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German Pages 14 [118] Year 2016
Zu diesem Heft Peter Müller „Das ist vielleicht der Unterschied zwischen einem ernsten und tief frommen Menschen und einem Fundamentalisten. Der tiefe, fromme schaut drauf, dass er fromm ist; der Fundamentalist schaut drauf, dass der andere Jude fromm ist. Der tief-fromme Mensch hat eine gewisse Bescheidenheit und ein Lächeln und der Fundamentalist glaubt nicht, sondern er weiß alles. Wenn er alles weiß, um zu glauben, dann fehlt ihm jeder Humor.“1 Das ist eine einfache und zugleich treffende Beschreibung von (religiösem) Fundamentalismus. In der unübersichtlichen Gegenwart, in der Fundamentalismen offenbar gedeihen, Fundamentalismusvorwürfe aber auch vorschnell und in verschiedenen Richtungen erhoben werden, reicht die knappe Beschreibung freilich nicht aus. Das vorliegende Heft geht dem Phänomen des Fundamentalismus deshalb aus verschiedenen Perspektiven genauer nach. Im einleitenden Artikel diskutiert Martin Rothgangel unter Rückgriff auf die Wurzeln des Begriffs im US-amerikanischen Protestantismus verschiedene Bedeutungen von religiösem Fundamentalismus und zeigt charakteristische Gemeinsamkeiten auf, wobei er besonders auf die Irrtumslosigkeit der Schrift eingeht. Er stellt theologische Herausforderungen des Fundamentalismus dar und entwickelt Vorstellungen, wie im Bildungsbereich mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann. Lars Klinnert geht der Frage nach, ob Evangelikale Fundamentalisten sind. Sie schauen – in Anlehnung an das Zitat von Eisenberg – tatsächlich darauf, dass sie fromm sind. Übersteigerter Heils- und Offenbarungsexklusivismus kann problematisch werden, wenn er die religiösen Grundrechte anderer in Frage stellt. Aber Frömmigkeit ist nicht gleich Fundamentalismus, weshalb nach Klinnert vor einem überzogenen und vorschnellen Fundamentalismusvorwurf zu warnen ist. Ernstpeter Maurer stellt die produktive Balance zwischen Glaubensgrundsätzen, biblischen Erzählungen und aktuellen Erfahrungen heraus, die in ihrer wechselseitigen Beziehung theologisches Denken und Reden charakterisieren. 1
Paul Chaim Eisenberg, Oberrabbiner der israelitischen Kultusgemeinde in Wien, https: //www.missio.at/fileadmin/media_data/xx/produkte/zeitschriften/missiothek/1501/Abeitsblatt_Zitate_zum_Thema_Fundamentalismus.pdf (am 20.8.2016).
Peter Müller, Zur Einführung
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Wahrheit kann deshalb in theologischer Perspektive nicht im Sinne der herkömmlichen Korrespondenztheorie verstanden werden, sondern eröffnen Spiel- und Verständigungsraum. Die Glaubensgrundsätze sind deshalb aus sich heraus ebenso „anti-fundamentalistisch“ wie die biblischen Texte gerade nicht „biblizistisch“ oder verbal-inspiratorisch verstanden sein wollen. Zu beachten ist aber, dass eine kurzschlüssige Verknüpfung biblische Texte mit aktueller Erfahrung die Tiefe des christlichen Glaubens nicht ausschöpfen kann. Im „Gespräch zwischen den Disziplinen“ geht Heinrich Wilhelm Schäfer von einem formalen Fundamentalismusbegriff aus, der nicht nur religiös, sondern auch säkular grundiert sein kann und der in seiner technokratischinstrumentellen Form der westlichen Moderne hohes fundamentalistisches Potenzial aufweist. Ein gemeinsames Merkmal religiöser und säkularer Fundamentalismen ist, dass sie Interessenskonflikte in Identitätskonflikte umdeuten. Wird z.B. ökonomisches Interesse als Identität gedeutet, kann daraus ein global-ökonomische Fundamentalismus werden, der religiöse Züge trägt, ohne eine Religion zu brauchen. Schäfer zeigt, dass die globale Gerechtigkeitsfrage auf verschiedene Weise als Hintergrund jeder fundamentalistischen Spielart sichtbar gemacht werden kann. Andreas Goetze versteht die Lesung des Korans als „Wahrnehmungsereignis“, das der Interpretation offensteht – im Gegenüber zu einem Verständnis des Korans, das die endgültige Wahrheit als fest definiert versteht. Goetze stellt dar, wie sich das letztere, dem Koran selbst fremde Verständnis in der islamischen Geschichte bis hin zu den Salafisten moderner Prägung entwickelt hat. So wie jede religiöse Erkenntnis wandelbar ist, kann es jedoch das eine, für alle Zeiten gültigen Verständnis des Islams nicht geben. Zwar hat Gott nach islamischer Überzeugung mit Muhammad den letzten Propheten geschickt, nicht aber die letzte Interpretation von Gottes Wort. Michael Meyer-Blank legt in seinem Beitrag dar, dass ein kritischer Zugang zu den Fundamentalia der (christlichen) Religion und eine fundamentale Theorie zur Realität und Wirkungsweise der eigenen Religion (Fundamentaltheologie) die besten Mittel sind, um vor dem Irrweg des Fundamentalismus zu bewahren. „Aufgeklärte Gewissheit“ versteht er als Leitbild religiöser Bildung. Dadurch verliert auch die Rede von Gott ihren apodiktischen Klang. Wer von Gott und zugleich von sich selbst redet, übernimmt Verantwortung für seine eigene Religiosität und ist bereit, diese der Rückfrage und dem Gespräch auszusetzen. Matthias Roser zeigt in einem ausführlichen Überblick die zentralen Aspekte des „Fundamentalismus-Projekts“ der American Academy of Arts and Sciences auf. Peter Müller
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Abschied, Begrüßung und Dank Haben Sie es gemerkt? Fast unverändert sieht das Impressum auf der Innenseite des Umschlags aus, aber auch kleine Unterschiede prägen die Arbeit an einer Zeitschrift. Anlass, dass der Verlag allen dankt, die sich aus bisher wahrgenommenen Funktionen verabschiedet haben oder verabschieden werden, und natürlich zum Dank an diejenigen, die neue Aufgaben für „Glaube und Lernen“ übernehmen: Martin Rothgangel als Schriftleiter und Ernstpeter Maurer als stellvertretender Schriftleiter geben den Staffelstab weiter an Peter Müller als Schriftleiter und Michael Basse als stellvertretenden Schriftleiter. Alle vier gehören schon lange und auch in Zukunft unserem Herausgeberkreis an. Herzlichen Dank für alle Mühen mit den erschienenen Heften und mit den Heften, die gerade geplant oder redigiert werden! Neu im Impressum steht als Mitherausgeberin Hanna Roose – sie ist Professorin für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und wird sich den Leserinnen und Lesern bald mit einem eigenen Beitrag vorstellen. Herzlichen Dank für die Bereitschaft, hier im Herausgeberkreis mitzuarbeiten. Zum Ende des 31. Jahrgangs möchte Michael Wolter aus dem Herausgeberkreis von „Glaube und Lernen“ ausscheiden, dem er seit mehr als zwei Jahrzehnten angehört. Seien Sie gespannt auf das nächste Heft – zum Thema „Heilige Schrift“, wesentlich geprägt von seinen Kenntnissen weit über den Horizont des eigenen Fachs hinaus, von seinen Ideen, und nicht zuletzt von seinen Gesprächen und vielfältigen Kontakten. Verlag und Mitherausgeber danken ihm sehr herzlich und hoffen, dass er im Ruhestand gelegentlich die Herausgeberrolle mit der des Autors für „seine“ Zeitschrift vertauscht. Auf Wiederlesen, lieber Michael Wolter! Edition Ruprecht
Peter Müller, Zur Einführung
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Kennwort
Fundamentalismus Anfänge – Charakteristika – Herausforderungen1 Martin Rothgangel 1.
Hinführung
Fundamentalismus – spätestens seit Anfang der 1980er Jahre hat dieser Begriff Konjunktur: er diente zur Bezeichnung von Ayatollah Khomenei bis hin zu Rudolph Bahro, also vom islamischen Fundamentalismus bis hin zu grünen Fundis. Darüber wird dieser Begriff besonderes im Blick auf verschiedene Religionen (z.B. christlicher, jüdischer, muslimischer Fundamentalismus)2 und Konfessionen (z.B. katholischer und protestantischer Fundamentalismus3) verwendet. Die Folge dieses inflationären Wortgebrauchs sind unpräzise und vage Vorstellungen, was Fundamentalismus eigentlich ist. Weil darüber hinaus dieser Begriff oft als ‚Schlagwort‘ dient, um andere herabzusetzen, besteht bei nicht wenigen Wissenschaftlern die Tendenz, „dass der Begriff vermie1
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Nachstehende Ausführungen entsprechen Martin Rothgangel, Fundamentalismus. Anmerkungen zu einem umstrittenen Phänomen, in: Martin Rothgangel/Ulrich Beuttler (Hg.), Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft. 23. Jahrgang (2010). Frankfurt a.M. 131–146; vgl. auch ders., Fundamentalismus, in: Rainer Lachmann/Martin Rothgangel/Bernd Schröder (Hg.), Christentum und Religionen elementar, Göttingen 2010, 343–361. Einen ersten Überblick geben Stefan Alkier/Hermann Deuser/Gescha Linde (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Analyse und Kritiken, Tübingen 2005, sowie Clemens Six/Martin Riesebrodt/SiegfriedHaas (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonia2 lismus zur Globalisierung (Querschnitte 16), Innsbruck u.a. 2005. Vgl. dazu Wolfgang Beinert (Hg.), „Katholischer“ Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche?, Regensburg 1991 – Kurt Remele, Katholischer Fundamentalismus. Unterscheidungen – Erklärungen – Anfragen, in: Clemes Six/Martin Riesebrodt/Siegfried Haas (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung (Quer2 schnitte 16), Innsbruck u.a. 2005, 53–68.
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DOI 10.2364/3846998939
den oder explizit abgelehnt wird.“4 Pointiert ist jedoch gegen solche Positionen einzuwenden: „Will man als Wissenschaftler versachlichend auf die öffentliche Diskussion einwirken, dann sollte man sich nicht durch Sprachverweigerung selbst isolieren.“5 Vor diesem Hintergrund besteht die Intention der nachstehenden Ausführungen darin, dass sie einen Mittelweg anstreben zwischen inflationärem Sprachgebrauch und polemischen Schlagwort einerseits sowie wissenschaftlicher Selbstisolierung und öffentlicher Irrelevanz andererseits: Der Begriff des Fundamentalismus wird als ein religiöses Phänomen analysiert,6 wobei der Blick keineswegs primär auf die anderen (z.B. islamischer Fundamentalismus), sondern gezielt auf die eigene Tradition gerichtet wird, dem protestantischen Fundamentalismus. Völlig überraschend erfreut sich nämlich die fundamentalistische Alternative zur Evolutionslehre, der Kreationismus, gerade in jüngerer Zeit einer zunehmenden Aufmerksamkeit in Deutschland. Eine differenzierte Umfrage allgemein zum Fundamentalismus sowie speziell zum Kreationismus erweist sich auf diesem Hintergrund als ein wichtiges Desiderat. Dabei liegen deren Ursprünge in den Vereinigten Staaten und stellen zugleich das „Original“ fundamentalistischer Gruppierungen dar. Weil sich durch das Studium jenes Phänomens exemplarische Grundzüge des Fundamentalismus verdeutlichen lassen, soll es zunächst eingehender in den Blick genommen werden, bevor anhand der empirischen Ergebnisse des sogenannten Fundamentalismusprojekts allgemeine Charakteristika von fundamentalistischen Grupperungen aus verschiedenen Religionen benannt werden. 2.
Die Anfänge des Fundamentalismus
Der Fundamentalismus entstand aus der evangelikalen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Wie die evangelikale Bewegung ist auch der Fundamentalismus an keine bestimmte religiöse Denomination, also z.B. an die Presbyterianer oder Baptisten, gebunden. Mit einem gewissen Recht kann man den Fundamentalismus als den „konservativen“ Flügel der evangelika7 len Bewegung bezeichnen. Der Begriff Fundamentalismus wurde vermut4
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Martin Riesebrodt, Was ist ‚religiöser Fundamentalismus‘? In: Clemens Six/Martin Riesebrodt/Siegfried Haas (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globa2 lisierung (Querschnitte 16), Innsbruck u.a. 2005, 13–32. Ebd., 15. Vgl. ebd., 21f. James Barr, Fundamentalismus, München 1981, 26ff.
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lich von der zwölfbändigen Schriftenreihe „The Fundamentals – A Testimony to the Truth“ abgeleitet und im Jahre 1920 von Curtiss Lee Laws, dem Herausgeber einer baptistischen Zeitschrift, geprägt. Kennzeichnend sind fünf Fundamentalartikel, die im Jahre 1910 von der presbyterianischen Generalversammlung beschlossen wurden, um zu reglementieren, wer am Union Theological Seminary in New York studieren durfte: 1. 2. 3. 4. 5.
Irrtumslosigkeit der Bibel Jungfrauengeburt Stellvertretendes Sühneopfer Christi Leibliche Auferstehung und leibliche Wiederkunft Christi Historische Authentizität der Wunder.
Allerdings darf man die Bedeutung dieser viel zitierten fünf Artikel nicht überschätzen: Eine andere bedeutende fundamentalistische Erklärung – das Niagara Creed von 1878 – enthält nicht fünf, sondern 14 Fundamentalarti8 kel. Ein wesentlicher inhaltlicher Unterschied besteht darin, dass das Niagara Creed auch eine millenaristische Lehre beinhaltet. Keineswegs zufällig findet sich jedoch wie bei den fünf Fundamentalartikel auch im ersten Artikel des Niagara Creed die Irrtumslosigkeit der Schrift. Der letztgenannte Aspekt, die dominierende Rolle der Irrtumslosigkeit der Bibel, verdient weitere Aufmerksamkeit, weil sie von Beginn an bis heute das entscheidende Kennzeichen des protestantischen Fundamentalismus darstellt. Einen entscheidenden psychosozialen Grund, warum Fundamentalisten so entschieden für die Irrtumslosigkeit der Bibel eintreten, vermag wiederum ein Rückblick auf den frühen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten zu zeigen. Entgegen einer verbreiteten Meinung entwickelte sich der Fundamentalismus nicht auf dem Land im Süden der Verei9 nigten Staaten, sondern „in den Städten der Ostküste und in Chicago“ . Verschiedene Symptome der Moderne führten in der zweiten Hälfte des 19. sowie zu Beginn des 20. Jh. zu einem steigenden Krisenbewusstsein: Stichpunktartig sind zumindest folgende Aspekte zu nennen: 1. Industrialisierung und rapide Urbanisierung: Dieses führte zur Herausbildung eines kulturellen Pluralismus, zu einer Infragestellung traditio8 9
Vgl. Ernest R. Sandeen, The Origins of Fundamentalism, Chicago 1970, 273. Erich Geldbach, Der frühe Fundamentalismus, in: Bernhard Dressler u.a. (Hg.), Fundamentalistische Jugendkultur, Loccum 1995, 60–80, hier 62.
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neller Wertvorstellungen sowie zu einer dramatischen Veränderung der Sozialstruktur. Fundamentalisten sahen z.B. durch den sozialen und politischen Aufstieg von Frauen die patriarchale Familienstruktur gefährdet. Allein sie entsprach aber nach ihrer Ansicht der göttlichen Ordnung.10 2. Säkularisierung und Verwissenschaftlichung des Weltbildes: Neben der Familie waren nach Ansicht von Fundamentalisten aber auch die beiden anderen bisherigen „Garanten des christlichen Charakters der amerikanischen Nation“ gefährdet: Die religiösen Denominationen durch die liberale Theologie sowie die Schulen durch die Einführung der Evolutionslehre.11 Die Säkularisierung dieses vormals so protestantisch geprägten Landes führte bis Ende der 20er Jahre sogar dazu, dass in 12 der 49 Bundesstaaten die Bibellektüre an öffentlichen Schulen verboten wurde.12 Im Darwinismus sahen Fundamentalisten geradezu exemplarisch die Verleugnung der biblischen Wahrheit und als ihre Folge die Herabwürdigung des zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen hin zum Affen. Allerdings errangen fundamentalistische Vertreter im sogenannten „Affenprozess“ in Dayton/Tennessee einen Pyrrhus-Sieg: Zwar wurde Thomas Scopes zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er die Evolutionslehre an einer Highschool gelehrt hatte, und einige andere Bundesstaaten verboten gleichfalls die Evolutionslehre in der Schule – jedoch hatte es sein Anwalt trefflich verstanden, in diesem Medienspektakel das Anliegen des Fundamentalismus der Lächerlichkeit preiszugeben. Nach diesem spektakulären Prozess galt der Fundamentalismus als „rückständig“ und hatte einen negativen Beigeschmack. Letztlich führte dies dazu, dass Fundamentalisten ihre gesellschaftspoliti13 schen Aktivitäten in den 1930er Jahren weitgehend einstellten. An dieser gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Evolutionslehre kann man erstens ersehen, dass Fundamentalisten oftmals politisch 10 Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990, 116f. 11 Vgl. ebd., 58. 12 Ebd., 119. 13 Zur Renaissance des Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten und seiner gegenwärtigen Bedeutung vgl. z.B. Manfred Brocker, Protest – Anpassung – Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen System der USA, Frankfurt a.M./New York 2004 – Barbara Victor, Beten im Oval Office. Christlicher Fundamentalismus in den USA und die internationale Politik, München/Zürich 2005 – Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt a.M./Leipzig 2007 – Robert Jewett/Ole Wangerin, Mission und Verführung. Amerikas religiöser Weg in vier Jahrhunderten, Göttingen 2008.
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agieren und daher die Verbindung von Religion und Politik ein wichtiger Punkt bei der Analyse von Fundamentalismus ist.14 Gleichwohl lässt sich auch feststellen, dass Fundamentalisten keineswegs zwingend politisch (oder gar – wie es auf Spektakuläres bedachte Medienberichterstattungen nahe legen – gewalttätig) handeln, sondern es umgekehrt auch Phasen gibt, an denen sie eher zurückgezogen agieren. Zweitens tritt ein entscheidender Grundzug deutlich hervor: die ,moderne‘ Infragestellung bisheriger religiöser Orientierungsmuster und Sozialstrukturen. Fundamentalisten reagieren auf ,moderne‘ Verunsicherungen mit einer regressiven Strategie: mit einer Rückkehr zu den Prinzipien göttlicher Ordnung, wie sie verbalinspiriert und irrtumslos in der Bibel dokumentiert sind. In einer irrtumslosen Bibel finden die Fundamentalisten religiöse Sicherheit gegen eine orientierungslose Moderne. Eines darf aber nicht übersehen werden: Dieser Antimodernismus trägt moderne Züge. Auf subtile Weise zeigt sich nämlich, wie sehr Fundamentalisten einer gängigen naturwissenschaftlichen Denkweise des 19. Jahrhunderts verhaftet sind. Fundamentalisten sprechen immer wieder von den „facts“, den Tatsachen. Nur beziehen sie sich nicht auf die „facts“ der Natur, sondern auf die „facts“ der Bibel. Und ausgehend von diesen biblischen „facts“ konstruieren sie z.B. eine „wissenschaftliche“ Gegentheorie zur Evolutionslehre – den Kreationismus. Damit bestätigen die Beobachtungen zum amerikanischen Fundamentalismus Jürgen Moltmanns Ansicht, dass sich der Fundamentalismus nicht mit der Moderne an sich, sondern nur mit den ihn bedrohenden Aspekten der Moderne auseinandersetzt: „Fundamentalisten reagieren nicht auf die Krisen der modernen Welt, sondern auf die 15 Krisen, die die moderne Welt … in ihren Grundgewissheiten hervorruft.“ In diesem Sinne werden technische Fortschritte wie etwa moderne Kommunikationsmittel in Dienst genommen oder Ergebnisse historischer oder empirischer Wissenschaften rezipiert, solange sie die zeitlose Autorität der Bibel nicht in Frage stellen. „Das zeigt, dass hier kein blinder Antimodernismus […] [vorherrscht]. Es geht Fundamentalisten vielmehr um die unfehlbare und uneingeschränkte Herrschaft ihres „Fundaments“ über wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse. Nur im Konfliktfall heißt es, dass die weiße Wand schwarz ist, wenn die göttliche Autorität es so behauptet, oder 14 Vgl. dazu pointiert Bassam Tibi, Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im 3 Europa des 21. Jahrhunderts, Darmstadt 2008. 15 Jürgen Moltmann, Fundamentalismus und Moderne, in: Concilium 28, 1992, 269–273, hier: 270.
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dass Jesus keine Geschwister gehabt haben kann, weil das Dogma von seiner stets jungfräulichen Mutter dies ausschließt.“16 Mit Gottfried Küenzlen lässt sich demnach der Fundamentalisten ganz allgemein als ein moderner Antimodernismus charakterisieren.17 Gerade im modernen Antimodernismus kann man jenen Grundzug sehen, den fundamentalistische Bewegungen generell teilen. Präzisierungen dieses Verständnisses von Fundamentalismus lassen sich auf dem Hintergrund der nachstehenden Charakteristika vornehmen. 3.
Charakteristika fundamentalistischer Gruppierungen18
Im Fundamentalismusprojekt wurden verschiedene christliche, islamische sowie jüdische Gruppierungen untersucht, darüber hinaus auch einzelne religiöse Gruppierungen Südasiens. Auf dieser Grundlage wurden schließlich fünf ideologische (1.–5.) sowie vier organisatorische Charakteristika fundamentalistischer Gruppierungen herausgearbeitet (6.–9.): 1. Reaktivität: Fundamentalisten reagieren auf Infragestellungen von Religion, die insbesondere durch „‚die‘ Moderne, ethnische Konflikte, Säkularer Staat, Konfrontation mit anderen Religionen, postkoloniale und xenophobische Ressentiments“19. In Anbetracht dieses „erstrangigen“ Merkmals schlägt Grünschloß folgende vorläufige Minimaldefinition von Fundamentalismus vor: „Fundamentalismus erweist sich in erster Linie als eine moderne, kollektive religiöse Reaktion auf ‚gefährlich‘ traditionszersetzend erscheinende Auswirkungen oder Aspekte der Moderne.“20
16 Ebd., 270. 17 Gottfried Küenzlen, Fundamentalismus und die säkulare Kultur der Moderne, in: Hansjörg Hemminger (Hg.), Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991 – ders., Feste Burgen: Protestantischer Fundamentalismus und die säkulare Kultur der Moderne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 33/92, 3–10. 18 Den Hinweis auf die differenzierte Rezeption der Ergebnisse des Fundamentalismusprojekts von Martin Marty u.a. verdanke ich meinem ehemaligen Göttinger Kollegen Andreas Grünschloß; Was ist „Fundamentalismus“? Zur Bestimmung von Begriff und Gegenstand aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Tim Unger (Hg.): Fundamentalismus und Toleranz, Hannover 2009, 163–199. Die folgenden Zitate richten sich nach seiner Übersetzung. 19 Ebd., 186. 20 Grünschloß, Fundamentalismus., 187.
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2. Selektivität: Fundamentalisten nehmen eine Komplexitätsreduktion vor, indem sie drei verschiedene Selektionsstrategien anwenden, die gleichwohl eng miteinander verbunden sind21 (vgl. ebd., 405): Erstens wird nicht einfach die ganze religiöse Tradition konservativ bewahrt, vielmehr werden bestimmte Traditionselemente ausgewählt – oftmals solche, die zu einer deutlichen Unterscheidung vom jeweiligen ‚Mainstream‘ führen (z.B. Vorrang apokalyptischer Tradition der Bibel im protestantischen Fundamentalismus der USA); Zweitens wird eine selektive Rezeption von Aspekten der Moderne vorgenommen: so kann ein großer Teil moderner Wissenschaft und Technologie (z.B. Email) akzeptiert werden oder können insbesondere in nichtabrahamitischen Religionen wie in der Hindu-‚Mission‘ theologische und organisatorische Aspekte von bedrohlich empfundenen Religionen und Kulturen imitiert werden; Drittens erfolgt eine selektive Opposition gegen bestimmte Konsequenzen und Prozesse der Moderne. Diese werden besonders exponiert, um dann Ziel des Widerstands zu werden (z.B. Tourismus in Ägypten, Abtreibungskliniken in den USA, ‚land for peace‘ in Israel). 3. Moralischer Manichäismus. Für Fundamentalisten ist eine manichäische Weltsicht grundlegend, d.h. die Welt wird dualistisch in ein Reich des Lichts (die Welt des Geistes und des Guten) und in Reich der Dunkelheit (die Welt der Matierie und des Bösen) aufgeteilt. Am Ende wird das 22 Gute über das Böse siegen. (vgl. ebd., 406). „Der Innenbereich wird mit ‚Reinheit‘ und ‚Heiligkeit‘ assoziiert, der Außenbereich unterliegt dagegen schlimmster ‚Kontamination‘.“23 4. Absolutismus und Irrtumslosigkeit. Für Fundamentalisten ist die jeweils eigene ‚Heilige Schrift‘ (z.B. Tora, Bibel, Koran) göttlichen Ursprungs und in allen ihren Teilen absolut wahr. Diese Irrtumslosigkeit kann variieren und in den Schriftreligionen selbst (päpstliche Unfehlbarkeit), aber besonders in den östlichen Religionen wie dem Hinduismus auf andere ‚Fundamente‘ übertragen werden. Der Umgang von Fundamentalisten mit ihren religiösen Quellen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie profane hermeneutische, philologische und historische Methoden zur Auslegung ablehnen. 21 Vgl. ebd., 405. 22 Vgl. ebd., 406. 23 Ebd., 188.
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5. Millenarismus und Messianismus. Dabei handelt es sich um einen wundervollen Kulminationspunkt der Weltgeschichte, in dem Gott endgültig über das Böse siegen wird. „Typisch sind hierbei die Versprechen einer baldigen Erlösung oder Entrückung durch Modelle des Millenarismus (Kompensation für erlittenes Unrecht und Leiden) oder durch Modelle des Messianismus (allmächtiger Heilsbringer).“24 Die konkreten Ausformungen unterscheiden sich je nach religiöser Tradition und sind in den abrahamitischen Religionen stärker ausgeprägt. 6. Gemeinschaft der Erwählten. Fundamentalisten verstehen sich als eine göttlich berufene Gemeinschaft. Dieses Erwählungsbewusstsein kann mit unterschiedlichen Begriffen zum Ausdruck gebracht werden (z.B. „heiliger Rest“) und steht in engem Zusammenhang mit (7.). 7. Scharfe Grenzziehung. Generell lässt sich beobachten, dass Fundamentalisten strikt sich selbst und den anderen dualistisch trennen (siehe 3.), indem z.B. zwischen sich selbst als gerettetem Personenkreis und den anderen als verlorenen Sündern unterschieden wird. 8. Autoritäre Organisationsstruktur. Die Zugehörigkeit zu fundamentalistischen Gruppen ist in der Regel freiwillig und unbürokratisch, woraus prinzipiell ein gleichrangiger Status der Mitglieder resultiert. Ungeachtet dessen ist aber die fundamentalistische Organisationsform „das charisma25 tische Führerprinzip.“ 9. Strikte Verhaltensvorschriften. „Ein Kodex elaborierter Verhaltensvorschriften sorgt für starke affektive Bindungen, regelt Kleidung, Konsum, zwischengeschlechtliche Beziehungen, mögliche Zensur, etc.“26 Zwischen diesen neun Charakteristika bestehen enge Zusammenhänge, wobei das erste Merkmal ‚Reaktivität‘ grundlegend ist: „Fundamentalistische Bewegungen sind im Wesentlichen religiöse Reaktionen – genauer: Es handelt sich um ‚militante, mobilisierte und defensive Reaktionen auf die Moderne‘ bzw. auf bestimmte modernistische Auswirkungen. Dies führt dazu, dass selektiv auf ‚fundamentale‘ Traditionsstände zurückgegriffen wird, die absolut wahr sind und auf diese Weise einen klaren „Weg aus der 27 Unübersichtlichkeit einer beängstigenden Krise weisen“ . Dabei führt insbesondere der Erwählungsgedanke dazu, dass eine dualistische Grenzziehung zur Außenwelt vorgenommen wird. 24 25 26 27
Grünschloss, Fundamentalismus, 189. Ebd., 190. Ebd., 190. Ebd., 191.
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4.
Theologische Herausforderungen des Fundamentalismus
Die historischen Beobachtungen zum protestantischen Fundamentalismus sowie die gerade angeführten Charakteristika implizieren ganz unterschiedliche theologische Herausforderungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Punkte hervorgehoben: (1) Begriffsbildung. In Anbetracht der Verwendung des Begriffs ‚Fundamentalismus‘ als deklassierendes Allostereotyp gilt es im Blick auf andere Konfessionen und Religionen herauszuarbeiten, dass diese nicht einfach mit Fundamentalismen identifiziert werden dürfen, d.h. dass z.B. zwischen islamischem Fundamentalismus und Islam ebenso zu unterscheiden ist wie zwischen protestantischem Fundamentalismus und Protestantismus. Darüber hinaus ist es wesentlich, dass eine differenzierte Entfaltung von Fundamentalismus erfolgt und auch innerhalb einer Religion die verschiedenen Ausdrucksformen und Geschichten beachtet werden (z.B. des islamischen Fundamentalismus in der Türkei und im Iran). (2) Begründung von Pluralität. Gegen ein problematisches Bestreben nach Eindeutigkeit und klaren Grenzziehungen ist christlich-theologisch u.a. (!) die „faktische Pluralität des Fundamentes der christlichen Religion“ anzuführen: „Blickt man (…) auf das Fundament der christlichen Rede von Gott, also auf den biblischen Kanon der alt- und neutestamentlichen Schriften, so ergibt sich ein ganz und gar uneinheitliches Bild einer weit über tausendjährigen Überlieferungsgeschichte oder – positiv formuliert – eine wahrhaft bunte Fülle unterschiedlicher Stimmen – formal und inhaltlich –, 28 die auf je eigensinnige Weise von Gott in der Geschichte erzählen.“ (3) Religion und Politik sowie (4) Theologie und Naturwissenschaft. Beide Punkte hängen relativ eng mit dem nachfolgend vertieft diskutierten Schriftverständnis zusammen. Dies tritt unschwer im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft hervor, da ein wortwörtliches Verständnis von Gen 1 im Sinne eines vermeintlichen ‚naturwissenschaftlichen Schöpfungsberichtes‘ zu einer anderen Verhältnisbestimmung hinsichtlich der Urknall- und Evolutionstheorie führt als z.B. ein Verständnis von Gen 1 als Schöpfungspoesie, in dem Menschen vor 2500 bis 3000 Jahren ihren Glauben an Gott als Schöpfer und Bewahrer mit den Mitteln des damaligen Weltbildes zum Ausdruck brachten. Gleichermaßen lassen sich im Blick auf Religion und Politik auch unabhängig von der sogenannten 28 Reinhard Wunderlich, Pluralität als religionspädagogische Herausforderung (Arbeiten zur Religionspädagogik 14), Göttingen 1997, 108.
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Zwei-Regimente-Lehre wichtige Unterscheidungen vornehmen, wenn die Zeitbedingtheit politischer Aussagen von biblischen Texten (z.B. Patriarchalismus) mitbedacht wird. Weil eine umfassende theologische Analyse der gerade skizzierten, für den Fundamentalismus relevanten Punkte den Rahmen des vorliegenden Beitrages überschreiten würde, folgt nachstehend eine Konzentration auf den entscheidenden Punkt des Schriftverständnisses, der von den Anfängen des christlichen Fundamentalismus bis heute eine grundlegende Rolle spielt. 5.
Irrtumslosigkeit der Schrift als entscheidende Herausforderung
Mit der Irrtumslosigkeit der Schrift liegt ein Merkmal vor, das ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Evangelikalen und Fundamentalisten darstellt. Auf dem Weltkongress der Evangelikalen im Jahre 1974 wurde die sogenannte Lausanner Verpflichtung beschlossen. Im Artikel 2 der Lausanner Verpflichtung wird an der Bibel „als dem einzig geschriebenen Wort Got29 tes“ festgehalten, „ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt.“ In dem Begriff „bekräftigt“ sahen aber fundamentalistische Theologen eine Einschränkung der biblischen Wahrheit auf das in ihr enthaltene Kerygma. Richtig hätte es nach ihrer Ansicht heißen müssen: „die Bibel ist das einzig geschriebene Wort Gottes ohne Irrtum in allem, was sie sagt“. Es kam zwar nicht zur Scheidung zwischen Evangelikalen und Fundamentalisten, aber letztgenannte sahen sich herausgefordert: Der amerikanische Fundamentalist Harold Lindsell veröffentlichte 1976 das Buch „The Battle for the Bible“. Und im Jahre 1978 trafen sich schlussendlich in Chicago Fundamentalisten zum „Kongress über die Irrtumslosigkeit der Bibel“. Als Ergebnis verfassten sie die „Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“, in dem zwar Gesprächsbereitschaft signalisiert wird, jedoch – wie der Titel der Erklärung besagt – die Irrtumslosigkeit betont herausgestellt wird. Warum treten jedoch Fundamentalisten so entschieden für die Irrtumslosigkeit der Bibel ein und reagieren sie so energisch auf die Infragestellung der Irrtumslosigkeit? Diese Fragen mögen in Anbetracht der obigen Ausführungen nicht überraschen, sie gewinnen jedoch neue Brisanz, wenn man den möglichen Einwand eines Fundamentalisten bedenkt: „Es mag ja sein, dass ich durch die Moderne religiös verunsichert bin. Aber entscheidend ist doch, ob ich mit der Berufung auf die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift 29 www.laussanerbewegung.de/data/files/content.publikationen/55.pdf /Zugriff 29.8.2016).
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recht habe oder nicht.“ Das Eintreten für die Behauptung einer Irrtumslosigkeit der Bibel ist demnach nicht nur soziologisch und psychologisch zu erklären, sondern auch systematisch-theologisch zu beurteilen. Dabei ist zu bedenken, dass die Irrtumslosigkeit der Schrift eine lange theologische Tradition besitzt und ein Fundament protestantischer Theologie zu stärken scheint: sola scriptura – allein die Schrift. Die Autorität der Schrift erweist sich nach Martin Luther darin, dass sie keine Verdeutlichung durch Tradition und kirchliches Lehramt benötigt. Auch nach der Kondordienformel, der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschrift von 1577, ist nicht etwa ein kirchliches Lehramt, sondern allein die Schrift, Richterin, Richtschnur, Maßstab und Prüfstein der Lehre. Es lohnt sich noch ein weiterer Rückblick: So entspricht die Schriftlehre von Fundamentalisten weitgehend der Schriftlehre der altprotestantischen Orthodoxie, der dominierenden evangelischen Theologie in den ersten Generationen nach Luther. Die altprotestantischen Theologen begründeten die Autorität der Schrift damit, dass die Schrift identisch mit dem Wort Gottes ist. Gott ist der eigentliche Autor der Heiligen Schrift. Sie ist ein Diktat des Heiligen Geistes, die Menschen sind nur Schreibfedern oder Hände des Heiligen Geistes. Im Hintergrund dessen steht eine ganz bestimmte Inspirationslehre: Nicht nur Personalinspiration, auch nicht Realinspiration, sondern Verbalinspiration. Das heißt: Gott gibt der Person nicht nur einen Anstoß zum Schreiben, Gott inspiriert nicht nur die Inhalte, sondern auch die Worte. Aus diesem Grund sei auch mit keinen menschlichen Irrtümern in der Heiligen Schrift zu rechnen. Der Abstand zur Schriftlehre Luthers ist, was hier nicht näher begründet werden kann, beachtlich. Die Nähe zur fundamentalistischen Schriftlehre dagegen unverkennbar: Die Bibel ist Gottes Wort, wortwörtlich und irrtumslos. An dieser Stelle wird deutlich, warum Fundamentalisten die historischkritische Methode so entschieden ablehnen: Damit wird die Bibel wie jede andere menschliche Literatur der Vergangenheit betrachtet. Zugespitzt heißt das: Die Bibel ist Menschenwort. Die Ergebnisse der historischen Kritik führten dann auch mit der Zeit zu einer weitgehenden Demontage der orthodoxen Schriftlehre. Durch die Entdeckung der Zeitbedingtheit biblischer Aussagen wurde im Neuprotestantismus zunehmend die Verbal- und die Realinspiration, wenn nicht gar die Inspirationslehre generell aufgegeben. Allerdings wurde damit auch zunehmend die Autorität der Schrift ausgehöhlt. In diesem Sinne stellt Wolfhart Pannenberg fest: „Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen
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evangelischen Theologie“30. Wie ein Lackmuspapier zeigt demnach die theologische Auseinandersetzung mit Fundamentalismus eine protestantische Grundlagenkrise an. Gleichwohl stellt das Beharren auf die Irrtumslosigkeit der Schrift keinen Ausweg dar. Im Gegenteil ist die Behauptung einer Irrtumslosigkeit der Bibel aus wenigstens vier Gründen ausgesprochen problematisch: 1. Sie führt zu einer Gleichwertigkeit aller biblischen Aussagen: Das Liebesgebot steht dann mit gleicher Geltung neben 1Thess 2,15: „Die Juden sind die Feinde aller Menschen“ oder neben Ex 22,17: „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen“. 2. Das Verständnis einer irrtumslosen Bibel verleitet zu unnützen Apologien: Fundamentalisten müssen z.B. begründen, dass die eiserne Axt Elisas tatsächlich im Jordan geschwommen ist (2Kön 6,6). 3. Sie trägt zu einer Verkehrung von Glaubensgewissheit und Sicherheit bei. Dieses falsche Sicherheitsstreben äußert sich etwa in der folgenden Aussage: „Wenn die Bibel auch nur an einem beliebigen Punkt irrt, wer garantiert mir dann, dass sie nicht auch in ihren Heilsaussagen irrt.“ Dagegen ist festzustellen: Es gibt keine Sicherheit, sondern allein die Gewissheit des Glaubens dafür, dass die Bibel das Wort Gottes bezeugt. Mit den Worten Friedrich Schleiermachers heißt dies: „Das Ansehen der Heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muss dieser schon vorausgesetzt werden, um der Heiligen Schrift 31 ein besonderes Ansehen einzuräumen“ . 4. Ein irrtumsloses Verständnis der Bibel bewirkt letztlich, dass nicht der Glaube an Jesus Christus, sondern die Irrtumslosigkeit der Bibel als eigentliches Fundament errichtet wird. Der Johannesprolog spricht jedoch von einer Fleischwerdung und nicht von einer Buchwerdung des Wortes Gottes. Resümierend kann man den zu Beginn dieses Abschnittes genannten Einwand eines Fundamentalisten folgendermaßen entkräften: Die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Schrift lässt sich nicht nur als Ausdruck einer „modernen“ Verunsicherung erklären. Vielmehr ist die Irrtumslosigkeit der Schrift auch aus den obigen systematisch-theologischen Gründen als eine unzureichende theologische Schriftlehre zu beurteilen. – So leicht es jedoch 30 Wolfhart Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 13. 31 Friedrich D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), Berlin 1960, § 128.
