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German Pages 329 [332] Year 1991
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band l
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band l Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1987
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit / Hans-Georg Kemper. — Tübingen : Niemeyer Bd. 1. Epochen- und Gattungsprobleme; Reformationszeit. — 1987. ISBN 3-484-10566-6 Leinen-Ausgabe ISBN 3-484-10559-3 kart. Ausgabe © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Zur technischen Einrichtung des Bandes Vorwort Einleitung
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I. GATTUNGS- UND PERIODISIERUNGSPROBLEME 1) Zur literaturgeschichtlichen Periodisierung der frühen Neuzeit . . . . 11 a) >Deutsche< Literaturgeschichte und Allgemeingeschichte 11 b) Säkularisierung als Grundlage der Periodisierung 16 c) Zur Bestimmung der frühen Neuzeit und ihrer Epochen 23 2) Gattungstheoretische und gattungsgeschichtliche Aspekte a) Offener Gattungsbegriff und historische Gattungsbestimmung b) Geistliches und weltliches Poesie- und Dichterverständnis c) Kirchenorientiertes und poesiebestimmtes geistliches Lied
36 36 44 50
II. HUMANISMUS UND REFORMATION 1) Humanistische Weisheit und ihr theologischer Widerruf in vorreformatorischer Zeit a) Würde des Menschen und Hochschätzung der Poesie: Aspekte humanistischer Reformen und Ideen b) Narrentum im Spiegel der Weisheit und deren klerikaler Exorzismus (Brant und Murner) 2) »Humana« contra »divina«: Erasmus und Luther a) Erasmus' Bildungsprogramm und Stellung zur Reformation b) Luthers Interesse an Sprache und Rhetorik
61 61 74 91 91 100
3) Politisierung des Humanismus im nationalen »Pfaffenkrieg« (Hütten) 104 a) Humanismus »mit der eisernen Hand« 104 b) Vor-Reiter der Nation - gegen das »goldene Rom« 110 c) »Last Hütten nit verderben!« Selbstbestimmung und Gemeinschaftsstiftung im Lied 122
VI 4) Integration und Unterdrückung des Humanismus a) Synthese im Dienst der Kirchenreform (Melanchthon) b) Einschüchterung und Konfessionalisierung der Musen
129 129 137
III. REFORMATION UND GEMEINER MANN 1) Die Befreiung vom römischen »Antichristen« Aspekte der »reformatorischen Öffentlichkeit« a) Strategien einer Literatur für Analphabeten b) Von Reimsprechern und Schmähgedichten
2) »Propaganda fidei« — Luthers >Geistliche Lieder< als Spiegel theologischer und sozialgeschichtlicher Probleme a) »Eyn newes Lied wyr heben an« als Bekenntnis, Verkündigung und Gotteslob b) »Beweis dein Macht / HERR Jhesu Christ« Ubiquität und Omnipotenz des Erlösers c) »Las faren dahin« — Zur Unfreiheit eines Christenmenschen und zur Freiheit von den »guten Werken«
3) Die radikale Reformation und das Martyrium des »armen mans« a) b) c) d)
147 159
175 175 182 197
210
>Bauernnot< und >Lob des Landlebens< 210 Die »Entgröberung« des »volcks« zur »newen kirche« (Müntzer) . . . . 214 Die »heiige gemeyne« - das Täufertum in Opposition zur »Welt« . . . . 227 Das Märtyrerlied der Baptisten als »reitzung in die frumbkait« 237
4) Träume eines melancholischen »bidermans« (H. Sachs) a) b) c) d)
147
246
Poesie als Heilmittel gegen die Schwermut 246 Allegorien und Visionen im Dienst von Reformation und Humanismus . 252 Alltags-Sorgen 262 Traumdichtung — Fiktionalisierung und Moralisierung
der religiösen Vision
271
Verzeichnis der zitierten Literatur
282
Personenregister Sachregister
302 308
VII Zur technischen Einrichtung des Bandes
Zum Darstellungsteil des vorliegenden Bandes werden die im Verzeichnis der zitierten Literatun innerhalb von Sachgruppen alphabetisch aufgeführten Publikationen durch die Angabe der römischen Ziffer des jeweiligen Abschnitts der Bibliographie sowie des Verfassernamens, bei mehreren im selben Abschnitt aufgeführten Titeln desselben Autors auch durch das Erscheinungsdatum der Publikation sowie mit der Seitenzahl zitiert. Die Forschungsliteratur aus Abschnitt II des Verzeichnisses wird mit hinzugesetzter arabischer Ziffer aufgeführt, welche auf den jeweiligen historischen Bezugs-Autor verweist. Der Name eines im Zusammenhang bereits erwähnten oder eines im jeweiligen Kapitel behandelten Autors wird in den Klammern nicht wiederholt. Bei Autoren, denen jeweils ein Kapitel oder ein Abschnitt der Darstellung gewidmet sind, entfällt die Repetition der römischen Ziffer nach ihrer ersten Notierung. Darüberhinaus werden entweder die zitierten Ausgaben nach den in der Forschung eingebürgerten Abkürzungen genannt oder die Hauptwerke nach den Titel-Initialen aufgeführt. Die betreffenden Abkürzungen selbst sind im Literaturverzeichnis unter dem jeweiligen Autor zitiert und aufgeschlüsselt.
