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German Pages 400 Year 2015
Isabell Lammel Der Toussaint-Louverture-Mythos
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 26
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Isabell Lammel (Dipl.-Übers., Dr. phil.), geb. 1981, promovierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Die Romanistin arbeitet als freiberufliche Übersetzerin und Dozentin.
Isabell Lammel
Der Toussaint-Louverture-Mythos Transformationen in der französischen Literatur, 1791-2012
Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 06 Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2014 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Isabell Lammel Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3170-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3170-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Meiner Familie
D ANKS AGUNG
Bei der Erstellung meiner Arbeit habe ich von vielen Menschen, Instituten und Organisationen Unterstützung erfahren, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Mein herzlicher Dank gilt vor allem meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Gipper, der mein Dissertationsprojekt anregte, den Fortgang der Arbeit geduldig betreute und mir jederzeit mit konstruktiven Ratschlägen zur Seite stand, sowie meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Cornelia Sieber, die mir wertvolle Hinweise gab und mein Projekt durch ihr anteilnehmendes Interesse stets unterstützte. Für zahlreiche Anregungen und Denkanstöße bin ich dem kulturwissenschaftlichen Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Andreas Gipper, Prof. Dr. Cornelia Sieber und Prof. Dr. Susanne Klengel an der Universität Mainz/Germersheim zu Dank verpflichtet. Gewinnbringende Lektüren sowie interessante und kontroverse Diskussionen lenkten mich immer wieder in neue thematische Bahnen. Für Zuspruch und Unterstützung auch außerhalb des Kolloquiums danke ich insbesondere Anne Burgert und Dr. Verónica Abrego. Darüber hinaus gilt mein Dank auch der Nachwuchsforschergruppe Geschichtstransformation/en für die unerschütterliche transdisziplinäre Diskussionsbereitschaft im Rahmen zahlreicher Arbeitstreffen und Workshops. Der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz danke ich für die zweijährige finanzielle Förderung dieser Arbeit. Für die Übernahme der Druckkosten sowie die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften (MHK) bin ich dem Koordinationsausschuss des FSP Historische Kulturwissenschaften der Universität Mainz, namentlich dem Sprecher Prof. Dr. Jörg Rogge, nachdrücklich verbunden. Alexander Masch vom Bielefelder transcript Verlag beglei-
tete die Erstellung des Typoskripts mit größter Sorgfalt. Für die kostenlose Gewährung der Abbildungsrechte danke ich der Produktionsfirma Eloa Prod sowie dem Verlag Actes Sud. Dank schulde ich ebenfalls den Mitarbeitern der Bereichsbibliothek Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz/Germersheim sowie den Mitarbeitern der Französischen Nationalbibliothek in Paris, die mich bei der Recherchearbeit mit großer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit unterstützten. Bianca Arias und Angelika Lammel danke ich, dass sie ihre kostbare Zeit in die Lektüre und Korrektur meiner Arbeit investierten. Mein ganz besonderer Dank für ihr Verständnis und ihre Geduld gilt meinen Freunden und meiner Familie, insbesondere meinen Großeltern, meiner Mutter und Björn Krieger. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Süßen, im Frühjahr 2015
Isabell Lammel
I NH ALT Einleitung .................................................................... 13 1. Historische Rahmung ............................................. 1.1 Ereignisgeschichte: Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution ........................................... 1.1.1 Die Revolte der Weißen und der Aufstand der Mulatten 1.1.2 Der Sklavenaufstand von 1791 und der Aufstieg Toussaint Louvertures .................................................... 1.1.3 Die Expedition Leclercs und der Kampf um die Unabhängigkeit .............................................................. 1.2 Perzeptionsgeschichte: Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution ................................................. 1.2.1 Die Haitianische Revolution als undenkbares Ereignis.. 1.2.2 Die Haitianische Revolution als Nichtereignis ..............
53 59 64
2. Theoretische Rahmung .......................................... 2.1 Gedächtnistheorien: Erinnern und Vergessen ................ 2.2 Mythostheorien: Mythos als Erinnerungsmodus ............ 2.3 Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen .....
77 77 87 95
23 23 28 31 44
3. Die Repräsentation und Transformation des Toussaint-Mythos in der französischen Literatur.. 113 3.1 Untersuchungskorpus und Vorgehensweise ................... 113 3.2 Der Versuch, das Undenkbare zu verbalisieren: die Darstellung Toussaints in der Literatur der Zeit- und Augenzeugen ............................................ 121
3.2.1 Die Dämonisierung Toussaints als Teil der bonapartistischen Propaganda und der Versuch, diese zu widerlegen ....................................................... 134 3.2.2 Von der bonapartistischen Propaganda geprägte Memoiren ........................................................ 147 3.3 Die Toussaint-Rezeption in der französischen Romantik ........................................................................ 165 3.3.1 Eine idealisierte Darstellung eines schwarzen Sklavenführers in Saint-Domingue (Hugo) .................... 170 3.3.2 Der Beginn der idealisierten Darstellung Toussaint Louvertures .................................................................... 183 3.3.3 Toussaint als Widerpart Napoleons (Mme de Staël, Balzac, Chateaubriand) .................................................. 189 3.3.4 Toussaint Louverture als Vater der haitianischen Nation ................................................. 204 3.4 Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures in Frankreich .................................................................. 221 3.4.1 Toussaint als Symbol für die Gleichheit aller Menschen (Laffitte, Gragnon-Lacoste, Schoelcher) ........................ 230 3.5 Toussaint als Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung .......................................... 255 3.5.1 Toussaint als Vorreiter und Gründer der ersten schwarzen Nation (Césaire) ........................... 259 3.5.2 Toussaint Louverture als ambige Persönlichkeit (Glissant, Dadié)............................................................. 272 3.5.3 Thematisierung des Vergessens ..................................... 288 3.6 Die allmähliche Rückkehr Toussaint Louvertures ins kollektive Gedächtnis Frankreichs ........................... 299 3.6.1 Eine metamythische Herangehensweise: Fabienne Pasquet und Éric Sauray ................................. 306
3.6.1.1 Die Demythisierung der europäischen Perspektive auf Toussaint ............................................................... 3.6.1.2 Die Justifikation und Desillusionierung Toussaints .... 3.6.2 Die Destruktion des Napoleon-Mythos ....................... 3.6.3 Die Glorifizierung und Republikanisierung Toussaint Louvertures ................................................................. 3.6.3.1 Die Dämonisierung der Gegenspieler Toussaint Louvertures .................................................................
308 316 325 335 347
Schlussfolgerung ....................................................... 359 Bibliografie .................................................................. 367
E INLEI TUNG
„Cet homme est une nation.“ Lamartine, Toussaint Louverture1
Von 1791 bis 1804 fand in der damals reichsten französischen Kolonie Saint-Domingue, der sogenannten ‚Perle der Antillen‘, die Haitianische Revolution statt. Der Sklavenführer Toussaint Louverture, der nach der ersten Abolition der Sklaverei am 4. Februar 1794 allmählich zum mächtigsten Mann der Kolonie aufgestiegen war, konnte die von Napoleon zur Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse nach Saint-Domingue entsandte Expedition zwar nicht auf militärischer Ebene besiegen, aber sein Wirken auf politischer Ebene war insofern erfolgreich, als er maßgeblich an der Vorbereitung der ersten Niederlage einer napoleonischen Armee sowie an der Gründung des ersten unabhängigen Staates Lateinamerikas beteiligt war. Haiti übernahm eine Vorreiterrolle im Prozess der Dekolonisation, und Europa reagierte schockiert auf die Unabhängigkeitserklärung der Kolonie am 1. Januar 1804, da ein von ehemaligen Sklaven regierter Staat sich der Vorstellungskraft der Europäer, die von ihrer Superiorität überzeugt waren, entzog. Nach der Staatsgründung Haitis setzte dann auch ein Mechanismus des Verdrängens und Vergessens ein, wodurch die Haitianische Revolution sowie der ‚schwarze Spartakus‘ aus der französischen Historiografie verbannt wurden. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung sorgte jedoch die Literatur dafür, dass sich Toussaint Louverture einen Weg ins kollektive Gedächtnis Frankreichs bahnen konnte. Diese literarische Rezeption des Toussaint-Mythos in Frankreich steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. 1
LAMARTINE, 1850, S. XXXII.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Der Mythos um Toussaint Louverture erscheint vor allem deshalb untersuchenswert, als Toussaint wie kein Anderer dem Kampf der Sklaven gegen die Kolonialmacht ein Gesicht verliehen hat. Wo der Kolonialdiskurs gewöhnlich den Kolonisierten jede Stimme verweigert und diese zum anonymen Objekt eines kolonialen Subjekts macht, da wächst Toussaint ein Charisma zu, das ihn in einigen Texten geradezu zum programmatischen Widerpart Napoleons, zu einer Art Gegenmythos, werden lässt. Entgegen der Entwertung der Subjektivität der Kolonisierten und der bereits von Aimé Césaire und Frantz Fanon mit Macht kritisierten Verdinglichung der Kolonisierten, tritt hier ein historisches Subjekt auf, dem auch aufgrund der erhaltenen Memoiren und Briefe ein historisch absolut singulärer Charakter zukommt. Seine besondere Stellung als ehemaliger Sklave, der beim Ausbruch der Aufstände selbst Land und Sklaven besaß und somit Einblicke in beide Lager hatte, prädestinierte ihn geradezu dafür, zunächst eine Rolle als Mittler zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten einzunehmen. Vermutlich trugen auch die physische Anwesenheit Toussaints sowie sein Tod im Mutterland dazu bei, dass gerade er und nicht andere Anführer der Haitianischen Revolution wie Jean-Jacques Dessalines oder Henri Christophe zu einem Mythos stilisiert wurde. Zudem boten die zahlreichen, sich um seine Person rankenden Legenden ein hohes Mythisierungspotenzial. Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die unterschiedlichen Repräsentationen und Funktionalisierungen des Toussaint-Mythos in der französischen Literatur in einem Zeitraum von über 200 Jahren zu veranschaulichen und die sich realisierenden Transformationen mithilfe des jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontexts zu erläutern. Das Korpus der qualitativen Untersuchung des Mythos Toussaint Louverture umfasst Texte französischer und frankophoner Autoren vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Um ein umfassendes Bild der sich transformierenden Darstellung der historischen Figur zu erstellen, enthält das Korpus sowohl Texte von – aus heutiger Sicht – bekannten Schriftstellern, d. h. kanonische Texte der französischen Literaturgeschichte, als auch von unbekannten Autoren, deren Werke oftmals der Trivialliteratur zugeordnet werden müssen. Zudem beschränkt sich die Selektion der Werke nicht nur auf fiktionale Texte, sondern umfasst auch nicht-fiktionale Texte, sodass die Repräsentation
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Einleitung
Toussaints in vielen unterschiedlichen Gattungen betrachtet werden kann. Sowohl Schriften französischer Autoren als auch Werke frankophoner Schriftsteller, die in Frankreich veröffentlicht und zur dortigen Mythos-Rezeption beitrugen, werden in die Untersuchung aufgenommen. Mithilfe des beschriebenen Korpus wird nicht nach einer hinter dem Mythos liegenden Wahrheit geforscht; Ziel ist vielmehr eine Rekonstruktion der unterschiedlichen Rekonfigurationen Toussaint Louvertures in Frankreich. Bei Toussaint, der in Haiti als Nationalheld verehrt wird und nicht nur in der französischen Literatur rezipiert wurde, sondern ebenso Aufnahme in die haitianische, deutsche, hispanophone und anglophone Literatur fand, handelt es sich zweifelsohne um einen transnationalen Mythos. Ein Einbezug aller Werke über Toussaint würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sodass nur an einzelnen Stellen auf bedeutende Einflüsse anderssprachiger MythosRenarrationen verwiesen wird. Zudem birgt eine detaillierte Betrachtung der französischen Perspektive auf den Mythos den spezifischen Erkenntnisvorteil, dass sich anhand des Umgangs mit Toussaint im französischen Nationaldiskurs auch die Auseinandersetzung Frankreichs mit seiner eigenen Kolonialvergangenheit veranschaulichen lässt. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Forschungsgegenstand der Haitianischen Revolution und Toussaint Louvertures beschäftigen. Umso erstaunlicher mutet es an, dass bisher nur Studien zu einzelnen literarischen Werken über Toussaint Louverture vorliegen, die ein fragmentarisches Bild der Entfaltung des Mythos vermitteln, jedoch noch keine umfassende literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit über die Rezeption des Toussaint-Mythos in Frankreich existiert. Aufgrund der großen Anzahl an Publikationen zu diesem Thema wird nachfolgend nur auf jene verwiesen, die für diese Untersuchung von besonderer Bedeutung sind. Wichtige Impulse verdankt diese Arbeit insbesondere den Überlegungen von J. A. Ferguson und Charles Forsdick: Ferguson zeigte in einem Artikel die verschiedenen Darstellungen Toussaints in fiktionalen und nicht-fiktionalen französischen Texten des 19. Jahrhunderts auf, wobei es ihm – wie auch dieser Arbeit – um die Ambivalenzen und unterschiedlichen Instrumentalisierungen Toussaints ging. Charles Forsdick beschäftigte sich mit den frühen Darstellungen Toussaints im 19. Jahrhundert und ihrem Einfluss auf die frankophonen Toussaint-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Renarrationen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, anhand derer er die noch heute vorhandene Bedeutsamkeit der Haitianischen Revolution für das postkoloniale Frankreich deutlich machen konnte. Beide Autoren widmeten sich der Thematik jedoch nur in kurzen Aufsätzen, sodass aufgrund des begrenzten Rahmens zwar eine Idee, verständlicherweise jedoch nicht eine detaillierte Veranschaulichung der Transformation des Mythos vermittelt werden konnte. Peter-Eckhard Knabe und Kennedy Miller Schultz beschränkten sich in ihren Untersuchungen auf Theaterstücke über die Haitianische Revolution (Édouard Glissant, Bernard B. Dadié und Aimé Césaire bzw. Alphonse de Lamartine). Knabe widmete sich wie Ferguson speziell der Frage der Funktionalisierung Toussaints. Wenn der Aufsatz auf den wenigen Seiten auch keine umfassende Analyse seiner Darstellung vornehmen konnte, so zeigen sich doch die wesentlichen Züge seiner Instrumentalisierung in den Werken. Bei Miller Schultz steht hingegen nicht nur Toussaint Louverture, sondern allgemein die Haitianische Revolution im Mittelpunkt. Sie setzte sich mit der Umschreibung der Ereignisse und der von den postkolonialen Autoren durch ihre Werke ausgeübte Resistenz gegen die westliche Geschichtsschreibung auseinander. Die Werke von Léon-François Hoffmann und Régis Antoine müssen als Referenzbücher im Bereich der Haitianischen Revolution angesehen werden, da beide auf eine große Menge an literarischem und historiografischem Material über die Haitianische Revolution verweisen. Während sich Hoffmann mit der Imagination von Schwarzen in französischen literarischen Werken von 1789 bis 1848 auseinandersetzte, untersuchte Antoine die frankoantillanische Literatur bis 1932, wobei natürlich auch verschiedene Toussaint-Renarrationen eine Rolle spielten. Jedoch gingen die Autoren nicht auf die unterschiedlichen Darstellungen Toussaints ein, sondern stellten hauptsächlich die Einstellung der Autoren zum Unabhängigkeitskampf der Sklaven in den Mittelpunkt. Hans-Jürgen Lüsebrink, der sich in verschiedenen Aufsätzen der Haitianischen Revolution widmete, beschrieb die Genese des literarischen Diskurses der Haitianischen Revolution Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und erstellte einen Überblick über die Entwicklung von der karibischen zur gesamtamerikanischen Rezeption des Sklavenaufstands. Er hob hervor, dass es sich bei der Revolution um ein
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Einleitung
Ereignis handelte, das ein „weltliterarisches Echo“2 erzeugte. Auch andere Arbeiten warfen einen solchen transnationalen Blick auf die Haitianische Revolution und Toussaint Louverture wie beispielsweise die Dissertationen von Birgit Lahaye (2003) und Marie Biloa Onana (2010). Während Lahaye anhand einer chronologisch vergleichenden Untersuchung von zwischen 1810 und 2000 erschienenen Erzähltexten darlegte, dass die Haitianische Revolution in den kollektiven Gedächtnissen verschiedener Nationen (USA, Haiti, Deutschland, Frankreich) präsent ist, beschränkte sich Biloa Onana zwar auf das 19. Jahrhundert, nahm aber neben fiktionalen auch nicht-fiktionale Texte aus Frankreich, England, Deutschland und Haiti mit in ihr Korpus auf. Vermutlich begründet durch die hohe Materialdichte, blieb Lahaye in ihren Aussagen sehr generisch und ging nicht detailliert auf die einzelnen Werke ein. Biloa Onana hingegen wählte aus einem dargelegten umfangreichen Material einzelne Werke aus, anhand derer sie die verschiedenen nationalen Deutungsmuster der Haitianischen Revolution aufdeckte und deren Beitrag sie bei der im 19. Jahrhundert stattfindenden Diskussion um Humanitätsideale und ethnische Differenz offenlegte. Allen drei Autoren ist gemein, dass sie die Revolution ins Zentrum stellten und sich weniger mit der Repräsentation Toussaints auseinandersetzten. Aus diesem Überblick über den aktuellen Forschungsstand geht hervor, dass bisher keine synthetisierenden Darstellungen des Toussaint-Mythos in Frankreich vorliegen, sodass ein bedeutendes Forschungsdesiderat konstatiert werden kann. Oftmals analysierten die Autoren nur kanonische Literatur und ließen die Werke von heute unbekannten Autoren außer Acht. Zudem beschränkten sich manche Arbeiten entweder nur auf fiktionale oder nicht-fiktionale Literatur. In einigen Schriften wurde die Darstellung der Haitianischen Revolution und Toussaint Louvertures in den Literaturen verschiedener Länder untersucht, wobei jedoch eine Limitation auf wenige Werke oder eine bestimmte Epoche als Begleiterscheinung zu beobachten ist. Andere Werke, die sich einer größeren Menge an Material stellten, verfolgten zumeist eine andere Fragestellung, stellten statt Toussaint Louverture die Repräsentation des Ereignisses der Haitianischen Revolution allgemein ins Blickfeld und beschränkten sich weitestgehend auf Inhaltsangaben und blieben in ihren Aussagen generisch. Aus den aufgezeigten Lücken 2
LÜSEBRINK, 1994, S. 152.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
dieser Arbeiten ergibt sich das Projekt dieser Dissertation, die es sich zur Aufgabe macht, ein umfassendes und differenziertes Bild der sich transformierenden Repräsentation der historischen Figur Toussaint Louverture in Frankreich zu erstellen. Eine Gemeinsamkeit der Geschichtsschreibung und der Literatur ist die Tatsache, dass jeder Prozess des Erzählens von historischen Ereignissen eine Stellungnahme, eine Deutung der Ereignisse mit einschließt. Wenn daher im ersten Kapitel der Arbeit ein Überblick über die Ereignisgeschichte der Haitianischen Revolution und ihres Anführers Toussaint Louverture erstellt wird, darf diese Geschichte nicht als vorausgeschickte Wahrheit verstanden werden. Es handelt sich dabei vielmehr um ein stark vereinfachtes Resümee jener Konstruktion, die sich in der Historiografie herausgebildet hat. Neben der Ereignisgeschichte muss für das Verstehen der sich realisierenden Umschreibungen des Mythos auch die französische Wahrnehmung der Haitianischen Revolution und ihrer herausragenden Figur Toussaint während und nach der Revolution vorgestellt werden. Dabei wird zunächst ein besonderes Augenmerk auf Toussaints Darstellung bzw. eher Nichtdarstellung in der französischen Historiografie gelegt, und zusätzlich wird allgemein die Sichtweise der Franzosen – insbesondere auch jene der Philosophen der Aufklärung – auf die in den Kolonien herrschende Sklaverei erläutert. Die vorliegende Untersuchung fragt nach den unterschiedlichen Funktionalisierungen des haitianischen Revolutionsführers in den verschiedenen Werken und Epochen. Besondere Aufmerksamkeit wird vor allem den Brüchen und Veränderungen im Diskurs seiner Darstellung zuteil. Auffällig ist, dass sich hinter solchen Umdeutungen des Mythos oftmals bestimmte Interessen und weltanschauliche Annahmen verbergen, die die Transformation initiieren, sodass daran auch Phänomene des gesellschaftlichen bzw. kulturellen Wandels aufgezeigt werden können. Rekurrierend auf die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann sowie die Theorien zur Mythisierung von Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss und Stephanie Wodianka entwickelt diese Arbeit, bei der die Mythisierung der historischen Person Toussaint im Mittelpunkt steht, im zweiten Kapitel eine neue Methode zur Herausarbeitung der jeweiligen Instrumentalisierung Toussaints in den Rezeptionszeugnissen. Die Vieldeutigkeit des haitia-
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Einleitung
nischen Freiheitskämpfers zeigt sich anhand der differenten Selektion, Deutung und Verknüpfung der verschiedenen Mytheme des Mythos, die sich jeweils neu und unterschiedlich anordnen lassen, und den dadurch erzeugten Aktualisierungen bzw. Neu- und Umdeutungen seiner Geschichte. Zudem stützt sich die Untersuchung auf die postkolonialen Theorien von Edward Said und Homi Bhabha sowie auf die ihnen vorausgehenden antikolonialen Theorien von Aimé Césaire, Frantz Fanon und Édouard Glissant, welche interpretatorisch fruchtbar gemacht werden, um die den Texten eingeschriebenen Motive und Stereotypen, die der Beschreibung Toussaints dienen, herauszuarbeiten sowie Strategien seiner Instrumentalisierung aufzudecken. Da sich eine Mythos-Aktualisierung jeweils in Bezug auf die Gegenwart und die aktuellen Bedürfnisse der Gesellschaft vollzieht und somit der historische Kontext der Entstehungszeit der Renarrationen für die Veranschaulichung von möglichen Gründen für die Umdeutungen des Mythos dient, scheint eine chronologische Untersuchung der verschiedenen Rezeptionszeugnisse zur Herausarbeitung seiner Transformation am geeignetsten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Funktionalisierungen Toussaints in engem Zusammenhang mit der französischen Kolonialpolitik der jeweiligen Epoche stehen. Dadurch kann im Hauptteil nicht nur der Umgang mit Toussaint im französischen Nationaldiskurs offengelegt werden, sondern zugleich der sich verändernde Blick Frankreichs auf die Themen Sklavenhandel, Sklaverei, Kolonialisierung und Dekolonialisierung. Zudem nimmt die Frage nach der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen dem Toussaint- und Napoleon-Mythos einen wichtigen Platz ein. Um die Genese des Mythos in Frankreich zu veranschaulichen, erfolgt eine Analyse der verschiedenen Werke von Zeit- und Augenzeugen, die noch im Laufe und direkt nach der Haitianischen Revolution in Frankreich verfasst wurden.3 Da einige der Autoren wie beispielsweise der französische General Joseph-François-Pamphile de Lacroix persönlich am Kampf gegen die Aufständischen in Saint-Domingue beteiligt waren, müssen insbesondere die diesen individuellen Erinnerungen zugrunde liegenden persönlichen Interessen und apologetischen Anliegen beachtet werden. Außerdem ist anzunehmen, dass die Texte, die die kollektiven Erinnerungen an den Toussaint-Mythos prägten, von der die 3
Vgl. Kapitel 3.2.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Expedition unterstützenden bonapartistischen Propaganda beeinflusst wurden. Die Frage, inwiefern verschiedene Formen der Stereotypisierung der ‚Anderen‘, die von Bhabha als Hauptstrategie des kolonialen Diskurses bezeichnet wurden,4 in die Renarrationen eingeschrieben sind und ob jene auf Toussaint Louverture Anwendung fanden, ist Teil der Untersuchung. Sicher ist es kein Zufall, dass sich im Anschluss an die Anerkennung der Souveränität der Bewohner Saint-Domingues von 1825 gerade die romantische Generation in Frankreich mit ihrem spezifischen politischen Profil und ihrem genuinen Interesse an Volkskulturen für den Toussaint-Mythos, der noch zu dessen Lebzeiten den Atlantik überquert hatte, interessierte.5 Wenn die Romantiker auch auf die individuellen Erinnerungen der Zeitzeugen zurückgriffen, funktionalisierten sie den Mythos auf eine andere Art und Weise. Autoren von besonderer Bedeutung wie Victor Hugo, Alphonse de Lamartine, François-René de Chateaubriand, Madame de Staël, aber auch anonym veröffentlichte und unbekanntere Werke beteiligten sich an der Transformation des Mythos und prägten das Motiv des ‚schwarzen Napoleons‘. Der gewisse zeitliche Abstand zu den Ereignissen in Saint-Domingue scheint es zu ermöglichen, dass in Anknüpfung an die vor der Haitianischen Revolution begründete littérature négrophile wieder auf das Bild eines guten Schwarzen rekurriert wird. Nachdem Toussaint Louverture unter der Herrschaft Napoleons III. und der Dritten Französischen Republik einem Vergessen anheimgefallen war – dessen Gründe in Kapitel 3.4 erörtert und analysiert werden –, beschäftigten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich vor allem französische Schriftsteller der Überseegebiete wie Aimé Césaire und Édouard Glissant mit Toussaint Louverture. Gegenstand der Untersuchung sind hierbei die Formen des Diskurswechsels, insbesondere eines im postkolonialen Sinne erfolgten writing back, die sich über die Aufnahme des Toussaint-Stoffes durch die Nachfahren der ehemaligen Kolonisierten vollzogen.6 Die Frage nach der Präsenz und Instrumentalisierung des haitianischen Freiheitskämpfers im heutigen kollektiven Gedächtnis Frank4 5 6
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Vgl. BHABHA, 1994, S. 66. Vgl. Kapitel 3.3. Vgl. Kapitel 3.5.
Einleitung
reichs stellt sich im letzten Kapitel des Hauptteils. Eine neue Welle an Rezeptionszeugnissen, die Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Markt schwappte, und eine zu beobachtende Remediation des Mythos – sein Übergang in den öffentlichen Raum sowie in das Medium Film – lassen auf eine allmähliche Rückkehr des haitianischen Sklavenführers ins kollektive Gedächtnis schließen. Inwiefern die Rekonfigurationen des Mythos an die Toussaint-Darstellungen des 19. oder jene des 20. Jahrhunderts anknüpfen, wird anhand der vorhandenen unterschiedlichen Tendenzen der Funktionalisierung Toussaints aufgezeigt. Der Fokus richtet sich u. a. auf den Roman von Fabienne Pasquet und das Theaterstück von Éric Sauray, in denen eine metamythische Herangehensweise an den Mythos erfolgt, was bedeutet, dass sie den Mythos in seinem Funktionieren, in seiner erinnerungskulturellen Funktion dechiffrieren, um die Möglichkeit einer multiperspektivischen Mythoslektüre zu bieten.7 Eine interessante Darstellung Toussaints lässt sich auch im Roman Claude Ribbes vermuten, der es wagte, mit einem Pamphlet den Napoleon-Mythos derart zu dekonstruieren, dass in der französischen Öffentlichkeit kontroverse Debatten geführt wurden und die geplante 200-Jahrfeier der Schlacht von Austerlitz im Jahr 2005 in aller Diskretion stattfinden musste. Dem Eingang Toussaints in andere Gattungen und Medien wird Rechnung getragen, indem die Repräsentation des Revolutionsführers im Kinderbuch von Jacques Vénuleth sowie im Spielfilm des Regisseurs Philippe Niang analysiert wird. Dank der durch die Analyse gewonnenen Erkenntnisse können im Schlussteil ein Überblick über die Transformationen des ToussaintMythos im Laufe seiner über 200-jährigen Geschichte im französischen Nationaldiskurs präsentiert sowie ein Vergleich der unterschiedlichen Funktionalisierungen des haitianischen Freiheitskämpfers in den verschiedenen Epochen erstellt werden. Das Kapitel zeigt zudem die mit der Transformation Toussaints einhergehenden Phänomene des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels bezüglich der Themen Sklavenhandel, Sklaverei, Kolonialisierung und den erinnernden Umgang Frankreichs mit seiner eigenen Kolonialvergangenheit auf. Besondere Aufmerksamkeit verdient ebenfalls der Zusammenhang zwischen dem
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Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 227; WODIANKA, 2005b, S. 38.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Toussaint- und Napoleon-Mythos, da diese zueinander in konkurrierender Interdependenz zu stehen scheinen.
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1. H ISTORI SCHE R AH MUNG
1.1 Ereignisgeschicht e: Toussaint Louvert ure und die Haitianische Revolution […] il ne manque aux nègres qu’un chef assez courageux, pour les conduire à la vengeance & au carnage. Où est-il, ce grand homme, que la nature doit peut-être à l’honneur de l’espèce humaine? Où est-il ce Spartacus nouveau, qui ne trouvera point de Crassus? Alors disparoîtra le code noir; & que le code blanc sera terrible, si le vainqueur ne consulte que le droit de représailles! En attendant cette révolution, les nègres gémissent sous le joug des travaux dont la peinture ne peut que nous intéresser de plus en plus à leur destinée.1
Die heute weitgehend als historisch gesicherte Erzählung der Haitianischen Revolution mit deren wichtigster Persönlichkeit Toussaint Louverture ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen Darstellungen und Interpretationen dessen, was in den Jahren 1791 bis 1804 in Saint-Domingue geschah. Eine Besonderheit der Aufarbeitung dieser Ereignisse ist die Tatsache, dass die Geschichtsschreibung überwiegend auf Quellen rekurriert, die von Franzosen stammen und denen apologetische Anliegen sowie persönliche Interessen zugrunde lagen. Die sich während der Aufstände in SaintDomingue befindlichen Kolonisten und Reisenden sowie Angehörige der französischen Verwaltung und des Militärs beschäftigten sich in ei-
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RAYNAL, [1770] 1776, S. 265.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ner Vielzahl von Texten (Berichte, Briefe, Autobiografien etc.) mit den Ereignissen in der damaligen französischen Kolonie.2 Der folgende kurze historische Überblick darf nicht als vorausgeschickte Wahrheit missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich dabei um eine kurze Zusammenfassung jener Konstruktion, die sich in der Geschichtswissenschaft herausbilden konnte. Der Überblick soll dazu dienen, dass die in dieser Arbeit zu untersuchenden Texte besser in den historischen Kontext eingebettet werden können. Der Deutungsprozess der Haitianischen Revolution ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Nur langsam wurde in Frankreich mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit begonnen, wobei zunächst die Kolonialexpansion der Dritten Republik im Blickfeld stand und die ehemaligen Kolonien der ersten Welle der Kolonialisierung nur allmählich an Aufmerksamkeit gewinnen konnten. Erst in den 1980er Jahren wurden das um die Haitianische Revolution und ihren Anführer Toussaint Louverture in der Historiografie vorherrschende Schweigen3 von einigen französischen Historikern durchbrochen. In den letzten Jahren vervielfachte sich die geschichtliche Wissensproduktion über die Ereignisse in Saint-Domingue. Gerade zur Figur Toussaint Louverture konnte die Geschichtswissenschaft anhand erst vor wenigen Jahren entdeckter Briefe4 und Dokumente aus Archiven neue Erkenntnisse erlangen.5 Die nachfolgende Übersicht über die Ereignisgeschichte ist notwendigerweise ein stark vereinfachtes Resümee der Geschichte der Haitianischen Revolution. Bevor auf die Ereignisse dieser Umwälzung eingegangen wird, sollen kurz die Entdeckung der Insel Hispaniola, die Entstehung der französischen Kolonie Saint-Domingue sowie die Situation am Vorabend der Französischen Revolution erläutert werden. Die Insel Hispaniola, die heute aus Haiti im Westen und der Dominikanischen Republik im Osten besteht, wurde am 6. Dezember 1492
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Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Kapitel 1.2.2. Im Jahr 2011 veröffentlichten Baggio und Augustin eine Vielzahl von Briefen, die Toussaint Louverture zwischen 1794-1798 an den damaligen französischen Gouverneur Saint-Domingues, Étienne Laveaux, schrieb. Vgl. LOUVERTURE, 2011. Vgl. CAUNA, 2004, S. 135.
Ereignisgeschichte
von Christoph Kolumbus entdeckt.6 Auf Hispaniola wohnte die Bevölkerung der Taino. Die Bevölkerungsdichte der Insel war bei Ankunft der Spanier relativ hoch; sie wird auf 200.000 bis 1 Mio. Einwohner geschätzt.7 Die Spanier zwangen die autochthone Bevölkerung der zu den Großen Antillen gehörenden Insel zur Goldsuche. Nachdem die Goldwirtschaft bis etwa 1516 bestand, wandte man sich aufgrund der zur Neige gehenden Goldvorkommen dem Zuckerrohranbau zu und auf Hispaniola entstanden die ersten Plantagen der Neuen Welt.8 In weniger als einem Vierteljahrhundert war die Urbevölkerung durch die Zwangsarbeit, die aus Europa eingeführten Krankheiten und die verübte Grausamkeit beinahe ausgerottet. Daraufhin führten die Spanier, auf Anraten des Dominikaners Las Casas, der die einheimische Bevölkerung schützen wollte, afrikanische Sklaven auf die Insel ein, die zum größten Teil aus dem heutigen Benin stammten.9 Die Spanier wandten sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den Großen Antillen ab und dem Festland der Neuen Welt zu. Insbesondere der Westteil der Insel wurde vernachlässigt und verlassen, wodurch ein Zeitalter der Freibeuterei, Piraterie und des Schmuggels begann.10 Französische, englische und holländische Schmuggler sowie französische Flibustier und Bukanier (westindische Variante des Piratenwesens) siedelten sich insbesondere auf der Hispaniola vorgelagerten Insel La Tortue sowie im Westteil Hispaniolas an.11 Ab 1665 wurden die französischen Kolonisten auf der Insel so zahlreich, dass der König einen Gouverneur entsandte. Um die Kolonie für Frankreich zu sichern, wurden sogenannte engagés, Franzosen, die ihre Arbeitskraft für drei Jahre zur Verfügung stellten, um somit die Überfahrt bezahlen zu können, sowie Mädchen im heiratsfähigen Alter nach SaintDomingue gebracht. Die Konflikte mit den Spaniern, die sich gegen die Vormachtstellung der Franzosen zur Wehr setzten, mehrten sich. Die Autorität Frankreichs in der Kolonie wurde verstärkt, was insbesondere
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Vgl. CAUNA, 2009, S. 15. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 11f. Vgl. CAUNA, 2009, S. 15-17; BERNECKER, 1996, S. 19f. Vgl. CAUNA, 2009, S. 15-17. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 23f. Vgl. ROUPERT, 2011, S. 43-45; CAUNA, 2009, S. 18-27.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
die Einführung des sogenannten Code Noir12 im Jahr 1685 belegt, der aufgrund der parallel zur Errichtung von Plantagen gewachsenen Zahl eingeführter Sklaven notwendig geworden war. Durch den Frieden von Rijswijk erkannte Spanien 1697 die französische Herrschaft über das westliche Drittel der Insel an, das zur französischen Kolonie SaintDomingue wurde.13 Nach dieser Anerkennung entstanden zahlreiche Plantagen, die aufgrund der Arbeit tausender Sklaven wirtschaftlich florierten. Viele Städte wurden entlang der Küste gebaut, um den Handel mit dem Mutterland zu gewährleisten. In den letzten Jahren des Ancien Régime war die sogenannte ‚Perle der Antillen‘ für ca. ein Drittel des französischen Außenhandels verantwortlich und somit die reichste Kolonie Frankreichs.14 Der Reichtum der Kolonie beruhte allerdings ausschließlich auf der Landwirtschaft (Monokultur, insbesondere Zuckerrohr- und Kaffeeanbau) und dem Handel. Saint-Domingue existierte nur durch und für das Mutterland. Der direkte Handel mit anderen Ländern wurde der Kolonie durch das System des sogenannten Exclusif15 verboten.16 Die sozialen Probleme in der Kolonie waren jedoch bei Weitem schwerwiegender als die bestehenden wirtschaftlichen oder verwaltungstechnischen Schwierigkeiten.17 Unmittelbar vor der Französischen Revolution standen den ungefähr 30.000 Weißen 30.000 affranchis (mehrheitlich Mulatten18 sowie wenige freigelassene Schwarze19) und 12
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Der Code Noir war ein Dekret, das Ludwig XIV. 1685 erließ und das den Umgang mit den schwarzen Sklaven regelte. Das Dekret blieb mit verschiedenen Änderungen über die Jahre hinweg bis 1848 in Kraft. SalaMolins bezeichnet den Code Noir als „le texte juridique le plus monstrueux qu’aient produit les temps modernes.“ SALA-MOLINS, [1987] 2007, S. VIII. Castaldo hat in einem Werk den ursprünglichen Code Noir von 1685 sowie die veränderten Versionen bis 1848 zusammengetragen. Vgl. CASTALDO [2006] 2007. Vgl. CAUNA, 2009, S. 39-41. Vgl. CAUNA, 2009, S. 42f; PLUCHON, 1989, S. 15; SCHÜLLER, 1994, S. 126. Der Exclusif war ein System, das 1635 von Richelieu mit der Gründung der Compagnie des Isles d’Amérique eingeführt wurde und gewährleisten sollte, dass die Kolonie nur mit dem Mutterland Handel trieb. Vgl. CAUNA, 2009, S. 45f. Vgl. CAUNA, 2009, S. 49. Die Verfasserin greift die in diesem historischen Kontext verwendeten historisch virulenten Unterscheidungen zwischen Schwarzen, Mulatten
Ereignisgeschichte
eine halbe Million schwarze Sklaven gegenüber. Die Weißen setzten sich aus den grands blancs (Plantagenbesitzer, bedeutende Händler und in der Verwaltung wichtige Stellungen einnehmende Personen) und den petits blancs (besitzlose Stadtbevölkerung, die in verschiedenen Bereichen arbeitete und hoffte, in Saint-Domingue reich zu werden) zusammen. Eigentlich hätten den affranchis durch den Code Noir von 1685 die gleichen politischen und bürgerlichen Rechte zugestanden, aber durch immer restriktivere Gesetze wurden ihnen diese nicht gewährt. Wirtschaftlich waren sie den Weißen aber gleichgestellt; viele affranchis besaßen große Plantagen und Sklaven. Als im Jahr 1789 die Französische Revolution ausbrach und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verkündet wurde, waren zwei Drittel der Sklaven bereits sogenannte nègres créoles, das heißt Nachkommen der aus Afrika importierten Schwarzen. Die in Afrika geborenen Sklaven, die sogenannten bossales, bekamen meist die niedrigsten und schwersten Arbeiten zugeteilt wie z. B. die Arbeit auf den Feldern. Gerade Sklaven aus privilegierter Stellung waren häufig unter den Maronen20 anzutreffen und sie stellten beim späteren Aufstand die Avantgarde dar.21
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und Weißen als Zuschreibungen auf, distanziert sich aber von den diesen Begriffen innewohnenden diskriminierenden Notionen. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 68. Maronen oder Maroons (abgeleitet vom spanischen Wort cimarrón) waren Sklaven, die von ihren Plantagen geflüchtet waren und sich in die Berge zurückgezogen hatten. Vor 1791 gab es laut Cauna nicht mehr als 100 bis 200 Maronen. Vgl. CAUNA, 2009, S. 149. Vgl. CAUNA, 2009, S. 75f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
1.1.1 Die Revolte der Weißen und der Aufstand der Mulatten Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Kolonie, die aufgrund ihrer Interessengegensätze ein explosives Gefüge darstellten, waren jeweils direkt oder indirekt in Frankreich repräsentiert. Im Februar 1788 gründete sich nach englischem Vorbild die Societé des Amis des Noirs1, die die sofortige Abschaffung des Sklavenhandels sowie eine progressive Reform der Sklaverei forderte. Vertreter der Amis des Noirs sprachen in der Pariser Nationalversammlung und das Sujet der Kolonien wurde zur Angelegenheit des Parlaments.2 Zu den Mitgliedern der Amis des Noirs gehörten u. a. Mirabeau, La Fayette, Condorcet, Abbé Grégoire.3 In Opposition dazu stand die im Juli 1788 zusammengetretene Interessenvertretung der weißen Pflanzer, das Comité des colons de SaintDomingue. Als 1789 die Generalstände in Paris zusammentraten, gelang es diesem Comité des colons (auch Comité colonial genannt), die Zulassung Deputierter aus Saint-Domingue durchzusetzen. Diese Gruppe wollte eine politische Mitbestimmung erreichen, aber in keinem Fall die bestehende Sozialordnung ändern.4 Die weißen Pflanzer erkannten allerdings noch nicht, dass durch ihre Initiativen zur Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Interessen das Schicksal der Kolonie von nun an untrennbar mit den revolutionären Vorgängen in Frankreich assoziiert war.5 Erst nach dem 14. Juli (Sturm auf die Bastille) befürchteten sie, dass sich durch die entsandten Delegierten nun das Mutterland um die Angelegenheiten in der Kolonie kümmern würde. Daher schloss sich – als Interessengruppe der grands blancs – im August 1789 der sogenannte Club Massiac (offiziell auch Société correspondante des colons français de Saint-Domingue genannt) in Paris zusammen, der sich für mehr Autonomie Saint-Domingues einsetzte.6 1 2 3 4 5 6
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Zur Société des Amis des Noirs vgl. die ausführliche Darstellung bei DORIGNY/GAINOT, 1998. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 23; CAUNA, 2009, S. 78-84. Zur Debatte der Kolonialfrage in der Konstituante (1789-1791), vgl. GEGGUS, 1989. Vgl. CAUNA, 2003, S. 200. Vgl. CAUNA, 2009, S. 78-81; PLUCHON, 1989, S. 36. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 38. Vgl. CAUNA, 2009, S. 84-86.
Ereignisgeschichte
Die affranchis, die schon vor der Französischen Revolution eine nicht zu unterschätzende Kraft darstellten, organisierten sich in der im Jahr 1790 gegründeten Société des Colons Américains. Sie forderten eine bürgerliche Gleichstellung mit den Weißen. Da sie selbst von der Sklaverei profitierten, strebten sie jedoch keine Veränderung der Situation der Sklaven an. Aufgrund der zunehmenden Aufmerksamkeit, die dieser Gruppierung in der Nationalversammlung zuteilwurde, verlangten die weißen Pflanzer die Errichtung einer Kolonialversammlung, um die Angelegenheiten der Kolonie weitestgehend unabhängig vom Mutterland zu regeln.7 Nachdem zuvor bereits Provinzialversammlungen in Cap Français (auch Assemblée provinciale du Nord genannt), Port-au-Prince und Les Cayes entstanden waren, wurde nun die Errichtung einer Kolonialversammlung in Saint-Domingue von Paris bewilligt. Sie nannte sich Assemblée générale de la partie française de Saint-Domingue, wobei dem Begriff générale gegenüber coloniale der Vorzug gegeben wurde, um der angestrebten Unabhängigkeit Ausdruck zu verleihen.8 Diese Versammlung, die ihren Sitzungsort in Saint-Marc hatte und daher auch als Assemblée de Saint-Marc bezeichnet wurde, setzte sich aus Weißen zusammen, denen ein großes Maß an Entscheidungsgewalt übertragen wurde. Wie Dorigny anmerkt, stand ihnen nunmehr das Recht zu, über die Forderungen der affranchis sowie den Status der Sklaven zu entscheiden.9 Der Versuch der Weißen, sowohl auf der Verwaltungsebene als auch auf der wirtschaftlichen und sogar politischen Ebene die Unabhängigkeit zu erreichen, um nicht der revolutionären französischen Gesetzgebung zu unterstehen, scheiterte. Am 8. August 1790 flohen die Deputierten der Assemblée de Saint-Marc mit dem Schiff Le Léopard, um sich in Paris für ihre Sache einzusetzen.10 Der Misserfolg der sogenannten Léopardins stellte das Ende der weißen Unabhängigkeitsbewegung dar.11 Bereits Anfang des Jahres 1790 war es zu ersten Aufständen von affranchis gekommen, die ihre Rechte mit Waffengewalt zu erkämpfen gedachten. Ende des Jahres 1790 kam es zu einem weiteren bewaffne7 8 9 10 11
Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 23. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 36. Vgl. DORIGNY, 2000, S. 54. Vgl. CAUNA, 2009, S. 95f, 122f. Vgl. CAUNA, 2003, S. 209; CAUNA, 2009, S. 123.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ten Aufstand, der von den Mulatten Vincent Ogé, Mitglied der Société des Colons Américains, und Jean-Baptiste Chavannes angeführt wurde. Nach einer Flucht in den spanischen Teil der Insel wurden sie von den Spaniern an die Franzosen ausgeliefert und am 26. Februar 1791 hingerichtet.12 Die Lage spitzte sich durch das am 15. Mai 1791 in Paris beschlossene Dekret weiter zu, da allen freigeborenen Farbigen die Gleichberechtigung zuerkannt wurde.13 Dieser Beschluss empörte die Weißen in Saint-Domingue, die nicht bereit waren, die Gleichberechtigung zu akzeptieren. Die affranchis gingen daraufhin in den offenen Widerstand, um für ihre Rechte zu kämpfen.14 Die beiden Besitzklassen standen sich von nun an in einem Bürgerkrieg gegenüber.15 Diese erste Phase kann als „Bestandteil der Französischen Revolution“16 betrachtet werden. Für die weiteren Ereignisse, die ihren eigenen Gesetzen und Zielen folgten, wirkte die Französische Revolution als Katalysator.17
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Vgl. CAUNA, 2009, S. 123-125; PLUCHON, 1989, S. 50. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 24. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 38; SCHÜLLER, 1992, S. 24. Vgl. CAUNA, 2009, S. 127; PLUCHON, 1989, S. 50. BERNECKER, 1996, S. 45. Vgl. CAUNA, 2009, S. 117.
Ereignisgeschichte
1.1.2 Der Sklavenaufstand von 1791 und der Aufstieg Toussaint Louvertures In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1791 wurde mit dem Ausbruch des großen Sklavenaufstands im Norden des Landes die zweite Phase der Haitianischen Revolution eingeläutet.1 Dieser Sklavenaufstand, mit dem sich nun auch die größte Bevölkerungsgruppe am Geschehen aktiv beteiligte, brachte die entscheidende Wende und überführte „den Bürgerkrieg in die Phase der Rassenemanzipation“.2 Eine Woche vor Ausbruch des Aufstands hatten sich die Sklaven im Bois-Caïman auf den Kampf eingeschworen, wobei die Entscheidung zur Rebellion bereits eine Woche zuvor gefallen war.3 Der VoodooKult4 spielte bei der Vorbereitung sowie der Verbreitung des Aufstandes vermutlich eine wichtige Rolle.5 Er erzeugte ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Sklaven und diente als Verständigungssystem, um ein gleichzeitiges Losschlagen beim Aufstand zu ermöglichen.6 Der allgemeine Aufstand fand unter der Führung eines aus Jamaika geflohenen Sklaven und Voodooführers namens Boukman statt. Vermutlich gehörten auch Jean-François, der als Marone lebte, Biassou sowie Jeannot zu den ersten Anführern der Insurrektion.7 Paradoxerweise sollen sich die aufständischen Schwarzen als Gens du Roi bezeichnet und im
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Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 25. BERNECKER, 1996, S. 39. Vgl. GEGGUS, 1991, S. 45; CAUNA, 2003, S. 212; CAUNA, 2009, S. 127. Laut Cauna schaffte der Voodoo-Kult zwar nicht die Bedingungen für die Revolution, aber er spielte eine sehr wichtige Rolle und war eine der treibenden Kräfte der Kämpfe, die schließlich zur allgemeinen Freiheit und zur Unabhängigkeit führten. Vgl. CAUNA, 2009, S. 151. Ebenso erkennt Geggus die Signifikanz des Voodoo an, kritisiert aber, dass der Verbindung zwischen dem Widerstand gegen die Sklaverei und Voodoo in der Geschichtsschreibung oftmals eine zu große Bedeutung beigemessen wird. Vgl. GEGGUS, 1991, S. 43f. Die Ausübung des Kults wurde 1797 von Sonthonax und 1800 von Toussaint verboten. Vgl. GEGGUS, 1991, S. 47. Vgl. CURTIN, 1950, S. 171; PLUCHON, 1989, S. 66. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 25. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 25; ROUPERT, 2011, S. 94f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Namen des Königs gekämpft haben.8 Laut Cauna und Pluchon lässt sich dies damit begründen, dass die Aufständischen davon überzeugt waren, der König hätte sich einst für die Sklaven gegen die Kolonisten eingesetzt.9 Der Aufstand griff schnell auf den Süden und Westen des Landes über. Unter der Führung des Mulatten André Rigaud, der später zum Antagonisten Toussaints wurde, kam es zu einer Allianz zwischen Mulatten und Schwarzen gegen die Weißen.10 Boukman wurde von den Franzosen gefangen genommen und verbrannt. Zur gleichen Zeit ließ Jean-François den Anführer Jeannot wegen seiner begangenen Grausamkeiten erschießen, sodass nur noch zwei schwarze Anführer verblieben.11 Im September 1791 hob die französische Konstituante, ohne von der Insurrektion Kenntnis zu haben, das Dekret der Gleichberechtigung vom Mai 1791 wieder auf.12 Diese Nachricht erreichte Saint-Domingue im Oktober 1791 und führte dazu, dass zwischen Weißen und Mulatten keine dauerhafte Verständigung mehr erreicht werden konnte. Im November 1791 traf eine erste von Frankreich gesandte Zivilkommission in Saint-Domingue ein, scheiterte aber bei Verhandlungen mit den Aufständischen, bei denen Toussaint vermutlich zum ersten Mal in Erscheinung trat.13 Über das Leben Toussaints vor 1791 ist nur wenig bekannt, weshalb sich um diesen Lebensabschnitt zahlreiche Legenden ranken. Toussaints Vater soll aus dem heutigen Benin nach Saint-Domingue gebracht und François Dominique Toussaint im Jahr 174314 auf der Plantage Bréda, die dem Comte de Noé gehörte, geboren worden sein.15 8
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Vgl. Cauna, 2009, S. 142f. Dies vermerkte bereits Garran de Coulon in seinem Bericht an den Wohlfahrtsausschuss: „Il est certain que les nègres s’armèrent au nom du roi“. GARRAN DE COULON, 1798, S. 193. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 67; CAUNA, 2009, S. 104, 142f. Laut Cauna war das Gerücht im Umlauf, der König hätte den Sklaven drei freie Tage pro Woche zugestehen wollen und nur die Kolonisten hätten sich dem widersetzt. Vgl. CAUNA, 2009, S. 143. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 26; SCHÜLLER, 1994, S. 129. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 70. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 39. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 26. Da keine schriftliche Aufzeichnung über die Geburt Toussaints besteht, kann das Geburtsjahr nicht genau ausgemacht werden. Andere Quellen sprechen von 1739, 1745 oder 1746. Vgl. BELL, 2007, S. 60. Vgl. CAUNA, 2009, S. 161.
Ereignisgeschichte
Jüngste Forschungen untermauern die Behauptung, Toussaint sei der Enkel von Gaou-Guinou, dem König der Aradas, gewesen.16 Übereinstimmend wird berichtet, dass Toussaint als Kind kränklich und schwach gewesen sei – was ihm den Spitznamen Fatras-Bâton einbrachte.17 Toussaint diente als Haussklave (Kutscher und/oder Hirte) unter privilegierten Bedingungen und wurde zum Vertrauensmann des Verwalters der Plantage, Bayon de Libertat.18 Im Jahr 1776 wurde Toussaint freigelassen und gehörte nun der Gruppe der affranchis an.19 In der Zwischenzeit hatte er unter der Anleitung seines Paten Pierre Baptiste Lesen und Schreiben gelernt.20 Ob Toussaint Raynals Histoire des deux Indes21 vollständig gelesen hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Laut Bell kannte Toussaint vermutlich die Prophezeiung22 über die Ankunft eines schwarzen Spartakus’.23 Toussaint heiratete im Jahr 1782 Suzanne Simon-Baptiste, die bereits ein Kind, Placide, mit in die Ehe brachte und Toussaint zwei weitere Söhne, Isaac und SaintJean, schenkte.24
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Vgl. BELL, 2007, S. 59. Vgl. CAUNA, 2009, S. 161; ROUPERT, 2011, S. 102. Bell weist darauf hin, dass auch die Möglichkeit besteht, dass dieser Spottname bedeutete, dass Toussaint sich um die gebrechlichen Sklaven auf der Plantage kümmerte, da alle Sklaven der Plantage Bréda, die aufgrund ihres hohen Alters, Krankheit oder Verletzungen nicht mehr arbeiten konnten, auf den Listen als fatras (Plunder, Kram) bezeichnet wurden. Vgl. BELL, 2007, S. 60. Vgl. BELL, 2007, S. 62; CAUNA, 2009, S. 161. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 57; CAUNA, 2009, S. 161. Vgl. BELL, 2007, S. 60f; CAUNA, 2009, S. 161. Zum Leben Toussaint Louvertures vor 1789 vgl. DEBIEN u. a., 1977. Der vollständige Titel des Werkes lautet: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes. An der Ausarbeitung dieser 1770 erstmals veröffentlichten bedeutenden Schrift der Aufklärung, insbesondere am Kapitel über die Antillen, war auch der französische Philosoph Denis Diderot beteiligt. Vgl. CAUNA, 2009, S. 82. Die Worte Raynals werden oftmals als eine Prophezeiung ausgelegt, wobei Bénot aufzeigt, dass die Vorhersage eines schwarzen Spartakus’ eher als Warnung und Drohung in Richtung der Kolonisten zu verstehen sei: „un appel aux colonisateurs à faire des réformes à temps pour éviter des insurrections sanglantes.“ BÉNOT, 2005, S. 264f. Vgl. RAYNAL, [1770] 1776, S. 265; BELL, 2007, S. 61. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 60; BELL, 2007, S. 62f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Über eine Teilnahme Toussaints an den ersten Aufständen ist nichts bekannt. Stattdessen habe Toussaint, der inzwischen selbst Land und Sklaven besaß,25 Bayon de Libertat und seine Familie vor den Aufständischen beschützt und gerettet.26 Als sich Toussaint nach dem Tod Boukmans schließlich Biassou anschloss, erfüllte er aufgrund seiner Kenntnisse der Kräuterheilkunde die Funktion des docteur-feuilles und wurde zum Médecin Général des Armées du Roi de France ernannt.27 Nach dem Scheitern der ersten Zivilkommission traf im September 1792 die zweite Zivilkommission mit den jakobinischen Kommissaren Léger-Félicité Sonthonax, Étienne Polverel und Jean-Antoine Ailhaud in Saint-Domingue ein.28 Um den Sklavenaufstand zu beenden und wieder Ordnung in der Kolonie zu etablieren, hatte die französische Legislative im April 1792 entschieden, das Gleichstellungsdekret vom Mai 1791 doch in Kraft zu setzen: „Les hommes de couleur et nègres libres seront admis à voter dans toutes les Assemblées paroissiales et seront éligibles à toutes les places, lorsqu’ils réuniront d’ailleurs les conditions prescrites par l’article 4 de l’instruction du 28 mars 1790.“29 Die Durchsetzung des Gesetzes vom 4. April 1792 sollte durch die französischen Kommissare gewährleistet werden.30 Die Kommissare bekämpften in Saint-Domingue weniger die schwarzen Insurgenten als vielmehr die weißen Gegenrevolutionäre. Sie deportierten den der Gegenrevolution verdächtigten Gouverneur Blanchelande sowie viele weitere Royalisten und lösten alle Provinzialversammlungen sowie die Kolonialversammlung Saint-Domingues auf.31 Während Ailhaud bald nach Frankreich zurückkehrte, stieg Sonthonax zum wichtigsten Mann in der Kolonie auf.32 In dieser Phase kam es zu einer Internationalisierung des Konfliktes. Nachdem Frankreich bereits im April 1792 Österreich den Krieg erklärt hatte, weitete sich dieser Kampf nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. zu
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Vgl. BELL, 2007, S. 76. Vgl. CAUNA, 2009, S. 162. Vgl. BELL, 2007, S. 65; CAUNA, 2009, S. 142, 162. Vgl. CAUNA, 2009, S. 133. Zitiert nach BLANCPAIN, 2004, S. 109. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 39; CAUNA, 2009, S. 133. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 78f; BERNECKER, 1996, S. 39; CAUNA, 2009, S. 134. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 27.