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erscheinen mag, die fundamentalistische Schriftlehre zu hinterfragen, so schwer ist es jedoch umgekehrt, eine Antwort auf die von Fundamentalisten angezeigte protestantische Krise des Schriftprinzips zu geben. Eine Stärke von Fundamentalisten besteht darin, dass sie hier kurz und prägnant Antworten geben können. Gerade das macht sie in der Unübersichtlichkeit der sogenannten postmodernen Moderne attraktiv. 6.
Bildungstheoretischer Ausblick
Grundsätzlich ist zu sagen, dass noch erheblicher bildungstheoretischer Forschungsbedarf besteht. Insbesondere fehlen empirische Untersuchungen zur Verbreitung fundamentalistischer Einstellungen bei Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland sowie entsprechende Interventionsstudien, mit deren Hilfe die Wirkung von Bildungsmaßnahmen bezüglich fundamentalistischer Einstellungen untersucht werden könnte. Dementsprechend besitzen die nachfolgenden Thesen einen vorläufigen Charakter: 1. Eine Behandlung des Fundamentalismus sollte sich keineswegs auf den sogenannten islamischen Fundamentalismus konzentrieren, sondern gerade das „Original“ des protestantischen Fundamentalismus erörtern. Historische Begebenheiten wie der sogenannte „Affenprozess“ (1925, Dayton/Tennessee) eignen sich vorzüglich, um die Konsequenzen eines wortwörtlichen Schriftverständnisses exemplarisch darzulegen. Zudem sind die Auseinandersetzungen um den Kreationismus wieder hochaktuell. 2. Der Unterricht sollte sich nicht allein auf die Kritik des Fundamentalismus beschränken. Vielmehr sollte der Fundamentalismus auch als ein Indikator für die protestantische Grundlagenkrise des Schriftprinzips (die sich deutlich bei Jugendlichen und ihrer Einstellung zur Bibel dokumentiert) thematisiert werden. 3. Grundsätzlich ist der Fundamentalismus als eine Reaktion auf „moderne“ Verunsicherungen darzulegen. Es sollen seine Vor- und Nachteile gegenüber der entgegengesetzten Alternative einer „völligen Beliebigkeit“ erörtert werden. Positiv gesetzt lautet das angemessen Bildungsziel „Pluralitätsfähigkeit“. 4. Hinsichtlich des wortwörtlichen Schriftverständnisses sind schließlich entwicklungspsychologische Studien zu bedenken: James Fowler spricht beim zweiten Stadium der Glaubensentwicklung vom „mythisch-wörtlichen“
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Glauben!32 Ein wortwörtlicher Glaube ist demnach kennzeichnend für eine bestimmte strukturgenetische Phase des Glaubens. Aus diesem Grund empfiehlt sich die Auseinandersetzung mit dem wortwörtlichen Schriftverständnis von Fundamentalisten erst gegen Ende der Sekundarstufe I. Abstract This introductory article discusses various meanings of „fundamentalism“ by looking at its evangelical roots in American Protestantism in the late 19th century. The voluminous fundamentalism project by Martin E. Marty and R. S. Appleby provides an instructive collection of characteristics of fundamentalist groups. This creates various theological challenges of which special attention is given to the inerrancy of scripture. In conclusion a prospect in term of theory of education is proposed.
32 Zur zweiten Stufe der Glaubensentwicklung siehe eingehend James Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 2000, 151–167.
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Theologische Klärung
Frommer Angriff auf Freiheit und Demokratie? Eine sozialethische Kritik des evangelikalen Fundamentalismus Lars Klinnert „Christlicher Fundamentalismus […] [befindet] sich auch in Deutschland auf dem Vormarsch.“1 Mit solchen und ähnlichen Mahnrufen wird die mediale Berichterstattung über evangelikales Christentum nicht selten begleitet.2 In der Tat scheinen die sogenannten Bibeltreuen nicht nur ihre religiösen, sondern auch ihre moralischen und politischen Überzeugungen seit einigen Jahren immer selbstbewusster in der breiten Öffentlichkeit zu vertreten.3 Mit der rigorosen Bindung ihrer Glaubens- und Lebensvorstellungen an den (nach ihrer Meinung aus der Bibel ablesbaren) Willen Gottes erregen sie in einem weitgehend säkularisierten Umfeld jedoch schnell den Verdacht, anstelle der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie eine verbindliche Gesellschaftsordnung auf der Grundlage ihres religiösen Absolutheitsanspruchs anzustreben. Umgekehrt fühlen sich viele Evangelikale diskreditiert, wenn sie (oft durch die Pauschalisierung weniger Extrembeispiele4) als eifernde und geifernde Feinde einer offenen Gesellschaft dargestellt werden.5 Auf der Grundlage einer differenzierten Auseinandersetzung versuchen die folgenden Ausführungen daher zu prüfen, ob bzw. inwiefern 1 2
3 4 5
http://www.welt.de/fernsehen/article1020190/Christliche-Fundamentalisten-undihrespezielle-Glaeubigkeit.html (Zugriff am 25. August 2015). Sehr ausgewogen hierzu Ulrike Müller, Wer fährt die Kampagne? Der Fundamentalismusvorwurf gegenüber evangelikalen Christen in säkularen und konfessionellen Printmedien in Deutschland, in: Communicatio Socialis 45/2, 2012, 111–124. Vgl. Katja Guske, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Die Religionspolitik der Evangelikalen in Deutschland, Wiesbaden 2014, 103–182. So z.B. teilweise bei Oda Lambrecht/Christian Baars, Mission Gottesreich. Fundamentalistische Christen in Deutschland, Berlin 2009. Vgl. z.B. Eckhard J. Schnabel, Sind Evangelikale Fundamentalisten? Holzgerlingen 2006.
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DOI 10.2364/3846998946
der Fundamentalismusvorwurf gegenüber evangelikalen Christen zu Recht erhoben wird. 1.
Fundamentalismus – eine Phänomenologie
Der Begriff Fundamentalismus wird in politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskursen mit unterschiedlichen Akzentuierungen verwendet: 1. Er geht bekanntlich auf eine historische Selbstbezeichnung konservativer Christen in den USA zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannte die Schriftenreihe „The Fundamentals – A Testimony to the Truth“ die aus Sicht ihrer Verfasser unverzichtbaren Grundlagen des christlichen Glaubens, um so dessen absoluten Wahrheitsanspruch insbesondere gegenüber den modernen Wissenschaften zu untermauern. Mit dem Begriff Fundamentalismus werden infolgedessen zuallererst religiöse Überzeugungssysteme bezeichnet, in denen – aus der Annahme der bedingungslosen Autorität einer heiligen Schrift oder anderer Überlieferungen heraus – für theoretische wie praktische Glaubenssätze göttliche Legitimation beansprucht wird. Identitätsstiftenden Elementen von Dogma, Ethos und Ritus wird unhinterfragbare Geltung zugesprochen, indem man die historische und soziale Relativität sowohl ihrer Entstehung als auch ihrer Auslegung ignoriert. Daraus erwächst die „willkürli6 che Immunisierung“ einer bestimmten Interpretation der in Anspruch genommenen Glaubensgrundlage, die gegenüber anderen (insbesondere symbolischen, historischen und hermeneutischen) Interpretationen als ursprüngliche und authentische Variante verklärt wird. Man kann somit für das Denken und Handeln der eigenen Gruppe behaupten, die angesichts kirchlicher und gesellschaftlicher Krisenerscheinungen für dringend notwendig erachtete Rückbesinnung auf eine durch übernatürliche Erkenntnis gewonnene und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gültige Wahrheit zu leisten. 2. Gegenüber dieser theologischen und historischen Herkunft richten sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmungen ihren Fokus sehr viel stärker auf die politische Dimension. Unter Fundamentalismus fallen dementsprechend ausschließlich solche religiösen Gruppen, die ihre verabsolutierende Weltdeutung nicht nur als partikulare Lebensform verwirklichen (wie z.B. die Amish People), sondern ihr durch apologetische, 6
Thomas Meyer, Was ist Fundamentalismus? Eine Einführung, Wiesbaden 2011, 19.
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missionarische und politische Aktivitäten universale (oder jedenfalls über die eigene Gemeinschaft hinausgehende) Anerkennung verschaffen wollen. Es geht also um gesellschaftliche Protestbewegungen, die vor einem religiösem Legitimationshintergrund „auf Bewahrung oder Wiederherstellung einer idealisierten [...] Sozialordnung“7 zielen. Aus der Vorstellung, mit den eigenen Glaubensüberzeugungen die perfekte Lösung für persönliche und gesellschaftliche Probleme parat zu haben, wird theoretische Definitions- und praktische Handlungsmacht über menschliches Leben und Zusammenleben beansprucht.8 3. Im alltäglichen Sprachgebrauch (man denke z.B. an die sogenannten Fundis in der Partei Bündnis 90/Die Grünen9) wird daher der Begriff Fundamentalismus häufig auch auf politische Entwürfe nichtreligiöser Provenienz ausgeweitet, die auf kompromisslose Art einen gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch postulieren.10 Die großen Ideologien wie Marxismus11, Nationalismus oder Ökonomismus weisen die Tendenz auf, ihre jeweiligen Ansichten nicht im fairen Wettbewerb immer wieder zur Debatte und zur Abstimmung zu stellen, sondern diese vielmehr als alleingültige Deutungs- und Gestaltungsperspektive für ein gelingendes Zusammenleben durchzusetzen. Darüber hinaus hat in den vergangenen Jahren ein säkularistischer Fundamentalismus Auftrieb bekommen, der die konfliktträchtige Konkurrenz religiöser Weltdeutungen dadurch überwinden zu können glaubt, dass er einen szientistischen Atheismus 12 zur verbindlichen Weltanschauung für moderne Gesellschaften erhebt. Ein abgeschwächter Fundamentalismus ist schließlich auch in sozialen Bewegungen wie Feminismus, Vegetarismus oder Ökologismus vorzu7
Martin Riesebrodt, Die fundamentalistische Erneuerung der Religionen, in: Kilian Kindelberger (Hg.), Fundamentalismus. Politisierte Religionen (Internationale Probleme und Perspektiven 14), Potsdam 2004, 10–27, hier 14. 8 Vgl. Uwe Gerber, Fundamentalismen in Europa. Streit um die Deutungshoheit in Politik, Ökonomie und Medien (Theologisch-Philosophische Beiträge zu Gegenwartsfragen 15), Frankfurt a. M. 2015, 28. 9 Vgl. Christian J. Jäggi, Fundamentalistische Bewegungen in aller Welt, in: Ders./David J. Krieger, Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart, Zürich/Wiesbaden 1991, 75– 184, hier 143–146. 10 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 33. 11 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 66–70. 12 Hierzu Lars Klinnert, Besser leben ohne Gott? Der „neue Atheismus“ als bleibende Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Atheistische Weltdeutungen. Herausforderung für Kirche und Gesellschaft (EZW-Texte 232), Berlin 2014, 29–52.
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finden, sobald diese sich nicht mehr auf den sektoralen Protest gegen einen spezifischen Missstand beschränken, sondern zwecks Sicherung und Ausweitung ihrer eigenen Identitätskonzeption unter der Hand zum alternativlosen Erklärungsmodell für gesellschaftliche Konflikte insgesamt mutieren. In soziologischer Hinsicht lässt sich daher eine rein formale Definition entwerfen, wonach sich fundamentalistische Bewegungen dadurch auszeichnen, dass sie erstens eine religiöse, aber eben ggf. auch eine ethnische oder ideologische Orientierung absolut setzen und von hier aus zweitens politische Kontrolle über ein gesellschaftliches Machtzentrum anstreben.13 Allerdings ist festzuhalten, dass religiöse nicht nur umfassender als säkulare Gedankensysteme die gesamte Existenz „von der Geburt bis zum Tod“14 ansprechen, sondern sich darüber hinaus auf eine transzendente Macht berufen, die den endgültigen Erfolg des eigenen Geltungsstrebens zumindest in einer eschatologischen Dimension garantieren zu können scheint. Im Blick auf politische Ideologien ist daher der Begriff Fundamentalismus (in differenzierender Ergänzung zu Dogmatismus, Radikalismus, Extremismus etc.) vielleicht besser nur für solche (parareligiösen) Bewegungen zu reservieren, die über politischen Absolutheitsanspruch und argumentative Abgeschlossenheit hinaus wenigstens eine Art innerweltliche Erlösungshoffnung vertreten. 4. Eine weitere Möglichkeit ist es, den Begriff Fundamentalismus auf militante Gruppen zu beschränken15, die das eigene religiöse bzw. weltanschauliche Lebensmodell mit Gewalt und Terror anderen Menschen aufzuzwingen versuchen. Der gewaltbereite Islamismus z.B. beruft sich auf eine fundamentalistische Auslegung von Koran und Scharia. Für den muslimischen Fanatiker ist seine Religion „ein vollkommenes System, das sämtliche Belange des menschlichen Lebens erschöpfend und unüberholbar gut regelt“16. Er kann es nicht ertragen, wenn andere Menschen dieser für ihn so offenkundigen Wahrheit nicht folgen – sondern 13 Nach Heinrich Schäfer, Fundamentalismen in religiösem und säkularem Gewand. Der Kampf um Deutungshoheit in einer globalen politischen Kultur, in: Fritz Erich Anhelm (Hg.): Vernünftiger Glaube zwischen Fundamentalismus und Säkularismus. Protestanten in der globalisierten Welt (Loccumer Protokoll 34/2008), Rehburg-Loccum 2008, 19–42, hier 24. 14 Riesebrodt, Erneuerungen, 26. 15 So z.B. Thomas Schirrmacher, Fundamentalismus. Wenn Religion zur Gefahr wird, Holzgerlingen 2010, 15. 16 Klaus Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus. Christentum–Judentum–Islam (Beck’sche Reihe 2013), München 1996, 84.
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stattdessen konkurrierende Vorstellungen gelingenden Lebens in seine traditionellen Zusammenhänge eindringen. Er gerät daher in die (im Blick auf den desillusionierten Gesinnungsethiker schon von Max Weber17 beschriebene) Versuchung, seine theokratischen Ordnungsvorstellungen schließlich mit (als „Dschihad“ legitimierter) Gewalt durchzusetzen. Mit gewissem Recht wird kritisiert, wenn christliche Fundamentalisten, die in aller Regel keine Gewalt anwenden, durch die Verwendung derselben Bezeichnung mit islamistischen Terroristen in einen Topf geworfen werden.18 Allerdings bleibt die auf Ausgrenzung und Unterwerfung zielende Verabsolutierung einer religiösen Weltsicht nach den drei vorherigen Definitionen auch dann noch fundamentalistisch, wenn sie ausschließlich mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden soll. Als Schnittmenge dieser unterschiedlichen Bedeutungsvarianten lässt sich die (theoretische oder praktische) Ambition aufzeigen, das eigene Überzeugungssystem dem gesamten Gemeinwesen als unüberbietbare Lebens- und 19 Handlungsorientierung anzuempfehlen : In der Abgrenzung zum pluralen, säkularen und liberalen Selbstverständnis moderner Gesellschaften wird ein absoluter Wahrheitsanspruch in religiösen, politischen, moralischen, kulturellen oder auch wissenschaftlichen Fragen vertreten, aus dem zwangsläufig ein dualistisches Weltbild resultiert: Wer die eigenen Überzeugungen nicht teilt, muss aus fundamentalistischer Perspektive entweder dumm oder böse sein. Es wird also für die eigene Gruppe ein privilegierter Wirklichkeitszugang postuliert, den der Andersglaubende oder Andersdenkende letztlich nur durch Bekehrung erreichen kann. Dabei scheint vom unbeirrbaren Festhalten an der epistemischen und moralischen Eindeutigkeit der eigenen Einstellungen zugleich das letztgültige Gelingen des eigenen Lebens insgesamt abzuhängen. Der Fundamentalist kann einen offenen Streit über das Wahre und Gute nicht ertragen, weil er sich durch plausible Argumente 20 anderer letztlich als in seiner Reinheit gefährdet betrachten muss. Nur ohne derartige Anfechtungen weiß er sich unzweifelhaft „der kleinen Schar
17 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958, 505–560, hier 551–560. 18 Vgl. Reinhard Hempelmann, Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? In: EZW-Materialdienst 69, 2006, H. 1, 4–15, hier 6. 19 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 33. 20 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 68.
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der Erwählten zugehörig, die der großen Menge der Verlorenen gegenübersteht.“21 Erklärbar ist eine solche Haltung am ehesten als Protestreaktion auf tatsächliche Verwerfungen oder empfundene Überforderungen durch Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse: Die unvermeidliche Komplexität der verfügbaren Lebensoptionen soll mittels der „gewissheitsbasierten [...] Identitätspolitik eines geschlossenen Welt- und Politikverständnisses“22 reduziert werden, um auf diese Weise psychosoziale Sicherheit zurückzugewinnen.23 Dabei hilft ein Freund-Feind-Denken, welches sich nach innen durch kulturelle und soziale Abschottung, nach außen durch politisches und moralisches Vormachtstreben realisiert. Herbeigesehnt wird eine Societas perfecta24, in der keinerlei Ambivalenzen mehr ausgehalten werden müssen. Deren tatsächliche Realisierbarkeit wird nicht selten durch einen eschatologischen Zukunfts- bzw. einen mythischen Vergangenheitsentwurf illustriert. 2.
Zum Verhältnis von Evangelikalismus und Fundamentalismus
Während religiöser und politischer Fundamentalismus unter prekären politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen häufig revolutionäre Widerstandspotenziale mit explizitem Machtanspruch entwickelt, begegnet er in demokratischen Wohlstandsgesellschaften, wo kulturelle Identitätskrisen vor dem Hintergrund elementarer Stabilität stattfinden, eher als subkulturelle Lebensform mit peripherem Einfluss.25 Als ein solches Milieu26 lässt sich im deutschen Sprachraum auch der evangelikale Protestantismus verstehen.27 21 Friedrich-Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014, 24. 22 Meyer, Fundamentalismus, 17. 23 Vgl. a. a. O., 28–30. 24 Vgl. Hansjörg Hemminger, Christlicher Fundamentalismus: Der Traum von der „societas perfecta“, in: Loccumer Pelikan 23/4, 2013, 153–159, hier 157f. 25 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 70–72. 26 Vgl. auch Jörg Stolz, Evangelikalismus als Milieu, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 25/1, 1999, 89–119. 27 Zur Geschichte vgl. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989) (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte – Reihe B 53). Göttingen 2013. – Stephan Holthaus, Fundamentalismus in Deutschland. Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 2 19. und 20. Jahrhunderts (Biblia et symbiotica 1), Bonn 2003 – Friedhelm Jung, Die
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Dessen Faszination scheint darin zu bestehen, dass er sich – anders als das durch die moderne Theologie aufgeklärte Christentum – nicht fortwährend selbst infrage stellt, sondern durch dogmatische Eindeutigkeit und ethischen Rigorismus, unterstützt durch ein starkes Gemeinschaftsbewusstsein, scheinbar unerschütterliche Identität zu stiften vermag.28 Diese Variante engagierten Christseins lässt sich am ehesten beschreiben als spirituelle Lebensform, die ausgerichtet ist auf eine im subjektiven Glaubensvollzug erfahrbare Aneignung objektiver Heilswahrheiten29: − Gemeinsames Kennzeichen aller entsprechenden Strömungen30 ist erstens die hohe Wertschätzung der Heiligen Schrift, die über ihren Charakter als autoritatives Glaubenszeugnis hinaus als göttliche Mitteilung heilsrelevanter Fakten gilt. − Darum werden zweitens insbesondere christologische und eschatologische Bekenntnisaussagen (wie Auferstehung, Himmelfahrt oder Wiederkunft Jesu Christi) als historische Tatsachenbeschreibungen gedeutet, aber tendenziell auch moralische Normen (wenngleich selektiv) als zeitlose Kundgebungen eines göttlichen Willens betrachtet. − Hinzu kommt drittens eine das ganze Leben durchdringende Frömmigkeit, die als persönliche Beziehung zu Jesus Christus charakterisiert und nicht selten als durch ein datierbares Bekehrungserlebnis ausgelöst begriffen wird. − Aus der Überzeugung heraus, dass letztlich das Heil jedes Menschen an dessen Annahme des christlichen Glaubensbekenntnisses hängt, resultiert schließlich viertens ein hoher Stellenwert von Mission und Evangelisation.
deutsche evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie (Biblia et 3 symbiotica 8), Bonn 2001. 28 Da der vorliegende Beitrag eine sozialethische Perspektive einnimmt, verzichtet er auf eine theologische Kritik im engeren Sinne. Auf innerkirchliche Auseinandersetzungen um Evangelikalismus und Fundamentalismus kann daher nicht eingegangen werden. 29 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 66. 30 Grob unterscheiden lassen sich (mit zahlreichen Schnittmengen) pietistische Evangelikale, Bekenntnisevangelikale, pfingstliche bzw. charismatische Evangelikale, wertkonservative Evangelikale sowie pragmatische Evangelikale. Vgl. Lars Klinnert, Fromme Wünsche nach einer frommen Gesellschaft. Evangelikale Christen vertreten ihr antimodernes Weltbild immer selbstbewusster, wehren sich aber gegen jede kritische Auseinandersetzung mit ihren theologischen und politischen Geltungsambitionen, in: Novo Argumente 105/3-4, 2010, 90–94, hier 90. Eine etwas andere Differenzierung findet sich bei Reinhard Hempelmann, Evangelikale Bewegungen. Beiträge zur Resonanz des konservativen Protestantismus (EZW-Texte 206), Berlin 2009, 10f.
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Insgesamt zeigt sich hier ein ahistorisches und ahermeneutisches Glaubensverständnis, welches sich schwertut, die eigenen Denkvoraussetzungen selbstkritisch zu reflektieren. Tiefgreifende (aus pragmatischen Interessen aber häufig übertünchte31) Differenzen innerhalb der evangelikalen Bewegung lassen allerdings erkennen, dass es sich bei dieser keineswegs um ein einheitliches Gebilde handelt. Wenngleich also mitnichten alle Evangelikalen tatsächlich als Fundamentalisten zu charakterisieren sind32, gibt es doch in nahezu allen Strömungen (mit fließenden Übergängen) einen evangelikalen Fundamentalismus, der zuallererst daran erkannt werden kann, dass er eine generelle Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift behauptet33 (und damit vor allem eine generelle Irrtumslosigkeit der eigenen Glaubensauffassung meint). Hieraus resultiert ein dualistisches und apokalyptisches Weltbild, das in abweichenden Glaubens- und Lebensformen nur dämonische (also gotteswidrige) Kräfte am Werk sehen kann. Wenn z.B. der bekannte Evangelist Theo Lehmann zu missionarischen Aktivitäten mahnt, weil die Ungläubigen „ohne [...] Bekehrung in der Hölle“34 landeten, wird ein totalitärer Machtanspruch auf subtile Weise in die transzendente Dimension verlagert. Theologische, politische und moralische Streitfragen lassen sich auf diese Weise „zur dramatischen Entscheidung zwischen Gottestreue und Gottesverrat“35 inszenieren. Eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaftsordnung kann aus dieser Perspektive nur toleriert, nicht aber akzeptiert werden, da die in ihr herrschende Vielfalt niemals als bereichernd, sondern immer nur als bedrohlich empfunden wird. So wirbt der u. a. vom ehemaligen württembergischen Landesbischof Theo Sorg unterzeichnete „Freudenstädter Aufruf“ für eine Neuevangelisierung Europas, da nur der „authentische“ christliche Glaube eine gemeinsame Wertegrundlage darstellen könne.36
31 Vgl. Guske, Bibel,183–189. 32 Hierzulande gibt es ungefähr 1,5 Millionen Christinnen und Christen evangelikaler Prägung in Landeskirchen, Freikirchen und unabhängigen Gemeinden. Von ihnen vertreten (nach einer Schätzung von Hemminger, Fundamentalismus, 156) etwa 10 bis 30 Prozent fundamentalistische Auffassungen. 33 Hierfür steht etwa die sogenannte Chicago-Erklärung. 34 Zitiert nach Jennifer Stange, Evangelikale in Sachsen. Ein Bericht, Dresden 2014, 27. 35 Graf, Götter, 244. 36 Erster Ökumenischer Bekenntnis-Kongress, Freudenstädter Aufruf. Der christliche Glaube und die Zukunft Europas, http://www.ikbg.net/pdf/fa.pdf (Abruf: 25. August 2015).
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Es verwundert nicht, dass es – insbesondere angesichts einer heilsgeschichtlich dramatisierte[n] Auseinandersetzung mit dem Islam“37 – inhaltliche und personelle Überschneidungen zum Rechtspopulismus z.B. der Pegida-Bewegung oder der Alternative für Deutschland gibt.38 In der imaginierten Verteidigung eines christlichen Abendlandes vereinigen sich diffuse Sehnsüchte nach religiöser, kultureller und ethnischer Homogenität.39 Katja Guske kommt in ihrer politikwissenschaftlichen Studie zu dem Ergebnis, die Deutsche Evangelischen Allianz als maßgebliche Dachorganisation der evangelikalen Bewegung vertrete in politischen Fragen im Großen und Ganzen einen „undogmatische[n] Pragmatismus“40, der es ihr ermögliche, „mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaften umzugehen und ihr politisches Agieren von religiöser Unmittelbarkeit zu befreien.“41 Allerdings gehe sie zur effektiveren Durchsetzung ihrer Positionen immer wieder auch Allianzen mit solchen Gruppierungen ein, die sie in eine fundamentalistische Richtung drängen würden.42 Hinzu komme angesichts medialer Kritik „eine Verteidigungs- und Rechtfertigungsposition, die einen gelassenen Umgang mit pluralistischen Ansichten“43 erschwere. Die evangelikale Bewegung hierzulande stehe in Anbetracht dessen vor der Entscheidung, ob sie als zivilgesellschaftlicher Akteur an demokratischen Aushandlungsprozessen teilnehmen44 oder in konsequenter Fundamentalopposition auf einem absoluten Wahrheitsanspruch beharren wolle.45 Es bleibt aufmerksam zu beobachten, inwiefern von einflussreichen Protagonisten letztlich nicht doch ein kulturelles Überlegenheitsstreben propagiert wird, das einer liberalen Gesellschaft ihre theologische und ethische Legitimität bestreitet. Solange der Andere in seiner Andersartigkeit in erster 37 Jennifer Stange, Die frommrechte Revolte, Es herrscht Aufbruchstimmung am rechten Rand in Deutschland unter christlichen Fundamentalist_innen, Lebensschützer_innen und Rechtspopulist_innen [sic], in: Friedrich Burschel (Hg.), Aufstand der „Wutbürger“. AfD, Pegida, christlicher Fundamentalismus und ihre gefährlichen Netzwerke (Papers 7 / 2015), Berlin 2015, 9–26, hier 24. 38 Vgl. Gert Pickel, Wahlverwandtschaften. Konservative Protestanten und Rechtspopulisten, in: Zeitzeichen 16, 2015, H. 8, 8–11. 39 Vgl. T. Meyer, 115. 40 Guske, Bibel, 202. 41 Ebd., 211. 42 Vgl. Ebd., 202. 43 Ebd., 222. 44 Vgl. Deutsche Evangelische Allianz, „Sucht der Stadt Bestes“. Zur Verantwortung der Christen in Staat und Gesellschaft, Bad Blankenburg 2009, 4–6. 45 Vgl. Guske, Bibel, 210.
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Linie als Missionsobjekt wahrgenommen wird, der seiner eigentlichen Bestimmung erst noch zuzuführen ist, muss daraus ein problematisches Verhältnis zu den gleichen Grundrechten aller Menschen resultieren. Die latente Prognose drohender Verdammnis macht es jedenfalls schwer, den nichtbzw. andersgläubigen Mitbürger ernsthaft als gleichwertiges Ebenbild Gottes anzuerkennen. So steht dem engagierten Eintreten gegen weltweite Christenverfolgung nicht selten die pauschale Ablehnung einer gesellschaftlichen Integration von Musliminnen und Muslimen gegenüber. Diese antagonistische Aufteilung in Christen und Nichtchristen, wie sie in frommen Kreisen mitunter vorzufinden ist, ist einer an der allgemeinen Menschenwürde orientierten Gesellschaftsordnung fremd! 3.
Evangelikales Christentum im Rahmen grundrechtlicher Religionsfreiheit
Die in Art. 4 Abs. 1f. GG verbürgte Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit besteht u. a. darin, religiöse Vorstellungen nicht nur im privaten Rahmen pflegen, sondern diese auch ins öffentliche Leben einbringen zu dürfen. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung muss es aushalten können, wenn manche Gruppierungen lebenspraktisch befremdliche, intellektuell absurde oder moralisch fragwürdige Auffassungen vertreten und kundtun, solange sie sich dabei rechtskonform verhalten. Über die inhaltliche Richtigkeit individueller Glaubens- und Lebensformen steht dem weltanschaulich neutralen Staat kein Urteil zu. Da die einzelnen Bürgerinnen und Bürger allerdings niemals weltanschaulich neutral agieren, verlangt die wechselseitige Achtung der Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit ihnen 46 das Paradox einer „verkennenden Anerkennung“ ab: Wenn ich den Anderen als Person mit grundlegenden Freiheitsrechten anerkenne, muss ich in diesem Rahmen notwendigerweise seine identitätsbestimmenden Überzeugungen respektieren, die ich aufgrund meiner eigenen identitätsbestimmenden Überzeugungen häufig gerade nicht anerkennen kann. Mithin ist „die Toleranz [...] eine hohe Kunst, setzt sie doch voraus, dasjenige zu dulden, mit dem man nicht übereinstimmt.“47 46 Thomas Bedorf, Unversöhnte Anerkennung und die Politik der Toleranzkonflikte, in: Ethik und Gesellschaft 8/1, 2014, 1–15, hier 4. 47 Rainer Forst, Die hohe Kunst der Toleranz. Eine Orientierungshilfe in Zeiten der Religionskämpfe, in: Peter Kemper/Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.): Wozu Gott? Religion zwischen Fundamentalismus und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2009, 243–249, hier 249.
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Wie es funktionieren kann, dass Bürgerinnen und Bürger mit divergierenden Wertvorstellungen und vermutlich noch stärker divergierenden religiösen bzw. weltanschaulichen Hintergrundüberzeugungen friedliches und gerechtes Zusammenleben in einer Demokratie organisieren, hat z.B. John Rawls mit seiner Vorstellung eines overlapping consensus rekonstruiert.48 Danach kann von allen an politischer Meinungsbildung teilnehmenden Personen und Institutionen erwartet werden, glaubensgebundene Argumente so zu übersetzen, dass sie in ihrer moralischen, rechtlichen und politischen Funktion auch von nicht- oder andersgläubigen Menschen nachvollzogen sowie in der Folge mit guten Gründen angenommen oder abgewiesen werden können. Im Sinne des sog. Böckenförde-Diktums („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren 49 kann.“ ) ist dabei letztlich darauf zu hoffen, dass sich in den verschiedenen Konzeptionen eines guten Lebens elementare Ähnlichkeiten entdecken lassen, die sich immer wieder zu konsens- oder doch zumindest mehrheitsfähigen Regeln des gerechten Zusammenlebens verdichten.50 Der gläubige Staatsbürger muss also keineswegs von seinen Wahrheitsansprüchen ablassen, ist aber aufgefordert, sie auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, die den Wahrheitsansprüchen anderer Personen den gleichen Respekt erweist, den er umgekehrt erwarten kann.51 Da letztlich kein Mensch auf einen vorausgesetzten Sinnhorizont verzichten kann, verbleiben jenseits von Fundamentalismus einerseits und Relativismus andererseits nur Bereitschaft und Fähigkeit, mit divergenten Weltbildern konstruktiv umzugehen. Damit eine demokratische Rechtsordnung Bestand haben kann, ist also eine Art öffentlicher Basiskultur unentbehrlich52: Eine maßgebliche Anzahl 48 Vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998. 49 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 42–64, hier 60. 50 Vgl. Wilfried Hinsch, Glaube und Legitimität in liberalen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 63/24, 2013, 10–16, hier 13. 51 Der christliche Glaube als solcher vertritt, recht verstanden, ohnehin keinen assertorischen Wahrheitsanspruch, sondern versucht durch verantwortliches Glauben und Handeln im Vorletzten auf die ergangene Verheißung einer im Letzten durch Gottes Allmacht verbürgten Wahrheit zu antworten. Vgl. Peter Dabrock, Fundamentaltheologische Bioethik angesichts der Herausforderungen moderner Gesellschaft, in: Ders/Lars Klinnert/Stefanie Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 19–56. 52 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 116.
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von Bürgerinnen und Bürgern muss sich implizit oder explizit mit freiheitlichen Grundwerten identifizieren, welche hinsichtlich der religiösen, weltanschaulichen und moralischen Orientierungen, der jeweiligen Eigenlogiken gesellschaftlicher Systeme wie Kunst oder Wissenschaft sowie der persönlichen Lebensführung größtmögliche Freiheitsräume für alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit sicherstellen.53 Ein solches „Ethos der Toleranz ist [...] kein Ethos der Indifferenz“54, sondern verbürgt angesichts normativer Differenzen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern deren persönliche Autonomie. Demgegenüber versucht der moderne Fundamentalismus die demokratischen Verfahren dafür zu instrumentalisieren, eine möglichst umfassende religiöse und sittliche Ordnung in alle gesellschaftlichen Teilbereiche hinein zu implementieren.55 Diese Problematik zeigt sich, wenn demokratische Verfahren unter Berufung auf eine göttliche Autorität als unzureichend hingestellt werden.56 Nur drei Beispiele: − Eine von mehreren Kirchlichen Sammlungen um Bibel und Bekenntnis mitgetragene Erklärung beklagt einen „Niedergang unseres Volkes“, welches „die im Evangelium begründete Werteordung weithin preisgegeben habe“57. − Der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus vertritt die Position, dass über die Zulässigkeit „alternativer Partnerschaften [...] kein Parlament demokratisch gewählter Volksvertreter zu entscheiden“58 habe, sondern allein das Gebot Gottes. − Der Generalsekretär der Evangelischen Allianz in Deutschland, Hartmut Steeb, interpretiert die deutsche Abtreibungsgesetzgebung so, dass damit „die Todesstrafe [...] im privatisierten Rahmen [...] mehr als 100.000 Mal jedes Jahr in unserem Land praktiziert“59 werde. 53 Vgl. ebd., 118–121. 54 Julian Nida-Rümelin, Über die Vereinbarkeit von Universalismus und Pluralismus in der Ethik, in: Ders., Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M. 1999, 207–222, hier 221. 55 Vgl. Meyer, Fundamentalismus, 123. 56 Vgl. Graf, Götter, 244f. 57 Peter Beyerhaus/Oskar Sakrausky/Hanns Schrödl, Spandauer Bußwort. Unser Volk unter Gottes Gericht und Gnade, http://www.ikbg.net/pdf/ga.pdf (Abruf: 25. August 2015), 3. 58 Peter Beyerhaus, Die Christus-Wahrheit im Spannungsfeld zwischen Toleranz und Fundamentalismus, http://www.ikbg.net/pdf/vortr4.pdf ), 4 (Abruf am 25. August 2015). 59 Hartmut Steeb, 10-Punkte-Programm für den Lebensschutz, http://www.ead.de/fileadmin/daten/dokumente/arbeitskreis_politik/10_Punkte_f%C3%B Cr_das_Leben.pdf (Abruf am 25. August 2015), 14.