IX Vorwort
Die Lyrik ist die umfangreichste und bedeutendste Gattung der deutschen Literatur in der frühen Neuzeit, doch fehlt seit langem eine grundlegende, konzeptionell einheitliche Darstellung ihrer Geschichte. Die Periode zwischen Reformation und Französischer Revolution gilt auch in Deutschland als besonders wichtige sozial- und kulturgeschichtliche Phase, als Geburtszeit der Moderne, eines spezifisch bürgerlichen Gesellschafts- und Kulturmusters, der Etablierung der modernen Wissenschaften, des neuzeitlichen Weltbildes und Geschichtsverständnisses, der Befreiung der Künste zur Selbständigkeit, der Entwicklung und Aufwertung der Literatur zum Organ bürgerlicher Selbstverständigung und Weltdeutung; doch ist kein anderer Zeitraum der deutschen Literaturund Gattungsgeschichte so mit Vorurteilen und als Folge davon mit Forschungslücken und »Verwerfungen« der historischen Landschaft belastet wie dieser. Das folgenreichste Vorurteil besteht in der Annahme, die deutsche Literatur habe an der Genese der Neuzeit erst mit Beginn der Aufklärung Anteil, nachdem die Barockzeit gegen die heraufziehende Säkularisierung noch einmal mit Macht dem mittelalterlichen »ordo«Gedanken Geltung verschafft habe. Der deutschsprachigen Lyrik insbesondere, die sich bekanntlich überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als eigenständige Gattung neben Drama und Epos bzw. Roman zu begreifen lernt, hat man unter diesen ohnehin das vergleichsweise späteste Datum für den Übergang in die Neuzeit gesetzt: den Sturm und Drang. Und die Kanonisierung eines an der Poesie des jungen Goethe orientierten Lyrik-Begriffs führte zu einem lang anhaltenden Desinteresse an den vorausgehenden - ihrerseits überwiegend pragmatischen - Arten der Gattung, vor allem am weiten Feld der religiös bestimmten Poesie, insbesondere des geistlichen Liedes. Mit ihrer Abstinenz von religiöser Literatur und ihrer Distanz gegenüber der Theologie bestätigt die Literaturwissenschaft nur zu bereitwillig deren altes Vorurteil: »Dan vnmöglich ists eim weitmann, / Das Geistlich ding er fassen kann« (Sudermann I Wa I, S. 667). So kommt es, daß dieser Zeitraum, der wie kein anderer von einem großen Thema beherrscht wird, literarhistorisch gerade von diesem her bislang nur unzulänglich erschlossen worden ist: von der »Gretchenfrage« nach der
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Vorwort
Religion, nach ihrem Stellenwert als einer die Weltanschauung und das gesellschaftliche Handeln bestimmenden, gleichzeitig in ihrem Wahrheits- und Autoritätsanspruch durch die Konfessionalisierung erschütterten Machtinstanz. Die vorliegende Darstellung stellt sich nun dieser Aufgabe. Sie entfaltet die Lyrik konsequent aus dem religions- und konfessionsgeschichtlichen Kontext heraus, der seinerseits aufs engste mit der politischen, sozialen und kulturellen Geschichte verknüpft ist. Insofern geht sie mit der systemtheoretischen Einsicht konform, daß die Literatur sich in der frühen Neuzeit zunächst als ein nichtdifferenziertes »System in einer Umwelt« verstanden hat und sich erst gegen Ende zusammen mit der Herausbildung der Ästhetik als ein gegenüber Religion, Politik, Künsten und Wissenschaften eigenständiges »Subsystem« herausbilden konnte. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert übernahm die Literatur also - als solche von ihr noch nicht empfundene, sondern geradezu gesuchte - »systemfremde« Funktionen weltanschaulicher Sinngebung und vermochte sich nur auf diesem offiziell lizensierten Wege zu einem eigenständigen Organ bürgerlicher Identitätsstiftung zu entwickeln. Als ein noch weitgehend diffuses, funktionsintegratives und multifunktional eingesetztes Kommunikationsmedium bildete die Lyrik den Prozeß neuzeitlicher Genese nicht nur ab, sondern half ihn auch aktiv mitzugestalten. Um dies zeigen zu können, wird der Lyrik-Begriff auf die Vielfalt seiner geschichtlich in Erscheinung getretenen pragmatischen Arten hin ausgedehnt. Diese Historisierung des Gattungsbegriffs kommt den bislang vernachlässigten Typen - vor allem der geistlichen Poesie - zugute und ermöglicht kritische Distanz gegenüber seinem quasi-ontologischen Gebrauch als einer »Naturform« der Poesie. Da ein solcher Ansatz die konkrete historische Rückkopplung der Texte an ihre jeweiligen Bezugssysteme erfordert, läßt sich diese LyrikGeschichte auch als Einführung in die frühneuzeitliche Kulturgeschichte lesen. Doch ist die Lyrik weder nur Demonstrationsmaterial für diese Geschichte, noch ist letztere lediglich Kontext zum besseren Verständnis der Poesie. Vielmehr werden solche Geschichten aus der allgemeinen Geschichte >erzähltdiesseitigen< Einflußbereich von Theologie und Kirche
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Vorwort
mehr und mehr zurückzudrängen. - Mit dieser sowohl hermeneutisch beim Selbstverständnis der historischen Zeugnisse selbst einsetzenden und zugleich funktionsanalytisch nach ihrem Beitrag zur Konstituierung der Moderne fragenden Leit- und Wertungsperspektive möchte diese Lyrik-Geschichte zugleich einen Beitrag zur weiteren Erhellung des Säkularisierungsprozesses leisten. Die aus der Geschichtswissenschaft übernommene Epochen-Bezeichnung frühe Neuzeit ermöglicht es, die bis heute in der Literaturgeschichtsschreibung üblichen Epochengrenzen teils zu übergreifen, teils auch neu zu gewichten und zu werten. Von der skizzierten Problemstellung her versagt sich die Darstellung dem Versuch einer literatur- oder gar gattungsimmanenten Periodisierung des Zeitraums. Daher wird der seiner Herkunft nach stilgeschichtlich definierte Begriff des Barock als Epochen -Begriff aufgegeben und nur noch als ein verbreitetes Verständigungsmittel in der konkreten Applikation auf Mystik und Humanismus des 17. Jahrhunderts (zur Unterscheidung derselben Phänomene in anderen Geschichtsabschnitten) beibehalten. Als Epochen-Begriff tritt an seine Stelle der Konfessionalismus, und zwar als Bindeglied zwischen Reformationszeit und Aufklärung innerhalb der frühneuzeitlichen »Makroperiode«. Gegenüber der letzteren Kategorie als einer noch