Ereignisgeschichte
Beginn des Jahres 1793 gegen England und Spanien aus.33 Die aufständischen Schwarzen in Saint-Domingue stellten sich unter Toussaint, Biassou und Jean-François in die Dienste der Spanier, die die Rebellen bereits seit dem ersten Tag unter der Hand unterstützt hatten, wodurch die militärische Position Frankreichs deutlich geschwächt wurde.34 Etwa zu dieser Zeit soll Toussaint Bréda, der durch militärische Erfolge rasch auf sich aufmerksam machen konnte und zum Generalleutnant ernannt worden war, seinen Namen in Toussaint Louverture geändert haben.35 Am 6. Mai 1793 kam der neue Gouverneur Galbaud, der selbst im Besitz einer Plantage war, nach Saint-Domingue und beanspruchte die höchste Autorität in der Kolonie, wodurch es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Galbaud, der Mehrheit der weißen Truppen und den Kolonisten auf der einen Seite und den Kommissaren und nur wenigen affranchis auf der anderen Seite kam. Während dieser sogenannten Galbaud-Affäre baten Sonthonax und Polverel die Sklaven um Beistand. Sie versprachen jenen Aufständischen, die sich in den Dienst der französischen Armee stellten, im Gegenzug die Freiheit:36 „[…] de donner la liberté à tous les nègres guerriers qui combattraient pour la République…. (et que) tous ces esclaves qui seront déclarés libres par les délégués de la République seront les égaux de tous les hommes blancs ou de toute autre couleur“.37 Während die wichtigsten Anführer – Toussaint, Biassou und Jean-François – das Angebot ablehnten, folgten Pierrot und Macaya mit ihren Truppen dieser Aufforde33 34 35
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Vgl. BERNECKER, 1996, S. 40. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 92f; BERNECKER, 1996, S. 40. Vgl. CAUNA, 2009, S. 162. Es kann nicht mehr eindeutig nachvollzogen werden, wie Toussaint zu diesem symbolischen Beinamen gekommen ist. Vgl. CAUNA, 2009, S. 162. Allerdings scheint klar zu sein, dass er diesen Namen selbst gewählt hat. Vgl. BELL, 2007, S. 56. Den Namen könnte er angenommen haben, da er bei Kämpfen angeblich immer wieder eine Lücke bei den feindlichen Truppen fand. Vgl. BELL, 2007, S. 56. Bell verweist auch auf die Assoziation des Namens mit dem Voodoo-Geist Legba hin, der der Hüter der Wegkreuzungen ist und in der christlichen Religion das Pendant zum Heiligen Petrus, dem Hüter der Himmelspforte, darstellt. Durch diese Verknüpfung sollte Toussaint von den Aufständischen auch als Hüter der Freiheit für die Sklaven wahrgenommen werden. Vgl. BELL, 2007, S. 56. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 27; BLANCPAIN, 2004, S. 119. Zitiert nach CAUNA, 2009, S. 215.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
rung und besiegten Galbaud und seine Verbündeten. Die Macht in Saint-Domingue hatten nicht länger die Weißen, sondern die affranchis und aufständischen Sklaven inne. Diese Affäre bzw. die Offerte der Kommissare stellte den Auftakt zur allgemeinen Abschaffung der Sklaverei dar.38 Am 29. August 1793 traf Sonthonax39 die historische Entscheidung, die Sklaverei abzuschaffen und die allgemeine Freiheit für die Nordprovinz auszurufen.40 Einen Monat später wurden auch die sich in den Südprovinzen befindlichen Sklaven von Polverel für frei erklärt.41 Laut Schüller war Sonthonax zwar vor allem durch die schwierige Lage zu diesem Schritt gezwungen worden, allerdings handelte es sich bei dem Jakobiner durchaus um einen Gegner der Sklaverei.42 Im September 1793 begann die Okkupation der Kolonie durch England, das von den französischen Kolonisten zur Unterstützung angerufen worden war, seine Interessen in Jamaika aufgrund des Sklavenaufstandes in Saint-Domingue gefährdet sah und gleichzeitig Frankreich gerne um seine ertragreichste Kolonie gebracht hätte.43 Somit kämpfte Frankreich von diesem Zeitpunkt an im Osten gegen die Spanier und im Westen gegen die Engländer, wobei Sonthonax und Polverel aus Frankreich weder Nachrichten noch Unterstützung erhielten. Am Ende des Jahres 1793 war der Norden für Frankreich so gut wie verloren und im Rest der Kolonie sah die Lage kaum besser aus.44 Das vom Pariser Konvent am 4. Februar 1794 verabschiedete Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in allen französischen Kolonien, das das eigenmächtige Handeln Sonthonax’ bestätigte, erreichte SaintDomingue – aufgrund des langen Seeweges – mit der gewöhnlichen zeitlichen Verzögerung:45
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Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 119-121. Cauna merkt allerdings an, dass die ursprüngliche Idee, Sklaven zu befreien und sie in den Dienst der Republik zu stellen, hauptsächlich von Polverel stammte. Vgl. CAUNA, 2009, S. 215. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 123f; CAUNA, 2009, S. 215. Vgl. CAUNA, 2009, S. 136. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 27; GEGGUS, 1989, S. 1305. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 28. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 97f; BLANCPAIN, 2004, S. 128f; CAUNA, 2009, S. 135f. Vgl. CAUNA, 2009, S. 113.
Ereignisgeschichte
La Convention nationale déclare que l’esclavage des Nègres dans toutes les colonies est aboli; en conséquence, elle décrète que tous les hommes sans distinction de couleur, domiciliés dans les colonies, sont citoyens français et jouiront de tous les droits assurés par la Constitution.46 Der französische Gouverneur Laveaux (1793-1796) hätte die Kolonie für Frankreich nicht halten können, wenn nicht im Mai 1794 Toussaint Louverture mit seinen Truppen von der spanischen auf die französische Seite übergetreten wäre.47 Die Rekonstruktion der Beweggründe Toussaints ist nur schwer möglich: So wird die Version propagiert, dass Toussaint den Wechsel vollzog, als er die Nachricht vom Dekret vom 4. Februar 1794 erhielt, um sich an der Seite der Republik für die Freiheit und Gleichheit der Schwarzen einzusetzen. Andere Quellen geben an, dass seine Stellung bei den Spaniern geschwächt war48, er bei ihnen keine Aufstiegschancen sah und daher aus pragmatischen Gründen die Seiten wechselte.49 Geggus, der dieser Thematik einen detaillierten Aufsatz widmete, äußert die Vermutung, dass eher seine geschwächte Stellung bei den Spaniern als die Abschaffung der Sklaverei ihn zum Seitenwechsel bewogen hat.50 Toussaint und seine Truppen wendeten sich abrupt und brutal gegen ihre ehemaligen Alliierten und brachten die von den Spaniern besetzten Gebiete wieder unter französische Flagge.51 Durch den Frieden von Basel wurde 1795 der Krieg zwischen Frankreich und Spanien beendet und Frankreich bekam den östlichen Teil der Insel Hispaniola zugesprochen, wobei dieser zunächst weiterhin unter spanischer Verwaltung blieb.52 Nun musste Frankreich in Saint-Domingue noch gegen die Engländer kämpfen. Im Juli 1795 er-
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Zitiert nach BLANCPAIN, 2004, S. 131. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 28. Wie Bell und Cauna aufzeigen, wurde Toussaint im März 1794 Opfer eines Attentats, das vermutlich vom unter spanischer Flagge kämpfenden Jean-François (und/oder Biassou) geplant wurde, bei dem Toussaints jüngerer Bruder starb und er selbst nur mit knapper Not entkam. Vgl. BELL, 2007, S. 94; CAUNA, 2009, S. 162. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 29. Vgl. GEGGUS, [1978] 2004, S. 154. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 146; CAUNA, 2009, S. 163. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 31.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
nannte der Konvent Toussaint sowie die drei Mulatten Villatte, Rigaud und Bauvais zu Brigadegenerälen.53 Am 20. März 1796 kam es unter der Führung des Mulatten Villatte in Le Cap zu einem Komplott gegen Laveaux, das als versuchter Staatsstreich der Mulatten in die Geschichte einging. Der französische Gouverneur sowie einige seiner engsten Vertrauten wurden von den Mulatten inhaftiert.54 Nach zwei Tagen wurden sie von Toussaint befreit und die am Aufstand beteiligten Mulatten wurden nach Frankreich deportiert. Aus Dankbarkeit ernannte Laveaux den ehemaligen Sklaven Toussaint zum stellvertretenden Gouverneur und präsentierte ihn der Öffentlichkeit als:55 „le sauveur des autorités constituées, un Spartacus noir, le nègre prédit par Raynal pour venger les outrages faits à sa race“.56 Dieses Komplott führte somit dazu, dass Toussaint nur zwei Jahre nach seinem Übertritt zu den Franzosen zur zweitwichtigsten Person der Kolonie aufstieg.57 Rückblickend kann vermutet werden, dass diese schnelle Karriere darauf fußt, dass Toussaint als kultureller und sozialer Mittler zwischen Weißen und Schwarzen betrachtet werden kann.58 Er war beim Ausbruch der Aufstände bereits ein freier Mann, der selbst Sklaven besaß und sich dadurch dem Kolonialsystem in gewisser Weise angepasst und zu seiner Festigung beigetragen hatte – eine Tatsache, die er gegenüber den nouveaux libres59 gerne verschwieg, ihn aber in den Augen der Weißen aus der Masse der Schwarzen hervorstechen ließ.60 Toussaint verfügte somit über eine ambivalente Identität, da er durch seinen Aufstieg innerhalb des Systems die klare Ordnung der kolonialen Macht-
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Vgl. PLUCHON, 1980, S. 24; CAUNA, 2009, S. 163. Vgl. GAINOT, 1989, S. 443; BLANCPAIN, 2004, S. 150f. Vgl. CAUNA, 2009, S. 164; BÉNOT, 2005, S. 117. Zitiert nach GAINOT, 1989, S. 443. Vgl. CAUNA, 2009, S. 164. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 30. In dieser Zeit wurde in der Kolonie zwischen anciens libres und nouveaux libres unterschieden. Als nouveaux libres wurden all jene bezeichnet, die erst durch die Abschaffung der Sklaverei ihre Freiheit erlangten. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 61; BELL, 2007, S. 56.
Ereignisgeschichte
hierarchie durchkreuzt hatte und sich zwischen der Kultur der Unterdrückten und der Unterdrücker bewegte.61 Sonthonax, der zwischenzeitlich nach Frankreich zurückbeordert worden war, kehrte im Mai 1796 als Mitglied einer fünfköpfigen dritten Zivilkommission mit einer Lieferung von 30.000 Gewehren für den Kampf gegen die Engländer nach Saint-Domingue zurück.62 Die bereits zuvor ausgesprochene Ernennung Toussaints zum Divisionsgeneral wurde vom Direktorium in Paris bestätigt und drei weitere Schwarze wurden zu Brigadegenerälen ernannt. Dadurch dominierten die Schwarzen mit nunmehr vier Generälen gegenüber den Mulatten mit zwei Generälen (Rigaud und Bauvais) die Armee.63 Im September 1796 bot sich Toussaint mit der Wahl der Deputierten von Saint-Domingue eine Gelegenheit, sich seiner beiden größten Konkurrenten zu entledigen. Laveaux verließ die Insel bereits im Oktober 1796. Sonthonax weigerte sich beinahe ein Jahr und schiffte erst im August 1797 nach Einschüchterungen vonseiten Toussaints nach Frankreich ein. Zum ersten Mal in der Geschichte Saint-Domingues wurde die Insel nicht mehr von einem Weißen regiert.64 Zusammen mit dem Mulatten Rigaud führte Toussaint, der nun Gouverneur und Oberkommandierender in Saint-Domingue war, den Kampf gegen die Engländer erfolgreich fort – Erfolge, die die Stellung Toussaints in der Kolonie weiter stärkten. Im April 1798 begannen die Friedensverhandlungen zwischen Toussaint und dem englischen General Maitland, der im März nach Saint-Domingue gekommen war.65 Gleichzeitig mit General Maitland erreichte auch der französische General Hédouville, der Laveaux ersetzen sollte, die Insel. Er versuchte, den Einfluss Toussaints mithilfe der Mulatten und insbesondere Rigauds einzudämmen und die französische Macht zu retablieren. Bereits sieben Monate später wurde Hédouville von Toussaint gezwungen, nach Frankreich zurückzukehren. Mit ihm verließen 2000 Weiße (Sol-
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Zur Rolle und Perzeption von kulturellen Mittlern in kolonialisierten Gesellschaften am Beispiel der iberischen Expansion vgl. SIEBER, 2015a, 2015b. Vgl. CAUNA, 2009, S. 164. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 145; BLANCPAIN, 2004, S. 152. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 158-161; CAUNA, 2009, S. 164f. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 32.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
daten, Beamte und Kolonisten) die Insel.66 Allerdings hinterließ Hédouville „une véritable bombe à retardement“:67 Kurz vor seiner Abreise hatte er Toussaint Unabhängigkeitsabsichten68 unterstellt sowie dessen Verhandlungen mit England angeprangert und Rigaud, der 1794 zum Oberbefehlshaber in der Südprovinz ernannt worden war, vom Gehorsam gegenüber Toussaint entbunden. Alle Voraussetzungen für einen Rassenkrieg zwischen Schwarzen und Mulatten waren somit gegeben.69 Durch einen Angriff Rigauds entbrannte im Juni 1799 der bis 1. August 1800 andauernde Bürgerkrieg zwischen Schwarzen und Mulatten. Während Toussaint triumphierend in die Hauptstadt des Südens, Les Cayes, einzog, schiffte sich Rigaud nach Frankreich ein. Toussaint herrschte nun über die gesamte französische Kolonie. Trotz einer erlassenen Amnestie für die Anhänger Rigauds kam es nach dem Ende des Bürgerkriegs zu Massakern in den Städten im Süden Saint-Domingues. Insgesamt waren in diesem Krieg zwischen Schwarzen und Mulatten mehr als 15.000 Opfer zu beklagen.70 Trotz Widerstand vonseiten Roumes – dem Kommissar, der nun den Platz Hédouvilles einnahm – und somit ohne das Einverständnis Frankreichs, begann Toussaint im Januar 1801 mit der Eroberung des Ostens der Insel Hispaniola, der sich nach wie vor unter spanischer Verwaltung befand. Nach einem unbedeutenden Widerstand seitens der Spanier übergab der spanische Gouverneur Don Garcia Toussaint am 27. Januar 1801 Santo Domingo.71 Nachdem Toussaint sämtliche Rivalen in die Flucht geschlagen und sich zum alleinigen Machthaber entwickelt hatte, machte er sich an den Wiederaufbau des Landes. Das Plantagensystem behielt Toussaint Louverture aus ökonomischen Gründen bei. Durch strenge Verträge waren die Arbeiter an die Plantagen gebunden und wurden vom Militär kontrolliert, wobei sie für ihre Arbeit ein Viertel der Erträge erhielten. Die 66 67 68
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Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 32; CAUNA, 2009, S. 165f. CAUNA, 2009, S. 166. Laut Cauna gab es zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel mehr daran, dass Toussaint zur offenen Rebellion gegenüber Frankreich übergegangen war. Vgl. CAUNA, 2009, S. 166. Vgl. CAUNA, 2009, S. 166. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 32; CAUNA, 2009, S. 166. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 32f; CAUNA, 2009, S. 167.
Ereignisgeschichte
Beibehaltung der Plantagenwirtschaft, deren Zwangsarbeitersystem oftmals als caporalisme agraire bezeichnet wird, 72 sorgte für Unzufriedenheit bei den ehemaligen Sklaven, die Plantagenarbeit mit Unfreiheit und Landbesitz mit Freiheit assoziierten. Außerdem stand dieses System im Widerspruch zu Toussaints Zielen der politischen und rassischen Freiheit. Die mit den USA und den britischen Kolonien hergestellten Handelsbeziehungen sicherten den Absatz der Handelsgüter und die Kolonie schien mithilfe der Plantagenwirtschaft zur alten Prosperität zurückzukehren.73 Im Mai 1801 erließ Toussaint – ohne die Zustimmung Frankreichs abzuwarten – eigenmächtig eine Verfassung, die ihn zum Gouverneur auf Lebenszeit ernannte, ihm das Recht zugestand, seinen Nachfolger zu bestimmen, und die seine Zustimmung zu allen Gesetzen erforderlich machte. Ferner wurde allen Bürgern gleich ihrer Hautfarbe eine juristische Gleichstellung zuteil.74 Laut Schottelius bildete diese Verfassung „das Muster einer durch Scheinparlamentarismus kaum eingeschränkten Präsidialautokratie […] [, die] das formale Gleichheitsprinzip mit einer autoritären Staatsstruktur“75 verband. Frankreich wurde nur noch „eine formale Oberhoheit“76 zugestanden, indem eine Ausweisung Saint-Domingues als Teil des französischen Imperiums erfolgte; die Konstitution enthielt jedoch keine Regelungen zu einer tatsächlichen Kontrolle durch das Mutterland.77 Des Weiteren wurde den weißen Kolonisten ihr Eigentum garantiert. Sie sollten zur Rückkehr nach Saint-Domingue veranlasst werden, damit ihre Kenntnisse der Wirtschaft der Kolonie zugutekommen konnten. Die bereits zuvor von Toussaint erlassenen Verordnungen zur Organisation der Plantagenwirtschaft wurden in der Verfassung verankert.78 Zwar ging Toussaints Wirtschaftssystem mit einem neuen ökonomischen Aufschwung einher, allerdings wurde ihm aufgrund dessen auch eine vermeintliche Bevorteilung der Weißen unterstellt, was für Unzufriedenheit unter den ehemaligen Sklaven sorgte und zu Aufständen 72 73 74 75 76 77 78
Vgl. CAUNA, 2009, S. 167. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 33; BERNECKER, 1996, S. 42. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 44. SCHOTTELIUS, 1980, S. 145. BERNECKER, 1996, S. 44. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 34. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 185.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
führte. Im September 1801 kam es zu einer Insurrektion in der Nordprovinz, die von Toussaints Neffen Moyse befehligt wurde. Moyse, der sich für die Zerstückelung der großen Plantagen aussprach und in dessen Namen die Revolte geführt wurde, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, um den weißen Kolonisten zu verdeutlichen, dass ihnen bei Rückkehr keine Gefahr drohte.79 Zwar wird somit ersichtlich, dass soziale Spannungen durchaus vorhanden waren; Einigkeit bestand jedoch in der Ablehnung der Sklaverei und einer ausländischen Besatzung.80 Mit der Aufgabe, die Verfassung Napoleon Bonaparte, der durch einen Staatsstreich im November 179981 als Erster Konsul zum Alleinherrscher Frankreichs geworden war, zu überbringen82, betraute Toussaint den französischen Oberst Vincent. Allerdings war Napoleon bei Vincents Eintreffen in Frankreich bereits dabei, Vorbereitungen für eine militärische Expedition nach Saint-Domingue zu treffen, mit deren Ankunft in der Kolonie die dritte und letzte Phase der Haitianischen
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Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 34; BLANCPAIN, 2004, S. 186; CAUNA, 2009, S. 167. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 31. Im November 1799 fand ferner ein Versuch statt, Jamaika zu erobern. Bereits im Februar 1799 hatte das Direktorium Roume den Befehl zum Angriff auf Jamaika gegeben, um England um seine Kolonie zu bringen. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 188. Laut Debien und Pluchon wusste Toussaint früh von den Plänen, überließ die Planung aber Roume. Vgl. DEBIEN/PLUCHON, 1978, S. 7. Toussaint verriet den Plan, der von Sasportas und Dubuisson umgesetzt werden sollte, an die Engländer, da er die Handelsbeziehungen mit England nicht gefährden wollte. Vgl. DEBIEN/PLUCHON, 1978, S. 37, 70; BLANCPAIN, 2004, S. 189. Dieses Ereignis wird in der französischen Literatur nicht aufgegriffen, findet jedoch in der deutschen Literatur Verarbeitung. Vgl. beispielsweise SEGHERS, [1961] 1963; MÜLLER, [1979] 2005. Angeblich soll der Konstitution ein Schreiben Toussaints mit dem Titel „Le Premier des Noirs au Premier des Blancs“ beigelegen haben. Viele Historiker zweifeln allerdings an der Existenz eines solchen Briefes. Schoelcher vertritt in seiner Biografie über Toussaint die Meinung, dass das Schreiben von Weißen erfunden wurde, um Toussaint der Lächerlichkeit preiszugeben. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 303f, Fußnote 3; Kapitel 3.4.1. Pluchon weist darauf hin, dass diese Formulierung in keinem Brief Toussaints zu finden ist. Vgl. PLUCHON, 1995, S. 277, Fußnote 11.
Ereignisgeschichte
Revolution – der Unabhängigkeitskampf gegen das Expeditionsheer – begann.83
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Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 34f.
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1.1.3 Die Expedition Leclercs und der Kampf um die Unabhängigkeit Nachdem Frankreich den Frieden von Lunéville (1801) und den Präliminarfrieden1 von Amiens (1801) geschlossen hatte, konnte sich Napoleon nun den Problemen in den Kolonien, insbesondere in der reichsten Kolonie Saint-Domingue, zuwenden. Durch den mit England geschlossenen Frieden war zudem der Seeweg nach Saint-Domingue wieder frei geworden.2 Napoleon3 schien die Expedition nach Saint-Domingue in Folge eingehender Diskussionen mit kolonialpolitisch erfahrenen Beratern von langer Hand geplant zu haben.4 Der Erhalt der von Toussaint eigenmächtig erlassenen Konstitution bestätigte ihn in seinem Unterfangen der kolonialen Restauration vermutlich zusätzlich.5 Im Januar 1802 landete Napoleons Schwager Charles-VictorEmmanuel Leclerc, der das Kommando über die Expeditionstruppen innehatte, mit einer ca. 19.000 Mann starken Flotte in Hispaniola.6 Bereits am 31. Oktober 1801 hatte Napoleon für seinen Schwager die geheimen Instruktionen Notes pour servir aux instructions à donner au capitaine-général Leclerc verfasst, in denen drei verschiedene Phasen vorgesehen waren: Zunächst sollte man mit Toussaint verhandeln und ihm alles Nötige versprechen, um die Kolonie betreten zu können. Außerdem sollten rebellische Schwarze entwaffnet werden.7 In einer zweiten Phase sollten alle versteckten Rebellen aufgespürt werden.8 An1 2 3
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Der endgültige Friedenvertrag von Amiens wurde im März 1802 unterzeichnet. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 35; CAUNA, 2009, S. 168. Napoleon war mit Joséphine de Beauharnais (geborene Tascher de la Pagerie), einer Kreolin von der Insel Martinique, verheiratet, deren Eltern dort eine Zuckerrohrplantage besaßen. Oftmals wurde der Einfluss Joséphines und ihrer kolonialistischen Kreise auf die Politik Napoleons geltend gemacht. Heutige Historiker messen diesem Einfluss nur eine geringe Bedeutung zu. Vgl. WANQUET, 1998, S. 630. Wie der Augenzeuge General Lacroix in seinen Memoiren aufzeigt, beachteten die Berater Napoleons die durch die Revolution herbeigeführte neue Situation in der Kolonie nicht; ihre Ratschläge basierten auf alten Vorstellungen. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 281f; Kapitel 3.2.2. Vgl. ROLOFF, [1899] 1998, S. 66; SCHÜLLER, 1992, S. 35. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 35f; BLANCPAIN, 2004, S. 201. Vgl. ROLOFF, [1899] 1998, S. 250. Vgl. ROLOFF, [1899] 1998, S. 248, 250.
Ereignisgeschichte
schließend sollten alle als gefährlich eingestuften Personen verhaftet und nach Frankreich deportiert werden.9 Für Toussaint galt: „Tousaint [sic], Moyse et Dessalines doivent être bien traités pendant la première époque et renvoyés en France à la dernière époque, en arrestation ou dans leurs grades, selon la conduite qu’ils tiendront à la seconde.“10 [Herv. i. O.] Die Wiedereinführung der Sklaverei wurde von Napoleon durch diese Instruktionen zunächst vermeintlich ausgeschlossen: „Jamais la nation française ne donnera des fers à des hommes qu’elle a reconnus libres. Ainsi donc tous les Noirs vivront à St. Domingue comme ils sont aujourd’hui à la Guadeloupe.“11 [Herv. i. O.] Allerdings ist das wahre Ziel der Expedition dennoch die Rückkehr zur alten Ordnung und somit auch die Rückkehr zur Sklaverei.12 Als Leclerc am 1. Februar 1802 in Le Cap landete, erklärte ihm der schwarze General Henri Christophe,13 der Kommandant der Stadt, dass er ohne Anweisungen Toussaints nicht handeln und ihnen die Landung nicht gestatten könnte.14 Als die Truppen Leclercs ihre Landung gewaltsam erzwingen wollten, machte Christophe seine zuvor ausgesprochene Drohung war und zündete Le Cap an – eine Taktik der Kriegsführung, die auch in anderen Städten zum Einsatz kam.15 Trotz ihrer großen Entschlossenheit verloren Toussaint und seine Truppen in nur wenigen Tagen alle großen Häfen der Kolonie und mussten sich ins bergige Landesinnere zurückziehen.16 Über Toussaints Söhne hatte Leclerc Kontakt zu Toussaint aufgenommen. Bereits am 18. November 1801 hatte Napoleon einen Brief an Toussaint unterzeichnet, der diesem durch seine Söhne Isaac und Placi9 10 11 12
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Vgl. ROLOFF, [1899] 1998, S. 250; MÉZIÈRE, 1990, S. 159-161. ROLOFF, [1899] 1998, S. 250. ROLOFF, [1899] 1998, S. 249. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 199; CAUNA, 2009, S. 168f. Blancpain zeigt auf, dass die Expedition ansonsten keinen Sinn ergeben hätte: „Il était évident qu’une reconquête qui n’aurait pas pour but de rétablir l’esclavage et l’Exclusif commercial n’aurait aucun sens.“ BLANCPAIN, 2004, S. 199. Henri Christophe war neben Toussaint Louverture, Jean-Jacques Dessalines und Alexandre Pétion einer der bedeutendsten Anführer im Kampf um die Unabhängigkeit Saint-Domingues. Von 1811 bis 1820 war er König von Nord-Haiti. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 36; BLANCPAIN, 2004, S. 201. Vgl. CAUNA, 2009, S. 169. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 479; CAUNA, 2009, S. 169f.
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de übergeben wurde, die in Paris zur Ausbildung verweilten und mit der Expedition Leclercs nach Saint-Domingue zurückkehrten: Citoyen général, La paix avec l’Angleterre […] met à même le gouvernement de s’occuper de la colonie de Saint-Domingue. Nous y envoyons le citoyen Leclerc en qualité de capitaine général, comme premier magistrat de la colonie. Il est accompagné des forces convenables pour faire respecter la souveraineté du peuple français. […] Comptez sans réserve sur notre estime et conduisez-vous comme doit le faire un des principaux citoyens de la plus grande nation du monde.17
Die in freundliche Worte verpackten Drohungen konnten Toussaint nicht über die wahren Absichten Napoleons täuschen, sodass er Verhandlungen ablehnte.18 Ende Februar kontrollierten die Franzosen den Süden und den Norden. Allerdings leistete insbesondere die Festung Crête-à-Pierrot vom 4. bis 24. März 1802 erfolgreichen Widerstand gegen die französischen Divisionen. In drei erfolglosen Angriffen auf diese Festung hatten die Franzosen beinahe 1 500 Männer verloren. Die Expedition war an klassische Kriegsmanöver gewöhnt und wusste nicht, wie es mit der Guerilla-Taktik der Aufständischen umgehen sollte.19 Allerdings war die französische Armee allgemein überlegen und die Offiziere Toussaints mussten nach und nach kapitulieren. Toussaint ließ sich schließlich auf Verhandlungen ein und nahm, eventuell in der Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Lage in der Zukunft, die Vorschläge für einen Waffenstillstand an. Am 6. Mai zog Toussaint Louverture mit einer ganzen Kavallerie in Le Cap ein und am nächsten Tag veranstaltete Leclerc zu seinen Ehren ein offizielles Abendessen.20 Anschließend zog sich Toussaint wie vereinbart auf seine Ländereien in Ennery zurück, wäh-
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Zitiert nach ROUPERT, 2011, S. 150f. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 398; BELL, 2007, S. 239; ROUPERT, 2011, S. 151. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 483f; BLANCPAIN, 2004, S. 203; CAUNA, 2009, S. 170. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 36; CAUNA, 2009, S. 170f.
Ereignisgeschichte
rend seine Generäle Dessalines21 und Christophe in die französische Armee aufgenommen wurden.22 Dennoch war Leclercs Position in Saint-Domingue vorerst nicht stark genug, als dass er sich an die in den Instruktionen stehenden Entwaffnungen hätte wagen können. Zudem wurden die französischen Truppen ab Mitte Mai durch den Ausbruch des gelben Fiebers dezimiert.23 Toussaint wurde verdächtigt, mit den letzten Aufständischen in Kontakt zu stehen und sich dadurch indirekt am Widerstand zu beteiligen. Die abgefangenen Schreiben an bzw. von Toussaint mit ambigem Inhalt trugen vermutlich zur Entscheidung Leclercs bei, Toussaint verhaften zu lassen.24 Leclerc ließ Toussaint von General Brunet am 7. Juni 1802 in einen Hinterhalt locken. Unter dem Vorwand, einige Dinge mit ihm besprechen zu müssen und seinen Rat zu benötigen, bat General Brunet Toussaint, ihn auf der Plantage Georges zu treffen. Toussaint wurde gefangen genommen25 und zusammen mit seiner Familie auf das Schiff La Créole gebracht. Dort soll er seine prophetisch anmutende, legendäre Wurzelmetapher ausgerufen haben: „En me renversant, on n’a abattu à Saint-Domingue que le tronc de l’arbre de la liberté des noirs; il repoussera par les racines, car elles sont profondes et nombreuses.“26 Bei Le Cap wurde der ehemalige Gouverneur SaintDomingues mit seiner Familie auf Le Héros umgeschifft und nach Frankreich deportiert.27
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Jean-Jacques Dessalines proklamierte 1804 die Unabhängigkeit der Kolonie, wurde zum Generalgouverneur Haitis auf Lebenszeit ernannt und war von 1804 bis 1806 unter dem Namen Jacques I. der erste König Haitis. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 47f. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 36. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 36. Vgl. CAUNA, 2009, S. 173. Verschiedene Historiker, wie beispielsweise Bell und Cauna, verweisen auf die Möglichkeit, dass Toussaint von der Falle wusste. Während Cauna andeutet, dass Toussaint sich als Märtyrer für sein Volk geopfert haben könnte, vertritt Bell die Meinung, dass Toussaint seine persönlichen Interessen hierfür zu wichtig waren und er, der unter großem Druck stand, mit dem Treffen ein Risiko einging und verlor. Vgl. BELL, 2007, S. 264f; CAUNA, 2009, S. 173. Zitiert nach CAUNA, 2009, S. 173. Vgl. CAUNA, 2009, S. 173; PLUCHON, 1989, S. 497f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Das Schiff legte am 8. Juli 1802 in Brest an. Toussaint wurde zusammen mit seinem Diener Mars Plaisir ins Fort de Joux im Jura28 verlegt, während seine Familie zunächst in Bayonne, dann in Agen unter Hausarrest stand.29 Im September erhielt er mehrmals Besuch von General Caffarelli, der ihn im Auftrag von Napoleon zu seiner Konstitution, seinen Taten und seinem Vermögen befragen sollte.30 Caffarelli befragte Toussaint angeblich auch zu dem Gerücht, er habe seinen Schatz vergraben und die damit beauftragten Männer nach getaner Arbeit erschießen lassen – ein Gerücht, das Toussaint als üble Verleumdung seiner Feinde zurückwies.31 Laut Bell und Debien kann die Behauptung, Toussaint hätte ein Vermögen auf der Insel versteckt, nicht zutreffen, da zu dieser Zeit in der ganzen Kolonie kaum Barvermögen im Umlauf war. Toussaint war zwar reich an Ländereien, nicht aber an Geld.32 Laut Lambalot und Pluchon wurde Toussaint im Fort de Joux wie jeder andere Staatsgefangene behandelt und bekam Feuerholz sowie Essen zugeteilt.33 Allerdings wird auf die verschiedenen Demütigungen und Schikanen hingewiesen, die Toussaint zu erdulden hatte: Seine Zelle wurde durchsucht, ihm wurden seine Uhr sowie seine Uniform abgenommen; Papier, Tinte und Schreibfeder wurden aus seiner Zelle entfernt und sein Diener wurde entlassen.34 Nach der Abreise Caffarellis herrschte Schweigen zwischen Paris und Toussaint. Die Schreiben Toussaints, seine Bitte auf ein Gerichtsverfahren sowie seine Memoiren,35 die zur Rechtfertigung seiner Taten dienen sollten, blieben ohne Antwort. Im Winter verschlechterte sich Toussaints Gesundheitszustand aufgrund des für ihn ungewohnten Kli-
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Forsdick vermutet, dass Napoleon dieses Gefängnis für Toussaint auswählte, da es fernab von Paris gelegen war und die Gefahr bestanden hätte, dass Toussaint in Paris zu viel Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Vgl. FORSDICK, 2005, S. 11. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 521f. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 523. Vgl. hierzu die Aufzeichnungen von CAFFARELLI, 1902. Vgl. BELL, 2007, S. 278. Vgl. DEBIEN, 1946, S. 30; BELL, 2007, S. 278. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 530-531; LAMBALOT, 1989a, o. S.. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 530-534; BLANCPAIN, 2004, S. 214f; BELL, 2007, S. 281. Die Memoiren Toussaints, die er zwischen 1802 und 1803 schrieb und die 1853 veröffentlicht wurden, werden in Kapitel 3.2 aufgegriffen.
Ereignisgeschichte
mas dramatisch.36 Toussaint soll laut Amiot, dem damaligen Kommandanten des Fort de Joux, unter Magenschmerzen sowie einem unablässigen Husten gelitten haben. Am 7. April fand Amiot Toussaint tot auf seinem Stuhl in der Nähe des Feuers sitzend.37 Die damals durchgeführte Autopsie besagte, Toussaint sei infolge eines Schlaganfalls gestorben.38 Nach Toussaints Tod kam der Verdacht einer Vergiftung Toussaints auf, wobei Pluchon anmerkt, dass dies wenig wahrscheinlich sei, da Napoleon zu diesem Zeitpunkt von Toussaint nichts mehr zu befürchten hatte.39 Der Verdacht, dass Napoleon durch die in diesem Gefängnis vorherrschende Kälte auf einen schnellen Tod Toussaints hoffte, bleibt allerdings bestehen.40 Nach der Gefangennahme Toussaints begann General Leclerc im Juni 1802 mit der Entwaffnung der ehemaligen Sklaven. Diese hatten allerdings die Worte Sonthonax’ von 1796, als er ihnen die Waffen aushändigte, nicht vergessen: „Voici votre liberté. Celui qui vous enlèvera ce fusil voudra vous rendre esclaves.“41 Um sich der Entwaffnung zu entziehen, flohen viele Männer und schlossen sich in Banden zusammen. Während somit der Keim für neue Aufstände gelegt war, arbeitete das gelbe Fieber, das weiterhin unter den französischen Truppen wütete, für die ehemaligen Sklaven.42 Der allgemeine Widerstand wurde durch die Nachricht vom Gesetz vom 20. Mai 1802 ausgelöst, das jenes vom 4. Februar 1794 aufhob und die Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien vorsah, in denen das Gesetz keine Anwendung gefunden hatte.43 Somit galt dieses zwar theoretisch weder 36 37 38
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Vgl. BELL, 2007, S. 282. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 535f; SUCHET, 1891, S. 8f. Zwar wurde festgehalten, dass Toussaint unter der Kapelle der Festung Fort de Joux beigesetzt worden sein soll, aber aufgrund verschiedener Umbauten war sein Grab unauffindbar. Da die gewünschte Überführung seiner Überreste nach Haiti nicht stattfinden konnte, wurde 1982 symbolisch eine Schaufel dieser Erde übergeben. Vgl. LAMBALOT, 1989b, S. 3537. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 543. Vgl. BELL, 2007, S. 282. Zitiert nach CAUNA, 2009, S. 174. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 36. Neben diesem Gesetz wurden in Frankreich von Mai 1802 bis Januar 1803 drei weitere Verordnungen erlassen, um das Mutterland vor Aufständen zu schützen: Schwarzen und mulattischen Soldaten wurde der Aufenthalt in Paris und Küstenstädten untersagt (29. Mai 1802), Schwar-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
für Saint-Domingue und Französisch-Guayana noch für Guadeloupe,44 allerdings führte der Gouverneur von Guadeloupe, Richepanse, durch die Verordnung vom 16. Juli 1802 die Sklaverei auf dieser Insel wieder ein. Wie Bénot lapidar bemerkt, muss es unter Sklavereibefürwortern zu einer Gedankenübertragung gekommen sein, denn drei Tage zuvor hatten Napoleon und der französische Marineminister Decrès die Entscheidung getroffen, die Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe ausdrücklich zu genehmigen.45 Ebenso hatte auch Leclerc keine Einwände gegen eine Wiedereinführung der Sklaverei. Aufgrund seiner schwierigen Lage hatte er Napoleon allerdings gebeten, in SaintDomingue noch damit zu warten, bis der Krieg gewonnen wäre.46 Im Oktober schlossen sich auch die mulattischen und schwarzen Generäle, die in der Zwischenzeit unter Leclerc gedient hatten, dem allgemeinen Widerstand an: Nacheinander traten Pétion,47 Clervaux, Christophe und Dessalines auf die Seite der Insurgenten über. Die Franzosen misstrauten infolgedessen den Kolonialtruppen und so wurden Dommage und Maurepas, die noch für die Franzosen kämpften, erhängt bzw. ertränkt.48 Von beiden Seiten aus wurde der Krieg nun zu einer „entreprise d’extermination“.49 Am 2. November 1802 starb General Leclerc am gelben Fieber und General Rochambeau wurde zu seinem Nachfolger bestimmt. Sein Vorgehen war erbarmungslos, brutal und wenig diplomatisch, sodass sich mit seiner Machtübernahme noch mehr
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ze und Mulatten durften nicht mehr nach Frankreich einreisen (25. Juni 1802) und schließlich wurden Ehen zwischen Weißen und Schwarzen bzw. Mulatten verboten (8. Januar 1803). Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 212. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 74. Dem damaligen Marineminister Decrès zufolge wurde die Sklaverei durch das Gesetz vom 20. Mai nicht in allen Kolonien wiedereingeführt, da viele Franzosen noch Vorbehalte gegen die Sklaverei hatten und man die französische Öffentlichkeit lieber vor vollendete Tatsachen stellen wollte, als offen das Prinzip der Sklaverei zu proklamieren. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 91. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 74f. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 58. Der Mulatte Alexandre Sabès Pétion wurde nach der Ermordung Dessalines’ im Jahr 1807 zum Präsidenten der Republik Haiti gewählt. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 53. Vgl. CAUNA, 2009, S. 175. BLANCPAIN, 2004, S. 209.
Ereignisgeschichte
dem Widerstand anschlossen.50 Er ließ die schwarzen und mulattischen Insurgenten ertränken, erschießen, erhängen, foltern und von eigens dafür aus Kuba importierten Bluthunden zerfleischen.51 Der Frieden von Amiens konnte nicht aufrechterhalten werden; ab dem 18. Mai 1803 kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich. Die englische Blockade der großen Häfen der Insel half den Aufständischen bei ihrem Unabhängigkeitskampf.52 Ende Oktober 1803 kontrollierten die Franzosen nur noch Le Cap und als die Einnahme der Stadt durch Dessalines zu erahnen war, flohen sie nach Jamaika und Kuba.53 Nur noch rund 1000 Soldaten verblieben unter der Führung von General Ferrand bis 1809 im ehemaligen spanischen Teil der Insel.54 Am 1. Januar 1804 proklamierte Dessalines die erste schwarze Republik der Welt. Dieser erste unabhängige Staat Lateinamerikas gab sich den indianischen Namen Ayiti (‚Bergiges Land‘).55 Wie Macé und Gainot aufzeigen, konnten die Aufständischen das Prinzip der bewaffneten Nation, das zunächst die Stärke des republikanischen Frankreichs war, gegen Frankreich selbst anwenden.56 Obgleich Toussaint Louverture die Unabhängigkeit der Kolonie nicht selbst deklarieren konnte, so hatte er durch sein Handeln die Weichen dafür gestellt, die Saint-Domingue letztlich zur Unabhängigkeit führten.57 Frankreich erkannte die Souveränität erst am 17. April 1825 an und verlangte als Gegenleistung Entschädigungen für die ehemaligen Plantagenbesitzer: „Nous concédons, à ces conditions, par la présente ordonnance, aux habitants de la partie française de Saint-Domingue, l’indépendance pleine et entière de leur gouvernement.“58 In der von Karl X. unterschriebenen Verordnung wird zwar die Souveränität der Bewohner anerkannt, aber die Existenz des Staates Haiti wird negiert und nur von dem zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existenten französi50
51 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. CAUNA, 2009, S. 175f. Wie Schüller aufzeigt, wird Rochambeau „übereinstimmend die größte Grausamkeit im weiteren Verlauf der Kämpfe bescheinigt“. SCHÜLLER, 1992, S. 37. Vgl. BLANCPAIN, 2004, S. 209; BELL, 2007, S. 286. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 37. Vgl. BELL, 2007, S. 286. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 37. Vgl. SCHÜLLER, 1992, S. 37; CAUNA, 2009, S. 118. Vgl. MACÉ/GAINOT, 2007, S. 21. Vgl. PLUCHON, 1989, S. 546; BELL, 2007, S. 4; CAUNA, 2009, S. 161. Zitiert nach CASTOR, 2009, S. 166.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
schen Teil Saint-Domingues gesprochen.59 Die endgültige und bedingungslose Anerkennung der Unabhängigkeit erfolgte 1838 durch die Julimonarchie, allerdings zahlte Haiti weiterhin eine Entschädigungssumme, die von 150 Millionen auf 90 Millionen Goldfranken reduziert wurde.60 Die USA erkannten die schwarze Republik erst 1862 an.61 Die zweite und endgültige Abschaffung der Sklaverei in Frankreich erfolgte im Jahr 1848, wobei der Sklavenhandel bereits 1818 verboten worden war.62
59 60 61 62
52
Vgl. CAUNA, 2009, S. 177, 185; DORIGNY, [2005] 2006, S. 54. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 55. Vgl. CAUNA, 2009, S. 177, 185. Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 213; GEGGUS, 1985, S. 120f.
Perzeptionsgeschichte
1.2 Perzeptionsgeschichte: Toussaint Louverture und die Haitianische Revol ution Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich der spanische Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas dafür eingesetzt, schwarze Sklaven aus Afrika nach Hispaniola zu importieren, um die bereits dezimierte autochthone Bevölkerung zu schonen.1 Die Plantagensklaverei war keine Verlängerung der in Europa herrschenden Sklaverei. Zwar gab es in Europa Gesellschaften mit Sklaven, aber keine reine Sklavengesellschaften wie sie in der Neuen Welt geschaffen wurden, um die entstandenen Luxusbedürfnisse in Europa zu befriedigen.2 Beim Aufbau des Sklavensystems standen ökonomische Interessen im Vordergrund; jedoch spielten auch kulturelle Gründe eine Rolle für die Versklavung von Schwarzen.3 Delacampagne legt die Vermutung nahe, dass der gegen die Schwarzen gerichtete Rassismus im christlichen Glauben begründet liegt und „die Sklaverei der Schwarzen als eine ›natürliche‹ Folge des biblischen Fluches“4 betrachtet wurde. Osterhammel verweist darauf, dass eine Versklavung von Glaubensbrüdern undenkbar war.5 Es entstand eine Ausgrenzung nach ethnischen Kriterien.6 Os1
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5 6
Am 22. Januar 1510 wurden erstmals fünfzig schwarze Sklaven nach Hispaniola gebracht. In den ersten zwanzig Jahren kamen die Sklaven aus Spanien. Später wurden sie direkt von Afrika nach Amerika verschifft und der berüchtigte Dreieckshandel war entstanden. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 116. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 38f. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 42. DELACAMPAGNE, 2005, S. 119. Mit dem biblischen Fluch ist hier die Geschichte Noahs aus Genesis 9,20-27 gemeint: Noah pflanzte nach der Sintflut einen Weinberg. Nachdem er von seinem Wein getrunken hatte, lag Noah betrunken und entblößt in seinem Zelt, wo er von seinem Sohn Ham, dem Vater Kanaans, entdeckt wurde. Ham machte sich über die Nacktheit des Vaters lustig und erzählte seinen Brüdern Sem und Jafet davon, die die Blöße des Vaters bedeckten. Als der Vater erfuhr, was sein Sohn Ham ihm angetan hatte, verfluchte er dessen Sohn und seine Nachfahren und bestimmte, dass diese den Nachkommen Sems und Jafets dienen sollten. Zwar steht in der Bibel nicht geschrieben, dass Ham bzw. Kanaan schwarz waren, aber dennoch wurde angenommen, dass die Schwarzen diese verfluchte Rasse darstellten. Vgl. KÖDER, 2001, S. 22; DELACAMPAGNE, 2005, S. 119. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 48. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 51.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
terhammel und Trouillot sehen die Sklaverei und die in den Sklavengesellschaften entstandene „dichotomische Rassenordnung“7 als Grund für die Festigung der Stellung der Schwarzen am unteren Ende der Hierarchie.8 Der Status der Sklaven wurde eng mit der schwarzen Hautfarbe verknüpft und wurde damit „zum unauslöschlichen Stigma.“9 Dieses Stigma spiegelt sich auch in den verschiedenen rassistischen Begriffen wider wie beispielsweise im Begriff mulâtre.10 Der antischwarze Rassismus wurde zum zentralen Bestandteil der Ideologie des Plantagensystems in der Karibik.11 Zu den rassistischen Vorurteilen gesellten sich im 18. Jahrhundert Versuche, den Rassismus wissenschaftlich zu untermauern. Der schwedische Naturforscher Carl de Linné teilte die Menschheit in vier Rassen ein, wobei er die Afrikaner als unterste Klasse mit den geringsten moralischen und geistigen Fähigkeiten betrachtete.12 Ebenso rechnete der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon die Schwarzen in seiner Degenerationstheorie der ‚niedrigsten‘ Rasse zu.13 Linné und Buffon waren sogenannte Monogenisten, die die Meinung vertraten, dass alle menschlichen Rassen derselben Gattung angehörten.14 Der wissenschaftliche Polygenismus wurde vom englischen Arzt John Atkins eingeläutet, der davon ausging, dass Schwarze und Weiße von unterschiedlichen Ureltern abstammten und nicht derselben Gattung zugehörig waren.15 Bedeutsam ist, dass alle Naturforscher dieser Zeit die Menschheit in verschiedene Rassen einteilten, ihre Schema7 8 9 10
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OSTERHAMMEL, 2000, S. 51. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 77f. OSTERHAMMEL, 2000, S. 50. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 128. Das französische Wort mulâtre leitet sich vom spanischen Wort mulato ab, das wiederum vom spanischen Begriff für Maultier (mulo) stammt. Ein Maultier ist das Ergebnis der Kreuzung eines Esels mit einer Stute bzw. eines Pferdes mit einer Eselin. Dieser Begriff wurde verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass Schwarze und Weiße verschiedenen Gattungen angehörten, und um gleichzeitig diese aus einer solchen Union entstandenen Geschöpfe mit Tieren zu vergleichen und somit zu erniedrigen. Die Mulatten wurden damit dem Zuchtvieh gleichgesetzt. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 129f. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 77. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 134. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 136. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 137. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 138.
Perzeptionsgeschichte
ta von unterschiedlichen Graden des Menschseins ausgingen und sie damit Folgendes bekräftigten: „some humans were more so than others.“16 Der wissenschaftlich begründete Rassismus war somit bereits zur Zeit der amerikanischen Revolution in der ideologischen Landschaft der Aufklärung verwurzelt.17 Auch die Philosophen der Aufklärung schienen von der Superiorität der Europäer überzeugt zu sein. Während sie sich für die Menschenrechte in Europa stark machten, setzten sie sich jedoch kaum mit den Rechten der Menschen in den Kolonien auseinander und nur wenige griffen mit der gleichen Vehemenz die Sklaverei, den Kolonialismus oder den Rassismus an.18 Der französische Historiker Sala-Molins spricht in dieser Hinsicht gar von „[l]es silences des Lumières“.19 Diese Behauptung stimmt nicht uneingeschränkt, denn wie Bénot aufzeigt, wurden die Themen Sklaverei und Sklavenhandel u. a. von Montesquieu und Raynal aufgenommen und diskutiert. 20 Die Philosophen waren sich allerdings bewusst, dass die gute ökonomische Lage Frankreichs und der damit verbundene Fortschritt auf den Kolonien und der Sklaverei fußten, sodass sie zwar Kritik am Sklavenhandel und der Sklaverei übten, zumeist aber nicht deren Abschaffung forderten.21 Montesquieu wandte sich in De l’esprit des lois von 1748 gegen die Sklaverei, jedoch sah er kein Unrecht darin, sondern warb vielmehr für eine barmherzigere und gnädigere Behandlung.22 Auch die Werke Raynals (Histoire des deux Indes) und Voltaires23 (Essai sur les mœurs et l’esprit des nations) waren Lüsebrink zufolge „von einem Bewusstsein der Überlegenheit der europäischen Zivilisati16 17 18 19 20 21 22 23
TROUILLOT, 1995, S. 76. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 78. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 80; DELACAMPAGNE, 2005, S. 122. SALA-MOLINS, [1987] 2007, S. 10. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 107. Vgl. hierzu auch SALA-MOLINS, [1987] 2007; SALA-MOLINS, 1992; BÉNOT, [1987] 2004; BÉNOT 2005. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 122; BÉNOT, 2005, S. 107. Vgl. MONTESQUIEU, [1748] 1777, S. 69; BÉNOT, 2005, S. 107; DELACAMPAGNE, 2002, S. 194f; DELACAMPAGNE, 2005, S. 122f. Voltaire, den Delacampagne als „Rassist[en] und Antisemit[en]“ (DELACAMPAGNE, 2005, S. 138) bezeichnet, verteidigte die Sklaverei basierend auf dem Polygenismus, wodurch er der Lehre der katholischen Kirche, dass alle Menschen auf einen Stammesvater zurückgehen, widersprach und die Schwarzen einer anderen Rasse zuordnete. Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 193f; DELACAMPAGNE, 2005, S. 138f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
on geprägt“.24 Trotz der Tatsache, dass in der Histoire des deux Indes, die 1770 gedruckt und 1772 zum ersten Mal25 verbreitet wurde, die westliche Superiorität nicht infrage gestellt wurde, kann sie wohl als antikolonialistischstes Werk der Aufklärung angesehen werden.26 Die Histoire des deux Indes übte Trouillot zufolge die vielleicht radikalste Kritik am Kolonialismus, indem die sofortige Abschaffung des Sklavenhandels, eine Verbesserung der Situation der Sklaven sowie langfristig die Abschaffung der Sklaverei gefordert wurden – ein Schritt, zu dem sich Montesquieu und Voltaire nicht durchgerungen hatten.27 Laut Bénot erhielt dieses Werk erst aufgrund der Mitarbeit des französischen Philosophen Denis Diderot seine antikolonialistische Prägung.28 Das Fortschrittsdenken, das sich bereits in der Neuzeit hatte durchsetzen können, bekam im Zeitalter der Aufklärung einen neuen Impuls. Die Vorstellung eines ständigen Fortschritts der Menschheit implizierte die Vervollkommnung des Menschen, sodass in der Theorie auch Menschen der ‚niedrigen‘ Rassen vervollkommnet werden könnten. Diese Idee wurde allerdings nur als Argument in der praktischen Debatte der Sklaverei aufgenommen, um aufzuzeigen, dass mit einem freien, verwestlichten Schwarzen mehr Geld verdient werden könnte.29 Die Frage, ob die Aufklärung einen Einfluss auf die Haitianische Revolution bzw. ihre Anführer hatte, wird von den Historikern kontrovers diskutiert. Während in sämtlichen Epochen, von den Zeitzeugen bis zur Gegenwart, in verschiedenen literarischen Werken über den Toussaint-Mythos darauf hingewiesen wird, dass Toussaint mit der Histoire des deux Indes Raynals vertraut war und er sich als der prophezeite schwarze Spartakus ansah, lehnt Sala-Molins die Erklärung, dass Toussaint und die anderen Aufständischen von der Aufklärung und insbesondere von Raynal beeinflusst worden seien, als frankozentristische 24 25
26 27 28 29
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LÜSEBRINK, 2006, S. 16. Wie Bénot aufzeigt, erschien 1774 eine zweite Fassung und im Jahr 1780 wurde eine dritte stark erweiterte Version erstellt, die 1781 in Umlauf gebracht wurde. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 108, Fußnote 1. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 81; DELACAMPAGNE, 2005, S. 123. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 81; SALA-MOLINS, [1987] 2007, S. 259; DELACAMPAGNE, 2002, S. 198. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 123. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 80. Adam Smith vertrat die These, dass freie Lohnarbeit produktiver sei als Sklavenarbeit. Vgl. SMITH, [1776] 2001, S. 71.