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Selbstverständlich steht es jedermann frei, demokratische Entscheidungen als ungerecht, unmoralisch oder unvernünftig zu kritisieren und mit friedlichen Mitteln für eine gerichtliche oder parlamentarische Neubewertung einzutreten – davon lebt Demokratie. Daraus lässt sich jedoch keine Erlaubnis ableiten, geltendes Recht (zumindest rhetorisch) nur unter der Bedingung anzuerkennen, dass es den eigenen Moralvorstellungen voll und ganz entspricht. Eventuelle Gewissensvorbehalte sind im individualethischen Bereich selbstverständlich denkbar.60 Im Rahmen der sozialethischen Abwägung besteht jedoch die prinzipielle Verpflichtung, die Interessen, Bewertungen und Auffassungen aller anderen als genauso legitimen Ausdruck individueller Persönlichkeitsrechte zu berücksichtigen wie die eigenen.61 Der demokratische Rechtsstaat hat die Aufgabe, größtmöglichen Freiraum für unterschiedlichste Glaubens- und Lebensvorstellungen abzusichern und durchzusetzen. Es ist daher zulässig, wenn er mittels politischer Steuerung (also z.B. durch den Ausschluss von staatlicher Förderung) solche Ideologien in ihrer öffentlichen Wirksamkeit beschränkt, welche dieses Selbstverständnis in nachhaltiger Weise zu untergraben drohen.62 Allerdings darf eine elementare Gefährdung der verfassungsmäßigen Grundlagen wechselseitiger Anerkennung nicht einfach schon all denjenigen unterstellt werden, die bestimmte Grundrechte aus ihren partikularen Überzeugungen heraus lediglich im Widerspruch zum Commonsense auslegen und abwägen. Die meisten evangelikalen Christen bestreiten z.B. homosexuellen Personen keineswegs das Freiheits- und Persönlichkeitsrecht, ihre sexuelle Orientierung auszuleben; sie lehnen aber aus ihrer speziellen Interpretation des christlichen Ethos eine solche Lebensform als natur- und sittenwidrig ab und halten daher eine dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie entsprechende Förderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen 63 64 für nicht angebracht. Die Toleranzzumutung gilt hier beiderseits : So wie evangelikale Christen sich mit der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit unterschiedlichster Partnerschaftsmodelle abzufinden haben, müssen Schwule 60 So dürfen Ärztinnen und Ärzte zu Recht nicht dazu verpflichtet werden, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. 61 Allein unter dieser Voraussetzung ist in einer demokratischen Rechtsordnung bei eklatanten Grundrechtsverletzungen ggf. auch ziviler Ungehorsam in Betracht zu ziehen – nicht aber zur bloßen Sicherung partikularer Wertvorstellungen. 62 Vgl. Rawls, Liberalismus, 291f. 63 Vgl. Deutsche Evangelische Allianz, 7f. 64 Vgl. Gerber, Fundamentalismen, 82.
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und Lesben die gegenüber ihrer Lebensweise bekundeten Missbilligungen ertragen, solange diese ohne Angriffe auf ihre persönliche Integrität vorgebracht werden. In der Logik der liberalen Rechtskultur geht eine Inanspruchnahme rechtlicher Anerkennung für die vielfältigen Ausdrucksformen der eigenen Identität mit dem (idealerweise freiwilligen) Verzicht auf eine politische Erzwingung ihrer allgemeinen moralischen Anerkennung einher. 4.
Nochmal: Sind Evangelikale Fundamentalisten?
In der gegenwärtigen Empörungskultur wird jede von den eigenen Urteilen und Vorurteilen abweichende Meinung gerne vorschnell skandalisiert. Viele Menschen haben anscheinend kein Interesse mehr daran, mit den „schrillen Dissonanzen des öffentlichen Meinungsstreites [...] [umzugehen], ohne das 65 soziale Band [...] [des] politischen Gemeinwesens zu zerreißen.“ In klassischen Medien wie (erst recht) im Internet erhalten markante Extrempositionen überdurchschnittliche Aufmerksamkeit. So prallen dann z.B. herabsetzende Ressentiments evangelikaler Christen gegenüber sexueller Vielfalt auf einen doktrinären Hegemonieanspruch konstruktivistischer Gender- und Queertheorien. Dabei mangelt es allen Beteiligten häufig an einer fairen Berücksichtigung „der Selbstbeschreibungen derjenigen, gegen die man protestiert. Man versucht nicht: zu verstehen“66 oder gar voneinander zu lernen. Da die meisten Evangelikalen ihren persönlichen Glauben innerhalb und zugunsten der demokratischen Gesellschaft praktizieren67, ist einer stigmatisierenden „Fundamentalismus-Hysterie“68 antireligiöser Interessengruppen69 entgegenzutreten. Es ist schlichtweg unanständig, missliebige Geltungsansprüche mit überzogener, pauschaler und nicht selten unkundiger Kritik zu überziehen oder gar durch publizistische Denunziation oder lautstarke Randale den Versuch zu unternehmen, sie aus der politischen Sphäre zu verban65 Jürgen Habermas, Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft, in: Peter Kemper/Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.): Wozu Gott? Religion zwischen Fundamentalismus und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2009, 137–147, hier 138. 66 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a. M. 1997, 855. 67 Vgl. z.B. Thomas Schirrmacher u. a., Christ und Politik. 50 Antworten auf Fragen und kritische Einwände (Edition Pro mundis 14), Bonn 2005. 68 Vgl. Christfried Kulosa, Die Fundamentalismusdebatte und die Evangelikalen. Eine theologische Ausarbeitung (Idea-Dokumentation 25/1993), Wetzlar 1993, 28. 69 Vgl. Hansjörg Hemminger, Feindbild Evangelikale, in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 72/8 (2009), 283f.
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nen.70 Wie alle Menschen haben auch evangelikale Christen „das Recht, einer Mehrheitsmeinung nicht zuzustimmen und im öffentlichen Diskurs damit berücksichtigt zu werden.“71 So darf konservativen Organisationen etwa die zweckgemäße Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht verweigert werden.72 In der argumentativen Auseinandersetzung über religiöse und weltanschauliche Differenzen können Bürgerinnen und Bürger einander den ihrer fundamentalen Gleichheit entsprechenden Respekt erweisen. Unbequeme Positionen stellen daher für Kirche und Gesellschaft eine interessante Herausforderung dar, nach kreativen Verständigungsformen zu suchen.73 Umgekehrt ist dem evangelikalen Mainstream (wie er hauptsächlich durch die Deutsche Evangelische Allianz repräsentiert wird) dringend anzuraten, auf eine undifferenzierte Solidarität zu verzichten, welche jegliche Kritik an befremdlichen Phänomenen im eigenen Milieu reflexartig abwehrt. Wer in Anspruch nimmt, zugunsten von „Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen“74 einzutreten, muss „an einer Selbstunterscheidung gegenüber fundamentalistischen Tendenzen interessiert sein.“75 Eine noch klarere Abgrenzung von demokratieskeptischen und „menschenfeindlichen“ Auswüchsen ist für die Zukunft wünschenswert. Abstract Devoted Christians often are referred to as fundamentalists. In addition this is frequently connected with the reproach that they jeopardize the democratic foundation of western societies on the basis of a conviction of religious supremacy. The article proves that an exaggerated and exclusive selfperception as „owner“ of revelation and salvation can indeed lead to a denial of fundamental rights of others. The majority of „Evangelicals“ in Germa70 Vgl. z.B. http://schweigemarsch-stoppen.de oder http://noplace.blogsport.de (Abruf am 25. August 2015). 71 Magdalena Paulus, Toleranz und Akzeptanz oder Meinungsdiktatur. Monatliches Allianzgebet für Dezember 2014, http://www.ead.de/gebet/monatliches-allianzgebet/archiv/toleranz-und-akzeptanz-oder-meinungsdiktatur.html (Abruf am 25. August 2015). 72 Vgl. z.B. den aktuellen Fall unter http://www.bild.de/regional/duesseldorf/duesseldorf/ stoppt-schulverwaltung-lesung-von-bestseller-autorin-42219672.bild.html (Abruf am 25. August 2015). 73 Vgl. Habermas, Säkularisierung, 141. 74 Deutsche Evangelische Alllianz, 7. 75 Hempelmann, Bewegungen, 41.
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ny, however, plead their normative convictions by accepting the democratic diversity of opinions. They consequently have to be defended against overdrawn fundamentalist reproaches.
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Theologische Klärung
Fundamente des Glaubens Zur Begründung theologischer Aussagen Ernstpeter Maurer Für die Systematische Theologie ist die Frage unausweichlich, welche verlässlichen Fundamente wir im Reden von Gott und in der theologischen Klärung dieses Redens voraussetzen. Das ist zunächst die schlichte Unterscheidung zwischen Grundsätzen und den anderen, im Rückgriff auf diese Grundsätze begründeten Sätzen. Es gehört zur Vernunft des Glaubens, diese Unterscheidung zu präzisieren. So wird die Theologie als selbstkritische Durchdringung des christlichen Redens von Gott zur Wissenschaft. Jede Wissenschaft setzt Grundeinsichten voraus, die als Axiome formuliert werden und als evident gelten. Davon hebt sich das Reden von Gott insofern ab, als die Grundeinsichten zwar nicht unvernünftig, aber keineswegs allgemeingültig sind. Hier gilt es eine sensible und produktive Balance zu treffen: Das spannungsvolle Verhältnis von Glaube und Vernunft ist charakteristisch für das christliche, insbesondere für das evangelische Reden von Gott. Der Glaube erweitert die Vernunft, tritt dabei ihren Verhärtungen entgegen und kann dann auf den ersten Blick als unvernünftig erscheinen. In der anderen Richtung ist die Vernunft bedroht durch ihre Tendenz, sich als letzte Instanz zu betrachten. Dann kann nur als wirklich gelten, was die Vernunft erkennt. Das ist zweifellos eine Verengung in der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wenn nun der Glaube die Vernunft erweitert, kann die Vernunft keine letzte Instanz mehr sein – aber was bleibt dann? An dieser Stelle muss sich die Differenz zwischen einer übervernünftigen Vertiefung und einer bloß unvernünftigen Verweigerung des Denkens abzeichnen. Die Balance in der Spannung von Glauben und Vernunft kann allerdings skizziert und plausibel gemacht werden. Dabei sollte auch einleuchten, warum die Grundsätze des Glaubens nicht allgemein evident sein können – obwohl sie nicht unvernünftig sind. Grundsätze des Glaubens können nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus begründet werden. Sie müssen
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DOI 10.2364/3846998960
sich aber im Verlauf der Argumentation als fruchtbar erweisen bzw. haben sich bereits als produktiv erwiesen. Als Grundsatz gilt zuerst das Christusbekenntnis: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2Kor 5,19a). Die Auseinandersetzungen der Alten Kirche führen zu einer Klärung dieses Grundsatzes in der Trinitätslehre, die nachträglich auf den Punkt bringt, was dem Zeugnis des Neuen Testaments immer schon seine innere Einheit verleiht.1 Die Identifikation des gekreuzigten Jesus von Nazareth mit dem Gott, der Israel erwählt und sich in die menschliche Geschichte verwickelt, mit der menschlichen Gottesfeindschaft eingelassen hat – dieses Bekenntnis ist nicht selbstverständlich und wird nur durch den Geist Gottes möglich (1Kor 12,3b). Es bildet zugleich den Ausgangspunkt für ein ganz neues, immer wieder frisches und belebendes Verständnis der biblischen Texte. Zunächst erscheinen die Texte des (später so genannten) Alten Testaments in einem ganz neuen Licht, weil sie von der Geschichte Jesu Christi her gelesen werden. Das neutestamentliche Zeugnis von dieser Geschichte ist daher bereits eine komplexe Auseinandersetzung mit der Überlieferung der Geschichte des Gottesvolkes Israel. In der anderen Richtung kann man sagen: Die Auslegung der biblischen Texte in die Gegenwart hinein setzt auch unser Denken immer wieder neu in Bewegung. Es ergibt sich hier ein Gefälle: Die Texte passen ja keineswegs in unsere Denkformen, sie sind zum großen Teil fremd und fordern uns heraus. Es geht nun nicht um ein sacrificium intellectus, weil die Bibel „recht hat“, sondern um die Befreiung unserer verengten Vernunft. Dabei stellt sich heraus, dass auch die biblischen Texte charakteristische Annahmen über „die Welt“ aufweisen, die wir nicht einfach übernehmen müssen. Es kommt vielmehr auf das befreiende Spiel an, in dem sowohl unsere als auch die antiken „Bilder“ von „der“ Wirklichkeit in Fluss geraten. Dieses Spiel heilt die Vernunft von 2 unvernünftigen Absolutheitsansprüchen. Hier können grundlegende Sätze formuliert werden, die das Spiel in Bewegung halten. Wird das Christusbekenntnis geleugnet, so kommt es auch zu einer einseitigen Lektüre der biblischen Texte. Im Gegenzug führt das Christusbekenntnis zur Einsicht in die Vielschichtigkeit des biblischen Zeugnisses und sichert damit das eben skizzierte Gefälle von der Schrift zum 1
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Es ist daher müßig, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die altkirchlichen Dogmen nicht im Neuen Testament stehen. Sie formulieren im Nachhinein die Grammatik des biblischen Redens von Gott, vgl. Ernstpeter Maurer, Sprachphilosophische Aspekte in Karl Barths „Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik“, Frankfurt a. M. 1989, 133ff. Vgl. dazu die immer noch interessanten Gedankengänge bei Karl Barth, KD I/2, 797ff.
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jeweils aktuellen Reden von Gott. Die altkirchlichen Dogmen – Trinitätsund Zwei-Naturen-Lehre – sind also als Regeln für die fruchtbare Lektüre der Texte aufzufassen, nicht etwa als starre Vorschriften, die es zu glauben gilt. Ich könnte sie auch als Spielregeln kennzeichnen: Wer Schach spielen will, kann mit den Figuren keine beliebigen Züge machen, sonst verliert das Spiel seinen Reiz. Natürlich kann man auf einem Schachbrett auch Dame spielen, aber das ist dann ein anderes Spiel. Wird das biblische Zeugnis nicht mehr verstanden von einer Bewegung Gottes her, die in die Geschichte eingreift und vor allem als schöpferisch-geistreiches Wort gegenwärtig wird, sind die Texte entweder nur noch historische Dokumente oder – schlimmer noch – eine Ansammlung von übernatürlichen Informationen, die wir „glauben müssen“. Betrachten wir die sprachliche Struktur des altkirchlichen Dogmas, sofern es das Christusbekenntnis ausformuliert. Die Trinitätslehre betont nicht nur die Gegenwart Gottes in Jesus Christus, sondern führt diese Gegenwart in das innergöttliche Leben zurück. Daraus ergibt sich ein deutlicher Akzent: Gott ist in Ewigkeit lebendig, die Ewigkeit ist keine starre Zeitlosigkeit. Gott ist einzigartig, weil Gott über sich hinausgehen kann und darin seine Gottheit verwirklicht, die einzigartige Einheit Gottes fürchtet nicht die Unterscheidung von sich selbst. Schon diese Paraphrasen der klassischen Trinitätslehre zeigen zweierlei: (a) Es handelt sich um eine Formel, die das Geheimnis Gottes umreißt, auf eine unüberbietbar dichte Weise, aber an der Grenze unserer Vernunft. (b) Die Formel zwingt uns dazu, den Einbruch Gottes in die Schöpfung und die Geschichte der menschlichen Geschöpfe immer wieder neu zu erzählen. So bringt sie die innere Einheit und die Kraft des biblischen Zeugnisses auf den Punkt. Die Geschichte Gottes mit den menschlichen Geschöpfen ist dem göttlichen Leben nicht fremd. Gott selbst verwickelt sich in unsere Geschichte. Das Christusbekenntnis markiert den ultimativen Punkt in dieser Geschichte. Ich kann noch hinzufügen: Die Verwicklung Gottes in die Geschichte ist in charakteristischer Weise worthaft. Die Geschichte drängt zur Erzählung, und umgekehrt greift die erzählte Geschichte in die Gegenwart ein und macht ihrerseits Geschichte. Wenn ich oben von dem Gefälle gesprochen habe, das von den biblischen Texten ausgeht, so zeichnet sich darin die geistreiche Kraft des biblischen Wortes ab und verweist (!) auf das schöpferische Wort Gottes. Das Verhältnis zwischen Christusbekenntnis und biblischen Texten ist fundamental – und dabei nicht fundamentalistisch. Es bildet sich eine Rückkopplung aus, eine sensible Balance zwischen dem biblischen Zeugnis und seiner Verdichtung in Bekenntnisformeln und -sätzen. Ich rede mit Absicht von einer „Verdichtung“. Die Metapher soll anzeigen, dass die biblische
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Geschichte nicht wie ein Sachtext zusammengefasst werden kann, ohne ihre Kraft zu verlieren. Wir können nicht in wenigen Sätzen sagen, worum es in der Bibel „eigentlich“ geht, um davon die weniger wichtigen oder zufälligen Informationen zu unterscheiden.3 Die innere Einheit der Bibel liegt nicht in einem „gemeinsamen Nenner“, sondern in einer kohärenten und doch gespannten Geschichte mit unzähligen überraschenden Wendungen. Es gibt aber durchaus Schlüsselstellen und entscheidende Wendungen, in denen diese innere Einheit hervortritt. Das sind in der Regel auch solche Wendungen, in denen auf engem Raum der Konflikt Gottes mit den sündigen menschlichen Geschöpfen auf den Punkt gebracht wird, der das Drama in Gang hält und es zugleich auf unsere endgültige Gemeinschaft mit dem göttlichen Leben ausrichtet. Solche „dichten“ Wendungen finden sich innerhalb der biblischen Texte, werden also nicht „von außen“ konstruiert. Es zeichnet sich so ein weiteres Gefälle ab: Zwischen den biblischen Spitzensätzen und der biblischen Geschichte kommt es zu einer immer neuen Lektüre der Texte, also zu der erwähnten Rückkopplung, aber auch zu einer inneren Abstufung und Differenzierung, sofern die „dichten“ Wendungen als Regeln für die angemessene Lektüre der Texte wirksam werden. Die altkirchliche Dogmenbildung ist der Versuch, diese Regeln ihrerseits zu bündeln. Das ist riskant, weil sich dabei doch wieder eine bloße „Zusammenfassung“ ergeben kann. Die Theologie der Alten Kirche hat das Risiko allerdings erfolgreich bewältigt. Die trinitarischen und christologischen Formeln sind nicht abzulösen vom biblischen Zeugnis, sie bleiben unverständlich ohne diesen Bezug. Sie profilieren andererseits den inneren Zusammenhang der biblischen „Verdichtungen“, ohne deren anstößige „Konfliktfreudigkeit“ zu nivellieren. Es ist daher kein Zufall, wenn im vierten und fünften Jahrhundert gezielt die philosophische Terminologie ins Spiel kommt und erheblich „verformt“ wird. Die Streitigkeiten der Alten Kirche wurden nicht zuletzt ausgelöst durch das Bedürfnis, den christlichen Glauben doch wieder an scheinbar selbstverständlichen Standards der Vernunft auszurichten, insbesondere der „Einheit“ oder der „Unveränderlichkeit“ Gottes, als wüssten wir bereits, was diese Begriffe bedeuten. In Wahrheit ist das gar nicht klar, schon gar nicht in der Anwendung auf die göttliche, auch nicht auf unsere menschliche Wirklichkeit. Wenn nun diese Dogmen als fundamental gelten, so zeichnet sich ein interessanter Zug ab: 3
Das gilt für erzählende Texte überhaupt – man stelle sich ein Resümee von Thomas Manns „Zauberberg“ vor.
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Sie verweigern sich der Eindeutigkeit. Die Einheit Gottes ist einzigartig wegen der Selbstunterscheidung Gottes. Diese innere Differenzierung hat mit dem göttlichen Leben zu tun und geht so weit, dass Gott sich in die menschliche Wirklichkeit hinein entäußern kann (Phil 2,6–11). Das Gotteswort wird Mensch und begegnet uns als eine Person, in der göttliche und menschliche Natur derart „verdichtet“ sind, dass unsere menschliche Wirklichkeit sich als zutiefst verloren erweist, aber auch erlöst wird. Zugespitzt: Wenn Fundamentalismus in der Regel auf Eindeutigkeit zielt, sind die Fundamente des biblischen Redens von Gott radikal antifundamentalistisch. Sie halten die Bewegung lebendig, die zwischen dem Reden von Gott und unserer Vernunft immer wieder von neuem befreiend wirksam wird, sie sind uns aber niemals als eindeutige „Wahrheit“ verfügbar – jedenfalls nicht in einem verengten Sinne von „Wahrheit“, auf den wir noch im Zusammenhang mit dem neueren Biblizismus eingehen müssen. Das Fundament ist eine lebendige Bewegung. Das beleuchtet nochmals den eingangs erwähnten Aspekt der Spannung zwischen Glauben und Vernunft. Wir leben immer schon in der Geschichte, können sie aber nicht „von außen“ vernünftig rekonstruieren, sondern „nur“ von innen heraus präzisieren und auch selbstkritisch durchdringen. Wir begreifen diese Geschichte nicht, sondern finden uns von ihr umgriffen. Von einem vernünftigen Standpunkt aus wird das in der Regel als „Dezisionismus“ kritisiert und wieder auf die Seite des Fundamentalismus gerückt. Diese Kritik muss sich allerdings fragen lassen, welche Vernunft sie ihrerseits voraussetzt. In der Regel ist das ein vernünftiges „Bild“ der Wirklichkeit, die als eine einzige Realität sprachlich in Sätzen „abgebildet“ wird, die in ihrem Zusammenhang ohne Widerspruch die eine Wahrheit aussagen. Auch diese Position ist keineswegs vo4 raussetzungslos. Zu den herausragenden biblischen Wendungen, in denen sich die innere Einheit der Bibel „verdichtet“, gehören auch signifikante Passagen, in denen der Wortcharakter der biblischen Rede von Gott charakterisiert wird. In diesen Kontexten wird deutlich, dass „Wort Gottes“ keineswegs einfach mit den biblischen Texten gleichzusetzen ist. Damit ist ein biblizistischer Fundamentalismus im Ansatz schon als schriftwidrig und damit als selbstwidersprüchlich erwiesen. „Wort Gottes“ meint in erster Linie Gott selbst, die Selbstäußerung Gottes, die schöpferische Kraft, die Strukturen schafft und darin lebendig 4
Ihre inzwischen klassische Ausformung hat sie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs gefunden: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973.
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bleibt. Dieses Wort wird in Jesus Christus als menschliche Person in der Geschichte gegenwärtig und glanzvoll, „voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). Es wird hier deutlich, dass die Wahrheit identisch ist mit Jesus Christus (vgl. auch Joh 14,6) und also nicht im alltäglichen (oder klassischaristotelischen) Sinne aufzufassen ist als Abbildung „der“ Wirklichkeit durch „die“ Sprache. Sprache ist nicht nur als Information zu bestimmen. Bereits im Alten Testament und vor allem in den prophetischen Texten finden sich solche Passagen, etwa Jes 55,8-11: „Denn meine Gedanken sind nicht euer Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege – spricht JHWH –, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“
Das Wort Gottes ist in erster Linie kraftvoll, und es ist kraftvoll wegen seiner Unverrechenbarkeit. Gottes Wort bricht in die menschliche Geschichte ein. Jes 55,8–11 skizziert eine „Theologie des Wortes Gottes“, die sowohl die Distanz zwischen Gottes Wort und dem menschlichen Reden einschärft als auch den Einbruch des göttlichen Redens in die geschöpfliche Wirklichkeit. Gerade die Distanz bewirkt das kraftvolle Gefälle, das die Erde auflockert und fruchtbar macht. Hier finden wir den Grund, auf dem unser Glaube ruht, und von dem aus wir theologische Aussagen begründen können. Dieser Grund ist aber keine starre Größe, die wir „handhaben“ könnten, sondern die Bewegung Gottes in unsere Wirklichkeit hinein, die auch immer wieder das Gefälle einschärft. Diese Bewegung ist ein sprachliches Geschehen, das unsere Verengung erschüttert und auflockert. Damit gelangen wir an den bereits skizzierten Punkt – nun aber innerhalb der innerbiblischen Überlegungen zum Wort Gottes –, wonach die Vernunft erweitert wird durch vordergründig „unvernünftige“ Rede, die sich dann freilich als kraftvoll und fruchtbar erweist. Wir sollten also die Konfrontation mit dem „gesunden Menschenverstand“ nicht scheuen und auch nicht dem „heutigen Menschen“ nach dem Mund reden, wir müssen dann freilich dafür sorgen, dass die Provokation des Gotteswortes zu glanzvollen Durchblicken führt, zu einer Wahrheit, die wir tatsächlich als Gnade, als Wohltat erfahren. Es darf unter keinen Umständen ein „Glaube“ verlangt werden, der den Wortlaut der biblischen
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Texte bedingungslos als „irrtumsfrei“ anerkennt und die eigene Vernunft aufopfert. Der innerchristliche, im evangelischen Bereich biblizistische Fundamentalismus ist schon deshalb ein Irrweg, weil er dem biblischen Selbstzeugnis widerspricht, und zwar in einer atemberaubend unverschämten Weise. Paulus schreibt in 1Kor 3,11: „Einen anderen Grund kann keiner legen als den, der gelegt ist, Jesus Christus.“ Damit relativiert Paulus seine eigene Verkündigung. Wohl hat er den Grund gelegt, aber nach Gottes Gnade (V.10). Er hat den Grund sprachlich zugespitzt als Wort vom Kreuz (1Kor 1,18–25). Die Mächte der Welt haben den „Herrn der Herrlichkeit“ gekreuzigt (1Kor 2,8). Diese theologia crucis ist für die Griechen ein Blödsinn und für die Juden eine Gotteslästerung. Es bleibt eine Provokation für die intellektuelle und für die religiöse Elite – aber diese Gruppen sind natürlich als Spitze repräsentativ für alle menschlichen Geschöpfe. Gerade in der Provokation sieht Paulus die Kraft und Weisheit Gottes (1Kor 1,24). Das Wort vom Kreuz spitzt das Christusbekenntnis nochmals zu: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2Kor 5,19a), indem er die menschliche Feindschaft gegen Gott auf göttliche Weise bis zum Äußersten provoziert, die gottwidrigen Mächte der Welt entlarvt und zum Spott gemacht hat. So trägt Gott die Sünde der Welt hinweg, weil er sie auf sich gezogen und „verdichtet“ hat. Dieser fundamentale Zusammenhang kann in Aussagen formuliert werden und ist unbestreitbar wahr. Aber solche Aussagen sind nicht zu vergleichen mit wahren Aussagen in unserer geschöpflichen Sprache! Wenn ich eine wahre Aussage formuliere – „mein Sektglas ist halb leer“ –, so setzt das voraus, dass ich das Glas betrachten, mich also davon auch unterscheiden kann. Eine solche Perspektive kann gegenüber der Wirklichkeit Gottes gerade nicht eingenommen werden. Wo sollte ich denn „stehen“, um die Selbsterniedrigung Gottes „betrachten“ zu können? Es kommt vielmehr darauf an, von dieser kraftvollen Bewegung ergriffen, mitgerissen, begeistert zu werden. Genau das skizziert Paulus auch in 1Kor 2,10-16. Es ist Gottes Geist, der die Tiefen Gottes erforscht, so wie unser menschlicher Geist unser je eigenes Innere kennt. Und wie niemand mein Inneres „von außen“ betrachten oder beschreiben kann, so gilt das erst recht von Gott. Wir werden aber vom Geist Christi erfüllt (V. 16). So verlieren wir unseren eigenen Stand, auch den festen Boden unter den Füßen, werden aber beschenkt mit einer ganz anderen Perspektive. Das Wort vom Kreuz ist noch in einer weiteren Hinsicht geistreich. Es zeichnet sich durch eine semantische Innenspannung aus, denn der griechische Gottesbegriff wie auch das jüdische Reden von JHWH ist unvereinbar mit der leidenschaftlichen Gegenwart Gottes mitten in der Schöpfung. Die-
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se Innenspannung wird unüberbietbar zugespitzt in Kol 1,15a, wo Christus als „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ bekannt wird. Es ist kein Zufall, wenn mit diesem Satz ein Hymnus eingeleitet wird, also ein literarisch durchgebildeter Text, der von Gott in Christus in einer überschwänglichen Weise redet, ekstatisch und vielleicht auch gesungen. Die sprachlichen Gebilde, in denen die Fundamente des Glaubens formuliert werden, sind demnach in erster Linie Gotteslob, Doxologie, geistgewirktes Bekenntnis (wie Paulus eben in 1Kor 12,3b betont). Solch ein Reden von Gott ist niemals ein Reden über Gott und auch viel näher am Gebet als einem Reden zu Gott. Es ist daher misslich, die Wahrheit dieser Sätze zu vergleichen mit wahren Aussagen bezüglich irgendeiner geschöpflichen Wirklichkeit. Das zeichnet sich in dem (scheinbaren) „Widerspruch“ ab: Wie kann einem unsichtbaren Gott ein Ebenbild entsprechen? Ähnlich verhält es sich mit den Einsetzungsworten: „Das ist mein Leib“ (1Kor 11,24). Jesus deutet auf das Brot und identifiziert es mit sich selbst. Luther hat auf der einfachen Bedeutung dieses Satzes bestanden – aber ist er „wörtlich“ zu nehmen? Dann wäre er einfach absurd. Wohl aber muss der Satz in seiner schlichten Bedeutung ernst genommen werden und zwingt uns, die Gegenwart Jesu Christi anders als bloß dreidimensional, räumlichkörperlich zu begreifen. Der Satz setzt unser Denken in Bewegung. Die Einsetzungsworte entfalten diesen Impuls nur in der erzählten Geschichte. Die Hingabe Jesu Christi erreicht ihren Höhepunkt und verweist auf die Geschichte des Leibes Christi, auf die Gemeinde, in der die Hingabe Jesu (in der Kraft des Geistes) gleichsam multipliziert und potenziert wird. Die Erzählung der Geschichte Jesu schafft ihrerseits Geschichte. So kann die Gemeinde als sprachliche Wirklichkeit in den Blick kommen, wie 2Kor 3,2f zeigt: Die Gemeinde ist ein Brief Christi, ein lebendiger Brief, nicht in toten Buchstaben, sondern im Geist. „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (V.6b). Die fundamentale Passage 2Kor 3 ist durchweg metaphorisch, sie setzt sich zugleich mit dem alttestamentlichen Zeugnis auseinander und reflektiert diesen Konflikt. So entsteht ein allerdings hoch komplexes Gewebe. Metaphern sind zuweilen, aber bei genauer Betrachtung nur ganz selten rhetorische Figuren, die sich „im Prinzip“ in „eigentliche“ Sprache übersetzen lassen. Bei Paulus wäre es eine unzulässige und gewalttätige Reduktion, die metaphorische Rede von der Gemeinde als einem lebendigen Brief zu reduzieren auf Sätze, die im üblichen Sinne „wahr“ sind. Ähnlich gewaltsam wäre die „Erklärung“ der Gleichnisse Jesu. Metaphorische Rede prägt aber die Paulus-Briefe, und zwar vornehmlich an theologisch besonders signifikanten Stellen. Man denke nur an die Rede von Jesus Christus als Sühnop-
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fer (Röm 3,25). Paulus weiß ja, dass Jesus nicht im Allerheiligsten geopfert, sondern vor den Toren Jerusalems hingerichtet wurde. Und doch ist die Übertragung (meta-phora) der Opfertheologie auf das Kreuz eine unüberbietbare Verdichtung der Geschichte Gottes mit dem erwählten Volk und mit der menschlichen Sünde überhaupt. Die paulinischen Metaphern sind (wie die Gleichnisse Jesu) nicht in „wahre Aussagen“ zu übersetzen, sondern immer wieder neu zu entfalten. Das mindert nicht ihre Wahrheit – vielmehr sind Metaphern in einem tieferen Sinne wahr als Aussagesätze.5 Nicht zuletzt sind unersetzliche Metaphern ein hervorragendes Beispiel für geistreiche Sprache, in der die Vernunft lebendig bleibt. Hier wird besonders deutlich, was mit der „Verbal-Inspiration“ der biblischen Texte gemeint ist: Die metaphorischen Wendungen sind äußerst präzise formuliert und zwingen zu einer extrem sorgfältigen Auslegung des Kontextes. Es kommt da wirklich auf jedes Wort an – aber das unterscheidet sich gerade von dem „wörtlichen“ Verständnis, das auf eindeutige Information gerichtet ist. Eine angemessene Auslegung biblischer Texte kann demnach gar nicht eingezwängt werden auf das pedantische Raster des alltäglichen Verständnisses von „Wahrheit“. Es bleibt ein Rätsel, wie es zu der theologischen Sklerose eines fundamentalistischen Biblizismus kommen konnte, der sich 1978 6 und 1982 in zwei „Chicago-Erklärungen“ niedergeschlagen hat. Der Grundirrtum besteht exakt in der wahrheitstheoretischen Engführung auf eine irrtumslose Übereinstimmung von Sätzen und Wirklichkeit. Diesem sowohl philosophisch als auch theologisch unzureichenden Begriff von „Wahrheit“ wird alles untergeordnet, sogar die Christologie. Die „ChicagoErklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“ (1978) will die Wahrheit der biblischen Texte vor aller lebendigen Begegnung mit ihnen bereits „sicherstellen“. Da Gott die Heilige Schrift inspiriert hat, ist sie „Gottes Zeugnis von seiner eigenen Person“. Das wird aber so ausgeführt, dass die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus keine Rolle mehr spielt. Hier wird der durch den Geist gewirkte Glaube an Jesus Christus letztlich ersetzt durch den „Glauben“ an die „Irr5
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Eberhard Jüngel hat das bereits 1974 in einem Aufsatz gezeigt, der in den Grundzügen immer noch aktuell ist: Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch, München 1980, 103–157. Über eine dritte „Erklärung“ zur christlichen Lebensführung breite ich den Mantel barmherzigen Schweigens. – Die Chicago-Erklärungen sind zugänglich unter bibelbund.de; die erste Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel (CE) wird durch Artikel weiter ausgeführt, die zweite zur Hermeneutik setzt mit Artikeln ein (zitiert mit CHE).