jungen historiographischen Konstruktion setzen die drei Teil-Epochen beim historischen Selbstverständnis, ja sogar beim Selbstbehauptungswillen der Zeitgenossen an, insofern diese sich zunächst emphatisch für die Sache Luthers und seinen Bruch mit der alten Feudalmacht Kirche engagierten und sich dann mit dem Resultat dieser anfänglichen Befreiung, nämlich der konfessionellen Erstarrung, als täglich erfahrener Unterdrückung auseinandersetzen mußten. - So bietet Band II eine Einführung in die Epoche des Konfessionalismus, die für die beiden nachfolgenden Bände gleichermaßen konstitutiv ist. Analoges gilt für das Verhältnis der Bände V und VI zueinander. (Gleichwohl ist nicht nur jedes einzelne Buch, sondern auch jedes Kapitel innerhalb der Bände gesondert verständlich und benutzbar.) Die vorliegende Gattungsgeschichte möchte die Lyrik von Renaissance-Humanismus und Reformation bis zum Sturm und Drang als eine von Anfang an zwar spannungsvolle, aber gerade vom Generalthema her in sich einheitliche Phase der Gattungsgeschichte zwischen Mittelalter und Neuzeit erweisen. Im Sturm und Drang, so wird sich zeigen, laufen die Fäden zusammen, welche zur Ermöglichung der Moderne in den vorausliegenden Epochen gesponnen wurden. Klopstock und erst recht Herder und Goethe fahren die Ernte ein, die zuvor mit der kontinuierlichen Herausforderung und Verminderung der kirchlichen Au-
Vorwort
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torität sowie durch ein beharrliches - in Exempeln immer wieder vor die Phantasie gemaltes - Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung als Ziel irdischer Glückseligkeit gesät worden war. Insofern sind sie in beträchtlichem Umfang Erben, nicht nur »Schöpfer«, und stehen mit Recht am literaturgeschichtlichen Ende der frühen Neuzeit, - zugleich freilich auch am Beginn der Moderne; denn in Goethes Poesie erreicht die Lyrik ihre Selbständigkeit, etabliert sich als unverwechselbares Kommunikationssystem mit einer eigenständigen sinnstiftenden Funktion für die Sozietät und einer neuen paradigmenbildenden Leistung innerhalb der Literatur, die hier nicht weiter zu verfolgen sind. Wenn in der vorliegenden Gesamtdarstellung auch das vielberufene »Ende der Literaturgeschichtsschreibung« suspendiert erscheint, so bleibt sie gleichwohl nicht unbeeinflußt von den diagnostizierten Krisen-Symptomen. Da werden der »logozentrische« Sinn der Literaturgeschichte im Zeitalter der Postmoderne ebenso radikal in Frage gestellt wie das traditionelle, an Autor- und Textintention orientierte hermeneutische Verfahren der Geisteswissenschaften, da werden die eigentlichen Gegenstände des historiographischen Interesses, Geschichte und Ereignis, Autor und Text, in ihrer Kohärenz und Substantialität ebenso angezweifelt wie das wissenschaftliche Instrumentarium, die Kategorien der Periodisierung etwa oder die Kriterien der Wertung. Auf solche und andere Probleme wird immer wieder - zunächst und vor allem im nachfolgenden ersten Teil - einzugehen sein: Nach wie vor scheint mir die Erprobung an der historischen Sache selbst der geeignetste Weg zur literaturwissenschaftlichen Selbstbesinnung zu sein. Daher verfährt diese Lyrik-Geschichte problemerörternd. Im vorliegenden Zeitraum, wo die Textentzifferung vielfach erst noch erprobt werden muß, ist die Darlegung ganz besonders auf das demonstrierende Zitat und auf exemplarische Analysen angewiesen. Auf diesem Wege möchte sie zugleich zu den Quellen hinführen und zur eigenen Beschäftigung mit ihnen anregen. Deshalb werden - wo immer vertretbar - auch leicht greifbare Taschenbuchausgaben zitiert, der Forschungsstand skizziert und weiterführende Literatur genannt. Verunsicherung angesichts heutiger Zukunftsperspektiven und daraus resultierende Infragestellung fortschrittsorientierter Kategorienbildung eröffnen freilich auch Chancen für die Literaturgeschichtsschreibung. Statt eines herrscherlichen Aneignungsverhältnisses der Historic für die eigenen Zwecke wird die Beschäftigung offener für die Alterität des historischen Prozesses, auch und gerade wenn dieser selbst sich in der frühen Neuzeit als Fortschritt zur Aufklärung verstanden hat. Zugleich treten neue, bislang verdrängte Affinitäten zu dieser Epoche übergroßer
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Vorwort
Ängste - vor dem Zorn und Gericht Gottes, vor Teufeln und Dämonen, Seuchen und Kriegen, Hungersnöten und Katastrophen aller Art - in den Blick: Wie haben die Texte als kommunikative Medien diese Ängste verarbeitet, wie haben die Menschen, deren Bewußtseinsstrukturen die Zeugnisse abbilden, mit solcher Angst gelebt? Dieses Interesse könnte zugleich der weiteren Vertreibung des Autors aus der Literaturgeschichte wehren, und es könnte sich zeigen, daß in ihr mehr zu entdecken und zu erfahren ist als nur ein Netz von Systembildungen und Strukturveränderungen oder eine diskontinuierliche Genealogie von intertextuellen Diskursen. Jedenfalls scheint mir - auch im Blick auf einen sich unbekümmert ausbreitenden Positivismus und ein wachsendes Spezialistentum, die beide ein verstärktes Bedürfnis nach Wertung und Überblick hervorrufen - die Literaturgeschichtsschreibung als ein Überschau und Distanz schaffendes, zugleich geschichtliche Fremderfahrung als Bereicherung des eigenen Weltbildes ermöglichendes Organ kritisch prüfender Traditionsaneignung eine immer noch aktuelle und weiterhin unentbehrliche Disziplin zu sein. Die vorliegende Lyrik-Geschichte ist aus Vorlesungen erwachsen, die ich an den Universitäten Tübingen und Bochum gehalten habe, und dokumentiert insofern ein Stück Einheit von Forschung und Lehre. Dem Wissenschaftlichen Beirat der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel bin ich für ein Forschungsstipendium im Sommer und Herbst 1982, der Stiftung Volkswagenwerk für die Gewährung eines einjährigen Akademiestipendiums (1985/86) zur Arbeit an diesem Projekt zu großem Dank verpflichtet. Besonderer Dank gebührt auch Ines Knippschild, Christine Wand und Christian Soboth für vielfältige technische Hilfe. Bochum, Pfingsten 1986
H.-G. K.
