evangelikale, in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 72/8 (2009), 283f.
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nen.70 Wie alle Menschen haben auch evangelikale Christen „das Recht, einer Mehrheitsmeinung nicht zuzustimmen und im öffentlichen Diskurs damit berücksichtigt zu werden.“71 So darf konservativen Organisationen etwa die zweckgemäße Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht verweigert werden.72 In der argumentativen Auseinandersetzung über religiöse und weltanschauliche Differenzen können Bürgerinnen und Bürger einander den ihrer fundamentalen Gleichheit entsprechenden Respekt erweisen. Unbequeme Positionen stellen daher für Kirche und Gesellschaft eine interessante Herausforderung dar, nach kreativen Verständigungsformen zu suchen.73 Umgekehrt ist dem evangelikalen Mainstream (wie er hauptsächlich durch die Deutsche Evangelische Allianz repräsentiert wird) dringend anzuraten, auf eine undifferenzierte Solidarität zu verzichten, welche jegliche Kritik an befremdlichen Phänomenen im eigenen Milieu reflexartig abwehrt. Wer in Anspruch nimmt, zugunsten von „Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen“74 einzutreten, muss „an einer Selbstunterscheidung gegenüber fundamentalistischen Tendenzen interessiert sein.“75 Eine noch klarere Abgrenzung von demokratieskeptischen und „menschenfeindlichen“ Auswüchsen ist für die Zukunft wünschenswert. Abstract Devoted Christians often are referred to as fundamentalists. In addition this is frequently connected with the reproach that they jeopardize the democratic foundation of western societies on the basis of a conviction of religious supremacy. The article proves that an exaggerated and exclusive selfperception as „owner“ of revelation and salvation can indeed lead to a denial of fundamental rights of others. The majority of „Evangelicals“ in Germa70 Vgl. z.B. http://schweigemarsch-stoppen.de oder http://noplace.blogsport.de (Abruf am 25. August 2015). 71 Magdalena Paulus, Toleranz und Akzeptanz oder Meinungsdiktatur. Monatliches Allianzgebet für Dezember 2014, http://www.ead.de/gebet/monatliches-allianzgebet/archiv/toleranz-und-akzeptanz-oder-meinungsdiktatur.html (Abruf am 25. August 2015). 72 Vgl. z.B. den aktuellen Fall unter http://www.bild.de/regional/duesseldorf/duesseldorf/ stoppt-schulverwaltung-lesung-von-bestseller-autorin-42219672.bild.html (Abruf am 25. August 2015). 73 Vgl. Habermas, Säkularisierung, 141. 74 Deutsche Evangelische Alllianz, 7. 75 Hempelmann, Bewegungen, 41.
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ny, however, plead their normative convictions by accepting the democratic diversity of opinions. They consequently have to be defended against overdrawn fundamentalist reproaches.
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