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tumslosigkeit der Bibel“. Die Wahrheit Gottes wird in einer naiven Weise mit der Wahrheit menschlicher Sätze gleichgesetzt, die nicht nur dem christlichen Reden von Gott und Jesus Christus als dem Wort Gottes widerspricht, sondern auch dem biblischen Selbstverständnis. Die Bibel selbst spricht nur an einer Stelle von der Inspiration der Schrift, nämlich in 2Tim 3,15–17. Dort geht es um das Alte Testament und seine Wirkung. Die heiligen Schriften machen die Person weise und führen so zum Glauben an Jesus Christus. Sie erweisen sich als „gottbegeistet“ (theopneustos), weil sie nützlich sind zur Lehre, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, „damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk gerüstet“. Die Bibel spricht in einer hoch differenzierten Weise vom Wirken des Gottesgeistes und auch davon, wie Gottes Geist menschliche Personen dazu bringt, von Gott zu reden (man denke etwa an Apg 2,1–11 oder an 1Kor 14,24ff). Es geht dabei in erster Linie um vollmächtige Verkündigung. Das wird in der „Chicago-Erklärung verzerrt: Das Wort der Schrift wurde von Menschen geschrieben, „die der Heilige Geist dazu ausrüstete und dabei überwachte“ (CE 2). Im Blick ist hier letztlich die Mitteilung von Informationen – und das ist etwas anderes als die lebendige Sprache des Glaubens bis hin zum ekstatischen Gotteslob, das auch andere Personen belebt und begeistert! Hinter der Behauptung der „Irrtumslosigkeit“ steckt die Sorge um die Zuverlässigkeit des biblischen Zeugnisses – aber was ist das für ein Glaube? Wenn die Schrift nur an einer Stelle irrte, wären für solchen Kleinglauben auch die Berichte von Jesus Christus unzuverlässig. Artikel 6 konkretisiert die Verbalinspiration als Diktat, also in einer besonders geistlosen Weise. Überhaupt fehlt eine theologisch begründete Pneumatologie – die ja schon von der Trinitätslehre her auf das innergöttliche Wort Gottes zu beziehen wäre. Dabei wären so gespannte Sätze wie die Entgegensetzung von Buchstaben und Geist in 2Kor 3b zu reflektieren. In der „ChicagoErklärung“ ist Gottes Geist nur der große Unbekannte, ein Lückenbüßer, der die Irrtumsfreiheit der Schrift im buchstäblichen Sinne abzusichern hat (Artikel 7). Man wird den Eindruck nicht los, dass es sich hier um eine infantile Trotzreaktion handelt, die nicht aus der Einsicht in die sprachliche Eigenart der biblischen Texte gewonnen wird, sondern sich radikal abgrenzen will von jeder Untersuchung, die sich auf die menschlich-geschichtliche Seite der Entstehung des Zeugnisses richtet. Diese Abgrenzung ist zwar nicht mehr vernünftig zu begründen, liefert sich aber eben darum einer nicht mehr reflektierten philosophischen Verengung aus. Die Reduktion auf Aussagenwahrheit ist eine biblisch-hermeneutische Katastrophe. Warum redet Jesus in Gleichnissen? Warum sind die biblischen Texte randvoll mit Metaphern und
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anderen poetischen Figuren? Ärgerlich sind die „handwerklichen“ theologischen Fehler der Erklärung. Wären die Verfasser Elektriker, so hätte sie längst der Stromschlag getroffen! Die Bibel kennt keine „Lehre“ von der Inspiration, ebenso wenig kann ich in Jesu pointierter Schriftauslegung eine „Lehre … über die Schrift“ erkennen (gegen Artikel 15). Überhaupt ist die Christologie weitgehend geschrumpft. Eigentlich hätte Gott sich die ganze Geschichte mit Israel – bis hin zu Fleischwerdung und Kreuzigung – sparen können, wenn letztlich ein Diktat irrtumsfreier Sätze genügt. Die „Chicago-Erklärung zur Biblischen Hermeneutik“ von 1982 vertieft diese Fehlentscheidungen noch: Die Verbindung von Gottes Wort und Menschenwort wird mit der Zwei-Naturen-Lehre begründet (CHE 2), aber die geniale Struktur der Formel von Chalcedon findet keinen Niederschlag. Es geht lediglich um die Absicherung der Unfehlbarkeit der menschlichen Schriftworte, analog zur Sündlosigkeit Jesu Christi in der Erniedrigung. Das ist eine grobe Vereinfachung der altkirchlichen Christologie: Gott hat in Jesus Christus als dem wahren und sündlosen Menschen die Sünde aller anderen Menschen getragen, sie also auch mit ihrer Sünde konfrontiert und damit letztlich seine Kreuzigung provoziert, um die Sünde hinweg zu tragen. Dieser Konflikt müsste im Kern jeder biblischen Hermeneutik liegen. Die biblischen Texte provozieren und erschüttern unser Denken, aber in einer befreienden Weise. Das kann nicht im Sinne „wahrer“ Sätze in der alltäglichen Bedeutung von „Wahrheit“ Ereignis werden. Diese naive Sicht geht nämlich von einer in sich feststehenden Wirklichkeit aus, der die wahren Sätze korrespondieren. Dieses Modell zerbricht bereits an der Wirklichkeit Gottes, die unsere ontologischen Fixierungen in Bewegung versetzt. Die Konsequenzen eines zu schlichten Wahrheitsbegriffes zeigen sich vor allem in der Einordnung von Gen 1 – wie auch der Urgeschichte – als „Tatsachenbericht“ (CHE 22). War oben vom „Gefälle“ die Rede, mit dem biblische Texte unsere scheinbar selbstverständlichen Denkgewohnheiten erschüttern, so ist davon in dieser Sicht nichts mehr zu spüren. Vielmehr geht es nun vornehmlich darum, die auffälligen „Widersprüche“ zwischen dem Schöpfungs-„bericht“ und der Naturwissenschaft zu glätten. Die biblischen Texte müssen gerettet werden vor der neuzeitlichen Kritik. Ansonsten liefern sie viel Material für eine konservative Lebensführung und (in den USA) für eine republikanische Politik. Dem (nicht nur amerikanischen) Fundamentalismus kontrastiert in der deutschen evangelischen Kirche eine Tendenz, die Fundamente aufzuweichen. Es geht dabei um die Bemühung, den christlichen Glauben verständlich zu machen. Diese Intention will zwar nicht die Vernunft dem Glauben überordnen, macht aber die menschliche „Erfahrung“ zum Kriterium. Nun
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ist die Kommunikation des Glaubens eine genuine Aufgabe der Theologie, insbesondere der Dogmatik. Allerdings kann dabei das Gefälle in Frage gestellt werden. Ein Indiz dafür sind die Texte, wie sie sich im Evangelischen Gesangbuch als mögliche Alternativen zum Glaubensbekenntnis finden. Glücklicherweise sind sie nicht als alternative „Bekenntnisse“ gemeint, sondern als Glaubenszeugnisse, die gelegentlich im Gottesdienst gesprochen werden können. Dazu gehört auch ein Text von Dietrich Bonhoeffer (EG 813), der wohl kaum damit einverstanden wäre, wenn eine Passage aus sei7 nem „Rechenschaftsbericht“ an Stelle des Apostolikums gesprochen wird. Diese liturgische Verwilderung ist die gegenläufige Tendenz zum Fundamentalismus, ein theologischer Liberalismus, der nicht mehr genau weiß, wo oben und unten ist. Die Freiheit, mit der evangelische Theologie immer wieder neu und anders von Gott in Jesus Christus reden darf, setzt voraus, dass nicht einfach alles zur Disposition steht. Wir sollten uns nicht (unter Absingung moderner geistlicher Lieder) den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Es zeichnet sich noch ein anderes Problem ab: Die „alternativen“ Zeugnisse tragen die Spuren aktueller (auch nicht mehr ganz frischer) theologischer Debatten der siebziger und achtziger Jahre. Dabei wird der Akzent deutlich verschoben: An die Stelle der immer wieder neu erklärungsbedürftigen, aber wesentlichen Gegenwart Gottes in Jesus Christus treten Formulierungen, in denen der Mensch Jesus von Nazareth „anschaulich“ werden soll. Das ist allerdings nicht der mit dem Vater wesensgleiche Sohn, sondern „der Gesandte der Liebe Gottes, von Maria geboren. Ein Mensch [!], der Kinder segnete, Frauen und Männer bewegte, Leben heilte und Grenzen überwand.“ Es ist der historische Jesus einer recht verflachten politischen Theologie. Dabei wird nicht durchsichtig, warum Gott im Tod dieses vorbildlich liebevollen Menschen „die Macht des Bösen gebrochen und uns zur Liebe befreit“ hat. Weil die Gegenwart Gottes in Jesus Christus als Pointe der klassischen Trinitätslehre ausgeblendet wird, kann die Liebe Gottes in ihrer letzten und auch uns umgreifenden Konsequenz nicht ausgesagt werden. Das „Zeugnis“ zielt letztlich auf die Gemeinschaft „von Schwestern und Brüdern, die nach Gerechtigkeit suchen“ (EG 816). Ich glaube das so nicht, und es ist eine Zumutung, wenn ich einen solchen Text im Gottesdienst rezitieren soll. Ich unterschreibe auch einen Vertrag erst, wenn ich ihn
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Vgl. DBW 8, 30f. Der Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ zur Jahreswende 1942/43 wurde für Eberhard Bethge, Hans von Dohnanyi und Hans Oster verfasst.
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genau gelesen habe. Sollte das Bekenntnis des Glaubens im Vergleich dazu eher unverbindlich sein? Der Text EG 816 ist „super-arianisch“8 – wie kommt so etwas ins Gesangbuch? Auch in EG 817 ist die Kreuzigung eher ein Betriebsunfall, abermals wird die „hohe“ Christologie in den Hintergrund gerückt. Die Probleme liegen hier noch an einer anderen Stelle, weil dieses „Glaubenszeugnis“ vor allem den „jüdisch-christlichen Dialog“ aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dokumentiert und den christlichen Glauben so formulieren will, dass ein (messianischer) Jude das Bekenntnis mitsprechen könnte. Nun gehört die Geschichte Israels sicherlich zu den Grundlagen des christlichen Glaubens – aber dazu wäre erheblich mehr zu sagen: Wie verhält sich die Gemeinde Jesu Christi zum Volk Israel? Welche Bedeutung kommt dem Gesetz für den christlichen Glauben zu (2Kor 3)? Warum sollte das Verhältnis der Kirche zu Israel konfliktfrei sein, solange der Konflikt im Sinne von Röm 9–11 als gewaltfreier (!), vielleicht geschwisterlicher Streit um das Reden von Gott ausgetragen wird? In der vorliegenden Fassung drängt EG 817 der Gemeinde eine theologische Position auf, die jeden Anschein von Anti-Judaismus vermeiden und jeden Kontrast eliminieren will. Das ist in der Kirche des Wortes eine ungehörige Entmündigung. Abermals wäre es die Aufgabe kirchlicher Bildungsarbeit, das altkirchliche Bekenntnis durchsichtig zu machen und erwachsene Gemeindeglieder anzuleiten, es im Hinblick auf das alttestamentliche Reden von Gott zu vertiefen. Gott wird in Jesus Christus nicht einfach Mensch, er wird Jude, ein Glied des erwählten Volkes Israel. Diese Einsicht hätte allem christlichen Anti-Judaismus (ganz zu schweigen von Anti-Semitismus) immer schon radikal den Boden entziehen müssen! Ich habe den amerikanischen Fundamentalismus konfrontiert mit zwei (wieder sehr unterschiedlich akzentuierten) Versuchen, das Glaubensbekenntnis „in moderner Sprache“ zu formulieren. In beiden Richtungen wird das Geheimnis des göttlichen Wortes eliminiert. Es wird im biblizistischen Fundamentalismus zur Rationalitätslücke – das wörtlich verstandene Wort der Schrift soll vorgängig abgesichert werden als Resultat göttlicher Inspiration, danach kann es aber seine Sprengkraft nicht mehr entfalten. Das liegt vor allem am naiven Verständnis von Wahrheit als Korrespondenz. Dann wird das biblische Zeugnis zu einer Ansammlung wahrer Aussagen. Wahre Aussagen müssten in dieser Sicht letztlich eindeutig sein. Metaphorische Wendungen 8
Der klassische Arianismus kennt immerhin eine Präexistenz des Sohnes!
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sind zwar in den biblischen Texten unübersehbar, könnten aber im Prinzip auch in „eigentliche“ Sprache übersetzt werden. Glaube wird hier reduziert auf die nur noch kognitive Akzeptanz von biblischen „Wahrheiten“, und zu einem solchen sacrificium intellectus muss man sich dann „entscheiden“.9 Die biblische Geschichte kann nur noch als historisches Faktum verstanden werden, was angesichts der Texte schlicht undurchführbar, aber auch gar nicht sinnvoll ist. Dann verschwindet nämlich die biblische Geschichte, die von der konfliktreichen und am Ende befreienden Verwicklung Gottes mit den menschlichen Geschöpfen erzählt. Es ist genau diese Erzählung, die in der Vielfalt ihrer Gestalten die Tiefe menschlicher Erfahrung mit Gott zur Sprache bringt – und zwar in der Kraft des Geistes, der auch unsere Geschichten in diese kurven- und spannungsreiche story hineinzieht. Die erzählte Geschichte stiftet die Identität von Personen und macht damit ihrerseits Geschichte. Die Wirklichkeit menschlicher Personen ist ihrem Wesen nach sprachlich, und zwar nicht im Sinne von Informationen, sondern durch stories. Daher kann ich mich in den biblischen Geschichten entdecken, und das ist wichtiger als die „historische“ Faktizität dieser Geschichten. Nehmen wir die „Verbal-Inspiration“ im oben angedeuteten Sinne ernst, so kommt es eher auf den inneren Zusammenhang dieser Geschichten an. Dieser Zusammenhang wird nicht etwa gestiftet durch historische Rekonstruktion, sondern durch die Bewegung des göttlichen Lebens in die menschliche Geschichte hinein, die natürlich auch historisch greifbare Spuren hinterlässt. Es kommt auch hier wieder auf das Gefälle an (vgl. zu Jes 55,8–11). Die narrative Struktur des biblischen Zeugnisses spottet jeder Reduktion auf eine „Satzwahrheit“. Die beiden „Glaubenszeugnisse“ EG 816 und 817 sind natürlich für die narrative Struktur des biblischen Wortes viel sensibler, blenden aber das Gefälle im Sinne von Jes 55,8–11 durch eine „Christologie von unten“ ab. Die Reduktion ist im ersten Fall ein verschleierter Moralismus, im zweiten Fall immerhin „messianisch“. So oder so wird das Nicaeno-Constantinopolitanum buchstäblich entkernt. Die ungeheuerliche Provokation – der für Vernunft und Frömmigkeit absurde Skandal (1Kor 1,23) – eines sich bis zum Ende am Kreuz entäußernden göttlichen Lebens wird eliminiert. So 9
Es ist nicht ganz einfach zu durchschauen, wie biblizistischer Fundamentalismus und evangelikaler Subjektivismus zusammenhängen, aber faktisch sind beide Tendenzen immer wieder ineinander verschlungen. Sollten beide in ihrer Geistlosigkeit konvergieren? Der Geist Gottes ist weder ein diktierender Geist noch ein menschlicher Geist, der sich entscheidend selbst verwirklicht.
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schwindet das Geheimnis des Glaubens – in EG 816 ganz, in EG 817 wird es ermäßigt zu einem für sich genommen wenig durchsichtigen Verweis auf die Erwählung Israels, die der Geschichte ebenso äußerlich bleibt wie die Auferweckung Jesu Christi. Gottes Gegenwart in dieser Geschichte wird unterdrückt. Das ist die eigentlich anstößige Pointe der 381 formulierten Trinitätslehre (und der 451 als Erläuterung präzisierten Zwei-Naturen-Lehre). Gerade dadurch ist das altkirchliche Bekenntnis gehalt- und kraftvoller. Es fordert immer wieder neu zur Konzentration auf das Geheimnis Gottes, in dem auch unser Geheimnis als gottebenbildliche Geschöpfe aufleuchtet. Wenn die altkirchlichen Dogmen zum einen die Grammatik der biblischen Texte auf den Punkt gebracht haben, ohne das Geheimnis zu eliminieren (anders als die „modernen“ Alternativen), zum andern für das gemeinsame Bekenntnis des Glaubens über die Zeiten hinweg sorgen und ihn von subjektiven (wenn auch noch so gut gemeinten) Deutungen unterscheiden, gehören sie zu den lebendigen Fundamenten des Glaubens. Es ist kein Fundamentalismus, wenn wir sie von der Alten Kirche dankbar entgegennehmen. Jeder Versuch, den Glauben „in moderner Sprache“ auszudrücken, sollte ernsthaft befragt werden, ob er nicht hinter das altkirchliche Bekenntnis und in die damals mit höchster begrifflicher Anstrengung überwundene Eindeutigkeit eines abstrakten Monotheismus zurückfällt. Abstract In theology as explication and reflection of Christian God-talk we find a distinction between principles or axioms and statements which can be made plausible by relating them to the axioms. These axioms articulate the fundamental conflict shaping God’s story with human creatures that reaches its culmination in the Christ story. Therefore, the axioms – the Trinitarian doctrine and the formula of Chalcedon – explicate God’s self-identification with the crucified Jesus Christ. These fundamental statements control our interpretation of the biblical story exactly by preventing reduction and simplification. This story cannot be exhausted and discloses infinite experience. The productive balance between axioms, biblical story, and actual experience must not be reduced to the traditional model of truth as correspondence, since the Divine Word is creative within our God-talk, especially by metaphors. Consequently, the fundamental statements are anti-fundamentalist in principle. Biblical fundamentalism is theologically inadequate and self-refuting, neglecting the productive tension in Christian God-talk and replacing biblical pneumatology by a simplistic model of inspiration. On the other hand, the elimination of the axioms by reducing the biblical story to actual experiences misses the inexhaustible depth of the Christian faith.
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Gespräch zwischen Disziplinen
Fundamentalistische Praxis Religiös und säkular – eine religionssoziologische Perspektive Heinrich Wilhelm Schäfer Anschläge in Paris und in Nizza, Axtangriff im Regionalzug, Kopftücher, der Islamische Staat, Wutdemonstrationen gegen Mohammed-Karikaturen, World Trade Center, Al-Qaida … – dies auf der einen Seite. Auf der anderen Kolonialregime, Zwangsarbeit, arabische Frauen gezwungen zur Gymnastik in Badeanzügen vor den Augen britischer Offiziere, Putsch gegen Mossadegh im Iran, Vertreibung der Palästinenser, Bombardierung Beiruts 1982, säkularistische Folterregimes im Pakt mit dem Westen, jüngst ein völkerrechtswidriger Raubkrieg der USA und Britanniens im Irak … Fundamentalisten sind immer die Anderen. Zudem zeigt schon der erste Teil dieser Aufzählung, dass die Diskussion dieses Themas stark den jeweils aktuellen Ereignissen unterworfen ist. Und der zweite Teil der Aufzählung sollte zweierlei klarmachen: Erstens, man kann die aktuellen Ereignisse auch von einer anderen Warte als der westlichen wahrnehmen. Zweitens, man braucht einen distanzierenden Blick und ein gerütteltes Maß an Faktenstudium, um die Position der Anderen verstehen zu können. Der Begriff des Fundamentalismus, wie er in der öffentlichen Diskussion verwendet wird, ist wenig geeignet, eine solche Distanzierung zu schaffen. Denn wie gesagt: Fundamentalisten sind immer die Anderen. Allerdings, gerade wegen der Gefahr des propagandistischen Missbrauchs sollte die Wissenschaft diesen Begriff nicht den Propagandisten überlassen. Fundamentalismus Ein soziologischer Begriff von Fundamentalismus sollte Folgendes leisten: Erstens sollte er so formal gefasst sein, dass die jeweils Anderen – u.U. auch Fundamentalisten – den Begriff im Gegenzug auch auf seine Verwender anwenden können. Zweitens sollte der Begriff nicht zum Pauschalisieren
Heinrich Wilhelm Schäfer, Fundamentalistische Praxis
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DOI 10.2364/3846998953
taugen, sondern zum genauen Hinsehen auf die sozialen Lagen und die Interessen von Akteuren. Aus dem zweiten Punkt leiten sich weitere Forderungen ab. Die Unterscheidung von Moderne versus Fundamentalismus ist inakzeptabel, weil sie fundamentalistische Ausprägungen der Moderne von vornherein ausschließt. Die Bezeichnung „fundamentalistisch“ kann nicht „wesenhaft“, sondern nur historisch(-soziologisch) auf religiöse oder soziale Bewegungen zugerechnet werden, denn Akteure verändern sich. Nicht jede klare religiöse Selbstdefinition ist schon fundamentalistisch – wenngleich sie einem europäisch-säkularen Intellektuellen (nahezu a priori) so erscheinen mag. Schließlich sollte der Begriff des Fundamentalismus nicht nur auf religiöse Praxis, sondern auch auf andere Praxisformen wie etwa Ökonomie oder Politik zurechenbar sein. Aus den genannten Gründen scheinen mir Arbeitsdefinitionen, wie sie in der Theologie gelegentlich verwendet werden, wenig hilfreich. Während es sicher richtig ist, dass die Entstehung des Begriffs (fundamentals) eng mit der Entstehung des konservativen Evangelikalismus in den USA verbunden ist, so ist diese genealogische Beschränkung des Begriffs heute wenig hilf1 reich. Ebenso wenig hilfreich scheint mir die Beschränkung des Begriffs auf einen bestimmten Umgang mit Texten, da die semantischen und semiotischen Operatoren, die zur Entstehung fundamentalistischer Haltungen führen keineswegs nur mit Texten funktionieren. Ich schlage folglich einen strikt formalen Fundamentalismusbegriff vor: Fundamentalistisch sind solche sozialen (und damit auch religiösen) Akteure, die (1) Überzeugungen (gleich welcher Art) absolut setzen und (2) daraus eine gesellschaftliche Dominanzstrategie ableiten, die das private und öffentliche Leben dem Diktat ihrer Überzeugungen zu unterwerfen sucht. Der Kontext (3) für eine solche Strategie ist die grundlegende Politisierung aller 2 Lebensverhältnisse in der Moderne. Ein solcher Fundamentalismusbegriff ist als Kombination von Kriterien (ein Modell, wenn man so will) konzipiert, das beobachtetes Handeln in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen 1
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Schon damals gab es etwa im Katholizismus (Vaticanum I) eine durchaus ähnliche Tendenz. Siehe Heinrich W. Schäfer, Religiöser Fundamentalismus als Ermächtigungsstrategie, in: Ökumenische Rundschau 41/4, 1992, 434–448, hier 443. Für weitere Literatur verweise ich auf unsere Bielefelder Website: www.uni-bielefeld.de/religionsforschung (Suchmaschine: cirrus uni bielefeld). Dieser Prozess wird von Dieter Senghaas „Fundamentalpolitisierung“ genannt: Zum irdischen Frieden, Frankfurt 2004, 28 ff. Ich vermeide lediglich den Begriff, um keine Assoziationen zum Fundamentalismus aufkommen zu lassen.
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Praxisfeldern (also nicht nur Religion) als fundamentalistisch bzw. nichtfundamentalistisch zu klassifizieren erlaubt. Das erste Kriterium zielt auf die Absolutsetzung eigener Überzeugungen als Mittel der kollektiven Identitätsbildung. Die Akteure (in unserem Fall erst einmal religiöse) ziehen unüberwindbare Grenzen gegenüber anderen, indem sie ihrer eigenen Glaubensüberzeugung absolute (und damit auch universale) Geltung zuschreiben. Sie setzen sich damit zunächst von liberalen Angehörigen ihrer eigenen Position ab, die als Häretiker gesehen werden. Sodann heben sie sich religiös-symbolisch aus ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs- und Herrschaftszusammenhang heraus. Der zur Identitätskonstruktion verwendete Glaubensinhalt kann dabei sehr unterschiedlich sein; keineswegs immer eine Schrift (die Bibel oder der Koran), wie das von vielen Autoren betont wird. Fundamentalisten können auch den Mahdi, die Kraft des Heiligen Geistes, die Zionsverheißung, das Beispiel der Herrschaft des Propheten in Medina oder sonst etwas favorisieren. In jedem Falle ist mit der Art der Selbstzuschreibung immer eine passende Art der negativen Fremdzuschreibung von Identität auf die Gegner verbunden. Die jeweiligen Glaubensinhalte sind dabei in den Praxiszusammenhängen nicht gleichgültig. Sie sind an religiöse bzw. politische oder kulturelle Traditionen gebunden, entsprechen einer spezifischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen und sind an den Handlungschancen der Akteure orientiert. Nur so können sie religiösen Sinn stiften, spezifische Identitäten herausbilden, zur gesellschaftlichen Mobilisierung beitragen und über religiöse Identitätsbezeugungen etwa Politik gestalten. Ähnliches kann man über Positionen in Wirtschaft oder Politik sagen. Neoliberale Wirtschaftspropheten bleiben trotz Systemkrise bei Ihren Dogmen; Politiker behaupten die von ihnen vertretenen Systeme als alternativlos und wesensmäßig legitimiert. Die Absolutsetzung des Eigenen allein lässt allerdings noch nicht auf Fundamentalismus schließen. Das zweite Kriterium spezifiziert den Fundamentalismusbegriff, indem es Dominanzstrategien einbezieht. Max Weber hat zwischen religiösen Strategien der Weltflucht und der Weltbeherrschung unterschieden. Wenn 3 man allerdings beide Strategien auf Fundamentalismus anwendet , wird der Begriff unscharf. Menschen, die sich vor extremer Repression schützen, 3
Martin Riesebrodt, Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der elektronischen Medien (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen), Stuttgart 1987, 4f.
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indem sie sich in eine abgeschlossene Gemeinschaft zurückziehen und die Welt fliehen, ihre Mitmenschen ansonsten aber in Frieden lassen und sie freundlich grüßen, sollten nicht als Fundamentalisten bezeichnet werden. Ein weiter Fundamentalismusbegriff würde solche Menschen mit Zeitgenossen zusammenwürfeln, die ihre Existenzberechtigung darin sehen, der Öffentlichkeit absolute Begriffe von gut und böse unter Umständen mit Gewalt aufzunötigen. Die Differenz zwischen diesen Verhaltensweisen lässt sich praktisch bei allen religiösen Bewegungen feststellen. Im Evangelikalismus oder der Pfingstbewegung, ebenso wie bei islamischen Bewegungen oder Hindutva lassen sich solche Gruppen ausmachen, die sich in Enklaven zurückziehen, und andere, die aggressive politische Machtstrategien verfolgen. Beide setzen ihre religiösen Überzeugungen absolut; die einen zum Schutz, die anderen zum Machterwerb. Wenn der Fundamentalismusbegriff in religiösen, sozialen und politischen Zusammenhängen trennscharf sein 4 soll, empfiehlt es sich, mit Eisenstadt dem „jakobinischen“ Charakter des Fundamentalismus besonderes Gewicht beizumessen. Fundamentalisten versuchen, bestimmte Praxisfelder oder gar ganze Gesellschaften gemäß ihren Überzeugungen zu gestalten – notfalls, aber keineswegs immer, mit Gewalt. Der Kampf um gesellschaftliche Dominanz und politische Herrschaft (und nicht der Gebrauch von Medien oder Boden-Luft-Raketen) macht Fundamentalismen zu modernen sozialen Bewegungen. Diese Kriterien, die Absolutsetzung des Eigenen und die Dominanzstrategie, sind abhängig voneinander. Eine bestimmte Handlungsweise kann nur dann als fundamentalistisch bezeichnet werden, wenn sie beiden Kriterien genügt. Die bloße Absolutsetzung eigener Überzeugungen kann, wie schon gesagt, ein Schutz gegen Repression sein, ohne dass Universalitätsansprüche praktisch geltend gemacht werden. Umgekehrt kann es nötig und über das Widerstandsrecht legitimiert sein, gegen eine Diktatur revolutionäre Gewalt anzuwenden, um allgemeine politische Beteiligung (und somit 5 nicht absolut gesetzte eigene Positionen) durchzusetzen. Folglich kann gemäß unserem Doppelkriterium ein sozialer Akteur nur dann als funda-
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Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000 – Ders., Fundamentalism, Phenomenology, and Comparative Dimensions, in: MartinE. Marty/R. Scott Appleby (Hg.): Fundamentalisms comprehended. The Fundamentalism Project, Vol. 5, Chicago 1995, 259 276. Ähnlich Martin E. Marty/R. Scott Appleby, Herausforderung Fundamentalismus. Frankfurt 1996, 15 (mit dem Beispiel der Familien Yoder und Morris).
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mentalistisch bezeichnet werden, wenn er eine Überzeugung absolut setzt und mit Dominanzstrategien gesellschaftlich durchzusetzen sucht. Das dritte Kriterium bezieht sich weniger auf die Einstellungen und Strategien der Gruppen selbst als auf ihren Handlungskontext. Religiöse Fundamentalismen entstehen in der Auseinandersetzung sozialer (oder spezifischer: religiöser) Akteure mit der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne. Das betrifft einerseits die Technologie, vor allem aber die Entscheidungs- bzw. Herrschaftsstrukturen. In der Literatur ist man sich einig, dass Fundamentalisten (im Gegensatz zu Traditionalisten!) mit moderner Technologie keine Schwierigkeiten haben. Ihr Problem und zugleich ihre Chance ist die grundlegende Politisierung (Senghaas) aller gesellschaftlichen Verhältnisse in der Moderne: Identitäten, Lebenswege, religiöse Orientierungen, Sexualität, ökonomische Chancen usw. – alles wird von Traditionen entkoppelt und zum Gegenstand des privaten und öffentlichen Aushandelns von Interessengegensätzen. Genau hier greifen die jakobinischen Strategien von Fundamentalisten. Fundamentalisten versuchen also nicht primär, traditionelle gesellschaftliche Organisation (etwa Altershierarchien in indianischen Dörfern) gegen Veränderung abzusichern. Das Schlachtfeld der Fundamentalisten sind die Konflikte um das moderne Leben selbst. Traditionelle Kleidungsstücke beispielsweise oder Familienstrukturen sind nicht mehr einfach, was sie mal waren, sondern werden von fundamentalistischen Gruppierungen zu Emblemen für ihre Machtansprüche über die Gesellschaft als Ganze gemacht. Fundamentalistische Akteure agieren nach dem höchst modernen Muster sozialer Bewegungen. Im Blick auf die heute besonders augenfällige Opposition zwischen islamischem und christlichem Fundamentalismus lässt sich durch die Anwendung des Doppelkriteriums feststellen, dass weder Evangelikalismus noch Islamismus als Ganze fundamentalistisch sind. Aus soziologischer Perspektive sind noch weitere Unterscheidungen von Bedeutung. Zunächst sollte man nach Organisationsstufen differenzieren: Führungskader, Aktivisten und mobilisierbare Unterstützter in der Bevölkerung. Sodann macht es Sinn, verschiedene Phasen voneinander zu unterscheiden: Bewegungen können fundamentalistische Phasen durchlaufen, sich mit veränderten Handlungsmöglichkeiten aber auf demokratische Prozeduren einlassen und im Laufe der Zeit ihre fundamentalistischen Eigenschaften verlieren (wie etwa der Fall bei großen Teilen der ägyptischen Muslimbrüder bis 2013). Von besonderer Bedeutung ist es, die spezifische soziale Positionierung der Akteure zu berücksichtigen: zum einen ihre soziale Schichtenzugehörigkeit inklusive der entsprechenden Laufbahnperspektive; zum anderen ihre Positionierung in der jeweiligen Moderne (europäisch, US-amerikanisch, isla-
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misch, chinesisch etc.) und deren gesellschaftlichen Prozessen. Nur wenn man diese unterschiedlichen Positionierungen beachtet, werden die spezifischen Dynamiken fundamentalistischer Praxis hinreichend deutlich. Dazu kann in diesem kurzen Beitrag nur eine ganz knappe kontrastive Skizze zweier besonders aktueller Vertreter fundamentalistischer Strategien geliefert werden, des US-amerikanischen und des islamischen Fundamentalismus.6 Da im Blick auf den Islam gern von „Islamismus“ gesprochen wird, um zum Ausdruck zu bringen, dass religiöse Überzeugungen sozio-politisches Programm sind, werde ich hier im Blick auf derart programmorientierte Christen von „Christismus“ sprechen. Christismus Im Protestantismus der USA finden sich zwei Phasen starker fundamentalistischer Aktivität: die Jahrhundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert sowie die zum einundzwanzigsten. Die erste Phase – die intellektualistisch moderne, sozusagen – stand unter dem Zeichen des biblischen Literalismus. Die aktuelle Aktivitätsphase – die magisch-postmoderne, beginnend etwa in den achtziger Jahren – wird von neopfingstlichen Medienunternehmern getragen und setzt direkte Eingebungen des Heiligen Geistes für diese Herrschaften sowie eine aktivistische apokalyptische Zeitkonzeption absolut. Historisch blickt das US-amerikanische Christentum, also auch seine fundamentalistischen Strömungen, zurück auf eine mit Unabhängigkeitskrieg und Staatsgründung bereits realisierte Revolution der Moderne. Die spezifisch US-amerikanische Moderne beruht auf der religiös legitimierten Schöpfung einer Nation quasi ex nihilo sowie der gegenseitigen Bedingung von Nation und christlicher Religion – bei gleichzeitiger institutioneller Trennung von Staat und Kirchen. Für ihre Bürger verkörpert die Nation die gelungene Revolution. Sie ist Gestalt gewordene Utopie, „Stadt auf dem Berge“, „Licht der Völker“. Das American System braucht also in Zukunft nicht mehr revolutioniert, sondern nur noch immer wieder einmal gereinigt und auf seine Ursprünge zurückgeführt zu werden. Politischer Traditionalismus wird so zum retrograden revolutionären Operator. Heute verbindet das fundamentalistische Sozialmilieu stagnierende (meist evangelikale) und aufsteigende (meist charismatische) Positionen der 6
Eine genauere Analyse findet sich in Heinrich W. Schäfer, Kampf der Fundamentalismen, Frankfurt 2008.
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unteren und oberen Mittelschicht zu einem gesellschafts- und außenpolitischen Kraftpol, der von den Organisationen der Religiösen Rechten repräsentiert wird, zum Teil von der sogenannten Tea Party. Die Absolutsetzung der eigenen Position erfolgt dabei tendenziell schichtenspezifisch. Die aufsteigenden Charismatiker legen den Akzent auf ihre Rolle in der „geistlichen Kriegsführung“ und aktivistischen Apokalyptik. Für America ist es immer „fünf vor Zwölf“ in der Bekämpfung seiner Feinde. In der stagnierenden Mittelschicht bleibt hingegen der evangelikale Ansatz dominant, der sich allerdings in nationalistische Politikstrategien nahtlos einbinden lässt. Beide Strömungen bedienen sich der für US-amerikanische Politik charakteristischen Verbindung von Recht, Moral und Religion, ohne die Grenzen zwischen Staat und Kirchen prinzipiell in Frage zu stellen, wohl aber bemüht, die Verfassung religiös umzugestalten. Modern ist der US-Fundamentalismus vor allem durch seine Identifikation mit dem US-amerikanischen Modell: der Schaffung einer Nation aus einem religiös-politischen Willensakt des Volkes, der Konkretisierung einer Utopie. Diese Identifikation mit dem Gründungsmythos führt den Fundamentalismus in Übereinstimmung mit dem „Amerikanismus“ der Grand Old Party und den von den Republikanern repräsentierten technokratischen und militärischen Oligarchien, ohne dass Fundamentalisten deshalb selbst technokratisch wären oder die Oligarchen religiös-fundamentalistisch. Ihre Handlungschancen lassen sich die Fundamentalisten folglich durch das amerikanische politische System vorgeben. Innenpolitisch tendieren sie weniger zur eigenen Machtübernahme und Verantwortung als zu lobbyistischen Einfluss-Strategien auf bestehende Machtzentren, meist in Synergie mit den Technokraten. Außenpolitisch – besonders in der heutigen Hegemoniekrise – geht es ihnen in fundamentalistisch-technokratischem Schulterschluss um America als kulturell-religiöses Ideal. America ist Christentum und das Christentum ist amerikanisch. Die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen gegenüber den Fremden wird zur Christenpflicht. Und gemäß dem Gründungsmythos erscheinen die Länder der Fremden nur als Wüstenei jenseits der Siedlungsgrenze (frontier). Auf diese Weise werden internationale Interessenskonflikte in Identitätskonflikte verwandelt. Der Fundamentalismus in den USA trägt zur Verschärfung bestehender Konflikte bei, indem er politische Interessensgegensätze religiös radikalisiert. Fundamentalisten sagen etwa über „den“ Islam das, was die Civil Religion nicht sagen darf, nämlich dass er dämonisch sei. Insbesondere die charismatische, postmillenaristische Apokalyptik platziert die aggressive Außenpolitik technokratischer Globalisten als Protagonistin des Guten in ihrem metaphysischen Skript des Geschichtsverlaufs: der Kampf des Guten und Göttlichen
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gegen die dämonischen Mächte des Bösen (so etwa in den Romanen von Frank Perretti, der Left Behind-Serie und den entsprechenden Ballerspielen für Computer). Interessensidentitäten zwischen Technokraten und Fundamentalisten, die in der Innenperspektive bloße Übereinstimmungen von objektiven Positionen im gesellschaftlichen Raum sind, verdichten sich in der Perspektive nach außen zum strategischen Schulterschluss der Akteure. Die Fundamentalisten sind auch in dieser Hinsicht keine neokonservativen Technokraten; aber gerade dadurch, dass sie selbst keine sind, sondern die American religiösen Werte mobilisieren, sind sie die besten Verbündeten der Technokraten. Die Synergien zwischen Neocons und religiösen Radikalen unter der Regierung G. W. Bush stehen exemplarisch für eine solche Verbindung. Der Irak-Krieg seit 2003 kann als die entsprechende Form des Aufzwingens eigener, absolut gesetzter Überzeugungen auf Andere gewertet werden – nicht zuletzt, wenn man das delikate Detail berücksichtigt, dass Kenneth Graham (der Sohn Billys) gleich nach Bushs Mission AccomplishedAuftritt christliche Missionare in den Irak geschickt hat, um das Werk Bushs und Cheneys mit expliziter Christianisierung zu vollenden. Islamismus Die faktische Auslöschung der irakischen Mittelschicht durch das Wirtschaftsembargo seit 1990 (UNO Resolution 661) und der Irakkrieg 2003 sowie das aus beidem folgende Chaos im Irak hat in jüngster Zeit – provokativ gesagt – für einen größeren militärisch-religiösen Versuch der autonomen Reorganisation der dortigen Gesellschaft geführt: dem Islamischen 7 Staat. In Ermangelung politischer Organisationsmöglichkeiten hatte der Ableger der – von den USA mit geschaffenen – Al-Qaida im Irak leichtes Spiel, entlassene Beamte sowie Militär- und Geheimdienstangehörige unter den Kampfbannern des Islams zu rekrutieren. Religiöse Identität fungiert als Operator politischer Mobilisierung. In welchem historischen Zusammenhang steht diese Form religiöser Plausbilisierung politischer Strategien? Im sunnitischen Islamismus des Nahen Ostens lassen sich ebenfalls zwei Entwicklungsphasen unterschieden. Die erste wurde vor allem von den Muslimbrüdern getragen; sie gipfelt in deren bewaffneten Aktivitäten gegen 7
Die US-Verwaltung unter Paul Bremer hatte dies verboten und stattdessen mit religiösen und ethnischen Führungspersonen verhandelt und somit die religiöse und ethnische „Identisierung“ der Politik im Irak vorangetrieben.