Einleitung
Der vorliegende Band ist in drei Teile gegliedert, deren Konzeption und Zusammenhang einer Erläuterung bedürfen. Der erste - > Epochen- und Gattungsprobleme< - verfolgt drei Ziele. Zunächst begründet er, wie bereits erwähnt, den methodischen Zugriff, die Wertungs- und Periodisierungskriterien sowie die historische Schwerpunktbildung des Unternehmens. Da sich die Funktionen der Literatur und ihrer Gattungen nur in deren Geschichte selbst zureichend bestimmen lassen, weil sie soziokulturelle und damit historische Phänomene sind (vgl. IV Vosskamp), gewinnt dieser Teil seine Arbeitshypothesen aus einer Besinnung auf die Historie der frühneuzeitlichen Lyrik. Dabei geht die Epochen- der Gattungsproblematik voran; denn der pragmatische und historisch offene Charakter der unterschiedlichen Gedicht- und Liedformen, denen wir retrospektiv den Sammelbegriff Lyrik zuordnen, läßt eine gattungsimmanente Periodisierung von vornherein als unsachgemäß erscheinen. Auch die Schwerpunkte der gattungsiheoreiischen Überlegungen orientieren sich am geschichtlichen Materialbefund; deshalb rücken die für diesen Zeitraum besonders wichtige Verhältnisbestimmung von weltlicher und geistlicher Poesie sowie Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb der letzteren, bislang ohnehin nur wenig erforschten Gruppe ins Zentrum des Interesses. - Von diesen historisch orientierten Überlegungen her stellt sich dieser Teil zum zweiten bereits als ein prospektiver Überblick über die frühneuzeitliche Lyrik-Geschichte dar. Im Blick auf die ausführlichen Explikationen der nachfolgenden Bände bedient er sich dabei der thesenhaften Abbreviatur und verfährt nur dort ausführlicher, wo er neue Epochengrenzen oder Gattungsdifferenzierungen einführt. - Mit dem Entwurf einer Gesamtperspektive ist dieser Teil zum dritten eine Introduktion in die Epoche der Reformationszeit, weil er deren grundlegende literarhistorische Bedeutung für den ganzen Zeitraum vorausskizziert. Die Literaturgeschichtsschreibung hat sich - das ist ein wichtiges Resultat des ersten Teils - wegen des pragmatischen, funktional nicht differenzierten Charakters der frühneuzeitlichen Poesie gegenüber den Periodisierungs- und Wertungskriterien der allgemeinen Historiographie offen und nach Möglichkeit auch kompatibel zu halten. Wie aber sieht
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Einleitung
deren Urteil über den Stellenwert der Reformation im damaligen Reich aus? Im folgenden sei - zugleich als Einführung in die Epoche - die derzeit vorherrschende Perspektive skizziert, aus deren Kontext heraus auch die vorliegende Darstellung die Begründung für die Akzentuierung ihres Gegenstandsbereiches gewinnt. Das >Heilige Römische Reich Deutscher Natiom bestand zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus einer kaum überschaubaren Fülle divergierender und miteinander rivalisierender Organisationseinheiten: »Die Habsburger, dem überholten Leitbild vom universalistischen >Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation< anhängend und zugleich auf Stärkung ihrer Hausmacht bedacht, überließen das Reich im Inneren völlig den partikularistischen Kräften. Die Verwirrung innerhalb der etwa 2000 örtlichen Maße und Gewichte, der rund 500 Währungen ist ein Spiegelbild dieser politischen und ökonomischen Zerrissenheit in gut 350 souveräne weltliche und geistliche Territorialstaaten, Fürstentümer, Grafschaften, Ritter- und Bischofssitze, Freie Reichsstädte. Innere und äußere Verhältnisse waren gleichermaßen verwirrend: Es gab keine Polizei und kein einheitliches Recht. Das Sachsenrecht wurde neben dem neuen römischen und dem archaischen Fehde- und Faustrecht praktiziert. . . . Es gab keine Hauptstadt;... Die ökonomische Mitte des Reiches war Augsburg als Zentrum der Banken und Handelsgesellschaften. . . . Die Kirche als größte Grundbesitzerin und ideologische Hauptstütze des Feudalismus wurde von den Landesfürsten in zunehmendem Maße als eine rivalisierende Macht empfunden.« (I Jäckel, S. 17ff.)
Die Unförmigkeit und politische Unbeweglichkeit des Reiches machte es nach außen und innen besonders instabil und verletzlich. Seit dem 15. Jahrhundert verstärkten sich Überlegungen zu seiner Reorganisation (»reformatio«), die mit der Installierung periodisch tagender Reichstage, des Reichskammergerichts, Reichshofrates und Reichsregiments die politischen Kompetenzen mehr und mehr auf die Seite der Reichsstände verlagerte, also das Gewicht des Kaisers schwächte (vgl. hierzu und zum folgenden III Blickle 1984). Der Rivalität von Kaiser und Reichsständen entsprach auf der Ebene der Territorien die von Fürst und Landständen. Vermochten die Fürsten ihre Machtposition gegenüber dem Kaiser zu stärken, so gelang ihnen dies auch innerhalb ihrer Territorien durch den konsequenten Aufbau einer Verwaltung, deren Beamte nicht mehr mit Lehen, sondern mit Geld entlohnt wurden. Der hierarchisch-feudalistischen Struktur auf Reichs- und Territorialebene stand besonders im Bereich von Stadt und Dorf zunehmend seit dem 15. Jahrhundert der Ausbau eines kommunalistischen, d.h. genossenschaftlichen Systems der Gemeindeautonomie und Selbstverwaltung gegenüber, das seinerseits durch das Feudalsystem und die zentralistische Politik der Fürsten bedroht wurde.
Einleitung
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Die allgemeine Unzufriedenheit mit diesem politischen und gesellschaftlichen System artikulierte sich in allen Ständen auch und vor allem in einer vehementen Kirchen-Kritik. Denn in der Kirche traten die negativen Auswüchse des Feudalsystems besonders in Erscheinung, und sie stand sowohl den territorialen Interessen der Fürsten als auch dem Kommunalismus der Gemeinden im Wege. So wuchs in Deutschland auf der Ebene der Reichsstände der Unmut darüber, daß hier die geistlichen Oberherren, vor allem die drei katholischen Kurfürsten (die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln) einer außerdeutschen Macht, eben dem Papst, Gehorsam schuldeten, und dies nicht nur in Glaubensfragen, sondern z. B. auch bei der Kaiserwahl oder bei anderen die politischen Belange des Reiches betreffenden Entscheidungen. Und auch in den Territorien der weltlichen Fürsten war die Kirche ein von außen regierter Machtfaktor, den der einzelne Potentat nicht ohne weiteres für seine politischen Interessen einspannen konnte, ja der in wesentlichen Bereichen nicht einmal seiner Jurisdiktion unterstand. Selbst wenn ein Priester eines Mordes beschuldigt wurde, unterlag ein solcher Fall der geistlichen Gerichtsbarkeit, und diese war auch im grundherrlichen Bereich für das Einklagen von Steuerschulden bei den kirchlichen Pfründen zuständig (vgl. III Blickle 1982, S. 30ff.). Ihrem negativen Erscheinungsbild als Feudalmacht leistete die Kirche durch ihre außerordentliche Prachtentfaltung sowie die finanzielle Ausbeutung bei Dienstleistungen aller Art und beim Pfründenkauf sowie durch die Veräußerlichung ihrer Frömmigkeit Vorschub (vgl. ebda., S. 