Perzeptionsgeschichte
Sichtweise ab.30 Hierdurch würde seiner Meinung nach die Haitianische Revolution nicht als eigenständiges Ereignis begriffen, sondern zu einer Episode der Französischen Revolution herabgestuft werden.31 Die Leistung Toussaints würde durch die Unterstellung, dass er nur durch die Lektüre der Aufklärer auf die Idee eines Aufstandes gekommen sei, nicht anerkannt werden.32 Wenn die Insurgenten mit der Aufklärung in Verbindung gebracht werden, dann darf dies nur mit dem Vermerk geschehen, dass diese die Sprache der Aufklärung veränderten und ihr einen Sinn gaben, den sie ursprünglich gar nicht enthielt.33 Ebenso wie die Philosophen setzten sich auch nur wenige Politiker der Französischen Revolution, die 1789 die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte verkündet hatten und die Menschenrechte vehement verteidigten, im gleichen Maße gegen Sklaverei und Rassismus ein.34 Laut Osterhammel kamen die französischen Revolutionäre nicht eindeutig „über die gespaltene Freiheitsvision des 17. Jahrhunderts“35 hinaus und trugen nur wenig zur Sklavenbefreiung bei.36 Die Sklavenfrage spielte in den ersten Jahren der Französischen Revolution keine wesentliche Rolle und wurde „niemals zum wahren Testfall der neuen Menschenrechtsrhetorik.“37 Die Amis des Noirs waren laut Osterhammel „ein abstrakt räsonnierender [sic] Eliteklub“38 und eine breite Abolitionistenbewegung gab es in Frankreich – im Gegensatz zu England – zu dieser Zeit nicht.39 Die Abolition der Sklaverei von 1794 lässt sich nicht auf den Kampf oder die Einsicht der französischen Regierung, sondern auf die Schaffung von Tatsachen in Saint-Domingue zurückführen.40 Die wenigen im Mutterland vorgebrachten Vorbehalte gegen die Skla-
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35 36 37 38 39 40
Vgl. SALA-MOLINS, 1992, S. 158f. Vgl. SALA-MOLINS, 1992, S. 159f. Vgl. SALA-MOLINS, 1992, S. 160. Vgl. SALA-MOLINS, 1992, S. 160; Kapitel 1.2.1. Vgl. Trouillot, 1995, S. 80. Detaillierte Beschreibungen zu den Diskussionen über die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei in der Politik finden sich in DORIGNY/GAINOT, 1998 sowie in BÉNOT, [1987] 2004. OSTERHAMMEL, 2000, S. 55. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 56. OSTERHAMMEL, 2000, S. 56. OSTERHAMMEL, 2000, S. 56. Vgl. GEGGUS, 1989, S. 1292; OSTERHAMMEL, 2000, S. 56. Vgl. OSTERHAMMEL, 2000, S. 56f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
verei und den Sklavenhandel zeigten in Saint-Domingue kaum Wirkung.41 Allerdings hatten der Versuch der Weißen, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit vom Mutterland zu erlangen, sowie die Aufstände der Mulatten und der daraus resultierende Kampf der beiden Besitzklassen in der französischen Kolonie die Position Frankreichs geschwächt.42 Während zuvor die Vorstellung des omnipotenten Frankreichs und des Königs die Sklaven trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit von einem umfassenden Aufstand abgehalten hatte, schien unter den veränderten Umständen ein Aufstand nicht mehr unmöglich.43
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Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 80. Vgl. Kapitel 1.1.1. Vgl. CURTIN, 1950, S. 172f.
Perzeptionsgeschichte
1.2.1 Die Haitianische Revolution als undenkbares Ereignis Im August 1791 brach in Saint-Domingue der große Sklavenaufstand aus. In dem weltanschaulichen Kontext, in dem die weiße Hegemonie selbstverständlich war und allgemein die Meinung vorherrschte, dass sich Sklaven nicht nach Freiheit sehnten, gab es jedoch keinen Platz für die Vorstellung einer Revolution der Sklaven, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass eine solche Erhebung Erfolg haben könnte. Laut Trouillot wurde die Haitianische Revolution für undenkbar erachtet: „The Haitian Revolution thus entered history with the peculiar characteristic of being unthinkable even as it happened.“1 Auch Pluchon weist auf dieses Phänomen hin: „les peuples libres des îles françaises n’imaginent pas que la masse, apparemment inorganisée, des esclaves noirs, puissent s’ébranler et allumer la flamme des grands bouleversements.“2 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt das Undenkbare als etwas, das wir mangels geeigneter Denkwerkzeuge nicht denken können: „dans l’impensable d’une époque, il y a tout ce que l’on ne peut pas penser faute de dispositions éthiques ou politiques inclinant à le prendre en compte et en considération mais aussi ce que l’on ne peut pas penser faute d’instruments de pensée tels que problématiques, concepts, méthodes, techniques“.3 Die Geschehnisse der Haitianischen Revolution übertrafen selbst die radikalsten Positionen und Vorstellungen der europäischen Aufklärung und für die Zeitgenossen waren die Ereignisse der Revolution vollkommen abwegig.4 Zwar relativieren Historiker wie Bénot und Geggus diese These der Unvorstellbarkeit des Sklavenaufstands, indem sie auf verschiedene Texte verweisen, in denen bereits vor dem Jahr 1791 vor einer solchen Revolte gewarnt wurde: Bénot zeigt auf, dass Turgot schon Mitte des 18. Jahrhunderts von der Unvermeidbarkeit der Unabhängigkeit der Kolonien überzeugt war: „Les colonies sont comme des fruits qui tiennent à l’arbre jusqu’à ce qu’ils en aient reçu une nourriture suffisante; alors 1 2 3 4
TROUILLOT, 1995, S. 73. PLUCHON, 1989, S. 53. BOURDIEU, 1980, S. 14. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 82.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ils s’en détachent; ils germent eux-mêmes et produisent de nouveaux arbres. Carthage fit ce qu’avait fait Thèbes et ce que fera un jour l’Amérique.“5 Beide Historiker rekurrieren auf das enzyklopädische Werk Histoire des deux Indes von Raynal sowie auf den utopischen Roman L’an 2440 (1771) von Louis-Sébastien Mercier, in denen die Selbstbefreiung der Sklaven prophezeit wurde.6 Dennoch stimmen beide Historiker zu, dass die Menschen damals nicht mit dieser Erhebung rechneten, auch wenn die Möglichkeit eines solchen Aufstands nicht völlig ausgeschlossen wurde.7 Als in Frankreich die Nachrichten von den Ereignissen in SaintDomingue eintrafen, war die überwiegende Reaktion Ungläubigkeit. Die Franzosen im Mutterland konnten ihre Vorstellung von den schwarzen Sklaven nicht mit einer Rebellion von diesem Ausmaß in Einklang bringen.8 Zunächst wurde in den Berichten am Ende des 18. Jahrhunderts auch nicht von einer ‚Revolte‘ oder gar von einer ‚Revolution‘ gesprochen, sondern immer nur von ‚Unruhen‘ sowie von ‚Aufständischen‘ oder ‚Rebellen‘.9 Aufgrund der Schnelligkeit der Ereignisse konnte die politische und philosophische Debatte im Westen stets nur im Nachhinein stattfinden und die undenkbaren Ereignisse wurden erst dann diskutiert, als sie bereits zu Tatsachen geworden waren, und selbst dann schenkte die Bevölkerung ihnen teils keinen Glauben.10 Die Menschen konnten sich nicht vorstellen, dass von den Schwarzen eine dauerhafte Gefahr ausgehen könnte.11 Die Sklaven wurden nicht als Akteure einer solchen Revolution anerkannt, sondern die verschiedenen Parteien in Frankreich vermuteten ihre jeweiligen Feinde hinter Verschwörungen, die zu den Aufständen geführt hatten. So wurde je nach parteipolitischer Zugehörigkeit ein anderer Feind hinter der Rebellion ausgemacht: Es wurden wechselseitig Briten, Mulatten, Republikaner oder Royalisten der Konspiration verdächtigt.12 Diese Mutmaßungen zeigen, dass in Frankreich 5 6 7 8 9 10 11 12
60
TURGOT, [1748] 1913, S. 141. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 264. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 265; GEGGUS, 2009, S. 4. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 90. Vgl. beispielsweise MILSCENT, 1791; GARRAN DE COULON, 1798. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 89. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 91. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 91f.
Perzeptionsgeschichte
kaum jemand die Insurgenten in der Lage sah, einen solchen Aufstand selbst vorbereiten und ausführen zu können. Zudem muss aus postkolonialer Sicht auch darauf verwiesen werden, dass eine Wahrnehmung oder gar eine Anerkennung der Ereignisse als ‚Revolution‘ diese auf dieselbe Ebene wie die Französische Revolution erhoben hätte. Dies wiederum hätte die Nichtbeachtung des Ideals der égalité gegenüber den Kolonisierten infrage gestellt. Frankreich als Kolonialmacht war jedoch auf die Distanzierung und Differenzierung gegenüber den Kolonisierten, auf das sogenannte othering,13 sowie auf ihre Stereotypisierung angewiesen, um die Praxis des Kolonialismus rechtfertigen zu können.14 Die Revolution war aber nicht nur in der westlichen Welt unvorstellbar, sondern selbst in Saint-Domingue gingen die Kolonisten im Frühjahr 1792 noch davon aus, dass man nach den Aufständen zur alten Ordnung zurückkehren konnte.15 Dies geht auch aus der Korrespondenz von französischen Kolonisten aus dieser Zeit hervor, wie Jacques de Cauna in seinem Werk über eine Plantage im 18. Jahrhundert in SaintDomingue aufzeigt.16 Selbst für die Sklaven und die Anführer der Aufstände war die Revolution an der Grenze des Denkbaren. Es gab keinen intellektuellen Diskurs, der sie vorbereitete, sondern die politische Formulierung der Revolution begann erst, als diese bereits stattfand. Für Toussaint Louverture und die anderen Anführer der Revolution bedeutete dies, dass ihnen keine ideologischen Grenzen vorgegeben wurden und sie Neuland betraten.17 Die Forderungen der ehemaligen Sklaven veränderten sich im Laufe der Revolution. Zu Beginn forderten die Radikalsten unter ihnen drei freie Tage in der Woche, an denen sie ihr eigenes kleines Stück Land bestellen konnten, sowie die Abschaffung der Peitsche. Von der Abolition der Sklaverei oder einer Unabhängigkeit der Kolonie war zunächst nicht die Rede.18 Wie Bernecker aufzeigt, setzten die Sklaven zu Anfang der Revolution Freiheit mit dem Recht auf Grund und Boden 13 14 15 16 17 18
Vgl. SPIVAK, 1985. Für diesen Hinweis danke Prof. Dr. Cornelia Sieber. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.3. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 92f. Vgl. CAUNA, 2003, S. 223. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 88f. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 103.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
gleich.19 Mit den verschiedenen Errungenschaften der Haitianischen Revolution wie der Ausrufung der allgemeinen Freiheit, Toussaints Machtübernahme und letztendlich die Erklärung der Unabhängigkeit änderten sich jeweils auch die Forderungen sowie der intellektuelle und ideologische Diskurs.20 Die Menschen in Saint-Domingue wie auch in Europa und Nordamerika konnten die Ereignisse nicht so schnell realisieren, wie sie sich ereigneten.21 Als schließlich Leclerc am 1. Februar 1802 mit seinen Truppen in Saint-Domingue landete, gab es weder in Nordamerika und Europa noch unter den Pflanzern in der Kolonie Zweifel am Erfolg der Expedition. Alle gingen davon aus, dass die Restauration schnell vonstattengehen würde. Laut Trouillot schienen selbst im Herbst 1803 ein Sieg der ehemaligen Sklaven sowie die Unabhängigkeit der Kolonie für den Westen noch unvorstellbar.22 Allerdings zeigen Bénot sowie Macé/Gainot auf, dass trotz der unter dem Ersten Konsul herrschenden strengen Zensur Nachrichten über die katastrophale Lage in der Kolonie nach Frankreich gelangten23 und auch die von Franzosen an Aufständischen verübten Gräueltaten zumindest in einigen Kreisen bekannt gewesen waren.24 Offiziell wurden die grausamen Methoden der Franzosen durch das Verhalten des Gegners gerechtfertigt, allerdings ist Macé und Gainot zufolge der wahre Grund für die gewaltsame Repression, die Überzeugung der weißen Soldaten, den Schwarzen übergeordnet zu sein.25 Die Insurgenten wurden niemals als richtige Soldaten anerkannt, sondern in den offiziellen Dokumenten der Armee nur entwertend als ‚brigands‘ oder ‚nègres‘ bezeichnet. Sie wurden nicht als Kämpfer eines Landes oder einer Sache perzipiert, denn ein solcher Status hätte den Aufständischen eine gewisse Rechtmäßigkeit verliehen, die man ihnen nicht zugestehen konnte.26 19 20 21 22 23 24
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Vgl. BERNECKER, 1996, S. 32. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 89. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 94. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 94. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 93-99; MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 22. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 97. Bénot verweist auf Texte von Claude Fauriel, Julie Talma und Mme de Staël. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 9799. Auf die Memoiren Mme de Staëls wird in Kapitel 3.3.3 dieser Arbeit eingegangen. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 32. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 34.
Perzeptionsgeschichte
Als General Leclerc am 2. November 1802 am gelben Fieber starb, konnte der bekannte General nicht ohne jegliche Ehren bestattet werden,27 allerdings sollte die Trauerfeier in aller Heimlichkeit abgehalten werden, um nicht an die Expedition und die Verluste der französischen Truppen in Saint-Domingue zu erinnern.28 Der Trauerzug passierte daher verschiedene Städte, die für Leclerc eine wichtige Rolle gespielt hatten, ohne dabei in die Hauptstadt zu kommen, und als Todesursache wurden sein selbstloser Einsatz und Heldenmut genannt und nicht etwa das gelbe Fieber, das mit der Kolonie in Verbindung gebracht würde.29 Saint-Domingue wurde für den Tod nicht verantwortlich gemacht, sodass der Gegner verschwiegen werden konnte.30 Macé und Gainot zeigen auf, dass der befehligte Ablauf der Trauerfeierlichkeiten „le début d’un processus d’oubli de l’expédition de Saint-Domingue ellemême“31 darstellte.
27 28 29 30 31
Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 22. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 50. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 23. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 23. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 24.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
1.2.2 Die Haitianische Revolution als Nichtereignis Noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Kolonie und insbesondere nach dem endgültigen Verlust der Kolonie im Jahr 1804 setzte ein Mechanismus des Vergessens ein, den Dorigny als „oubli organisé“1 bezeichnet. Zwar hatte Frankreich als Folge des Siebenjährigen Krieges bereits 1763 seine Kolonie Kanada an England verloren, aber dieser Verlust wurde als intra-europäische Angelegenheit angesehen und das Kolonialprinzip wurde dadurch nicht infrage gestellt.2 Eine Niederlage Frankreichs im Kampf gegen die Aufständischen sowie ein von Schwarzen, von ehemaligen Sklaven regierter Staat waren jedoch nicht akzeptabel, da hierbei ein Dogma verletzt wurde, das bis dahin uneingeschränkt galt: die Überlegenheit der Weißen.3 Selbst dem philanthropischsten Europäer fiel es schwer, einen gerade der Sklaverei entflohenen Schwarzen als ebenbürtig anzusehen.4 Da eine Niederlage gegenüber den als minderwertig empfundenen Gegnern nicht eingestanden werden konnte, wurden zunächst die zahlenmäßige Überlegenheit sowie die Grausamkeit der Aufständischen und insbesondere ein Verrat von innen (durch andere Franzosen in Saint-Domingue) als Ursachen für den erzwungenen Abzug angeführt. Ferner wurden das gelbe Fieber sowie das Eingreifen der Engländer als Gründe für das Debakel angegeben.5 Anschließend wurde nicht mehr nur versucht, falsche Gründe für die Niederlage vorzuschieben, sondern es wurde begonnen, Saint-Domingue aus der französischen Kolonialgeschichte zu löschen.6 Zwar war Napoleons Stolz durch die misslungene Expedition verletzt worden, aber seine Macht war noch immer ungebrochen. Der Erste Konsul und spätere Kaiser verfügte über die Möglichkeit, den Informationsfluss zu kontrollieren, und konnte somit Stillschweigen über die Sache befehlen.7 Aufgrund der Zensur wurden zwischen 1803 und 1813 kaum Texte über Saint-Domingue publiziert.8 1 2 3 4 5 6 7 8
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DORIGNY, [2005] 2006, S. 50. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 47f, 49. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 49. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 39. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 35f. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 39; DORIGNY, [2005] 2006, S. 48. Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 38. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 117; Kapitel 3.2.
Perzeptionsgeschichte
Außerdem wollte auch das französische Volk die Niederlage gegen einen Gegner, dem man sich überlegen fühlte, gerne verdrängen.9 Trouillot weist auf die Ähnlichkeit zwischen den Reaktionen der Zeitgenossen und der Behandlung durch die Historiografie hin, da die Undenkbarkeit im Folgenden überdies erhebliche Auswirkungen auf die Historiografie hatte.10 Denn wie sollten Ereignisse, die nicht akzeptiert werden konnten, beurteilt werden, und wie sollte später die Historiografie den westlichen Diskurs der Undenkbarkeit eines solchen Ereignisses durchbrechen?11 Das allgemeine Schweigen basierte ursprünglich auf der Tatsache, dass mit dem Unvorstellbaren nicht umgegangen werden konnte, und verstärkte sich durch die Bedeutung der Haitianischen Revolution für die Zeitzeugen.12 Die durch die erst spät erfolgte Anerkennung Haitis zum Ausdruck gebrachte diplomatische Zurückweisung13 des Landes durch den Westen sowie der politische und wirtschaftliche Verfall der ehemaligen Kolonie führten dazu, dass die Haitianische Revolution immer mehr aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht und zu einem Nichtereignis wurde: „The revolution that was unthinkable became a non-event.“14 Trotz der Tatsache, dass Saint-Domingue als die sogenannte ‚Perle der Antillen‘ die reichste und somit wertvollste Kolonie Frankreichs gewesen war, wurden in der französischen Geschichtsschreibung der Sklavenaufstand und die daraus resultierende Unabhängigkeit verschwiegen.15 Diesbezüglich unterscheidet Trouillot zwei unterschiedliche Gruppen von rhetorischen Tropen, die für ihn beide Formen des Verschweigens darstellen: Durch die erste Gruppe von Tropen („formulas of erasure“) wird der Versuch einer Auslöschung der Ereignisse un9 10 11 12 13
14 15
Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 38. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 96. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 73. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 97. Trouillot interpretiert diese diplomatische Ächtung als ein Symptom einer tiefer liegenden Verleugnung: „Diplomatic rejection was only one symptom of an underlying denial.“ TROUILLOT, 1995, S. 95. Es war die Haitianische Revolution per se, die mit den westlichen Ideologien nicht vereinbar war. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 95. TROUILLOT, 1995, S. 98. Das Verschweigen führte dazu, dass die Haitianische Revolution in der westlichen Historiografie nicht als eine der Revolutionen des sogenannten Revolutionszeitalters anerkannt wurde. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 98.
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ternommen, während durch die andere Gruppe („formulas of banalization“) eine Bagatellisierung intendiert wird, indem der revolutionäre Charakter verschwiegen wird.16 Dieses Verschweigen passt laut Trouillot auch zur Vernachlässigung der Themen Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei in der französischen Historiografie, die im engen Zusammenhang mit der Haitianischen Revolution stehen.17 Je weniger diese Themen eine Rolle spielten, desto unwichtiger war auch die Haitianische Revolution für die Geschichtsschreibung.18 Ebenso kritisiert Yves Bénot in seinem Werk La Révolution française et la fin des colonies 1789-1794, dass der antikolonialistische Kampf bzw. der Kampf gegen die Sklaverei und somit auch die Haitianische Revolution und ihre Akteure19 in historiografischen Gesamtdarstellungen der Französischen Revolution entweder gar nicht oder aber entwertend dargestellt wurden.20 Als Gründe für das Schweigen nennt Bénot die imperialistische Haltung sowie die zweite Welle der französischen Kolonialexpansion, die mit der Landung in Algier im Jahr 1830 begann und mit den letzten Kämpfen in Marokko 1934 endete.21 Eben16 17 18 19
20 21
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Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 96; FORSDICK, 2008, S. 330. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 98. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 98. Nicht nur die Anführer der Haitianischen Revolution, sondern auch die von Frankreich nach Saint-Domingue entsandten Kommissare wurden von der französischen Geschichtsschreibung vernachlässigt. Dorigny verweist auf den französischen Zivilkommissar Léger-Félicité Sonthonax als Musterbeispiel einer solchen Verschleierung. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 51. Sonthonax, der im August 1793 als Erster die Abschaffung der Sklaverei verkündete, ist in mehr als der Hälfte der großen Nachschlagewerke Frankreichs des 19. und 20. Jahrhunderts nicht aufzufinden, wobei dieses Vergessen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar noch zunimmt. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 51. Wie Desné aufzeigt, findet Sonthonax weder in den aktuellen Geschichtsbüchern der weiterführenden Schulen in Frankreich noch in der Encyclopaedia Universalis oder dem Grand Robert des noms propres Erwähnung. Vgl. DESNÉ, [1997] 2005, S. 113f. Der Petit Larousse enthielt von der ersten Ausgabe 1906 bis 1951 einen Artikel über Sonthonax, der aber ab dem Jahr 1952 entfernt und nicht mehr ersetzt wurde. Vgl. DESNÉ, [1997] 2005, S. 115. Aufgrund dieses Verschweigens wurde Sonthonax, wie Barcellini veranschaulicht, aus dem kollektiven Gedächtnis der Franzosen gelöscht und fand bis heute keinen Weg zurück in die Erinnerung der Franzosen. Vgl. BARCELLINI, 1997, S. 121. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 215; TROUILLOT, 1995, S. 101. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 215.
Perzeptionsgeschichte
so führen Macé und Gainot die schnelle Entstehung eines neuen Kolonialreichs und das damit verbundene Verschwinden von Rache- und Rückeroberungsgedanken bezüglich Haitis als Grund für das kollektive Vergessen dieser ehemaligen Kolonie und ihrer Revolution an.22 Ferner macht Bénot auch die Macht der Gewohnheit als einen Faktor für dieses Phänomen aus, da die späteren Historiker die Darstellung der Ereignisse meist von früheren Historikern übernahmen.23 Zwar erschienen insbesondere von französischen Zeit- und Augenzeugen zahlreiche Berichte, Briefe, historische Abrisse, Autobiografien, in denen sie ihre Perzeption der Ereignisse von Saint-Domingue im Rückblick schilderten,24 aber in den allgemeinen Darstellungen der Französischen Revolution regierte das Schweigen über die Kolonialgeschichte im Allgemeinen und die Haitianische Revolution im Besonderen. Gerade diese Werke jedoch sind von großer Bedeutung, da sie im Gegensatz zu den Texten der Zeitzeugen eine hohe Auflage hatten, als Vorlage für Schulbücher dienten und dadurch einen großen Einfluss auf das kollektive Gedächtnis hatten.25 Die Stille herrschte nicht nur in bestimmten Epochen, bei Autoren gewisser ideologischer Richtungen oder historischer Schulen vor, sondern ist umfassend präsent.26 Nachstehend wird anhand einiger Beispiele auf die Behandlung der Haitianischen Revolution und Toussaint Louvertures durch die französische Historiografie im Laufe der verschiedenen Epochen eingegangen. Eine vollständige Analyse ist nicht Ziel der Arbeit und würde den Rahmen sprengen. Im Folgenden werden nur einzelne bedeutende Werke über die Epoche der Französischen Revolution aufgegriffen und die darin enthaltenen Schilderungen der Haitianischen Revolution und ihres Anführers Toussaint beleuchtet. Die französische Schriftstellerin Mme de Staël, die das Schicksal Toussaint Louvertures in ihren Memoiren Dix années d’exil (1818) zur Sprache brachte,27 verschwieg die Haitianische Revolution sowie Toussaint in dem 1818 nach ihrem Tod erschienenen Werk Considéra-
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Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 38. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 216f. Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 205. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 101. Vgl. Kapitel 3.3.3.
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tions sur les principaux événements de la Révolution française.28 Der französische Historiker François-Auguste Mignet erwähnte die Haitianische Revolution in seiner Histoire de la Révolution française depuis 1789 jusqu’en 1814, allerdings widmete er ihr in seinem 733 Seiten starken Werk nur eine Seite.29 Während auf die erste Abolition der Sklaverei nicht eingegangen wurde, betonte er die führende Rolle Toussaint Louvertures: A cette époque, les noirs de Saint-Domingue voulurent maintenir, à l’égard de la métropole, leur affranchissement, qu’ils avaient conquis sur les colons, et su défendre contre les Anglais. Ils avaient à leur tête un des leurs, le fameux Toussaint-Louverture. La France devait consentir à cette révolution, déjà assez coûteuse à l’humanité.30
Kurz vor der zweiten Abolition der Sklaverei im Jahr 1848 wurde 1845 die Histoire du Consulat et l’Empire faisant suite à l’Histoire de la Révolution française des französischen Politikers und Historikers Adolphe Thiers veröffentlicht. Darin gestand er, ebenso wie Mignet, Toussaint zwar gewisse Fähigkeiten und Leistungen sowie seinen Platz in der Geschichte zu, jedoch stufte er Schwarze insgesamt als Barbaren ein. Er machte Toussaint für die vielen begangenen Grausamkeiten in SaintDomingue verantwortlich und zweifelte in keinem Moment an der Richtigkeit der Entscheidung, Toussaint nach Frankreich zu deportieren und zu inhaftieren, sondern befand, dass seine Strafe für all den verursachten Schaden noch zu gering ausgefallen sei:31 Un nègre, doué d’un véritable génie, Toussaint Louverture, avait fait à Saint-Domingue quelque chose de semblable à ce que faisait le Premier Consul en France. Il avait dompté, gouverné cette population révoltée, et rétabli une espèce d’ordre.32 C’était un vieil esclave, n’ayant pas l’audace généreuse de Spartacus, mais une dissimulation profonde, et un génie de gouvernement tout à fait extraordinaire. […] Cette race barbare, qui en voulait aux Euro28 29 30 31 32
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Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 205. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 206. MIGNET, 1824, S. 656. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 206-208. THIERS, 1845a, S. 367.
Perzeptionsgeschichte péens de la mépriser, était fière d’avoir dans ses rangs un être, dont les blancs eux-mêmes reconnaissaient les hautes facultés. […] Cet esclave noir, devenu dictateur, avait rétabli à Saint-Domingue un état de société tolérable, et accompli des choses qu’on oserait presque appeler grandes, si le théâtre avait été différent, et si elles avaient été moins éphémères.33 Dans le moment, Toussaint Louverture, sinistre prophète, qui avait prédit et souhaité tous ces maux, mourait de froid en France, prisonnier au fort de Joux, tandis que nos soldats succombaient sous les traits d’un soleil dévorant. Déplorable compensation que la mort d’un noir de génie, pour la perte de tant de blancs héroïques!34
Der französische Politiker und Schriftsteller Alphonse de Lamartine, der das Dekret vom 27. April 184835 zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei unterzeichnete und Toussaint ein Theaterstück widmete, schrieb 1847 ein Werk über die Französische Revolution mit dem Titel Histoire des girondins. Dort kritisierte er die Institution der Sklaverei,36 sah aber die Mulatten als Anstifter des Aufstandes an und stellte die Haitianische Revolution doch relativ einseitig, im Sinne der Kolonisten dar:37 […] cinquante mille esclaves noirs s’étaient soulevés dans une nuit à l’instigation et sous le commandement des mulâtres ou hommes de couleur.38 C’est l’anéantissement d’une race par une autre. Les têtes sanglantes des blancs, portées au bout de roseaux, de cannes à sucre, sont le drapeau qui mène ces hordes non au combat, mais au carnage. […] Les nègres n’ont plus de cœur. Ce ne sont plus des hommes, ce n’est plus un peuple, c’est un élément destructeur qui passe sur la terre en effaçant tout.39
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THIERS, 1845b, S. 173. THIERS, 1845b, S. 364. Das Dekret findet sich in CASTALDO, [2006] 2007, S. 93-95. Vgl. LAMARTINE, 1847, S. 139. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 208f. LAMARTINE, 1847, S. 140. LAMARTINE, 1847, S. 141.
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Während Lamartine Toussaint in seinem Theaterstück zum Freiheitskämpfer und Vater der haitianischen Nation stilisierte,40 erwähnte er ihn in seinem historiografischen Werk nur an einer Stelle: „le génie de l’indépendance des noirs, qui se montrait de loin dans la personne d’un pauvre et vieux esclave: Toussaint-Louverture.“41 Wie viele andere Historiker überging auch Jules Michelet in seinem Werk Histoire de la Révolution française die erste Abolition der Sklaverei von 1794.42 Die Haitianische Revolution beschrieb er als grausames Ereignis und Toussaint blieb unerwähnt: „Une nuit, soixante mille nègres se révoltent, commencent le carnage et l’incendie, la plus épouvantable guerre de sauvages qu’on ait vue jamais.“43 In Band 17 seines Werks Histoire de France (1867) nahm der französische Historiker nochmals Bezug auf die Revolution von Saint-Domingue und bewertete den Aufstand als Werk der weißen Kolonisten: Les nobles étaient si furieux, qu’à Aix, à Marseille et à Toulon, ils firent un coup désespéré. On ne peut le comparer qu’à la folie de SaintDomingue, quand les colons imaginèrent de lâcher leurs propres nègres, de faire par eux l’incendie, le pillage des plantations.44
Bénot verweist auf die große Bedeutung der Werke von Jules Michelet während der Dritten Republik, weshalb die Omissionen umso schwerer wiegen.45 Der französische Sozialist Louis Blanc behandelte die Kolonien im sechsten Band seines Werkes Histoire de la Révolution française immerhin in einem ganzen Kapitel mit dem Titel „La Révolution dans les colonies“.46 Darin wurden der Sklavenhandel, die Sklaverei, der Aufstand von Ogé und Chavannes, das Dekret vom 15. Mai 1791 und der Aufstand unter der Führung Boukmans aufgegriffen:
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Vgl. Kapitel 3.3.4. LAMARTINE, 1847, S. 142. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 209; MICHELET, 1847. MICHELET, 1847, S. 151. MICHELET, 1867, S. 474. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 210. Vgl. BLANC, 1854, S. 42-70.
Perzeptionsgeschichte […] la plaine du Cap était incendiée. Ce furent des scènes d’inexprimable horreur. […] Point de pitié, point de merci, de la part des noirs, altérés de vengeance. Deux siècles de crimes commis contre eux leur étaient un encouragement au crime. […] Cent mille nègres, la torche à la main, passèrent sur l’île comme un torrent de feu.47
Allerdings wurden die erste Abschaffung der Sklaverei von 1794, Toussaint sowie der gesamte weitere Verlauf der Haitianischen Revolution nach dem Tod Boukmans nicht angesprochen. Wie Bénot aufzeigt, interessierten sich auch die französischen Historiker Alexis de Tocqueville, Edgar Quinet und Hippolyte Taine insgesamt nur wenig für Kolonialfragen.48 Sie kamen in ihren Werken weder auf Toussaint Louverture, die Haitianische Revolution noch auf die erste Abolition der Sklaverei von 1794 zu sprechen.49 Jean Jaurès räumte in seiner Histoire socialiste de la Révolution française dem Sujet der Kolonien mehr Platz ein und versuchte, die Debatten zu den Kolonialfragen im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verlauf der Französischen Revolution und ihren Klassenkämpfen darzustellen, weshalb auch Trouillot ihn als eine der wenigen Ausnahmen des ansonsten herrschenden Schweigens hervorhebt.50 Auf die als „formidable révolte d’esclaves noirs“51 gerühmte Haitianische Revolution wurde jedoch nicht näher eingegangen und weder Toussaint noch die Abschaffung der Sklaverei von 1794 fanden Erwähnung.52 Auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts herrschte in der französischen Historiografie weiterhin Schweigen bezüglich der Haitianischen Revolution und Toussaint vor. Die Nachfolger des sozialistischen Politikers und Historikers griffen die von ihm aufgezeigten Widersprüche der Französischen Revolution hinsichtlich der Kolonien nicht auf.53 In dem unter der Leitung von Ernest Lavisse entstandenen Werk Histoire de France contemporaine depuis la Révolution jusqu’à la paix de 1919 wurde im ersten von Philippe Sagnac verfassten Band zur Französi47 48 49 50 51 52 53
BLANC, 1854, S. 67. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 210. Vgl. TOCQUEVILLE, 1856; QUINET, 1869; TAINE [1878-1883] 1901-1904. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 210f; TROUILLOT, 1995, S. 101. JAURÈS, [1901] 1969, S. 864. Vgl. JAURÈS, [1901] 1969, S. 845-866; JAURÈS, [1901] 1970, S. 277-356. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 210.
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schen Revolution der Mulattenaufstand in Saint-Domingue mit der Konterrevolution in Frankreich in Verbindung gebracht: La contre-révolution s’organisait dans les départements. La révolte devenait générale aux colonies, où les mulâtres libres, exaspérés par la suppression de leurs droits politiques, pillaient les propriétés des colons blancs et attentaient à leur vie.54
Im zweiten Band, der von Georges Pariset geschrieben wurde, wurde die erste Abolition der Sklaverei zumindest kurz angesprochen und auch Toussaint Louverture wurde erwähnt.55 Bezüglich des Kampfes gegen die Engländer und den Mulatten Rigaud wurde er sogar als „le sauveur de Saint-Domingue“56 bezeichnet. Das dreibändige Werk La Révolution française des französischen Historikers Albert Mathiez behandelte die Kolonien und die Haitianische Revolution nur am Rande.57 Die Abschaffung der Sklaverei von 1794 sowie Toussaint wurden nicht genannt und die Haitianische Revolution wurde nur im Hinblick auf die Verteuerung der Kolonialwaren und die dadurch ausgelösten Unruhen in den Städten Frankreichs aufgegriffen.58 Georges Lefebvre, Raymond Guyot und Philippe Sagnac boten in ihrem historiografischen Werk La Révolution française einen zwar ausgewogenen, jedoch ziemlich kurzen Bericht über die Haitianische Revolution an, in dem auch Toussaint auftauchte:59 Les Anglais s’étaient renforcés de bonne heure, car ils craignaient une révolte des nègres depuis l’insurrection des esclaves, en août 1791; Toussaint-Louverture avait peu à peu organisé ceux d’Haïti, pendant que les Girondins essayaient en vain de ménager un compromis entre les blancs et les mulâtres, en abandonnant les noirs […]. A Haïti, les
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72
SAGNAC, 1920, S. 334. Vgl. PARISET, 1920, S. 234, 323. PARISET, 1920, S. 323. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 212f. Vgl. MATHIEZ, [1922] 1989, S. 161. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 213.
Perzeptionsgeschichte Espagnols laissaient les bandes de Toussaint se ravitailler et se refaire sur leur territoire.60
Im kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten historiografischen Werk La lutte de classes sous la Première République (1946) von Daniel Guérin wurde hingegen weder auf die Haitianische Revolution, die erste Abolition der Sklaverei noch auf Toussaint eingegangen, was umso erstaunlicher ist, als dass Guérin laut Bénot stets antikolonialistisch eingestellt war.61 Auch während und nach der Vierten Republik (1947-1958) fand die Haitianische Revolution keinen Eingang in die Historiografie. Weder Aimé Césaire, der mit seinem 1950 veröffentlichten Discours sur le colonialisme die Themen Kolonialisierung und Entkolonialisierung in den Mittelpunkt stellte62 und dem haitianischen Revolutionsführer mit Toussaint Louverture. La révolution française et le problème colonial (1960) einen kompletten Essay widmete,63 noch die Veröffentlichung der französischen Übersetzung des historiografischen Werks The Black Jacobin von C.L.R. James im Jahr 1949 konnten eine historiografische Produktion zum Thema der Haitianischen Revolution anregen.64 Das Verschweigen der Haitianischen Revolution war in den historiografischen Gesamtdarstellungen weiterhin bestimmend. In Albert Soubouls 1962 erstmals erschienenem Standardwerk Précis de l’histoire de la révolution wurde die erste Abolition der Sklaverei omittiert und die Haitianische Revolution mit ihrem Anführer Toussaint Louverture nur beiläufig erwähnt.65 Ebenso prangert Bénot an, dass in der 1972 erschienenen Nouvelle Histoire de la France contemporaine die Abolition im zweiten, vom französischen Historiker Marc Bouloiseau verfassten Band verfälscht dargestellt wurde, indem sie als Grund für die Revolte der Schwarzen bezeichnet wurde.66 Der zweite und dritte Band, die von Michel Vovel-
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LEFEBVRE u. a., 1938, S. 180f. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 213f; GUÉRIN, 1946. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Kapitel 3.5.1. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 102. Vgl. SOBOUL, 1973, S. 488; BÉNOT, [1987] 2004, S. 214. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 215; BOULOISEAU, 1972, S. 256.
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le respektive Denis Woronoff geschrieben wurden, handelten hingegen teilweise die Kolonialfragen und die Haitianische Revolution ab.67 Zwar wurden im ersten Band der 1978 erschienenen Histoire de la France contemporaine den Kolonialfragen Platz eingeräumt sowie insbesondere die Haitianische Revolution und Toussaint angesprochen.68 Allerdings reduzierten die Historiker François Hincker und Claude Mazauric diese Thematik auf ein Mindestmaß und Bénot zufolge geht es ihnen nur darum, sich keine Auslassungen vorwerfen lassen zu müssen.69 Seit den 1980er Jahren gibt es allerdings einzelne Historiker wie u. a. Jean Tarrade, Yves Bénot, David Patrick Geggus, Louis SalaMolins, Michel-Rolph Trouillot sowie Sibylle Fischer, die damit begannen, das Schweigen bezüglich der Haitianischen Revolution und ihren Anführern in ihren Werken anzuprangern und zu durchbrechen.70 Jedoch scheint jene Kritik keine Auswirkungen auf die vom französischen Historiker Pierre Nora in drei Bänden (1984, 1986, 1992) veröffentlichten Lieux de mémoire gehabt zu haben, da in diesen keine kolonialen Erinnerungsorte thematisiert wurden. Dies ist jedoch kein Einzelfall. Insgesamt wurde anlässlich der 200-Jahrfeier der Französischen Revolution eine Vielzahl an historiografischen Werken veröffentlicht, in denen das Verschweigen von Kolonialfragen im Allgemeinen und der Haitianischen Revolution im Besonderen erneut praktiziert und dadurch noch zementiert wurde.71 Als Beispiele hierfür können das von François Furet und Mona Ozouf veröffentlichte Dictionnaire critique de la Révolution française (1988), die von Jean Tulard, Jean-François Fayard und Alfred Fierro geschriebene Histoire et dictionnaire de la Révolution (1789-1799) (1987) sowie das von Michel Vovelle herausgegebene Werk L’État de la France. Pendant la révolution: 1789-1799 (1988) angeführt werden.72 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die Geschichte der Haitianischen Revolution und ihres Anführers Toussaint in der französi-
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74
Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 215; VOVELLE, 1972; WORONOFF, 1972. Vgl. HINCKER/MAZAURIC, 1978, S. 372, 412. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 214f. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 102. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 102. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 174; FISCHER, [2004] 2005, S. 222.
Perzeptionsgeschichte
schen Historiografie noch heute weitgehend verschleiert wird.73 Zwar engagieren sich einige Historiker dafür, dass diese Geschichte wieder Teil der französischen Erinnerung wird, allerdings muss in der wissenschaftlichen Forschung und bei der Verbreitung des Wissens noch viel geleistet werden, wie Dorigny betont.74 Insbesondere muss auch gewährleistet werden, dass die Haitianische Revolution ihren Weg in die heutigen Schulbücher findet. Dorigny ist der Meinung, dass die Unabhängigkeit der schwarzen Republik den Ursprung der fracture coloniale75, die im Werk von Blanchard, Bancel und Lemaire ([2005] 2006) thematisiert wird und die die französische Gesellschaft noch heute prägt, darstellt.76 Dass sich Toussaint in Frankreich dennoch einer gewissen öffentlichen Bekanntheit erfreut – wenn auch die Kenntnisse oftmals sehr vage sind –,77 liegt vor allem an seiner Repräsentation in literarischen Werken. Denn wenn die Haitianische Revolution als auch der sogenannte ‚schwarze Spartakus‘ in der Historiografie zwar dem Vergessen anheimfielen, so bot sich ihnen durch die französische Literatur dennoch eine Möglichkeit, sich einen Weg ins Bewusstsein und ins kollektive Gedächtnis zu bahnen – wie im Hauptteil dieser Arbeit veranschaulicht wird.
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76 77
Vgl. CAUNA, 2009, S. 5. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 56f. Das Werk bietet keine genaue Definition für den Terminus fracture coloniale, sondern erläutert in der Einleitung, dass in den verschiedenen Aufsätzen des Sammelbandes dieses Konzept für verschiedene Realitäten verwendet wird. Vgl. BANCEL u. a., [2005] 2006, S. 13. Bancel gibt in einem Interview folgende Definition: „Der koloniale Bruch – das sind alle Spannungen, all das Ungesagte, manchmal sogar das, was die französische Gesellschaft verdrängt“. BANCEL, 2007. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 48. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 52.
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2. T HEORETI SCHE R AHMUNG
2.1 Gedächtni stheori en: Erinnern und Vergessen Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis begann in den 1920er Jahren mit den Arbeiten von Maurice Halbwachs und Aby Warburg und intensivierte sich ab den 1980er Jahren durch die Konzepte von Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann.1 Als zeitgeschichtliche Faktoren für den aktuellen Erinnerungsboom nennt Jan Assmann zum Ersten die Entwicklung elektronischer Medien, die über große Speicherkapazitäten verfügen und für eine „kulturelle Revolution“2 gesorgt haben. Zum Zweiten sieht er eine zunehmende Verbreitung der von George Steiner propagierten „Nach-Kultur“, die sich der eigenen, dem Ende näher rückenden kulturellen Tradition erinnert. Der dritte und entscheidende Faktor sei die Tatsache, dass die Generation der Zeitzeugen des Holocaust stirbt und die individuelle Erinnerung nun durch eine andere Art des Erinnerns ersetzt werden muss.3 Durch den Erinnerungsboom entstand die Problematik, dass der Begriff des kollektiven Gedächtnisses nunmehr sehr weit ausgelegt und für eine Vielzahl von verschiedenen Phänomenen verwendet wurde. Wie Erll aufzeigt, wurde der Terminus zu einem „Oberbegriff für alle denkbaren Relationen von Gedächtnis einerseits, sozialen und kulturellen Kontexten andererseits.“4 Daher wird im Folgenden der dieser Arbeit zugrunde 1 2 3 4
Vgl. ERLL, 2005, S. 13. ASSMANN, J., [1992] 2005, S. 11. Vgl. ASSMANN, J., [1992] 2005, S. 11. ERLL, 2004, S. 3, Fußnote 2.
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gelegte Begriff des kollektiven Gedächtnisses präzisiert, indem zunächst die verschiedenen grundlegenden Theorien vorgestellt werden. In den 1920er Jahren legte Maurice Halbwachs mit seinem Werk Les cadres sociaux de la mémoire (1925) und der posthum veröffentlichten Schrift La mémoire collective (1950) den Grundstein für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis. Er entwickelte sein Konzept in kritischer Auseinandersetzung mit Henri Bergson, dessen Modell er mit der Theorie des Kollektivbewusstseins von Émile Durkheim verband.5 Halbwachs ist der Auffassung, dass das Gedächtnis nie ein rein individuelles, sondern immer ein soziales Phänomen darstellt. Unter kollektivem Gedächtnis versteht er die sozialen Referenzrahmen, durch die die Erinnerung eines Individuums eine kollektive Prägung erfährt: „C’est en ce sens qu’il existerait une mémoire collective et des cadres sociaux de la mémoire, et c’est dans la mesure où notre pensée individuelle se replace dans ces cadres et participe à cette mémoire qu’elle serait capable de se souvenir.“6 Selbst die persönlichen Erinnerungen haben immer eine kollektive Dimension, denn ohne gesellschaftliche Rahmen ist laut Halbwachs eine Gedächtnisbildung gar nicht möglich.7 Die Erinnerung eines jeden Individuums wird durch die verschiedenen Gruppen, denen es angehört, beeinflusst.8 Als Beispiele führt Halbwachs die Familie, die soziale Schicht sowie die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft an.9 Diese Gruppen verfügen nicht selbst über ein Gedächtnis, sondern das Gruppengedächtnis zeigt sich immer im Individuum: „l’individu se souvient en se plaçant au point de vue du groupe, et que la mémoire du groupe se réalise et se manifeste dans les mémoires individuelles.“10 Jedes individuelle Gedächtnis bietet stets einen Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis: […] chaque mémoire individuelle est un point de vue sur la mémoire collective, que ce point de vue change suivant la place que j’y occupe,
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Vgl. SCHÖSSLER, 2006, S. 197. HALBWACHS, [1925] 1994, S. VI. Vgl. HALBWACHS, [1925] 1994, S. 79. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 25. Vgl. HALBWACHS, [1925] 1994, S. VIII. HALBWACHS, [1925] 1994, S. VIII.
Gedächtnistheorien et que cette place elle-même change suivant les relations que j’entretiens avec d’autres milieux.11
Die Gedächtnisse der Individuen unterscheiden sich nicht durch die Erinnerung selbst, sondern durch die spezifische Kombination der Zugehörigkeiten zu den verschiedenen Gruppen.12 Neben der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses hebt Halbwachs auch das rekonstruktive Verfahren des sozialen Gedächtnisses hervor. Das Vergangene muss in der Gegenwart rekonstruiert werden, damit eine Erinnerung stattfinden kann, wobei damit auch eine Selektion und Umgewichtung der Erinnerung einhergeht: „le souvenir est dans une très large mesure une reconstruction du passé à l’aide de données empruntées au présent, et préparée d’ailleurs par d’autres reconstructions faites à des époques antérieures et d’où l’image d’autrefois est sortie déjà bien altérée.“13 Von der Vergangenheit bleibt somit nur jenes bewahrt, „qu’à toute époque la société, travaillant sur ses cadres actuels, peut reconstruire.“14 Wenn die Bezugsrahmen sich allerdings umformen oder wegfallen bzw. die Person, durch die ein Ereignis präsent gehalten wird, nicht mehr der Gruppe zugehörig ist, dann verschwinden auch die Erinnerungen und fallen dem Vergessen anheim. Pethes macht deutlich, dass es sich hierbei um Vergessen als gezielte Strategie handelt, da das Vergessen als Kehrseite des „interessengesteuerten Selektionsprozess[es] von Erinnerungskonstruktionen“15 zutage tritt. Ferner setzt Halbwachs dem kollektiven Gedächtnis die Geschichte diametral entgegen. Geschichte beginnt Halbwachs zufolge, wenn die gelebte Erinnerung endet: „C’est qu’en général l’histoire ne commence qu’au point où finit la tradition, au moment où s’éteint ou se décompose la mémoire sociale.“16 Wie Große-Kracht es treffend formuliert, hat die Historiografie Halbwachs zufolge die Aufgabe, „dasjenige Terrain der Vergangenheit, das im ‚kollektiven Gedächtnis‘ […] als Brachland des Vergessens zurückgeblieben ist“17 zu bearbeiten. Die Geschichtsschrei11 12 13 14 15 16 17
HALBWACHS, [1950] 1997, S. 94f. Vgl. ERLL, 2005, S. 16; JÜNKE, 2012, S. 26. HALBWACHS, [1950] 1997, S. 118f. HALBWACHS, [1925] 1994, S. 296. PETHES, 2008, S. 57. HALBWACHS, [1950] 1997, S. 130. GROSSE-KRACHT, 1996, S. 24.
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bung bemühe sich um Unparteilichkeit, Objektivität und um Details, während das kollektive Gedächtnis parteiisch und subjektiv verfahre.18 Als weiteren Unterschied nennt Halbwachs das Bestehen von verschiedenen partikularen Gedächtnissen, während es nur eine universale Geschichte gebe.19 Rekurrierend auf Halbwachs setzte der französische Historiker Pierre Nora in den 1980er Jahren die theoretischen Überlegungen mit seinem Sammelband Les Lieux de mémoire (1984-1992) fort. Im Gegensatz zu Halbwachs versteht Nora Gedächtnis im metaphorischen Sinne. Er präsentiert in seinem Werk die Erinnerungen der Nation, die in kulturellen Objektivationen (z. B. Denkmalen, Bildern, Gebäuden) gespeichert sind und Identität stiften. Nora ist der Auffassung, dass kollektive Gedächtnisse nicht länger existieren und deshalb so häufig vom Gedächtnis gesprochen wird.20 Dort, wo aber das Gedächtnis vergeht, sieht Nora Erinnerungsorte im Entstehen: „Il y a des lieux de mémoire parce qu’il n’y a plus de milieux de mémoire.“21 Die lieux de mémoire dienen somit als Ersatz für die nicht mehr vorhandenen, kollektiven Gedächtnisse: Ce sont les rituels d’une société sans rituel; des sacralités passagères dans une société qui désacralise; des fidélités particulières dans une société qui rabote les particularismes; des différenciations de fait dans une société qui nivelle par principe; des signes de reconnaissance et d’appartenance de groupe dans une société qui tend à ne reconnaître que des individus égaux et identiques.22
Den Begriff lieu legt Nora sehr weit aus, sodass nicht nur Ortschaften (z. B. Alésia, Vézelay), sondern auch Symbole (z. B. Trikolore, Marseillaise), Bauwerke (z. B. Pantheon, Louvre) etc. in sein Werk aufgenommen wurden. Die lieux de mémoire haben im zweifachen Sinne einen ‚erfundenen‘ Charakter.23 Zum einen präsentieren sie das Gedächt-
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Vgl. HALBWACHS, [1950] 1997, S. 131, 136. Vgl. HALBWACHS, [1950] 1997, S. 135. Vgl. NORA, [1984] 1997, S. 23. NORA, [1984] 1997, S. 23. NORA, [1984] 1997, S. 29. Vgl. JÜNCKE, 2012, S. 28.
Gedächtnistheorien
nis einer imaginierten Gemeinschaft im Sinne Benedict Andersons24 und zum anderen verfügen sie über keinen Referenten in der Realität: „À la différence de tous les objets de l’histoire, les lieux de mémoire n’ont pas de référents dans la réalité. Ou plutôt ils sont à eux-mêmes leur propre référent, signes qui ne renvoient qu’à soi, signes à l’état pur.“25 Anknüpfend an Halbwachs sind die Begriffe Gedächtnis und Geschichte für Nora als Gegensätze zu verstehen, wie er in seiner Einführung „Entre mémoire et histoire“ zu Les Lieux de mémoire erläutert: La mémoire est la vie, toujours portée par des groupes vivants […]. L’histoire est la reconstruction toujours problématique et incomplète de ce qui n’est plus. La mémoire est un phénomène toujours actuel, un lien vécu au présent éternel; l’histoire, une représentation du passé. […] La mémoire installe le souvenir dans le sacré, l’histoire l’en débusque, elle prosaïse toujours.26
Nora zufolge müssen die Erinnerungsorte drei Voraussetzungen erfüllen, um auch als solche bezeichnet werden zu können: Sie müssen zugleich über eine materielle, funktionale und symbolische Dimension verfügen. Nora zeigt auf, dass ein Erinnerungsort mit einer vor allem materiellen Dimension wie Archive, Bücher oder Gemälde immer auch eine symbolische Aura besitzen muss. Schulbücher, Testamente, Erinnerungsorte mit ausgeprägter funktionaler Dimension, werden erst zu solchen, wenn sie auch eine symbolische, rituelle Bedeutung besitzen. Auch die Schweigeminute, ein sehr symbolisches Zeichen, hat eine materielle Dimension aufzuweisen, da sie ein Ausschnitt einer Zeiteinheit ist.27 Die drei Faktoren müssen immer vorhanden sein, können aber mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Eine weitere grundlegende Bedingung ist für Nora, dass der Wille besteht, etwas im Gedächtnis 24
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Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson bezeichnete in seinem 1983 erstmals veröffentlichten Werk Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism die Nation als imaginierte Gemeinschaft, da es selbst bei kleinsten Nationen unmöglich sei, dass sich alle Mitglieder kennen. Vgl. ANDERSON, [1983] 1991, S. 6. NORA, [1984] 1997, S. 42. NORA, [1984] 1997, S. 24f. Vgl. NORA, [1984] 1997, S. 37.