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das säkularistische Nasser-Regime in Ägypten und der Ausbreitung der Bruderschaft im arabischen Raum. Hier geht der Kampf gegen die als „Ungläubige“ disqualifizierten muslimischen Feinde im Inneren. Demokratische Erfolge der Bruderschaft in jüngerer Zeit (Präsident Mursi) wurden mit einem westlich orientierten Militärputsch 2013 blutig zunichtegemacht. In der jüngeren Geschichte können vor allem Al-Qaida und der Islamische Staat als fundamentalistische Akteure par excellence gelten. Ersterer hat mit der Ideologie von „Treue und Bruch“ die weltweite, individuell verpflichtende Gewalt gegen Feinde des Islams propagiert. Letzterer verfolgt aufgrund der Lage im Irak eine territoriale Strategie mit sekundärem Terroreinsatz in westlichen Ländern Historisch entsteht der islamische Fundamentalismus unter genau umgekehrten Kontextvoraussetzungen wie der US-amerikanische. Die Moderne kommt nicht im Zuge einer selbstbestimmten De-Kolonisierung, sondern umgekehrt als unterdrückende Kolonisierung durch westliche Mächte. Sie ist mit Kolonialverwaltungen, autoritären Regimes westlicher oder sowjetischer Prägung und mit Säkularismus identifiziert. Die islamischen Fundamentalisten interpretieren diesen Gegensatz zwischen säkularem Westen und islamischem Orient als eine Ehrverletzung für den Islam. In sozialer Hinsicht gehören die Aktivisten des islamischen Fundamentalismus vielfach gesellschaftlichen Zwischenschichten an, die am Aufstieg gehindert werden. Sie nehmen eine doppelte Unterdrückung wahr: unter dem Zugriff des Machtzentrums im Westen und unter den meist autoritärsäkularistischen Machthabern ihrer eigenen Gesellschaften. Sie setzen ihre eigene Position gegenüber den Gegnern absolut durch Bezug auf die Autorität des Korans sowie auf Utopien einer islamischen Theokratie. Die fundamentalistische Utopie wird als Wiederherstellung der Ehre des Islams wahrgenommen. Der Koran ist als Quasi-Verfassung aus göttlicher Offenbarung zwar mit einem universalistischen Geltungsanspruch verbunden. Doch faktisch richten sich die Kontrollstrategien nur auf das nächst höhere Zentrum: die islamische Welt, die umma. Lediglich im Terrorismus gegen westliche Ziele schafft sich ein universaler Anspruch praktisch-militärische Geltung als Affirmation und symbolische Wiederherstellung der eigenen Ehre. Die Handlungschancen der islamisch-fundamentalistischen Bewegungen müssen von diesen selbst über die anti-systemische Mobilisierung von Freiwilligen in sozialen Bewegungen und Kaderorganisationen erzeugt werden. Dabei kommen – besonders im Fall Al-Qaidas – bewegungsexterne Finanzquellen unterschiedlichster Interessenlagen dazu. Im Fall des Islamischen Staates stehen (auch) territorial verortete Finanzquellen zur Verfügung, wie
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etwa Erdölverkäufe oder Steuererhebung. Die Handlungslogik folgt in hohem Maße identitätspolitischen Mustern, insofern als zur Mobilisierung soziale und politische Interessenskonflikte in religiöse Identitätskonflikte umgewandelt werden. Dabei muss die religiöse Mobilisierungskraft so stark sein, dass sie eigenständig politisches bzw. militärisches Handeln freisetzen kann (da ja der islamische Fundamentalismus, anders als der USamerikanische, keine von herrschenden Schichten eröffneten Handlungsspielräume vorfindet). Anstatt sich staatlichen Interessenspolitiken religiös anschließen zu können, ist der islamische Fundamentalismus in der Regel – mit der Ausnahme Irans und Afghanistans unter den Taliban – darauf angewiesen, permanent islamische Identität als eine „Religion unter Beschuss“ neu zu konstruieren bzw. am Leben zu erhalten. In diesem Sinne fungieren reale Attacken von außen (insbesondere der „Kreuzritter“) oder auch publizistisch ausgeschlachtete „Beleidigungen“ als wichtiges Mittel der Mobilisierung. Zum anderen macht diese Dynamik der Erzeugung von religiösfundamentalistischen Identitäten es notwendig, mögliche Friedensbemühungen durch Waffengewalt zu unterlaufen. Die dabei entstehende Gewalt nach außen stärkt wiederum die fundamentalistische Identität. Die Dynamik dieses prekären Zusammenhangs von religiös-paramilitärischer Identitätsstiftung macht deutlich, wie wichtig die Emblematik gewaltsamer Aktionen nach außen für die innere Stabilität und Dauer der Bewegungen sind. Das wurde besonders deutlich in Bin Ladens charismatischen Videoauftritten und wird in der Netzpropaganda des Islamischen Staates perfektioniert. Gerade die Tatsache, dass der aktuelle islamische Fundamentalismus in höchstem Maße von seiner Organisationsform als einer kaderkontrollierten sozialen Bewegung bestimmt wird, macht seine Modernität aus. Modern ist er keineswegs nur in seiner Verwendung von Technik, sondern vor allem darin, dass er als Bewegung Politik utopisch-revolutionär konzipiert – jakobinisch also. Prozedural-demokratische Modernität kann akzeptiert werden, wenn sie den Bewegungszielen nützt oder mindestens nicht schadet. Dadurch wandelt sich jedoch die Bewegung, wie die ägyptischen (und auch die jordanischen) Muslimbrüder unter Beweis gestellt haben. Bei Bewegungen mit dem Ziel des Kalifats dürfte dies allerdings bedeutend schwieriger sein. Hermeneutische Modernität zu akzeptieren ist tendenziell fundamentalistischen Bewegungen im Islam ebenso unmöglich wie denen im Christentum. Damit wäre ihr religiöser Absolutheitsanspruch ebenso gefährdet wie ihre Expansivität. Doch selbst wenn Republiken mit institutioneller Trennung von Politik und Religion aus islamistischen Bewegungen entstehen (sollten), wie dies in Ägypten unter Mursi möglich gewesen wäre, wäre der politische Diskurs mit größter Wahrscheinlich stark von Religion ge-
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prägt – und wäre darin dem Verhältnis von Religion und Politik in den USA durchaus ähnlich. Praxislogiken Welches sind nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Fundamentalismen? Die Gemeinsamkeiten liegen darin, dass beide in einem technokratischen Sinne modern und politisch mehr oder weniger anpassungsfähig sind. Sie sind nicht grundsätzlich gegen demokratische Prozeduren, aber sie bekämpfen Säkularismus im Interesse religiöser Machtansprüche in der Politik. Die Unterschiede sind markanter. Hinsichtlich der Befürwortung bzw. der Anwendung von Gewalt lässt sich Folgendes festhalten. Der muslimische Fundamentalismus propagiert irreguläre Gewalt von unten gegen Regierungen, Militär und mittlerweile auch Zivilbevölkerung. Der US-amerikanische Fundamentalismus legitimiert und propagiert militärische Gewalt gegen fremde Staaten und Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel Präventivkriege, geheimdienstliche Morde und Folter. Im Blick auf die Modelle sozialer Organisation optiert der islamische Fundamentalismus für staatlich organisierte innere und für internationale Gerechtigkeit. Dagegen propagieren US-amerikanische Fundamentalisten Besitzindividualismus sowie neoliberale Prosperitäts- und Exklusionsstrategien. Dies dürfte wohl die entscheidende Differenz zwischen beiden Fundamentalismen sein. Dieser Unterschied verweist zudem in besonderem Maße auf die unterschiedlichen sozialen Positionen, die beide Fundamentalismen im globalen sozialen Raum besetzen. Skizziert man, wo die beiden Fundamentalismen im Raum der globalen Verteilung von Macht und Fortschritt stehen, ergibt sich folgendes Bild. Der US-amerikanische Fundamentalismus ist weit oben positioniert und mit der Position der technokratischen neoliberalen Oligarchie der USA – global gesehen – in etwa identisch. Der islamische Fundamentalismus hingegen nimmt die Position einer globalen, mäßig modernisierten Mittelschicht ein. Unterhalb des Fundamentalismus sind im traditionellen Bereich noch kommunale bzw. kommunitaristische Bewegungen angesiedelt, wie etwa Hindu-Organisationen, und im modernen Bereich politische Organisationen und soziale Bewegungen der Dritten Welt. Damit steht der islamische Fundamentalismus in der klassischen Position revolutionärer Mittelschichten, die in der Lage sind, untere Schichten für ihre Ziele zu kooptieren. Dieses Panorama ist besonders interessant, wenn man nicht aus nordatlantischer oder eurozentrischer Position schaut,
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sondern versucht, die Perspektive derer einzunehmen, die unten im Raum stehen. Aus diesem Blickwinkel beteiligt sich der US-Fundamentalismus an einem aggressiven Ausbau von Privilegien einer Supermacht auf Kosten der restlichen Welt. Dagegen hat der islamische Fundamentalismus eine Position, aus der er die Rolle eines Vorkämpfers sozialer Gerechtigkeit einnehmen kann. Dem ist förderlich, dass viele islamistische Bewegungen, wie etwa Hamas oder Hisbollah, ihren religiös-politischen Aktivismus mit wirksamen Sozialprogrammen und einer politischen Gerechtigkeitsforderung verbinden. Sogar für den IS trifft zu, dass er – neben Massakern und Folter – in den von ihm kontrollierten Gebieten Sozial- und Infrastrukturprogramme vorantreibt. Das alles kann einen Robin Hood-Effekt zeitigen. Die große Masse der Kommunalisten, die sich auf ihre ethnischen und/oder religiösen Gemeinschaften zurückziehen, werden Sympathien empfinden; und politisch-säkular mobilisierte Revolutionäre entdecken womöglich objektive Interessensidentitäten. Wir können festhalten, dass die beiden Fundamentalismen in der globalen Machtverteilung auf unterschiedlich starken und miteinander konfligierenden Positionen stehen. Dabei haben die islamischen Fundamentalisten die Chance, andere Akteure der Dritten Welt für ihre Ziele zu gewinnen; ihr US-Amerikanisches Pendant steht mit seiner Dominanzstrategie allein. Was die Rationalität ihres Handelns angeht, so ist – in einem instrumentalistischen Sinne von Rationalität – keine der beiden fundamentalistischen Akteursgruppen irrational; nicht einmal darin, dass sie religiös sind. Jede für sich genommen hat eine durchaus rationale Strategie der Interessenvertretung einer bestimmten Position im Raum der globalen Machtverteilung. Beide bisher untersuchten Fundamentalismen setzen bestimmte religiöse Inhalte absolut und streben auf dieser Grundlage die Beherrschung eines übergeordneten Machtzentrums an. Aber Fundamentalist in diesem Sinne kann man auch sein, wenn man andere Überzeugungen als religiöse verabsolutiert und mit Herrschaftsstrategien verbindet. Fundamentalismus ist – wie oben schon bemerkt – nicht damit definiert, dass man ihn als irrationale religiöse Verirrung gegen die Wahrheit säkularer Rationalität absetzt. Aus der Perspektive unseres Doppelkriteriums ist auch ein kritischer Blick auf Europa geboten, denn Säkularismus und Rationalismus können ebenfalls absolut gesetzt werden und in Dominanzstrategien münden. Säkularismus Man kann die Auseinandersetzung europäischer Intellektueller mit fundamentalistischer Praxis – also auch den vorliegenden Band – als Manöver in
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einem globalen Kampf um Deutungshoheit auffassen (ein Kampf der wiederum nur ein strategisches Moment unter vielen anderen ist, wie z.B. die Kämpfe um Ressourcenzugang, industrielle Dominanz, Finanzmarktkontrolle, Handelsvorteile und militärische Vorherrschaft). Im Blick auf mögliche europäische Positionen im Kampf um Deutungshoheit stellt sich die Frage, welche der praktischen Ausformungen europäischer Moderne stark gemacht werden und wie sie im Lichte unseres FundamentalismusKriteriums bewertet werden sollten. Kann man von nicht-religiösem europäischem bzw. westlichem Fundamentalismus sprechen? Ich unterscheide drei Stränge der europäischen Moderne, die ein sehr unterschiedliches Bild abgeben. Bei der Differenzierung der ersten beiden Stränge beziehe ich mich auf Shmuel Eisenstadt. Dieser unterscheidet in seiner Theorie europäischer Moderne zwischen technokratischer und reflexiv-demokratischer Moderne. Mir scheint es angezeigt, die Klassifikation um einen dritten Strang zu erweitern und damit den zweiten etwas stärker zu spezifizieren: − instrumentell-technokratische, − prozedural-demokratische und − hermeneutisch-pluralistische Moderne. Der politisch-kulturelle Aspekt der so genannten „zweiten Moderne“ (Beck) wäre damit in der Klassifikation durch den Typus der „hermeneutisch-pluralistischen“ Moderne für sich gewürdigt. Diese drei Strömungen sind in unterschiedlicher Weise anfällig für beziehungsweise resistent gegen Fundamentalismus, und zwar religiösen ebenso wie säkularen. Religion allerdings spielt für die europäische Moderne eine sehr geringe und vor allem eine negative Rolle. Damit verhält es sich in der europäischen Moderne exakt umgekehrt wie in der US-amerikanischen oder der islamischen. In Europa wird das Schwert der bürgerlichen Revolution gegen Kirche und Adel geführt. Der politische Diskurs wird a-religiös bis anti-religiös. Doch das schützt nicht gegen Fundamentalismus. Auch Anhänger säkularer Ideologien können ihre Überzeugungen absolut setzen und die Herrschaft über andere anstreben. In der FundamentalismusLiteratur der achtziger Jahre wurde immer wieder einmal hervorgehoben, dass auch die westliche Moderne sich fundamentalistisch gebärden kann. Dieses Urteil trifft vor allem für die instrumentell-technokratische Moderne zu. Dementsprechend werde ich im Folgenden zunächst diese diskutieren. Die prozedural-demokratische Moderne – in ihrer etwas ambivalenten
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Zwischenstellung zwischen beiden anderen Strömungen – werde ich aus Raumgründen hier nicht berücksichtigen8, sondern, im Gegenzug zur technokratischen Strömung, die hermeneutisch-pluralistische als spezifisch europäisches bzw. westliches Antidot gegen Fundamentalismus stark machen. Die technokratisch-instrumentelle Strömung der Moderne birgt, wenn sie nicht von prozedural-demokratischer und/oder reflexiv-hermeneutischer Moderne kontrolliert wird, ein spezifisches Fundamentalismus-Risiko. Sie ist in der industriellen Revolution entstanden und Grundlage der Meisterschaft des Westens in der technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft. Empiristische Erkenntnistheorie, materialistisch zweckrationales Planen, methodologischer Individualismus und Technik gewinnen nicht nur an Bedeutung für die Naturbeherrschung, sondern auch für Wirtschaft, Krieg und Sozialtechnologie. Dieser Rationalitätstypus wird gefördert durch einen gesellschaftlichen Strukturwandel seit der frühen Moderne. Die Ökonomie gewinnt gegenüber der Politik immer mehr an Steuerungskraft – ein Prozess, der sich durch die Transnationalisierung der Wirtschaft und die entsprechenden globalistischen Strategien der Wirtschaftsakteure und ihrer politischen Wegbereiter in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat. Das technokratische Programm der rein „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) ist durch Kolonialismus, Technisierung, militärische Dominanz und ökonomische Vereinheitlichung im Hinblick auf seine weltweite Verbreitung der heute wichtigste Strang europäischer und US-amerikanischer Moderne. Für dieses Pro-gramm stehen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die neoliberalen Diktaturen in Lateinamerika (und die deutsche Zusammenarbeit mit ihnen etwa durch Waffenexporte an Juntas) ebenso wie die jüngste Regime Change-Politik in arabischen Ländern, die in säkularistischer Absicht religiös-fundamentalistische Reaktionen produziert. In den (neo-)kolonisierten und modernisierten Gesellschaften ist der Effekt des Technokratie-Impulses ambivalent. Einerseits lassen sich Versprechungen der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung einlösen; dies allerdings fast nur für neue Mittelschichten im Service- und Finanzsektor bei bleibend prekärer Lage. Dadurch ist dieser Typ von Moderne vor allem für die Herrschenden interessant. Durch das Fehlen einer wirklich demokratischen 9 Komponente läuft diese Modernisierung zugleich auf Post-Demokratien
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Siehe dazu Schäfer, Kampf, 206ff. Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt 2008.
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oder autokratische Gesellschaftsformen sowie auf ökonomische, soziale und kulturelle Marginalisierung großer Bevölkerungsanteile hinaus. Dem leistet die immanente Logik der Technokratie Vorschub. Die einseitige Fixierung auf technische und wirtschaftliche Nutzenmaximierung birgt eine Tendenz zur Absolutsetzung der eigenen Zwecke und Mittel. Diese kommt zustande, wenn Nutzen und Wahrheit gleichgesetzt werden, wenn also gesellschaftliche Transzendenz in der Reproduktionslogik des technokratischen Systems selbst verortet wird, sich das System selbst zum Zweck wird und der Mensch dem System zum Mittel. Die Annahme, dass Technologie überall denselben Funktionsprinzipien unterliege, läuft zudem auf die Vorstellung universaler Geltung technokratischer Logik hinaus. Die Tatsache schließlich, dass nur der Erfolg – technisches Funktionieren sowie wirtschaftliche Akkumulation und deren elitäre Aneignung – zählt, verleiht dem System eine expansive Logik. Dazu kommt die Unterwerfung des Individuums unter das technokratische Funktionssystem, indem die Logik des Systems auf einem theoretischen Trugbild des lebendigen Individuums aufbaut. Der „methodologische Individualismus“ entwirft das mathematische Modell eines rational handelnden und Nutzen maximierenden Alleswissers, der mit dem lebendigen Menschen nichts mehr zu tun hat; mehr noch: der Menschen in ihren wirklichen Lebensvollzügen sogar notwendig negiert – und zwar um der Rationalität und des ökonomischen Einsatzes des Modells willen (früher das fordistische Fließband, heute big data). Hier wird in der frühen Moderne ein theoretischer Modellmensch geboren, der im monetaristischen Kapitalismus unserer Tage sich anschickt zu triumphieren. Diese Liberalität huldigt nicht dem lebendigen Individuum, sondern der seriellen Vereinzelung von Produktionseinheiten (human capital) unter ökonomischem Kalkül. Das liberale, wahl-freie Individuum lässt sich zugleich von einer utilitaristischen Ethik zum objektiv altruistischen Egoisten verklären. Und so stellt es jeden bisher dagewesenen – und in vielen Ländern der Dritten Welt noch wirksamen – Gemeinschaftsbezug menschlichen Lebens nicht nur de facto, sondern auch de jure in Frage. Der Ökonomismus des technokratischen Systems erhebt dagegen das ökonomische Interesse zum zentralen Merkmal der Identität des Menschen schlechthin. Der Mensch ist, was er besitzt und was er zu besitzen anstrebt. Wenn nun menschliche Identität sich über ökonomische Güter – letztlich Geld – definiert, so wird der Kampf um ökonomische Interessen selbst zu einem Identitätskampf: Es geht dann nicht mehr nur um das bloße Interesse an einem austauschbaren Gut, sondern es geht um das (ökonomistisch verstandene) Menschsein selbst. Auf diese Weise leistet der Ökonomismus genau das, was religiöse Fundamentalismen leisten: Interessens- in
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Identitätskonflikte zu verwandeln. Er ist dabei sogar noch viel effektiver: Wenn nämlich ökonomisches Interesse selbst schon Identität ist, braucht dieser Fundamentalismus für seine Umwandlung nicht einmal das Medium zu wechseln. Er braucht keine Religion, denn die Ökonomie ist ihm Herrgott genug.10 Die der technokratisch-instrumentellen Moderne entsprechende Praxis kann im Sinne unseres Doppelkriteriums als fundamentalistisch bezeichnet werden. Historisch kann man auf die kommunistischen und diktatorischkapitalistischen Applikationen der technisch-instrumentellen Moderne verweisen: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ (Lenin). Aktuell kann man auf den ökonomistischen „Globalismus“ verweisen. Ulrich Beck11 bezeichnet damit jenes Programm, mit dem sich neoliberale Wirtschaftsrationalität absolut setzt, indem sie die Grunddifferenz zwischen Politik und Ökonomie liquidiert – mit anderen Worten: einen „Imperialismus des Ökonomischen“ (Beck) oder auch ökonomistischen Totalitarismus.12 Angesichts der Alternativlosigkeit der Selbstpräsentation und der Kompromisslosigkeit des Übergriffes auf Andere kann man somit durchaus von einem Fundamentalismus des Ökonomischen sprechen. In Abwandlung Lenins: Dieser Fundamentalismus ist „neoliberale Kapitalmacht plus Digitalisierung“. Wenn dieses Modell technokratischer Oligarchie im Zuge des Globalismus anderen Gesellschaften aufgezwungen wird, so wird dort die Würde des Menschen selbst angegriffen, insbesondere jener Menschen, denen eine Beteiligung an den ökonomischen Leistungen dieses Systems verweigert wird, nicht zuletzt arbeitslosen jungen Männern. Und so produziert es unter den Angegriffenen höchst rationalen Widerstand – religiösen zunächst und dann auch politischen. Wahlverwandtschaften zwischen dem technokratischen Programm und religiösem Fundamentalismus sind nicht selten. Beim Fundamentalismus der USA liegen sie auf der Hand. Die Fundamentalisten profitieren durch politischen Einfluss, die Technokraten durch das fundamentalistische Wahl10 Darin ist er übrigens dem Faschismus ähnlich, dem im politischen Feld eine ähnliche fundamentalistische Transformationsleistung gelungen ist. Eine von der US-Regierung (Kissinger) sowie vom Chicago-Monetarismus (Friedman) gleichermaßen vorangetriebene Fusion von politischem Faschismus und ökonomischem Neoliberalismus war das Folterregime des Generals Pinochet ab 1973 in Chile. 11 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt 2004, 26f. 12 In den USA breit diskutiert als „economics imperialism“.
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volk. Im kriminellen System des Islamischen Staats gehört die Kooperation im technokratisch-instrumentellen Globalismus zum inneren Funktionieren (und sei es nur der Mittelbeschaffung durch Öl- und andere Geschäfte), auch wenn die Propaganda das genaue Gegenteil verkündet.13 Die Wahlverwandtschaften zu religiösen Fundamentalismen sind aber nicht das Entscheidende. Sie legen nur das fundamentalistische Potenzial der technokratisch-instrumentellen Moderne bloß. Was Europa und die politisch liberale Strömung in den USA betrifft, ist der fundamentalistische Impuls der technokratischen Moderne durch den an universalen Menschenrechten orientierten Einfluss der prozeduraldemokratischen Moderne (Kant, Habermas, Rawls) mehr oder weniger gut im Zaum gehalten worden. Das kompromisslosere Gegenprogramm der europäischen und US-amerikanischen Moderne zum technokratischen Fundamentalismus wird allerdings von der hermeneutisch-pluralistischen Moderne vertreten. Gerechtigkeitspluralismus Die hermeneutisch-pluralistische Strömung ist die schwächste der europäischen Moderne. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man mit der Erinnerung an die Endlichkeit des Menschen und die Vorläufigkeit seines Denkens und Tuns keinen Staat machen kann. Es handelt sich um eine Strömung europäischen Denkens, die zurückgeht auf die antike Rhetorik und aus der Renaissance von Erasmus und Vico her kommt. Sie reicht über Lessing, Schleiermacher, den Historismus, die philosophische Hermeneutik und die Phänomenologie bis zur heutigen Postmoderne (z.B. Lyotard) und zu Vermittlungstheorien mit der prozedural-demokratischen Moderne (z.B. Welsch) sowie in die reflexive praxeologische Soziologie (z.B. Bourdieu) und die Soziologie der „Zweiten Moderne“ (Ulrich Beck). Ähnliches Denken findet man in der Theologie (z.B. Gerhard Ebeling, Wolfgang Nethöfel, Ingolf Dalferth). Auch im angelsächsischen Sprachraum finden sich Philosophen (z.B. Richard Rorty, Michael Walzer), Theologen (z.B. David Tracy, Gordon Kaufmann) und Soziologen (z.B. Manuel Castells), die dieses Denken vertreten. 13 Als weiteres Beispiel könnte man mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Regierung Narendra Modis (lange engagiert bei Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS) zunächst über Gujarat und heute über ganz Indien als eine Fusion zwischen neoliberaler Wirtschaftsstrategie und religiös-kulturellem Fundamentalismus bezeichnen.
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Der entscheidende Unterschied dieser Strömung zur rationalistisch orientierten prozedural-demokratischen in kantischer Tradition ist die Annahme, die menschliche Existenz und sein Wissen seien endlich, geschichtlich, kontingent und eben deshalb auch vielgestaltig und nicht zu vereinheitlichen – für Universalismus nicht geeignet. Zu dieser Einsicht hat übrigens die Theologie der Aufklärung, nicht zuletzt Lessing, einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie die Bibel als historisches Dokument kenntlich gemacht hat. Die hermeneutische Theologie der Moderne erinnert daran, dass Menschen eben nicht über die Frucht des Baumes der Erkenntnis verfügen – weder Rationalisten noch Technokraten, noch religiöse Fundamentalisten, noch die Hermeneutiker selbst. Der Eingang zum Paradies – zur volonté générale, zur technologischen Perfektion oder zur göttlichen Wahrheit – ist vom Flammenschwert des Engels versperrt. Was bleibt, ist die eigene Endlichkeit in der eigenen Partikularität. Wenn man diese freilich anerkennt, ist die Anerkennung der Anderen als ebenso in ihrer Partikularität Gefangenen möglich. Endliches, vorläufiges Zusammenleben und der Brückenbau „transversaler Vernunft“ (Welsch) können gelingen. Parallel zu dieser Entwicklung verabschiedet sich die europäische Moderne von der mittelalterlichen Ontologie der Substanzen. Das Denken orientiert sich immer mehr am Relationalen und Relativen. Die Metapher des Netzwerks bekommt in Philosophie, Semiotik, Ethnologie und Soziologie der Zweiten Moderne eine immer größere Bedeutung. Das NetzwerkDenken scheint mir der Organisation von Wissen und Gesellschaft in der Zweiten Moderne auf besondere Weise zu entsprechen. Netze bestehen aus Fäden (den Relationen) und aus Knoten (dem, was sonst als Substanz oder Subjekt gefasst wird). Knoten können in einem Netzwerk ohne Fäden nicht einmal erzeugt werden. Ohne Relationen sind sie nichts – schon gar keine 14 Subjekte oder Substanzen. Erkennt man die eigene Endlichkeit und Relativität in einem weiten Netzwerk von gesellschaftlichen Relationen an, trägt schon dies entscheidend zur Fundamentalismusresistenz bei. Mit der hermeneutisch-pluralistischen Strömung der Moderne sind spezifische Fähigkeiten verbunden, die Anforderungen der aktuellen (welt-)gesell14 Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Verwendung der Netzwerk-Metapher ist nicht dieselbe wie in meiner Theorie von Identität als Netzwerk. Vgl. Heinrich W. Schäfer, Identität als Netzwerk. Habitus, Sozialstruktur und religiöse Mobilisierung. Wiesbaden 2015 m – ders., Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf am Beispiel religiöser Bewegungen im Bürgerkrieg Guatemalas, in: Berliner Journal für Soziologie, 15/2, 2005, 259– 282.
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schaftlichen Transformationen auf eine nicht-fundamentalistische, pluralistische Weise zu verarbeiten. Diese spezifischen Kompetenzen gilt es zu kultivieren. Dazu scheint es mir allerdings auch nötig, die hermeneutischpluralistische Tradition an einem wichtigen Punkt ein wenig zu modifizieren. Denn ihr Denken hat viel Sinn für die Differenz von Zeichen, aber zu wenig Sinn für soziale Differenz und Fragen der Gerechtigkeit. Gerade dies aber ist unabdingbar für eine geistige Orientierung, die den globalen Konflikten gewachsen sein soll. Denn erstens haben wir in der Rekonstruktion des globalen Machtraumes gesehen, dass der Kampf der Fundamentalismen schlechterdings nicht verstanden und bearbeitet werden kann, wenn man die sozialen Interessengegensätze ausblendet. Und zweitens reicht eine Theorie der Vernunft und des Verstehens nicht hin, wenn sie die gesellschaftlichen Bedingungen des Operierens der Vernunft nicht beachtet. In der Sprache Pierre Bourdieus: Eine 15 soziologisch geschulte „Realpolitik der Vernunft“ ist gefragt. Das heißt vor allem, dass die Fragen von Macht, Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit mit ins hermeneutische Spiel kommen und die spezifischen Kompetenzen hermeneutisch-pluralistischer Moderne entscheidend mitprägen sollten. Im Blick auf die Fundamentalismus-Problematik seien hier vier spezifische, zum Teil aber noch stärker zu entwickelnde Fertigkeiten knapp skizziert: Pluralitätskompetenz, Identitätskompetenz, Gerechtigkeitskompetenz und sozialhermeneutische Kompetenz. Pluralitätskompetenz: Mit dem Beschleunigungsschub der Globalisierung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bricht konfliktgeladene Pluralität über die Welt herein: von „Neuen Kriegen“ über Widerstand bedrohter Akteure bis hin zu Parallelgesellschaften und ethnischen Konflikten auf Stadtviertelebene. Fundamentalismen reagieren auf Pluralitätszumutungen, indem sie ihre eigene Position mit göttlicher Absolutheit gleichsetzen. Dies geschieht meist über Offenbarungsprätentionen wie etwa die Verbalinspiration einer Schrift oder die Unmittelbarkeit göttlichen Geistes. In scharfem Gegensatz dazu steht die Pluralitätsbearbeitung in der ökumeni16 schen Bewegung. Unter der Annahme, dass göttliche Offenbarung immer geschichtlich ist und interpretiert werden muss, haben sich Ökumeniker 15 Pierre Bourdieu/Loic J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt 1996, 212ff. 16 Zur Klärung sei hier angemerkt, dass ich mit „Ökumene“ nicht die interkonfessionelle Konsensökumene kirchlicher Lehrgespräche meine, sondern die ökumenische Bewegung als soziale Bewegung und – soweit der Weltkirchenrat als Bewegungsorganisation angesprochen ist – das Engagement des Rats in den Bereichen von Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie sowie im interreligiösen Dialog.
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bereits in den Dialog mit fremden Religionen begeben, bevor die postmodernen Philosophen auf den zunehmenden Pluralitätsdruck reagierten. Der ökumenische Dialog schließt starke Überzeugungen gerade nicht aus. Doch wird die Dialogizität selbst zum grundlegenden Kriterium religiöser bzw. theologischer Wahrheit. Die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft ist an den Dialog gebunden, das heißt an die Gehalte fremder Praxis. Wahrheit erschließt sich so über das Fremde. Die ökumenische Diskussion nimmt damit die philosophische Debatte über Einheit und Pluralität der Vernunft vorweg. Ihr Vernunftbegriff entspricht implizit dem der transversalen Vernunft von Wolfgang Welsch: Vernunft als Kapazität des Brückenschlagens zwischen unterschiedlichen Rationalitäten, als Kapazität der Vernetzung des Unterschiedlichen oder gar Entgegengesetzten. Pluralitätskompetenz findet sich also nicht in bloßer Liberalität und deren Universalisierung, sondern vielmehr darin, das Fremde in seiner prinzipiellen Legitimität anzuerkennen und irritierend auf das Eigene wirken zu lassen. Diese Fertigkeit wird noch entscheidend vertieft durch die unten zu skizzierende sozialhermeneutische Kompetenz. Identitätskompetenz: Die genannten Pluralitätszumutungen schlagen auf Identitäten zurück. Einheitliche Lebensläufe zerfallen in diskontinuierliche Phasen; Identitäten werden zunehmend heterogen und in sich selbst widersprüchlich. Dagegen reagieren Fundamentalismen mit Identitätspolitiken, die in sich geschlossene und unveränderliche Identitäten konstruieren beziehungsweise im Sinne eines strategischen Essenzialismus vorgaukeln: Identität, essenzialistisch aufgefasst als feste Substanz oder einheitliches Subjekt. Das Dilemma zwischen Identitätszerfall und Identitätszementierung lässt sich freilich lösen, wenn man Identität als ein Netzwerk von Dispositionen 17 begreift auffasst, ähnlich wie Richard Rorty die Sprache, das Selbst und die Gesellschaft als Netzwerke von Überzeugungen.18 Selbst starke religiöse Überzeugungen können dann immer noch als offen genug betrachtet werden, sodass sich neben den Differenzen zu anderen Überzeugungen auch Überlappungen feststellen lassen. Damit können mindestens Ansätze zur Vermittlung in Identitätskonflikten gefunden werden. Im Übrigen transpor-
17 Vgl. Schäfer, Identität als Netzwerk. 18 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt 1995. Das Dispositionsnetzwerk ist freilich zunächst einmal eine wissenschaftliche Konzeption, die noch weit davon entfernt ist, öffentlichen Einfluss zu gewinnen.
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tiert die Metapher des Netzwerks die Grundlagen für eine über Reziprozität und Solidarität operierende praxeologische Ethik.19 Gerechtigkeitskompetenz – die Fähigkeit, die eigene intellektuelle und politische Praxis systematisch an der Gerechtigkeitsfrage zu orientieren ohne damit die anderen Kompetenzen zu vernachlässigen – ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie der hermeneutisch-pluralistischen Moderne nicht schon mitgegeben ist. Zudem kann das globale Gerechtigkeitsproblem im neoliberalen Kapitalismus nicht als belanglos abgetan werden. Wir haben gesehen, dass die unterschiedlichen Fundamentalismen auf signifikant unterschiedliche Weise auf dieses Problem reagieren. Während der US-amerikanische Fundamentalismus an sozialen Exklusionsstrategien arbeitet, kapitalisiert der islamische Fundamentalismus die Nachfrage nach Gerechtigkeit für sich. In beiden Fällen ist jedenfalls deutlich, dass sich die fundamentalistischen Strategien nur verstehen und bekämpfen lassen, wenn man das Problem der Gerechtigkeit adressiert. Während neuere philosophische Gerechtigkeitstheorien und Zusammenschlüsse wie das Weltsozialforum das Problem aufgegriffen haben, hat auch hier die ökumenische Bewegung die Rolle eines Vorreiters. Die Themen von Frieden und Gerechtigkeit bestimmen ihre Agenda schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts in wachsendem Maße in globaler Perspektive. Eine der Erfahrungen ist die, dass Pluralitätskompetenz ohne die Beachtung von sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit allenfalls unter sozial gleichgestellten Akteuren zum Zuge kommen kann, unter stark ungleich positionierten Handelnden aber ins Leere läuft. Es spricht also vieles dafür, den Praxisansatz hermeneutischpluralistischer Moderne um die ökumenischen Erfahrungen mit der Gerechtigkeitsfrage zu ergänzen. Dazu ist die Entwicklung sozialhermeneutischer Kompetenz eine entscheidende Voraussetzung. Sozialhermeneutische Kompetenz: Soziale Ungleichheit ist nicht einfach nur ein ethisches Problem. Sie hat vielmehr mit den erkenntnistheoretischen bzw. hermeneutischen Voraussetzungen von Moderne überhaupt zu tun. Kant hat, wie man weiß, die Operationen der Vernunft an die Begrenzungen von Raum und Zeit gebunden. Heute wissen wir, dass sie auch durch sozialisationsbedingte Festlegungen – etwa die Prägungen des Habitus – 19 Vgl. Heinrich W. Schäfer: „We gonna bin-laden them!“ Überlegungen zu einer methodologisch-kommunitaristischen Friedensethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 51/3, 2007, 169–181 – Ders., Capabilities – from a relationist viewpoint, in: Hans-Uwe Otto/ Holger Ziegler (Hg.): Closing the Capabilities Gap – Renegotiating social justice for the young, Opladen 2011, 127 143.
Heinrich Wilhelm Schäfer, Fundamentalistische Praxis
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bedingt sind.20 Selbstreflexivität wird damit um eine besondere Qualität erweitert: die Beachtung der sozialen Position der Erkennenden als Bedingung von Erkenntnis. Habermas formulierte diese Qualität als den Zusammenhang von „Erkenntnis und Interesse“.21 Diese Reflexionsfigur schützt Aufklärung vor Borniertheit. Denn Aufgeklärte, die sich zwar als aufgeklärt apostrophieren, sich selbst aber nicht relativieren im Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Aufgeklärtheit, sind nicht aufgeklärt, sondern eben nur borniert. In der „ersten Moderne“ hat die Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse die Form der Ideologiekritik angenommen. Im Zusammenhang der subjektiv-konstruktivistischen und pluralitätsorientierten Diskussionen der „zweiten Moderne“ wird die ideologiekritische Perspektive allerdings immer weniger beachtet. Damit droht die Debatte hinter erkenntnistheoretische Standards zurückzufallen, die noch deutlich älter sind als die Moderne selbst – wie etwa Ciceros hermeneutischer Schlüssel cui bono? leicht erkennen lässt. Auch in diesem Zusammenhang hat das Christentum einen wichtigen Beitrag geleistet. Das Symbol des Kreuzes hat immer wieder daran erinnert, dass die spezifisch christliche Sicht auf die Welt „von unten her“ blickt, vom Blickpunkt der Gefolterten und Marginalisierten aus. Die Theologie der Befreiung und die feministische Theologie haben daraus veritable hermeneutische Ansätze gemacht. Für die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus – sei er religiös oder säkular – heißt das zweierlei. Zunächst liegt es auf der Hand, dass die Mobilisierungsdynamiken der Fundamentalisten ohne Berücksichtigung der jeweiligen sozialen Position nicht zutreffend verstanden werden können. Sodann – und das ist ebenso wichtig – hat es wenig Sinn, Kritik an Fundamentalismen zu üben, wenn man sich selbst nicht fragt, wie stark man selbst in deren Entstehungsursachen verwickelt ist. Kurz, und im Blick auf unseren Gegenstand zugespitzt: Wenn man selbst am oberen Ende der globalen Wohlstandsskala steht, sollte man es sich nicht leisten wollen, die Welt zu deuten, ohne dabei die legitimen Interessen derjenigen ernst zu nehmen, die systematisch vom Wohlstand marginalisiert bzw. ausgeschlossen oder auch zur Wohlstandserzeugung ausgebeutet werden. Man sollte die eigene Positi20 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt 1982 – Heinrich W. Schäfer, Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt 2004. 21 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1970.