18ff.). Seit dem 15. Jahrhundert belasteten deshalb die Beschwerden der deutschen Nation< ^Gravamina Nationis GermanicaeHumanismus und Reformation < ist der erste der beiden Teile über die Poesie der Reformationszeit gewidmet. In ihm tritt sogleich das für die Kulturgeschichte der frühen Neuzeit konstitutive Spannungsverhältnis von »humaniora« und »divina«, von vernünftiger Selbstbestimmung und gläubigem Fremdbestimmtsein, von Diesseitsbejahung und Weltverachtung auf den Plan, das sich im 17. und 18. Jahrhundert durch Rückgriff auf weithin dieselben weltanschaulichen Traditionen fortentwickelt. So akzentuiert die Darstellung einerseits die vielfach bereits säkulare Ideenund Reformwelt des Renaissance-Humanismus im Blick auf jene Aspekte, welche die nachfolgenden Humanisten-Generationen in ihren poetischen Werken wieder aufgreifen, andererseits verdeutlicht sie am konkreten historischen Exempel den zeitbedingten Charakter des Renaissance-Humanismus und seine Gefährdung durch die Reformation. Während die Gelehrtenkultur des Humanismus auch mit ihrer lateinisch verfaßten Literatur im wesentlichen »akademisch« blieb, entwickelte sich die Reformation - freilich nicht ohne propagandistische Mithilfe vieler zu diesem Zweck deutsch schreibender Humanisten innerhalb weniger Jahre zu einer öffentlichen Macht und zu einer Massenbewegung, die auch für den sog. Bauernkrieg mitverantwortlich war. Ohne Beteiligung der Literatur und eines vielgestaltigen Spektrums publizistischer Poesie wäre die Voraussetzung für diesen Erfolg, nämlich die Herstellung einer»reformatorischen Öffentlichkeit«, kaum geschaffen worden. Bis 1530 wurden in Deutschland schätzungsweise 10 Millionen Flugschriften verbreitet - bei einer Gesamtbevölkerung von 12 Millionen, von denen etwa 90 Prozent weder lesen noch schreiben konnten (vgl. III Blickle 1984, S. 54). Auch in entlegene Winkel der Nachbarländer drang die Kunde von Luthers Auftreten, wie das Beispiel des Müllers Menoccio aus Friaul zeigt, der sich durch die Reformation und auch durch die Wiedertäufer in seiner Opposition gegen die Kirche ermutigt fühlte (vgl. V Ginzburg, S. 21,44f.). Dieses aufschlußreiche Phänomen einer frühmodernen Massenkommunikation behandelt der Teil > Reformation undgemeiner MannDeutsche< Literaturgeschichte und Allgemeingeschichte
»Periodisierungsfragen der Literatur«, hat Walter Dietze mit Recht erklärt, »sind Wertungsfragen der Literaturwissenschaft. Wer periodisiert, der wertet.« (III, S. 52) Die den jeweiligen Wertungskriterien zugrundeliegenden Erkenntnisinteressen hat im vorliegenden Fall das Vorwort bereits expliziert. Im folgenden geht es um zwei Aspekte, die ebenfalls noch vor der Periodisierung zu klären sind: um die Begründung für die Beschränkung der Perspektive auf eine deutsche Literaturgeschichte und um den Zusammenhang der Literatur- mit der Allgemeingeschichte. 1) Die historische Situation selbst legt eine Betrachtung der deutschem Lyrik als >Lyrik in Deutschland< nahe und schließt doch zugleich ein nationales Erkenntnisinteresse aus. Der kulturgeschichtliche »Sonderweg« im deutschen »Reichsmonstrum« ist durch die Internationalität der in ihm wirksamen Gelehrtenkultur ebenso charakterisiert wie durch die von der Reformation besonders inspirierte deutschsprachige >VolksHeilige Römische Reich deutscher Nation< damals weder ein Nationalstaat (und auch nicht wie einige benachbarte Nationen auf dem Wege dazu) noch ein einheitlicher Sprachraum war (vgl. III Sauerland, S. 113). Überdies hat dann bekanntlich nationalistischer und rassistischer Mißbrauch diese Betrachtungsweise, die schon in der Historiographie des 19. Jahrhunderts aufkam und auch die lebensphilosophisch inspirierten geistesgeschichtlichen Konzeptionen um die Jahrhundertwende beherrschte, bis heute in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung diskreditiert: Unter der Perspektive einer sich mühsam zur Nationalliteratur entwickelnden Poesie folgten
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I. Gattungs- und Periodisierungsprobleme
auf die römisch-lateinische und noch gänzlich klassizistisch-»undeutsche« Renaissance die »deutsche« Reformation und das »deutsche« Barock (vgl. III Hess 1973, S. 497ff.), das »undeutsch«-rationale »Räderwerk« der Aufklärung wurde vom gefühlsbetonten, deutsch-irrationalen Sturm und Drang überwunden (vgl. III Korff I, S. 69ff.). Solches - durch den Faschismus vollends mißbrauchte und herabgewürdigte - »Erbe« einer Germanistik, die sich als nationale Legitimationswissenschaft verstand (vgl. V Ketelsen, S. 444ff.), hat das literaturwissenschaftliche Pendel heftig ins komparatistische Gegenteil ausschlagen lassen und stellt den Versuch einer auf die nationale oder deutschsprachige Literatur sich beschränkenden Literaturgeschichtsschreibung unter Ideologieverdacht oder attestiert ihm doch zumindest methodische Rückständigkeit und Provinzialität. Im Zusammenhang damit hat die literarhistorische Erforschung des Zeitraums den Vorrang des Lateinischen in der schriftlichen Kultur bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein nachgewiesen: Erst seitdem übertreffen die deutschen Publikationen die lateinischen (vgl. III Engelsing, S. 53). Überdies hat die Forschung in den letzten zwanzig Jahren die Gelehrten als die entscheidenden Literaturproduzenten der frühen Neuzeit ausfindig gemacht und deren internationales Zusammengehörigkeitsbewußtsein betont, das u.a. durch Bildungsreisen, Dedikationen und ausgedehnten Briefwechsel in der gemeinsamen »Muttersprache« der Humanisten, dem Latein, gepflegt wurde (vgl. III Trunz 1966). Auch die Poesie der deutschen Autoren jener Zeit ist zum großen Teil in lateinischer Sprache verfaßt: Die Renaissance-Humanisten dichten ebenso in ihr wie viele - katholische und protestantische Barock-Humanisten, und wer von ihnen deutsche Verse schreibt, der tut dies auch und vor allem zum Beweis seiner poetischen Geschicklichkeit, die er zugleich ebenfalls in anderen Sprachen und für ein polyglottes Gelehrten- und Hof-Publikum demonstriert (vgl. III Forster, S. 186f.). Nicht nur an den katholischen, sondern auch an den protestantischen Gelehrtenschulen des 17. Jahrhunderts ist Latein fest installierte allgemeine Unterrichtssprache (vgl. III Barner 1970, S. 275ff., 339ff.), und auf diesen Anstalten werden - wenngleich in christlich gereinigter Form die Schriften und Autoren der klassischen Antike vermittelt. Diese wiederum fungieren - eingebunden in das im wesentlichen an Cicero und Quintilian orientierte, international gültige System der Rhetorik und einer aus ihr abgeleiteten Regelpoetik - auch als Stilideal der deutschsprachigen >hohen< Poesie des 17. Jahrhunderts, so daß diese eigentlich nur aus ihren lateinischen Prämissen wirklich angemessen zu verstehen ist (vgl. IV Conrady 1962). Diese mit dem »imitatio«-Verständnis des
1) Zur literaturgeschichtlichen Periodisierung der frühen Neuzeit