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festzuhalten: „Au départ, il faut qu’il y ait volonté de mémoire.“28 Andernfalls könnte beinahe jeder Gegenstand, dessen man sich entsinnt, zu einem Erinnerungsort werden. Jan Assmann schloss mit seinem Werk Das kulturelle Gedächtnis von 1992 direkt an die Überlegungen Halbwachs’ an, legte aber seiner Arbeit – wie auch Pierre Nora – einen metaphorischen Gedächtnisbegriff zugrunde und betrachtete die objektivierte Erinnerung des Kollektivs.29 Assmann differenziert den Begriff des kollektiven Gedächtnisses, indem er zwischen einem persönlichen, einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis unterscheidet. Das persönliche Gedächtnis erlischt mit dem Tod. Das mündlich-kommunikative Gedächtnis umfasst die Erinnerungen, die ein Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt, was bei drei miteinander interagierenden Generationen generell einem Zeithorizont von 80-100 Jahre entspricht. Dieses Gedächtnis dient vorrangig der Alltagskommunikation.30 Das kulturelle Gedächtnis, das im Fokus seiner Arbeit steht, umfasst einen noch größeren Zeitraum und existiert nicht nur in den sich erinnernden Personen, sondern auch in kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Bildern, Texten oder Denkmälern.31 Das kulturelle Gedächtnis, das durch das sogenannte floating gap vom kommunikativen Gedächtnis getrennt ist, stellt den Entwurf einer Vergangenheit dar, durch den sich die Gemeinschaft ihres Selbstbildes, ihrer Identität vergewissert. Die symbolischen Objektivationen sind Mittel, die stets einem Zweck dienen, der auf Sinnstiftung abzielt.32 Aleida Assmann zeigt auf, dass aufgrund der Entstehung der Schrift eine weitere Unterteilung des kulturellen Gedächtnisses notwendig ist: Sie unterscheidet zwischen Funktions- und Speichergedächtnis.33 Das Funktionsgedächtnis, das auch als bewohntes Gedächtnis oder Kanon bezeichnet wird, ist eine Konstruktion, die an ein Subjekt gebunden ist. Die Subjekte verfügen selektiv und bewusst über ihre Vergangenheit und konstituieren sich über das Funktionsgedächtnis. Subjekte können Individuen, aber auch Institutionen und Kollektive sein. Durch den kon28 29 30 31 32 33
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Nora, [1984] 1997, S. 37. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 30. Vgl. ASSMANN, J., 2005, S. 21. Vgl. ASSMANN, J., 2005, S. 21. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 31. Vgl. ASSMANN, J., 2005, S. 25.
Gedächtnistheorien
struktiven Akt entsteht Sinn und Identität wird fundiert.34 Das Speichergedächtnis, das sogenannte unbewohnte Gedächtnis oder Archiv, hingegen enthält die „amorphe Masse“.35 Es ist eine Aufbewahrung der Daten der Vergangenheit, aus denen das Funktionsgedächtnis auswählen kann; es schafft selbst keine Identität.36 Durch die Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis kann die Wandlungsmöglichkeit des kulturellen Gedächtnisses demonstriert werden. Bedeutsam ist, dass Aleida Assmann das Funktions- und Speichergedächtnis nicht als Gegensätze einstuft. Sie versucht durch die Darstellung dieser beiden Modi, die bei Halbwachs und Nora dargelegte binäre Opposition von Geschichte und Gedächtnis aufzulösen. Denn aufgrund des inzwischen bestehenden Konsenses darüber, dass es keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit leistet, lässt sich eine solche Opposition kaum mehr aufrechterhalten.37 Aleida Assmann fasst die zwei Gedächtnismodi als Vorder- und Hintergrund auf, wodurch sie das von ihr kritisierte Problem der binären Opposition umgeht.38 Die Verschränkung der zwei modi memorandi ist für beide Gedächtnisse wichtig: „So wie das Speichergedächtnis das Funktionsgedächtnis verifizieren, stützen oder korrigieren kann, kann das Funktionsgedächtnis das Speichergedächtnis orientieren und motivieren.“39 Insgesamt lässt sich festhalten, dass alle drei Konzepte von der Rekonstruktivität des Gedächtnisses ausgehen, was bedeutet, dass die Vergangenheitsaktualisierung stets im Hinblick auf die aktuellen Erfordernisse und Bedürfnisse einer Gesellschaft erfolgt.40 Daher wird im Hauptteil der Arbeit, der Analyse der verschiedenen ToussaintRenarrationen, ein kurzer Überblick über die historischen Entwicklungen der jeweiligen Epoche vorausgeschickt, sodass eine historisch kontextualisierende Untersuchung der Werke möglich ist. Ein Kritikpunkt an Halbwachs’ und Noras Konzept ist die strenge Trennung von Gedächtnis und Geschichte. Während diese binäre Oppo34 35 36 37 38 39 40
Vgl. ASSMANN/ASSMANN, 1994, S. 123. ASSMANN, A., 1999, S. 136. Vgl. ASSMANN/ASSMANN, 1994, S. 122f. Vgl. ASSMANN, A., 1999, S. 133f. Vgl. ASSMANN, A., 1999, S. 136. ASSMANN, A., 1999, S. 142. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 32.
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sition laut Erll bei Halbwachs aufgrund der Nichtbeachtung der memorialen Funktion im Historismus des 19. Jahrhunderts noch verständlich ist, ist sie bei Nora durch die entstandenen Diskussionen zur Konstrukthaftigkeit der Historiografie41 allerdings problematisch.42 Hinsichtlich des von Nora präsentierten Kollektivs der Nation und der von Jan und Aleida Assmann veranschaulichten Gemeinschaft einer Kultur ist auffällig, dass sie implizit ein weitgehend homogenes Kollektiv voraussetzen. Allerdings müssen Nationen und Kulturen als plural und heterogen betrachtet werden, da in ihnen verschiedene Gruppengedächtnisse existieren, die miteinander interagieren, konkurrieren und komplementär sind. Die Annahme eines homogenen Kollektivs führt zur Exklusion des Heterogenen, zur Ausschließung all der ‚Anderen‘.43 Eine solche Ausgrenzung wird in Noras Werk auch tatsächlich vorgenommen, indem die koloniale Vergangenheit Frankreichs ausgeblendet und koloniale Erinnerungsorte außer Acht gelassen werden. Dies bemängelt auch Hue Tam Ho Tai,44 die in ihrem Artikel kritisch äußert, dass die lieux de mémoire der in Frankreich lebenden Immigranten sowie der in den Überseegebieten lebenden Menschen keine Beachtung finden.45 Auch Saint-Domingue, die ehemals reichste Kolonie Frankreichs, die eine bedeutende Rolle für das Mutterland spielte, sowie die Haitianische Revolution, Toussaint Louverture oder die erste Abschaffung der Sklaverei bleiben in Noras Werk unbeachtet. Mit der Annahme eines homogenen Gebildes wird eine ideologische Dimension mitaufgenommen, die in den Theorien keine ausreichende Reflexion erfährt. Kollektive Erinnerung ist gemäß Nora, wie bereits erwähnt, stets mit dem Willen verbunden, etwas im Gedächtnis zu be41
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Hayden White mit seiner Schrift Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe und Paul Ricœur mit seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung lösten eine große Diskussion über die Theorie der Geschichtsschreibung aus. Sie zeigten auf, dass sich auch die Historiografie diskursiver Verfahren bedient, wenn sie durch Narrativierung kausale Zusammenhänge zwischen den Ereignissen konstruiert. Vgl. WHITE, 1973; RICŒUR, [1983] 1988, [1984] 1989, [1985] 2007. Vgl. ERLL, 2005, S. 25. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 34f. Tai bezieht sich zwar auf die englische Ausgabe, in der einige Aufsätze der französischen Ausgabe nicht enthalten sind, aber ihre Kritik ist ebenso für die französische Originalversion gültig. Vgl. TAI, 2001.
Gedächtnistheorien
halten.46 Die volonté de memoire ist an bestimmte Interessen gebunden und zur Durchsetzung der Interessen werden Differenzen, die ethnisch, geschlechtsspezifisch etc. sein können, nivelliert.47 Nicht nur Nora, sondern auch Jan und Aleida Assmann beziehen diese Differenziertheit und Heterogenität von Gemeinschaften zu wenig in ihre Konzepte ein, wie auch Friederike Eigler bemängelt: Die strukturelle Verstrickung von Macht und Wissen, wie sie in ideologiekritischen, postkolonialen und feministischen Diskursen eingehend untersucht worden ist, berücksichtigen Jan und Aleida Assmann in ihren zahlreichen Publikationen zum kulturellen Gedächtnis nur am Rande.48
Auf diese Problematik wird an dieser Stelle nicht genauer eingegangen, da dieser Aspekt in Kapitel 2.3 anhand der antikolonialen Theorien von Aimé Césaire, Frantz Fanon und Édouard Glissant und der postkolonialen Theorien von Edward W. Said und Homi K. Bhabha genauer beleuchtet wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Tatsache, dass Nora den Prozess des Vergessens ausblendet. In Bezug auf koloniale Erinnerungsorte sowie insbesondere auf die Haitianische Revolution und ihren Anführer Toussaint Louverture ist aber gerade dieses Vergessen von Bedeutung. Durch das lange Verschweigen Toussaints scheint erkenntlich, dass in Frankreich eine volonté de mémoire in Bezug auf Toussaint nicht vorhanden war. Allerdings scheint durch die begonnene Aufarbeitung des Kolonialismus ein Umdenken eingesetzt zu haben.49 Wenn man die Entwicklung der allmählichen Wiederaufnahme Toussaints ins kollektive Gedächtnis mit den beiden Erinnerungsmodi von Aleida Assmann zu erklären versucht, dann wäre Toussaint Louverture während der langen Zeit, in der seine Person verschwiegen wurde, Teil des Speichergedächtnisses gewesen und könnte gerade wieder seinen Weg zurück ins Funktionsgedächtnis gefunden haben, da das Speichergedächtnis als ein „Reservoir zukünftiger Funktionsge46 47 48 49
Vgl. NORA, [1984] 1997, S. 37. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 35. EIGLER, 2005, S. 47. Vgl. Kapitel 3.6.
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dächtnisse“50 dient. Es sorgt dafür, dass die Bedingung für einen kulturellen Wandel gegeben ist und das Funktionsgedächtnis ständig erneuert werden kann. Aleida Assmann und Claudia Jünke erkennen eine Tendenz darin, dass auch negative Referenzereignisse, d. h. traumatische und schmerzhafte Ereignisse, vermehrt zu Sujets erinnerungskultureller Forschungsprojekte werden.51 Während im Zeitalter der Nationen nur Ereignisse in der Geschichte selektiert wurden, die das positive Selbstbild zu festigen vermochten, und nationale Gedächtnisse ohne Berücksichtigung der Gedächtnisse anderer Staaten konstruiert wurden, werden die Selektionsmaßstäbe in der transnationalen Epoche des 21. Jahrhunderts einer Revision unterworfen.52 Für eine Hinwendung zu kolonialen Erinnerungsorten sorgte insbesondere der Beginn der Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit, die durch die Arbeiten von Césaire, Fanon, Glissant sowie Said und Bhabha angestoßen wurde.53
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ASSMANN, A., 1999, S. 140. Vgl. ASSMANN, A., 2008; Jünke, 2012, S. 37. Vgl. ASSMANN, A., 2008. Vgl. Kapitel 2.3.
Mythostheorien
2.2 M ythostheorien: M ythos als Erinnerungsmodus Der Begriff ‚Mythos‘ ist nur schwer zu definieren, da die Bedeutung weithin bekannt zu sein scheint, ein jeder aber oftmals etwas anderes darunter versteht.1 Diese Problematik spiegelt sich auch in der großen Vielfalt an theoretischen Beschreibungsversuchen wider. Burkert kommt daher zu dem Schluss, dass es eine allgemein anerkannte Definition des umfassenden Begriffs ‚Mythos‘ nicht gibt.2 Wodianka zielt auf eine präzisere Definition ab, indem sie nicht vom ‚Mythos‘, sondern vom ‚Mythischen‘ spricht: „Sinnvoller ist diese Verschiebung […] deshalb, weil die Akzentverschiebung zum adjektivischen und adverbialen Gebrauch des Begriffs der Einsicht Rechnung trägt, dass wir verschiedenste Dinge und Vorgänge mit ‚Mythos‘ in Verbindung bringen, die nicht ‚als Sache‘, sondern ‚als Art und Weise‘ Gemeinsamkeiten aufweisen.“3 Der Mythos wird somit nicht über seine Inhalte bestimmt, sondern es geht um den Mythos als einen „Modus des Erinnerns“.4 Statt des inhaltlichen Gegenstands stehen die verschiedenen Formen, Strategien und Verfahren der Mythisierung im Mittelpunkt. Dieses Konzept des Mythos als Verfahren bzw. Modus5 wird auch für diese Arbeit ge-
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Vgl. WODIANKA, 2006, S. 1. Vgl. BURKERT, 1993, S. 9. Da der sehr umfassende Mythos-Begriff über keine einheitliche Definition verfügt, haben Jan und Aleida Assmann die Unterscheidung mehrerer Hauptverwendungen der Mythos-Begriffe vorgeschlagen. Ihnen zufolge ist eine solche Differenzierung fruchtbarer, als die Definition eines Mythos-Begriffs, der immer zu eng sein wird. Vgl. ASSMANN/ASSMANN, 1988, S. 179. Sie unterscheiden zwischen folgenden sieben Mythos-Begriffen: einem polemischen Mythos-Begriff; einem historisch-kritischen Begriff; einem funktionalistischen Begriff; einem Alltags-Mythos; einem narrativen Mythos-Begriff; einem literarischen Mythos-Begriff sowie holistischen Weltentwürfen wie Hegels „Weltgeist“ oder Nietzsches „Ewige Wiederkehr“. Vgl. ASSMANN/ASSMANN, 1988, S. 179-181. WODIANKA, 2006, S. 2. WODIANKA, 2006, S. 2. Bereits Ernst Cassirer betrachtete in seinem 1925 erstmals veröffentlichten Werk Das Mythische Denken den Mythos als symbolische Form, die selbst eine Art des Bildens ist, und wendet sich gegen Theorien, die versuchen, den Mythos nur abzubilden. Vgl. CASSIRER, [1925] 2002, S. 18.
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wählt. Der Fokus liegt auf der Mythisierung der historischen Person Toussaint Louverture. Zwischen Mythos und kollektivem Gedächtnis gibt es viele Parallelen,6 denn sowohl kollektive Erinnerungen wie auch Prozesse der Mythisierung können „als gemeinschaftliche, identitätskonkrete, rekonstruktive und entnivellierende ‚Akte der Semiotisierung‘ (J. Assmann) betrachtet werden.“7 Ein Mythos kann innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Funktionen8 übernehmen, allerdings wird in dieser Arbeit die erinnerungskulturelle Funktion eines Mythos ins Zentrum gerückt. Den Zusammenhang zwischen dem Mythischen bzw. dem Mythos und dem kollektiven Gedächtnis machte bereits Jan Assmann in seinem Werk über das kulturelle Gedächtnis deutlich, indem er Mythos als eine Geschichte definiert, „die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.“9 Auch er geht von der Mythisierung als einem Verfahren10 aus, wenn er schreibt, dass „im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird.“11 Im Folgenden wird kurz auf die wichtigsten Mythostheorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingegangen, um insbesondere die Funktionsweise und die Funktionen des Mythos aufzuzeigen und diese
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Allerdings dürfen das kollektive Gedächtnis und der Mythos nicht als identisch angesehen werden, denn zum einen besteht das kollektive Gedächtnis nicht nur aus Mythen und zum anderen muss im Falle der Betrachtung des Mythos als Erinnerungsmodus unterschieden werden, dass es sich beim kollektiven Gedächtnis um Objekte handelt, während die Mythisierung als Strategie zur Produktion jener Objekte dient. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 56. JÜNKE, 2012, S. 56. Yves Bizeul unterscheidet beispielsweise fünf verschiedene Funktionen, die ein Mythos innerhalb einer Gesellschaft erfüllen kann. Vgl. BIZEUL, 2005, S. 31. ASSMANN, J., [1992] 2005, S. 76. „Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft.“ ASSMANN, J., [1992] 2005, S. 52. ASSMANN, J., [1992] 2005, S. 52.
Mythostheorien
Überlegungen für die Analyse des Toussaint-Mythos interpretatorisch fruchtbar zu machen. Roland Barthes, der zusammen mit Claude Lévi-Strauss zu den bedeutendsten Theoretikern der strukturalistischen Mythosdebatte zählt, definiert den Mythos in seinem 1957 veröffentlichten Werk Mythologies als Aussage-Form, als sekundäres semiologisches System:12 […] il y a dans le mythe deux systèmes sémiologiques, dont l’un est déboîté par rapport à l’autre: un système linguistique, la langue (ou les modes de représentation qui lui sont assimilés), que j’appellerai langage-objet, parce qu’il est le langage dont le mythe se saisit pour construire son propre système; et le mythe lui-même, que j’appellerai métalangage, parce qu’il est une seconde langue, dans laquelle on parle de la première.13 [Herv. i. O.]
Laut Barthes, der auch Mythen der Alltags- und Populärkultur berücksichtigt, kann alles zum Mythos werden, da der Mythos keine inhaltlichen Beschränkungen, sondern nur formale Grenzen kennt.14 Barthes betont die ideologische Dimension des Mythos, der durch seine semiologische Struktur eine naturalisierende Wirkung entfaltet und nicht als geschichtlich bedingt erscheint.15 Der Mythos lässt Geschichte als schon immer dagewesene Tatsache erscheinen, was dem französischen Philosophen zufolge das eigentliche Prinzip des Mythos ist: „il transforme l’histoire en nature.“16 Dadurch wird der Mythos auch entzeitlicht: „le temps ni le savoir ne lui ajouteront rien, ne lui enlèveront rien.“17 Allerdings gelten diese Wirkungen nur für diejenigen, die am Mythos teilhaben. Laut Barthes wird der Mythos subjektiv wahrgenommen und er unterscheidet drei verschiedene Arten des Lesens bzw. Entzifferns eines Mythos: Die erste Lesart ist jene der Instrumentalisierung bzw. Schöp12 13 14 15
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Vgl. BARTHES, [1957] 1981, S. 199. BARTHES, [1957] 1981, S. 200. Vgl. BARTHES, [1957] 1981, S. 193f. Entsprechend der Gegenüberstellung von Gedächtnis und Geschichte bei Halbwachs und Nora, sieht Barthes Geschichte als Gegenbegriff zu Mythos. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 58. BARTHES, [1957] 1981, S. 215. BARTHES, [1957] 1981, S. 217.
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fung durch den Erzeuger von Mythen. Dieser Erzeuger wählt ein Symbol für ein vorhandenes Konzept und stellt sich somit auf ein leeres Bedeutendes ein.18 Die zweite Lesart ist die wissenschaftliche Beschreibung durch den Mythologen. Dieser Leser stellt sich auf ein erfülltes Bedeutendes ein; er entziffert das Zusammenspiel von Form und Konzept und entmystifiziert den Mythos.19 Wie Wodianka aufzeigt, verweist diese zweite Art der Mythos-Lektüre auf ein Phänomen, das sie „Metamythos“ nennt.20 Als metamythische Renarrationen werden jene Mythoserzählungen bezeichnet, die den Mythos in seinem Funktionieren, in seiner Struktur sowie in seiner erinnerungskulturellen Funktion dechiffrieren21 – eine Herangehensweise, die einige Autoren zu Beginn des 21. Jahrhunderts für den Toussaint-Mythos wählten.22 Durch die metamythische Renarration entziffert der Rezipient den Mythos und hat, wie auch der Mythologe, nicht mehr an ihm teil. Allerdings wird der Mythos damit nicht vergessen gemacht bzw. zu Ende gebracht,23 sondern vielmehr erhält der Rezipient dadurch die Möglichkeit einer multiperspektivischen Mythoslektüre, da ihm alle drei Lesarten nach Barthes offenstehen und er zwischen den Lektürearten hin- und hergerissen wird.24 Die beiden ersten Lesarten zerstören den Mythos, indem sie seine Intention enthüllen bzw. ihn demaskieren.25 Die dritte Lesart ist schließlich diejenige des Verbrauchers des Mythos. Dieser Leser hat am Mythos teil, da er den Mythos als unentwirrbares Ganzes von Form und Sinn betrachtet und den Mythos weder entziffert noch hinterfragt: „le lecteur vit le mythe à la façon d’une histoire à la fois vraie et irréelle.“26
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Vgl. BARTHES, [1957] 1981, S. 214. Vgl. BARTHES, [1957] 1981, S. 214. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 226. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 227; WODIANKA, 2005b, S. 38. Vgl. Kapitel 3.6.1. Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg spricht von der Finalität und dem Zuendebringen des Mythos. Für ihn bedeutet, den Mythos zu Ende zu bringen, „seine Bedeutsamkeit – oder wie immer man sein Wirkungspotential nennen mag – nicht nur zu erneuern, nicht nur zu akkumulieren und zu steigern, sondern rein darzustellen.“ BLUMENBERG, 1971, S. 31. Vgl. hierzu auch BLUMENBERG, 1979, S. 291-326. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 227-229. Vgl. BARTHES, [1957] 1981, S. 214. BARTHES, [1957] 1981, S. 215.
Mythostheorien
Aufgrund der naturalisierenden Wirkung des Mythos, also durch die Überführung von „zeitlich-menschliche[r] Geschichte in überzeitlichgegebene ›Natur‹“,27 reduziert der Mythos Komplexität und unterdrückt Widersprüche: En passant de l’histoire à la nature, le mythe fait une économie: il abolit la complexité des actes humains, leur donne la simplicité des essences, il supprime toute dialectique, toute remontée au-delà du visible immédiat, il organise un monde sans contradictions parce que sans profondeur, un monde étalé dans l’évidence, il fonde une clarté heureuse: les choses ont l’air de signifier toutes seules.28
Neben dem Funktionieren des Mythos erklärt Barthes auch die Funktionen sowie die Funktionalisierbarkeit eines Mythos: „le mythe a pour charge de fonder une intention historique en nature, une contingence en éternité.“29 Wie Wodianka herausstellt, ist es genau dieses Zusammenspiel zwischen der Aufhebung von Widersprüchen und der naturalisierenden, entzeitlichenden Wirkung, das den Mythos für die Konstruktion kollektiver Identität so bedeutsam macht.30 In seinem Werk Anthropologie structurale von 1958 führte der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss die strukturalistische Debatte um den Mythos insbesondere im Kapitel „La structure des mythes“ weiter. Lévi-Strauss geht es darum, die Struktur der Mythen, die den Mythen zu allen Zeiten zugrunde liegt, herauszuarbeiten. Er geht wie Barthes davon aus, dass der Mythos über eine überzeitliche und enthistorisierende Dimension verfügt.31 In Anlehnung an das Saussuresche Sprachmodell ist Lévi-Strauss der Auffassung, dass der Mythos, wie jedes andere Sprachgebilde, aus konstitutiven Einheiten besteht, die er Mytheme nennt.32 Diese Mytheme sind Beziehungsbündel,33 die für die Rekonfiguration des Mythos aus dem Mytheminventar 27 28 29 30 31 32 33
WODIANKA, 2005a, S. 222. BARTHES, [1957] 1981, S. 231. BARTHES, [1957] 1981, S. 229. Vgl. WODIANKA, 2005b, S. 40. Vgl. LÉVI-STRAUSS, [1958] 1974, S. 231. Vgl. LÉVI-STRAUSS, [1958] 1974, S. 233. Für Lévi-Strauss, der in seinem Werk den Ödipus-Mythos untersucht, sind beispielsweise die Überschätzung (Ödipus heiratet seine Mutter) und Unterschätzung (Ödipus tötet seinen Vater) der Blutsverwandtschaft als
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ausgewählt und narrativ miteinander verknüpft werden, wodurch sie ihre besondere Bedeutungsfunktion erlangen:34 Nous posons, en effet, que les véritables unités constitutives du mythe ne sont pas les relations isolées, mais des paquets de relations, et que c’est seulement sous forme de combinaisons de tels paquets que les unités constitutives acquièrent une fonction signifiante. Des relations qui proviennent du même paquet peuvent apparaître à intervalles éloignés, quand on se place à un point de vue diachronique, mais, si nous parvenons à les rétablir dans leur groupement ‹naturel›, nous réussissons du même coup à organiser le mythe en fonction d’un système de référence temporel d’un nouveau type […].35 [Herv. i. O.]
Laut Lévi-Strauss lassen sich die Mytheme bei jeder Aktualisierung des Mythos neu und verschieden anordnen. Diesen Prozess des Mythenmachens bezeichnet er als bricolage.36 Diese entstehende mythische Rekonfiguration des Mythos, die Lévi-Strauss mit einer Orchesterpartitur vergleicht, umfasst sowohl eine synchrone als auch eine diachrone Dimension.37 Lévi-Strauss betont, dass das Mytheminventar alle Fassungen des Mythos umschließt, wodurch es diachronisch offen ist.38 Wodianka sieht das Mythosmodell von Lévi-Strauss im Gegensatz zu Paul
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Beziehungsbündel zu betrachten. Wodianka nennt als Mytheme für den Jeanne-d’Arc-Mythos u. a. ihren Analphabetismus, ihren Tod auf dem Scheiterhaufen sowie ihre spätere Heiligsprechung. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 217; WODIANKA, 2005b, S. 43. Im Falle des Toussaint-Mythos können beispielsweise seine königliche Abstammung oder sein Tod im französischen Gefängnis Fort de Joux als Mythem betrachtet werden. Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. WODIANKA, 2005b, S. 41. LÉVI-STRAUSS, [1958] 1974, S. 233f. Claude Lévi-Strauss vergleicht das mythische Denken mit der Bastelei: „Or, le propre de la pensée mythique est de s’exprimer à l’aide d’un répertoire dont la composition est hétéroclite et qui, bien qu’étendu, reste tout de même limité; pourtant, il faut qu’elle s’en serve, quelle que soit la tâche qu’elle s’assigne, car elle n’a rien d’autre sous la main. Elle apparaît ainsi comme une sorte de bricolage intellectuel, ce qui explique les relations qu’on observe entre les deux.“ LÉVI-STRAUSS, 1962, S. 26. Vgl. LÉVI-STRAUSS, [1958] 1974, S. 234. Vgl. LÉVI-STRAUSS, [1958] 1974, S. 240, 242.
Mythostheorien
Ricœur39 daher nicht als statisch an, sondern bekräftigt die Dynamik des Modells, die sie insbesondere im Systemcharakter des Modells begründet sieht.40 Sie veranschaulicht, dass die Systemelemente doppelt semantisiert sind und zwar einerseits durch die Verknüpfung der Mytheme untereinander und andererseits durch ihre Verbindung zum ganzen Mytheminventar. Zum einen kann sich die Bedeutung eines Mythems verändern, je nachdem, welche anderen Mytheme zudem ausgewählt werden und in welche Verbindung es zu ihnen tritt.41 Die Mytheme können durch die narrative Verknüpfung aus einstigen Zusammenhängen gelöst werden, neue Bedeutungsfunktionen erhalten und für neue Erinnerungsintentionen eingesetzt werden.42 Zum anderen können auch diejenigen Mytheme, die in einer Renarration nicht aufgenommen werden und nicht aktiviert sind, die Semantik der ausgewählten Mytheme beeinflussen. Auch ihr Weglassen kann von Relevanz sein bzw. die Bedeutung der selektierten Mytheme erweitern.43 In dieser Arbeit steht nun die Mythisierung der historischen Person44 Toussaint Louverture im Mittelpunkt. Es ist nicht das Ziel, die hinter dem Toussaint-Mythos liegende geschichtliche Wahrheit zu ermitteln, sondern stattdessen sollen die zahlreichen unterschiedlichen Repräsentationen und Transformationen der historischen Figur in den verschiedenen Epochen herausgearbeitet werden. Dies erfolgt in An39
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Paul Ricœur kritisiert beim Strukturalismus „jede […] Art von statischer Struktur, von zeitlosen Paradigmen, von überzeitlichen Invarianten.“ RICŒUR, [1983] 1988, S. 57. Ferner verweist er darauf, dass bei LéviStrauss „die anekdotenhafte Entfaltung des Mythos […] zugunsten eines kombinatorischen Gesetzes aufgehoben [wird], das nicht etwa zeitgebundene Sätze miteinander verbindet, sondern was der Verfasser Beziehungsbündel nennt“. RICŒUR, [1984] 1989, S. 56, Fußnote 6. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 216f. Beim Toussaint-Mythos kann der Übertritt Toussaints auf die französische Seite unterschiedlich gedeutet werden, abhängig davon, ob die Abolition der Sklaverei vor oder nach diesem Ereignis erzählt wird. Vgl. WODIANKA, 2005a, S. 217. Durch das Nichterzählen des Wechsels Toussaints zu den Spaniern kann beispielsweise seine Zugehörigkeit zu Frankreich stärker hervorgehoben werden. Vgl. zur Relevanz des Nichterscheinens von Mythemen WODIANKA, 2005a, S. 218. Wulf Wülfing verweist hinsichtlich der Mythisierung von historischen Figuren ebenfalls auf das diskursive Verfahren, bei dem den Aktanten, wie er die Figuren der Geschichte bezeichnet, Mytheme zugesprochen werden. Vgl. WÜLFING, 1997, S. 159.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
lehnung an das von Lévi-Strauss angeregte und von Wodianka erweiterte Mythosmodell. Die Selektion und Verknüpfung der verschiedenen Mytheme, die sich jeweils neu und unterschiedlich anordnen lassen, wird in den Renarrationen offengelegt, um somit die Funktionalisierung Toussaint Louvertures zu verdeutlichen. Insbesondere bei der Analyse von Werken aus dem 21. Jahrhundert wird auch auf Barthes’ Lektüremodi sowie auf Wodiankas Überlegungen zum Metamythos zurückgegriffen. Die Vieldeutigkeit des haitianischen Sklavenführers wird durch die stete Aktualisierung bzw. Neu- und Umdeutung seiner Geschichte und seine unterschiedliche Instrumentalisierung deutlich. Da die Vergangenheitsaktualisierung jeweils in Bezug auf die Gegenwart und die aktuellen Bedürfnisse der Gesellschaft erfolgt, werden mithilfe des historischen Kontexts der Entstehungszeit der Renarrationen mögliche Gründe für die Umdeutungen des Mythos vorgestellt.
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Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
2.3 Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen Ab den 1950er Jahren entstanden die sehr einflussreichen antikolonialen Werke von Aimé Césaire, Frantz Fanon und Édouard Glissant. Auffallend ist, dass alle drei Autoren aus der ehemaligen Kolonie und dem heutigen Überseedépartement Martinique stammten und die Haitianische Revolution, die daraus resultierende Unabhängigkeit sowie Toussaint Louverture, dem Césaire und Glissant auch literarische Werke widmeten1, eine sehr wichtige Rolle für sie spielten. Im Jahr 1950 verfasste der Schriftsteller Aimé Césaire seinen Discours sur le colonialisme und stieß damit die modernen Kolonialismusdebatten an. Er prangert darin die westliche Zivilisation an, die nicht in der Lage sei, ihre beiden größten Probleme zu lösen: das koloniale Problem und das Problem des Proletariats.2 Sein Werk ist ein Plädoyer für die völlige Emanzipierung der kolonisierten Völker.3 Er kritisiert die Negierung der kolonialen Verbrechen sowie die Verharmlosung der Kolonialisierung als zivilisatorisches Projekt Europas und macht den unendlichen Unterschied zwischen Kolonisation und Zivilisation deutlich.4 Césaire führt an, dass die Kolonisierung zur Entmenschlichung führt, indem sich der Kolonisator durch die Behandlung der Kolonisierten wie Tiere selbst in ein Tier verwandelt: que la colonisation […] déshumanise l’homme même le plus civilisé; que l’action coloniale, l’entreprise coloniale, la conquête coloniale, fondée sur le mépris de l’homme indigène et justifiée par ce mépris, tend
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Césaire setzte sich im historischen Essay Toussaint Louverture: la Révolution française et le problème colonial mit dem haitianischen Freiheitskämpfer auseinander, in dem Toussaint als Vorreiter im Kampf gegen die Sklaverei und als Gründer der ersten schwarzen Nation funktionalisiert wird. Glissant befasste sich insbesondere im Theaterstück Monsieur Toussaint mit dem Anführer der Haitianischen Revolution, den er als ambige Persönlichkeit präsentiert. Beide Werke werden im Hauptteil dieser Arbeit genauer analysiert. Vgl. Kapitel 3.5.1 und 3.5.2. Vgl. CÉSAIRE, [1950] 2004, S. 7. Vgl. KAFALO/YÉO, 2007, S. 4. Vgl. CÉSAIRE, [1950] 2004, S. 10.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos inévitablement à modifier celui qui l’entreprend; que le colonisateur, qui, pour se donner bonne conscience, s’habitue à voir dans l’autre la bête, s’entraîne à le traiter en bête, tend objectivement à se transformer lui-même en bête.5 [Herv. i. O.]
Die animalisierende Betrachtungsweise der Kolonisierten wird partiell auch in der Literatur über Toussaint sichtbar.6 Da zwischen Kolonisator und Kolonisiertem laut Césaire kein menschlicher Kontakt, sondern ein Verhältnis von Macht und Unterwerfung herrscht, stellt er die Kolonisierung mit der Verdinglichung des Subjekts gleich.7 Die Verteidigung der Kolonisation als Fortschritt weist er zurück und betont, dass Afrika vor der Kolonialisierung sehr wohl eine Kultur und Geschichte hatte.8 Während Césaire in seiner Funktion als Politiker die 1946 per Gesetz festgelegte Departementalisierung Martiniques9 noch befürwortete, desillusionierte ihn das Ausbleiben der erhofften Gleichstellung als Bürger der französischen Republik und schürte seine Angst vor dem Neokolonialismus, die in seinen Werken Discours sur le colonialisme und Toussaint Louverture: la Révolution française et le problème colonial zum Ausdruck kommt.10 Césaire ist der Auffassung, dass Martinique zwar nicht unabhängig ist, aber durchaus über ein „droit à l’indépendance“11 [Herv. i. O.] verfügt. Haiti, das seine Unabhängigkeit schon 1804 erreicht hat, die Haitianische Revolution sowie Toussaint Louverture sind für Césaire von großer Bedeutung, wie in einem Interview mit René Depestre deutlich wird:
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CÉSAIRE, [1950] 2004, S. 21. Vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.3.1. Vgl. CÉSAIRE, [1950] 2004, S. 23. Vgl. CÉSAIRE, [1950] 2004, S. 35-37. Césaire verweist auf den deutschen Ethnologen Leo Frobenius, der bereits 1933 der Aussage Hegels – Afrika habe „eigentlich keine Geschichte“ (HEGEL, [1837] 1994, S. 234) – widersprach und Afrika „Kultur bis in die Knochen“ (FROBENIUS, 1933, S. 13) bestätigte sowie die „Vorstellung vom ‚barbarischen Neger‘“ (FROBENIUS, 1933, S. 13) als eine Schöpfung Europas bezeichnete. Vgl. FROBENIUS, 1933, S. 13f. Die Departementalisierung Martiniques wird in Kapitel 3.5 genauer ausgeführt. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 333-336; Kapitel 3.5. CÉSAIRE/VERGÈS, 2005, S. 33.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen I adore Martinique, but it is an alienated land, while Haiti stood in my mind for the heroic Caribbean, and also the African Caribbean. I connect the Caribbean with Africa; and Haiti, the most African island in the Caribbean, is at the same time a country with a remarkable history. The first black epic of the New World was written by Haitians, by people like Toussaint Louverture, Christophe, Dessalines, etc. In Martinique, little is known about Haiti. I am one of the few Martiniquans who know and love Haiti.12
Bereits mit der von ihm in den 1930er Jahren gegründeten literarischen und politischen Négritude-Bewegung tritt Césaire der Behauptung der Kulturlosigkeit Afrikas13 entgegen und spricht sich für die kulturelle Selbstbehauptung aller Menschen aus. In seinem Discours sur la Négritude definiert er diese Strömung, die er als Revolte gegen den europäischen Reduktionismus ansieht, als „prise de conscience de la différence, comme mémoire, comme fidélité et comme solidarité“14 sowie als „recherche de notre identité, affirmation de notre droit à la différence, sommation faite à tous d’une reconnaissance de ce droit et du respect de notre personnalité communautaire.“15 Erst durch die Négritude hätten die Menschen afrikanischer Herkunft zu sich selbst und zu ihrer eigenen Vergangenheit gefunden und zwar mittels Kunst und Poesie.16 Jean-Paul Sartre, der die Négritude als „un racisme antiraciste“17 bezeichnete, sieht sie als Antithese an, die in einer Synthese in der Zukunft überwunden werden kann.18 Diese Überwindung vollzog sich schließlich durch Césaires Schüler Fanon und Glissant, die sich von der Négritude-Bewegung abwandten. Der Psychiater und antikoloniale Widerstandskämpfer Frantz Fanon zeigt in seinem Werk Peau noir, masques blancs aus dem Jahre 1952 auf, dass es aus seiner Sicht für die Schwarzen nur eine Lösung gibt: den Kampf. Im Kapitel „Le Négre et la reconnaissance“ bezieht er sich auf die Herr-Knecht-Dialektik Hegels, aus der hervorgeht, dass „ein 12 13 14 15 16 17 18
DEPESTRE, 1971, S. 77. Siehe Anm. 8 in Kapitel 2.3. CÉSAIRE, [1987] 2004, S. 83. CÉSAIRE, [1987] 2004, S. 89. Vgl. CÉSAIRE, [1987] 2004, S. 85. SARTRE, [1948] 2011, S. XL. Vgl. LUDWIG/RÖSEBERG, 2010, S. 13; SARTRE, [1948] 2011, S. XLI.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
einseitiges und ungleiches Anerkennen“19 nicht ausreicht, sondern eine beiderseitige Anerkennung notwendig ist.20 Fanon sieht das antillanische Problem in der Tatsache begründet, dass die Umwälzung von außen zu den Schwarzen kam und die ehemaligen Sklaven von ihren Besitzern kampflos anerkannt wurden.21 Die Schwarzen hätten nicht um die Freiheit gekämpft und würden daher ihren Preis nicht kennen, sondern sie seien den Weißen dankbar, dass sie die Freiheit geschenkt bekamen.22 Solange keine Selbstbefreiung der Schwarzen erfolge, würden sie die Weißen weiterhin nachahmen.23 Haiti stellt in diesem Hinblick eine Ausnahme dar, wie auch Fanon in seinem Werk explizit hervorhebt: „Je suis un homme, et c’est tout le passé du monde que j’ai à reprendre. Je ne suis pas seulement responsable de la révolte de SaintDomingue.“24 Fanon warnt davor, aus der Vergangenheit der Schwarzen die eigene ursprüngliche Berufung abzuleiten. Er spricht sich gegen die Négritude-Bewegung aus, die sich zu sehr der Vergangenheit zuwendet: „En aucune façon je ne dois m’attacher à faire revivre une civilisation nègre injustement méconnue. Je ne me fais l’homme d’aucun passé. Je ne veux pas chanter le passé aux dépens de mon présent et de mon avenir.“25 Ebenso ruft er in seinem 1961 erschienenen Werk Les damnés de la terre zum bewaffneten Kampf gegen den Kolonialismus auf und veranschaulicht, dass nicht nur die Arbeitskraft der Kolonisierten ausgebeutet wird, sondern die Kolonisierten auch in ihrer Subjektivität entwertet werden.26 Der französische Philosoph Édouard Glissant, den Ralph Ludwig treffend als „antillanischen Vordenker der heutigen MultikulturalismusDebatte“27 bezeichnete, ging mit seinem in den 1960er Jahren gegründeten Konzept der Antillanité über die Négritude-Bewegung von Césaire hinaus.28 Der einstige Schüler Césaires strebte eine kulturelle und politische Einheit der Antillen an. „L’antillanité […] nous arrache 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
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HEGEL, [1806] 1832, S. 147. Vgl. HEGEL, [1806] 1832, S. 147; FANON, [1952] 1975, S. 175f. Vgl. FANON, [1952] 1975, S. 176-178. Vgl. FANON, [1952] 1975, S. 178. Vgl. FANON, [1952] 1975, S. 178; ZAHAR, 1969, S. 29. FANON, [1952] 1975, S. 183. FANON, [1952] 1975, S. 183. Vgl. FANON, [1961] 1968; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 16f. LUDWIG, 2008, S. 124. Vgl. LUDWIG, 2008, S. 115.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
de l’intolérable propre aux nationalismes nécessaires et nous introduit à la Relation qui aujourd’hui les tempère sans les aliéner.“29 Im Gegensatz zu Césaire lehnte Glissant die loi de départementalisation von 1946 ab, da er das Gesetz als Versuch ansah, die französischen Inseln vom karibischen Verbund zu trennen.30 Die Antillanität und somit das Bekenntnis zur Unabhängigkeit Martiniques von Frankreich kommt in seinen verschiedenen Romanen zum Ausdruck.31 Wie für Césaire und Fanon spielte Haiti auch für Glissant eine wichtige Rolle, insbesondere in seinem 1981 erschienenen Discours antillais.32 Den antillanischen Autoren wurde, wie Glissant in diesem Werk herausstellt, aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit Toussaint Louverture unter anderem durch ein 1979 veröffentlichtes Pamphlet ein sogenannter ‚ToussaintKomplex‘ unterstellt, mit dem eine Abhängigkeit der französischen Überseegebiete von Helden anderer bezeichnet wird, um das Fehlen eigener Helden auszugleichen.33 Glissant rechtfertigt die Beschäftigung mit dem haitianischen Helden mit der Begründung, dass Toussaint Teil des kollektiven antillanischen Bewusstseins sei und ein historisches Phänomen darstelle, das für die gesamten Antillen von Bedeutung sei.34 Ein Hauptanliegen Glissants in diesem Werk ist das Sich-Aneignen der Geschichte, da er die Antillen mit dem Problem der ausgelöschten Erinnerung (mémoire raturée) konfrontiert sieht.35 Glissant problematisiert den Begriff der Histoire, die er als ein Instrument des Westens betrachtet, das andere Formen der Vergangenheitserinnerung unterdrückt, und die nur den europäischen Völkern vorbehalten sei: L’Histoire est un fantasme fortement opératoire de l’Occident, contemporain précisément du temps où il était seul à ‹faire› l’histoire du monde. Si Hegel a rejeté les peuples africains dans l’anhistorique, les peuples amérindiens dans le pré-historique, pour réserver l’Histoire aux seuls peuples européens, il semble que ce n’est pas parce que ces peuples africains ou américains ‹sont entrés dans l’Histoire› qu’on peut 29 30 31 32 33 34 35
GLISSANT, [1981] 1997, S. 426. Vgl. LUDWIG, 2008, S. 116; RADFORD, 1982, S. 18. Vgl. LUDWIG, 2008, S. 118. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 331. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 231f. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 233f. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 223f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos penser aujourd’hui qu’une telle conception hiérarchisée de la ‹marche à l’Histoire› est caduque.36
Da die historische Erinnerung der Antillen ausgelöscht wurde, sieht es Glissant als Aufgabe der antillanischen Schriftsteller, diese Erinnerung wieder ans Licht zu bringen: „Parce que la mémoire historique fut trop souvent raturée, l’écrivain antillais doit ‹fouiller› cette mémoire, à partir de traces parfois latentes qu’il a repérées dans le réel.“37 Während der dynamische Begriff der créolisation im Discours antillais noch eher linguistisch und unscharf verwendet wurde,38 steht er in Glissants Werk Traité du Tout-Monde im Mittelpunkt: „J’appelle créolisation la rencontre, l’interférence, le choc, les harmonies et les disharmonies entre les cultures, dans la totalité réalisée du monde-terre.“39 Er plädiert für die Kreolisierung40 als universelles Phänomen: „Ma proposition est qu’aujourd’hui le monde entier s’archipélise et se créo-
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GLISSANT, [1981] 1997, S. 227. GLISSANT, [1981] 1997, S. 227f. Vgl. LUDWIG, 2010, S. 94, Fußnote 3. GLISSANT, 1997, S. 194. Bewusst wählt Glissant den Begriff der créolisation und nicht jenen der métissage, da ihm zufolge die Unvorhersehbarkeit des Ergebnisses von Kreolisierungsprozessen einen wichtigen Unterschied zum métissage darstellt: „Et pourquoi la créolisation et pas le métissage? Parce que la créolisation est imprévisible alors que l’on pourrait calculer les effets d’un métissage. On peut calculer les effets d’un métissage de plantes par boutures ou d’animaux par croisements, on peut calculer que des pois rouges et des pois blancs mélangés par greffe vous donneront à telle génération ceci, à telle génération cela. Mais la créolisation, c’est le métissage avec une valeur ajoutée qui est l’imprévisibilité.“ GLISSANT, 1996, S. 18f. Glissant geht somit nicht mehr von einem interkulturellen Modell aus, bei dem sich verschiedene Kulturen gegenüberstehen, sondern sein Ansatz ist „ein genuin transkultureller, der intra- und intergemeinschaftliche kulturelle Berührungen und Mischungen in wechselnder Form zur Grundlage seines kulturphilosophischen Modells nimmt.“ FEBEL, 2010, S. 59. Den insbesondere durch Homi Bhabha prominent gewordenen Terminus der Hybridisierung greift Glissant in seinem 2009 veröffentlichten Werk Philosophie de la relation auf, wobei er wiederum die Dynamik der Kreolisierungsprozesse und den damit verbundenen Unterschied zum métissage betont (vgl. LUDWIG, 2010, S. 96): „la créolisation n’est ni l’évidence de cette hybridation seulement, ni le melting-pot, ni la mécanique des multiculturalismes. C’est processus, et non pas fixité.“ GLISSANT, 2009, S. 64.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
lise“.41 Glissant ist der Meinung, dass die Selbstbestimmung der Gesellschaft nicht auf einer identité-racine begründet sein darf, weil damit die Vorstellung des Hierarchischen verbunden ist.42 Auf Gilles Deleuze und Félix Guattari rekurrierend schlägt er daher eine identité-relation bzw. identité-rhizome vor. Die Gesellschaft soll sich nicht über ethnische Beziehungen, sondern über die Vielfalt der Beziehungen definieren.43 Der antikoloniale Diskurs wurde durch die Postcolonial Studies auf modifizierte Art und Weise weitergeführt.44 Allerdings wird den führenden Vertretern der postkolonialen Theorien, Edward W. Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak,45 bisweilen vorgeworfen, die vorgestellten theoretischen Schriften46 nicht ausreichend rezipiert zu haben, wobei Bhabha in Bezug auf Fanon eine Ausnahme bildet.47 Die Theorien der frankokaribischen Autoren sind jedoch von fundamentaler Bedeutung und in dieser Arbeit insbesondere für die Analyse der
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GLISSANT, 1997, S. 194. Vgl. GLISSANT, 1997, S. 21; GLISSANT, 1990, S. 157f; LUDWIG, 2008, S. 121. Vgl. GLISSANT, 1997, S. 21; GLISSANT, 1990, S. 158. Vgl. LÜTZELER, 1998, S. 12f. Diese drei Theoretiker werden auch als Holy Trinity der postkolonialen Theorien bezeichnet. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 25. Auch in Lateinamerika erschienene Werke, wie beispielsweise Néstor García Canclinis Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (1990), wurden kaum wahrgenommen. García Canclini sieht Synkretismus, Kreolisierung und mestizaje als Formen der Hybridisierung an, wobei sich Synkretismus insbesondere auf die Vermischung von Religionen (in Haiti zwischen der katholischen Religion und dem Voodoo-Glauben), Kreolisierung auf die Vermischung von Sprache und Kultur im Kontext der Sklaverei und mestizaje auf die Vermischung im biologischen und kulturellen Sinne bezieht. Daher schlägt er vor, den allgemeineren Begriff Hybridisierung zu verwenden, um die modernen und postmodernen soziokulturellen Prozesse zu beschreiben. Vgl. GARCÍA CANCLINI, [2005] 2008, S. xxxii-xxxiv. Wie auch Glissant, hebt García Canclini die Dynamik der Prozesse hervor, weshalb er auch von Hybridisierung und nicht von Hybridität spricht. Vgl. GARCÍA CANCLINI, [2005] 2008, S. xxvii. Seine Definition von Hybridisierung lautet: „I understand for hybridization socio-cultural processes in which discrete structures or practices, previously existing in separate form, are combined to generate new structures, objects, and practices.“ GARCÍA CANCLINI, [2005] 2008, S. xxv. [Herv. i. O.] Vgl. LUDWIG/RÖSEBERG, 2010, S. 14.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Toussaint-Renarrationen Césaires und Glissants von besonderer Relevanz.48 Auffällig ist, dass die wichtigsten Theorien der Postcolonial Studies von Akademikern aus ehemaligen Kolonialländern entwickelt wurden, die in den USA lehren.49 Der Terminus ‚postkolonial‘ darf nicht chronologisch, im Sinne von nach der Kolonisation, verstanden werden, denn es wird – wie Ashcroft, Griffiths und Tiffin aufzeigen – von der Gleichzeitigkeit des Kolonialismus und Postkolonialismus ausgegangen und postkolonial bezeichnet „the continuing process of imperial suppressions and exchanges throughout this diverse range of societies, in their institutions and their discursive practices.“50 Nachfolgend sollen nicht alle Theorien dieses inzwischen sehr umfassenden Forschungsfelds aufgegriffen, sondern lediglich die Ideen Saids und Bhabhas vorgestellt und für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden. Zusammenfassend kann jedoch für das Feld der Postcolonial Studies ausgesagt werden, dass sich die Theorien mit den Auswirkungen des Kolonialismus auf Kulturen und Gesellschaften vor und nach der Unabhängigkeit beschäftigen, wobei nicht nur die ehemaligen Kolonien, sondern auch die Mutterländer im Fokus stehen, da die Kolonialisierungs- und Entkolonialisierungsprozesse als reziproke, verflochtene Prozesse betrachtet werden.51 Obwohl die Autoren antikolonialer Diskurse aus den französischen Überseegebieten stammen und die Vertreter der Postcolonial Studies methodologisch insbesondere auf französische Theoretiker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jacques Lacan zurückgriffen,52 wird der französischen Wissenschaft des Öfteren vorgehalten, dass die Postcolonial Studies dort nicht rezipiert würden und kein integraler Bestandteil der Forschung seien. Der bedeutendste Grund hierfür dürfte die Tatsache sein, dass Frankreich seine koloniale Vergangenheit lange Zeit verdrängte. Erst in den letzten Jahren kann von einer Wiederkehr des kolonialen Gedächtnisses gesprochen werden.53 Wie Nicolas Bancel aus48 49 50 51 52 53
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Vgl. Kapitel 3.5.1 und 3.5.2. Vgl. LÜTZELER, 1998, S. 13. ASHCROFT u. a., [1995] 2011, S. 3. Vgl. LINDNER, 2011, S. 2. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 25. Zur Rückkehr Toussaints ins kollektive Gedächtnis vgl. insbesondere Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
führt, ist dieses Verdrängen insbesondere ein Resultat der ideologischen Rechtfertigung der Kolonialisierung während der Dritten Republik.54 Während England, ein Land, in dem die Postcolonial Studies schon länger fester Bestandteil der Forschung sind, niemals den Anspruch hegte, die kolonialisierten Gesellschaften umzuformen, sah Frankreich sich bei seiner Expansionspolitik in der Pflicht, die weniger zivilisierten Völker zu erziehen, ihnen den Fortschritt zu bringen und sie zu assimilieren.55 Als diese koloniale Utopie zerbrach, kam es nach der Unabhängigkeit jedoch zu keinem vollständigen Bruch zwischen Frankreich und den Kolonien. Die im Rahmen der Frankophonie geführten engen geopolitischen und kulturellen Verbindungen blieben bestehen, und es fiel den Franzosen schwer, eine neue Sichtweise auf die Kolonisierung anzunehmen.56 Noch im Jahr 2005 sollte beispielweise im Erinnerungsgesetz vom 23. Februar 2005 über die französische Präsenz auf anderen Kontinenten die positive Rolle der Kolonialisierung festgehalten werden.57 Auch die französischen Wissenschaftler wagten sich zunächst nicht daran, eine neue Annäherung und Definition der Kolonialge-
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Vgl. BANCEL, 2007. Wie in Kapitel 3.4 aufgezeigt wird, war die ehemalige Kolonie Saint-Domingue sowie insgesamt die erste Welle der Kolonialisierung in der Dritten Republik bereits dem Vergessen anheimgefallen und wurde erst in den 1980er Jahren langsam wieder Bestandteil der historischen Forschung. Vgl. Kapitel 1.2.2 und 3.6. Vgl. Kapitel 3.4; BANCEL, 2007; ENGELS, 2007, S. 110. Die Assimilationspolitik Frankreichs, der die Idee zugrunde liegt, die französische Kultur auf die Kolonien auszudehnen, geht bereits auf die universalistischen Ideale vom Ende des 18. Jahrhunderts zurück, gemäß denen die Kolonien der ersten Kolonialisierungswelle mit dem Mutterland gleichgesetzt werden und wie alle anderen Provinzen behandelt werden sollten – ein Prinzip, das auch unter der Ersten Republik aufgenommen wurde, indem die französischen Kolonien durch die Verfassung zum Bestandteil der Republik erklärt wurden. Vgl. PERVILLÉ, 1991, S. 32-34. Basierend auf diesen Ideen schrieb Arthur Girault sein im Jahr 1895 veröffentlichtes Werk Principes de colonisation et de législation coloniale, das die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgte französische Assimilationspolitik formulierte und insbesondere eine verwaltungsrechtliche Einbindung der Kolonisierten vorsah. Vgl. zu den Auswirkungen der Kolonialisierung auf die französische Identität COSTANTINI, 2008. Vgl. BANCEL, 2007. Vgl. Kapitel 3.6.