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on ihnen gegenüber mit bedenken – womit wiederum das Gerechtigkeitsproblem thematisch wird. Fazit Um die Fundamentalismusproblematik im Rahmen des globalen Kampfes um Deutungshoheit in den Blick zu bekommen, haben wir ein Doppelkriterium für Fundamentalismus etabliert und können hier aus unserer Untersuchung Folgendes festhalten. Erstens, Fundamentalismen sind Identitätspolitiken, deren Mobilisierungsdynamik sich in hohem Maße aus ihrer Fähigkeit ableitet, Probleme sozialer Ungleichheit verabsolutierend zu deuten und in Ermächtigungsstrategien umzuwandeln. Die globale Gerechtigkeitsfrage wird als wichtiger Hintergrund der Problematik sichtbar. Zweitens, Fundamentalismen sind nicht nur in religiöser sondern auch in säkularer Form möglich. Von besonderer Bedeutung für die globale Fundamentalismusproblematik ist, dass auch die westliche Moderne in ihrer technokratisch-instrumentellen Strömung ein hohes fundamentalistisches Potenzial aufweist – wenn sie nicht demokratisch und im Blick auf gerechte Verteilung von Gütern und Chancen unter politischer Kontrolle gehalten wird. Diese beiden Ergebnisse zusammengenommen verweisen darauf, dass sich das Problem der religiösen Fundamentalismen nicht lösen lässt, indem ihnen gegenüber einfach die politische Legitimität einer säkularen, technokratisch geprägten und (neo-)liberal verfassten westlichen Moderne behauptet wird. Ein solcher Versuch läuft darauf hinaus, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. Dass dies faktisch versucht wird, zeigen gewaltsame „Demokratisierungs“-Versuche“ im Nahen Osten hinreichend deutlich. Eine offene Gesellschaft lässt sich nur entwickeln, indem die für sie notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Dazu gehört vor allem die Reduktion der gesellschaftlichen Ungleichheit nicht nur auf ein erträgliches, sondern 22 auf ein produktives Maß , denn Demokratie ist entscheidend auf relative 23 Gleichheit angewiesen. Dies entspricht der Tradition einer soziologisch aufgeklärten hermeneutisch-pluralistischen Moderne in hohem Maße. Denn – selbst wenn es mittlerweile fast in Vergessenheit geraten ist – neben
22 Franz Josef Radermacher, Balance oder Zerstörung, Wien 2002. 23 Crouch, Postdemokratie.
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der Freiheit und Gleichheit hat die französische Revolution auch die Brüderlichkeit proklamiert. Abstract This article pleads for a broad understanding of fundamentalisms which is not only religiously grounded, but appears in secular forms as well. A high fundamentalist potential is inherent in the technocratic and economy-based appearance of western modernity. A common feature of both religious and secular fundamentalisms is the tendency to interpret interest conflicts as identity conflicts. In particular a global economy fundamentalism shows religious traits without being religious itself. The essential questions of global justice lie in the background of each of the various forms of fundamentalism.
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Gespräch zwischen Disziplinen
„Verstehst du auch, was du da liest?“ Korandeutungen im Kontext salafistischer Strömungen im Islam Andreas Goetze Der Islam ist in aller Munde und mehrheitlich kreist die Debatte um den Koran. Im Angesicht des islamistischen Extremismus von IS und Boko Haram fragen sich viele: Ist der Koran solch ein Buch, das Gewalt rechtfertigt, so wie es in der Auslegung der Extremisten geschieht? Richtig ist: Mit Religion lässt sich Gewalt rechtfertigen, mit Religion lässt sich für den Frieden werben. Das gilt auch für jede andere Art der Weltanschauung. Es kommt entscheidend auf den Umgang mit den eigenen als heilig verstandenen Quellen an. Einzelne Verse herauszupicken und in einer Art Buchstabengläubigkeit unmittelbar und völlig geschichtslos zu lesen (wie es islamistische Extremisten wie Taliban und IS tun), geht am Sinn Heiliger Texte vorbei. Man nimmt dann den Text wortwörtlich statt beim Wort. Diese verbalinspirierte Lesart findet sich in allen Schriftreligionen (also auch bei manchen jüdischen, christlichen und buddhistischen Gläubigen) und spielt sich dann besonders stark in den Vordergrund, wenn sich eine Gesellschaft im Umbruch bzw. eine religiös-weltanschauliche Gruppe in einer Krise befindet. Solche Lesart ist kein Zeichen für Stärke, sondern von Ängstlichkeit und Schwäche. Diese Überzeugung wird mehrheitlich von Gläubigen aus Judentum, Christentum und Islam geteilt. Zum einen sollten wir deshalb nicht die Auslegung der Radikalen für die Meinung der Mehrheit halten. Zum anderen sollten wir vermeiden, den Islam auf den Koran und ein bestimmtes Auslegungsverständnis zu reduzieren. Denn „ganz normale“ Gläubige glauben zwar an Gott und den Propheten, aber richten deswegen nicht jede Kleinigkeit ihres Lebens am Koran aus. Und wenn sie sich auf den Koran und die Tradition beziehen, tun sie es ausgesprochen vielfältig. Und schließlich sollten wird kritisch fragen, welche
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DOI 10.2364/3846998977
kulturellen, gesellschaftspolitischen und theologischen Grundlagen fundamentalistische Tendenzen befördern und eine Buchstabengläubigkeit begünstigen. 1.
Heilige Schrift als „Wahrnehmungsereignis“
Bevor wir also den Koran als Schlagwort missbrauchen oder in einer Art „Suren-Ping-Pong“ mit Koranzitaten „beweisen“ wollen, dass der Islam für Frieden steht oder Gewalt befürwortet, scheint mir folgende Erinnerung hilfreich: Die Heilige Schrift, ob Tora, Bibel oder Koran, ist zunächst einmal ein Hörbuch: Heilige Texte wurden und werden laut vorgetragen, rezitiert im Gottesdienst. Es sind Bücher für den liturgischen Gebrauch. Westlich geprägten Christen ist dieses Hörerlebnis mehr und mehr abhandengekommen. In den orientalischen und orthodoxen Kirchen hat sich diese fast wie ein Gesang erklingende Schrift-Rezitation bewahrt. So hat es die Alte Kirche vom Judentum gelernt, so hat es der Islam vom Christentum übernommen. Die nach islamischer Tradition älteste Überlieferung (Sure 96:1) beginnt dementsprechend auch mit dem Wort: „Rezitiere (laut)!“ und nicht: „Lies!“, wie es in manchen deutschen Übersetzungen heißt. Schon das Wort „Koran“ weist darauf hin, denn es ist selbst ein syrisch-aramäisches Lehnwort und bedeutet „Das zu Rezitierende“. Wenn Gott spricht, geht es um ein Wahrnehmungsereignis, das die Hörenden ergreift und zum Lob Gottes, zur Hingabe an Gott bzw. zum Gebet inspiriert. Vergleichbar mit einer Musikpartitur, die nicht von sich aus klingt, ist die Heilige Schrift (Tora, Bibel aus Altem und Neuem Testament, Koran) das Wort Gottes in dem Moment, indem sie durch den Geist erklingt, ein Klangraum entsteht. Texte wurden laut gelesen – am besten auch im Gehen (wie z.B. auch bei den griechischen Philosophen). Wir dagegen lesen meistens nur noch leise – wenn wir überhaupt noch lesen. So sind wir auf gewisse Weise hörunfähig geworden – unsensibel für den zwischen Text und Hörendem liegenden Wahrnehmungsraum. Die muslimische Erfahrung mag uns etwas lehren, was wir – nicht nur im Westen, aber besonders bei uns – nicht (mehr) kennen. Was eröffnet das Rezitieren – und das heißt ja: das laute Lesen, das „Zum Klingen-Bringen“ 1 der Offenbarung? Echte religiöse Sprache mit ihrem Rhythmus, ihrer sym1
Vertiefend dazu Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2011.
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bolischen Art spricht ins Unterbewusste, in Regionen, die dem rationalen Argument unzugänglich sind – wie bewegende Momente von Liebe, von Augenblicken, die einen ins Staunen versetzen. Schrift-Rezitation ist Begegnung mit dem Heiligen. Daher ist es wichtig nicht alles auf einmal zu hören, sondern wie bei jeder guten Medizin in bekömmlichen Dosierungen. Es geht ja nicht um Informationen, um objektives Wissen, sondern um die Änderung der inneren Haltung – dass ich mich vom Wort Gottes anrühren, in der Tiefe meiner Seele und meines Geistes bewegen lasse, dass es mich auch leibhaftig erreicht mit allen Sinnen, emotional. Daher ist der „sound“ beim Rezitieren so wichtig. In der christlichen Tradition heißt es deswegen auch „Gospel“ („Nachricht“, „Mit-Teilung“), hörbare Proklamation – im Griechischen: „Kerygma“. Dieser Zugang, der ja ein gemeinsames Erbe der drei großen monotheistischen Religionen im Großraum Syrien ist, könnte den Gläubigen helfen, einander näher zu kommen. Damit dies geschehen kann, müssen alle drei die musikalische und bezaubernde Kraft des „sounds“ der heiligen Texte (wieder) entdecken. Auf diesem Hintergrund ist schon zu erahnen, was es bedeutet, wenn das Verständnis der eigenen Heilige Schrift auf den Buchstaben, auf den Text reduziert wird. In der Folge besteht die Tendenz, das eigene Wahrheitsverständnis zur Aussage über „die Wahrheit“ zu verkürzen, die Schrift als Regelwerk und Norm aufzunehmen statt als spirituelltheologischen Wegweiser in der lebendigen Kommunikation mit Gott. Auf der Grundlage des lebendigen Wortes als „Wahrnehmungsereignis“ gehe ich nun auf das traditionelle islamische Verständnis zum Koran ein. Anschließend möchte ich das salafistische Schriftverständnis erläutern, bevor ich Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung der Koranauslegung anspreche. 2.
Der Koran als verbindliche Urkunde des Glaubens
Im islamischen Selbstverständnis ist der Inbegriff der Offenbarung der Koran. Die Offenbarung ist im Islam demnach keine Selbstoffenbarung Gottes wie im Christentum, sondern Gott offenbart mit dem Koran seine Gegenwart. Insofern ist der Koran das Wort Gottes, das sich nicht einfach relativieren lässt. An der Zuverlässigkeit der Überlieferung wird innermuslimisch nicht gezweifelt. Aber es ist keine Verfassung wie es salafistische Gruppierungen behaupten, sondern ein spirituelles „Buch der Rechtleitung“. Der Koran hat kein absolut eindeutiges Profil, sondern es finden sich entsprechend der verschiedenen „Hörerlebnisse“ zur Zeit des Propheten je nach Anlass der Offenbarung unterschiedlich akzentuierte Inhalte.
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Die wesentliche Botschaft des Korans lässt sich durch immer wiederkehrende Themen herausarbeiten. Zentral geht es um die Lehre von der absoluten Erhabenheit des einen einzigen Gottes (arabisch „tawhîd“), die scharfe Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, die dramatische Schilderung des Unterschieds zwischen Himmel und Hölle, das Jüngste Gericht und die Auferstehung der Toten.2 Vieldeutigkeit gilt dabei in der klassischen Koranauslegung als Grundprinzip. Das gilt für die Lesarten und Textvarianten ebenso wie für die Textinterpretation. Der Koran ist mitsamt seinem Variantenapparat göttlicher Text. Um diese Komplexität auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, haben sich islamische Gelehrte im neunten Jahrhundert darauf geeinigt, für kultische und juristische Zwecke lediglich sieben bzw. zehn dieser Lesarten heranzuziehen. Sie gelten alle als gleichermaßen gut und gültig. Der Koran ist ein schwieriges, themenreiches und tiefgründiges Buch. Er enthält keine gradlinige Erzählung, kennt verschiedene Sprachstile. Die arabische Sprache selbst ist vielfach uneindeutig und schwer zu entschlüsseln. Das vorhandene Schriftmaterial bedarf also der Interpretation, der Exegese (arabisch „tafsîr“) – und das war und ist innerislamisch bis heute mehrheitlich selbstverständlich. Das protestantisch anmutende „solo scriptura“ (allein die Schrift) ist für den innerislamischen Diskurs ebenso ein modernes Phänomen wie seine scheinbare Allgegenwart, die uns medial vermittelt wird. Wer allerdings einzelne Verse aus dem Gesamttext herauslöst als wäre der Koran ein Nachschlagewerk, vermag auch innerhalb des islamischen Selbstverständnisses nichts wirklich Substantielles auszusagen. Um zu einer Deutung und zu einem Verständnis einer Sure oder eines Koranverses zu kommen, ist die gesamte islamische Auslegungstradition mit zu bedenken. Es ist daher eine weitaus höhere geistige Anstrengung nötig als die bloße Zitation eines Verses. Wer den Koran derart selektiv liest, manipuliert den Islam, sei er Islamist oder Islamkritiker. Auf der einen Seite herrscht die Überzeugung, dass der Koran das unverfälschte und klare Wort Gottes ist. Auf der anderen Seite weiß man darum, dass dieser Koran an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit offenbart wurde. Einer der zentralen Punkte der innerislamischen Auseinanderset2
Andreas Goetze, Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams, 4 Darmstadt 2014, 270–275, besonders 284–287 mit zahlreichen Belegstellen aus dem Koran.
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zung dreht sich von daher um die Frage: Wie bekomme ich diese zwei Annahmen zusammen? Alle Koranausleger ringen um das Verhältnis zu diesen beiden Polen. Man ist sich innerhalb der Islamwissenschaft bewusst, dass sich unter der Decke scheinbarer Kontinuität viel mehr Unterschiede auftun als gemeinhin dargestellt werden. Ein klassischer Korankommentar enthält stets mehr als nur eine Deutung. So paradox es klingen mag: Eben weil der Koran als das reine göttliche Wort gilt, ist nach traditioneller islamischer Auffassung jede Auslegung menschlich und daher notwendig relativ und ergänzungsbedürftig. Dabei gilt das Prinzip der Meinungsvielfalt (arabisch „ikhtilâf“) im Gespräch mit der gesamten anerkannten islamischen Tradition. In der klassischen Zeit war ein islamischer Gelehrter stolz, wenn er möglichst viele Interpretationen des Korans kannte und nicht nur eine einzige. Klassische Kommentatoren waren dementsprechend darauf aus, möglichst viele Interpretationen einer Koranstelle zusammenzutragen, von denen 3 sowohl jede einzelne wahr sein konnte als auch mehrere gleichzeitig. Für den Gelehrten Ibn al-Djazarī (gest. 1429) ist die Interpretationsoffenheit ein wesentliches, gottgewolltes Merkmal des Korans: „Die Gelehrten [...] hörten seit der Frühzeit niemals auf und werden bis zum Ende der Zeit nicht aufhören, aus dem Koran (rechtliche) Hinweise, Argumente […] Einsichten […] abzuleiten, die noch kein Früherer erkannt hatte, ohne ihn deshalb für die Späteren auszuschöpfen. Vielmehr ist der Koran ein gewaltiges Meer, in dem man nie auf Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halt gebracht wird. Deshalb benötigt diese Gemeinde auch nach ihrem Propheten […] keinen weiteren Propheten mehr, wie das mit den früheren Völkern der Fall 4 war…“ Regeln der Koranauslegung Die islamische Koranauslegung („tafsîr“ bedeutet auch „Erläuterung“, „Kommentar“) ist eine Wissenschaft für sich. Um zu einer Auslegung eines
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Nach Sure 18:109: „Sprich: ‚Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, wahrlich, das Meer wäre erschöpft, bevor die Worte meines Herrn versiegen, selbst wenn wir noch einmal so viel Meer dazu brächten‘“ (ebenso Sure 31:27). Ibn al-Djazar , Nashr, 5, zitiert bei Thomas Bauer, Musterschüler und Zauberlehrling. Wieviel Westen steckt im modernen Islam? Festvortrag auf dem 31. Deutscher Orientalistentag, Marburg 2010, 1-12,8 (http://www.uni-marburg.de/cnms/aktuelles/news/dotvortrag-bau-er.pdf am 15.8.2016).
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Surenabschnittes im Koran zu kommen, sind verschiedene Aspekte grundlegend zu beachten und miteinander ins Gespräch zu bringen5: 1. Zunächst sind alle relevanten Textstellen zu einer Thematik zusammenzubringen. Diese Grundhaltung findet sich auch im Koran selbst: „Glaubt ihr denn nur an einen Teil des Buches und leugnet den anderen?" (Sure 2:85). Denn wie in jeder anderen Schrift kann man aus isolierten Bruchstücken das Gegenteil dessen herleiten, was beabsichtigt ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die methodischen Grundbegriffe zu kennen und der Frage nachzugehen, ob z.B. eine Aussage allgemeingültig („´amm“), speziell („khass“), grundsätzlich („mujmal“) oder erläuternd („mufassir“) ist. Dabei ist das „Allgemeine“ vom „Spezifischen“ und das „Bedingte“ vom „Absoluten“ zu unterscheiden. Mit Hilfe der eindeutigen („al-muhkam“) Verse ist zu versuchen, die mehr6 deutigen, dunklen („al-mutashâbih“) zu verstehen. 2. Es ist notwendig und sachlich geboten, auf den historischen Kontext zu schauen und nach dem Anlass der Offenbarung zu fragen. Daraus hat sich die sogenannten „Lehre von den Offenbarungsanlässen“ („ashâb annuzûl“) herausgebildet. Zwei Drittel des Korans wurden in Mekka offenbart, wo nach islamischer Heilsgeschichte Muhammad geboren wurde, den Kaufmannsberuf erlernte und ausübte und eine Familie gründete. Themen wie soziale Gerechtigkeit und seine religiöse Suche stehen neben allgemeinen Grundsätzen von Glauben und Ethik im Mittelpunkt der Überlieferung. In Medina werden die Texte komplexer, aber auch schärfer im Ton der Auseinandersetzung. Diese Umstände werden mit den Prophetenbiographien („sîra“) in Zusammenhang gebracht, so dass Muhammad selbst zu einer Art „hermeneutischen Schlüssel“ der Koraninterpretation wird. 3. Ebenso ist es notwendig und sachlich geboten, die Tradition (arabisch „sunna“) zu Rate zu ziehen, die Aussprüche des Propheten Muhammad (die sogenannte „Hadîth-Tradition“): Was hat der Prophet gesagt, getan? Die theologische Hadîth-Literatur als eigener Zweig der islamischen Wissenschaft macht darauf aufmerksam, wie der Korantext eine kontextuelle Einbettung erfahren hat und es durchaus umstritten ist, wie der ursprüngliche Kontext beschaffen gewesen ist.
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Goetze, Religion, 237–241. Nach Sure 3:7f.
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4. Es finden sich nicht nur zahlreiche thematische Wiederholungen im Koran, sondern auch widersprüchliche Aussagen. Nach Sure 2:106 hat sich daher die Auslegungsregel „an-nâsikh wa al-mansûkh“, die „Aufhebung des älteren durch den jüngeren Vers“, etabliert. Grundlage ist die Erforschung einer relativen Chronologie der Koranverse mit dem Ziel zu überprüfen, welche Offenbarungsinhalte als tilgend (arabisch „nasikh“) und welche als getilgt („mansikh“) zu verstehen sind.7 5. Es ist schließlich notwendig und sachlich geboten, die anerkannten Koranausleger zu befragen, nicht nur einen Gelehrten (analog zur jüdischen Tradition im Talmud). Dabei sucht man die Übereinstimmung (arabisch „itjimâ“), den Konsens mit der Gesamtheit der Gelehrten und der islamisch anerkannten Rechtsschulen8 herzustellen, um auf diese Weise verbindliche Rechtsnormen zu erarbeiten. 6. Mit Hilfe des „Analogieschlusses“ (arabisch „qiyas“) sind ähnliche Verse bzw. Offenbarungsanlässe zu suchen und die dunklen mit den klaren Stellen auszulegen und nicht umgekehrt, wie es diejenigen tun, die die Gemeinde spalten wollen (Sure 3:7).9 Der Analogieschluss hilft zudem 7
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Goetze, Religion, 238: „So ist z.B. das Verbot, Wein zu genießen (Sure 5:90f) als die zuletzt offenbarte Sure als Maßstab zu nehmen gegenüber den ‚älteren Suren‘, die noch kein solches Verbot kennen (Sure 2:219; 4:43; 16:67). So haben in der theologischen Reflexion die islamischen Gelehrten schon in der Frühzeit den Qur’ân durchaus historisierend interpretiert und eine Auslegung mit Hilfe angenommener historischer Anlässe für die jeweilige Offenbarung erarbeitet. Dass zunächst Alkoholgenuss erlaubt war (Sure 2:219), dann als verpönt galt (Sure 4:43) und schließlich verboten wurde (Sure 5:90f), wird auf Gottes Barmherzigkeit bei seinen Offenbarungen zurückgeführt: Nach diesem Stufenmodell bürdet Gott der islamischen Gemeinde anfangs eine leichtere Last auf, um sie nicht gleich zu überfordern. Erst später, als die Gemeinde innerlich gefestigter war, ließ er die schwerere Bürde offenbaren. Das Stufenmodell ist der theologische Versuch, den Widersprüchlichkeiten im Qur’ân zu begegnen. Die zuletzt erfolgte Offenbarung ist nach dieser Lehre verbindlich, wobei die ‚älteren Offenbarungen‘ im Textkorpus verbleiben. Auch wenn sie aufgehoben sind, werden sie als heilige Verse des Qur’âns noch rezitiert.“ Lutz Berger, Islamische Theologie, Wien 2010, 84. Von diesen „Zentren der Gelehrsamkeit“ bildeten sich im neunten Jahrhundert. die vier sunnitischen Rechtsschulen heraus, die bis zur Gegenwart bestehen: die Hanafiten (liberal), die Malikiten (konservativ), die Schafiiten (um Systematisierung bemüht) und die Hanbaliten (streng konservativ). Die Schiiten entwickelten ihre eigene Rechtswissenschaft, die als fünfte neben die vier sunnitischen tritt: die Djafariten. Die ursprünglich fünfte sunnitische Schule der Mu’taziliten wurde als nicht rechtmäßig im Laufe der Jahrhunderte verworfen. Je nach Auslegungstradition und Bereitschaft, die genannten Rechtsquellen zuzulassen, ergibt sich eine weitherzigere oder engere Auslegung des Korans. Diesen Vers führen islamische Gelehrte gegenüber islamistischen Ideologen ins Feld, denen sie eine selektive Lesart des Korans, oftmals ohne Berücksichtigung der islamischen
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als Verfahren im islamischen Recht, einen noch nicht geregelten Bereich mit Hilfe eines ähnlich gelagerten Falles zu beurteilen. Die Möglichkeit einer eigenständigen Rechtsauslegung (arabisch „ijtihâd“) gehört dementsprechend zur klassischen Koranauslegung dazu. Thomas Bauer ist es zu verdanken, auf die offene Struktur islamischer Auslegungstradition hingewiesen zu haben.10 Diese Freiheit ermöglichte große Kulturleistungen und die ständige Anpassung an sich verändernde Verhältnisse. Eindeutigkeit im heutigen Sinne war für die Koranauslegung gar nicht erstrebenswert. Oder anders gesagt: Der heutige Islamismus mit seinem unmittelbaren Lesen und seiner versuchten Eindeutigkeit ist alles andere als die bruchlose Fortsetzung des frühen, gar des ganz frühen Islams. Er erweist sich vielmehr gerade in seinen unerfreulichen Aspekten als moderne Erscheinung, zum Teil entstanden unter dem Einfluss eines als übermächtig empfundenen Westens und in der Auseinandersetzung mit ihm. So gibt es ein durch die gesamte islamische Wissenschaftsgeschichte hindurch zu beobachtendes Ringen um eine angemessene Auslegung des Korans. Welche Werte oder Grundlinien sind in den Einzelbestimmungen enthalten, die im heutigen Kontext ihre Bedeutung verloren haben? So ist eine verbreitete Auffassung unter den islamischen Rechtsgelehrten, die Sklaverei als zeitbedingt einzustufen und für heute nicht mehr relevant zu erklären. Natürlich hat es immer wieder Positionen gegeben, die eine exklusive Auslegung vertraten. Auch heute stößt diese Vielfalt auf Unverständnis. Sowohl Reformmuslime wie der Pakistaner Shehzad Saleem (*1966) als 11 auch Islamisten wie al-Maududi (1903–1979) bestreiten häufig sogar die bloße Existenz verschiedener Lesarten. Im Internet schlagen sich protestantische Islammissionare und muslimische Islamverteidiger die Lesarten des Korans und die Varianten des Bibeltextes wechselseitig um die Ohren, um die heiligen Texte der jeweils anderen Religion als unzuverlässig zu entlarven. Varianten passen offensichtlich nicht zu einer modernen, ideologisch Tradition, vorwerfen. Sie würden so die Schrift verunklaren und die Menschen in die Irre führen. Vgl. dazu den offenen Brief von 120 islamischen Gelehrten vom 19. 09.2014 direkt an „Dr. Ibrahim al-Baghdadi“, den Anführer des sogenannten „Islamischen Staates“ (http://lettertobagdadi.com). 10 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 11 Berger, Theologie, 156f.: al-Maududi entfaltet den Islam als ideologisches System, das allen anderen überlegen ist.
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konsistenten Religion. Wer nur sechs bis zehn Verse als Grundlage seiner Position aufnimmt wie es die Ideologen der IS und andere Extremisten tun, verlässt den innerislamischen Konsens. Thomas Bauer macht zurecht auf ein grundlegendes Missverständnis der Koranauslegung in der Moderne aufmerksam: „Während man in der islamischen Welt einst Vieldeutigkeit schätzte und sie lediglich auf ein handhabbares Maß reduzieren, nicht aber ausmerzen wollte, ist man in der westlichen Moderne bestrebt, Ambiguitäten so weit wie möglich zu beseitigen. Die klassische islamische Form der ‚Ambiguitätszähmung‘ wurde in der Moder12 ne abgelöst durch den Versuch einer radikalen ‚Ambiguitätsvernichtung‘.“ Religiöse Texte als „Wahrnehmungsereignis“ zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit interpretierbar sind, ja interpretiert werden müssen. Aber ohne Überheblichkeit und anmaßende Besserwisserei. Das beschreibt Navid Kermani anschaulich: „Ein klassischer Korankommentar enthält stets mehr als nur eine Deutung. Erst nachdem der Exeget die möglichen Interpretationen aufgezählt hat, stellt er seine eigene vor, um mit der Floskel wa-llâhu a`lam abzuschließen: ‚[…] und Gott weiß es besser‘ […]. Dass niemand über die absolute Deutung verfügt, mehr noch: es diese eine Deutung gar nicht geben dürfe, gehört zu den Grundannahmen der klassischen muslimischen Exegese, die im theologischen Disput zwar immer schon übergangen, aber niemals so konsequent bestritten wurden wie heute von muslimischen Fundamentalisten und westlichen ‚Experten‘, die mit dem Koran in der Hand Muslime darüber belehren, wie streng 13 ihre Religion sei“. Allerdings wohnt dem islamischen Koranverständnis eine Haltung inne, die es erschwert, die eigene Auslegungstradition selbstkritisch zu betrachten. Verbreitet ist die Skepsis der etablierten islamischen Theologie gegenüber jeder Art der historisch-kritischen Exegese, weil sich die Wahrheit als einmalig abgegrenzte und objektivierbare Wirklichkeit ein für alle Mal offenbart hat – durch den Erzengel Gabriel mit Hilfe von Muhammad im Koran. „Der Koran bleibt im Prinzip ein von Gott wörtlich dem Propheten einge14 gebener Text“. So weist die Koranauslegung bis heute eine Spannung auf zwischen interpretationsfähig und festgelegt, zwischen historischer Kritik und dem Vorwurf der Gotteslästerung. Gerade um die anhaltenden inner12 Bauer, Musterschüler und Zauberlehrling, 7. „Ambiguität“ meint „Doppeldeutigkeit“ bzw. „Mehrdeutigkeit“. 13 Navid Kermani, Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, München 2009, 109. 14 Berger, Theologie, 169.
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muslimischen Auseinandersetzungen einzudämmen, wurde ab dem zehnten Jahrhundert die traditionelle Rechtsprechung zusammen mit der schriftlichen Fixierung des Korans trotz der verschiedenen Lesarten immer stärker als unantastbar und letztlich normativ angesehen und das Dogma von der „Unnachahmlichkeit des Korans“ („iʽğâz al-Qur’ân“) formuliert.15 Dadurch hat sich mehrheitlich im muslimischen Bewusstsein die Überzeugung durchgesetzt, dass der Koran ein von der Geschichte und den Menschen völlig unabhängiges Buch sei, ganz und gar göttlich. Alle Schriften, die etwas anderes als der Koran aussagen, sind nicht das Wort Gottes und müssen daher als gefälscht gelten.16 Aus dem liturgischen Rezitations- und Hörbuch als „Wahrnehmungsereignis“ war ein gesetzlich zu verstehendes Rechtsbuch geworden. Die Folgen sind bis heute erkennbar: Kritik an der Auslegungsart der islamischen Rechtsgelehrten (der „ulama“) gerät schnell in den Verdacht, „unislamisch“ zu sein und den Islam zu verraten – worauf letztlich heftige Strafen bis hin zum Tod folgen können. Diese Tendenz zur eindeutigen, buchstabengetreuen Auslegung hat sich in der Moderne noch verstärkt. 3.
Ibn Hanbal und Ibn Taimîya – Rückkehr zum „wahren Islam“
Die Tendenz zur Buchstabengläubigkeit ist kein neues Phänomen in der islamischen Geschichte. Bereits im neunten Jahrhundert trat Ahmad Ibn 17 Hanbal (ca. 780–855) mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen.18 Ibn Hanbal ging es darum, die heiligen Texte vor aller Kritik zu schützen, da ihm bewusst war, dass schon eine flüchtige Beschäftigung mit den Texten ihre Widersprüchlichkeit enthüllt.19
15 Angelika Neuwirth, Koran, in: Helmut Gätje (Hg.), Grundriß der arabischen Philologie, Bd. II: Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1987,96-135. Diese Lehre bezieht sich auf Sure 17:88. 16 Goetze, Religion, 235f, 362. Vgl. dazu auch Timo Güzelmansur (Hg.), Das koranische Motiv der Schriftfälschung (takhrîf) durch Juden und Christen (CIBEDO-Schriftenreihe 3), Regensburg 2014. 17 Auf ihn beruft sich die streng-konservative Rechtsschule der Hanbaliten. 18 Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Von Muhammad bis zur Gegenwart, München 1994, 225. 19 Die Parallelen zu Diskussionen im christlichen Kontext bezüglich „Unfehlbarkeit des Lehramtes“ (katholisch) und „widerspruchsfreie göttliche Inspiration der Schrift“ (zunächst reformiert, dann insgesamt innerprotestantisch) sind offensichtlich und nicht zufällig.
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Statt sich selbst um eigenständige Rechtsauslegung zu bemühen („ijtihâd“) gelte es, die Rechtsschulen als Autoritäten anzuerkennen. „Das Fürwahrhalten verbürgt die Eintracht der Gemeinschaft“20 und soll so die ständigen Glaubenskriege beenden helfen. Von diesem Ausgangspunkt her ist es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, den „wahren Islam“ in der Überlieferung aus der Urzeit des Islam zu finden. Im sunnitischen Islam wird dabei die Sunna zu der Ersatzinstitution, die die Beibehaltung oder die Rückgewinnung der prophetischen Urgemeinde ermöglichen soll. Dementsprechend sind die Prophetengefährten für Ibn Hanbal von aller Kritik ausgenommen. Sollten also die heiligen Texte nicht klar genug sein, dann seien die „Altvorderen“ (arabisch „as-salaf as-sâlih“: „die rechtgeleiteten, frommen Vorfahren“, von daher abgeleitet: die Salafisten) mit ihrem Verständnis heranzuziehen. Ihre Auslegung sei allein zuverlässig und führe so direkt zum 21 Gottesgesandten Muhammad zurück. Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und Verstand: „Ich bin kein Mensch der Vernunft, sondern des Wortes“, sagte er und propagierte eine Haltung, die sich allein buchstabengetreu an die Überlieferung und die Prophetenberichte hielt.22 Der in der klassischen Gelehrsamkeit entwickelte Analogieschluss („qiyas“) sei ebenso zu verwerfen wie die eigenständige Rechtsauslegung („ijtihâd“). Beides seien „gotteslästerliche Neuerungen“ (arabisch „bid´a“), die zum Irrtum, zum Streit und damit zum Abfall des Glaubens („takfîr“) führe. Ibn Hanbals Ideenwelt war eine Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welten, die von internen Machtkämpfen erschüttert waren. Seiner Meinung nach waren diese Auseinandersetzungen die Folge davon, dass sich die Muslime vom „wahren Islam“ abgewandt hätten. Erst die Rückorientierung und die direkte Anknüpfung an die „as-salaf“ könne die Muslime aus ihrer Krise führen. Das siebte Jahrhundert wird zum goldenen Zeitalter verklärt, das Verhalten Muhammads und seiner Gefährten als allein nachahmenswertes Vorbild dargestellt und das weitgehend unkritische Festhalten an der Tradition propagiert – Grundlage für das heutige salafistische Denken und die salafistische religiöse Praxis. Für neu auftauchende Fragen, auf die man im Koran keine direkten Antworten finden konnte, traten in der klassischen Wissenschaft die „Pforte 20 So Nagel, Geschichte, 227. 21 Ebd, 128. 22 Berger, Theologie, 83f. Theologie sei nur gegen Ketzer und Andersgläubige nötig, ansonsten überflüssig.
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der Bemühungen“, das „Tor zur Auslegung“ („bâb al-ijtihâd“), also der selbständige Gebrauch der menschlichen Vernunft zur juristischen Meinungsfindung, und die Methode des Analogieschlusses („qiyas“) hinzu. Beides wurde grundlegend verbunden mit den heiligen Quellen (Koran und Sunna), um zu einer bewussten „Übereinstimmung“ („itjmâ“), also zu einem Konsens der islamischen „umma“ (Gesamtheit aller Muslime) bzw. der Gelehrten zu kommen. Diese offene Weise der Rechtsfindung durch „ijtihâd“ wurde durch die nicht zur Ruhe kommenden innermuslimischen Auseinandersetzungen weiter an den Rand gedrängt. Um die Konflikte zu beenden, sahen immer mehr sunnitische Muslime in der Position Ibn Hanbals die Lösung. „Über alles Bedenkliche, das Argwohn erregen könnte, sollte der Mantel des 23 Schweigens gebreitet werden“. In den nächsten Jahrhunderten sollte sich diese Grundauffassung, die die „Kultur der Ambiguität“ (Thomas Bauer) ablehnte, innerhalb der orthodoxen sunnitisch-islamischen Welten mehrheitlich durchsetzen und „ijtihâd“ als legitimes Mittel der Wahrheitsfindung aufgegeben werden. Das bedeutete, dass für jegliche nachfolgenden Diskussionen „alle […] juristischen Erkenntnisse in den Werken der Altvorderen vorgefunden werden können, und nur da!“24 Reform bedeutete im Anschluss an Ibn Hanbal ab diesem Zeitpunkt „Offenlegung des Wissensstandes“.25 Der „wahre Islam“ zeige sich dementsprechend „in der vorbehaltlosen Übernahme („taqlîd“) der Absichten des Propheten und seiner Gefährten […] und bestehe in der unbedingten Unterwerfung unter alle Gebote Gottes“.26 Zurück zu den Quellen Doch weiterhin blieben die politischen Krisen, die auch als religiöse wahrgenommen wurden, gesellschaftspolitischer Alltag in den islamischen Welten. Auf der Suche nach der Überwindung dieser nicht enden wollenden innerislamischen Auseinandersetzungen entwickelten sich zum einen sufisch-mystische Bewegungen27, zum anderen entstanden Koranschulen (ara23 24 25 26 27
Ebd., 119. Ebd., 243. Ebd., 245: „Je vollkommener die Offenlegung, desto mehr wird der Islam triumphieren.“ Ebd., 227. Auf die vielfältigen und einflussreichen sufischen Bewegungen kann in diesem Artikel nicht eingegangen werden. Nur ein Hinweis: Der mystische Islam hat stets mit der sunni-
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bisch „madrasa“), die sich als das Lenkungsinstrument der sich bildenden orthodoxen Gelehrtenschicht (der „ulamâ“) erweisen sollten.28 Ein Gelehrter, der nachhaltig die sunnitisch-orthodoxe Haltung dieser „ulamâ“ geprägt hat und die Gedanken Ibn Hanbals radikalisiert weiterführte, war Ibn Taimîya (1263–1328), „die überragende Gestalt im Kampf um die sunnitische Rechtgläubigkeit“.29 Im Angesicht der Zerwürfnisse in den sunnitischen Welten und der bedrängenden Mongolengefahr betrachtete es Ibn Taimîya als oberste Aufgabe des Staates, den Bestand des islamischen Rechts zu garantieren, da nur auf diese Weise muslimisches Leben möglich sei. Eine Staatsgewalt, die diese Rahmenbedingungen nicht garantiere, sei als unislamisch zu bekämpfen. Nur wenn sich die Muslime getreu nach dem Koran ausrichteten, könnten sie in Frieden leben. Hatte der große islamische Gelehrte al-Ghazzâlî (ca. 1058–1111) noch zwischen der islamischen Mystik und der Orthodoxie Brücken gebaut und zum Ausdruck gebracht, dass der Islam mehr sei als Gesetzeserfüllung, betrachte Ibn Taimîya alle Mystiker argwöhnisch, weil er bei ihnen „gotteslästerlichen Neuerungen“ witterte. Ebenso lehnte er die schiitischen Richtungen als häretisch ab. Ibn Taimîya bestand auf der wortwörtlichen Hinnahme der Gebote und Anweisungen aus Koran und Sunna und deren buchstabengetreue Anwendung. Wie Ibn Hanbal betonte er, es genüge die Aneignung der zweifelsfreien Überlieferung („taqlîd“) der Altvorderen aus der Urzeit 30 des Islams, um Glaubensgewissheit zu erlangen. Für ihn lag der Geist, Gottes Wille, seine Weisung in den Vorschriften selbst: sie seien „heilig“. Bei al-Ghazzâlî war es hingegen noch der Geist der Muslime, der ihrem Gottesgehorsam erst Sinn verlieh. Für Ibn Taimîya stand dagegen fest: Das „Tor zur Auslegung“ ist geschlossen.
tischen Orthodoxie gerungen, sie aber auch vielfach beeinflusst, insbesondere in Nordafrika und in der Osttürkei/Westarmenien. Die Betonung der mystischen Einheit mit Gott sollte alle dogmatischen Streitereien beenden helfen. Durch die sufischen Bewegungen konnte sich die starre Ritenfrömmigkeit nur gebrochen durchsetzen. Grundlegend dazu das Standardwerk von Annemarie Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische 3 Mystik, München 2005. Vgl. auch zur Bedeutung des spirituell-mystischen Weges für den Dialog der Religionen Goetze, Religion, 370–372.377–381. 28 Gerhard Endress, Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1997, 86. 29 Nagel, Geschichte, 231; Berger, Theologie, 107–111. 30 Tilman Nagel, Geschichte, 232f.