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»poeta doctus«-Ideals gegebene starke Traditionsverhaftetheit der >hohen< lateinischen wie deutschen Dichtung läßt sie seltsam isoliert und abgehoben von den chaotischen Ereignissen ihrer Epoche erscheinen, fast nur mit der Selbstrepräsentation des Gelehrtenstandes beschäftigt (III Wiedemann 1972), ja geradezu - wie man allen Ernstes behauptet hat - als »das letzte Auffahren und Verrauschen des Mittelalters« (IV Herzog 1979, S. 112). - Ein interkultureller Zusammenhang besteht erst recht in den Nachbarkünsten. Weder in der Architektur, noch in Malerei und Musik kennzeichnen Landesgrenzen zugleich Stilgrenzen, sie markieren höchstens zeitliche Verzögerungen oder stilistische Modifikationen, zu deren Erkenntnis aber wiederum der komparatistische Blick unumgänglich ist. Das sich herausbildende, relativ einheitliche Selbstverständnis der mäzenatisch tätigen absolutistischen Fürsten als »Ebenbilder Gottes« führte - vor allem durch die Ausstrahlung des Hofes von Ludwig XIV. - zu langlebigen, länderübergreifenden Stilkonstanten und Verhaltensweisen in der Hofkultur. Und vielfach wurden bekannte ausländische Künstler für Auftragsarbeiten an deutsche Höfe gezogen (vgl. III Lehmann, S. 27ff.). Dennoch spricht im Bereich der Literaturgeschichte vieles für eine Orientierung am politisch-kulturellen Sonderstatus des >Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationlateinische< deutsche Poesie zum großen Teil als spätzeitlich-epigonale und provinzielle Schulmanns-Kost (vgl. III Ellinger I, S.IXf.). Einer der wichtigsten Gründe hierfür ist die Zurechtstutzung und Funktionalisierung des Humanismus für die Zwekke der Reformation, dann auch der Gegenreformation. Der ursprüngliche, zugleich die eingetretene weltanschauliche Partialisierung der Wahrheit sprengende Geist des Humanismus entfaltet sich erst wieder im 17. Jahrhundert seit Opitz, und hier zugleich im Dienst der rührigen deutschen Sonderform des Calvinismus, nämlich der Reformierten und ihrer Kulturpolitik, und in deutscher Sprache (vgl. dazu Kap. I.lc). Diesen konfessionspolitischen Interessenkontext hat die Forschung bislang kaum wahrgenommen. Ebenso aber hat sie über der jahrzehntelangen intensiven Erforschung der internationalen Gelehrtenkultur und -poesie die durch die Reformation zunächst aus propagandistischen Interessen hervorgerufene >Volksamor patriae et litterarumweltlichen< politischen Zwecke ein. Die Jurisprudenz entwickelt mit dem neuzeitlichen Naturrecht eine innerweltliche Legitimation staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, die Medizin schüttelt mehr und mehr den diesseitsverachtenden Einfluß der Theologie ab und propagiert - ebenso wie zunehmend die Philosophie - den Eigenwert eines glücklichen Lebens auf Erden. Beide reklamieren ihre wissenschaftliche Zuständigkeit für das Leben in der Welt und suchen den Einfluß der Kirche auf die Sorge um das jenseitige Seelen-Heil zu reduzieren. Die Philosophie und die Naturwissenschaften streiten mit den Theologen um den Stellenwert der Vernunft, um die wachsenden Diskrepanzen zwischen Heiliger Schrift und »Buch der Natur«, zwischen offenbarter Religion und vernünftignatürlichen Formen der Gottes-Verehrung. Die okkulten »Wissenschaften« mit ihren weltanschaulichen Konkurrenzsystemen blühen auch im 18. Jahrhundert in gereinigter Form weiter. Zudem erwachsen den Konfessionen - vor allem im Luthertum - innerkirchliche Gegner in Gestalt von Sekten und Sektierern aller Art, die sich dem Einfluß der Kirchen durch Zirkelbildung oder »Vergöttlichung« und damit Autonomisierung der eigenen Subjektivität zu entziehen versuchen. Auch die Geschichte der Literatur und damit der Lyrik ist von diesen Auseinandersetzungen nachhaltig bestimmt worden. Aber ebenso wie sich die frühe Neuzeit in einem langwierigen Prozeß entfaltet und am Beginn ein anderes Gepräge zeigt als am Ende, ist auch die ihre Entwicklung begleitende und mitkonstituierende Säkularisierung kein inhaltlich festliegendes und begrifflich >ontologisierbares< Phänomen, das erst am Ende und als Resultat in der Literatur (bei Goethe) faßbar und von Bedeutung wäre, sondern sie ist ebenfalls ein langandauernder Prozeß, der verschiedene Pha-
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sen durchläuft und entsprechend unterschiedliche Merkmale aufweist, die unter den Bedingungen der jeweiligen Zeit zu ermitteln sind. Die Bedeutung des Säkularisierungsprozesses für die Genese der Neuzeit wird auch in der Geschichtswissenschaft betont. Als kulturelles Phänomen läßt er sich ja auch ohne weiteres der historiographischen Leitlinie der Herausbildung des modernen - absolutistischen - Staates subsumieren. Die »Verweltlichung« lag demnach im Interesse der Herrschenden, die eine Doppelstrategie betrieben: Einerseits suchten sie die Kirchen auf alle Weise für ihre weltlichen Zwecke einzuspannen, in ihren Kompetenzen zu kontrollieren und zu entmachten, andererseits und zugleich trachteten sie sich selbst die religiöse Weihe der Gottebenbildlichkeit zu erhalten und den Hof bis ins Architektonische hinein als sakrale Sphäre herauszuheben. Die stilistische Ähnlichkeit barocker Kirchen und Schlösser läßt sich als ein in Stein gehauenes Beispiel für diesen mittels Assimilation erkennbaren Konkurrenzkampf begreifen. Dies schloß freilich gerade nicht aus, daß sich die des Gottesgnadentums teilhaftigen Fürsten durchaus auch finanziell und kulturell um »die Propagierung und Demonstration des Christentums« kümmerten (III Lehmann, S. 30): Schließlich wurde ihr theokratischer Status ja in erster Linie von der christlichen Interpretation der alttestamentlichen »imago Dei«-Lehre gestützt. Diese historische Konstellation kann freilich zugleich verdeutlichen, warum die Kategorie der Säkularisierung in ihrer Bedeutung und Interpretation zwischen den Wissenschaften umstritten ist: Erweitert ein Herrscher, der seinen Status theokratisch interpretiert, damit den Wirkungsbereich christlichen Gedankenguts oder säkularisiert er durch diese Übernahme kirchlich-christlicher Insignien als Ausdruck unangreifbarer absolutistischer Herrscherwürde ein christliches Interpretationsmodell, indem er Geistliches in den Dienst des Weltlichen stellt? Wer der ersteren Antwort zuneigt, könnte auch die These vertreten, diese Art von Säkularisierung, die in einer Übertragung christlicher Ideen auf weltliche Bereiche besteht, habe zur Aufrechterhaltung, wenn nicht gar zur endgültigen Durchsetzung des Christentums in der modernen Welt beigetragen. Es gibt sogar katholische und protestantische Theologen, welche die Säkularisierung als von Gott gewollte moderne Phase der Kirchen- und Menschheitsgeschichte interpretieren und folgerichtig sogar noch die überzeugten Atheisten unter der Macht und Fürsorge Gottes stehen sehen - auf diese (übrigens nicht sehr redliche) Weise lassen sich der Machtanspruch und die Zuständigkeit der Theologie für die heutige Welt wenigstens theoretisch noch aufrechterhalten (vgl. dazu IV Kemper II, S. 153ff.).