103
Der Toussaint-Louverture-Mythos
schichte vorzunehmen.58 Erst allmählich findet auch in der französischen Wissenschaftswelt eine Rezeption der Postcolonial Studies statt. Der in Jerusalem geborene und später in die USA emigrierte Literaturwissenschaftler Edward Said schrieb das als Gründungstext der Postcolonial Studies angesehene Werk Orientalism,59 das 1978 veröffentlicht wurde. Orientalismus gilt inzwischen als generischer Begriff, der der Beschreibung dient, wie sogenannte ‚andere‘ Kulturen von dominanten Kulturen beschrieben werden.60 Said beschreibt, dass der Orient eine Erfindung des Westens ist und eine Selbstdefinition für den Westen darstellt: „[…] the Orient has helped to define Europe (or the West) as its contrasting image, idea, personality, experience.“61 Die Menschen im Orient werden zum Gegenbild der Europäer, als die ‚Anderen‘ konstruiert.62 Diese Konstruktion als Gegenbild zeigt sich auch bei der Repräsentation Toussaints in der französischen Literatur. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich zwischen der Kultur der Unterdrücker und der Unterdrückten zu bewegen, war Toussaint geradezu prädestiniert dafür, eine Mittlerrolle63 zwischen Schwarzen und Weißen einzunehmen.64 Da Toussaint durch diese Rolle die feste Ordnung der kulturellen Zugehörigkeit durchkreuzte, schien es insbesondere den Zeitzeugen umso mehr ein Bedürfnis zu sein, Toussaint als Afrikaner, als den ‚Anderen‘ herauszustellen.65 Rekurrierend auf den Diskursbegriff Foucaults und dessen hervorgehobene Verbindung von Macht und Wissen erläutert Said, wie der koloniale Diskurs, in dem die „flexible positional superiority“66 [Herv. i. O.] des Westens nie infrage gestellt wurde, Kolonisatoren und kolonisierte Subjekte gleichermaßen produziert hat und wie der Diskurs instrumentalisiert wurde, um die Kolonialherrschaft auszubauen, indem das angeblich gewonnene Wissen der Machtausübung und der Legiti58 59
60 61 62 63 64 65 66
104
Vgl. BANCEL, 2007. Wenn sich die Wissenschaftswelt auch einig ist, dass Orientalism ein bedeutender Text ist, so sorgte er auch für viel Kritik. Vgl. hierzu CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 37-46. Vgl. HOFMANN, 2006, S. 33; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 30. Said, [1978] 1991, S. 1f. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 32. Vgl. zur Rolle kultureller Mittler SIEBER, 2015a, 2015b. Vgl. Kapitel 1.1.2. Vgl. Kapitel 3.2. SAID, [1995] 2011, S. 26.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
mierung von Gewalt diente.67 Said warnt daher vor einem gedankenlosen und unkritischen Umgang mit den Darstellungen der ‚Anderen‘.68 In seiner 1983 veröffentlichten Essaysammlung The World, the Text, and the Critic hebt Said die materielle Lokalisierung der Texte hervor, die er als worldliness bezeichnet. Die Texte stehen in direkter Verbindung zu ihrem Entstehungskontext; sie sind gleichzeitig „weltlich” und „in der Welt“.69 Dies bedeutet, dass sie einerseits die Spuren der Umstände, unter denen sie geschaffen wurden (Zeit, Gesellschaft, Ort), in sich tragen. Andererseits weisen sie eine materielle Präsenz auf und sind durch ökonomische und politische Strukturen sowie soziale und kulturelle Geschichte gekennzeichnet.70 Diese sogenannte „Weltlichkeit“ der Texte ist auch bei der Analyse der ToussaintRenarrationen von Bedeutung, weshalb jeweils der Entstehungskontext der Werke mitaufgezeigt wird. Im 1993 erschienenen Culture and Imperialism erweitert Said die in Orientalism vorgebrachten Argumente und geht auf die Kulturproduktionen des Westens ein, von denen er sagt, dass sie nie ‚unschuldig‘ seien, sondern in komplexer Beziehung zu den hegemonialen Strukturen stünden, innerhalb derer sie produziert wurden.71 Um die enge Beziehung zwischen dem Imperialismus und der europäischen Kultur zu verdeutlichen, fordert er ein kontrapunktisches Lesen von Texten, wobei die Texte aus der Sicht des Kolonisierten gelesen werden, um die Präsenz der Kolonialmacht zu veranschaulichen. Durch das kontrapunktische Lesen kann das Fehlende als eine Art Gegenerzählung rekonstruiert und die Konstitution der imperialistischen Macht in den Texten dargelegt werden.72 Said ist der Auffassung, dass die geografische Rückeroberung der Territorien immer mit einer kulturellen Rekonstitution einhergeht bzw. auf diese folgt.73 Dies funktioniert ihm zufolge durch das Zurück-
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 30f; SAID, [1995] 2011, S. 25. Vgl. SAID, [1978] 1991, S. 327. Vgl. SAID, 1983, S. 35. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 46-48. Vgl. SAID, [1993] 1994, S. 15; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 31, 49, 51. Vgl. SAID, [1993] 1994, S. 79. Im Falle Haitis ging die geografische Rückeroberung der kulturellen Restitution voraus.
105
Der Toussaint-Louverture-Mythos
Schreiben (writing back) der ehemals Kolonisierten, da somit der Diskurs von innen heraus verändert werden kann.74 Diese Widerstandsbewegung durch das Schreiben bezeichnet Said auch als ‚Reisen ins Innere‘ (voyage in), was er als „especially interesting variety of hybrid cultural work“75 empfindet. Als ein solches Zurück-Schreiben bzw. ‚Reisen ins Innere‘ betrachtet Said beispielsweise das historische Werk des aus Trinidad stammenden Schriftstellers C.L.R. James76 über Toussaint Louverture, den er als „Musterbeispiel für einen mit Füßen getretenen Sklaven, dessen Kampf um Freiheit für sich und sein Volk auf den Ideen Rousseaus und Mirabeaus basierte“77, einordnet.78 Ebenso können die Toussaint-Renarrationen der frankokaribischen Schriftsteller Césaire79 und Glissant als ein solches writing back erachtet werden, denn auch sie setzten sich mit dem antillanischen Freiheitskämpfer auseinander, um ihre eigene, teils vergessene Geschichte zu reflektieren und den Diskurs über Toussaint von innen heraus zu verändern.80 Der in Indien geborene und später nach England emigrierte Homi Bhabha knüpft in seiner 1994 erschienenen Aufsatzsammlung The location of culture direkt an Said an, wobei er dessen bipolare Entgegensetzung von Orient und Okzident sowie dessen homogenes Subjekt der Macht – Saids Subjekt scheint selbst kein Bestandteil des widersprüchlichen Machtdiskurses zu sein, sondern souverän über die Kultur des ‚Anderen‘ zu verfügen – kritisiert.81 Während sich Said vor allem auf die Diskurse der Kolonisatoren und Fanon auf die der Kolonisierten be74 75 76 77 78
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106
Vgl. SAID, [1993] 1994, S. 260f; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 53f. SAID, [1993] 1994, S. 295. Vgl. zum Werk von C.L.R. James Kapitel 3.5. SAID, 1997, S. 95. Nach C.L.R. James’ Darstellung war Toussaint ein Mann, der den europäischen Erklärungen und Versprechungen vertraute und sie wörtlich nahm. Vgl. SAID, [1993] 1994, S. 297. Wie bereits erwähnt, wird der Einfluss der Aufklärung auf die Insurgenten jedoch kontrovers debattiert und von manchen Historikern als frankozentristische Sichtweise abgelehnt. Vgl. Kapitel 1.2. Said lehnt die von Césaire gegründete Négritude-Bewegung ab, da durch den in ihr eingeschriebenen Nativismus die Aufteilung in Herrscher und Beherrschte seiner Ansicht nach erneut gefestigt wird. Vgl. SAID, [1993] 1994, S. 275. Vgl. Kapitel 3.5. Vgl. SCHÖSSLER, 2006, S. 148.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
zog, wendet sich Bhabha nun den Beziehungen zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten zu.82 Der Literaturwissenschaftler, der sich stark auf Derrida, Foucault sowie Freud und Lacan stützt, geht in seinem prominent gewordenen Hybriditätsbegriff83 davon aus, dass bereits die Einzelkulturen der postkolonialen Welt vor ihrer Vermischung nicht homogen84, sondern hybride sind,85 und es sich bei Hybridität um „eine Mischung zwischen den divergierenden Strömungen einer Einzelkultur und eine Mischung zwischen den verschiedenen Tendenzen verschiedener Kulturen“86 handelt.87 Bhabha zufolge gibt es neben dem ersten Raum, der sogenannten ‚Ursprungskultur‘, und dem zweiten Raum, der von der ehemaligen Kolonialmacht besetzt wird, noch einen dritten Raum (third space). In diesem Raum treffen Differenzen ohne Hierarchisierung aufeinander; dieser Raum hat an den anderen beiden Räumen teil, ist hybrid, scheint exterritorial und wird von den postkolonialen Subjekten besetzt.88 Bhabha, der sich insbesondere den Identitätsformationen im kolonialen Diskurs zuwendet und die Stereotypisierung als dessen Hauptstrategie bezeichnet,89 verweist in seinem Aufsatz „The Other Question.
82 83
84
85 86 87 88 89
Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 87. Im Gegensatz zum negativ konnotierten biologischen Begriff der Hybridität des 19. Jahrhunderts erfährt das Konzept der Hybridität bei Bhabha – wie auch bereits der Terminus der Kreolisierung bei Glissant – eine positive Umwertung. Vgl. ZAPF, 2002, S. 43. Zuvor auf binärer Logik basierende Polarisierungen werden durchbrochen und die Kontaktprozesse werden als Überschneidungen und Verflechtungen dargestellt. Vgl. GUGENBERGER, 2011, S. 19. Dennoch darf die pejorative Verwendung des Wortes Zapf zufolge nicht vergessen werden: „Gerade dieser dialogische Aspekt, die Anwesenheit zweier konkurrierender ‚Stimmen‘ in einem Wort, der hybride Charakter von ‚Hybridität‘, macht diesen Begriff für die Untersuchung postkolonialer, inter- und transkultureller Situationen, die von ‚Rassen‘- und Kulturkonflikten geprägt sind, so angemessen.“ ZAPF, 2002, S. 43. Bhabha übt hierbei Kritik am Konzept Andersons, da dessen imaginäre Gemeinschaften kulturelle Einheit voraussetzen, die der Erfahrung der Hybridität diametral entgegensteht. Vgl. HOFMANN, 2006, S. 29. Vgl. BHABHA, 1994, S. 5. HOFMANN, 2006, S. 28. Vgl. LUDWIG/RÖSEBERG, 2010, S. 19. Vgl. BHABHA, 1994, S. 4; HOFMANN, 2006, S. 29. Vgl. BHABHA, 1994, S. 66.
107
Der Toussaint-Louverture-Mythos
Stereotype, discrimination and the discourse of colonialism“90 auf einen Raum für Widerstand und Verhandlung, der durch die binäre Struktur bei Said nicht vorhanden war.91 Die Macht des kolonialen Diskurses sowie die darin vorhandenen Repräsentationen und Stereotype92 waren laut Bhabha niemals einheitlich und stabil, was er mit der produktiven Ambivalenz begründet.93 Laut Bhabha ist das widersprüchliche Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten auf Seite der Ersteren durch Angst und Faszination geprägt; die Kolonisierten sind zugleich Objekt der Begierde als auch Objekt der Belustigung.94 Somit sind auch die kolonialen Repräsentationen und Stereotypen im kolonialen Diskurs durch ambivalente Strukturen geprägt. Der Kolonisierte kann beispielsweise zugleich als ‚Wilder‘ sowie als gehorsamer Diener präsentiert werden: The black is both savage (cannibal) and yet the most obedient and dignified of servants (the bearer of food); he is the embodiment of rampant sexuality and yet innocent as a child; he is mystical, primitive, simpleminded and yet the most worldly and accomplished liar, and manipulator of social forces.95
Die Stereotypisierung veranschaulicht auch die Abhängigkeit der Kolonisatoren von den Kolonisierten, denn sie definieren sich ex negativo, indem sie sich als das darstellen, was die anderen nicht sind (beispielsweise nicht schwarz, nicht primitiv etc.).96 Diese Abhängigkeit von den ‚Anderen‘ zur Konstruktion der eigenen Identität führt gleichzeitig zu einer Stabilisierung und Destabilisierung der Identität der Kolonisato-
90 91 92
93 94 95 96
108
In: BHABHA, HOMI K., The location of culture, London/New York 1994, S. 66-84. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 86f. Das Stereotyp der Animalität der Schwarzen findet in den ToussaintRenarrationen vor allem in der Epoche der Zeitzeugen Verwendung, während das Stereotyp des edlen Wilden bzw. guten Schwarzen insbesondere in der Epoche der Romantik aufgegriffen wird. Vgl. Kapitel 3.2 und 3.3. Vgl. BHABHA, 1994, S. 67. Vgl. BHABHA, 1994, S. 67. BHABHA, 1994, S. 82. Vgl. BHABHA, 1994, S. 67, 75; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 88.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
ren.97 Dies sowie die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz der Repräsentationen und Stereotypen des ‚Anderen‘ zeigen, dass der koloniale Diskurs keinesfalls so uniform und autoritär war, wie behauptet wurde.98 Dies wird auch anhand der Möglichkeit des Widerstands ersichtlich, die Bhabha anhand der Konzepte der Mimikry und Hybridität beschreibt. Wie Bhabha in seinem Aufsatz „Of Mimicry and Man: the ambivalence of colonial discourse“99 erläutert, ist die koloniale Mimikry einerseits eine der effektivsten Strategien der kolonialen Macht, andererseits führt sie jedoch auch zur Destabilisierung des Kolonialsystems. Der Kolonisator strebt danach, dass der Kolonisierte seine Werte und Normen übernimmt, wobei diese Assimilierung der Normalisierung als auch der Distanzierung dient: Koloniale Mimikry definiert Bhabha als: „the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite. […] in order to be effective, mimicry must continually produce its slippage, its excess, its difference.“100 [Herv. i. O.] Der Kolonisierte kann immer nur eine teilweise Repräsentation des Kolonialherrn sein; die Nachahmung ist immer zum strategischen Scheitern (strategic failure) verurteilt.101 Die bleibende Differenz ist ein herrschaftsstabilisierendes Moment, da das Wissen um diese Differenz zwischen den Kolonisatoren und denen, die sie nachahmen, zur Unterdrückung der Kolonisierten beitragen kann.102 Die partielle Übereinstimmung zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten ermöglicht jedoch auch eine Subversion der herrschenden Ordnung, da die Mimikry das herrschende System ironisiert und karikiert:103 „The ambivalence of colonial authority repeatedly turns from mimicry – a difference that is almost nothing but not quite – to menace – a difference that is almost total but not quite.“104 Ein weiterer Effekt der Mimikry ist die sogenannte sly civility (schlaue Höflich-
97 98 99 100 101 102 103 104
Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 88. Vgl. WILDEN, 2013, S. 128. In: BHABHA, HOMI K., The location of culture, London/New York 1994, S. 85-92. BHABHA, 1994, S. 86. Vgl. BHABHA, 1994, S. 86-88. Vgl. CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 91. Vgl. SCHÖSSLER, 2006, S. 152. BHABHA, 1994, S. 91.
109
Der Toussaint-Louverture-Mythos
keit/Zivilisiertheit). Laut Bhabha muss der Kolonisator stets unterscheiden, ob es sich beim Verhalten des Kolonisierten um Maskerade oder um wahre Unterwürfigkeit handelt.105 Während Bhabha Mimikry in Form des Widerstands106 auch als ein positives Konzept betrachtet, wurde die Assimilierung an die Kolonisatoren bei Fanon und Said hingegen als reine Strategie der Machtausübung und Unterdrückung angesehen.107 In seinem Aufsatz „Sign taken for wonders“108 zeigt Bhabha auf, dass auch Hybridität eine Form des Widerstands darstellt, da diese ein dem kolonialen Diskurs inhärentes Merkmal von Ambivalenz aufweist, das seine Subversion bedingt.109 Hybridität sorge für die Umkehrung des Unterwerfungsprozesses, indem das abgelehnte und verleugnete Wissen vom dominanten Diskurs Besitz ergreifen und ihn verfremden kann: „Hybridity is the sign of productivity of colonial power, its shifting forces and fixities; it is the name for the strategic reversal of the process of domination through disavowal“.110 Wie die Mimikry stellt auch die Hybridität bei Bhabha keinen aktiven Widerstand dar, sondern ergibt sich aus den diskursiven Bedingungen.111 Anhand der Theorien Bhabhas zur Konstruktion und Repräsentation der ‚Anderen‘ sollen die literarischen Renarrationen über Toussaint, der auch als ein ‚Anderer‘ betrachtet wurde, auf die den Werken zugrunde liegende Ambivalenz, verschiedene Stereotypen sowie die Toussaint zugeschriebene Mimikry und Hybridität untersucht werden. Die in den Konzepten der anti- und postkolonialen Theoretiker dargelegte Heterogenität von Gemeinschaften, die bei Halbwachs, Nora sowie Jan und Aleida Assmann zu wenig Beachtung fand,112 wird berücksichtigt, denn über die verschiedenen Epochen hinweg erinnerten sich unterschiedli105 106
107 108 109 110 111 112
110
Vgl. BHABHA, 1994, S. 93-101; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 92. Mimikry stellt für Bhabha jedoch keine aktive Form des Widerstands dar, sondern ist eine „Repräsentationsform, die ungewollte Effekte produziert“ (CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 92) – eine Ansicht, die Bhabha viel Kritik eingebracht hat. Vgl. WILDEN, 2013, S. 129. In: BHABHA, HOMI K., The location of culture, London/New York 1994, S. 102-122. Vgl. BHABHA, 1994, S. 114; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 93. BHABHA, 1994, S. 112. Vgl. BHABHA, 1994, S. 110; CASTRO VARELA/DHAWAN, 2005, S. 93. Vgl. Kapitel 2.1.
Antikoloniale und postkoloniale Theoriegrundlagen
che Gruppen in Frankreich und den ehemaligen Kolonien an Toussaint Louverture.113
113
Vgl. Kapitel 3.
111
3. D IE R EPR ÄSENTATION T R ANSFORM ATION M YTHOS
DES
UND
T OUSS AI NT -
IN DER FR ANZÖSISCHEN
L I TER ATUR
3.1 Untersuchungskorpus und Vorgehensw eise […] scheint es mir wichtig zu betonen, daß literarische Werke, was immer sie sonst noch sein mögen, nicht bloß Texte sind. Tatsächlich sind sie unterschiedlich strukturiert und vertreten unterschiedliche Werte; sie verfolgen unterschiedliche Ziele und gehören unterschiedlichen Genres an und so weiter und so fort.1
Im Hauptteil dieser Arbeit wird die unterschiedliche Repräsentation und Funktionalisierung des haitianischen Revolutionsführers in der französischen Literatur2 in einem Zeitraum von über 200 Jahren herausgear-
1 2
SAID, 1997, S. 94. Auch wenn sich die Konstruktion und Transformation des ToussaintMythos in Frankreich hauptsächlich in der Literatur abspielt, soll dennoch nicht von einem literarischen Mythos gesprochen werden, da ein Mythos immer als grenzüberschreitend verstanden werden muss. Insbesondere die aktuellen Entwicklungen – wie die Wiederaufnahme Toussaints in den öffentlichen Raum (vgl. Kapitel 3.6) – verdeutlichen, dass der Übergang zwischen literarischem und politischem Mythos fließend ist.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
beitet und die Transformation3 des Mythos im kollektiven Gedächtnis veranschaulicht. Die Interpretation der jeweiligen Neu- und Umschreibung der Geschichte Toussaint Louvertures erfolgt mithilfe des jeweiligen historischen und soziokulturellen Kontexts. Eine besondere Rolle spielt vermutlich die zum jeweiligen Zeitpunkt verfolgte französische Kolonial- und Erinnerungspolitik. Anhand der Rekonfiguration des Toussaint-Mythos kristallisiert sich somit auch die Auseinandersetzung Frankreichs mit seiner eigenen Kolonialvergangenheit heraus. Das kollektive Gedächtnis ist auf Medien4 angewiesen, da ohne diese die Speicherung und Verbreitung des Wissens nicht möglich wäre.5 Als Medien des kollektiven Gedächtnisses werden beispielsweise Literatur, Statuen, Filme und Archive betrachtet, wobei die Einschreibung des haitianischen Freiheitskämpfers ins kollektive Gedächtnis bzw. die Konstruktion neuer Erinnerung und die Dekonstruktion alter Versionen in Frankreich hauptsächlich durch das Medium Literatur erfolgt. Die Medien verwahren die Erinnerungen nicht nur, sondern konstruieren und konstituieren diese erst, sodass „nicht nur von der ‚Erinnerungen transportierenden‘, sondern auch ‚Erinnerungen miterzeugenden‘ Kraft […] gesprochen werden“6 kann. Als Gegenstand der qualitativen Untersuchung des Mythos Toussaint Louverture dient ein Korpus, das Texte französischer und frankophoner Autoren aus dem Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts umfasst. Das Korpus enthält sowohl Texte des literarischen Höhenkamms als auch Texte vergessener, unbekannter Autoren, die zumeist der Populärliteratur zugerechnet werden können, da die Transformation des Toussaint-Mythos nur rekonstruiert werden kann, wenn sowohl seine Vermittlung über kanonische Texte der französischen Literaturgeschichte als auch seine Ver-
3 4
5 6
114
Vgl. zum Begriff der Transformation ILGNER, 2015, S. 17f. Medien dienen als Vermittlungsinstanzen zwischen der kollektiven und individuellen Dimension des Erinnerns. Einerseits finden individuelle Erinnerungen ihren Weg erst durch mediale Repräsentation ins kollektive Gedächtnis und andererseits kann das Individuum nur durch Medienrezeption Zugang zum kollektiven Gedächtnis erlangen. Vgl. ERLL, 2005, S. 123. Vgl. JÜNKE, 2012, S. 69. JÜNKE, 2012, S. 69.
Untersuchungskorpus und Vorgehensweise
breitung über die Trivialliteratur berücksichtigt werden.7 Die Darstellung Toussaints wird in Romanen und Erzählungen, aber auch in Theaterstücken und Gedichten untersucht. Die Orientierung an den drei Großgattungen Epik, Drama und Lyrik würde nichtfiktionale Literatur theoretisch ausschließen,8 da Fiktion oftmals als Bestimmungskriterium für Literatur definiert wird.9 Wenn nichtfiktive Literatur jedoch bei der Untersuchung der Mythisierung Toussaints außer Acht gelassen würde, fiele insbesondere ein großer Teil der Zeit- und Augenzeugenliteratur weg, der bei der Genese des Toussaint-Mythos eine wichtige Rolle spielte. Wie spätestens seit Hayden White bekannt ist,10 beruht jede Rekonstruktion historischen Geschehens auf sprachlichen Tropen und rhetorischen Mustern,11 sodass auch die Geschichtsschreibung als eine Interpretation angesehen werden muss.12 Dies zeigt, dass der Unterschied zwischen autobiografischen Erzählungen, Berichten, historischen Essays und fiktionalen Texten nur ein gradueller ist.13 In dieser Arbeit soll Fiktionalität nicht als Bestimmungskriterium für Literatur gelten, sondern alle nichtfiktionalen sowie fiktionalen Texte sollen als Literatur im weiteren Sinne verstanden werden.14 Daher wird nicht nur fiktionale Li7
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13 14
Auch Erll verweist auf die Bedeutung der Trivialliteratur für das kollektive Gedächtnis: „Gerade die Trivialliteratur bedient sich symbolischer Ressourcen, die dem kulturellen Gedächtnis zuzuordnen sind. In ihr werden Mythen erzeugt und perpetuiert, kulturspezifische Sinnstiftungsschemata vermittelt.“ ERLL, 2005, S. 158. Vgl. CORBINEAU-HOFFMANN, [2000] 2004, S. 171. Vgl. ZIPFEL, 2001, S. 20, 315. Bereits Ende der 1960er Jahre hatte Roland Barthes im Rahmen des linguistic turn die Historiker aufgefordert, die linguistischen Kategorien ihrer Arbeit zu überdenken, da ihre angebliche Objektivität nur ein effet de réel sei. Vgl. BARTHES, 1967, S. 74; RÜTH, 2005, S. 1. Vgl. WHITE, 1973. Auch Paul Ricœur sieht die Geschichtsschreibung als ein diskursives Verfahren an, da es der Historiografie darum geht, verstreute Ereignisse durch Erstellung kausaler Zusammenhänge zu einer Geschichte zu transformieren. Vgl. RICŒUR, [1983] 1988, [1984] 1989, [1985] 2007; Kapitel 2.1. Vgl. PETHES, 2008, S. 152. Vgl. Zipfel, der aufzeigt, dass „ein Konzept, das Literatur auf Fiktionalität festlegen will, bereits für erzählende Texte zu eng“ (ZIPFEL, 2001, S. 315) ist. Seiner Meinung nach können auch Reiseberichte, Reportagen und Autobiografien, auch wenn sie nicht fiktional sind, als literarische Texte bezeichnet werden. Vgl. ZIPFEL, 2001, S. 315. Ebenso findet Do-
115
Der Toussaint-Louverture-Mythos
teratur in den Korpus aufgenommen, sondern es wird auch die Darstellung Toussaints in Berichten, Memoiren, historischen Essays etc. herausgearbeitet. Der dieser Arbeit zugrunde liegende Korpus umfasst somit Texte vieler verschiedener Gattungen, wobei im Einzelnen nicht auf die verschiedenen Gattungskonventionen eingegangen wird, sondern das Augenmerk auf der Transformation des Mythos liegt und hierfür alle Textsorten im Hinblick auf ihre narrative Konfiguration der Geschichte des Toussaint-Mythos betrachtet werden. Die Auswahl der Texte wird nicht alleine aufgrund der Nationalität des Autors vorgenommen, da dadurch zu enge Grenzen gezogen würden. Stattdessen sollen neben den Texten französischer Autoren auch jene frankophoner Schriftsteller aufgenommen werden, die in Frankreich veröffentlicht wurden und dort zur Rezeption des Mythos beitrugen.15 Aufgrund der im 21. Jahrhundert erfolgenden Remediation16 des Mythos, insbesondere sein Übergang in das Medium Film, werden nicht nur Texte, sondern auch ein französischer Spielfilm über Toussaint zum Untersuchungskorpus gehören. Ausgeschlossen vom Korpus werden allein Werke der akademischen Geschichtsforschung. Ein kurzer Über-
15
16
116
minique Combe das Schema von nur drei Großgattungen zu eng gefasst und erweitert es von drei auf vier Kategorien. Neben narrativer Fiktion (Roman, Novelle, Erzählung, Bericht), Lyrik (in Versform oder Prosa) und Drama (Tragödie, Trauerspiel, Komödie) wird der Essay (philosophische oder theoretische Schriften, Autobiografie, Memoiren, Tagebuch, Briefwerke, Bericht, Reisebericht etc.) als vierte Kategorie mit eingebracht. Vgl. COMBE, [1992] 2008, S. 14. Zwar wurden die französischsprachigen Werke auch von anderssprachigen Renarrationen des transnationalen Mythos beeinflusst, wie beispielsweise der Essay Césaires vom historiografischen Werk des aus Trinidad stammenden C.L.R. James geprägt wurde (vgl. Kapitel 3.5), jedoch würde eine Einbeziehung der insbesondere zahlreich erschienenen anglophonen, hispanophonen und deutschen Toussaint-Literatur in die Analyse den Rahmen der Arbeit sprengen, weshalb nur an verschiedenen Stellen auf bedeutende Einflüsse verwiesen wird. Bolter und Grusin verstehen unter diesem Begriff die verschiedenen Formen der Bezugnahmen eines Mediums auf vorhergehende medienspezifische Formen. Vgl. BOLTER/GRUSIN, 1999, S. 55. Erll, die den Begriff für eine kulturwissenschaftliche Untersuchung angepasst hat, zeigt auf, dass der Wechsel von der Literatur in das Medium Film neue spannende Formen der Repräsentation mit sich bringt. Vgl. ERLL, 2007, S. 33f.
Untersuchungskorpus und Vorgehensweise
blick über die französische Historiografie17 zeigte auf, dass bezüglich der Haitianischen Revolution und ihres Anführers ein Versuch der Auslöschung und Bagatellisierung der Ereignisse vorherrschte und teils noch vorherrscht. Anhand des beschriebenen Korpus wird die Repräsentation und Transformation des Mythos Toussaint Louverture im Laufe der verschiedenen Epochen rekonstruiert, wobei nochmals betont wird, dass es nicht darum geht, die hinter dem Toussaint-Mythos liegende geschichtliche Wahrheit zu ermitteln. Die unterschiedlichen Rekonfigurationen des Mythos erfolgen durch die Selektion und narrative Verknüpfung verschiedener Mytheme des Mythos, wodurch bei jeder Aktualisierung jeweils neue Bedeutungsfunktionen entstehen und alte Versionen dekonstruiert werden können.18 Rekurrierend auf Lévi-Strauss und Wodianka wird davon ausgegangen, dass ein Mythos über ein bestimmtes Mytheminventar verfügt, wobei dieses dynamisch ist und neue Mytheme hinzukommen und alte Mytheme wegfallen können. Die aus diesem Mytheminventar für die Renarration ausgewählten Mytheme können zudem eine unterschiedliche Gewichtung erfahren und in neue Verbindungen und Zusammenhänge aufgenommen werden.19 Trotz der unterschiedlichen Instrumentalisierung Toussaints, die von einer starken Dämonisierung bis zur absoluten Glorifizierung reicht, wird stets auf dasselbe, sich jedoch veränderliche Mytheminventar zurückgegriffen. Nachfolgend werden kurz die bedeutendsten Mytheme des Toussaint-Mythos vorgestellt, wobei nur selten oder in bestimmten Epochen verwendete Mytheme dann in den jeweiligen Kapiteln herausgestellt werden: Mytheme des Mythos sind beispielsweise die königliche Abstammung Toussaints, seine Alphabetisierung sowie die Rettung seines weißen Plantagenverwalters bei den ersten Aufständen im August 1791.20 Anhand dieser Mytheme wird Toussaint häufig von den anderen Schwarzen, die oftmals als grausame Insurgenten ohne Gnade dargestellt werden, abgegrenzt und aus der Masse hervorgehoben. Alle
17 18 19 20
Vgl. Kapitel 1.2.2. Vgl. Kapitel 2.2. Vgl. Kapitel 2.2. Vgl. Kapitel 1.1.2.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
drei Mytheme untermauern in einigen Texten das Stereotyp bzw. die Repräsentation Toussaints als guter Schwarzer. Zu seiner Herabsetzung wird hingegen des Öfteren auf seinen Spitznamen Fatras-Bâton, der seine schwächliche Konstitution sowie teilweise auch unansehnliche Physiognomie unterstreichen soll, sowie auf seinen Umgang mit Frauen verwiesen. Häufig wird auf das Stereotyp der sexuellen Animalität von Schwarzen rekurriert und Toussaint als Frauenheld diffamiert. Wenn Toussaint als der von Raynal angekündigte Held präsentiert wird, soll meist die schicksalshafte und mythenhafte Aura Toussaints in den Vordergrund gestellt werden.21 Ebenfalls sind die Wurzelmetapher, die den Sieg der Schwarzen voraussagt, sowie der angeblich in SaintDomingue versteckte Schatz Toussaints der Mythenhaftigkeit des haitianischen Sklavenführers zuträglich.22 Eine wichtige Rolle spielen in den Werken oftmals die Religion sowie die Nationalität Toussaints. Wie Jan Assmann aufzeigt, sind Religion, Sprache und Abstammung wichtige Generatoren von Identität.23 Durch die Anerkennung Toussaints als treuer Katholik und Franzose wird in manchen Texten ein Gefühl der Zugehörigkeit Toussaints zu Frankreich vermittelt, während andere Werke durch die Darstellung Toussaints als Anhänger des Voodoo und Afrikaner eine Fremdheitsverschärfung vornehmen. Teils wird Toussaint die von Bhabha beschriebene sly civility zum Vorwurf gemacht und sein christlicher Glauben und seine Verbundenheit zu Frankreich werden ihm als Maskerade ausgelegt.24 Erst in modernen Werken kann die binäre Opposition, die dichotomische Darstellung, teilweise aufgebrochen und das Nationendenken überwunden werden sowie die Beeinflussung Toussaints durch zwei Religionen und seine national hybride Abstammung positiv verstanden werden. Die Loyalität Toussaints ist auch bei den Mythemen der Übertritte Toussaints zu den Spaniern, später zu den Franzosen sowie der angeblichen Konspiration mit den Engländern bedeutsam, da ihm sein Verhalten als Opportunismus und Verrat oder als Festhalten am Ziel der Be-
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Vgl. FERGUSON, 1987, S. 394. Vgl. Kapitel 1.1.3; FERGUSON, 1987, S. 395. Vgl. ASSMANN, J., 1996, S. 81. Vgl. Kapitel 2.3.
Untersuchungskorpus und Vorgehensweise
freiung aller Sklaven ausgelegt werden kann. Ebenso wird seine Verfassung, die ein weiteres Mythem des Mythos ist, teils als Akt des Separatismus und Verrats an Frankreich oder als brillante Idee präsentiert, um die Kolonie im Sinne Frankreichs zu regieren und zu neuem Wohlstand zu führen. Mit der Verfassung wird häufig auf ein anderes Mythem verwiesen und zwar auf den angeblichen Brief Toussaints an Napoleon mit dem Titel „Le Premier des Noirs au Premier des Blancs“, welcher dem Ersten Konsul zusammen mit der Konstitution überbracht worden sei.25 Anhand dieses Mythems werden Toussaint oftmals grenzenlose Arroganz und Überheblichkeit unterstellt. Eine weitere Einheit des Mythos ist jene der Erschießung seines Neffen Moyse, den Toussaint zum Tode verurteilt haben soll, da dieser angeblich an einer Insurrektion schwarzer Bauern gegen die Plantagenwirtschaft direkt oder indirekt beteiligt gewesen war.26 Diese Szene veranschaulicht manchen Werken zufolge Toussaints Unerbittlichkeit, seine Rohheit und Tyrannei, wobei andere Autoren seinen dadurch zum Ausdruck kommenden ausgeprägten Gerechtigkeitssinn preisen. In neueren Texten werden anhand dieses Mythems häufig eine Distanz Toussaints zum eigenen Volk und eine Assimilierung an Frankreich kritisiert. Eine Szene, auf die in Kapitel 1.1 verzichtet wurde, da an ihrem Wahrheitsgehalt gezweifelt werden muss, ist das sogenannte Maisgleichnis. Toussaint soll vor den Augen seiner Anhänger schwarzen und weißen Mais gemischt haben. Einerseits kann diese Szene so interpretiert werden, dass Toussaint beabsichtigte, den Schwarzen ihre zahlenmäßige Überlegenheit zu verdeutlichen, um sie dadurch für den Kampf zu motivieren oder sie gegen die Weißen aufzuhetzen. Andererseits jedoch wird das Gleichnis, das in manchen Werken auch mit einer Mischung von Wein und Wasser veranschaulicht wird,27 verwendet, um darzulegen, dass Toussaint die Schaffung einer Einheit zwischen Schwarzen und Weißen im Sinne hatte. Auch der Kampf zwischen Schwarzen und Weißen sowie der von Toussaint und Leclerc geschlossene Waffenstillstand sind Mytheme des Toussaint-Mythos. Je nach Instrumentalisierung Toussaints werden die von beiden Seiten begangenen Verbrechen genannt oder die von den 25 26 27
Vgl. Kapitel 1.1.2. Vgl. Kapitel 1.1.2. Vgl. Kapitel 3.4.1.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Franzosen an den ehemaligen Sklaven verübten Grausamkeiten verschwiegen. Ebenso wird Toussaint der Waffenstillstand teils als ehrliches Angebot und wahre Friedensintention, teils als hinterlistige Finte oder schlaue List ausgelegt. Seine Verhaftung, seine Deportation nach Frankreich und sein Tod im französischen Gefängnis Fort de Joux dienen oftmals der Erhöhung der Dramatik. Diese Mytheme werden zum Teil als gerechte Strafe für den Verbrecher Toussaint inszeniert oder aber als Vorgänge, die das barbarische Verhalten Napoleons belegen, der häufig als sein Gegenspieler in Szene gesetzt wird und dessen Repräsentation sich meist in konkurrierender Interdependenz zur Darstellung Toussaints befindet. Diese kurze Vorstellung darf nur als ein kleiner Überblick über die im Laufe der über 200-jährigen Transformation des Toussaint-Mythos vermehrt vorkommenden Mytheme und verschiedenen Möglichkeiten ihrer Interpretation verstanden werden, wobei diese natürlich auch weitere Bedeutungsfunktionen erlangen und in andere Zusammenhänge gestellt werden können.
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Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
3.2 Der Versuch, das Undenkbare zu verbalisier en: die Darstellung Toussai nts in der Literatur der Zeit- und Augenzeugen Noch im Laufe und direkt nach der Haitianischen Revolution erschien in Frankreich eine Vielzahl von Texten über Toussaint Louverture. Zahlreiche Franzosen, die in Saint-Domingue für die Verwaltung arbeiteten, Kolonisten und Reisende, die sich zur Zeit der Aufstände in Saint-Domingue aufhielten, Angehörige des Militärs, insbesondere jene, die mit der Expedition Leclercs nach Saint-Domingue entsandt wurden, äußerten sich in verschiedenen Dokumenten über die Aufstände im Allgemeinen und Toussaint Louverture im Besonderen.1 Damit legten bereits Ende des 18. Jahrhunderts und im frühen 19. Jahrhundert französische Zeit- und Augenzeugen, deren Werke oftmals aus persönlichen Interessen und apologetischen Anliegen entstanden, den Grundstein für die Bildung des Mythos Toussaint Louverture.2 Diese individuellen Erinnerungen prägten die kollektive Erinnerung an den Toussaint-Mythos sowie die späteren Toussaint-Rezeptionen. Die Geschichte Toussaints überquerte noch zu seinen Lebzeiten den Atlantik. Diese transatlantisch überlieferten Erzählungen über Toussaint stellten den Auftakt der Mythologisierung des haitianischen Anführers in Frankreich dar. George Tyson zufolge waren die allerersten Reaktionen auf Toussaint, also in der Zeit von 1794 bis 1797, in Frankreich überwiegend positiv.3 Nachdem der Pariser Konvent am 4. Februar 1794 das 1
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Auf die Ereignisse in Saint-Domingue und insbesondere auf die Person Toussaint Louverture wurde in dieser Zeit auch in zahlreichen Zeitungsartikeln eingegangen. Eine Analyse der Darstellung der Haitianischen Revolution und Toussaint Louvertures in der Presse innerhalb der letzten zweihundert Jahre wäre interessant, wird in dieser Dissertation allerdings außer Acht gelassen, da eine Einbeziehung dieser Texte den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Außerdem werden auch nicht alle Zeit- und Augenzeugenwerke genannt, sondern lediglich einige der für die verschiedenen Phasen der Darstellung und Funktionalisierung Toussaints bedeutenden Schriften aufgegriffen. Vgl. FORSDICK, 2007, S. 23. Vgl. TYSON, 1973, S. 70; FERGUSON, 1987, S. 395. Laut Lüsebrink entstanden in den Jahren 1793 und 1794 auch jakobinische Texte, die gegen Toussaint gerichtet waren. Die Autoren vermuteten royalistische Einflüs-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien verabschiedet hatte und Toussaint im Mai 1794 mit seinen Truppen auf die Seite der Franzosen übergetreten war, setzten der französische Gouverneur Laveaux sowie der französische Kommissar Sonthonax auf eine Zusammenarbeit mit den Schwarzen und insbesondere mit Toussaint, der 1796 zum Stellvertreter des Gouverneurs ernannt wurde.4 Bis 1796/1797, als Toussaint zunächst Laveaux und schließlich Sonthonax nach Frankreich zurücksandte und sich somit seiner zwei größten Konkurrenten entledigte, schien Frankreich davon auszugehen, dass Toussaint die Interessen des Landes in der Kolonie gut vertrat. In der Presse und den gesetzgebenden Versammlungen wurden zunächst seine Intelligenz, seine Tapferkeit sowie sein Engagement gepriesen.5 Diese zunächst positive Darstellung des haitianischen Anführers in Frankreich6 begann sich mit dem Staatsstreich Napoleons am 9. November 1799 sowie Toussaints Erlass einer Verfassung für SaintDomingue im Jahr 1801 allmählich zu verändern.7 Seine Repräsentation in französischen Werken wandelte sich vor und während der Expedition Leclercs im Jahr 1802 drastisch, und es setzte eine Dämonisierung Toussaints ein, die der Rechtfertigung der von Napoleon befohlenen Expedition diente. In diesen Jahren wurden eine Vielzahl von Werken über Toussaint Louverture publiziert, die zum Großteil der bonapartistischen Propaganda zugerechnet werden müssen. Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wurde vom Sieg Frankreichs über die Aufständischen ausgegangen, und die Unabhängigkeit der Kolonie schien völlig ausgeschlossen.8 Das Werk Les trois âges des colonies des Abbé de Pradts, dessen drei Bände zwischen Ende 1801 und 1802 veröffentlicht wurden, hebt sich von dieser Haltung ab. Pradt beginnt mit der Erklärung der Not-
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se in Saint-Domingue, die zu einer „petite Vendée“ (LÜSEBRINK, 1985, S. 230) geführt hätten. Vgl. Kapitel 1.1.2. Vgl. TYSON, 1973, S. 70; FERGUSON, 1987, S. 395. Wie Lüsebrink aufzeigt, wandelte sich durch den Einfluss der Geschehnisse der Haitianischen Revolution nicht nur das Bild Toussaint Louvertures, sondern auch die Darstellung des Schwarzen allgemein erfuhr eine Änderung: vom Bild des guten, unterdrückten Schwarzen zu jenem des grausamen, wütenden Schwarzen. Vgl. LÜSEBRINK, 1985, S. 231. Vgl. FORSDICK, 2007, S. 24; TYSON, 1973, S. 70. Vgl. Kapitel 1.2.1.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
wendigkeit der Sklaverei, kommt aber zu dem Schluss, dass – da diese ja bereits 1794 in den französischen Kolonien abgeschafft wurde – Frankreich infolge der Französischen Revolution und der Menschenrechtserklärung nun auch die Konsequenzen zu tragen habe, womit er konkret die Unabhängigkeit der Kolonien fordert.9 Toussaint sei dazu auserkoren, zum schwarzen Washington aufzusteigen und die Kolonie Saint-Domingue in die Unabhängigkeit zu führen: Le plus renommé de ces chefs, le nègre Toussaint-Louverture, semble destiné à être le Washington des colonies. Son caractère paroît grand; il a montré une élévation de sentimens qui l’honore, des talens qui le rendent recommandable: c’est le chef le plus fort et le plus accrédité de tous les noirs. Mais il est impossible de ne pas reconnoître les vues d’indépendance, dans toute la contexture de sa conduite; elles percent sous le voile dont il s’enveloppe avec art. Il ne veut pas en avoir l’odieux, c’est pourquoi il ne la déclare pas; il veut la recevoir du bénéfice des évènemens et du tems; ils ne se feront pas attendre, par plusieurs raisons.10
Diese hohe Auszeichnung, die Abbé de Pradt Toussaint durch den Vergleich mit dem zu dieser Zeit in Frankreich sehr namhaften Washington zuteilwerden lässt, steht den diffamierenden Darstellungen, die insbesondere 1802 erschienen, diametral entgegen. Es entsteht der Eindruck, als ob Pradt Toussaint in den Rang eines Vollenders der Französischen Revolution und Umsetzers der Menschenrechtserklärung erhebt.11 Der Augenzeuge und Kolonialadministrator General FrançoisMarie-Périchou de Kerversau, der sich viele Jahre in Saint-Domingue aufhielt und auch an der Expedition Leclercs teilnahm, warnt in vielen seiner Schreiben nach Frankreich vor Toussaint. In seinem laut Tyson sehr einflussreichen Bericht an den Marineminister von 180112 appel9 10 11
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Vgl. PRADT, 1802b, S. 320f; BÉNOT, 2005, S. 265. PRADT, 1802a, S. 103. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 3.6.3, denn diese Instrumentalisierung wird auch in der Literatur bzw. im Film der Gegenwart wiederaufgegriffen. Im Jahr 1801 erschien auch das anonym veröffentlichte Werk Vie privée, politique et militaire de Toussaint-Louverture, das vermutlich Juste Chanlatte zuzuordnen ist. Vgl. CAUNA, 2004, S. 284; GEGGUS, 2013,
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
liert Kerversau an den Stolz und das Ehrgefühl Frankreichs13 und fordert die sofortige Absetzung Toussaints: Que l’on cesse de se faire illusion, tant qu’il restera dans la colonie, lui seul en sera le souverain; il y régnera au nom de la France peut-être, tant qu’elle voudra fléchir sous sa domination; [...] C’est à la République à examiner si après avoir donné des lois à tous les monarques de l’Europe, il convient à sa dignité d’en recevoir dans une de ses colonies d’un nègre révolté.14
Während Roussier zufolge vor dem Erhalt dieses Berichts eine Zusammenarbeit zwischen den französischen Repräsentanten in der Kolonie und Toussaint angestrebt werden sollte, wurde der Expedition fortan das Ziel eingeschrieben, Toussaint Louverture zu unterwerfen.15 Im Jahr 180216 wurden die beiden bedeutenden ToussaintBiografien Louis Dubrocas17 (La vie de Toussaint-Louverture, chef des Noirs insurgés de Saint-Domingue) sowie Yves-Charles Cousins, dit Cousin d’Avallon18 (Histoire de Toussaint-Louverture, chef des noirs insurgés de Saint-Domingue) veröffentlicht, in denen der haitianische Anführer ebenfalls zum Bösen stilisiert wird. Cousin d’Avallon, der
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Fußnote 10. Bei diesem Autor fällt die Diskreditierung Toussaints zwar weniger rigoros aus als in den im Folgenden publizierten Werken, da er Wert darauf legt, die guten Seiten Toussaints nicht unerwähnt zu lassen. Vgl. ANONYMUS, 1801, S. 17. Allerdings wird deutlich, dass der Verfasser der Auffassung ist, dass Toussaint diese Werte lediglich der ihm von Weißen vermittelten Moral des Evangeliums zu verdanken hat. Vgl. ANONYMUS, 1801, S. 16. Vgl. TYSON, 1973, S. 70. Zitiert nach ROUSSIER, 1937, S. 23. Vgl. ROUSSIER, 1937, S. 24f. Im selben Jahr entstand auch bereits das erste Theaterstück über Toussaint mit dem Titel La prise de Saint-Domingue par les Français et les Espagnols, ou La défaite générale de Toussaint-Louverture et ses partisans. Zwar tritt Toussaint im Stück nicht selbst auf, aber trotzdem erfährt er durch die Gespräche der Generäle über sein Handeln eine deutliche Dämonisierung. Vgl. beispielsweise FERRAND, 1802, S. 10f, 13, 21, 23. Louis Dubroca war ein Pariser Verleger und Journalist. Vgl. FORSDICK, 2007, S. 25. Yves-Charles Cousin war ein französischer Schriftsteller, der insbesondere aufgrund seiner Werke über historische und literarische Persönlichkeiten Bekanntheit erlangte.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Dubroca vorwirft, ein oberflächliches und lückenhaftes Bild Toussaints gezeichnet zu haben,19 übernimmt dennoch dessen Kapitel „Portrait de Toussaint-Louverture“ wortwörtlich. Darin wird Toussaint als grausamer, heuchlerischer Verbrecher ohne Ehre beschrieben: Toutes ses actions sont couvertes d’un voile d’hypocrisie si profond, que quoique sa vie entière soit une suite continuelle de trahisons et de perfidies, il a encore l’art de tromper tous ceux qui l’approchent, sur la pureté de ses sentimens. […] Son caractère est un mélange affreux de fanatisme et de penchans atroces […]. [Il] ne veut ni de la liberté des noirs, ni de la domination des blancs; il déteste à mort les mulâtres, dont il a presque éteint la race […]. [La vie de Toussaint-Louverture] sera un exemple frappant des crimes où peut conduire l’ambition, quand la probité, l’éducation et l’honneur n’en répriment pas les excès.20
Diese Werke können eindeutig der für Napoleon und die Expedition Leclercs betriebenen Propaganda zugeordnet werden,21 da beide Autoren Toussaint diffamieren, während sie Napoleon verteidigen und die von ihm nach Saint-Domingue entsandte Expedition befürworten. Des Weiteren schrieb René Périn im selben Jahr einen fiktionalen Text über Toussaint, den Ferguson treffend als „a fictional version of the polemics produced by Dubroca and Cousin d’Avallon in the same year“22 bezeichnet. Dieser erste romanhafte Text wird in Kapitel 3.2.1 näher betrachtet. Toussaint selbst versuchte, sich während seiner Gefangenschaft der gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe zu erwehren, und schrieb zwischen 1802 und 1803 seine Memoiren, die allerdings erst 1853 vom haitianischen Historiker Joseph Saint-Remy veröffentlicht wurden. Toussaint rechtfertigt darin sein Verhalten gegenüber der französischen Regierung, beteuert seine Unschuld, prangert die Unrechtmäßigkeit seiner Verhaftung an und fordert Napoleon auf, Recht zu sprechen:
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Vgl. COUSIN, 1802, S. ij-iij. DUBROCA, 1802, S. 50-52; COUSIN, 1802, S. 14-16. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 396. FERGUSON, 1987, S. 398; vgl. auch BILOA ONANA, 2010, S. 63.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos Premier consul, père de tous les militaires, juge intègre, défenseur de l’innocence, prononcez donc sur mon sort; mes plaies sont très profondes; portez y le remède salutaire pour les empêcher de jamais s’ouvrir; vous êtes médecin; je compte entièrement sur votre justice et balance!23
Nach dem Scheitern der Expedition im Jahr 1803 wurde die Publikation von Werken über Saint-Domingue unter der Herrschaft Napoleons zunächst verboten, was auch erklärt, weshalb die Memoiren Toussaints erst so spät veröffentlicht werden konnten und zunächst auch insgesamt zwischen 1803 und 181324 kaum Schriften über Toussaint publiziert wurden.25 Trotz der unter dem Ersten Konsul und späteren Kaiser herrschenden strengen Zensur, gab es aber auch Stimmen gegen die Verunglimpfung Toussaints, die allerdings nicht häufig waren und kaum Gehör