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Auf der Suche nach Identität in der Moderne – salafistische Gruppierungen
Das Ringen um Rechtgläubigkeit ist bis heute ein Wesensmerkmal innerislamischer Auseinandersetzungen. Noch einmal verschärft wurde dieses Ringen in der Begegnung des Islams mit der westlich-christlichen Kultur seit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon 1798. Die Herausforderung war und ist, die europäische Moderne innerislamisch aufzunehmen und dies zugleich im Einklang mit der Tradition zu tun.31 Die Reformbestrebungen und die Wiederbelebung des Islams im 19. Jahrhundert standen dabei mehrheitlich im Zeichen salafistischer Ausrichtungen, die sich an Ibn Hanbal und Ibn Taimîya orientierten. Grundlegendes Ziel der verschiedenen Reformbewegungen war und ist es, die Muslime zum „reinen“, „ursprünglichen“, d.h. „wahren Islam“ zurückzuführen. Dabei liegt der Akzent auf der Stärkung der muslimischen Identität, des islamischen Glaubens, der moralischen Ordnung des Islams gegen die Kräfte des Unglaubens, die insbesondere im Westen ausgemacht werden – mit stark antikolonialistischer Ausrichtung. Dieses „islamische Erwachen“ ist nur bedingt als „ReIslamisierung“ zu bezeichnen, sondern selbst ein Phänomen der Moderne, 32 auch wenn es in der eigenen Propaganda anti-modernistische Züge enthält. Es lassen sich drei Hauptrichtungen der Salafiyya beschreiben: 1. Das Gedankengut Ibn Taimîyas beeinflusste Kreise um die einflussreichen Reformer Ghamâladdîn al-Afghânî (1838–1897)33 und Muhammad Abduh (1849–1905)34, die der quietistischen, puristischen Salafiyya, dem „missionarischen Islamismus“, zuzuordnen sind. Sie suchten Religion und Gesellschaft durch die Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Islams zu erneuern und zu modernisieren, um so dem Bedeutungsverlust zu begegnen, den der Islam infolge des Kolonialismus erlitten habe. Ihr Ziel war es, von unten her über die Moscheen die Massen zu gewinnen
31 Zum Ganzen: Andreas Meier, Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Originalstimmen aus der islamischen Welt, Wuppertal 1994. Hier finden sich zum ersten Mal ins Deutsche übertragen Originaltexte des gesamten politischen Islams und des salafistischen Spektrums, jeweils mit einer kurzen Einleitung versehen. 32 So Meier, Auftrag., 22. 33 Texte bei Meyer, Auftrag., 78ff. 34 Texte bei Meyer, Auftrag., 84ff.
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und durch Predigt und frommen Lebensstil die Gesellschaft zu verändern.35 2. Islamistisch politische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, geprägt durch Hasan al-Bannâ (1908–1949)36, und ihre Ableger in Algerien, Jordanien, Palästina, Sudan, Syrien, Libyen, Tunesien und Algerien sind ebenso wie die türkische „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ AKP oder die „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ PJD in Marokko Teil der politischen Salafiyya, Teil des „politischen Islamismus“. Sie wollen die politische Macht auf nationaler Ebene erreichen, organisieren sich dabei in Parteien und meiden auf diesem Weg grundsätzlich Gewalt. Das politische Handeln genießt dabei Vorrang vor religiöser Missionierung. Es geht um Islamisierung der Gesellschaft auf der Basis der Urzeit des Islams und der „as-salaf“. 3. Diese Grundrichtung wird vor allem durch die Lehren des Ägypters 37 Sayyid Qutb (1906–1966) zur djhadistischen Salafiyya, zum „djhadistischen Islamismus“ hin radikalisiert. Qutb betont im Anschluss an Ibn Taimîya, dass es die primäre Aufgabe des islamischen Staates sei, für die Durchsetzung der Scharia zu sorgen. Gruppen dieser Richtung haben zum einen den klassischen friedlichen „da´wa-Weg“ („Mission-Weg“) der quietistischen Salafiyya verlassen, zum anderen auch den politischen Weg der politischen Salafiyya. Sie wähnen sich in der militärischen Verteidigung des „Dar al-islam“ („Haus des Islam“) und der „umma“ (der rechtgläubigen Muslime nach Sure 3:110) gegen die ungläubigen Feinde im „Dar al-harb“ („Haus des Krieges“). Diese grundlegend dualistische Weltanschauung prägt bei allen Unterschieden alle salafistischen Gruppierungen, ist aber im Fall der Djhadisten wie IS oder Boko Harm zu 38 apokalyptischer Radikalität verdichtet. Trotz Orientierung an „den Normen des Frühislams der Epoche der Prophetengefährten: Damit ging eine erhebliche Flexibilität und Dynamik auf 35 Insbesondere das Bildungswesen wurde von diesen Reformern als entscheidend zur Entwicklung der muslimischen Gesellschaft angesehen. Vgl. dazu Tharwat Kades, Die arabischen Bibelübersetzungen im 19. Jahrhundert., Frankfurt a.M. u.a. 1997, 34f. 36 Texte bei Meyer, Auftrag, 175ff. 37 Texte bei Meyer, Auftrag, 194ff. 38 Die Mörder des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat legitimierten ihre Tat unter Verweis auf die Fatwa gegen die Muslime von Mardin: Da in Ägypten nicht das islamische Recht praktiziert werde, sei die Regierung ungläubig. Ebenso griffen die syrischen Muslimbrüder bei ihrer Auseinandersetzung mit dem von den Alawiten getragenen BaathRegime auf Ibn Taimîyas Verurteilung dieser Religionsgemeinschaft zurück.
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der Ebene der konkreten Programme und praktischen Orientierungen einher“.39 Gemeinsam ist allen salafistischen Bewegungen, dass sie an der Orientierung am Islam die Befreiung und damit die Lösung aller sozialen, politischen und religiösen Probleme sehen. Das von Gott „Herabgesandte“ gelte absolut: Daher wird dem Koran – zum Teil im Zusammenspiel mit der Sunna – Verfassungsrang zugesprochen, konkret ausgeführt in der „ewig gültigen Scharia“. Die koranische Begrifflichkeit von „Herr und Knecht“ als Aussage über das Verhältnis von Gott und Mensch wird zu einer politischen Aussage mit absoluter Gültigkeit: Der Mensch darf nur Gott dienen. Jeder Dienst an menschlichen Herren und irdischen Herrschern ist daher Götzendienst und gilt als „Beigesellung“ (arabisch „shirk“). Gott ist der einzige Souverän. Wie Ibn Taimîya im Anschluss an Ibn Hanbal zum Begründer der salafistischen Bewegungen wird, zeigt die Aufnahme seiner Koraninterpretationen innerhalb dieser Gruppen. Von Koranversen wie „ini l-hukmu illâ lillâhi“ („Gott der eine Gott“ nach Sure 12:67; 28:70.88 u. a.) leiten salafistische Bewegungen die absolute Souveränität Gottes für alle Lebensbereiche ab Ebenso wie Qutb argumentiert z.B. der weltweit einflussreiche indo40 pakistanische Gelehrte Abû lA´lâ ll-Maudûdî (1903–1979) für Gottessouveränität und gegen Volkssouveränität und damit gegen demokratische Staatsverfassungen. Gott übe selbst die direkte Regierung der Welt aus. Eine freie politische Verantwortung der Menschen sei daher „Beigesellung“. Saudi-Arabien als Promotor salafistischer Grundhaltungen Die steigende Popularität Ibn Taimîyas ab dem 18. Jahrhundert lässt sich nicht verstehen ohne die religionspolitische Verbindung von Ibn Abd alWahhâb (ca. 1703–1791)41, einem großen Verehrer Ibn Hanbals, mit dem Clan von Ibn Sa´ud, einem Ahnherrn des saudischen Fürstengeschlechts auf der arabischen Halbinsel. Zusammen mit Ibn Sa´ud plante er bereits 1744 ein Reich, in dem „allein Gottes unverfälschtes Wort gelten sollte“. Aber erst 1924 hatten die Saudis die gesamte Arabische Halbinsel erobert – mit Ausnahme des Yemens. Ibn Abd al-Wahhâbs Lehren weisen eine große Nähe zu Ibn Taimîya auf. Der Wahhâbismus ist eine streng-konservative, 39 Meier, Auftrag, 176. 40 Texte bei Meier, Auftrag, 185ff. 41 Berger, Theologie, 111–113.
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radikale Reformbewegung der eh schon streng-konservativen hanbalitischen Rechtsschule. Die so genannten „Wahhâbiten“ haben bereits im 18. Jahrhundert versucht, die Arabische Halbinsel von der Heiligenverehrung und anderem „Unislamischen“ wie Gräberkult zu reinigen. Das heutige Herrscherhaus in Saudi-Arabien lehnt nicht nur die Schiiten als Häretiker ab, sondern hält auch alle Muslime, die nicht ihre Grundlagen teilen, für Leute, die dem Glauben etwas hinzugefügt haben und vom „wahren Islam“ abgefallen sind. Durch Ibn Abd al-Wahhâb begann sich das hanbalitische Rechtsverständnis durch die „wahhâbitische Bewegung“ auszubreiten. Heute ist diese radikale Position vor allem in Saudi-Arabien, Katar und den VAE verbreitet und gewinnt weltweit erheblichen Einfluss durch mit Stipendien finanzierte Ausbildung von Islamgelehrten, die in Koranschulen lehren. Der weltweite religionspolitische Einfluss wächst zudem durch Internetforen und globale Vernetzung sowie durch Verbreitung von großzügig durch Saudi-Arabien und Katar finanzierte Schriftenreihen. Die wahhâbitische Lehre ist religiös und politisch für die islamischen Welten, insbesondere die sunnitische Tradition, die größte Herausforderung. Sie wird aufgrund der strategischen Abhängigkeit vom Öl von der Weltgemeinschaft nicht ausreichend genug politisch bekämpft. Wenig grundsätzliche Kritik der traditionellen Gelehrsamkeit Durch die in diesem Beitrag angedeutete Entwicklung orientiert sich die islamische Gelehrsamkeit stark an den frühislamischen Autoritäten. Weil im sunnitischen Islam für die ideale Umsetzung der islamischen Werte die historische Praxis von Muhammad und den Prophetengefährten („sahâba“) für die Gläubigen normative Geltung besitzt („Muhammad das beste Vorbild“), ist substanzielle Kritik an der Salafiyya von den klassischen Gelehrten 42 kaum zu vernehmen. Die Problematik dieser Orientierung der traditionellen Theologie liegt darin, dass sie die früher offene Gelehrsamkeit mit ihrer Vielfalt in den 42 Vgl. z.B. den „Offenen Brief an al-Baghdadi“ vom 19.09.2014, in dem mehr als 120 islamische Gelehrte eindrücklich den IS-Djhadismus zurückweisen. So deutlich die Abgrenzung ist, so wenig wird grundsätzlich etwas in Frage gestellt. „Der (gemeinsame!) Rahmen traditioneller Schariaregelungen wird indessen nicht tangiert, sondern durchgehend bekräftigt. Das Denkmuster ist hier wie dort dasselbe“, so Friedemann Eißler im „Materialdienst der EZW“ 12/2014, 444.
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Stand unhinterfragbarer und zeitlos gültiger Regelungen erhoben hat. In diesem Zusammenhang gelangten dann auch die damaligen politischen und gesellschaftlichen Kontexte zum Maßstab der Moderne. Theologisches Denken, das bewusst nach erneuter selbständiger Rechtsfindung („ijtihâd“) fragt, steht damit schnell unter dem Verdacht der „gotteslästerlichen Neuerung“ („bid´a“). Reformtheologen knüpfen dennoch bewusst an die offenere klassische Gelehrsamkeit an, um durch eine Neubewertung der Quellen den Muslimen eine tragfähige Begründung für das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben mit Nicht-Muslimen in pluralen, säkularen Gesellschaften zu liefern. Nicht wenige dieser Theologen sind im Westen bekannter als in der 43 muslimischen Welt selbst. Die mediale Wahrnehmung und die Fixierung auf islamistische Positionen verstellen auch innermuslimisch oft den Blick auf die innerislamische Pluralität. So ist deutlich die innerislamische Kritik an den islamistischen Positionen zu vernehmen, oft aber auf Arabisch, das viele nicht verstehen. Ein Beispiel: Dass Gott seine „absolute Souveränität“ (arabisch „hâkimîya“) direkt ausübe, wie es Salafisten im Anschluss an Sure 12:40 behaupten, entspreche nicht dem Islam, sondern dem Heidentum. Es reproduziere nur die altägyptische Überzeugung von der göttlichen Regierung des Pharao und sei daher eine vorislamische Haltung aus der „Zeit der heidnischen Unwissenheit“ (arabisch „ghahilîya“). „hukm“ („Entscheidung“) dürfe nicht buchstäblich in die menschliche, d.h. politische Wirklichkeit übertragen werden, das sei ein fundamentalistisches Missverständnis des koranischen Offenbarungstextes. Entsprechendes gelte gegenüber der Illusion der „ewig gültigen Scharia“ oder eines vom traditionellen Konsens losgelösten „Djhâd“-Verständnisses. 5.
Herausforderungen und Perspektiven
Salafistische Positionen konnten seit dem 19. Jahrhundert so attraktiv werden, weil es aufgrund der vielfältigen Globalisierungsprozesse zu anhaltenden gesellschaftlichen Umbrüchen in den islamischen Welten gekommen 44 ist. Oftmals dient der Bezug auf den „wahren Islam“ dazu, seine eigene 43 Berger, Theologie, 170. 44 Vgl. dazu Ghanie Ghaussy, Der islamische Fundamentalismus in der Gegenwart, in: Thomas Meyer (Hg.), Fundamentalismus in der Modernen Welt, Frankfurt a.M. 1989, 83–100. Erkennbar sind u.a. Defizite in der staatlichen Wohlfahrt, Zerfallsprozesse traditioneller Familienstrukturen und Desintegrationsprozesse insbesondere der Landbevölkerung.
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„Islamizität“ zu beweisen.45 Es geschieht sowohl auf nationaler als auch auf regionaler und internationaler Ebene, dass der Islam nicht nur als Referenzrahmen für die Legitimierung des eigenen Herrschaftsanspruches herangezogen werden kann, sondern gleichfalls für die Kritik dieses Anspruches. So dient der Islam religionspolitisch der Abgrenzung bzw. Darstellung der eigenen Rechtgläubigkeit. Die islamischen Welten sind merklich in Bewegung. Die kritischen Diskussionen um den politischen Auftrag des Islam ist auch der Streit um die wahre Interpretation des Islams. Letztendlich geht es in diesen kontroversen Diskussionen um die Deutungshoheit über Koran und Sunna. Dabei ist der eigentliche islamistische Diskurs nur eine Sache einer zahlenmäßig kleinen Minderheit unter den in Deutschland lebenden Muslimen. Über ihre medialen und finanziellen Möglichkeiten versuchen salafistische Gruppierungen allerdings propagandistisch, ihre Deutung des Islams als einzig wahre darzulegen, was gerade unter jüngeren Muslimen sowie Konvertiten Resonanz findet. Sich in diesem Feld der innerislamischen Auseinandersetzung nicht zu verlieren, ist für Muslime eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Es verwundert nicht, dass in Zeiten der Krise an vermeintlich einfache Antworten mit dualistischen Weltbildern ange46 knüpft wird, weil man die „Ambiguität“ nicht auszuhalten vermag , indem man „verobjektivierbare Wahrheit“ sucht. Zu fragen ist also, ob es innerhalb der islamischen Traditionsgeschichte andere Alternativen zur Bewältigung von Krisenerfahrungen gibt, die für eine zeitgenössische Koranauslegung jenseits von Säkularismus (sich nur noch als „säkularer Muslim“ zu verstehen, ohne an Gott zu glauben und unter Verwerfung der traditionellen Gelehrsamkeit) und Islamismus fruchtbar gemacht werden könnte. Konkret: Jeder Neuansatz, der das „Tor zur Auslegung“ („idjihad“) wieder bewusst öffnet, befasst sich mit der Bedeutung der Gründungstexte des Islams „und versucht, unter Inkaufnahme der bei einem solchen Unternehmen unvermeidlichen Risiken und Gefahren, 47 den Geist hinter dem Buchstaben auszumachen“. 45 Zum Folgenden Meier, Auftrag, 426. 46 Das gilt für alle fundamentalistischen Tendenzen, die es in allen Religionen und Weltanschauungen gibt. Ausführlich dazu: Thomas Meyer. Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Hamburg 1989. 47 Christian W. Troll, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam. Ein kritischer Überblick (Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung), Berlin 2005, 2f.: „Überall befinden sich Muslime heute in einer Debatte des Islams über den Islam. Gefangen zwischen
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Die muslimische Überzeugung, dass es sich beim Koran um das Wort Gottes (arabisch „kalâm ullâh“) handelt, hat für Muslime seine Zeitbezogenheit nie ausgeschlossen. Die klassische Koranauslegung war, wie Thomas Bauer gezeigt hat, von Ambiguität geprägt.48 Gleichwohl versuchten islamische Gelehrten den „ijtihâd“ aus politischen Gründen zugunsten einer doktrinär definierten Lenkung durch Gott oder geistliche Autoritäten zu schließen. Sie erschwerten durch die Aufforderung zur Nachahmung die Entwicklung von Ansätzen, den Koran in nachvollziehbarer Weise auf die sich schnell wandelnde Welt zu beziehen. Sie erzeugten so eine Angst, mit der Interpretation über den gegebenen Wortlaut hinauszugehen und damit unerlaubte „Neuerung“ („bida“) zu begehen. Sie prägten in den muslimischen Welten mehrheitlich eine Haltung, die sich stark am Bewahren des 49 Bekannten orientiert , insbesondere bei Angehörigen der Einwanderergesellschaft, wenn für sie Religion im Leben eine größere identitätsstiftende Rolle spielt. Aufgrund des Dogmas von der „Unnachahmlichkeit des Korans“ („iʽğâz al-Qur’ân“) konnte sich eine historisch-kritische Methode als Mittel der Koranauslegung nicht wirklich etablieren. Damit verbunden ist die Weigerung, geschichts- und literaturwissenschaftliche Methoden zuzulassen. Und wenn zudem die Ansicht geteilt wird, die klassischen islamischen Gelehrten und ihre Deutung der heiligen Quellen hätten eine unübertreffliche Reife 50 erreicht , sieht man in der dynamischen Weiterentwicklung der Koranauslegung keine Notwendigkeit.
den traditionellen Praktiken und Ideen des kulturellen Islams einerseits und den Einwirkungen und Verlockungen des islamistischen Islams oder des Islams der Neuinterpretation andererseits kommt der gläubige und gebildete Muslim nicht darum herum, sich zu fragen, wie er sich den Islam seiner Kinder wünscht.“ 48 Siehe oben, Anmerkung 10. 49 Nicht wenige islamische Historiker glauben, dass diese „Rückwärtsgewandtheit“ eines wichtigen Teilbereichs islamischer Theologie ein wesentlicher Grund sei für den kulturellen und politischen Niedergang der arabisch-islamischen Welten, der bis heute andauert. Daher bemühen sich muslimische Intellektuelle und Reformtheologen, die „geschlossene Pforte der Auslegung“ wieder zu öffnen mit dem Ziel, Religion, Politik und Kultur aufeinander zu beziehen, ohne sie zu vereinheitlichen und ohne die Religion ins Private hinein säkularistisch aufzulösen. 50 Berger, Theologie, 117: „Die einmal im Mittelalter gefundenen Rechtsnormen besitzen für die Mehrheit der islamischen Gelehrten weiterhin Gültigkeit.“
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Reformpositionen Aufgeschlossene Denkströmungen ringen vor allem im sunnitischen Diskurs nicht nur mit salafistischen Auslegungen, sie sehen sich ebenso mit einem nach wie vor dominanten traditionellen Schriftverständnis konfrontiert. Bei aller Vielfalt dieser Reformpositionen ist ihnen gemeinsam, dass sie an die klassischen Regeln der Koranauslegung anknüpfen und sich auf die reichen spirituellen, mystischen und philosophischen Traditionen in den islamischen Welten beziehen. So liegt ein großes, heute weitgehend unausgeschöpftes Potential darin, an den aufklärerischen rationalen Strömungen in der islamischen Geistesge51 schichte anzuknüpfen. Die rationalistisch ausgerichtete Schule der 52 Mu´taziliten unterschied nicht nur zwischen Gottes Einzigkeit („tawhîd“) und dem Koran als Wort Gottes, sondern sah die Erkenntnisfähigkeit des Menschen begrenzt und warb dementsprechend für eine selbstkritische Haltung. Weitere große islamische Denker waren u. a. al-Kindî (801–873 in Bagdad), der als einer der ersten großen Übersetzer der Werke der griechischen Philosophie (Aristoteles, Platon) gilt, und al-Fârâbi (872-950), der als „zweiter Lehrer nach Aristoteles“ angesehen wird. Dazu die Philosophen und Ärzte Ibn Sînâ (Avicena, 980–1027) und Ibn Rushd (Averroes, 1126– 1198). Alle haben auch erheblich zur Entwicklung der europäischen Kultur beigetragen. Weil sich menschliche Angelegenheiten ständig wandelten, sei es erforderlich, die Quellen stets neu zu interpretieren. Diese geschichtsbewusste theologische Lektüre war durch die Jahrhunderte, verbunden mit einer großen Bandbreite der Koranauslegung, die Begründung für den „ijtihâd“ als einer Methode für das Auffinden von Lösungen für neue Sachverhalte „im Lichte 53 der Erleuchtung durch die göttliche Offenbarung“. In der islamischen Tradition gab es schon im elften/zwölften Jahrhundert eine eigenständige Aufklä51 Ausführlich zum Verhältnis von Theologie und Philosophie im Islam: Nagel, Geschichte, 165ff. 52 Berger, Theologie, 73–79.173–175; Nagel, Geschichte, 117–122. Die Mutaziliten-Schule stellte die fünfte sunnitische Rechtsschule (neben Hanafiten, Malikiten, Hanbaliten, Schafiiten) dar. Al-Ghazzâlis Vorwurf der Häresie und Apostasie war für die islamische Philosophie verderblich. Die Folge war der Verfall des kritischen philosophischen Denkens. Die Mu´taziliten-Schule wurde als Irrlehre verbannt und verlor im 11. Jahrhundert (auch durch den Untergang des Fatimidenreiches) ihre Bedeutung. 53 Mahammad Hashim Kamali, Methodology in Islamic Jurisprudence, in: Arab Law Quarterly, 1996/1, 3-33, hier 21.
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rung lange vor der europäischen. Diese Aufklärungstendenzen gelte es zu verstärken, wie der ägyptische Koran- und Literaturwissenschaftler Nasr Hâmid Abû Zayd (1943–2010) ausführt: „Wir benötigen die freie Erforschung unseres religiösen Erbes. Dies ist die erste Bedingung für eine religiöse Erneuerung. […] Es gibt keinen Raum für sakrosankte Zufluchtsorte der islamischen Lehre“.54 Der Koran sei keine Ansammlung von Gesetzen, sondern ein ästhetisch zu genießender und poetisch strukturierter und damit offener Text. Nimmt man ihn nur als Text wahr, werde der Koran in ein Gefängnis gedrängt, das seiner eigentlichen Absichten und seinen produktiven Potenzialen für Kultur und Gesellschaft nicht gerecht werde.55 Nicht blinder Glaube und schlichte Nachahmung sei gefordert, sondern ein reflektierter Dialog mit den Quellen. Dementsprechend unterscheiden islamische Reformdenker wie der iranische Philosoph Abdolkarim Sorush zwischen „wahrer Glaubensrichtung“ („dîn“) und religiöser Erkenntnis („ma´refat-e dîni“) und argumentieren, dass die Religion heilig und unveränderlich, die religiöse Erkenntnis dagegen jedoch menschlich sei und sich im Laufe der Zeit durch außer-religiöse Einflüsse weiterentwickele.56 Zeitliches und Überzeitliches sei in der göttlichen Offenbarung zu unterscheiden. Der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Mouhanad Khorchide57 entfaltet im Anschluss an die philosophischen (mu´tazilitischen) und spirituellmystischen Traditionen eine humanistische Koranhermeneutik. Neben der Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung koranischer Aussagen sieht er in der Barmherzigkeit Gottes die zentrale Maxime der Koranauslegung, der es nicht bloß um „richtige Glaubenssätze“ oder äußerliche Riten-
54 Abû Zayd zitiert bei Troll, Denken, 3. Zu Abû Zayd siehe auch Goetze; Religion, 354– 358, und Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München 2013. 55 Nasr H. Abû Zayd, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt a.M. 1996, 204. 56 Zu Abdolkarim Sorush und anderen muslimischen Reformdenkern der Gegenwart vgl. Katajun Amirpur, Ludwig Ammann, Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg 2006. Dieser Band bietet einen kleinen Einblick in die Vielfalt des innerislamischen Diskurses und zeigt das Ringen um eigenständige Reflexionen auf der Basis des ijtihâd. Zu Sorush ebenso: Katajun Amirpur, Ein iranischer Luther? Abdolkarim Sorushs Kritik an der schiitischen Geistlichkeit, in: Orient 37, 1996,, 465–481. 57 Mouhanad Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg 2012.
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frömmigkeit gehe, sondern um eine neue innere Haltung und Beziehung zwischen Gott und Mensch.58 In der Türkei bemühten sich vor allem Mehmet Pacaci und Ömer Özsöy59 von der Theologischen Fakultät der Universität Ankara unter Rückgriff auf Gadamers Hermeneutik60 eine historische Kontextualisierung des Korans voranzutreiben.61 Der Koran sei als mündliche Mitteilung und nicht als Text zu verstehen. Die überzeitlich gültige göttliche Botschaft könne damit nicht einfach mit der geschichtlich bedingten Gestalt des Textes gleichgesetzt werden, in die Gott diese Botschaft im siebten Jahrhundert eingekleidet habe. Einen anderen Akzent setzt Fazlur Rahman (1911– 1988)62, nach dem der Koran überhaupt keine Prinzipien vermittle, sondern in den meisten Fällen Lösungen oder Entscheide für eine ganz spezifische historische Situation. Diese geschichtssensiblen Auslegungen würdigen den Koran als ein spirituelles „Wahrnehmungsereignis“, das stets neu gehört und verstanden werden muss. Sufische (mystische) Bewegungen suchen darüber hinaus die innere Gotteserkenntnis. Sie halten die Fixierung Gottes auf eine Textgestalt für zutiefst unislamisch, was sie in Konflikt mit der sunnitischen Or63 thodoxie bringt. Auch die schiitische Tradition ist mehr an der Übertragung des äußeren Wortsinnes auf die innere Deutung („at-ta’will“) interessiert als an der buchstäblichen Bedeutung.64 Das bedeutet schon im Hinblick auf den innerislamischen Diskurs: Jede Interpretation, die behauptet, den Sinn des Korans für immer festzulegen, steht unter Ideologieverdacht und spielt radikalen Gruppierungen in die Hände. Und: Dass etwas 58 Ebd., 171–177. 59 Ömer Özsoy ist seit 2009 Professor am „Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam“ an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt a. M. mit dem Schwerpunkt Koranexegese. 60 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. 61 Felix Körner, Revisionist Koran Hermeneutics in Contemporary Turkish University Theology, Würzburg 2005 – ders., Historisch-kritische Koranexegese? Hermeneutische Neuansätze in der Türkei, in: Görge K. Hasselhoff/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Krieg der Zeichen? Zur Interaktion von Religion, Politik und Kultur (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, Band 1), Würzburg 2006, 57–74. 62 Fazlur Rahman, Islam and Modernity, The University of Chicago Press, 1982, 19ff. 63 Goetze, Religion, 371. 64 Zum Unterschied zwischen „at-tafsir” und „at-ta’wil” vgl. Hussein Ali Akash, Die sufische Koranauslegung. Semantik und Deutungsmechanismen der ishârî-Exegese, Berlin 2006, 40–50.
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im Koran steht, ist selbst noch kein Beleg dafür, dass es auch den Glauben der Muslime inhaltlich und spirituell bestimmt.65 Streit um eine angemessene Koranhermeneutik Trotz des Dogmas von der „Unnachahmlichkeit des Korans“ war die „Pforte der Bemühungen“ in der gesamten Geschichte des Islams nie wirklich geschlossen.66 Ein offeneres Verständnis des Korans und die Fähigkeit zur Differenzierung sind, wie ein Blick auf die islamische Tradition zeigt, möglich. D.h. „nicht allein das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Dogmas kann Grundlage des Glaubens sein, sondern allein das Verständnis des Korans als ein spiritueller Text.“67 Im Diskurs um eine angemessene Koranhermeneutik ist daher gerade gegenüber salafistischen Positionen an die spirituellen Grundlagen zu erinnern68: Die Überlieferung des Korans ist bis heute grundlegend an die Rezitation („qur’ân“) gebunden. Damit ist nach islamischem Selbstverständnis die ununterbrochene mündliche Tradierung durch die Schulen der KoranRezitatoren der „sound“ für die genaue Textgestalt maßgebend und keinesfalls irgendeine schriftliche „Urform“ des Korans. Vielen Muslimen ist selbst sehr deutlich, dass rechtgläubige Bekenntnisse orthodoxer Prägung allein nicht genügen. Sie können vielmehr der verhängnisvollen Täuschung Vorschub leisten, als wäre die Zustimmung zu der (für sich angenommenen) Wahrheit bereits hinreichendes Merkmal für den Glauben. Dem Bedürfnis nachzugeben, einer religiösen Lehrmeinung zu folgen statt sich selbst zu bilden, ist dennoch eine große Versuchung – insbesondere wenn der von traditionell orthodoxer Seite erhobene Vorwurf des 69 „takfîr“ (Beschuldigung des Unglaubens) im Raum steht und aufgrund der pluralen, unübersichtlichen Welt eigene Profilschärfung auf Abgrenzung setzt. 65 Goetze, Religion, 356f. 66 Vgl. dazu Goetze, Religion, 353f. „Es ist beachtenswert, dass sich ausgerechnet die Islamisten auf diese Tradition des „ijtihâd“ beriefen, um ihr eigenes individuelles Recht auf Qur’ânauslegung religiös zu legitimieren und um einen Wandel im Denken und Tun des Gläubigen herbeizuführen.“ 67 Ebd. , 462, Anm. 42. 68 Zur grundlegenden Bedeutung der spirituellen Dimension des Glaubens siehe Goetze, Religion, 377–380. 69 Berger, Theologie, S. 66.
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Im Geflecht der Akteure gibt es eine höchst kontroverse innerislamische Debatte über die Auslegung und das Verständnis der heiligen Quellen Koran und Sunna inklusive der traditionellen Rechtsprechungen der islamischen Gelehrten. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit des Korans wird in der Zukunft noch zunehmen. Entscheidend kommt es darauf an, welchen Richtungen es gelingen wird, ihre Islaminterpretation in die großen Ausbildungsinstitutionen einer Gesellschaft einzubringen. Den einen und für alle Zeiten gültigen Islam gibt es nicht. Die religiöse Erkenntnis, so 70 Abdolkarim Soroush, sei immer wandelbar : Gott habe zwar mit Muhammad den letzten Propheten geschickt, nicht aber die letzte Interpretation von Gottes Wort. Abstract The claim of the one and only correct understanding of the Quran has a long standing tradition. Nevertheless, it does not represent the Quran itself which is much more a reading and listening event, open to interpretation, than a fixed doctrine. The article shows how he doctrinal perception of Quran developed in history up to modern Salafists. But since religious views and convictions change there is no such thing as an unchangeable Islam. According to Muslim belief God has sent Muhammad as the latest of all of the prophets, but definitely not the one and only interpretation of Quran.
70 Abdolkarim Soroush, Reason, Freedom & Democracy in Islam. Essential Writings of Abdolkarim Soroush, Oxford 2000.
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Impulse für die Praxis
Aufgeklärte Gewissheit Fundamentales und Fundamentaltheologie im Religionsunterricht als Schutz vor Fundamentalismus Michael Meyer-Blanck 1.
Fundamentales, Fundamentaltheologie und Fundamentalismus
Der christliche Religionsunterricht (RU) in der Gegenwart hat so mit der evangelischen Gewissheit vertraut zu machen, dass junge Menschen zur Religion zugleich hingeführt als auch vor ihr gewarnt werden. Der RU hat religiöses Selbst- und Weltverstehen sowie religiöse Praxis als eine Angelegenheit mit Risiken und Nebenwirkungen zu erschließen. Dabei kann es weder um die Anpassung an vorhandene (kirchliche oder erwachsene) Muster von Religion gehen noch um das Prinzip der unbeschränkt subjektiven Wahl. Die Anpassung wäre ein Widerspruch zur Bildung, die angeblich freie Wahl wäre die Vorspiegelung falscher Tatsachen, da sich Gewissheit immer in kulturellen Kontexten bildet. Zum kulturellen Kontext gehört die eigene (christliche, säkulare oder muslimische) Herkunft ebenso wie die Gegenwart mit ihrer zunehmenden Individualisierung von Religion, die zugleich eine 1 Dekulturalisierung und Deterritorialisierung bedeutet. Alle diese modernen Erscheinungsformen von Religion bringen zugleich die Gefahr des Fundamentalismus mit sich, da der Fundamentalismus bekanntlich eine moderne Erscheinung ist, die als Reaktion auf die Moderne dieser zwar scheinbar entgegengesetzt ist, aber gerade so zutiefst an sie gebunden und in ihr begründet bleibt. Fundamentalismus ist eine Anti-Bewegung unter den
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Olivier Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 1118), Bonn 2011.
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DOI 10.2364/3846998984
Bedingungen und Möglichkeiten des von ihm Bekämpften, also der Moderne. Mit dieser Gegenbewegung liegt zugleich eine strukturelle und reale Analogie zu dem Phänomen „Jugend“ vor. Jugend ist immer auch eine Gegenbewegung zur aktuellen Kultur, welche aber durch ihre Absetzbewegung zugleich an die Muster der vorangehenden Generation gebunden bleibt. Die viel thematisierte Generation der „68er“ ist das bekannteste Beispiel für diesen Zusammenhang. Der Fundamentalismus der Gegenwart ist ein fast ausschließlich adoleszentes und zugleich religiöses Phänomen. Daraus ergeben sich die vorliegenden Überlegungen für die Praxis religiöser Bildungsprozesse, vornehmlich im schulischen RU. Zugrunde liegt die von den Herausgebern dieses Heftes getroffene Unterscheidung zwischen Fundament und Fundamentalismus. Die These meines Beitrages lautet, dass ein kritischer Zugang zu den Fundamentalia der (christlichen) Religion und eine fundamentale Theorie zur Realität und Wirkungsweise der eigenen Religion (Fundamentaltheologie) die besten Mittel sind, um vor dem Irrweg des Fundamentalismus zu warnen und zu bewahren. Diese These fasse ich mit dem von mir bereits 2001 verwendeten Ausdruck der „aufgeklärten 2 Gewissheit“ als Leitbild religiöser Bildung zusammen. 2.