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Nicht weniger unredlich - wenngleich der zuletzt erwähnten Position in den Rücken fallend - ist die Verknüpfung der Säkularisierung mit moralischen Werturteilen, indem man sie und die Philosophie als ihre Hauptverursacherin vom Standpunkt eines kämpferisch-frommen Christentums für alles Übel der modernen Welt verantwortlich macht und der »Weltweisheit« zugleich das Selbstverständnis und die Attribute der Theologie unterstellt, um sie dadurch als deren illegitimen Bastard entlarven zu können: »Seit der Säkularisation gibt es eine Philosophie, die beansprucht, erleuchtet zu sein oder doch selbst erleuchten zu können, eine Philosophie, die im Besitz von Heilsgut zu sein glaubt, die Heilsspenderin sein will« (III Mann, S. 10). Der Autor spricht geradezu von der »pervertierten säkularisierten Heilsgeschichte«, die »den Menschen aus religiöser Geborgenheit in das Nichts geführt« habe (ebda., S. 18). Solche Anschauungen haben schon in den sechziger Jahren vehementen Widerspruch auf Seiten der Philosophie hervorgerufen. Gegenüber einer Interpretation, welche »die Neuzeit zur Fortsetzung des Christentums mit anderen Mitteln« macht und nach erprobtem Rezept stets die säkularen »Metamorphosen« auf die christliche »Substanz« zurückführt solcherart die »Verweltlichung« als »Ideenraub« an Theologie und Kirche denunzierend - wendet Blumenberg methodisch ein, daß ein solches hermeneutisch auf die Ursprünge zurückführendes Verfahren dem »Resultat der Säkularisierung« nicht gestatte, »sich von ihrem Prozeß abzulösen und zu autonomisieren. Die Illegitimität des Resultats der Säkularisierung steckt darin, daß es den Prozeß selbst, aus dem es hervorgegangen ist, nicht säkularisieren darf.« (III 1974, S. 25). Deshalb greift Blumenberg für seinen Rekonstruktionsversuch der Entstehung der Neuzeit zu einem funktionalistischen Verfahren, mit dem er sich - so ein Kritiker - »ständig hinter dem Rücken der Argumentationszusammenhänge« bewegt, »mit denen er sich beschäftigt, nicht in Konfrontation mit ihnen« (III Kaiser, S. XXXIII). In der Wissenschaft, so kritisiert Kaiser ferner, gehe es nicht um rechtliche Kategorien wie die der Legitimität, sondern um die Wahrheit (ebda., S. XXXIIf.). Indessen die >Wahrheit< ist eben, daß die Theologie mit ihrem hermeneutisch abgesicherten Verständnis von Säkularisierung die Legitimität der Philosophie zu bestreiten sucht und daß sie die Wahrheit ihrerseits seit dem historischen Moment funktionalistisch zur Stützung der eigenen Legitimität heranzieht, wo die eine christliche »veritas« in konfessionelle Alternativen auseinanderbrach. Seither aber ist sie auch nicht ohne Verschulden von Theologie und Kirche - als verbindliches Kriterium historisch-hermeneutischer Wahrheitsfindung obsolet geworden. Ein Historiker kann zwar gegenüber der verabsolutierenden Selbst-
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legitimierung einer Position eine Vielzahl anderer als >Wahrheit(en)< gegenüberstellen, doch gewinnt er damit noch keineswegs ein Kriterium zur Bewertung und Strukturierung des historischen Prozesses. Deshalb soll im folgenden - ohne damit ein Urteil über die historische Wahrheit zu fällen - die Genese der Säkularisierung unter dem Aspekt ihrer Legitimität Leitprinzip der Darstellung sein: Wenn sich innerhalb dieses Prozesses die Literatur nach langem - z.T. freiwilligem, z.T. auch aufgezwungenem - Frondienst für die Kirche und ideologischer Abhängigkeit von der herrschenden christlichen Weltanschauung zur Eigenständigkeit befreit und dadurch die Funktion eines selbständigen Organs der Weltdeutung und der bürgerlichen Selbstverständigung gewinnt, dann ist dies ein legitimer und für die gesamte Moderne höchst folgenreicher und eben deshalb der Erforschung und Tradierung werter Vorgang. Wenn man die Säkularisierung heute angesichts der Pervertierungserscheinungen einer ungebremsten neuzeitlichen Fortschrittsideologie und im Blick auf den seinerseits Herrschaftsansprüche geltend machenden und das Subjekt seiner selbst entfremdenden Rationalismus als Folge aufklärerischer Autonomisierung des Subjekts nicht nur auf seilen von Theologie und Kirche skeptisch beurteilt, kann dies nicht zugleich die historische Berechtigung und das Resultat des frühneuzeitlichen Säkularisierungsprozesses infragestellen, doch vermag diese Kritik davor zu bewahren, die Kategorie der Säkularisierung als »telos« des Geschichtsverlaufs zu verabsolutieren und von daher als Vor-Urteil der historischen Analyse zu mißbrauchen. Man muß auch nicht »hinter dem Rükken« der historischen Werke und Autoren argumentieren, um diesen Prozeß sichtbar zu machen, weil sich die Säkularisierungstendenzen nicht nur funktional, sondern vielfach auch intentional zu erkennen geben und durchzusetzen versuchen. Säkularisierung - dies sei nochmals betont - ist keine semantisch feststehende Kategorie, ebensowenig wie Dogma oder Tradition der christlichen Kirchen und Konfessionen, sondern benennt einen historischen Prozeß. Deshalb können wir auch nicht das heutige, in vielem liberalisierte und den Zeitläuften angepaßte christliche Selbst- und Weltverständnis als Beurteilungsbasis für den frühneuzeitlichen Säkularisierungsprozeß zugrundelegen. Vielmehr müssen wir den in den einzelnen Epochen geltenden, von den Repräsentanten der Kirchen vertretenen sowie in den Bekenntnisschriften und dogmatischen sowie apologetischpolemischen Abhandlungen jeweils fixierten Stand christlich-konfessioneller Verkündigung zum Maßstab für die Beurteilung von Säkularisierungstendenzen nehmen. Ihr Kriterium ist deshalb auch nicht generell das mißverständliche Merkmal der »Verweltlichung«, dem die Kir-