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LOUVERTURE, 1853, S. 100f. Eine Ausnahme stellt das Werk Michel-Étienne Descourtilz’ dar, das zur weiteren Herabwürdigung Toussaints beitrug. Der französische Arzt und Botaniker, der von der französischen Regierung nach Saint-Domingue geschickt worden war, wurde von den Aufständischen gefangen genommen und diente bis zu seiner Flucht aus dem Lager Dessalines’ im Jahr 1802 den Aufständischen als Arzt. Vgl. DECHAMBRE, 1883, S. 288. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich publizierte er im Jahr 1809 einen Reisebericht über die Zeit in der französischen Kolonie. Darin spricht er über seine Begegnungen mit Toussaint Louverture (vgl. DESCOURTILZ, 1935, S. 29), den er als niederträchtigen und scheinheiligen Verbrecher beschreibt (vgl. DESCOURTILZ, 1935, S. 176, 223). Bereits 1797 veröffentlichte Baron Alexandre-Stanislas de Wimpffen einen Reisebericht über die französische Kolonie, der 1798 ins Deutsche und 1817 ins Englische übersetzt wurde. Vgl. LÜSEBRINK, 1985, S. 229. Allerdings hielt er sich im Zeitraum von 1788-1790 in Saint-Domingue auf, sodass noch keine Anmerkungen über Toussaint Louverture vorhanden sind. Weitere klassische Reiseberichte vom Ende des 18. Jahrhunderts, die sich allerdings noch nicht mit Toussaint befassten, sind jene von Moreau de Saint-Méry (Description topographique, physique, civile, politique et historique de la partie française de l’île Saint-Domingue), der 1797 erstmals veröffentlicht wurde, und Justin Girod-Chantrans (Voyage d’un Suisse dans différentes colonies d’Amérique pendant la derniere guerre: avec une table d’observations météorologiques faites à Saint-Domingue), der bereits 1785 erschien. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 117.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
fanden.26 Dazu zählt unter anderem der Abolitionist Abbé Grégoire, der mit Toussaint in Korrespondenz stand, mit seinem Werk De la littérature des Nègres, ou Recherches sur leurs facultés intellectuelles, leurs qualités morales et leur littérature; suivies de Notices sur la vie et les ouvrages des Nègres qui se sont distingués dans les Sciences, les Lettres et les Arts von 1808. Abbé Grégoire findet auch lobende Worte für Toussaint Louverture und rühmt in seiner Beschreibung, bei der er sich hauptsächlich auf die Schilderungen des französischen Oberst Vincent stützt, vor allem Toussaints Mut, seine Intelligenz sowie sein Dasein als guter Vater und Ehemann.27 Zwar gesteht Abbé Grégoire auch ein, dass Toussaint sich durchaus grausam und verräterisch verhalten habe, aber er bemängelt die einseitige Darstellung der Geschehnisse und hofft auf eine baldige neutrale Darstellung:28 „Quoique Toussaint soit mort, la postérité qui rectifie, casse ou confirme les jugemens des contemporains, n’est peut-être pas encore arrivée pour lui.“29 In den darauffolgenden Jahren wurde die Zensur allmählich aufgehoben,30 und es entstanden wieder vermehrt Werke über die Haitiani-
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Vgl. FERGUSON, 1987, S. 396. Bereits General Jean-Pierre Ramel, der unter der Führung Rochambeaus selbst an der Expedition nach SaintDomingue teilnahm, fordert in seinen Memoiren, die er zwischen 1803 und 1815 geschrieben haben muss und die Lamartine in seinem Vorwort des Theaterstückes Toussaint Louverture auszugsweise abdruckte (vgl. LAMARTINE, 1850, S. XVI-XXVIII), dass die Geschichte Toussaints unvoreingenommen erzählt werden soll. Er stellt Toussaint als sehr religiös und ehrgeizig dar, erkennt seine Leistungen für Frankreich an und ist der Meinung, dass eine interessante Geschichte daraus entstehen könnte, wenn alle Aspekte aufgenommen werden dürften: „Ce ne sera pas une histoire dénuée d’intérêt que celle de Toussaint, si elle paraît jamais, et surtout si elle est écrite avec impartialité, et s’il est permis de tout dire.“ Zitiert nach LAMARTINE, 1850, S. XX. Vgl. GRÉGOIRE, 1808, S. 102f. Vgl. GRÉGOIRE, 1808, S. 104. Viele Kolonisten reagierten erbost auf Abbé Grégoires Toussaint-Darstellung, wie beispielsweise Fr.-Richard de Tussacs Werk von 1810 veranschaulicht, dessen Titel bereits Schlussfolgerungen über den Inhalt zulässt: Cri des colons contre un ouvrage de M. l’évêque et sénateur Grégoire, ayant pour titre "De la littérature des nègres" ou Réfutation des inculpations calomnieuses faites aux Colons par l’auteur, et par les autres philosophes négrophiles, tels que Raynal, Valmont de Bomare, etc. GRÉGOIRE, 1808, S. 105. Geggus zeigt auf, dass von 1812 bis 1817 eine neue Zensur bezüglich aboli-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
sche Revolution und Toussaint Louverture. Insbesondere boten zwei Fragen Anlass zu Diskussionen: Soll eine zweite Expedition nach SaintDomingue geschickt werden, um die Kolonie zurückzuerobern? Soll der Sklavenhandel wiederaufgenommen oder verboten werden? Bereits im Jahr 1814 plante der damalige französische Marineminister Malouet eine solche Expedition nach Saint-Domingue, die allerdings von der 100-tägigen Rückkehr Napoleons gestoppt wurde.31 Nach der Schlacht von Waterloo und der damit beendeten Herrschaft der Hundert Tage wurde die Möglichkeit einer Rückeroberung Saint-Domingues, die vor allem von den ehemaligen Kolonisten gefordert wurde, erneut debattiert.32 Ebenso stand die Frage eines Verbots oder einer Wiederaufnahme des Sklavenhandels im Mittelpunkt der Diskussionen, wobei sich neben den ehemaligen Kolonisten vor allem Schiffbauer und Kaufleute für eine Wiederaufnahme des Sklavenhandels aussprachen. Nachdem Ludwig XVIII. beim Pariser Frieden das Versprechen abgerungen worden war, dass in Frankreich innerhalb von fünf Jahren der Sklavenhandel abgeschafft werden sollte, willigte dieser im Vertrag von Paris am 20. November 1815 in die sofortige Abschaffung des Sklavenhandels ein. Dazu hatte sich bereits Napoleon während seiner Herrschaft der Hundert Tage am 29. März 1815 verpflichtet.33 Auf dem Kongress von Aachen im Jahr 1818 wurden die sich aus dem Pariser Frieden ergebenden Bedingungen endgültig festgelegt, und der Sklavenhandel in Frankreich wurde ausdrücklich verboten.34 Die während der Diskussion dieser Fragen entstandenen Werke können zwei unterschiedlichen Tendenzen zugeordnet werden. Einerseits erschien eine Vielzahl von Schriften ehemaliger Kolonisten, die nun in Frankreich lebten und auf Rache sannen. Sie waren meist Befürworter der Sklaverei sowie des Sklavenhandels und stellten diesbezüglich eine einflussreiche Lobby dar. Sie dämonisierten Toussaint Louverture, prangerten den Verlust der Kolonie an und forderten eine zweite Expedition nach Saint-Domingue, die die Kolonie für Frankreich
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tionistischem Material in der Presse verhängt wurde. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 117. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 267. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 267; GEGGUS, 1985, S. 120. Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 213; GEGGUS, 1985, S. 117f. Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 213; GEGGUS, 1985, S. 120f.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
zurückerobern sollte. 35 Ein Beispiel hierfür ist das im Jahr 1819 veröffentlichte Werk De Saint-Domingue, de ses guerres, de ses révolutions, de ses ressources, et des moyens à prendre pour y rétablir la paix et l’industrie vom Kolonisten Drouin de Bercy. Wie bereits dem Titel entnommen werden kann, geht es ihm um eine Rückeroberung der Kolonie – eine Chance, die einige mit der Restauration der Bourbonenmonarchie für möglich hielten –, und zu diesem Zweck will er sein Wissen über die Insel kundtun. Der leicht als Monarchist zu erkennende Kolonist lastet Robespierre sowie den Kommissaren Sonthonax und Polverel den Verlust der Kolonie an und verteidigt die Expedition Leclercs.36 Toussaint wird als Verräter und rachsüchtiger Mörder dargestellt.37 Andererseits gab es auch eine Vielzahl von Texten, die hauptsächlich von Angehörigen des Militärs – meist als Memoiren – verfasst wurden. Sie warnten oftmals vor einer zweiten Expedition nach Saint-Domingue, da sie eine Rückeroberung für unmöglich hielten, und plädierten meist für eine Art Protektorat der ehemaligen Kolonie durch Frankreich oder für Entschädigungszahlungen und Handelsprivilegien.38 Interessanterweise wurde einer der ersten Texte dieser Art, die vor einer erneuten Expedition warnten, vom französischen Oberst Charles Malenfant, einem Plantagenbesitzer in Saint-Domingue, verfasst. Dieser Augenzeuge, der es erst nach der Absetzung Napoleons wagte, die Gründe für den Verlust der Kolonie aufzudecken,39 schlussfolgert in seinem Werk Des Colonies, et particulièrement de celle de SaintDomingue (1814), dass die Expedition ein Fehler war, da die Kolonie unter Toussaint florierte: La colonie était florissante sous Toussaint. Les blancs étaient heureux et tranquilles sur leurs biens, les nègres travaillaient. Leclerc, semblable à Cortès, a cru y trouver le Mexique. Toussaint a éprouvé à peu près le sort du malheureux Montézuma40, il est mort de faim dans un cachot à l’île d’Elbe41.42 35 36 37 38 39 40
Vgl. GEGGUS, 1985, S. 118. Vgl. DROUIN DE BERCY, 1814, S. 9, 11, 25. Vgl. DROUIN DE BERCY, 1814, S. 21f. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 120. Vgl. MALENFANT, 1814, S. 1f. Moctezuma II. herrschte von 1502 bis 1520 über das Reich der Azteken und gelangte durch seinen Kampf gegen die Spanier unter der Führung
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Er verteidigt Toussaint und verurteilt die von den Franzosen während des Krieges, den er als Vernichtungskrieg bezeichnet, begangenen Grausamkeiten an den Schwarzen.43 Explizit spricht er sich gegen eine weitere Expedition nach Saint-Domingue zur Rückeroberung der Kolonie aus, auf die zu dieser Zeit viele Kolonisten insistierten.44 General Joseph-François-Pamphile de Lacroix, der selbst an der Expedition teilnahm, bewertet diese in seinen Memoiren von 181945 im Nachhinein als Fehler und warnt vor einer Rückeroberung der Kolonie. Viele spätere Texte beriefen sich auf Lacroix’ Memoiren, da er als einer der Ersten eine historiografische Darstellung der kompletten Revolution von Saint-Domingue vorlegte.46 Neben dem Roman Périns wird auch das Werk dieses wichtigen Augenzeugen näher betrachtet.47 Charles-Humbert-Marie Vincent, der bereits 1786 als Offiziersingenieur nach Saint-Domingue kam und beinahe ununterbrochen bis 1800 auf der Insel verweilte, zum Vertrauten Toussaints wurde und dessen Verfassung nach Frankreich brachte, verteidigt in seiner Schrift Observations du Général du Génie Vincent von 1824 sein Handeln auf SaintDomingue. Vincent, der sich einerseits gegen die Sklaverei, aber andererseits auch gegen die Unabhängigkeit der Kolonie ausspricht,48 verurteilt das Vorgehen Napoleons, rechtfertigt weitestgehend die Taten
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des Konquistadoren Hernán Cortés zu Berühmtheit. Es gibt verschiedene Theorien darüber wie der aztekische Herrscher starb. Vgl. BERNECKER u. a., 2007, S. 29f; BIRKENMEIER, 2011, S. 2f. Malenfant bezieht sich vermutlich auf die Version, in der Moctezuma II. von Cortés gefangen genommen wurde und während seiner Gefangenschaft starb. Toussaint starb im Fort de Joux. Allerdings scheint die fälschliche Annahme, dass Toussaint auf der Insel Elba in Gefangenschaft war, häufiger aufgetreten zu sein. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 35. MALENFANT, 1814, S. 78. Vgl. MALENFANT, 1814, S. 77f. Vgl. MALENFANT, 1814, S. 110f. Zu erwähnen ist auch der in der Zwischenzeit erschienene Roman Le Robinson du faubourg Saint-Antoine (1817) von A.-F.-P. Ménégault, in dem Toussaint allerdings lediglich an einer Stelle auftaucht. Die Darstellung Toussaints dient dazu, dem Roman einen wahren historischen Hintergrund zu verleihen. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 399. Vgl. PLUCHON, 1995, S. 6, 29. Laut Bénot waren an der Dokumentation der Epoche der Revolution insbesondere Charles Malenfant sowie Charles-Humbert-Marie Vincent beteiligt. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 267. Vgl. Kapitel 3.2.2. Vgl. SCHNEIDER, 2002, S. 101.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Toussaints und intendiert, Teile aus Lacroix’ Werk zu widerlegen und ihm seine Version der Vorgänge entgegenzustellen.49 Selbst Napoleon50 scheint während seines Exils auf Sankt-Helena Reue bezüglich seiner Entscheidung empfunden zu haben: „C’était une grande faute que d’avoir voulu la [la colonie] soumettre par la force; je devais me contenter de la gouverner par l’intermédiaire de Toussaint.“51 Allerdings insistiert er darauf, dass Frankreich Toussaint trotz seiner Verdienste kein volles Vertrauen schenken konnte: Toussaint n’était pas un homme sans mérite, bien qu’il ne fût pas ce qu’on a essayé de le peindre dans le temps. Son caractère d’ailleurs prêtait peu, il faut le dire, à inspirer une véritable confiance: il était fin, astucieux; nous avons eu fort à nous en plaindre; il eût fallu toujours s’en défier.52
Sogar seine auf Martinique geborene Ehefrau, Joséphine de Beauharnais – der oftmals vorgeworfen wurde, ob ihrer Plantagenbesitztümer bei Napoleon für die Wiedereinführung der Sklaverei agitiert zu haben – zeigt in ihren Memoiren auf, dass sie sich, wie auch Oberst Vincent, bereits vor der Expedition nach Saint-Domingue gegen die Entsendung von Truppen und für die Machterhaltung Toussaints ausgesprochen habe.53 Eine erste durchweg positive und glorifizierende Darstellung erfährt Toussaint Louverture im 1818 in Paris erschienenen Werk Mémoire historique sur Toussaint-Louverture, ci-devant Général en Chef de 49
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Ablehnung gegenüber der Expedition Leclercs kommt auch in den Werken von Mathieu Dumas und Jean-Baptiste Lemonnier-Delafosse zum Ausdruck. Beide sind der Meinung, dass die Kolonie weiterhin von Toussaint hätte verwaltet werden sollen. Vgl. DUMAS, 1819, S. 272f; LEMONNIER-DELAFOSSE, 1846-1850, S. 284. Auch der von Napoleon zu Toussaint ins Fort de Joux gesandte General Caffarelli hielt seine Ansichten über Toussaint fest. Seine Notizen über seine Gespräche mit Toussaint im Gefängnis von 1802, die erst 1902 veröffentlicht wurden, schildern Toussaints Reumütigkeit. Er schreibt, dass Toussaint insbesondere den Erlass der Verfassung bedauerte, da er sich damit dem Vorwurf aussetzte, sich der Autorität Frankreichs entziehen zu wollen. Vgl. CAFFARELLI, 1902, S. 10, 16. LAS CASES, 1842, S. 687. LAS CASES, 1842, S. 688. Vgl. LE NORMAND, [1820] 1970, S. 123.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
l’Armée de Saint-Domingue, justifié, par ses actions, des accusations dirigées contre lui von Augustin Régis,54 der laut eigenen Angaben homme de couleur war und als Offizier in der ehemaligen Armee SaintDomingues diente.55 Da diese Schrift den Auftakt zu einer verherrlichenden Repräsentation Toussaints darstellt, wird sie im Folgenden eingehender betrachtet.56 Kurz darauf veröffentlichten57 auch Pompée-Valentin de Vastey, haitianischer Politiker und Autor, sowie Juste Chanlatte,58 einer der Anführer der Aufständischen und späterer Journalist, ein Werk über Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution.59 Beide Haitianer kritisieren das niederträchtige Verhalten der Franzosen. Ihrer Meinung nach sind Toussaint sowie Rigaud als Opfer der Franzosen anzusehen.60 Ebenso wird im Werk des Literaten Charles Malo Histoire de L’Ile de Saint-Domingue von 181961 sowie in den Werken des Abolitionisten Antoine Métral ein idealisiertes Bild Toussaints erstellt.62 In der 1825 erschienenen Histoire de l’expédition des Français à SaintDomingue sous le consulat de Napoléon Bonaparte (1802-1803) von Antoine Métral wurden auch die Memoiren Isaac Louvertures,63 dem Sohn Toussaint Louvertures, veröffentlicht.64 54
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Auch wenn Augustin Régis vermutlich hispanischer Abstammung war, ist sein in Paris auf Französisch erschienenes Werk für die Rezeption des schwarzen Anführers in Frankreich von großer Bedeutung. Vgl. GEGGUS, 2013. Vgl. RÉGIS, 1818, S. iij. Vgl. Kapitel 3.2.1. Während Vasteys Werk in Haiti erschien, wurde Chanlattes Schrift in Paris publiziert. Ihm wird auch das anonym veröffentlichte Werk Vie privée, politique et militaire de Toussaint-Louverture von 1801 zugeschrieben. Siehe Anm. 12 in Kapitel 3.2. Vgl. zu diesen beiden Werken insbesondere die Dissertation Toussaint Louverture and Haiti’s History as Muse: Legacies of Colonial and Postcolonial Resistance in Francophone African and Caribbean Corpus von Aude Dieudé (2013). Vgl. VASTEY, 1819, S. 11; CHANLATTE, 1824, S. 55. Im Jahr 1825 wurde unter dem Titel Histoire d’Haïti (Ile de SaintDomingue), depuis sa découverte jusqu’en 1824 eine neue Version des Werks veröffentlicht. Vgl. GEGGUS, 2013. Einen Großteil der Memoiren Isaacs (vgl. MÉTRAL, [1825] 1985, S. 227309) druckte auch Gragnon-Lacoste in seiner 1877 erschienenen Biogra-
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Konträr zu diesen glorifizierenden Darstellungen Toussaints erschienen aber auch Memoiren von Angehörigen der Expedition Leclercs,65 die diese im Nachhinein noch verteidigten und die Aufständischen, allen voran Toussaint Louverture, zu Dämonen stilisierten. Ein Beispiel hierfür sind die Memoiren Aventures de guerre au temps de la république et du consulat (1858) von Alexandre Moreau de Jonnès, der als Mitglied der französischen Marineartillerie zu den Antillen reiste. Es wird deutlich, dass dieser Augenzeuge für Toussaint und die anderen schwarzen Anführer tiefste Abscheu empfindet: „Véritablement, ces chefs qui faisaient une croisade pour la liberté des noirs étaient bien les despotes les plus absolus et les plus insolents qu’on puisse imaginer […].“66 Der französische Politiker und Autor Jacques de Norvins, der ein großer Bewunderer Napoleons und während der Restauration einer der ersten Initiatoren des Napoleon-Kults war,67 hielt seine Erinnerungen an die Expedition in seinem Werk Souvenirs d’un historien de Napoléon. Mémorial de J. de Norvins fest. Die zwischen 1838 und 1847 verfassten Memoiren werden aufgrund der unterschiedlichen Darstellung Toussaints mit dem Werk Lacroix’ vergleichend analysiert.68
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fie Toussaint-Louverture, Général en Chef de l’Armée de SaintDomingue, surnommé le Premier des Noirs ab. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 287-348. Inhaltlich entsprechen sich die beiden Versionen und weichen nur teils in der Wortwahl ab. Die Memoiren Isaacs werden im Zusammenhang mit dem Werk Gragnon-Lacostes in Kapitel 3.4 näher untersucht. Laut dem Historiker Jacques Adelaïde-Merlande, der die Einleitung zur neuen Herausgabe dieses Werks schrieb, wurden die Dokumente Métral, der zwar ein Zeit-, aber kein Augenzeuge ist (vgl. ADELAÏDE-MERLANDE, 1985, S. XIII), nach der Publikation seiner Histoire de l’insurrection des esclaves dans le nord de Saint-Domingue (1818) von Isaac zugesandt. Vgl. ADELAÏDE-MERLANDE, 1985, S. XXIX. Zwar sind die beiden folgenden Werke der Zeit- und Augenzeugenliteratur zuzurechnen, dennoch muss beachtet werden, dass die Memoiren erst nach 1830 verfasst wurden. Die nachträgliche Befürwortung und Rechtfertigung der Expedition muss daher auch vor dem historischen Hintergrund des Beginns der zweiten Welle der Kolonialisierung betrachtet werden. Vgl. Kapitel 3.4. MOREAU DE JONNÈS, [1893] 2005, S. 358f. Vgl. LANZAC DE LABORIE, 1896, S. I. Vgl. Kapitel 3.2.2.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
3.2.1 Die Dämonisierung Toussaints als Teil der bonapartistischen Propaganda und der Versuch, diese zu widerlegen Im Folgenden wird die Repräsentation Toussaints in den Werken René Périns und Augustin Régis’ verglichen. Bei Périn, dessen Roman von 1802 als Teil der bonapartistischen Propaganda angesehen werden muss, wird seine Einstellung zu Toussaint, der Haitianischen Revolution sowie der Expedition Leclercs bereits im Titel seines Werkes deutlich: L’Incendie du Cap, ou Le Règne de Toussaint-Louverture, Où l’on développe le caractère de ce chef de révoltés, sa conduite atroce depuis qu’il s’est arrogé le pouvoir, la nullité de ses moyens, la bassesse de tous ses agens, la férocité de Christophe, un de ses plus fermes soutiens, les malheurs qui sont venus fondre sur le Cap, la marche de l’armée française, et ses succès sous les ordres du capitaine général Leclerc. Neben der Dämonisierung Toussaints und der anderen Anführer der Haitianischen Revolution sowie der Verunglimpfung der von ihnen verfolgten Freiheitsbestrebungen steht die fiktive Geschichte um den Plantagenbesitzer de Senneville und die unerfüllte Liebe des aufständischen Sklaven Christophe zu dessen Tochter Ermina im Mittelpunkt des Geschehens. De Senneville wird als mitfühlender und menschlicher Sklavenbesitzer dargestellt, dem die Sklaven angeblich viel zu verdanken haben.1 Christophes Gewalttaten werden nicht als Kampf für die Freiheit, sondern als Rache für die unerfüllte Liebe interpretiert.2 Im Schlusswort macht Périn das Ziel seines Romans explizit, nämlich den verbrecherischen und heuchlerischen Charakter Toussaints offenzulegen: On a voulu offrir le caractère de Toussaint-Louverture, fixer les yeux sur ce colosse d’ineptie, d’ambition, de scélératesse et d’hypocrisie, et sur ses principaux agens; mais entrer dans le détail de tous leurs vices, de tous leurs forfaits, depuis qu’ils existent, eût été presqu’impossible,
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Vgl. PÉRIN, 1802, S. 16f, 44f. Vgl. BILOA ONANA, 2010, S. 63.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen car le flambeau de l’analyse s’éteindrait, si on le portait dans ce dédale d’atrocités.3
Augustin Régis’ Werk Mémoire historique sur Toussaint-Louverture, ci-devant Général en Chef de l’Armée de Saint-Domingue, justifié, par ses actions, des accusations dirigées contre lui von 1818 steht dem Werk Périns diametral entgegen. Régis intendiert die gegen Toussaint vorgebrachten Vorwürfe zu entkräften und der diffamierenden Darstellung Toussaints ein glorifiziertes Bild gegenüberzustellen. Er nimmt dazu direkten Bezug auf den Roman Périns4 sowie auf andere Werke, die seiner Meinung nach ein falsches Bild des schwarzen Anführers zeichnen, wie beispielsweise auf das zweibändige Werk Examen de l’esclavage en général, et particulièrement de l’esclavage des nègres dans les colonies françaises de l’Amérique (1802) des ehemaligen Anwalts und Kolonisten in Saint-Domingue François Valentin de Culliòn5 oder auch auf die Schrift De la nécessité de différer l’expédition de Saint-Domingue von T. O*** von 1814.6 Zudem spricht sich Régis für die Freiheitsbestrebungen der Sklaven im Allgemeinen aus und will nachweisen, dass nicht die Sklaven, sondern die entsandte Expedition den Verlust der französischen Kolonie herbeigeführt hat. Da sich – gemessen an zeitgenössischen Werken – bei Périn und Régis der stärkste Meinungsunterschied zum Thema Toussaint Louverture abzeichnet, wird nachfolgend untersucht, wie sie die verschiedenen Mytheme des Toussaint-Mythos veranschaulichten und instrumentalisierten. Da Périns Roman bereits 1802 und somit vor der Gefangennahme und dem Tod Toussaints erschien, fehlen diese Mytheme. Gleichermaßen bleiben bei Périn auch andere Mytheme unerwähnt, da für ihn nicht die detaillierte Darstellung Toussaints, sondern lediglich dessen größtmögliche Herabwürdigung von Belang zu sein scheint. Ebenso setzt Régis nur einige Mytheme in Szene und verfolgt in seinem Werk keine chronologische Vorgehensweise. Er setzt gewisse Kenntnisse über die Figur Toussaint Louverture voraus und versucht, verbreitete Vorwürfe und Vorurteile über Toussaint mit Gegenargumenten zu
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PÉRIN, 1802, S. 156. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 28f. Vgl. beispielsweise RÉGIS, 1818, S. 10, 12f, 15-17. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 30.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
entkräften. Eine Reihe von Mythemen entfällt bei ihm, da der Fokus auf Toussaints Verhalten bei und nach der Ankunft der Expedition gelegt wird. Zwar handelt es sich bei Périns Roman um einen fiktionalen und bei Régis’ Schrift um einen nichtfiktionalen Text, aber wie Lüsebrink aufzeigt, unterscheiden sich in dieser Zeit der Entstehung des literarischen Diskurses um Toussaint die nichtfiktionalen Darstellungen Toussaints kaum von den fiktionalen.7 Da sich beide Autoren auf dieselben faktischen historischen Gegebenheiten beziehen, scheint ein Vergleich hinsichtlich der Mytheme unproblematisch. Bei der Gegenüberstellung der verschiedenen Mytheme des Toussaint-Mythos wird deutlich, dass kein Mythem auf die gleiche Art Verwendung findet. Ein Mythem, das beide Autoren in ihr Werk aufnehmen und diametral verwenden, ist jenes des Lesens und Schreibens. Périn unterstellt Toussaint Ignoranz, indem er auf die Tatsache aufmerksam macht, dass dieser kaum lesen konnte: „Sorti de cet état de bassesse, où il aurait dû toujours rester pour le bonheur de l’humanité, il devint ambitieux; et, à peine sachant lire, il prit seul les rènes [sic] du gouvernement.“8 Régis kontert, indem er behauptet, dass Toussaint nicht nur der französischen Sprache mächtig war, sondern sogar Latein sprechen und schreiben konnte: „Mais Toussaint-Louverture était pourvu de lumières et fut bon latiniste, car il ne s’entretenait avec les ecclésiastiques qu’en langue latine; cela prouve qu’il n’était pas un ignorant“.9 Durch die Zitate wird deutlich, dass beide Autoren der damals herrschenden europäischen Denkweise anhaften, der zufolge es undenkbar war, dass Wissen anders als durch Bücher vermittelt werden konnte und jemand, der nicht lesen konnte, zu intelligentem Denken oder Handeln fähig wäre. Während Périn Toussaint durch diese Ungebildetheit Dummheit unterstellt, findet Régis keine andere Art der Argumentation, um die Intelligenz Toussaints zu rühmen, als ihm ein großes Sprachvermögen zu unterstellen, von dem er gewiss sein konnte, dass dies bei den Europäern Anerkennung finden würde. Die absolut gegensätzliche Darstellung Toussaints bringt ebenso das Mythem der Nationalität Toussaints zum Vorschein. Wie auch die übri7 8 9
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Vgl. LÜSEBRINK, 1985, S. 229. PÉRIN, 1802, S. 122. RÉGIS, 1818, S. 15.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
gen Sklaven betrachtet Périn Toussaint als ‚Anderen‘, als Afrikaner und keineswegs als Franzosen. Mit „cet Africain ignorant“,10 „cet africain altier“11 und „l’Africain féroce“12 wird eine merkliche Verachtung spürbar. Périn, der deutlich macht, dass die Afrikaner für die Sklaverei und nicht für die Freiheit geboren sind13 und daher ihre Freiheitsbestrebungen verurteilt,14 verstärkt diese Despektion zusätzlich durch die Animalisierung der Aufständischen. Sie werden als „[t]igres d’Afrique“15 und als „bêtes féroces gorgées de sang“16 verunglimpft; Toussaint wird als „tigre“17 und Christophe als „lion“18 tituliert. Dieser Vergleich bringt die ‚Andersheit‘ der Aufständischen sowie ihr grausames Wesen zum Ausdruck. Daran wird manifest, dass Toussaint bei Périn nicht als ebenbürtiger Mensch angesehen wird. Régis hingegen spricht sich für die Gleichheit aller Menschen aus 19 und desavouiert jene Werke, die in Bezug auf die Aufständischen anderes verlauten. Er zitiert aus dem Werk Culliòns, der die Schwarzen der Freiheit für nicht würdig befindet, und stellt sich dessen Ansichten entgegen: Je réponds qu’ils ne sont pas faits non plus pour être esclaves, puisqu’ils tiennent à la souche de l’espèce humaine, comme les autres hommes, et puisqu’ils viennent du même père créateur: et parce qu’enfin si les noirs sont d’une couleur différente de celle des blancs, ce n’est pas une raison pour en vouloir faire une classe separée [sic] de la société, ni pour les confondre dans le nombre des animaux.20
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PÉRIN, 1802, S. 123. PÉRIN, 1802, S. 136. PÉRIN, 1802, S. 152. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 59. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 19. PÉRIN, 1802, S. 59. PÉRIN, 1802, S. 128. PÉRIN, 1802, S. 152. PÉRIN, 1802, S. 54. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 25. RÉGIS, 1818, S. 16.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Obgleich nicht explizit hervorgeht, dass Toussaint in Régis’ Augen Franzose sei, legt die Darstellung der engen Beziehung und Liebe Toussaints zu diesem Land dies durchaus nahe.21 Unter dem Gesichtspunkt der Degradierung Toussaints und der anderen Anführer muss auch die bei Périn eingeschriebene Entrüstung hinsichtlich des Mythems Raynals verstanden werden. Im Vorwort zu seinem Roman empört sich Périn über die Anmaßung Toussaints zu glauben, er sei der von Raynal auserwählte Held: Cet assemblage inoui [sic] de scélératesse, d’ingratitude, de sottise, d’amour-propre et de bassesse, un Toussaint-Louverture, qui a oublié les bontés dont la France a daigné le combler, qui a grossi ses richesses des dépouilles de ses victimes, qui a trahi, persécuté ceux qui avaient abrité son enfance, cet hypocrite ignorant, qui, dans son fol orgueil, au milieu d’une orgie, osait dire que Raynal l’avait désigné, vient enfin de jetter [sic] le masque politique dont il se couvrait, et d’arborer l’étendart [sic] de la révolte.22
Périn behauptet gar, Toussaint habe sich während einer Orgie zu dem von Raynal vorhergesagten Spartakus deklariert – ein Punkt, der gleichzeitig zu einer abwertenden Sexualisierung Toussaints führt, die der Repräsentation des schwarzen Anführers bei Régis als guter Vater und treuer Ehemann wiederum diametral entgegensteht. Régis greift dieses Mythem Raynals nicht auf, obwohl er dadurch den mythischen Charakter Toussaints – als der von Raynal auserwählte Retter – noch besser hätte hervorheben können. Aufgrund der Betonung der ‚Andersheit‘ und des Vergleichs mit wilden Tieren kann davon ausgegangen werden, dass Périn Toussaint nicht als Christen erachtet, während Régis die Religiosität Toussaints23 und seine Bedeutung für die erneute Etablierung der katholischen Religion in der Kolonie aufnimmt: Sa famille, ses amis déportés en France pleurent en lui l’homme sensible, le philosophe aimable, le brave militaire, l’administrateur intègre
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Vgl. RÉGIS, 1818, S. 34. PÉRIN, 1802, S. xij-xiij. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 55.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen et le vertueux citoyen, le restaurateur, dans le dédale même des combustions révolutionnaires, des établissemens du culte, de l’agriculture et du commerce dans la belle et infortunée colonie de Saint-Domingue.24 [Herv. i. O.]
Périn nutzt auch den Übertritt Toussaints von der Seite der Spanier auf die der Franzosen zur Verunglimpfung Toussaints und zur Rechtfertigung von Napoleons Handeln in der Kolonie. In den meisten französischen Werken wird dieses Mythem positiv gewertet, da Frankreich lediglich mit Toussaints Hilfe dem Einfluss der Engländer und Spanier Einhalt gebieten konnte. Doch für Périn zählt allein der verräterische Aspekt seiner Entscheidung: „On le verra trahir l’Espagne, déserter ses drapeaux, abreuver d’injures les commissaires français, et citer ses forfaits comme des actions d’éclat.“25 Als besondere Grausamkeit gegenüber den französischen Truppen empfindet Périn zudem die Tatsache, dass Toussaint die Befehlsgewalt über Franzosen übertragen wurde: Déjà la France regrettait d’avoir accordé cette liberté illimitée à ces Africains vindicatifs et traîtres […]. Les troupes françaises qui étaient alors aux Colonies, eurent cruellement à souffrir: il fallait recevoir les ordres d’un Toussaint-Louverture. Des Français, obéir à cet Africain ignorant, qui avait conquis le pouvoir à force de crimes, et dont les fastes espagnols attestaient déjà la perfidie!...26
Régis schildert hingegen die positive Entwicklung der Kolonie unter der Herrschaft Toussaints und spricht von „les belles choses que ce digne général a fait avant l’arrivée de l’armée expéditionnaire dans la colonie, notamment la réunion de toute la colonie, partie espagnole compris, avec Santo Domingo […], en une seule et même domination“.27 [Herv. i. O.] Périn, der Toussaint als dummen, selbstverliebten und heuchlerischen Verbrecher beschreibt,28 akzentuiert aber nicht nur die angebliche Verachtung Frankreichs für den schwarzen Anführer, sondern ebenso 24 25 26 27 28
RÉGIS, 1818, S. 29. PÉRIN, 1802, S. 16. PÉRIN, 1802, S. 122f. RÉGIS, 1818, S. 15f. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 120.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
jene anderer europäischer Nationen wie beispielsweise England: „L’Angleterre, tout en se servant de lui, le méprisait, et lui craignait une puissance qui chaque jour pouvait le renverser.“ 29 Auch wenn Régis nicht direkt auf das Mythem eingeht, dass die Engländer Toussaint die Krone Saint-Domingues anboten, so streicht er dennoch den Respekt und die Ehrerbietung heraus, mit der England Toussaint behandelte. Als Beispiel führt er an, dass die Engländer bei den Friedensverhandlungen lieber mit Toussaint als mit dem französischen General Hédouville sprachen.30 Ebenso dient das Mythem der Verfassung bei Périn erneut der Anprangerung der Hypokrisie Toussaints. Dieser wird als Verräter deklariert, da der Erlass der Konstitution laut Périn ein Täuschungsmanöver gegenüber dem Mutterland war, das dadurch glauben gemacht werden sollte, Toussaint verfolge die gleichen Prinzipien wie Frankreich. Zudem wird nochmals die Ungebildetheit Toussaints, der laut Autor nicht einmal in der Lage sei, die Verfassung selbst aufzusetzen, verspottet.31 Die Erstellung der Verfassung durch seine Bediensteten wird durch die Ersetzung des Verbs „faire“ in einer Fußnote durch das Verb „fabriquer“ abgewertet: Toussaint, voyant que la paix venait de le priver de toute ressource, sous le masque de l’hypocrisie, chercha à tromper la France, en feignant d’adopter les principes du gouvernement. Il fait, non par lui, car il en est incapable; ses agens font une constitution….32 [Herv. d. Verf.]
Régis überzeugt den Leser indessen davon, dass Toussaint die Konstitution zum Wohle der Kolonie und Frankreichs erlassen habe und er sich dadurch keinesfalls der Autorität des Mutterlands entziehen wollte.33 Der nach dem Erlass der Verfassung erfolgte Niedergang Toussaints kann bei Périn, dessen Werk bereits 1802 veröffentlicht wurde, schon aus zeitlichen Gründen nicht dargelegt werden. In seinem festen Glau29 30 31
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PÉRIN, 1802, S. 136; vgl. auch PÉRIN, 1802, S. 146. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 32. Bereits zuvor verweist Périn auf die ihm zufolge unglaubliche Tatsache, dass Schwarze versuchen, Gesetze zu erlassen. Vgl. beispielsweise PÉRIN, 1802, S. 120. PÉRIN, 1802, S. 144. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 11.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
ben an einen Sieg Napoleons bzw. Leclercs über Toussaint und die Aufständischen sieht er allerdings eine Gefangennahme Toussaints in baldiger Zukunft voraus, die er als gerecht empfinden würde, da er Toussaint für alle Verbrechen in der Kolonie verantwortlich macht: „Toussaint, nous t’atteindrons partout, homicide impuni; tu croyais toujours triompher. Mais il est des forfaits que le courroux des dieux ne pardonne jamais.“34 Verrat sieht hingegen Régis in der Verhaftung Toussaints, da ein beidseitig vereinbarter Waffenstillstand herrschte. Auch er zieht den Vergleich – wie bereits Malenfant35 – zu Moctezuma: [...] il n’est encore que trop vrai que Toussaint-Louverture finit sa carrière militaire et politique comme l’a finie le vénérable Montézuma; il fut arrêté par trahison sur son habitation située aux Denneries, bien qui appartenait ci-devant à M. de Sensée, qu’il avait achetée argent comptant, où il vivait paisiblement au sein de sa famille d’après son traité avec Leclerc […].36 [Herv. i. O.]
Zudem prophezeit Régis Toussaint anhand einer Metapher, die zwar nicht der in den folgenden Jahrzehnten meist verwendeten Wurzelmetapher entspricht, aber dennoch über die gleiche orakelhafte Bedeutung verfügt, den endgültigen Sieg der Aufständischen: „‹Vous avez ma tête, mais vous n’avez pas ma queue, et vous vous repentirez de vos inconséquences.›“37 Périn hofft nicht nur auf die Verhaftung Toussaints, sondern würde auch dessen Tod,38 der durch die Expedition Leclercs herbeigeführt werden könnte, begrüßen: „[…] le premier Consul a parlé, et à l’instant où j’écris, le perfide Toussaint a peut-être existé.....“39 Régis hingegen beklagt die schreckliche Lage Toussaints in seiner Gefangenschaft im Fort de Joux und geht von einer Vergiftung Toussaints aus:
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PÉRIN, 1802, S. 155. Vgl. Kapitel 3.2. RÉGIS, 1818, S. 34f. RÉGIS, 1818, S. 35. Das Mythem des Schatzes findet in beiden Werken keine Erwähnung. Périn stellt Toussaint allerdings als raffgierigen Machthaber dar, der sich auf Kosten Frankreichs selbst zum reichsten Mann der Kolonie machte. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 121, 125. PÉRIN, 1802, S. xiij-xiv.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos […] les ordres ultérieurs venus de Paris du premier consul, le firent transférer en diligence sous l’escorte d’une nombreuse cavalerie ou gendarmerie, qui le conduisit dans les cachots du château de Joux, prison d’état près Besançon, et non à l’île d’Elbe, comme on le croit vulgairement40, où il vécut pendant un laps de temps qui n’excéda pas trois mois: il fut empoisonné et mourut dans cette affreuse situation, en l’an 1803, à l’âge de 58 ans, laissant une femme, modèle exemplaire de vertu et de religion, et trois enfans, qui pleurent en lui un époux et un père.41 [Herv. i. O.]
Dass Frankreich den Verlust dieses großartigen Mannes betrauern sollte, hält er durchaus für angebracht: „le malheureux ToussaintLouverture, dont la nation doit pleurer la mort.“42 [Herv. i. O.] So diametral wie die Darstellung Toussaints ist in diesen Werken auch die Repräsentation der Franzosen. Périn, ein großer Verehrer Napoleons und vom baldigen Sieg des Ersten Konsuls über Toussaint überzeugt, weist an mehreren Stellen im Roman daraufhin, dass den Sklaven und insbesondere ihren Freiheitsbestrebungen für das über die Kolonie hereinbrechende Unglück die Schuld zukomme. Demgegenüber hätten sich die Franzosen einzig und allein zum Vorwurf zu machen, dass sie sich den Aufständischen gegenüber zu großmütig und nachsichtig verhalten haben: Cette idée d’indépendance, ce desir [sic] de se dire égaux à leurs maîtres, cette soif de passer pour des citoyens, de n’avoir plus ni frein ni lois; l’ambition, la haine! ... tels étaient les motifs cruels qui devaient amener la ruine des Colonies. [...] et nous avons à nous reprocher le trop d’indulgence envers des gens qui sont devenus nos plus cruels ennemis [...].43
Exemplarisch für die Großzügigkeit Frankreichs bzw. Napoleons und für die Undankbarkeit Toussaints führt Périn die Tatsache an, dass die
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Wie beispielsweise MALENFANT, 1814, S. 78. RÉGIS, 1818, S. 35f. RÉGIS, 1818, S. 57. PÉRIN, 1802, S. 19.
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Söhne Toussaints an der französischen Militärschule Prytannée44 aufgenommen wurden. Einigen Franzosen spricht Périn auch eine Mitschuld an den Ereignissen zu. Seine Vorwürfe richten sich insbesondere gegen Robespierre, den er als Verbrecher45 und Toussaints „horrible modèle“46 bezeichnet, sowie gegen die von ihm entsandten Kommissare, die das Ende der Sklaverei verkündeten.47 Robespierre wirft er vor, dass erst unter seiner Herrschaft Toussaint zu viel Macht eingeräumt wurde: Jusqu’alors le gouvernement français avait disputé l’autorité à Toussaint-Louverture; la crainte avait encore pu arrêter ses projets, et retenir son caractère atroce et vindicatif: mais une fois avoué de son rival en scélératesse, une fois environné de la protection d’un sénat homicide, il ne songeât plus, en satisfaisant ses penchans, qu’à se rendre digne de son nouveau protecteur.48
Während Robespierre und die nach Saint-Domingue geschickten Kommissare wie Sonthonax und Polverel verunglimpft werden, erfahren die Expedition Leclercs, die Frankreich aus dieser Lage wieder befreien und die Kolonie zurückerobern soll, sowie Napoleon, der als „enfant chéri de la victoire, le favori des Dieux“49 tituliert wird, eine Heroisierung. Die von Leclerc und seinen Soldaten vollbrachten Taten werden als ruhmvolles Verdienst gepriesen;50 die Vergehen der Aufständischen an den Weißen werden als grausam hingestellt.51 Régis vertritt im Vergleich zu Périn wiederum konträre Ansichten und die kriegerischen Auseinandersetzungen und der Verlust der Kolonie hätten ihren Ursprung in der von Leclerc52 angeführten Expedition 44
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Die Söhne Toussaints wurden nach Paris zu Jean-Baptiste Coisnon gebracht, der im Collège de la Marche eine Privatschule errichtete, die bald Institut national des Colonies genannt wurde. Vgl. CAUNA, 2004, S. 247. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 132. PÉRIN, 1802, S. 136. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 134. PÉRIN, 1802, S. 134f. PÉRIN, 1802, S. 142. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 155. Vgl. PÉRIN, 1802, S. 123, 148. Außerdem spricht Régis dem französischen General Hédouville die Schuld am Krieg zwischen Schwarzen und Mulatten von 1799-1801 zu,
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
genommen: „Sans l’arrivée de cette masse de troupes dans la colonie, qui jouissait déjà d’une parfaite sécurité, et dont le commerce et la culture des terres renaissaient plus que sous l’ancien régime, SaintDomingue restait encore intact à la France [...].“53 Schließlich habe Toussaint Frieden angestrebt und die Kolonie für Frankreich zu Wohlstand führen und erhalten wollen.54 Des Weiteren spricht Régis auch den weißen Kolonisten die Schuld am Verlust der Kolonie zu, da sie sich gegen die Freiheit für die Sklaven stellten.55 Bemerkenswert ist, dass es zu keiner Dämonisierung Napoleons kommt. Zwar ist sich der Leser bewusst, dass die Truppen von Napoleon geschickt wurden, aber laut Régis habe der Erste Konsul Leclerc eine Nachricht zugesandt, die befahl, Toussaint wieder die Herrschaft über die Kolonie zu übertragen und nach Frankreich zurückzukehren – eine Nachricht, die Leclerc erst nach der Gefangennahme Toussaints erreichte.56 Somit wird Napoleon für die Verhaftung sowie den Tod Toussaints nicht verantwortlich gemacht. In den von den Schwarzen begangenen Grausamkeiten erkennt Régis eine natürliche Reaktion auf die von dem Expeditionsheer begangenen Gräueltaten: De Christophe et de Pétion, ce n’est qu’un résultat des suites funestes de l’injustice et des cruautés les plus exécrables que les Rochambeau et Boyer, ainsi que les autres blancs qui les secondèrent, indignes du nom français, ont exercé sur les personnes des noirs, dont les mânes crient encore vengeance tant devant Dieu que devant les hommes.57
Ganz deutlich wird durch den Vergleich der beiden Werke, wie verschieden Toussaint Louverture bereits von den Zeitzeugen beschrieben wurde und wie kontrovers sich die Debatte um seine Person gestaltet hat. Bei Périn und Régis gibt es in der Repräsentation Toussaints keinerlei Kongruenzen; jedes einzelne aufgenommene Mythem wird unterschiedlich, geradezu antithetisch dargestellt. Während Périn Toussaint
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da er den Anführer der Mulatten Rigaud gegenüber Toussaint von jedwedem Gehorsam befreite. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 30, 38. RÉGIS, 1818, S. 11f; vgl. auch RÉGIS, 1818, S. 53, 55. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 34. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 13, 52f. Vgl. RÉGIS, 1818, S. 36. RÉGIS, 1818, S. 39f.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Louverture als ungebildeten, heuchlerischen, anmaßenden, schamlosen Afrikaner deklariert, den er – um seiner Verachtung noch besser Ausdruck zu verleihen – animalisiert, wird er bei Régis als gebildeter, tugendhafter, religiöser, Frankreich treu ergebender Mann gerühmt. Dementsprechend wird auch die Herrschaft Toussaints konträr beurteilt: Périn ist der Meinung, dass Toussaint die Macht mithilfe Robespierres an sich reißen konnte und die Kolonie so ins Verderben gestürzt wurde, weshalb auch die anderen Staaten wie England lediglich Verachtung für Toussaint übrig hatten. Demgegenüber verzeichnet Régis dank der Maßnahmen Toussaints eine sehr positive Entwicklung in der Kolonie, die unter ihm wieder zu florieren begann, und er berichtet von großem Respekt und Anerkennung, die Toussaint u. a. von England entgegengebracht wurden. Während Périn in seinem bereits 1802 erschienenen Werk auf die baldige Gefangennahme und den Tod Toussaints hofft und beides als gerecht empfinden würde, empört sich Régis über den an Toussaint durch die Verhaftung begangenen Verrat sowie den angeblich durch Vergiftung erfolgten Mord. Périn stellt die von Toussaint und den anderen Aufständischen begangenen Taten kolossal übersteigert dar, verurteilt ihre Freiheitsbestrebungen und macht sie für die Lage in der Kolonie verantwortlich. Zugleich verherrlicht er Napoleon sowie die von ihm gesandten Truppen nach Saint-Domingue. Régis gibt indessen der Expedition sowie den weißen Kolonisten, die die Freiheit der Sklaven nicht anerkennen wollten, die Schuld an den begangenen Gräueltaten und am Verlust der Kolonie, wobei Napoleon entlastet und der Fokus auf Leclerc gelegt wird. Régis erweckt in seinem Werk den Anschein, als ob Napoleon die Expedition bereits vor der Verhaftung Toussaints als Fehler ansah. Deutlich wird in beiden Werken auch die noch anhaltende, kontrovers geführte Debatte um die Sklaverei. Während Périn die Güte der weißen Sklavenbesitzer preist, spricht sich Régis deutlich für die Abolition und die Freiheit aller Menschen aus. Das Werk Périns ist gefärbt von Rassismus und Vorbehalten gegenüber den Schwarzen. Es ist verwunderlich, dass Régis, der sich vehement gegen die Sklaverei ausspricht, die von Napoleon in den französischen Kolonien im Jahr 1802 wiedereingeführte Sklaverei nicht thematisiert. Anhand von Périns Werk kann die drastische Wandlung der Repräsentation Toussaints während der Expedition Leclercs veranschaulicht
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
werden. Es ist ein eindeutiges Beispiel für die vorherrschende bonapartistische Propaganda und sicher eines der Werke, in denen Toussaint die größtmögliche Dämonisierung erfährt – eine Dämonisierung, die zur Rechtfertigung und Unterstützung der Expedition diente. Die in diesem Werk vorhandene Gegenüberstellung des Ersten Konsuls und des schwarzen Anführers wird in den folgenden Jahrzehnten zu einem beliebten Motiv, wobei schon jetzt zu sehen ist, dass eine Glorifizierung des einen Anführers ohne eine gleichzeitige Diskreditierung des anderen Herrschers schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Régis’ Schrift mag zwar teils diffus und anachronistisch wirken, ist aber dennoch von Bedeutung, da sie eine der ersten in Frankreich veröffentlichten glorifizierenden Darstellungen Toussaints ist, die aufgrund der Zensur zeitlich nicht viel näher an die gescheiterte Expedition hätte erscheinen können. Beide Werke können als Ausgangspunkt für die in den kommenden 200 Jahren voranschreitende Metamorphose des Toussaint-Mythos betrachtet werden.