Das Fundamentale als religiöse Bildungsdimension
Das Fundamentale ist vom Wortsinn her die Operationsbasis, die ein eigenes freies Wahrnehmen und Handeln ermöglicht. Auf dem festen Grund eines eigenen Selbst- und Weltverstehens wird es möglich, andere Verständnisse differenzierter wahrzunehmen, gelten zu lassen und wertzuschätzen. Das hat bereits die EKD-Denkschrift von 1994 mit der Formel „Identität und Verständigung“ zum Ausdruck gebracht.3 Didaktisch hat man in der Zeit danach um die Frage gerungen, ob die Formel bedeute, dass man zuerst die eigene Identität auszubilden habe, um sodann und infolgedessen auch zur Verständigung fähig zu sein oder ob sich umgekehrt die eigene religiöse Identität nur auf dem Wege der Verständigung mit anderen, religiös anders Ge2
3
Michael Meyer-Blanck, Aufgeklärte Gewissheit: Christliche, islamische und staatsbürgerliche Identität als schulische Bildungsaufgabe, in: Sabine Sielke (Hg.), Der 11. September 2001. Fragen, Folgen, Hintergründe, Frankfurt a.M. u.a. 2002, 173–182. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994.
Michael Meyer-Blanck, Aufgeklärte Gewissheit
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prägten, bilden könne. Ob die Alternative zutrifft oder nicht, mag dahin gestellt bleiben; unbestritten jedenfalls ist der Zusammenhang zwischen Identität und Verständigung, zwischen der Ausbildung eigener Standfestigkeit und Offenheit für andere. Inzwischen hat die EKD in einer neuen Denkschrift verstärkt auf die Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus für den RU hingewiesen. Die Schule müsse es „allen Schülerinnen und Schülern ermöglichen […], religiöse Orientierung zu gewinnen“ und sich „in den religiösen und weltanschaulichen Konflikten zurechtzufinden“.4 Das Fundamentale von Lernprozessen ist bereits von Wolfgang Klafki im Zusammenhang der bildungstheoretischen Didaktik beschrieben worden. Klafki ging es um solche Inhalte, die auf eine wichtige Weise bildend wirken – exemplarisch, elementar und fundamental. Anstatt der unübersehbaren Fülle von Inhalten sollten solche Bildungsgehalte erschlossen werden, die für Exemplarisches stehen können. Das „Exemplarische“ meint das Prinzip, dass etwas Besonderes für das Allgemeine stehen soll; bezogen auf die Inhalte kann dabei vom „Elementaren“, bezogen auf die menschlichen Erfahrun5 gen von dem „Fundamentalen“ gesprochen werden. Das Fundamentale evangelischer Religionslehre umschreibt also jene Erfahrungen, an denen das spezifisch Religiöse in der Nähe wie im Unterschied zum Naturwissenschaftlichen, Historischen, Sprachlichen, Ästhetischen und Ethischen deutlich wird und zusätzlich noch in seiner konfessionellen Spezifität. Das Fundamentale bezieht sich demnach viel weniger auf Inhalte, Texte und Lehren, sondern auf die Erfahrungen und Einsichten der Lernenden. Dem scheint die jüngste religionsdidaktische Entwicklung zu entsprechen. Denn die Fundamentalia des RU sind in letzter Zeit vor allem als Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lernenden, als Kompetenzen im Umgang mit Religion verstanden und beschrieben worden. Man hat dabei etwa Sachkompetenz, unterteilt in Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz, 4
5
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2014, 125. Dort heißt es auch explizit: „Probleme des religiösen und weltanschaulichen Fundamentalismus sollten zum Standardrepertoire des erziehungswissenschaftlichen oder philosophischen Studienanteils gehören“ (122). Wichtig ist der Hinweis, dass sich diese Forderung auf alle Lehrkräfte bezieht und nicht nur auf die Religionslehrerinnen und -lehrer. Wolfgang Klafki, Das Elementare, Fundamentale, Exemplarische, in: Hans-Hermann Groothoff,/Martin Stallmann (Hg.), Pädagogisches Lexikon, Stuttgart/Berlin 1961, 189– 194, und dazu Werner Jank/Hilbert Meyer, Didaktische Modelle, Frankfurt / Main 1991, 146–152.
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Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenz unterschieden.6 Dabei ist aber völlig zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es eine „religiöse Kompetenz“ nicht gibt, sondern nur religiös relevante Kompetenzen, also „Kompetenzen, derer man bedarf, um sich in der Welt der Religionen und Religiositäten beschreibend, deutend, urteilend zu orientieren.“7 Religiös relevant sind alle diese Kompetenzen also nur im Zusammenhang mit Inhalten, anhand derer sie zur Anwendung kommen.8 Die Vermittlung bzw. Aneignung religiöser Fundamentalia kann also von den Kompetenzen her nicht beschrieben werden, gerade weil die Kompetenzen wichtig sind. Die Urteils- und Handlungskompetenz im Hinblick auf den Islam bildet sich nur in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gottesbild und Schriftverständnis sowie durch die Vertrautheit mit bestimmten zeichenhaften rituellen Praktiken (z.B. Gebetshaltungen, Festbräuche und Fastenpraxis). Um solche Fundamentalia für religiöse Lernprozesse anzugeben, die zu einer eigenen Orientierung und damit auch zur Verständigung mit dem Fremden helfen, sind die allgemeinen handlungstheoretischen Kompetenzformulierungen mithin wenig geeignet. Aber auch der Rückgriff auf elementare Inhalte wie Bibel, Glaubensbekenntnis, sittliche und kultische Praxis kann das Fundamentale nicht in den Blick bekommen. Es muss vielmehr um solche inhaltsbezogenen Erfahrungen gehen, die das Religiöse und speziell das Christliche (in evangelischem Verständnis) erschließen. Es muss sich also von vornherein um hermeneutische Kategorien handeln, die die fundamentale Aufgabe evangelischen Verstehens – auf dem Niveau der jeweiligen Alters- und Bildungsstufe – auf den Punkt bringen. Im Folgenden nenne ich dazu einige Erfahrungen.
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8
So z.B. Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Evangelische Religionslehre, Frechen 2011, 12–14. Bernd Schröder, Was ist eine religiöse Kompetenz? Überlegungen zum Beitrag der berufsorientierten Religionspädagogik zu einer umfassenden Handlungsfähigkeit, in: Michael Meyer-Blanck/Andreas Obermann (Hg.), Die Religion des Berufsschulreligionsunterrichts, Münster 2015, 129–139, hier 133. Schröder macht darauf aufmerksam, dass die Anwendung solcher Kompetenzen „weder Religiosität voraussetzt noch erzeugt“ (ebd.). Ebd.
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2.1 Die fundamentale Bedeutung des Geschichtlichen für die evangelischchristliche Religion Die christliche Religion hat ihren Namen von einer bestimmten historischen Person, die in der Folge von Generationen als „der Christus“ geglaubt wurde und geglaubt wird und der seinerseits Angehöriger einer spezifischen Kultur eines bestimmten Volkes, des Judentums war. Nach dem Historismus des 19. Jahrhunderts, der bis heute alle Geistes- und Kulturwissenschaften bestimmt, erscheint diese historische Einordnung und Herleitung als nichts Außergewöhnliches. Auch literarische, sprachliche und ethische Erkenntnisse sind dieser Wahrnehmung nach das Ergebnis historischer Entwicklungen. Für die Entstehung der Religion und Literatur Israels und der ersten Christen im Kontext des Alten Orients, des Hellenismus und der Spätantike gelten dieselben Bedingungen. Das Besondere der christlichen Religion aber ist die Historisierung des Endes des Historischen, die Aufhebung, das Ende der Geschichte (1Petr 4,7). Im Unterschied auch zum Judentum und zum Islam wird dabei das Göttliche in seiner Fülle in historisch datierbarer Zeit und in einer historisch greifbaren Person und Biographie festgemacht unter dem Paradox, dass damit die Geschichte zugleich aufge9 hoben ist. Dies wurde von der Wort-Gottes-Theologie in einer grandiosen und sachgemäßen Monotonie als das Eschatologische der neutestamentlichen Botschaft umschrieben. Fundamental wird also die Erschließung des Christlichen nur als das Geschichtliche sein, indem in dieser Kategorie der Gedanke des Historischen und die Aufhebung der Geschichte zugleich enthalten sind. Das Werk Rudolf Bultmanns steht in besonderer Weise für diese Einsichten und der knappe und gehaltvolle Aufsatz „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ kann diese Paradoxie des Geschichtlichen auch für 10 Oberstufenklassen gut erschließen.
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Das gilt trotz bzw. gerade wegen der Krise der Leben-Jesu-Forschung seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Der bleibende Streit um den „historischen Jesus“ ist Ausdruck der konstitutiven Bedeutung der Biographie des Jesus von Nazareth für die christliche Konzeption des Endes der Geschichte. 10 Rudolf Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? In: ders., Neues Testament und christliche Existenz, hg. von Andreas Lindemann, Tübingen 2002, 1–12.
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2.2 Die fundamentale Bedeutung des Anthropologischen für die evangelisch-christliche Religion In dem genannten Aufsatz Bultmanns kommt auch eine zweite fundamentale Einsicht zum Ausdruck: Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Christliche Religion in ihrer evangelischen Ausprägung in der Neuzeit, in der Zeit nach der Aufklärung, ist fundamental als Anthropologie zu konzipieren. Theologie kann niemals die Wissenschaft von Gott sein, sondern sie ist als die Wissenschaft vom menschlichen Glauben an Gott aufzufassen, von einem Glauben, wie er in einer bestimmten Gemeinschaft, der Kirche, tradiert wird und lebendig ist. Die Einsicht der kantischen und nachkantischen Philosophie, dass direkte Sätze über Gott philosophisch obsolet sind, hat sich seit der Theologie des 19. Jahrhunderts bleibend durchgesetzt. Der Marburger Systematische Theologe Wilhelm Herrmann (1846–1922), der nicht nur auf Bultmann, sondern auch auf Karl Barth großen Einfluss hatte, brachte diese Einsicht der nachaufklärerischen Theologie auf die von Bultmann an zentralen Stellen zitierte For11 mel: „Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut.“ Macht man sich klar, dass diese fundamentale evangelische Einsicht, die auf Schleiermachers Umformung der metaphysisch bestimmten Dogmatik in eine Glaubenslehre beruht, in derselben Zeit entstand, als die Kategorie der Bildung in der Schwellenzeit um 1800 (etwa 1770–1830) für das Verstehen des Menschen leitend wurde, dann liegt das pädagogisch Relevante unmittelbar auf der Hand: Religion als die Rede des Menschen von Gott muss von den Redenden jeweils verständlich expliziert und gegenüber anderen verantwortet werden. Eine Berufung auf das Handeln Gottes außerhalb verständlich zu machender Erfahrungen ist nicht mitteilbar und nicht diskursfähig. Zwar ist nicht jeder in der Lage, über seine religiösen Erfahrungen zu sprechen. Aber das gilt nur, insofern es ihm noch an der dazu notwendigen Sprach- und Deutungskompetenz mangelt – und darum gilt es diese durch Bildungsprozesse zu erwerben. Eine prinzipielle Berufung auf unmittelbar metaphysische und der Kommunikation unzugängliche Einsichten in das Wesen Gottes sind aber nach diesen fundamentalen Arbeiten der evangelischen Theologie nicht mehr 11 Rudolf Bultmann, Sinn, 11; das Zitat stammt aus: Wilhelm Herrmann, Die Wirklichkeit Gottes, Tübingen 1914, 42; frei zitiert wird diese Stelle in: Rudolf Bultmann, Jesus Chris3 tus und die Mythologie, in: ders., Glauben und Verstehen Bd. IV, Tübingen 1975 [1965], 141–189: „[…] wir können nicht davon sprechen, was Gott in ihm selbst ist, sondern nur von dem, was er an uns und mit uns tut“ (181).
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möglich. Evangelische Theologie in unserer Gegenwart ist immer auch Anthropologie und religiöse Bildung hat dieses fundamentale Prinzip zu erschließen. Die Rede von Gott verliert dadurch zugleich etwas von ihrem Apodiktischen. Wer von Gott und zugleich von sich selbst redet, übernimmt Verantwortung für seine eigene Religiosität und ist bereit, diese der Rückfrage und dem Gespräch auszusetzen. Man kann gewiss darüber streiten, ob der Religionsunterricht tatsächlich in diesem Sinne Theologie sein soll, oder ob es sich nicht vielmehr um Reli12 gion handle. Da religiöse Bildung aber immer zugleich kritische Rede über die eigene und fremde Religion ist, wird man sagen können, dass mindestens diese theologische Aufgabe eine Rolle zu spielen hat, so dass der Religionsunterricht diese religiös reflexive, theologische Dimension hat, auch wenn man ihn von der Theologie als einer Funktion der Kirche unterscheiden möchte. 2.3 Die fundamentale Bedeutung des Kritischen und Hermeneutischen für die evangelisch-christliche Religion Im Religionsunterricht lernt man nicht nur das Reden über Religion und die Formen religiöser Rede kennen. Es geht in diesem Fach auch um die Einsicht in die Arten und Weisen des Sprechens vom Menschen. In der Schule gibt es ja nicht nur eine religiöse Anthropologie, sondern auch eine sprachliche, naturwissenschaftliche, soziologische, pädagogische, ästhetische und leiblich-sportliche Anthropologie. Das Besondere der Fächer Philosophie und Religion ist es aber, dass die Anthropologizität und die konkrete Anthropologie thematisch gemacht werden. Die zugrundeliegende Anthropologie des Mathematik- und Sprachunterrichts bleibt den Lernenden in der Regel verborgen. Die grundlegende Absicht beobachtender naturwissenschaftlicher Bildung wird zwar unbewusst wirksam, aber sie wird nicht der Einsicht und Kritik zugänglich gemacht. Die Bedingungen und Möglichkeiten des Erkennens und Argumentierens kommen in den anderen Fächern kaum zur Sprache. Darum hat der Religionsunterricht auch die Aufgabe, stellvertretend für alle Fächer die Bedingungen und Möglichkeiten verschie12 Zu dieser jüngst ausgetragenen Kontroverse vgl. Thomas Schlag/Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011 – Bernhard Dressler, Zur Kritik der „Kinder- und Jugendtheologie“, in: ZThK 111, 2014, 332–356.
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dener Sprechweisen über die menschliche und kulturelle Wirklichkeit zu erhellen. Der RU ist der Ort für das Erlernen von Hermeneutik und Kritik. 3.
Religiöse Bildung als Fundamentaltheologie für, mit und von Jugendlichen
Damit bin ich bei dem zweiten Teil der eingangs formulierten These: Das geeignete Gegengewicht zu einem drohenden Fundamentalismus ist eine fundamentale Theorie zur Realität und Wirkungsweise der eigenen Religion. Diese könnte man auch – wäre das Wort nicht so sperrig – als eine „Jugendfundamentaltheologie“ bezeichnen. Anknüpfend an die Überlegungen zur „Jugendtheologie“ in den letzten Jahren, die sich vor allem auf materiale theologische Gehalte wie die Gottesfrage und die Christologie konzentriert hat, geht es in einer solchen Bemühung darum, die Bedingungen und Möglichkeiten religiösen Sprechens und theologischen Argumentierens deutlich werden zu lassen. Diese Aufgabe nimmt der RU in der Oberstufe immer schon wahr. Es geht also darum, diese grundlegenden Funktionen des Unterrichts noch weiter zu intensivieren. 3.1 Fundamentaltheologie als Religionskritik Die Religionskritik ist ein gut eingeführtes Thema des RU in der Oberstufe, und zumeist kommen die klassischen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts vor (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud). Wie wichtig die Kritik für die Abwehr fundamentalistischer Orientierungen ist, liegt auf der Hand und man kann sagen, dass der RU mit diesem Thema den wichtigsten Beitrag zur Fundamentalismusprävention leistet. Die didaktische Intention wird es dabei weder sein, die Kritik als solche nahezubringen, noch diese in apologetisch-christlicher Sicht zu widerlegen. Es geht vielmehr darum, Einsicht in die Sprechweise und in die Reichweite der jeweiligen Religion zu ermitteln. Insbesondere die Religionskritik Friedrich Nietzsches dürfte sich dabei für eine vertiefte Beschäftigung eignen – während sich die Unterrichtswerke bisher auf den Aphorismus 125 aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ mit der viel zitierten Spitzenaussage „Gott ist tot“ beschränken. Nietzsche kritisiert zwar – in der Spätzeit in besonderer Radikalität – das Christentum, aber es handelt sich bei ihm dennoch sehr viel stärker um eine Form von radikaler Erkenntniskritik. Nicht nur die Religion, sondern auch Moral und sprachliche Konventionen, Begriffe, Kategorien und ethische Prinzipien werden von Nietzsche einer radikalen Dekonstruktion unterzogen.
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Er kritisiert die Grundlagen des Denkens, die uns bis heute bestimmen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, also Idealismus, Metaphysik und auch das Konzept einer sich selbst zugänglichen, autonomen Subjektivität; damit handelt es sich zugleich um eine Kritik der pädagogischen Anthropologie, wie sie in und nach der Aufklärungszeit entstanden ist. Gegengelesen werden die Hauptprinzipien des Denkens des 19. Jahrhunderts, also Entwicklung, Geschichte und Fortschritt bzw. kulturelle Machbarkeit. Nietzsches Schrift „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ von 187313 könnte von daher in Ausschnitten oder sogar ganz Eingang in den Unterricht finden. Die Religionskritik hat aber nicht nur im philosophischen, sondern auch im aktuellen Kontext zu erfolgen. Schülerinnen und Schülern soll deutlich werden, dass Religion ein Gefahrenpotenzial birgt, indem sie der Ausübung von Macht dienen kann. Der Jesuit Pater Klaus Mertes, der im Januar 2010 als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin die Debatte über den sexuellen Missbrauch in kirchlichen und reformpädagogischen Einrichtungen ins Rollen brachte, hat kürzlich den Zusammenhang von Religion, Gewalt und Unterwerfung in – auch für Jugendliche – gut verständlicher Diktion beschrieben: „Gewalt beginnt mit Unterwerfung: ‚Ich unterwerfe mich, damit ich unterwerfen darf.‘ Auf dieses universale Gesetz der Gewalt bin ich im pädagogischen Alltag gestoßen. So ist es in manchen deutschen Schulen unter Schülern Tradition, dass die kleinen Neuen von den größeren Alten gejagt und in eine Mülltonne gesteckt werden – erst dann gehören sie da14 zu.“ Mertes weist darauf hin, dass dieser Gestus auch die Religion betreffen kann – etwa in dem Votum eines jungen deutschen Mannes, der sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen hatte: „Islam bedeutet Unterwerfung, nicht Liebe.“ Auch junge Christen äußerten in diesem Zusammenhang das Bedauern, dass das Christentum „Schwäche zeige“ und nicht so scharf auf Blasphemie reagiere wie der Islam. Hier tritt laut Mertes dasselbe Gewaltschema zutage wie bei den sogenannten jugendlichen Mutproben – nur eben „religiös aufgepumpt“: Aus der Unterwerfung unter Gott folgt in dieser Sichtweise die Begründung oder gar der Auftrag, andere zu unterwerfen und seinerseits Macht auszuüben. Klaus Mertes: „Gegen die Unterwer13 Friedrich Nietzsche, Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn in: Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, hg. von Giorgio/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1999, Bd. 1, 873–890. 14 Klaus Mertes, Gewalt und Unterwerfung, in: Die ZEIT Nr. 5 vom 29.1.2015, 56. Zitate im Folgenden beziehen sich ebenfalls auf diesen Artikel.
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fung hilft, sich nicht von ihren Ausreden verwirren zulassen. Der Verzicht auf Unterwerfung ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern von Stärke. Sodann hilft: Gewalt aufdecken. Denn Gewalt ist feige, versteckt sich, tarnt sich als Spaß, als Frömmigkeit, als Pädagogik, ja sogar als Liebe.“ 3.2 Fundamentaltheologie als Religionstheorie Zu den Bedingungen und Möglichkeiten des Religiösen und des Theologischen in der Gegenwart gehört schließlich die Einsicht in die Funktionsund Wirkungsweise von Religion. Bei diesem Punkt handelt es sich mithin um das Allgemeinere dessen, was in der Religionskritik bereits angesprochen wurde. Auch das Thema „Religion“ findet sich in den Lehrplänen der Oberstufe, nicht zuletzt in den verschiedenen Bildungsgängen des Berufskollegs. Hier ist es wichtig, Einsichten in die Pluralisierung, Individualisierung und in den zunehmenden Warencharakter aller religiösen Orientierungen zu verdeutlichen. Die Religion hat sich zunehmend von der Tradierung durch die ältere Generation abgelöst und ist zu einer individuell verfügbaren Ressource geworden, die unabhängig von Kultur, Herkunft und Milieu funktioniert. Das erklärt auch ihre zwar nicht ausschließliche, aber zunehmende Radikalität. Religion wird nicht mehr gebremst oder gemildert durch ein langsames Wachstum in der eigenen Lebensgeschichte, sondern sie tritt bisweilen wie eine Naturgewalt in das Erleben des Jugendlichen. Insofern bedeutet eine jugendliche Fundamentaltheologie die Einsicht in diese Konstitutionsbedingungen und zugleich eine Warnung vor der Gewalt einer Religion, die als „reine Religion“ von allen kulturellen Vermittlungsformen unabhängig ist: „Die Dekulturation ist der Verlust der sozialen Selbstverständlichkeit des Religiösen. Die Gläubigen empfinden sich nunmehr als Minderheit, umgeben von einer profanen, atheistischen, pornografischen, materialistischen Kultur, die sich falsche Götter erwählt 15 hat: Geld, Sex oder den Menschen an sich.“ Diese Bedingungen des Religiösen gilt es Jugendlichen zu erschließen, damit sie sich in ihren eigenen Orientierungen besser orientieren können. Das vermeintlich Individuelle und Autonome als Form der unterschwelligen Konventionalisierung und Standardisierung deutlich werden zu lassen, kann 15 Roy, Einfalt, 28, vgl. zur Standardisierung: „Wer hat gewonnen, wenn es auf einmal ein ‚hallal McDonald’s‘ gibt oder ‚Mekka-Cola‘? Hat die Scharia gewonnen oder das Fastfood? Mekka oder Atlanta?“ (50).
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ein aufklärendes und befreiendes Potenzial haben, so dass Fundamentalia und Fundamentaltheologie in der Tat vor Fundamentalismus bewahren können. Abstract As its basic idea this article explains that a critical approach to the fundamental beliefs of (Christian) religion, its foundations, and its stimulating effects provides a remedy for fundamentalism. Enlightened certainty is understood as a leading option for religious formation in which apodictic statements are inappropriate. Whoever talks about religion at the same time talks about himself or herself, thus taking responsibility for the own religious understanding and being ready to start a dialogue. Foundations in this respect can indeed keep believers from fundamentalism.
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Rezension
Das „Fundamentalism Project“ der American Academy of Arts and Sciences im Überblick Matthias Roser Die Semantik der Begriffe „Fundamentalist“ und „Fundamentals“ verweist in die Theologiegeschichte der Vereinigten Staaten ab ca. 1910. Mit dem Begriff „The Fundamentals“ wird eine immer wieder nachgedruckte1 90bändige Schriftenreihe bezeichnet, die vom Bible Institut of Los Angeles (BIOLA) herausgegeben wurde und als Zielsetzung die apologetische Auseinandersetzung mit der modernen, historisch-kritischen Perspektive auf die Bibel und die jeweiligen, denominationell unterschiedlichen Bekenntnistraditionen aus der Sicht der „Evangelicals“ benennt: „The Christian teachings contained within these articles educate, enlighten correct and guard against error, through Scripture. Unfortunately it appears many churches, seminaries and Christian writers haven't read them, and now unknowingly promote falsehoods like evolution, kingdom now theology, church growth through secular ideals, pastoral equipping with organizational charts instead of Biblical example, no eternal punishment, 2 non-reliance on Scripture, ecumenism, friendship evangelism and so on. “ Die positive Selbstattributierung „Fundamentalist“ lässt sich auf einen Beitrag von Curtis Lee Laws im „Watchman Examiner“, der Zeitung der Northern Baptist Convention, aus dem Jahr 1920 zurückführen: „We suggest that those who still cling to the great fundamentals and who mean to do battle royal for the fundamental shall be called Fundamentalists.“3
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Die gesamte Schriftenreihe ist unter http://web.archive.org/web/ 20030101082327/http:// www.geocities.com/Athens/Parthenon/6528/fundcont.htm verfügbar (Zugriff 1.8.2016). Ebd. Curtis Lee Laws, Convention side Lights, n: The Watchman-Examiner, Vol. 8, No 27, July 1, 1920, 834
Matthias Roser, Das „Fundamentalism Project“
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DOI 10.2364/3846998991
Ca. 70 Jahre später (1987) initiierte die American Academy of Arts and Sciences ein im Verlauf dann siebenjähriges, internationales Forschungsprojekt – in Kooperation mit der University of Chicago Press – zur vergleichenden Erforschung des Fundamentalismus-Phänomens in den großen Weltreligionen4, insbesondere in religionswissenschaftlicher und religionssoziologischer Perspektive. Unter der Federführung der beiden wissenschaftlichen Leiter des Projektes, Martin E. Marty und R. Scott Appleby, erschienen noch während des Projektzeitraumes insgesamt fünf Dokumentationsbände, die alle von der University of Chicago Press verlegt wurden. Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Sammelbände: − Volume 1: Fundamentalisms Observed (1991) − Volume 2: Fundamentalisms and Society: Reclaiming the Sciences, the Family, and Education (1993) − Volume 3: Fundamentalisms and the State: Remaking Polities, Economies, and Militance (1993) − Volume 4: Accounting for Fundamentalisms: The Dynamic Character of Movements (1994) − Volume 5: Fundamentalisms Comprehended (1995). Martin E. Marty benennt in seinem bereits ‚zitierten‘ Rückblick drei zentrale zeitgenössische Motive und methodologisch grundlegende Vorannahmen bei der Inauguration und Durchführung des Projektes: a) Die These von der Wiederkehr der Religionen und des Religiösen in der Postmoderne: „The period that had been called ‚modern‘ or ‚late modern‘ but was now coming to be called “postmodern“ was seeing more – not fewer – primarily religious or religiously connected movements that were intense, impassioned, separatist, absolutist, authoritarian, and mili5 tant.“ b) Die These von der Entprivatisierung der Religionen und des religiösen Bekenntnisses verbunden mit deren Streben nach politischer Macht und gesamtgesellschaftlichem Einfluss: „The world that with good reason has often been named ‚secular‘ had room to include, within its pluralist, multicultural, and “mixed” religiosecular settings, more m – not less – religion. Religion grew ever more visible, more public, more prosperous. 4
5
Vgl. den Rückblick von Martin E. Marty: Too Bad We’re So Relevant. The Fundamentalism Project Projected (1995), online verfügbar unter: http://www.illuminos.com/ mem/selectPapers/fundamentalismProject.html (Zugriff am 12.04.2015) Ebd.
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While doing so, it evidenced more of both the healing and the killing capacities of religion.“6 c) Die These von der exponentiell fortschreitenden Ausdifferenzierung und Transformation religiöser Sinn- und Handlungsorientierungen (in soziologisch beschreibbare Bewegungen hinein) in der Postmoderne sowie die Partizipation des Fundamentalismus am Bewegungscharakter religiöser Sinnsuche einerseits und der grundlegenden Infragestellung transreligiöser und transkonfessioneller religiöser Sinnsuche durch den Fundamentalismus andererseits: „The international spheres that in the recent past had been marked by tendencies denominated ‚interreligious‘ or ‚ecumenical‘ were challenged by more – not fewer – tendings toward fundamentalisms. Certainly, some of the isolationist and separatist fundamentalisms, in the course of even those few years, met with rejection or decline, while others dwindled, turned moderate, or coalesced with less hard-line movements – consequently losing their identity and their militancy. Yet at the same time, more such movements expanded and found inspiration in formally similar movements in other religions. Together they aspired to fill the spiritual vacuums, to grow on the spiritual deserts, left by the decline of some ideologies (e.g., postEnlightenment sorts in the West), by the demise of others (e.g., Soviet Communism), and by the perceived failure of moderate faiths to deliver promised spiritual and physical goods to millions.“7
Im das Forschungsprojekt formal abschließenden Sammelband „Fundamentalism Comprehended“ legen Gabriel A. Almond, Emmanuel Sivan und R. Scott Appleby in einem Gemeinschaftsbeitrag den Versuch vor, Begriff und Gegenstand des religiösen Fundamentalismus zu definieren8, der direkt anschließende Beitrag der gleichen Autoren unternimmt es, religiösen Fundamentalismus zu erklären bzw. dessen Motivik zu deuten.9 Almond, Sivan und Appleby machen in ihrem Definitionsversuch ungelöste methodologischen Probleme namhaft und beschreiben folglich allein zentrale „Mauersteine“ (Capstones) religiösen Fundamentalismus in interreligiöser und interkultureller Perspektive. Charakteristisch für religiös-funda6 7 8
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Ebd. Ebd. Gabriel A. Almond, Emmanuel Sivan, R. Scott Appleby, Fundamentalism: Genus and Species. In: Martin E. Marty/R. Scott Appleby (Hg.), Fundamentalisms Comprehended, Chicago 2003, 399–424. Diess., Explaining Fundamentalism, ebd., 425–444.
Matthias Roser, Das „Fundamentalism Project“
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mentalistische Gruppen, Organisationen und Bewegungen sind dabei folgende, ideologische – im Bedingungszusammenhang zueinander stehende – „Capstones“: a) Religiöser Fundamentalismus kann als eine Gegenreaktion und dezidierte (ggf. auch militant-extremistische) Antwort auf die durch die Säkularisierung als bedrohlich wahrgenommene „Marginalization of Religion“10 definiert werden. b) Religiöser Fundamentalismus ist in seinem Rückgriff auf religiöse Traditionen bzw. Bekenntnistraditionen seiner Ursprungsreligion hochselektiv, vermag es aber gleichzeitig Aspekte der Moderne (insbesondere im Modus der Mediennutzung) in sein Gedanken- und Wertesystem einzubinden.11 c) Religiöser Fundamentalismus in allen Weltreligionen postuliert einen rigiden (und ggf.) militanten ethischen und moralischen Manichäismus und setzt diesen auch (bei entsprechender Gelegenheit) in gesetzgeberisches und alltagspraktisches Handeln um.12 d) Religiöser Fundamentalismus entwickelt eine zirkelschlüssige Hermeneutik der Heiligen Schrift(en) der jeweiligen Ursprungsreligion. Zentrales Argumentationsmuster ist dabei die Überzeugung von der überhistorischen, geoffenbarten „Inerrancy“ (nicht: „Infalliability“) der entsprechenden Heiligen Schriften. Die Irrtumslosigkeit wird dabei – vermittelt durch ein entsprechendes Bekehrungserlebnis – unmittelbar erfahrbar und einsehbar und vermag in der Reflexion über die Konversionserfahrung die „Inerrancy“ der Heiligen Schriften wiederum als vernünftig zu begründen. Die apostrophierte Hermeneutik der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schriften nimmt dabei den Charakter einer alle Wissensdisziplinen umfassenden und diese begründende allgemeine Theorie des Wis13 sens an. e) Dem Theologumenon der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schriften (bzw. eines heiligen Kanons) korrespondiert auf inhaltlicher Ebene ein – heilsgeschichtlicher (dispensationalistischer) – Milleniarismus: „History has a miraculous culmination. The good will triumph over evil, immortality 10 Gabriel A. Almond, Emmanuel Sivan, R. Scott Appleby, Fundamentalism: Genus and Species, in: Fundamentalisms Comprehended, 399–424, hier 405f. 11 Ebd., 406 12 Ebd. 13 Ebd., 407. Ein mittlerweile klassisches Beispiel hierfür ist das „Chicago Statement on Biblical Inerrancy“ aus dem Jahre1978.
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over mortality; the reign of eternal justice will terminate history. The End of days, proceeded by trials and tribulations, will be ushered in by the Messiah, the savior; the Hidden Imam will come out of hiding. Messianism and millennialism promise victory to the believer, millennialism by promising an end to suffering and waiting, messianism by promising an all-powerful mediator.“14 Der apostophierte heilsgeschichtliche Milleniarismus vermag dabei auf der einen Seite Hoffnungsperspektiven aufzuzeigen15, auf der anderen Seite bietet er aber dem einzelnen Gläubigen eindeutige und unwiderlegbare Erklärungs-und Deutungsmuster für seine je individuelle wirtschaftliche, gesellschaftliche, soziale Position an. Gleichermaßen zeigt der heilsgeschichtliche Milleniarismus eindeutige Handlungsoptionen vor der unweigerlich bevorstehen „Großen Trübsal“ auf. Der heilsgeschichliche Milleniarismus (insbesondere in seiner dispensationalistischen Spielart) kann dabei als fundamentalistische Geschichtsphilosophie, wie sie irrtumslos in den Heiligen Schriften niedergelegt ist, charakterisiert werden. In organissationssoziologischer Perspektive verweisen Almond, Sivan und Appleby auf folgende Charakteristika fundamentalistischer Gruppen, Organisationen, religiöser Parteien und Bewegungen: a) Die Mitglieder dieser differenten Organisationsformen verstehen sich als erwählte Elite, der allein es übertragen wurde, die irrtumslosen, religiö16 sen Traditionen zu bewahren. b) Der Elitegedanke evoziert klare und nicht zu überwindende Grenzen zu den „Nicht-Erwählten“, „Nicht-Sehenden“ der Außenwelt auch und vor allem innerhalb der gemeinsamen Ursprungsreligion. c) Die Organisationsformen religiösen Fundamentalismus lassen sich in ihrem Gründungsstadium in der Regel auf die charismatische Persönlichkeit eines entsprechenden Führers (nicht Führerin) zurückführen. Diesem religiösen Führer werden gottähnliche bzw. gottgleiche Attribu17 te zugesprochen. Die Forschungsergebnisse des Fundamentalism Project haben die vergleichende Fundamentalismusforschung in den 1990er Jahren sicherlich auf eine neue Grundlage gestellt. Gleichwohl bleiben zwei Gravamina zu vermerken: Einmal finden sich in den genannten Sammelbänden kaum Beiträge authen14 15 16 17
Ebd. Ebd. Ebd., 407f Ebd.
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tischer Vertreter des religiösen Fundamentalismus, die es vermocht hätten, einen methodisch reflektierten Blick auf „die Innenwelt“ (ArgumentationsDeutungs-und Handlungsmuster) des religiösen Fundamentalismus zu gewähren. Auf der anderen Seite überwiegen die soziologischen bzw. religionssoziologischen Beiträge bei weitem. Die Frage nach den theologischen Charakteristika des religiösen Fundamentalismus bleibt weitgehend offen und unbeantwortet.
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Glaube und Lernen, 30/2015, Heft 2, Rezension
Glaube und Lernen Theologie interdisziplinär und praktisch 30. Jahrgang
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 2015 Heft 1
ZU DIESEM HEFT Martin Rothgangel, Zu diesem Heft .......................................................1
KENNWORT Michael Basse, Martin Luther .................................................................3
THEOLOGISCHE KLÄRUNG Notger Slenzka, Reformation und Selbsterkenntnis. Systematische Ewägungen zum Gegenstand des Reformationsjubiläums . 17 Athina Lexutt, Die Genese der Theologie Martin Luthers ...................... 43
GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Ute Mennecke, Zur sprach- und literaturgeschichtlichen Bedeutung Luthers .............................................................................. 58 Peter Walter, Martin Luther aus römisch katholischer Perspektive .......... 76
IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Martin Rothgangel, Martin Luthers Katechismen .................................. 92
REZENSION Uwe Hauser zu Thomas Kaufmann: Luther ......................................... 108
Heft 2
ZU DIESEM HEFT Peter Müller ....................................................................................... 111
KENNWORT Martin Rothgangel, Fundamentalismus. Anfänge – Charakteristika – Herausforderungen .................................. 114
THEOLOGISCHE KLÄRUNG Lars Klinnert, Frommer Angriff auf Freiheit und Demokratie? Eine sozialethische Kritik des evangelikalen Fundamentalismus ............ 128 Ernstpeter Maurer, Fundamente des Glaubens Zur Begründung theologischer Aussagen.............................................. 144
GESPRÄCH ZWISCHEN DISZIPLINEN Heinrich Wilhelm Schäfer, Fundamentalistische Praxis Religiös und säkular - eine religionssoziologische Perspektive ............... 159 Andreas Goetze, „Verstehst du auch, was du da liest?“ Korandeutungen im Kontext salafistischer Strömungen im Islam ........... 183
IMPULSE FÜR DIE PRAXIS Michael Meyer-Blanck, Aufgeklärte Gewissheit Fundamentales und Fundamentaltheologie im Religionsunterricht als Schutz vor Fundamentalismus ......................................................... 208
REZENSION Matthias Roser, Das „Fundamentalism Project“ der American Society for Arts and Sciences imÜberblick ..................... 219