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eben ja selbst unterliegen, das sie z.T. sogar theologisch legitimieren und das sich dem Wortsinn nach in reiner Ausprägung und auf breiter Front erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmachen läßt. Wenn dieses Ergebnis aber als Resultat eines Prozesses verstanden werden muß, dann gehört dieser Prozeß selbst ebenfalls zu dem Phänomen als dessen Geschichte und meint all jene Tendenzen, durch die und in denen (als Medien) es im Laufe des Zeitraums Institutionen, Autoren, Werken und Ideen gelingt, die Macht der Kirchen und den Alleinvertretungsanspruch der von ihnen vertretenen Weltanschauung zu unterlaufen, zu relativieren oder einzuschränken, und geschehe dies auch nur durch die Erweiterung des Spielraums der Weltdeutung über den christlichen Horizont hinaus. Und das ereignet sich, wie sich schon an der Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen wird, auf vielfältige Weise im gesamten Zeitraum. Ein schwieriges Problem ist es, wie gewisse innerhalb des theologischen Diskurses selbst verlaufende, von der offiziellen Doktrin abweichende Positionen oder auch eine bereits weitgehend entdogmatisierte, aber noch im weiteren Sinne christlich zu nennende Frömmigkeit in diesem historischen Prozeß zu bewerten sind. Man wird dann jeweils zu prüfen haben, inwieweit dadurch der Säkularisierung vorgearbeitet wird. - Im übrigen ist selbstverständlich auch in Rechnung zu stellen, daß die Theologen aller Konfessionen sich in diesem Zeitraum intensiv darum bemühen, säkulare Tendenzen ins christliche Gedankengebäude zu reintegrieren, so z.B. die Theorien von einer natürlichen Religion bzw. Theologie oder vom Naturrecht, wie überhaupt die Auffassung vom »Buch der Natur« als gleichberechtigter Offenbarungsquelle neben dem »liber scripturae« die Integration der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ins christliche Weltbild leisten sollte. Indem aber tragende, an Natur und Vernunft orientierte Säulen der »Verweltlichung« wie ein trojanisches Pferd in die christliche Theologie und Weltanschauung hineingezogen wurden, wirkten sie dort selbst säkularisierend auf das theologische Weltbild ein. Nachdem sich die Literatur in der Goethezeit ihre Unabhängigkeit gegenüber der christlichen Religion erworben hat - und zwar in dem Sinne, daß letztere kein bestimmender Bezugspunkt poetischer Sinngebung oder Auseinandersetzung mehr zu sein braucht - tritt der Säkularisierungsprozeß auch im Bereich der Literaturgeschichte mit der Romantik in ein qualitativ neues Stadium, in welchem die Literatur nun selbst die Möglichkeiten autonomer Welterklärung und -deutung erprobt und praktiziert, und dies u.a. auch durch Mythenrezeption und -Produktion oder durch zitierend-montierende »Einverleibung« Christ-
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liehen Glaubensgutes in ihren säkularen Kontext (vgl. IV Kemper II, S. 149f.). Mit dem Ende der frühen Neuzeit endet daher auch die erste und wichtigste Phase des Säkularisierungsprozesses. c) Zur Bestimmung der frühen Neuzeit und ihrer Epochen Der Begriff der »frühen Neuzeit« hat sich erst spät - nach dem Zweiten Weltkrieg - allgemein in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt (vgl. III Skalweit, S. 3; Burkhardt, S. 11 ff., 20f.). Das zuvor geltende universalhistorische triadische Schema Altertum - Mittelalter - Neuzeit, das der Hallenser Polyhistor Christoph Cellarius (1638-1707) 1683 eingeführt hatte, erfuhr damit eine gewichtige Modifikation. Die Neuzeit läßt sich nach gegenwärtigem Verständnis offenbar nicht mehr einfach von der Renaissance, von Luther oder vom Absolutismus herleiten. Entscheidend ist vielmehr die Französische Revolution, welche mit ihren tiefgreifenden, auch auf andere Länder ausstrahlenden sozial-historischen Implikationen den eigentlichen Grundstein für die modernen Industriegesellschaften gelegt zu haben scheint (vgl. III Lutz 1982, S. 117ff.). Die vorausgehende - immerhin dreihundertjährige - Zeitspanne gerät damit in die Rolle einer Zeit zwischen Mittelalter und Moderne. Dies auch in der marxistischen Historiographie; bei deren in die Geschichte zurückprojizierter »gesetzmäßiger Abfolge« von »sozialökonomischen Gesellschaftsformationen« als »grundlegenden Periodisierungsbegriffen« (vgl. III Dietze, S. 46) erscheint dieser Zeitraum als »Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus«, »deren wichtigste Perioden durch die frühbürgerliche Revolution des 16. Jahrhunderts, die englische Revolution des 17. Jahrhunderts und die Große Französische Revolution von 1789 markiert« werden (III Bahner, S. 18). Unter diesem Gesichtspunkt fällt dann vor allem die Entwicklung Deutschlands und der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert durch mangelnde Fortschrittlichkeit unangenehm auf, zu der sich »eine progressive Literaturgeschichtsauffassung nur in widerspruchsreiche Beziehung« zu setzen vermag (III Weimann, S. 145). Aber auch westlichen Historikern macht die Bewertung des Zeitraums Schwierigkeiten. Diese beginnen bereits bei der Frage, welche Faktoren die frühe Neuzeit wesentlich begründen und bestimmen. Insbesondere vier historische Phänomene werden für ihre Genese in Anschlag gebracht: die Renaissance, das Zeitalter der Entdeckungen, die Reformation und die Genese des modernen Staates. Stephan Skalweit hat den >epochalen< Stellenwert dieser Faktoren neuerdings diskutiert und eher skeptisch bewertet: Im Unterschied zu dem einflußreichen Renaissance-
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Bild, das Jacob Burckhardt 1860 so enthusiastisch entwarf (>Die Kultur der Renaissance in Italien