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Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
3.2.2 Von der bonapartistischen Propaganda geprägte Memoiren Im Folgenden werden die beiden detaillierten Augenzeugenberichte von Lacroix und Norvins betrachtet, die beide mit der Expedition Leclercs nach Saint-Domingue reisten und sich durch ihre Funktionen im Zentrum des Geschehens befanden. Die 1819 erschienenen Memoiren des französischen Generals Joseph-François-Pamphile de Lacroix, der nicht aus idealistischen Gründen, sondern aufgrund beruflichen Ehrgeizes zusammen mit Leclerc nach Saint-Domingue ging und unter ihm von Februar 1802 bis März 1803 für Frankreich kämpfte,1 sind eines der wichtigsten Augenzeugenwerke. Das Werk erschien vor der Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis, als noch die Frage im Raum stand, ob die Kolonie durch eine zweite Expedition zurückerobert werden sollte. Lacroix’ erklärtes Ziel ist es, der Regierung einen detaillierten Bericht über die Ereignisse in Haiti zu liefern, damit diese eine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen kann.2 Der französische General, der gegen Toussaint und seine Truppen kämpfte, erhebt den Anspruch, sich in seinem Werk von den dichotomischen Toussaint-Darstellungen zu lösen. Er kritisiert, dass Toussaint bisher immer entweder als Monster oder als Heiliger instrumentalisiert wurde und will nun das wahre Gesicht Toussaints zeigen: Jugé par l’intérêt du moment, à travers le prisme des passions, Toussaint Louverture a tour à tour été représenté comme une brute féroce, ou comme le plus surprenant et le meilleur des hommes, souvent encore comme un monstre exécrable ou comme un saint martyr: il ne fut rien de tout cela.3
Der bereits zuvor durch seine Histoire de Napoléon (1827), in der die Expedition ebenfalls angesprochen wird, bekannt gewordene Autor Jacques de Norvins hielt sich ebenfalls von 1802 bis 1803 in SaintDomingue auf. Im Gegensatz zu Lacroix hatte Norvins zunächst keinen offiziellen Posten inne, sondern schloss sich der Expedition aus Aben1 2 3
Vgl. PLUCHON, 1995, S. 27. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 42. LACROIX, [1819] 1995, S. 354.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
teuerlust an sowie angetrieben von der Hoffnung, in der Kolonie zu Reichtum zu kommen.4 Später wurde er zum secrétaire intime Leclercs ernannt und anschließend als secrétaire de la capitainerie bezeichnet, wobei er für diese Tätigkeit nicht entlohnt wurde.5 In seinen erst 1896 veröffentlichten Erinnerungen,6 die er zwischen 1838 und 1847 schrieb7 und die kurz nach ihrem Erscheinen vom französischen Schriftsteller und Historiker Geoffroy de Grandmaison als „témoignage précieux pour l’histoire“8 gefeiert wurden, spricht er sich positiv für die Expedition sowie insbesondere für das Vorgehen Leclercs und Napoleons aus, für die er große Bewunderung hegt, wobei Toussaint in Misskredit gebracht wird. Norvins rühmt auch die Verdienste Lacroix’9 und beurteilt dessen Memoiren als „très intéressants“.10 Lacroix nimmt im Gegensatz zu Norvins beinahe alle Mytheme des Toussaint-Mythos11 auf, was darin begründet liegt, dass er einen vollständigen Abriss der Haitianischen Revolution und des Aufstiegs Toussaints anstrebt, während Norvins’ Toussaint-Darstellung erst mit dem Beginn der Expedition Leclercs einsetzt. Zunächst einmal sind sich beide Zeitzeugen darin einig, dass Toussaint Louverture ein außergewöhnlicher Mann war.12 Des Weiteren beschreiben sie ihn einmütig als machtbesessenen, selbstverliebten, ambitiösen und über alle Maßen stolzen Mann. Laut den Autoren verleiteten ihn diese negativen Charaktereigenschaften auch zu Fehlern, wie sie insbesondere anhand des Mythems der Verfassung veranschau4 5 6
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Vgl. LANZAC DE LABORIE, 1896, S. VII. Vgl. DEPRÉAUX, 1928, S. 662, 668. Bereits 1836 veröffentlichte Norvins in der Zeitung La Presse verschiedene Artikel über Toussaint Louverture, die in seinen Memoiren auszugsweise abgedruckt werden. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 394, Fußnote 1, 400. Vgl. DEPRÉAUX, 1928, S. 652, Fußnote 1. GRANDMAISON, 1898, S. 88. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 372f, 383. NORVINS, 1896b, S. 372f, Fußnote 4. Das Mythem der königlichen Abstammung Toussaints wird in beiden Schriften nicht angeführt. Ebenfalls findet die Rettung des Verwalters der Plantage, auf der Toussaint als Sklave gearbeitet hatte, keine Erwähnung. Diese Mytheme, die meist zur positiven Darstellung Toussaints verwendet werden, gewinnen erst in der Romantik an Bedeutung. Vgl. Kapitel 3.3. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 214; NORVINS, 1896b, S. 400.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
lichen: Lacroix unterstellt Toussaint, aufgrund seines Ehrgeizes und seiner Machtbesessenheit, schon lange eine Verfassung für SaintDomingue im Sinne gehabt zu haben.13 Umgarnt von zahlreichen Schmeichlern und im Vertrauen auf seine Macht schenkte Toussaint den damit verbundenen Gefahren keine Beachtung.14 Ebenso macht Norvins Toussaints Ambitionen und seinen unermesslichen Stolz für die Ausarbeitung einer Verfassung bzw. der darin verankerten Ernennung seiner Person zum Gouverneur auf Lebenszeit verantwortlich: „Son orgueil était insatiable; il l’avait bien prouvé en écrivant au premier Consul: ‹Le premier des noirs au premier des blancs...› et en se faisant aussi nommer dictateur à vie.“15 Dieses im Zitat kritisierte Schreiben „Du Premier des Noirs au Premier des Blancs“ wird auch bei Lacroix aufgegriffen und ebenfalls als Ausdruck der Vermessenheit und Selbstüberschätzung Toussaints betrachtet.16 In diesem Sinne wird auch in beiden Werken das Mythem des durch Abbé Raynal vorhergesagten schwarzen Spartakus’ aufgenommen. Die Autoren sehen diese Prophezeiung sehr kritisch, da Toussaint sich ihnen zufolge selbst zu diesem auserwählten Retter stilisieren wollte. Lacroix macht deutlich, dass Toussaint selbst seinen Aufstieg nachträglich zu mystifizieren versuchte.17 Bis zum Schluss sei Toussaint der Überzeugung gewesen, dazu auserkoren zu sein, die Schwarzen zu rächen: „Toussaint Louverture était resté persuadé que c’était lui dont l’abbé Raynal avait annoncé l’élévation, comme destiné à venger un jour les outrages faits à la race noire.“18 Ebenso zeigt Norvins auf, wie Toussaint versuchte, die Prophezeiung19 unablässig und skrupellos in
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Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 259. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 259f. NORVINS, 1896b, S. 363. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 277. Beide Autoren beschreiben gleichzeitig auch die Bewunderung, die Toussaint für den Ersten Konsul hegte (vgl. NORVINS, 1896b, S. 404, 406): „Le premier consul n’avait jamais voulu condescendre à répondre à des lettres d’admiration dont l’une portait pour suscription intérieure: Le premier des Noirs au premier des Blancs.“ LACROIX, [1819] 1995, S. 277. [Herv. i. O.] Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 243. LACROIX, [1819] 1995, S. 355. Toussaint sah sich laut Norvins nicht nur selbst als den von Raynal angekündigten Retter an, sondern nahm sich des Weiteren auch Napoleon zum Vorbild: „‹Bonaparte est modèle à moi!›“ NORVINS, 1896b, S. 404.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
die Tat umzusetzen: „Toussaint était parti de ce mot étrange, jeté par lui solitairement dans une case de l’habitation Bréda: ‹Raynal est prophète à moi!› Il avait marché sans relâche et sans scrupules à l’accomplissement complet de la prophétie de Raynal.“20 Dennoch gestehen ihm beide Autoren auch positive Taten – wenn auch wenige – zu, wozu sie insbesondere seinen erfolgreichen Kampf gegen die Engländer und die Spanier im Namen Frankreichs zählen. Lacroix hebt Toussaints Übertritt auf die Seite der Franzosen hervor, wobei er ihn für seine Entscheidungsgrundlage, die Erklärung der allgemeinen Freiheit, lobt: Le génie de Toussaint Bréda avait compris la valeur de cette déclaration [décret du 4 février 1794]; il commençait à supposer la bonne foi du côté de la puissance qui, sans tant calculer ses intérêts locaux, avait la première proclamé l’affranchissement général des esclaves.21
Ebenfalls zeigt er auf, dass die persönlichen Ambitionen Toussaints eine wichtige Rolle spielten, da eine erfolgreiche Karriere bei den Franzosen eher möglich schien.22 Insgesamt wird der Wechsel Toussaints zu den Franzosen von Lacroix als sehr positives Ereignis bewertet, da Frankreich ohne ihn den Spaniern und Engländern bei der Verteidigung der Kolonie unterlegen gewesen wäre: „Si Saint-Domingue portait encore les couleurs de la France, il faut le dire avec vérité, on ne le devait qu’à un vieux Nègre qui semblait avoir mission du Ciel d’en réunir les membres déchirés.“23 Diese Leistung Toussaints findet auch bei Norvins Anerkennung: „[…] Toussaint, vainqueur des Espagnols et des Anglais […].“24 Zudem zeigt Lacroix auf, dass Toussaint gegenüber Frankreich auch eine gewisse Loyalität empfand, und verweist auf die Ablehnung Toussaints des von den Engländern vorgebrachten Angebots der Krone Saint-Domingues. Zwar führt Lacroix als Grund für die Zurückweisung einerseits die unsichere politische Lage ins Feld, die Toussaint an dem versprochenen Schutz der Engländer zweifeln ließ: „Cette considération 20 21 22 23 24
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NORVINS, 1896b, S. 404. LACROIX, [1819] 1995, S. 188. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 189. LACROIX, [1819] 1995, S. 194. NORVINS, 1896b, S. 404.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
eut alors plus d’action sur le bon sens du général noir que ses sentiments patriotiques“.25 Andererseits ist er aber auch der Meinung, dass Toussaint sich den Prinzipien Frankreichs verpflichtet fühlte: „[…] il s’était montré inébranlablement attaché aux principes de la France lorsque l’Angleterre avait voulu le faire roi“.26 Toussaint war laut Lacroix aber nicht nur den Prinzipien Frankreichs, sondern insgesamt dem Land und seinen Bewohnern besonders zugeneigt.27 Er hebt auch die nach der Unabhängigkeitserklärung angeblich noch sehr innige Verbundenheit der Schwarzen von Haiti mit Frankreich hervor: „Les Noirs d’Haïti ont été parfois trop français pour avoir oublié que la France fut la première parmi les nations qui leur accorda les droits de la famille humaine.“28 Trotz dieser angeführten Loyalität Toussaints und der vermeintlich allgemeinen besonderen Verbindung zwischen den Bewohnern Haitis und Frankreich wird deutlich, dass Lacroix, der die Aufständischen meist als „les Noirs“29 bezeichnet und sie an einer Stelle sogar explizit als „ces Africains“30 tituliert, Toussaint und seine Truppen nicht als Franzosen betrachtet. Auch Norvins spricht in seinen Memoiren von „les noirs“.31 Er sieht davon ab, die emotionale Nähe Toussaints zu Frankreich herauszustellen, sondern scheint bereits Saint-Domingue als Vaterland Toussaints zu verstehen:32 „La marche rapide du général Leclerc au revers de ces mornes en éloigna seule les vengeances de Toussaint, qui des hauteurs qu’il occupait goûtait l’atroce jouissance de voir détruire la ville la plus riche de sa patrie.“33 Auch wenn die Insel zum Zeitpunkt der Expedition Leclercs noch zu Frankreich gehörte, nimmt er Toussaint nicht als Franzosen wahr, sondern spricht im Rückblick von „l’empire noir de Toussaint“.34
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LACROIX, [1819] 1995, S. 213. LACROIX, [1819] 1995, S. 355f. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 244. LACROIX, [1819] 1995, S. 422. Beispielsweise LACROIX, [1819] 1995, S. 198. LACROIX, [1819] 1995, S. 231. Beispielsweise NORVINS, 1896b, S. 364. Dies könnte auch darin begründet liegen, dass die Unabhängigkeit Haitis beim Verfassen seiner Memoiren von Frankreich bereits anerkannt war. NORVINS, 1896b, S. 351. NORVINS, 1897, S. 24.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Trotz dieses Einvernehmens muss zwischen den Darstellungen nuanciert werden. So werden Toussaint und seine Truppen in den Memoiren Lacroix’ nicht als Franzosen, aber zumindest als sehr französisch bezeichnet. Insgesamt erfolgt Toussaints Betrachtung weniger unter dem Aspekt der Staats- als unter dem Aspekt der Rassenzugehörigkeit, denn in beiden Werken wird er – in Abgrenzung zu den Weißen – hauptsächlich als Schwarzer erachtet. Frappant ist, dass Norvins zudem Wert darauf legt zu erwähnen, dass die Schwarzen der Menschheit35 zuzurechnen sind: „En l’honneur de l’humanité, dont ils font partie“.36 Diese Einteilung der Menschheit in verschiedene Rassen, die im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung war,37 zeigt sich auch am Mythem der Frauen. Beide Autoren versuchen, Toussaint durch den Fund von an ihn gerichteten Liebesbriefen weißer Frauen aus der gehobenen Gesellschaft zu sexualisieren und als promiskuitiven Mann, als untreuen Ehemann darzustellen, der „das Klischee vom lüsternen Neger, der seine Triebe nicht kontrollieren kann“38 bedient: […] nous n’y trouvâmes que des tresses de cheveux de toutes couleurs, des bagues, des cœurs en or traversés de flèches, des petites clefs, des nécessaires, des souvenirs, et une infinité de billets doux qui ne laissaient aucun doute sur les succès obtenus en amour par le vieux Toussaint Louverture! Cependant il était Noir, et il avait un physique repoussant... mais il s’était fait le dispensateur de toutes les fortunes, et sa puissance pouvait à volonté changer toutes les conditions...39 […] je mis la main sur une grosse liasse de lettres qui, à la honte de l’humanité et de la civilisation, nous révéla les nombreuses galanteries du vieux nègre avec des dames créoles distinguées par leur naissance et leur beauté. Ces lettres étaient toutes signées, et rien, pas même la jalousie, n’y était oublié.40 [Herv. i. O.]
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Obwohl Norvins durchaus eine Herabwürdigung Toussaints in seinem Werk anstrebt, verzichtet er hierfür aber auf Animalisierungen, wie sie noch bei Périn vorkamen. NORVINS, 1896b, S. 369. Vgl. hierzu Kapitel 1.2 und 3.4. DUERR, 2002, S. 313. LACROIX, [1819] 1995, S. 304. NORVINS, 1896b, S. 376.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Besonders gravierend scheint diese Entdeckung aufgrund der Tatsache, dass Toussaint schwarz war. Lacroix insistiert daher darauf, dass Toussaint den Erfolg beim weiblichen Geschlecht ausschließlich seiner absoluten Macht verdankte. Während sexuelle Beziehungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen in der damaligen Kolonie üblich waren, lösten Affären von schwarzen Männern mit weißen Frauen Ängste aus, da derartige Unsittlichkeit das vorhandene Weltbild und die existenten soziokulturellen Verhältnisse ins Wanken brachte.41 Die angebliche Superiorität der weißen Rasse wurde zu dieser Zeit noch nicht infrage gestellt und so werden diese Liaisons zwischen Toussaint und weißen Frauen von den Zeitzeugen als unangemessen und schändlich betrachtet. Beide Autoren berichten, dass die Briefe vernichtet wurden, um diese von General Boudet, der die Briefe gefunden hatte, als „‹honteux souvenirs›“42 bzw. von Napoleon als „‹ces témoignages honteux de la prostitution des blanches›“43 bezeichnete Schande vergessen zu machen. Bis auf Toussaints Unterstützung beim Sieg gegen die Engländer und Spanier in Saint-Domingue erwähnt Norvins keine weiteren Meriten oder Tugenden des schwarzen Anführers. Unter Berufung auf eine Beschreibung Pascals, einer der Sekretäre Toussaints, fasst er stattdessen Toussaints negative Charaktereigenschaften zusammen, wodurch seine ablehnende Haltung gegenüber Toussaint deutlich wird: Toussaint-Louverture ne connaissait ni l’amitié, ni la haine, ni les liens du sang. S’il ne frappait pas toujours, il ne pardonnait jamais. Sa volonté, inconnue, inébranlable, terrible, était la loi suprême et sans appel. […] La cruauté ou la clémence, la violence ou la justice n’étaient pour lui que des instruments politiques. Il était aussi patient qu’impassible, aussi prudent que passionné; de l’esclavage où il était né, il avait conservé la frugalité et la vigueur.44
Im Gegensatz zu Norvins greift Lacroix neben den oben genannten positiven Aspekten noch weitere gute Eigenschaften und Taten Toussaints
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Vgl. MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, 2008, S. 148. LACROIX, [1819] 1995, S. 304. NORVINS, 1896b, S. 377. NORVINS, 1896b, S. 362f.
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auf. Insbesondere macht er auf die Klugheit und Reflektiertheit Toussaints aufmerksam. 45 Er zeigt auf, dass Toussaint zwar kaum Lesen konnte und schlecht Französisch sprach, er aber trotz mangelnder Bildung sehr intelligent war.46 Bewunderung ruft auch die von Toussaint bei seiner Deportation nach Frankreich exklamierte Wurzelmetapher bei Lacroix hervor, der diese zitiert und sie mit der Bezeichnung „ces paroles mémorables“47 als erinnerungswürdig einstuft. Dass auch Lacroix Toussaint nicht in Ehren entlässt, wird beispielsweise durch den Nachweis offenkundig, dass Toussaints Religiösität, auch wenn er seinem Volk und seinen Truppen den Glauben lehrte,48 nur vorgespielt und eine politische Taktik und Maske war.49 Ferner beschreibt der General „la violence de son âme“,50 verurteilt die Grausamkeit der von ihm erteilten Befehle51 und prangert „le féroce ressentiment de Toussaint Louverture envers notre couleur et le froid calcul de son impitoyable politique“52 an.53 Er verfolgt demnach zwar nicht wie Norvins eine quasi uneingeschränkte Dämonisierung Toussaints, verurteilt jedoch auch verschiedene negative Aspekte.54
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Lacroix berichtet, dass Toussaint oftmals Gleichnisse verwendete, damit ihn die Schwarzen besser verstanden. Er erwähnt beispielsweise das Maisgleichnis, das Toussaint aufgriff, um den Schwarzen aufzuzeigen, dass sie die stärkere Macht im Kampf waren, da sie den Weißen zahlenmäßig weit überlegen waren. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 245. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 189, 190, 355. LACROIX, [1819] 1995, S. 354. Vgl. beispielsweise LACROIX, [1819] 1995, S. 194f, 242. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 356. LACROIX, [1819] 1995, S. 251. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 343. LACROIX, [1819] 1995, S. 343f. Die Unerbittlichkeit Toussaints zeigt Lacroix auch anhand des Mythems Moyse auf, denn obwohl General Moyse neben Dessalines sein Günstling und zudem sein Neffe war, zögerte Toussaint nicht, Moyse nach einer Revolte in dessen Zuständigkeitsbereich vor ein Militärgericht stellen und erschießen zu lassen, um Frankreich seine Rigorosität zu demonstrieren. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 277. Beide Autoren scheinen sicher davon auszugehen, dass Toussaint über einen Schatz verfügte, den sie auf rund 30 Millionen Francs beziffern. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 313; NORVINS, 1896b, S. 399. Dadurch entsteht in beiden Memoiren das Bild eines raffgierigen Herrschers, dem es um seine persönliche Bereicherung ging.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Da die Augenzeugen in ihren Werken zu der Auffassung gelangen, dass Toussaint auch nach der ausgehandelten Waffenruhe55 im Hintergrund weiter konspirierte und kriminelle Absichten hegte,56 wird seine Verhaftung für gerechtfertigt erachtet. Beide Autoren sind der Überzeugung, dass Toussaint aufgrund seines ausgeprägten Stolzes und seiner Selbstverliebtheit in die Falle Brunets tappte: „L’amour-propre de Toussaint-Louverture, flatté de cette marque apparente de déférence dont il était sevré depuis sa reddition, le fit donner tête baissée dans le piège.“57; „L’astucieux Toussaint fut pris à ce piège par son orgueil: ‹Ah! ah! dit-il en se faisant lire la lettre de Brunet, ces messieurs blancs qui savent tout sont forcés de consulter le vieux Toussaint.›“58 Anschließend legen beide Zeitzeugen dar, dass Toussaint nach einer zehnmonatigen Gefangenschaft im Fort de Joux gestorben sei. Lacroix diagnostiziert die in seiner Zelle herrschende Kälte sowie die Toussaint zerfressende Reue als Gründe für seinen Tod: „Crispé par le froid, rongé par ses regrets, Toussaint Louverture est mort au fort de Joux, après dix mois de captivité. C’est ainsi qu’a fini le premier des Noirs.“59 Norvins legt als Todesursache einen Hirnschlag nahe, um jegliche Vermutung einer Vergiftung vonseiten der Franzosen zu entkräften.60 Von größter Bedeutung ist in den Memoiren jedoch das Mythem Leclerc, da die dichotomische Darstellung des Kampfes zwischen der Expedition Leclercs und den Truppen Toussaints61 die Parteilichkeit der Augenzeugen explizit zum Ausdruck bringt. Beide Autoren stellen die 55
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Während Lacroix die Waffenruhe befürwortet und schreibt, dass Leclerc und seine Truppen bezüglich der Einhaltung des Vertrags zunächst optimistisch gestimmt waren (vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 346, 351), zeigt Norvins auf, dass sie bereits während der Verhandlungen hinter der Unterwerfung Toussaints einen Verrat vermuteten (vgl. NORVINS, 1896b, S. 394f). Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 352f; NORVINS, 1896b, S. 399. LACROIX, [1819] 1995, S. 354. NORVINS, 1896b, S. 399. LACROIX, [1819] 1995, S. 354. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 399, 401. Lacroix gesteht Toussaint zu, dass er nicht die Alleinschuld für das Scheitern einer friedlichen Einigung beim Eintreffen der Expedition trägt. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 311, 321. Norvins richtet indessen alle Vorwürfe gegen Toussaint und weist darauf hin, dass es nicht zu entschuldigen ist, dass der schwarze Anführer die Waffen gegen Frankreich erhoben hat. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 319, 365, 395.
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von den Schwarzen begangenen Grausamkeiten eindeutig in den Vordergrund. An verschiedenen Stellen macht Lacroix deutlich, zu welch unmenschlichen Taten die Aufständischen in der Lage waren. Er spricht von „des excès cruels que déplorent l’humanité et plus particulièrement la France“62 sowie von „carnages dont s’étaient repus les Noirs lors de notre débarquement dans la colonie.“63 Des Weiteren rügt er die Tatsache, dass die Schwarzen keine Gefangenen machten, sondern alle sich in ihrer Gewalt befindlichen Franzosen töteten.64 Ebenso gibt es in den Memoiren Norvins zahlreiche Beispiele, mit denen er die Atrozität der Schwarzen zu belegen beabsichtigt: „[…] ce noir, traître à son mandat et à ses propres actes […] ne perdit pas un moment pour armer contre nous tous ses moyens de défense, parmi lesquels l’incendie et le massacre des blancs ne devaient pas être oubliés.“65 Den Krieg bewertet er daher nicht als Krieg zwischen Weißen und Schwarzen, sondern als Krieg der Schwarzen gegen Weiße.66 Der einzige positive Aspekt, den er vermerkt, ist, dass die Grausamkeit der Schwarzen nicht soweit reichte, Gift einzusetzen. Allerdings vermutet er, dass Toussaint diese Option nur nicht in den Sinn gekommen sei.67 Sogar einen Vergleich zwischen der Armee Toussaints und den ins Paradies einfallenden Truppen Satans hält Norvins für treffend: „Le paradis conquis par les troupes de Satan pourrait donner l’idée du spectacle qui désolait les rives fleuries de l’Artibonite [...].“68 Additional berichten beide Augenzeugen von Opfern, die sie kannten und deren Tod sie persönlich betrauern, sodass die Opfer aufseiten der Franzosen ihre Anonymität verlieren. Diese Darstellung der persönlichen Verluste zementiert die angebliche Grausamkeit der Schwarzen.69 Im Gegensatz zu den Gräueltaten der Aufständischen kommen die an Schwarzen begangenen Verbrechen unter der Führung Leclercs nicht zur Sprache. Zwar sind beide Autoren, die mit Leclerc nach Saint-
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LACROIX, [1819] 1995, S. 356. LACROIX, [1819] 1995, S. 361. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 372. NORVINS, 1896b, S. 344f. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 356, 377. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 369. NORVINS, 1896b, S. 379. Vgl. beispielsweise LACROIX, [1819] 1995, S. 217; NORVINS, 1896b, S. 359f.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Domingue kamen, inzwischen der Auffassung, dass die Expedition ein Fehler war, aber dennoch verteidigen sie die Entscheidung Napoleons sowie das Verhalten Leclercs und seiner Truppen. Im Hinblick auf Napoleon zeigt Lacroix auf, dass er den falschen Ratschlägen70 gefolgt war, die nicht berücksichtigten, dass die Revolution die Lage in der Kolonie maßgeblich geändert hatte, und seine Instruktionen für SaintDomingue auf alten Ideen basierten: Le premier consul, dont l’activité voulait tout surveiller et tout diriger, avait fait dresser dans son cabinet particulier, par d’anciens fonctionnaires de la colonie, les instructions secrètes qui devaient régler la conduite politique et militaire de la nouvelle expédition. […] Ces instructions contenaient de vieilles idées. Une manie aveugle faisait alors saisir avec avidité ce qui était présenté par des hommes d’autrefois. Ceux consultés par le premier consul croyaient les Noirs ce qu’ils les avaient laissés, et ne se doutaient pas que dix ans de révolution avaient été pour eux dix siècles d’existence civile. Erreur funeste, dont on verra incessamment les déplorables résultats!71
Ebenso verteidigt Norvins das Vorgehen Napoleons, da dieser es sich aufgrund seiner Position nicht erlauben konnte, sich von Toussaint verspotten zu lassen: „l’omnipotence […] ne lui permettait, sans doute, pas de se laisser parodier plus longtemps par un esclave usurpateur.“72 Gleichermaßen wird auch Leclerc von jeder Schuld freigesprochen. Zwar zeigt Lacroix auf, dass Leclerc die Expedition kurz vor seinem Tod bedauerte, allerdings einzig und allein wegen der hohen Verluste auf französischer Seite: „Il gémit d’une entreprise faite sur des hommes et par des hommes dignes d’un meilleur sort, à raison des services qu’ils avaient déjà rendus et qu’ils auraient pu rendre encore à la France.“73 Das mangelnde Bedauern über die Opfer auf der anderen Seite steht damit in Verbindung, dass Lacroix den Eindruck entstehen lässt, dass die an Schwarzen verübten Gräueltaten erst unter Rocham70
71 72 73
Laut Lacroix wurde Napoleon einzig vom französischen Oberst Vincent, der ihm die Verfassung Toussaints überbrachte, vor den Gefahren einer Expedition gewarnt. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 262-264. LACROIX, [1819] 1995, S. 281f. NORVINS, 1896b, S. 405. LACROIX, [1819] 1995, S. 377.
157
Der Toussaint-Louverture-Mythos
beau74 ihren Lauf nahmen. Die Taten dieses Generals lässt er in seinen Memoiren aus, um nicht an offenen Wunden zu rühren und die Annäherungen der beiden Länder75 nicht zu gefährden: Les événements affreux qui ont suivi la mort du capitaine général Leclerc sont trop près de nous pour pouvoir être livrés en détail au domaine de l’histoire; le temps n’a pas encore suffisamment tari les pleurs et cicatrisé les blessures; la vérité frapperait sur des plaies vives et réveillerait la douleur des deux hémisphères. Ici une trop grande connaissance du passé, au lieu de servir à l’avenir, empêcherait peut-être les rapprochements du moment.76
Auch Norvins spricht Leclerc, den er als „mon ami intime“77 bezeichnet, keine Schuld zu, da er seiner Ansicht nach von den Aufständischen zum Einsatz von Waffengewalt gezwungen wurde, um seinen Auftrag erfüllen zu können.78 Ebenso wie Lacroix verurteilt Norvins das Verhalten Rochambeaus. Bereits nach dem Tod Leclercs und der Mitteilung der Führungsübernahme durch Rochambeau erklären Norvins und weitere Generäle die Kolonie für verloren: „Nous nous dîmes tous: ‹SaintDomingue est perdu pour la France.› Je dois le dire, parmi tous ces généraux et ces militaires, il n’y eut pas un mot d’espoir au nom de Rochambeau; ce qui suivit ne justifia que trop leur silence.“79 Trotz dieser Rechtfertigungen für das Vorgehen in Saint-Domingue unter Leclerc kommen die Augenzeugen im Rückblick zu dem Schluss, dass die Expedition nicht hätte entsandt werden sollen. Eine bessere 74
75
76 77 78 79
158
Der Historiker Pierre Pluchon zeigt auf, dass unter Napoleon sowie Ludwig XVIII., der bei Erscheinen der Memoiren Lacroix’ an der Macht war, Rochambeau für das Debakel in Saint-Domingue verantwortlich gemacht wurde. Zwar scheiterte das Unterfangen schon unter Leclerc, aber sein Tod rettete ihn davor, als Verantwortlicher für die Niederlage zu gelten. Ferner wurde in dieser Zeit vergessen, dass mit den Repressalien schon unter Leclerc und nicht erst unter Rochambeau begonnen wurde. Vgl. PLUCHON, 1995, S. 381, Fußnote 1. Dieser Begründung zum Trotz schildert er jedoch die von Dessalines und seinen Truppen begangenen Grausamkeiten an Weißen. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 382-384. LACROIX, [1819] 1995, S. 381. NORVINS, 1897, S. 56. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 407. NORVINS, 1897, S. 44.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
Lösung hätte Norvins darin gesehen, den Kontakt zwischen SaintDomingue und der Metropole aufrechtzuerhalten, auf den Tod Toussaints zu warten und die Kolonie anschließend wieder unter die Kontrolle Frankreichs zu bringen.80 Ihre nachträgliche Ablehnung begründen sie insbesondere mit den vielen Opfern, die auf französischer Seite zu beklagen sind. Obwohl beide die zahlreichen Gräueltaten von Schwarzen an Weißen hervorheben, kommen sie letztendlich zu dem Schluss, dass die meisten Toten nicht den Truppen Toussaints, sondern dem tropischen Klima und den dort vorkommenden Krankheiten zum Opfer fielen:81 La nature, qui a marqué les climats par des productions différentes, et qui a étendu les variétés de ses productions jusqu’à l’espèce humaine, semble avoir tout fait à Saint-Domingue pour les Noirs [...]. L’énergie de nos soldats, qui enfanta ailleurs tant de prodiges, ne put impunément braver ces variations d’atmosphère.82 Les tombes qui recouvrent les cendres de plus de cinquante mille Français de tout sexe et de tout âge […] attestèrent […] non la victoire de nos ennemis, mais le crime des éléments.83
Im Gegensatz zu Norvins gesteht Lacroix den Schwarzen zumindest zu, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch ihr Widerstand von Bedeutung war.84 Da jedoch hauptsächlich, bei Norvins sogar ausschließlich, das Klima und das gelbe Fieber für die Niederlage und das Scheitern der Expedition verantwortlich gemacht werden, negieren die Augenzeugen somit den Sieg der Aufständischen über die französischen Truppen. Diese Leugnung des Sieges der Insurgenten über Frankreich kann wiederum auf das damals vorherrschende Weltbild zurückgeführt werden, in dem die Superiorität der Weißen nicht infrage gestellt wurde. Ein Triumph der Schwarzen über die weißen Truppen war für die meisten Europäer schlicht undenkbar,85 sodass die Niederlage auf äußere Umstände und Einflüsse zurückgeführt werden musste. Lacroix 80 81 82 83 84 85
Vgl. NORVINS, 1896b, S. 406. Vgl. auch NORVINS, 1897, S. 45. LACROIX, [1819] 1995, S. 415f. NORVINS, 1896b, S. 366f. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 415. Vgl. Kapitel 1.2.1.
159
Der Toussaint-Louverture-Mythos
warnt mit seinem Werk, das vor der Anerkennung der Souveränität der Bewohner Saint-Domingues im April 182586 veröffentlicht wurde, vor einer erneuten Expedition nach Saint-Domingue. Stattdessen befürwortet er Entschädigungszahlungen der Haitianer an Frankreich und die Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis durch Frankreich.87 Demgegenüber schrieb Norvins seine Memoiren erst, als die Diskussion um eine eventuelle Wiedereroberung der Kolonie bereits verebbt und die Independenz der einstigen Kolonie von Frankreich anerkannt war, sodass eine solche Warnung bei ihm bedeutungslos ist. Die liberale Haltung Lacroix’ lässt sich vermutlich damit erklären, dass er durch seine persönlichen Erfahrungen während der Expedition begriffen hatte, dass das nun herrschende Kräfteverhältnis irreversibel war und Frankreich keinen Sieg erringen konnte.88 Durch den Vergleich konnte festgestellt werden, dass beide Werke noch stark von der zur Unterstützung der Expedition verbreiteten Propaganda geprägt sind. Beide Augenzeugen stimmen überein, dass Toussaint machthungrig, hochmütig und narzisstisch war. Eine herausragende Persönlichkeit gestehen sie ihm jedoch übereinstimmend zu. Die Funktionalisierung Toussaints ist in den beiden Memoiren dennoch unterschiedlich: Norvins, der wie auch Périn ein großer Verehrer Napoleons war, beschreibt bis auf Toussaints Hilfe beim Sieg gegen die Spanier und Engländer in Saint-Domingue keine weiteren positiven Eigenschaften Toussaints, sondern versucht ihn zu diskreditieren. Lacroix’ Intention ist es hingegen, die von ihm angeprangerte stark dichotomische Darstellung des schwarzen Anführers – als Held oder Dämon – zu meiden und sowohl auf die schlechten als auch auf die guten Seiten Toussaints zu verweisen: Der französische General hebt beispielsweise die Intelligenz Toussaints sowie dessen Loyalität durch die Ablehnung der durch England angebotenen Krone positiv hervor. Dennoch findet bei Lacroix keine Stilisierung zum Helden statt, denn auch die angebliche Grausamkeit und Unerbittlichkeit Toussaints wird aufgezeigt und seine Religiosität als politisches Kalkül beschrieben. Dass beide Autoren stark von dem damals herrschenden Weltbild geprägt sind, in dem die Superiorität der Weißen als unumstößlich betrachtet wurde, veran86 87 88
160
Vgl. hierzu Kapitel 3.3. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 421-423. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 416; PLUCHON, 1995, S. 24.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
schaulicht insbesondere ihre Empörung angesichts der Tatsache, dass Toussaint als Schwarzer sexuelle Beziehungen mit weißen Frauen hatte. Da die Augenzeugen Toussaint ein kriminelles und verräterisches Verhalten gegenüber Frankreich zuschreiben, wird auch seine Verhaftung und Deportation für gerecht erachtet. Trotz seiner teils positiven Betrachtung Toussaints, übt Lacroix jedoch keine Kritik an der Verhaltensweise Frankreichs gegenüber Toussaint. Bei der Darstellung des Kampfes zwischen den Aufständischen und den Truppen der Expedition Leclercs erfolgt die Beschreibung in beiden Werken einseitig, und die offizielle napoleonische Sichtweise der Ereignisse wird widergespiegelt. Die Gräueltaten der Schwarzen sowie die dadurch persönlich erlittenen Verluste werden hervorgehoben, während die an Schwarzen begangenen Monstrositäten verschwiegen werden. Auch wenn sie die Expedition im Rückblick als Fehler erachten, so billigen sie dennoch die damalige Entscheidung Napoleons und das Vorgehen seines Schwagers. Leclercs Nachfolger Rochambeau wird indessen nicht verteidigt, sondern als Schuldiger für den Verlust der Kolonie betrachtet, was unter Napoleon und während der Restauration eine übliche Sichtweise war. Die Niederlage Frankreichs wird hauptsächlich durch das vorherrschende tropische Klima und das grassierende gelbe Fieber begründet, wodurch eine Negation des Sieges der Schwarzen erfolgt, was wiederum auf die Annahme der Superiorität der Weißen und der Undenkbarkeit eines erfolgreichen Kampfes von Schwarzen gegen Weiße zurückzuführen ist. Lacroix’ Ziel ist, die Regierung durch eine möglichst detaillierte Darstellung der Ereignisse davon zu überzeugen, sich von der Idee einer zweiten Expedition nach Saint-Domingue zu verabschieden und die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie im Gegenzug zu Entschädigungszahlungen anzuerkennen. Demgegenüber scheint es Norvins um die Rechtfertigung des Verhaltens Napoleons und Leclercs sowie um deren Glorifizierung zu gehen. Sein erst ca. 20 Jahre nach den Memoiren Lacroix’ geschriebenes Werk, das somit auch erst nach jenen der Romantiker entstand,89 kann vermutlich auch als Reaktion auf deren Darstellung Toussaints als Freiheitskämpfer und Napoleons als Tyrann verstanden werden. Ferner passt sein verherrlichendes Bild Napoleons auch zum historischen imperialistischen Kontext des Beginns der zwei89
Vgl. Kapitel 3.3.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ten Welle der Kolonialisierung.90 Diese Werke erhärten den Verdacht, dass eine verehrende Haltung gegenüber Napoleon und/oder Leclerc eine positive Darstellung Toussaints ausschließt. Konkludierend kann festgehalten werden, dass der Mythos um Toussaint Louverture schon zu dessen Lebzeiten entstand und bereits in der Epoche der Zeit- und Augenzeugen das dem Mythos innenwohnende polarisierende Potenzial offenbar wurde. Nach der Abolition der Sklaverei von 1794 und in der Zeit der erfolgsversprechenden Zusammenarbeit Toussaints mit den Franzosen erfuhr Toussaint zunächst eine überwiegend positive Darstellung in Frankreich. Diese Repräsentation transformierte sich mit der Machtergreifung Napoleons und der Entsendung einer Expedition nach Saint-Domingue, zu deren Unterstützung und Justifikation eine Dämonisierung Toussaints durch die bonapartistische Propaganda einsetzte. Die individuellen Erinnerungen der Zeitund Augenzeugen, die die kollektive Erinnerung sowie die späteren Rezeptionen des Mythos prägten, wurden durch diese Propaganda beeinflusst. Des Weiteren lagen ihnen meist apologetische Anliegen und persönliche Interessen zugrunde. Mit nur wenigen Exzeptionen wurde Toussaint im Folgenden zwar als außergewöhnlicher Mann, aber vor allem als grausamer, über alle Maßen ambitiöser, hypokritischer, selbstverliebter und ungebildeter Afrikaner funktionalisiert. Das Motiv der Gegenüberstellung Toussaints und des Ersten Konsuls entstand bereits in dieser frühen Rezeptionsphase des Mythos, wobei Toussaint als Dämon hervorging und Napoleon zum Helden erkoren wurde. Nach dem Scheitern der Expedition wurde die Publikation von Werken über SaintDomingue und Toussaint verboten, was erklärt, weshalb zwischen 1803 und 1813 kaum Schriften auszumachen sind. In den nach der allmählichen Aufhebung der Zensur entstandenen Werken führte die als selbstverständlich empfundene Hegemonie der Weißen dazu, dass auch Jahre nach der Niederlage Frankreichs ein Sieg der Schwarzen nicht eingestanden werden konnte, weshalb die Autoren äußerliche Einflüsse wie Klima und Krankheiten für das Debakel verantwortlich machten. Zwei virulente Fragen wurden in dieser Zeit kontrovers diskutiert: die Beibehaltung des Sklavenhandels sowie die Idee einer zweiten Expedition nach Saint-Domingue zur Wiedereroberung der ehemaligen Kolonie. Das Handeln Napoleons sowie Leclercs wurden in diesem Zeitabschnitt 90
162
Vgl. Kapitel 3.4.
Die Darstellung der Zeit- und Augenzeugen
verteidigt oder zumindest nicht angegriffen, während Toussaint – mit Ausnahme vereinzelter Werke wie beispielsweise von Régis – dämonisiert wurde und ihm nur wenige Autoren einige positive Eigenschaften und Taten zuschrieben.
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Die Rezeption in der französischen Romantik
3.3 Die Toussai nt-Rezeption in der französischen Rom antik Nachdem Napoleon die Sklaverei, den Sklavenhandel und den Code noir 1802 in den anderen französischen Kolonien wiedereingeführt sowie drei weitere Verfügungen erlassen hatte, um Schwarze und Mulatten vom Mutterland fernzuhalten und Frankreich somit vor Aufständen zu schützen, blieben diese bis 1848 in Kraft.1 Durch diese Abkehr von der Abolition von 1794 war auch die Frage nach dem Umgang mit der Sklaverei in Frankreich weiterhin in aller Munde. Allerdings hatten sich die Meinungen geändert und zwar insbesondere aufgrund der einseitigen Berichterstattung der Zeit- und Augenzeugen, die zunächst nur auf die von Aufständischen begangenen Grausamkeiten eingingen und die im Zuge der Repression verübten Gräueltaten an den Schwarzen nicht erwähnten.2 In Frankreich begann die Bevölkerung, die Unterstützung der Schwarzen und ihrer Forderungen angesichts der grausamen Vorfälle im Rahmen der Haitianischen Revolution infrage zu stellen. Aufgrund dieser unausgewogenen Berichterstattung sowie der weiterhin herrschenden Vorstellung, dass die weiße Rasse über die als minderwertig angesehene schwarze Rasse zu herrschen habe, gab es kaum Widerstand gegen die Wiedereinführung der Sklaverei sowie gegen die weiteren von Napoleon erlassenen Verfügungen. Eine Ausnahme stellten einige wenige Liberale dar wie u. a. Mme de Staël.3 Die meisten Toussaint-Rezeptionen der Romantik entstanden um das Jahr 1826, was vermutlich mit der von Karl X. erlassenen Verordnung vom 17. April 1825 zusammenhängt. Durch sie wurde elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Haitis die Souveränität der Bewohner Saint-Domingues anerkannt.4 Im Gegenzug hatte Haiti Entschädigungszahlungen für die ehemaligen französischen Plantagenbesitzer zu leisten.5 Bénot macht mit einem Verweis auf La Revue encyclopédique 1 2 3 4
5
Siehe Anm. 43 in Kapitel 1.1.3; vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 212. Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 212f. Bei dieser Verordnung wurde nur die Souveränität der Bewohner anerkannt, aber die Existenz des Staates Haiti wurde weiterhin negiert. Haiti wurde erst 1838 durch die Julimonarchie endgültig und bedingungslos anerkannt. Vgl. Kapitel 1.1.3. Vgl. CAUNA, 2009, S. 177, 185; DORIGNY, [2005] 2006, S. 54f.
165
Der Toussaint-Louverture-Mythos
vom Oktober 1825 deutlich, dass die Verordnung unerwartet erfolgte.6 Unter Bezugnahme auf Charles Malo zeigt Geggus auf, dass die Verordnung vermutlich aufgrund des Drucks, den Handel wiederzubeleben, entstand. Laut Geggus trug der Einfluss der Abolitionisten hingegen nur wenig zu dieser Entscheidung bei.7 Die Abolitionisten protestierten auch nicht öffentlich gegen diese von Haiti geforderten Entschädigungszahlungen, sondern schienen sich mit der bedingten Anerkennung der Unabhängigkeit zufriedenzugeben.8 Diese Erklärung Karls X. war ein bedeutender Schritt, da lange Zeit überlegt worden war, ob und wie man die Kolonie für Frankreich zurückerobert.9 Die erlassene Verordnung schien dazu zu führen, dass das Thema der verlorenen Kolonie kurzzeitig wieder an Aktualität gewann, was sich auch in der Literatur widerspiegelt. Lagen den Werken der Zeit- und Augenzeugen, die oftmals selbst an der Expedition beteiligt waren, persönliche Interessen und apologetische Anliegen zugrunde, so spielten auch bei den Schriftstellern der Romantik eigene Erfahrungen bei der Sichtweise des schwarzen Anführers eine Rolle.10 Die französischen Schriftsteller hatten mehr oder weniger direkten Kontakt zu Personen, die Eigentum in den Antillen besaßen, wie beispielsweise Hugo, Chateaubriand, Mme de Staël,11 oder sie hatten Familienangehörige, die in der Verwaltung oder im Militär in den Antillen tätig waren, wie u. a. Lamartine.12 Nach 1826 ebbte das Interesse an Haiti mehr und mehr ab und die Anzahl an Publikationen sank.13 Für dieses nachlassende Interesse war vermutlich der Beginn der zweiten Welle der Kolonialisierung im Jahr 1830 mit der Eroberung Algiers von Bedeutung. Diese Kolonialexpansion wurde bis zu den letzten Kämpfen in Marokko im Jahr 1934 fortgeführt und die damit einhergehende imperialistische Haltung wurde beibehalten. Durch diese Entstehung eines neuen Kolonialreichs verschwanden die mit Haiti verbundenen Rückeroberungs- und Rachege6 7 8 9 10 11 12 13
166
Vgl. BÉNOT, 2005, S. 270. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 127. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 270f. Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. ANTOINE, 1992, S. 94. Vgl. ANTOINE, 1992, S. 73. Vgl. ANTOINE, 1992, S. 74. Vgl. GEGGUS, 1985, S. 128.
Die Rezeption in der französischen Romantik
danken und die Niederlage in Saint-Domingue geriet allmählich in Vergessenheit.14 Während Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution aus der Historiografie beinahe völlig ausgelöscht wurden,15 entstanden auch während des Beginns der zweiten Phase der Kolonialisierung einige wenige literarische Werke, wie beispielsweise u. a. Lamartines Theaterstück Toussaint Louverture. Die Romantiker griffen auf die individuellen Erinnerungen der Zeitzeugen zurück, funktionalisierten Toussaint Louverture aber auf eine andere Art und Weise. Nach der Verordnung Karls X. und mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen in Saint-Domingue schien es wieder möglich zu werden, an die littérature négrophile16 anzuknüpfen und einzelne Sklaven in der Literatur wieder positiv darzustellen.17 Der bereits zu Lebzeiten Toussaints entstandene ToussaintMythos erfuhr in der Romantik eine allmähliche Transformation – eine Transformation von einer Dämonisierung zu einer Idealisierung, die anhand verschiedener Werke,18 die zwischen 1826 und 1840 geschrieben wurden, dargelegt wird. Zunächst erschien eine romantisierte Darstellung eines schwarzen idealisierten Sklavenführers der Haitianischen Revolution, der zwar
14 15 16
17 18
Vgl. MACÉ/GAINOT, [2003] 2007, S. 38. Vgl. Kapitel 1.2.2; BÉNOT, [1987] 2004, S. 205-217. Wie Gewecke aufzeigt, war in der sogenannten littérature négrophile vor der Haitianischen Revolution ein guter Schwarzer die Hauptfigur, dessen Überlegenheit oftmals auf aristokratische Ursprünge zurückzuführen war. Dieser hatte daher mit den anderen Schwarzen nichts gemein. Die Werke übten oftmals Kritik am Sklavenhandel bzw. an ungerechten und grausamen Sklavenhaltern, gegen die ein Aufstand auch gerechtfertigt erschien, richteten sich aber nicht wirklich gegen die Sklaverei, denn dem gerechten Herrn dienten die Sklaven gerne. Nach der Haitianischen Revolution änderte sich das Schema der littérature négrophile, da auch die Haltung gegenüber den Schwarzen einem Wandel unterworfen war. Der gute Schwarze diente nun als Widerpart gegenüber den grausamen und brutalen Schwarzen. Er stellte eine Ausnahme dar, ragte aus der Menge heraus und stärkte die Positionen der Weißen, indem er die Sklaverei als Notwendigkeit für die Kolonien ansah. Vgl. GEWECKE, 1986, S. 54f. Vgl. GAITET, 1997, S. 254; HOFFMANN, 1973, S. 135. Obschon viele Augenzeugen ihre Werke erst zeitgleich mit den Romantikern veröffentlichten, wurden diese Werke bereits in Kapitel 3.2 abgehandelt. In diesem Kapitel geht es ausschließlich um die Romantiker und ihre Darstellung Toussaints.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
stark an Toussaint Louverture erinnert, aber nicht seinen Namen trägt.19 Dies ist im Roman Bug-Jargal von Victor Hugo, der 1818 in seiner ersten und 1826 in seiner zweiten Version geschrieben wurde, der Fall. Er entstand in Anknüpfung an die zu dieser Zeit in der littérature négrophile schon des Öfteren aufgegriffenen Darstellungen eines edelmütigen, aufständischen schwarzen Sklaven wie insbesondere in Adonis ou le bon nègre von Jean-Baptiste Picquenard.20 Im 1826 anonym veröffentlichten Roman Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue taucht Toussaint unter dem Namen auf, den er als Sklave getragen hat: Bréda. Wie auch bei Victor Hugo wird das Bild eines loyalen, gut gebildeten und seinem Herrn treu ergebenen Sklaven gezeichnet. Verschiedene Elemente erinnern noch an die littérature négrophile, jedoch werden in diesem Roman die Franzosen durch ihren Versuch, sich der Verbreitung des Wertes der Freiheit entgegenzustellen, als Verbrecher dargestellt. Zwar werden Napoleon und Leclerc nicht explizit genannt, aber dennoch tritt hier klar zutage, dass der anonyme Verfasser den historischen Figuren Napoleon und Leclerc den Verrat an Toussaint Louverture zuschreibt. In den Werken von Honoré de Balzac, François-René de Chateaubriand und Mme de Staël erfolgt eine direkte Gegenüberstellung von Toussaint und Napoleon. Toussaint findet bei diesen Autoren nur an vereinzelten Stellen Erwähnung, da sie ihm keine kompletten Werke widmeten. Dennoch scheinen diese Texte für die Rezeption des Toussaint-Mythos bedeutsam, da Toussaint ausdrücklich als programmatischer Widerpart Napoleons in Szene gesetzt wird. 19
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Auch Charles-François Marie de Rémusat schrieb 1824 ein Theaterstück über den Sklavenaufstand in Saint-Domingue, das aber erst 1977 veröffentlicht wurde. Der Sklave Timur, der mit einem anderen Schwarzen namens Jean-Pierre um die Rolle des Anführers der Revolte wetteifert, ist wie Toussaint Louverture der Auffassung, dass die Sklaven wieder auf den Plantagen arbeiten müssen, um in Freiheit leben zu können. Außerdem will Timur im Gegensatz zu den anderen schwarzen Aufständischen gegenüber den Weißen Milde walten lassen. Leichte Ähnlichkeiten zwischen Timur und Toussaint Louverture sind vorhanden. Da die genannten Aspekte allerdings die einzigen Parallelen zum Toussaint-Mythos darstellen, wird das Buch in der Arbeit nicht näher untersucht. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 299. Debien führt als weitere Beispiele Oroonoko ou le Prince Nègre von Mrs Behn, Les Saisons von Saint-Lambert sowie Werke von Raynal, Butini, de Gouges, Lavallée, Gassier und Larivallière an.
Die Rezeption in der französischen Romantik
Des Weiteren werden zur Untersuchung das epische Gedicht L’Haïtiade, das gegen 1827/182821 zum ersten Mal in Paris veröffentlicht wurde, sowie das Theaterstück Toussaint Louverture von Alphonse de Lamartine herangezogen. Auch wenn Lamartines Werk erst 1850 veröffentlicht und uraufgeführt wurde, also nach der zweiten Abschaffung der Sklaverei, entstand es doch schon 1839-1840. In beiden Rezeptionen trägt der haitianische Sklavenführer den Namen Toussaint Louverture und ihm gilt, im Gegensatz zu den Schriften Balzacs, Mme de Staëls und Chateaubriands, das gesamte Werk. In beiden literarischen Verarbeitungen des Stoffes wird Toussaint als ein von Gott berufener Retter und Freiheitskämpfer idealisiert.22
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Im Jahr 1828 wurde ebenfalls der Roman Kélédor, histoire africaine von Jacques-François Roger veröffentlicht. Allerdings ist die Figur Toussaint von keiner großen Bedeutung; seine Darstellung dient nur dazu, dem Text einen realistisch wirkenden historischen Hintergrund zu verleihen. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 399. Eine solch verherrlichende Darstellung des Anführers der Haitianischen Revolution findet sich auch im biografischen Abriss „Notice sur Toussaint Louverture“ von 1842 von Jean-Hippolyte-Daniel de SaintAnthoine, dem ehemaligen Generaldirektor des Institut d’Afrique. Vgl. GEGGUS, 2013. Saint-Anthoine ist der Meinung, dass Toussaint Louverture, den er als einen außergewöhnlichen, loyalen und großherzigen Mann betrachtet, die Insel wieder zu ihrer alten Herrlichkeit zurückführte (vgl. SAINT-ANTHOINE, 1842, S. 5, 13, 16) und er in jedem Fall als bedeutender Mann betrachtet werden muss: „Quelle que soit la face sous laquelle on observe Toussaint Louverture, on y trouve toujours l’effigie du grand homme.“ SAINT-ANTHOINE, 1842, S. 29. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen sieht er die Verteidigung der Schwarzen als legitim und sogar heilig an. Vgl. SAINT-ANTHOINE, 1842, S. 17. Das Werk ist ein Lobgesang auf Toussaint und scheint maßgeblich von Isaac Louverture, dem Sohn Toussaints, beeinflusst worden zu sein. Vgl. GEGGUS, 2013; LOUVERTURE, [1825] 1985.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
3.3.1 Eine idealisierte Darstellung eines schwarzen Sklavenführers in Saint-Domingue (Hugo) Das Werk Bug-Jargal1 von Victor Hugo wird als eine sehr bedeutende Rezeption des Toussaint-Mythos erachtet, auch wenn der Protagonist nicht den Namen Toussaint Louverture trägt, sondern Pierrot alias BugJargal. Ein Bandenchef namens Pierrot existierte bei den Insurgenten der Haitianischen Revolution auch in der Realität, allerdings bestehen außer dem Namen keine weiteren Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Pierrot Hugos.2 Bei der Lektüre lassen sich jedoch eine Reihe von Parallelen zwischen Bug-Jargal und Toussaint ziehen. Hugos Roman wurde in zwei Versionen veröffentlicht, von denen seine 1818 verfasste Erstversion im Jahr 1820 anonym in der Zeitung Le Conservateur littéraire erschien und eine erweiterte Fassung 1826 vom Verlag Canuel herausgegeben wurde.3 Da die zweite Version eine größere Verbreitung fand und die Hauptfigur Bug-Jargal hier noch mehr Ähnlichkeiten zum einstigen Sklavenführer aufweist,4 steht nachfolgend die zweite Fassung von 1826 im Mittelpunkt der Betrachtung. In seinem Vorwort von 1826 schreibt Hugo, dass die Tagespolitik 1820 bei der Veröffentlichung seiner ersten Fassung Haiti kaum Beachtung schenkte und es nicht die Schuld des Autors sei, wenn das Thema in der Zwischenzeit wieder an Aktualität gewonnen habe.5 Bei seiner zweiten Version war das Thema Saint-Domingue nach der Anerkennung der Souveränität von 1825 wieder politisch aktuell und im öffentlichen Interesse.6 Hugo, der beim Schreiben des Romans noch überzeugter Royalist war und sich erst später zum oppositionellen Liberalen entwickelte, muss daher geahnt haben, dass dieses Sujet den Nerv der Zeit treffen und Absatz finden würde, auch wenn er ein kommerzielles Interesse im Vorwort bestreitet.7
1 2 3 4 5 6 7
170
Im Jahr 1828 erschien das Stück Bugg, ou les Javanais von Benjamin Antier, das eine Parodie des Romans von Victor Hugo darstellt. Vgl. CAUNA, 1985, S. 7, 11. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 299; SCHMIDT, 2000, S. 104. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 311; CAUNA, 1985, S. 10f. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 21. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 305. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 306; GEWECKE, 1986, S. 56.
Die Rezeption in der französischen Romantik
Der Roman besteht aus zwei Zeit- und Handlungsebenen.8 Im Zentrum steht die Freundschaft zwischen dem schwarzen Sklaven Pierrot, der – wie sich später herausstellt – ein bedeutender Anführer der Sklaven namens Bug-Jargal ist,9 und dem französischen Offizier Léopold d’Auvergney. Beide lieben die Tochter des Plantagenbesitzers und Cousine d’Auvergneys mit dem Namen Marie, die von Bug-Jargal beim Ausbruch der Haitianischen Revolution gerettet wird. Auch d’Auvergney kann von dem schwarzen Sklaven aus dem Lager Biassous befreit werden. Die tragische Geschichte der Freundschaft zwischen dem Sklavenführer und dem französischen Offizier wird von d’Auvergney und seinem Unteroffizier Thadée, der aufgrund eines verhängnisvollen Missverständnisses Bug-Jargal am Ende erschießt, in der Rahmenhandlung des Romans rückblickend erzählt. Während in der ersten Version vor allem die Problematik der Sklaverei im Mittelpunkt steht, wird der Roman hier um den Aspekt der Mulatten erweitert. 10 Bei der neu eingeführten Figur Habibrah11 handelt es sich um einen grausamen Mulatten, Sklaven und Zauberer, der von der Eifersucht auf die Weißen sowie vom Hass auf die Schwarzen erfüllt ist.12 Er verkörpert das Böse, wohingegen Bug-Jargal sowie auch die weiße Hauptfigur d’Auvergney für das Gute stehen. Diese dichotomische Schematisierung in Gut und Böse liegt dem gesamten Werk zugrunde.
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Vgl. LAHAYE, 2003, S. 51. In dieser Arbeit wird Pierrot alias Bug-Jargal nachfolgend stets BugJargal genannt. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 309. Vor der Unabhängigkeit Haitis und darüber hinaus (laut Hoffmann bis 1824) wurden Mulatten in den französischen Romanen nicht thematisiert. Ihr ambiger Status passte nicht in die Romane, in denen streng dichotomische Klassifizierungen stattfanden. Hugo nimmt die Problematik der Mulatten in seiner zweiten Version des Romans auf, stellt die Mulatten aber durchweg negativ dar. Vgl. HOFFMANN, 1973, S. 169; GAITET, 1997, S. 255. Wie Lüsebrink darlegt, diente die negative Darstellung der Aufständischen mit ihrem Anführer Biassou im Roman vermutlich auch dazu, die Anerkennung Haitis infrage zu stellen und Haiti die Fähigkeit der Selbstorganisation abzusprechen. Vgl. LÜSEBRINK, 1993, S. 146. Hugo selbst nennt Habibrah an einer Stelle „Habitbas“ (HUGO, [1826] 1970, S. 232), also „derjenige, der dort unten wohnt“, und verweist damit auf den Teufel, den diese grausame Figur im Roman wohl verkörpern soll. Vgl. CAUNA, 1985, S. 12. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 310f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Bug-Jargal wird in Hugos Roman als einziger Schwarzer positiv dargestellt. Die weiße Hauptfigur des Romans, Léopold d’Auvergney, beschreibt die anderen Schwarzen als „barbares“, „sauvages“, „brigands“.13 Darüber hinaus werden sie, wenn sie nicht sogar als Monster bezeichnet werden, allenfalls als große Kinder charakterisiert.14 Von diesen Barbaren kann sich Bug-Jargal als einziger Schwarzer abheben, was insbesondere durch die Verwendung verschiedener Mytheme des Toussaint-Mythos erfolgt. Eines der wichtigsten Mytheme, das im Roman Verwendung findet und auf dem die Geschichte Hugos im Prinzip aufbaut, ist die Rettung der Familie des Plantagenbesitzers. Dieses Ereignis erinnert sehr stark an Toussaint Louverture, der den Verwalter der Plantage Bréda und seine Familie gerettet haben soll. Bei Hugo kann der Plantagenbesitzer selbst nicht in Sicherheit gebracht werden,15 da dieser heimtückisch im Schlaf – nicht von den aufständischen Schwarzen, wie der Leser zunächst annehmen muss, sondern von seinem Diener Habibrah – ermordet wird. Der Ich-Erzähler des Romans und Neffe des Plantagenbesitzers, Léopold d’Auvergney, glaubt bei folgendem Anblick zunächst an eine Entführung seiner Cousine und zukünftigen Frau Marie sowie dessen Bruder: En ce moment un grand noir sortit de derrière une palissade enflammée, emportant une jeune femme qui criait et se débattait dans ses bras. La jeune femme était Marie: le noir était Pierrot. [...] Un instant après, un chien énorme passa à sa suite, tenant dans sa gueule un berceau, dans lequel était le dernier enfant de mon oncle.16
Allerdings will Bug-Jargal, der um die Unmöglichkeit seiner Liebe zu der schönen Marie weiß,17 lediglich die beiden Kinder des Plantagenbe-
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HUGO, [1826] 1970, S. 166. Vgl. HOFFMANN, 1996, S. 71. In der ersten Version von 1818 wird auch der Kolonist selbst gerettet, da Habibrah, der Mörder des Plantagenbesitzers, in dieser noch nicht vorkommt. HUGO, [1826] 1970, S. 90. Auch durch das Wissen um die Unmöglichkeit dieser Liebe hebt sich Bug-Jargal von den anderen Schwarzen ab. Die meisten Weißen waren zur Zeit der Veröffentlichung des Romans der Auffassung, dass es der
Die Rezeption in der französischen Romantik
sitzers vor den aufständischen Schwarzen in Sicherheit bringen. Später im Roman befreit Bug-Jargal auch d’Auvergney aus den Händen der Insurgenten und bringt ihn zu seiner Verlobten Marie, die ihm erklärt, dass sie nicht entführt, sondern bereits ein zweites Mal von Bug-Jargal gerettet wurde.18 Außerdem verdanke nicht nur sie dem Sklaven ihres Onkels ihr Leben, sondern auch der Rest der Familie.19 D’Auvergney entgeht dank Bug-Jargal am Ende des Romans erneut dem Tod, als die Aufständischen ihn ermorden wollen.20 Es ist vor allem das hier sehr stark dominante Mythem der mehrmaligen Rettung der Familie des Plantagenbesitzers, das Assoziationen zu Toussaint Louverture hervorruft. Des Weiteren erinnern die zunächst zurückhaltende Conduite BugJargals zu Beginn des Aufstandes sowie seine im Gegensatz zu den anderen Anführern stehende weniger grausame Art an Toussaint: Tandis que Boukmann et Biassou inventaient mille genres de mort pour les prisonniers qui tombaient entre leurs mains, Bug-Jargal s’empressait de leur fournir les moyens de quitter l’île. [...] On citait de lui mille autres traits de générosité qu’il serait trop long de vous rapporter.21
Auch die königliche Abstammung, die an mehreren Stellen im Roman aufgegriffen und besonders von Bug-Jargal selbst betont wird, ist ein weiteres bedeutsames Mythem, das eine Verbindung zu Toussaint herstellt und das den Sklaven auch von den anderen Schwarzen unterscheidet: „Je suis roi“22; „Je ne suis pourtant pas d’un rang inférieur au tien!“23; „[...] mon père était roi au pays de Kakongo.“24; „Je suis BugJargal. Mon père était roi au pays de Kakongo, et rendait la justice sur le seuil de sa porte.“25 Dadurch wird deutlich, dass er sich nicht zur Masse der Schwarzen zählt, sondern sich ihnen aufgrund seines Ur-
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größte Wunsch der Schwarzen war, eine weiße Frau zu haben, sahen eine solche Verbindung aber als unmöglich an. Vgl. HOFFMANN, 1996, S. 65. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 194. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 195. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 228. HUGO, [1826] 1970, S. 94. HUGO, [1826] 1970, S. 51. HUGO, [1826] 1970, S. 68. HUGO, [1826] 1970, S. 197. HUGO, [1826] 1970, S. 222.
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sprungs überlegen fühlt.26 Bei der ersten Begegnung d’Auvergneys mit dem Sklaven seines Onkels beschreibt er ihn als einen sehr starken, stolzen und mächtigen Schwarzen, dessen königliche Abstammung er sich durchaus vorstellen könne: Il s’était déclaré roi, et celui-ci n’était qu’un esclave, mais je me rappelais, non sans étonnement, l’air de rudesse et de majesté empreint sur son visage au milieu des signes caractéristiques de la race africaine, l’éclat de ses yeux, la blancheur de ses dents sur le noir eclatant [sic] de sa peau, la largeur de son front, surprenante surtout chez un nègre, le gonflement dedaigneux [sic] qui donnait à l’épaisseur de ses lèvres et de ses narines quelque chose de si fier et de si puissant […], et je me disais qu’il aurait bien pu convenir à un roi.27
Als d’Auvergney schließlich erfährt, dass dieser Sklave in Wahrheit der Chef der Aufständischen Bug-Jargal ist, ist er von ebenso starker Bewunderung erfüllt wie die Schwarzen: Mon admiration était au comble d’avoir maintenant à reconnaître en lui le redoutable et magnanime Bug-Jargal, chef des révoltés du MorneRouge. Je comprenais enfin d’où venaient les respects que rendaient tous les rebelles, et même Biassou, au chef Bug-Jargal, au roi de Kakongo.28
Diese Zitate belegen, dass dem Mythem der königlichen Abstammung großes Gewicht in Hugos Roman zukommt, da es Bug-Jargal von der Menge abhebt und ihm eine moralische und physische Superiorität verleiht. Nicht nur aufgrund seines königlichen Geblüts, sondern auch durch seine Bildung weicht er von den anderen Schwarzen ab. Dabei handelt es sich ebenso um ein Mythem, das Assoziationen zum einstigen Sklavenführer weckt. Explizit wird auf die Sprachkenntnisse Bug-Jargals eingegangen, der sich auf Spanisch an d’Auvergney wendet, den er dadurch in Erstaunen versetzt: „Et parce que cet esclave m’avait adres26 27 28
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Anhand dieses Mythems und insbesondere des nachfolgenden Zitats wird deutlich, dass Bug-Jargal in Hugos Vorstellung Afrikaner ist. HUGO, [1826] 1970, S. 57f. HUGO, [1826] 1970, S. 200f.
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sé quelques mots en espagnol, était-ce une raison pour le supposer auteur d’une romance en cette langue, qui annonçait nécessairement un degré de culture d’esprit selon mes idées tout à fait inconnu aux nègres?“29 Später im Roman schildert Bug-Jargal d’Auvergney, dass er seine Bildung von Europäern erhalten habe, die ihn als Sklaven nach Saint-Domingue verschleppten.30 Diese an den Toussaint-Mythos erinnernden positiven Mytheme führen zu einer Idealisierung des Revolutionsführers Bug-Jargal. Alle als negativ angesehenen Eigenschaften und Mytheme Toussaint Louvertures, die nicht zu dem Bild eines guten Schwarzen passen, werden hingegen nicht auf den Helden Bug-Jargal, sondern vor allem auf Biassou und Habibrah übertragen, wodurch diese antithetischen Figuren abgewertet werden.31 Sowohl Biassou32 als auch Habibrah33 sind im Roman Mulatten; diese ethnische Gruppe wird bei Hugo als sehr verschlagen und gefährlich dargestellt, was vermutlich mit dem ihnen zu dieser Zeit zugeschriebenen ambigen Status zusammenhängt.34 Gut und Böse werden kontrastierend gegenübergestellt, wobei dies bei Hugo nicht mit einer dichotomischen Kategorisierung Weißer und Schwarzer gleichgesetzt wird, wie die Idealisierung der Romanhelden unterschiedlicher Rasse verdeutlicht.35 Der von Toussaint gegen die Mulatten und ihren Anführer Rigaud geführte Bürgerkrieg wird im Roman nicht thematisiert. Allerdings kommt die angebliche Verachtung Toussaints – übertragen auf Bug-Jargal – gegen die Mulatten zum Ausdruck. Als Bug-Jargal eine weitere Arglist Biassous
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HUGO, [1826] 1970, S. 58. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 197. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 311f. Der Anführer Biassou war laut Geschichtsschreibung ein Schwarzer. Die Darstellung Biassous im Roman erinnert an den Anführer und späteren haitianischen König Jean-Christophe, da auch er versuchte, die Machtpräsentation der Europäer nachzuahmen. Vgl. LÜSEBRINK, 1993, S. 142. Cauna bezeichnet Habibrah als den ersten Entwurf eines solchen Monsters, das in den späteren Romanen Hugos fortwährend auftaucht (zum Beispiel Quasimodo oder Triboulet). Vgl. CAUNA, 1985, S. 11. Siehe Anm. 10 in Kapitel 3.3.1. Diese Diffamierung warfen die Kritiker Hugo oftmals vor. Vgl. BONIN, 2008, S. 197. Antoine ist der Meinung, dass der Roman Victor Hugos in vielerlei Hinsicht als ein „roman antimulâtre“ (ANTOINE, 1978, S. 181) betrachtet werden kann. Vgl. CAUNA, 1985, S. 12.
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durchschaut, ruft er: „Comment n’ai-je pas prévu quelque perfidie? Ce n’est pas un noir, c’est un mulâtre.“36 In der Geschichtsschreibung wird Toussaint, der in seiner Kindheit Fatras-Bâton genannt wurde, oftmals als klein, mager und hässlich beschrieben. In Hugos Roman hingegen ist es Biassou, der diese Merkmale verkörpert: „Le chef sacatra devant lequel j’étais introduit était d’une taille moyenne. Sa figure ignoble offrait un rare mélange de finesse et de cruauté.“37 Bug-Jargal jedoch wird als starker, herkulesähnlicher Mann präsentiert: „[…] la beauté de ses formes, qui, quoique maigries et dégradées par la fatigue d’un travail journalier, avaient encore un developpement [sic] pour ainsi dire herculéen; je me représentais dans son ensemble l’aspect imposant de cet esclave […].“38 Wie bereits beim Mythem der königlichen Abstammung erläutert, wird BugJargal im Rückblick von d’Auvergney als schön und edel empfunden: Seine Gesichtszüge, insbesondere seine hohe Stirn, sind für die eines Schwarzen untypisch und machen ihn laut d’Auvergney dadurch zu etwas Besonderem. Auch d’Auvergneys Unteroffizier Thadée bekundet seine Bewunderung für Bug-Jargal: „Oh! quel homme! c’était un vrai Gibraltar.“39 Die Metapher verweist auf den den Wellen trotzenden und aus dem Meer herausragenden Fels von Gibraltar. Ähnlich sticht auch Bug-Jargal aus der Masse der Schwarzen hervor. Die Solidität des Felsens knüpft vermutlich an die physische und moralische Stärke des schwarzen Sklaven an,40 der inmitten der Aufständischen von den Weißen bzw. insbesondere von d’Auvergney als Fels in der Brandung wahrgenommen wird. Der Vergleich mit Gibraltar zeigt also zwei distinguierende Charaktereigenschaften Bug-Jargals auf: seine physische Stärke sowie seine moralische Größe. Weitere Übertragungen von Mythemen des Toussaint-Mythos auf Habibrah und Biassou, die als Kontrastfiguren zu Bug-Jargal auftreten, dienen insbesondere dazu, diese der Lächerlichkeit preiszugeben und ihre Manipulation der Schwarzen deutlich zu machen. Toussaints Tätigkeit als Medizinmann für die Aufständischen wird im Roman dem Mulatten Habibrah zugeschrieben. Seine afrikanischen medizinischen 36 37 38 39 40
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HUGO, [1826] 1970, S. 203. HUGO, [1826] 1970, S. 117. HUGO, [1826] 1970, S. 58. HUGO, [1826] 1970, S. 28. Vgl. HOFFMANN, 1996, S. 54.
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Bräuche und Heilungszeremonien werden von Léopold d’Auvergney, der diese als Gefangener im Lager der Insurgenten miterlebt, als alberner, abergläubischer Hokuspokus herabgesetzt:41 Vous concevez aisément que cette médecine était aussi dérisoire que le culte dont il se faisait le ministre; et il est probable que le petit nombre de cures qu’il opérait par hasard n’eût point suffi pour conserver à l’obi la confiance des noirs, s’il n’eût joint des jongleries à ses drogues, et s’il n’eût cherché à agir d’autant plus sur l’imagination des nègres qu’il agissait moins sur leurs maux.42
Léopold d’Auvergney berichtet im Roman des Weiteren, dass Habibrah gleichzeitig auch als eine Art Priester fungiert. Er beschreibt, wie die verschiedenen Symbole der katholischen Religion für die ‚Messe‘ zusammengetragen werden, wobei den Aufständischen provisorisch ein Dolch als Kreuz dient. Ebenso wie die heilenden Rituale wird auch die Messe der Aufständischen von d’Auvergney, der sich als „‚aufgeklärter‘ Europäer“43 betrachtet, als Parodie und Scharlatanerie beschrieben und als Blasphemie erachtet: En un clin d’œil l’intérieur de la grotte fut disposé pour cette parodie du divin mystère. On apporta un tabernacle et un saint ciboire enlevés à la paroisse de l’Acul [...]. On érigea en autel la caisse de sucre volée, qui fut couverte d’un drap blanc, en guise de nappe, ce qui n’empêchait pas de lire encore sur les faces latérales de cet autel: Dubuisson et Cie. pour Nantes. Quand les vases sacrés furent placés sur la nappe, l’obi s’aperçut qu’il manquait une croix: il tira son poignard, dont la garde horizontale présentait cette forme, et le planta debout entre le calice et l’ostensoir, devant le tabernacle.44 [Herv. i. O.]
In diesen grotesk anmutenden Szenen spielt Bug-Jargal keine Rolle, wodurch er von der von d’Auvergney empfundenen Verachtung ausgenommen wird. Allerdings verweist Hugo in einer Fußnote direkt auf die historische Figur Toussaint Louverture: Während Habibrah die Hostie 41 42 43 44
Vgl. LAHAYE, 2003, S. 53f. HUGO, [1826] 1970, S. 126. LAHAYE, 2003, S. 54. HUGO, [1826] 1970, S. 119.
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in die Höhe hält, ruft er einige Worte aus, die laut Hugo kreolisch sind. In der Fußnote fügt Hugo eine Übersetzung hinzu und erklärt, dass es üblich war, dass Toussaint diese Worte nach der Kommunion ausrief: „‹Vous connaissez le bon Dieu: c’est lui que je vous fais voir. Les blancs l’ont tué: tuez tous les blancs.› Depuis, Toussaint-Louverture avait coutume d’adresser la même allocution aux nègres, après avoir communié.“45 Im Mittelpunkt einer weniger bekannten Szene, die auch als Mythem46 des Toussaint-Mythos begriffen werden kann, steht im Roman wiederum Habibrah. Dieser erklärt den Aufständischen: „Frères, vous êtes le maïs noir, les blancs vos ennemis sont le maïs blanc. A ces paroles, il remua le vase, et quand presque tous les grains blancs eurent disparu sous les noirs, il s’écria d’un air d’inspiration et de triomphe: Guetté blan si la la.“47 [Herv. i. O.] Bei Hugo veranschaulicht das auch von Toussaint verwendete Maisgleichnis, wie die grausamen mulattischen Anführer die schwarze Masse gegen die Weißen aufhetzen, sie manipulieren und für ihre Zwecke einspannen. Diese Agitation der Schwarzen durch Habibrah und Biassou wird in einer weiteren Szene, die Hugo erneut mit einer Fußnote und einem Verweis auf Toussaint Louverture und auf dessen Anwendung solcher Praktiken versieht,48 erkennbar. Biassou verweigert einem Schwarzen eine höhere Stellung und gibt ihn der Lächerlichkeit preis, indem er erklärt, dass eine des Lateins nicht mächtige Person keine hohe Position innerhalb der aufständischen Truppen besetzen könne: „Comment! misérable drôle! s’écria-t-il, comment! tu veux être officier et tu ne sais pas le latin!“49 Der zu diesem Zeitpunkt gefangene d’Auvergney beschreibt diese Szene folgendermaßen: 45 46
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HUGO, [1826] 1970, S. 120, Fußnote a. Toussaint Louverture soll schwarzen und weißen Mais gemischt haben, um den Schwarzen ihre zahlenmäßige Überlegenheit in der Bevölkerung vor Augen zu führen, auf dass sie mehr Mut für den Kampf fassten. Dieses Maisgleichnis erwähnte bereits Lacroix in seinen Memoiren. Vgl. LACROIX, [1819] 1995, S. 245. HUGO, [1826] 1970, S. 121. Für diesen letzten Satz führt Hugo in der Fußnote eine Übersetzung an: „Voyez ce que sont les blancs relativement à vous!“ HUGO, [1826] 1970, S. 121, Fußnote a. „Toussaint-Louverture s’est servi plus tard du même expédient avec le même avantage.“ HUGO, [1826] 1970, S. 161, Fußnote a. HUGO, [1826] 1970, S. 159.
Die Rezeption in der französischen Romantik Il y avait un côté burlesque dans cette scène, qui acheva cependant de m’inspirer une haute idée de l’habileté de Biassou. Le moyen ridicule qu’il venait d’employer avec tant de succès pour déconcerter les ambitions toujours si exigeantes dans une bande de rebelles me donnait à la fois la mesure de la stupidité des nègres et de l’adresse de leur chef.50
Biassou, der im Roman als Gegenbild zu Bug-Jargal dient, wird im Gegensatz zu Habibrah ambivalenter dargestellt.51 Wie dieses Zitat belegt, zollt d’Auvergney Biassous Führungsfähigkeit eine gewisse Anerkennung, brandmarkt aber insbesondere dessen Vorgehen als Manipulator der schwarzen Masse und animalisiert ihn als „hyène“52 und „renard“.53 Beide mulattischen Anführer erfahren durch die Übertragung der Mytheme des Toussaint-Mythos eine Dämonisierung. Die erwähnten expliziten Verweise auf die historische Person Toussaint in Hugos Fußnoten führen vor Augen, dass sich Hugo der Parallelen zwischen seinem idealisierten schwarzen Anführer Bug-Jargal und Toussaint zwar bewusst war, jedoch – aufgrund seiner im Roman zum Ausdruck kommenden ablehnenden Haltung zur Haitianischen Revolution54 – nicht die Absicht hatte, einen Roman mit Toussaint Louverture als Anführer zu schreiben. Wie bereits erwähnt, war das Interesse an Toussaint, der Haitianischen Revolution und dem Verlust der einstigen Perle der Antillen zur Zeit der Veröffentlichung des Romans aufgrund der Verordnung Karls X. neu aufgeflammt, sodass eine solch positive Darstellung Toussaints in einem Roman von einem zu diesem Zeitpunkt monarchistisch, antirevolutionär und antirepublikanisch sowie rassistisch gesinnten Victor Hugo, dessen Sympathien eigentlich
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HUGO, [1826] 1970, S. 161. Vgl. LAHAYE, 2003, S. 53. HUGO, [1826] 1970, S. 117. HUGO, [1826] 1970, S. 143. Hoffmann zeigt auf, dass bei Victor Hugo – weder in Bug-Jargal noch in seinen anderen Romanen – keine Gutheißung, keine Rechtfertigung der Haitianischen Revolution vorzufinden ist. Vgl. HOFFMANN, 1996, S. 56. Im Roman wird die Revolution als etwas Negatives aufgefasst wie z. B. folgendes Zitat verdeutlicht: „[…] des massacres qui avaient marqué l’invasion de la révolution dans cette magnifique colonie.“ HUGO, [1826] 1970, S. 32.
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den Kolonisten galten, unvorstellbar gewesen wäre.55 Vielmehr wollte Hugo aufzeigen, wie seiner Meinung nach der Aufstand hätte verlaufen sollen und zwar in Form einer gewaltlosen Revolution,56 die aufgrund der damaligen Verhältnisse eine Sozialutopie darstellt.57 Die Identifikationsfigur des Romans Bug-Jargal, der die Schwarzen nicht manipuliert, sondern ihnen durch Erziehung und Aufklärung den Weg weist,58 repräsentiert den idealen Anführer dieser Vorstellung. Auch wenn der Held dieses Romans nicht Toussaint Louverture heißt, wird aufgrund der Verwendung verschiedener Mytheme des Toussaint-Mythos bei der Darstellung Bug-Jargals durchaus eine Verbindung zu Toussaint hergestellt. Die Meinungen zu dem Roman sind bis heute sehr gespalten und die Bewertungen reichen von negrophob bis negrophil.59 Mit Ausnahme von Bug-Jargal werden die Schwarzen und Mulatten vorwiegend negativ inszeniert und als Verbrecher und Barbaren bezeichnet,60 sodass Bug-Jargal trotz der teils antirassistischen Bemerkungen d’Auvergneys schwerlich als negrophiler Roman angesehen werden kann. Einigkeit herrscht jedoch durchaus in dem Punkt, dass Hugo in seinem Roman einen intelligenten, edelmütigen, loyalen, ritterlichen, sprachgewandten Anführer der Schwarzen darstellt, sozusagen einen idealen Anführer, der alle positiven Eigenschaften in sich vereint und allen anderen moralisch und physisch überlegen ist.61 Diese Charakteristika scheinen sich im Roman hauptsächlich auf seine königliche Abstammung zurückführen zu lassen, die an vielen Stellen angesprochen wird.62 Aufgrund der Ähnlichkeiten Bug-Jargals mit Toussaint könnte der Roman als eine Art Verurteilung Napoleons verstanden werden. Vermutlich war dies bereits die Absicht in der ersten Version des Romans, die kurz nach der Verbannung Napoleons auf Sankt-Helena verfasst 55 56 57 58 59 60 61 62
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Vgl. GEWECKE, 1986, S. 62; CAUNA, 1985, S. 13; HOFFMANN, 1996, S. 51; TOUMSON, 1979, S. 58. Vgl. BILOA ONANA, 2010, S. 87f. Vgl. MÜLLER, 2012, S. 209. Vgl. LAHAYE, 2003, S. 54. Vgl. CAUNA, 1985, S. 13f; GEWECKE, 1986, S. 53; HOFFMANN, 1996, S. 49f; BONIN, 2008, S. 194. Vgl. HUGO, [1826] 1970, S. 166. Vgl. CAUNA, 1985, S. 11. Vgl. ANTOINE, 1978, S. 182.
Die Rezeption in der französischen Romantik
und noch zu dessen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Jacques Seebacher ist der Auffassung, dass die erste Version von Bug-Jargal im Salon von Madame Hugo einer „dénonciation féroce de Napoléon, du tyran“63 entsprach. Die zweite Fassung, die noch mehr Ähnlichkeiten zwischen Bug-Jargal und Toussaint Louverture andeutet, nährt diese Vermutung. Schließlich wird Napoleons herablassendes Verhalten gegenüber Toussaint in einer Fußnote des Romans erwähnt: Toussaint-Louverture, qui s’était formé à l’école de Biassou, et qui, s’il ne lui était pas supérieur en habileté, était du moins fort loin de l’égaler en perfidie et en cruauté. Toussaint-Louverture a donné plus tard le spectacle du même pouvoir sur les nègres fanatisés. Ce chef, issu, diton, d’une race royale africaine, avait reçu, comme Biassou, quelque instruction grossière, à laquelle il ajoutait du génie. Il s’était dressé une façon de trône républicain à Saint-Domingue dans le même temps où Bonaparte se fondait en France une monarchie sur la victoire. Toussaint admirait naïvement le premier consul: mais le premier consul, ne voyant dans Toussaint qu’un parodiste gênant de sa fortune, repoussa toujours dédaigneusement toute correspondance avec l’esclave affranchi qui osait lui écrire: Au premier des blancs le premier des noirs.64 [Herv. i. O.]
Napoleon habe Hugo zufolge Toussaint nur als Parodisten betrachtet, der seinem Erfolg im Wege stand. Diese Fußnote zeugt von einer gewissen Verachtung Hugos gegenüber Napoleon, was den Eindruck erweckt, dass diese positive, idealisierte Darstellung eines schwarzen Sklavenführers im Roman Bug-Jargal, der zwar nicht Toussaint Louverture heißt, aber Mytheme des Toussaint-Mythos berücksichtigt, der Herabwürdigung Napoleons dienen sollte. Für diese These spricht auch das Mythem des Todes: Der schwarze Protagonist starb zwar nicht wie Toussaint in einem französischen Gefängnis, sondern wurde vom französischen Unteroffizier Thadée aufgrund eines Missverständnisses erschossen. Dennoch kann eine Parallele zum Tod Toussaints durch das Bedauern Thadées über die irrtümliche Ermordung Bug-Jargals herge-
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Zitiert nach GEWECKE, 1986, S. 65. Hugo, [1826] 1970, S. 165, Fußnote a.
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stellt werden. Thadées Selbstanklage könnte Napoleons Reue65 widerspiegeln, keine Verständigung mit Toussaint erzielt zu haben, sodass er folglich Saint-Domingue nicht für Frankreich halten konnte.66 Damit lässt sich zwischen der Rezeption des Toussaint-Mythos der Zeitzeugen und der Romantiker bereits eine signifikante Transformation der Darstellung Toussaints erkennen. Überwogen bei den Zeitzeugen – mit Ausnahme Régis’ – die negativen Aspekte des Toussaint-Mythos, so wird bei Hugo nun ein Bild eines idealen Anführers, eines guten Schwarzen vor dem Hintergrund des traumatischen Ereignisses der Haitianischen Revolution gezeichnet, wozu insbesondere die Mytheme der königlichen Abstammung sowie der Rettung der Familie des Plantagenbesitzers in den Mittelpunkt rücken. Die anderen Schwarzen und insbesondere die Mulatten erfahren im Roman allerdings weiterhin eine sehr negative Darstellung. Interessant ist auch die parallel dazu einsetzende Dämonisierung des in vielen Zeitzeugenwerken als Helden glorifizierten Napoleons – eine Transformation, die sich in den folgenden Jahren etablieren wird. Der Roman Hugos ist für die ToussaintRezeption sehr bedeutsam, da bisher nur wenige Dokumente ein solches Licht auf einen Anführer einer realen Revolution geworfen haben. Durch die Bekanntheit Toussaints in Frankreich werden die Parallelen zwischen ihm und Bug-Jargal den Zeitgenossen Victor Hugos nicht entgangen sein, wodurch der Autor einen nicht unerheblichen Beitrag zur Verbreitung des Toussaint-Mythos geleistet hat.67
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Wie bereits in Kapitel 3.2 dargelegt, steht in Le Mémorial de SainteHélène u. a., dass Napoleon rückblickend zugibt, dass er mit der Expedition einen Fehler begangen hat und er die Kolonie besser mithilfe Toussaints regiert hätte. Vgl. LAS CASES, 1842, S. 687. Vgl. ANTOINE, 1978, S. 188. Vgl. DEBIEN, 1952, S. 312.
Die Rezeption in der französischen Romantik
3.3.2 Der Beginn der idealisierten Darstellung Toussaint Louvertures Der Roman Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue wurde von einem anonymen Autor, vermutlich von einem in Frankreich lebenden Mulatten, verfasst und im gleichen Jahr (1826) wie auch die zweite Version von Bug-Jargal in Paris publiziert.1 Im Zentrum des Geschehens steht der Mulatte Oxiane, der unsterblich in Clara, die Tochter M. de Polvers, verliebt ist. Oxiane ist der Adoptivsohn und wie sich am Ende herausstellt auch leiblicher Sohn M. Dubreuils. Das Drama nimmt mit der Ankunft des in Frankreich aufgewachsenen Sohnes M. Dubreuils, John, in Saint-Domingue seinen Lauf, da dieser Oxiane als Rivalen betrachtet und zwar sowohl im Hinblick auf die Liebe seines Vaters als auch auf die Zuneigung Claras. Bréda, wie Toussaint hieß, bevor er sich Louverture nannte, ist M. de Polvers Sklave. Er steht aufseiten Oxianes, der zunächst die gemeinsame Revolte der Mulatten und Schwarzen anführen soll. Da Oxiane sich innerlich aber den Weißen zugehörig fühlt, die ihn allerdings als Rebellen betrachten, lehnt er es ab nach dem Tod des mulattischen Anführers Roger die Führung der Revolte zu übernehmen. Stattdessen wird Bréda zum neuen Oberhaupt der Revolution; er lässt der Anarchie Ordnung folgen und nimmt am Ende unter einem anderen Namen den Kampf um die Freiheit und gegen die Expedition Frankreichs auf. Schon zu Beginn des Romans lässt sich das Potenzial Brédas, Anführer einer Revolte zu werden, erahnen. Dabei ist vor allem das Mythem der Bildung von großer Bedeutung. Mehrmals werden die Intelligenz und Geschicklichkeit von M. de Polvers schwarzem Sklaven hervorgehoben: „[…] le nègre Bréda, dont le vieux marin nous a tant vanté l’intelligence et l’adresse […].“2 Bréda wird nicht nur die Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können, zugesprochen, sondern er hat zusammen mit M. de Polver auch viele Reisen unternommen, die zu seiner Bildung beitrugen:
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Vgl. ANTOINE, 1978, S. 186, Fußnote 68. ANONYMUS, 1826a, S. 76.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos […] ses longs voyages avaient développé de bonne heure son intelligence, et lui avaient donné une grande force de volonté; il avait fait avec son maître un long séjour à Paris; il y avait beaucoup vu et beaucoup observé; de nombreuses lectures lui avaient donné des idées justes, et avaient détruit en lui les préjugés de sa race sur les blancs: à l’exception de son maître, pour lequel il avait un respect sans bornes, et dont il ne contestait jamais les droits sur sa liberté, il n’accordait point aux Européens ces droits chimériques, fondés sur une prétendue supériorité d’intelligence, et sur une couleur qu’il savait bien n’être qu’un accident physique.3
Besondere Erwähnung findet Brédas längerer Aufenthalt in Paris. Im von der Aufklärung geprägten Frankreich erhält er neue Ideen, beginnt an der Superiorität der Weißen sowie an der Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft in der Kolonie zu zweifeln und sieht die Hautfarbe der Schwarzen nunmehr nur noch als Akzidens an. Durch diesen durch Reisen und Lektüren gewonnenen Wissensvorsprung, der ihn von den restlichen Sklaven abhebt, scheint Bréda dazu berufen zu sein, die herrschenden Ungerechtigkeiten abzuschaffen und die Schwarzen in die Freiheit zu führen. Da sich Bréda jedoch nur durch die von den Franzosen erhaltene Bildung abheben kann, wird deutlich, dass auch die Annahme der Superiorität der Europäer im Roman noch sehr bedeutsam ist und eine Assimilierung der Kolonialisierten befürwortet wird. Aus dem Zitat geht auch hervor, dass Bréda seinem Herrn treu ergeben war und ihm gegenüber sein Recht auf Freiheit nicht geltend machte. Dies erinnert wiederum an den Usus der vor der Haitianischen Revolution entstandenen littérature négrophile, in der nur ein Aufstand gegen grausame und ungerechte Sklavenbesitzer als gerechtfertigt galt und die Sklaven einem gerechten Sklavenhalter gegenüber zu Gehorsam verpflichtet waren.4 Diese Loyalität Brédas gegenüber M. de Pol3 4
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ANONYMUS, 1826a, S. 81f. Vgl. GEWECKE, 1986, S. 54f; siehe Anm. 16 in Kapitel 3.3. Ein weiteres Merkmal der negrophilen Literatur ist es, dass der Sklave sich bewusst ist, dass er aufgrund seiner Herkunft nicht gut genug für eine weiße Frau ist. Oxiane, der zunächst denkt, dass er vom Anführer der Mulatten Roger abstammt, weiß von der Unmöglichkeit seiner Liebe zu Clara, der Tochter des Plantagenbesitzers M. de Polver. Erst als er erfährt, dass sein Vater in Wahrheit M. Dubreuil ist und er damit der Schicht der Weißen und
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ver zeigt sich auch daran, dass er ihm, ähnlich wie Bug-Jargal, mehrmals das Leben rettet: „[…] sa fidélité et son attachement pour son maître avaient été souvent éprouvés: il lui avait sauvé plusieurs fois la vie […].“5 Im Gegensatz zum Protagonisten Hugos, bei dem sich seine moralische und physische Superiorität gegenüber den anderen Schwarzen aufgrund seiner königlichen Abstammung ergibt, ragt Bréda allein aufgrund seiner Bildung und seiner Loyalität hervor. Während bei BugJargal nur Léopold d’Auvergney als aufgeklärter Europäer abgebildet wird, zeichnet sich ab, dass in diesem Roman auch Bréda von den Gedanken der Aufklärung beeinflusst wird und er sich daher für die Freiheit der Sklaven einsetzt. Dieses von Bréda verfolgte Ziel der universellen Freiheit wird an mehreren Stellen im Roman hervorgehoben. Zwar wird der Kampf als schrecklich, aber mit Blick auf die durch die Sklaverei verursachten Gräuel der Kolonisten dennoch als gerechtfertigt beschrieben.6 Da der geführte Kampf als gerechte Sache dargestellt wird, findet auch das Maisgleichnis im Gegensatz zum Roman Bug-Jargal, in dem dieses zur Dämonisierung Biassous verwendet wurde, eine positive Instrumentalisierung. Bréda kann mit diesem bildlichen Vergleich die anderen Schwarzen von ihrer Stärke und der Möglichkeit eines Sieges über die Weißen überzeugen: Il fait apporter un vase de bois avec deux sacs de maïs: la plus vive curiosité s’empare des nègres; tous se pressent autour de lui pour voir ce qu’il va faire: il remplit le vase de maïs noir, il y mêle une poignée de grains blancs. Vous êtes le maïs noir, leur dit-il, vos ennemis sont le maïs blancs [sic]. Il jette le tout sur la terre et le montrant aux regards des nègres: ‒ Vous hésitez! s’écrie-t-il avec force [...].7
5 6 7
Plantagenbesitzer angehört, glaubt er an die Möglichkeit einer Ehe mit Clara. ANONYMUS, 1826a, S. 81. Vgl. ANONYMUS, 1826b, S. 150. ANONYMUS, 1826b, S. 205.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Der Autor weist bei dieser Szene in einer Fußnote darauf hin, dass die Erzählung auf wahren Tatsachen beruht und auch Bréda wirklich existierte, ohne allerdings den Namen Toussaint Louverture hinzuzufügen.8 In der Schlussfolgerung des Romans wird das erfolgreiche Unterfangen des Sklavenführers gepriesen: „Personne peut-être n’était plus capable que lui de consolider la liberté de ses concitoyens: dans l’espace de deux ans, l’île sembla sortir de ses ruines [...].“9 Der Verfasser bezieht Position gegen Frankreich, das nicht dazu bereit war, den Wert der Freiheit mit seiner Kolonie zu teilen, und eine Expedition nach Saint-Domingue sandte, um Brédas Vorhaben zu untergraben: Tout semblait promettre des destinées heureuses à ce peuple sortant à peine de la servitude et de la barbarie; mais la France, qui réclamait la liberté pour elle-même, ne la vit pas sans envie croître sur ce sol éloigné: elle envoya sur les côtes de Saint-Domingue une armée formidable [...].10
Zudem wird geschildert, dass Bréda später einen anderen Namen annahm, mit dem er schließlich Geschichte schrieb. Den Franzosen wirft der Autor die Gefangennahme und den Gefangenentod dieses Anführers vor, der Frankreich im Kampf um die Freiheit lange Widerstand leistete: Bréda, qui avait quitté ce nom sous lequel il avait connu la servitude, pour en prendre un autre, que l’histoire a consacré dans les fastes du génie et du malheur, s’illustra par une longue résistance, et ne fut vaincu que par la trahison. Traîné en France, il expia dans les fers le crime de s’être élevé au-dessus de ses concitoyens, et d’avoir été homme parmi des esclaves: sa mort ne fut honteuse que pour ses bourreaux, et son nom est devenu cher à tous les amis de l’humanité.11
Auffällig ist, dass weder der Name Leclerc, noch Napoleon, noch Toussaint Louverture fällt. Da das Thema Saint-Domingue bei Erscheinen des Romans noch sehr aktuell war, kann aber davon ausgegangen 8 9 10 11
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Vgl. ANONYMUS, 1826b, S. 206, Fußnote 1. ANONYMUS, 1826c, S. 193f. ANONYMUS, 1826c, S. 194. ANONYMUS, 1826c, S. 195.
Die Rezeption in der französischen Romantik
werden, dass der Leser hinter Bréda Toussaint Louverture erkannte und die als französische Henker bezeichneten Franzosen als Napoleon und Leclerc identifizierte. Die bei Bug-Jargal ansatzweise vorhandene Kritik an Napoleon wird hier manifest und der Tod Toussaints wird als ein Verbrechen des Ersten Konsuls angeprangert. Die von Karl X. damals nicht unumstrittene Erklärung der Souveränität der Kolonie wird hingegen als Anerkennung der Freiheit der Schwarzen gepriesen: „[…] un roi, digne sang des Bourbons, reconnut cette liberté dont l’établissement avait coûté tant de sang et de larmes.“12 Auch wenn in diesem Roman eigentlich die Liebesgeschichte zwischen Oxiane und Clara im Mittelpunkt des Geschehens steht, so ist die Darstellung Toussaints unter seinem Sklavennamen Bréda dennoch sehr aussagekräftig. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Bug-Jargal und Bréda ist erkennbar, da jeweils das Bild eines treuen, loyalen und gebildeten Sklaven gezeichnet wird, der sich durch diese Eigenschaften von den anderen Sklaven unterscheidet. Während sich Bug-Jargal durch die königliche Abstammung hervorhebt, steht bei Bréda allerdings seine Bildung im Vordergrund, denn der schwarze Anführer stellt nach zahlreichen Lektüren und seiner Reise ins aufgeklärte Frankreich die Superiorität der Weißen infrage und setzt sich die Freiheit der Schwarzen zum Ziel. Dennoch ist diese angebliche Superiorität dem Roman eingeschrieben, da Bréda sich erst durch die von Europäern erhaltene Bildung von den anderen Insurgenten abheben kann. Wie auch bei BugJargal werden noch Elemente der negrophilen Literatur aufgegriffen: Trotz seinem Wunsch nach Freiheit ist Bréda seinem gerechten Herrn gegenüber loyal und macht ihm gegenüber sein Recht auf Freiheit nicht geltend. Ferner liegt dem Roman die Unmöglichkeit einer Heirat zwischen einer Weißen und einem Farbigen zugrunde, denn Oxiane kann Clara erst heiraten, als klar wird, dass sein Vater kein Mulatte, sondern der der weißen Oberschicht angehörende M. Dubreuil ist. Hervorzuheben ist, dass Toussaint nun seinen wahren Namen erhält – wenn auch nur seinen Sklavennamen – und dieser Roman den Beginn einer Idealisierung des haitianischen Freiheitskämpfers Toussaint Louverture in der französischen Literatur signalisiert. Des Weiteren wird auch die Dämonisierung Napoleons expliziter. Zwar wird sein Name nicht genannt, aber seine Taten, wie das Entsenden der Expedition zur Unterbindung 12
ANONYMUS, 1826c, S. 196.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
der Freiheit der Schwarzen sowie die Verhaftung und der Tod Toussaints, werden ausdrücklich als Verrat tituliert.
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Die Rezeption in der französischen Romantik
3.3.3 Toussaint als Widerpart Napoleons (Mme de Staël, Balzac, Chateaubriand)1 Neben Victor Hugo nahmen auch weitere einflussreiche Schriftsteller der Romantik Bezug auf Toussaint Louverture, wie beispielsweise Anne Louise Germaine de Staël-Holstein in ihren Memoiren Dix années d’exil (1818), Honoré de Balzac in der Erzählung Z. Marcas (1840) sowie François-René de Chateaubriand im politischen Essay „De Buonaparte et des Bourbons“ (1814) und in seinen Memoiren Mémoires d’outre-tombe (1848). Die besagten Autoren widmeten Toussaint kein komplettes Werk, aber erwähnten ihn an mehreren Stellen. In den Memoiren Dix années d’exil, an denen Mme de Staël bereits ab 1811 schrieb und die 1818 posthum veröffentlicht wurden, werden ihre Erinnerungen (1803-1813) an ihre Verbannung während der Herrschaft Napoleons beschrieben, in denen auch die Analyse und Charakterisierung Napoleons eine wichtige Rolle spielen.2 Während Mme de Staël in ihren Memoiren Toussaint nennt, verschweigt sie die Haitianische Revolution sowie Toussaint im ebenfalls 1818 erschienenen Werk über die Französische Revolution Considérations sur les principaux événements de la Révolution française.3 Die Erzählung Z. Marcas (1840) spielt während der Julimonarchie und handelt von zwei Studenten, die ihren mysteriösen Nachbarn Z. Marcas zunächst ausspionieren und schließlich persönlich kennenlernen. Dieser hatte zuvor als Regierungsbeamter für einen Minister gearbeitet, der ihn entließ, als er seiner Hilfe nicht mehr bedurfte, woraufhin Z. Marcas zusehends verelendet. Ihm selbst blieb ein politischer Aufstieg nicht mangels Talent, sondern aufgrund nicht vorhandener finanzieller Mittel verwehrt. Die beiden Studenten unterstützen ihn daraufhin und pflegen ihn, als er von einem Nervenfieber befallen wird und daran stirbt. Chateaubriands am 31. März 1814 – am Tag der Besetzung von Paris durch die Koalitionsarmee und kurz vor der erzwungenen Abdankung Napoleons am 6. April 1814 – veröffentlichter Essay richtet sich explizit gegen Napoleon, wie bereits der komplette Titel zu verstehen gibt: „De Buonaparte, des 1 2 3
Vgl. zu diesem Kapitel insbesondere LAMMEL, 2015. Ulrich Taschow betitelte seine deutsche Neuausgabe dieses Werks von 2011 treffenderweise: Memoiren. Die Demaskierung Napoléons. Vgl. BÉNOT, [1987] 2004, S. 205; Kapitel 1.2.2.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Bourbons, et de la nécessité de se rallier à nos princes légitimes, pour le bonheur de la France et celui de l’Europe.“ In seiner nach seinem Rückzug aus der Politik verfassten mehrbändigen Autobiografie Mémoires d’outre-tombe, die 1848 posthum veröffentlich wurde, erfolgt eine Darstellung von fünf Jahrzehnten tiefer politischer Umwälzungen, die u. a. eine ausführliche Charakterisierung Napoleons umfasst. Auffällig ist, dass in all diesen Werken auf Toussaint Louverture nur in Zusammenhang mit Napoleon Bonaparte Bezug genommen wird. Wenn Toussaint thematisiert wird, erfolgt stets eine Gegenüberstellung der beiden historischen Figuren. Daher verwundert es auch nicht, dass bei diesen Autoren nur die Mytheme des Toussaint-Mythos aufgegriffen werden, die mit Napoleon in Verbindung stehen, wie beispielsweise der zwischen Frankreich und Toussaint geschlossene Waffenstillstand, Toussaints Gefangennahme sowie sein Tod im französischen Gefängnis. Interessanterweise greift Chateaubriand zudem die Frage nach der Nationalität der beiden Anführer auf, während Mme de Staël zusätzlich auf die Verfassung Toussaints sowie auf die während der Expedition an den Schwarzen begangenen Grausamkeiten verweist. In seinem Werk Génie du Christianisme4 von 1802, in dem Toussaint keine Erwähnung findet, manifestiert Chateaubriand5 im Kapitel „Missions des Antilles“ seine ablehnende Haltung gegenüber der Haitianischen Revolution. Er ist der Meinung, dass die Schwarzen, ihr Freiheitskampf sowie die Abolition der Sklaverei angesichts der von ihnen begangenen Verbrechen nicht länger verteidigt werden können: „Avec de grands mots on a tout perdu: on a éteint jusqu’à la pitié; car qui oserait encore plaider la cause des noirs après les crimes qu’ils ont commis?“6 Dies war in Frankreich zu dieser Zeit ein weitverbreiteter Gedanke,7 der zudem von der bonapartistischen Propaganda genährt wurde sowie 4
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Dieses antiaufklärerische Werk, in dem Chateaubriand die Aspekte der katholischen Religion verklärend darstellt, enthält auch die Erzählungen Atala und René. Siehe auch Anm. 17 in Kapitel 3.3.3. Laut Müller hatte Chateaubriand eine aus Martinique stammende Mätresse, die ihm für dieses Werk Inspirationen lieferte. Vgl. MÜLLER, 2012, S. 206. CHATEAUBRIAND, [1802] ca. 1900, S. 180. Auch Mme de Duras’ ablehnende Haltung gegenüber der Haitianischen Revolution kommt in ihrem 1823 veröffentlichten Werk Ourika zum Ausdruck, indem die schwarze Hauptfigur der Erzählung ihre Scham
Die Rezeption in der französischen Romantik
von der Tatsache, dass Berichte über Gräueltaten an Weißen in SaintDomingue nach Frankreich gelangten, wohingegen die Gewalt der Repression der Aufstände vonseiten der Franzosen aber zunächst meist unerwähnt blieb.8 Mme de Staël schien von diesen Verbrechen an der schwarzen Bevölkerung Kenntnis erlangt zu haben, was aus einem Brief an ihren Vater Jacques Necker, den ehemaligen Finanzminister unter Ludwig XVI., vom 27. September 1803 hervorgeht: Ce qui s’est passé à Saint-Domingue est horrible, et le tout pour complaire au général Leclerc, car on aurait fait avec Toussaint Louv[erture] le traité qu’on aurait voulu, et un beaucoup plus avantageux que celui auquel on est obligé de se soumettre, aujourd’hui que les nègres sont maîtres de tout l’intérieur de l’île. Les noyades ont été exécutées là comme à Nantes. Une fois que les nègres ont attaqué le Cap, on a eu l’idée que peut-être les nègres de l’intérieur de la ville pourraient favoriser les assiégeants, et on en a jeté dix-huit cents à la mer sans forme de procès.9
Bereits 1803 – nach dem Tod Leclercs (2. November 1802) und noch vor der endgültigen Niederlage in Saint-Domingue – macht Mme de Staël Napoleon für die schrecklichen Ereignisse in der Kolonie verantwortlich. Sie moniert, dass der Erste Konsul seinem Schwager gefällig sein wollte und deshalb das Expeditionsheer nach Saint-Domingue schickte, anstatt einen Vertrag mit Toussaint Louverture zu schließen – was sie als bessere Lösung erachtet hätte. In einem weiteren Brief an den ältesten Bruder Napoleons, Joseph Bonaparte, schreibt Mme de Staël am 18. April 1801 über die Anfang
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über das Verhalten der Aufständischen verkündet: „Les massacres de Saint-Domingue me causèrent une douleur nouvelle et déchirante: jusqu’ici je m’étais affligée d’appartenir à une race proscrite; maintenant j’avais honte d’appartenir à une race de barbares et d’assassins.“ DURAS, [1823] 2010, S. 92. Bénot zeigt auf, dass die an Aufständischen verübten Gräueltaten in Frankreich zumindest in einigen Kreisen bekannt gewesen waren, wofür er neben Mme de Staël auch Texte von Claude Fauriel und Julie Talma anführt. Vgl. BÉNOT, [1992] 2006, S. 97-99. STAËL-HOLSTEIN, 1982, S. 23f.
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1801 erfolgte Besetzung des spanischen Teils der Kolonie sowie über die geplante Verfassung Toussaints: Les nouvelles de Saint-Domingue sont mauvaises, comme vous le savez, puisque Toussaint-Louverture a conquis la partie espagnole et refuse de se soumettre aux ordres de la France. Dans sa dépêche cependant, il ne se déclare point indépendant et parle de la constitution qu’il va donner comme provisoire; il a convoqué des députés pour organiser cette constitution. Pouvez-vous nier la perfectibilité de l’espèce humaine quand les noirs commencent à parler constitution?10 [Herv. i. O.]
Auch wenn Mme de Staël Toussaint Louverture in ihren Memoiren später als kriminell betrachtet, führt sie ihn und seine Konstitution dennoch als Beispiel für eine mögliche Vervollkommnung der menschlichen Spezies an. Wie in Kapitel 1.2 aufgezeigt, hatte sich das Fortschrittsdenken bereits in der Neuzeit durchsetzen können und bekam im Zeitalter der Aufklärung einen neuen Impuls. Die Vorstellung einer ständigen Weiterentwicklung der Menschheit implizierte die Perfektionierung des Menschen, sodass in der Theorie nun auch die als minderwertige Rasse betrachteten Schwarzen den Weg zur Vollkommenheit einschlagen konnten. Einerseits findet Mme de Staël, dass sich Toussaint den Befehlen Frankreichs nicht unterwirft, andererseits verweist sie auf Toussaints Nachricht an Frankreich, die besagt, dass er keinesfalls die Unabhängigkeit der Kolonie anstrebe, sondern er ihr nur eine vorläufige Verfassung zuteilwerden lassen möchte. Mme de Staël instrumentalisiert das Mythem der Verfassung in diesem Fall positiv, indem sie die Perfektionierung der Menschheit damit verknüpft, und klagt Toussaint aufgrund dieser Konstitution nicht als Verräter an. Insgesamt scheint in den Werken der Romantik eine Transformation Toussaints vom Verräter zum Verratenen stattzufinden, wie auch bereits in der Schlussfolgerung des Romans Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue von 1826 angedeutet wurde, wobei dort allerdings die Verräter noch nicht namentlich genannt wurden. In ihren Memoiren Dix années d’exil nimmt Mme de Staël Bezug auf den Waffenstillstand, der zwischen Frankreich und dem schwarzen Anführer geschlossen wurde, um nun nicht Toussaint, sondern Napoleon zum Verräter zu stilisieren: 10
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STAËL-HOLSTEIN, 1978, S. 365f.
Die Rezeption in der französischen Romantik Ce fut vers cette époque aussi qu’il envoya le général Leclerc à SaintDomingue et qu’il l’appela dans son arrêté notre beau-frère. […] Une paix fut conclue dans la suite avec le chef des nègres, ToussaintLouverture. C’était un homme très criminel, mais toutefois Bonaparte signa des conditions avec lui. Au mépris des ces conditions, Toussaint fut amené dans une prison de France, où il a péri de la manière la plus misérable. Peut-être Bonaparte ne se souvient-il pas seulement de ce forfait, parce qu’il lui a été moins reproché que les autres. Sa conscience n’a point de mémoire, car c’est peut-être le seul homme qu’on puisse croire parfaitement étranger au remords. Le bien et le mal sont à ses yeux des calculs heureux ou malheureux. Je ne crois pas qu’il croie sérieusement à un autre élément de la nature humaine.11 [Herv. i. O.]
Zwar findet an dieser Stelle auch General Leclerc Erwähnung, aber die Tat – das Abkommen mit Toussaint geschlossen und dann nicht eingehalten zu haben – lastet Mme de Staël Napoleon an. Sie wirft dem Ersten Konsul Wortbrüchigkeit vor, da er sich nicht an die mit Toussaint getroffenen Vereinbarungen hielt, sondern diese durch die Gefangennahme und Deportation Toussaints nach Frankreich brach – konträr zu seinem Versprechen der Freiheit für den ehemaligen Sklavenführer. Ebenso zählt sie den Tod Toussaints im französischen Gefängnis zu den Übeltaten Napoleons, wobei Mme de Staël der Meinung ist, dass Napoleon diese Untat vielleicht deshalb vergessen habe, da sie ihm weniger häufig vorgeworfen wurde als andere seiner Verbrechen. Gleichzeitig macht sie jedoch auch unmissverständlich klar, dass sie Toussaint für einen Verbrecher hält. Aufgrund ihres Kampfs gegen die Sklaverei und für die Freiheit – im wahren Leben wie in ihren Werken12 – hätte die Vermutung nahegelegen, dass Mme de Staël Toussaints Taten verteidigt und ihn als Freiheitskämpfer würdigt. Der Satz „où il [Toussaint Louverture] a péri de la manière la plus misérable“13 lässt zwar auch auf eine gewisse Empathie Mme de Staëls schließen, aber dennoch ist ihre Haltung, wie auch die von Mme de Duras und Chateaubriand, gegen11 12
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STAËL-HOLSTEIN, [1818] 1996, S. 114f. Vgl. ISBELL, 2000, S. 39. In ihren Erzählungen Mirza ou Lettre d’un voyageur und Histoire de Pauline wird die Sklaverei angeprangert. Die Erzählungen finden sich in: STAËL-HOLSTEIN, ANNE LOUISE GERMAINE DE, Trois nouvelles, Paris 2009. STAËL-HOLSTEIN, [1818] 1996, S. 115.
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über der Haitianischen Revolution ablehnend. Vermutlich waren auch ihr die Aufstände von zu viel Grausamkeit und Barbarei geprägt, wobei sie die Schuld für die Revolution nicht nur den Aufständischen, sondern auch dem System der Sklaverei zuschreibt. Laut Antoine vertritt Mme de Staël die Auffassung, dass die Frage der Sklaverei von oben, also vom König bzw. durch Gesetze, zu klären sei und nicht durch Revolten.14 Die Schriftstellerin empört sich nicht etwa aus Sympathie für Toussaint über die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit, sondern um die Skrupellosigkeit Napoleons zu demaskieren, den sie als gewissenlosen Verbrecher und berechnende Person bezeichnet. An anderer Stelle beschreibt Mme de Staël Momente der Erinnerung an Toussaint Louverture, als sie Jahre nach seinem Tod auf Reisen die Festung Fort de Joux, das einstige Gefängnis Toussaints, erblickt: A l’entrée de la Suisse, sur le haut des montagnes qui la séparent de la France, on aperçoit le château de Joux dans lequel sont détenus des prisonniers d’État dont le nom même souvent ne parvient pas à leurs parents. C’est dans cette prison que Toussaint-Louverture est mort de froid; il méritait son malheur puisqu’il avait été cruel, mais l’homme qui ne devait pas le lui infliger, c’était l’empereur, puisqu’il s’était engagé à lui garantir sa liberté et sa vie. Je passai sous ce château un jour où le temps était horrible; je pensais à ce nègre transporté tout à coup dans les Alpes et pour qui ce séjour était l’enfer de glace; je pensais à de plus nobles êtres qui y avaient été renfermés, à ceux qui y gémissaient encore et je me disais aussi que, si j’étais là, je n’en sortirais de ma vie.15
Wie bereits thematisiert wurde, hielt Mme de Staël Toussaint Louverture für kriminell. Sie geht nun noch einen Schritt weiter und schreibt unmissverständlich, Toussaint habe aufgrund seiner Grausamkeit den Tod verdient. Sie geht davon aus, dass er im Gefängnis, das sie als Eishölle16 bezeichnet, erfroren sei. Gleichzeitig verweist sie erneut 14 15 16
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Vgl. ANTOINE, 1978, S. 223-226. STAËL-HOLSTEIN, [1818] 1996, S. 203f. Balayé und Vianello Bonifacio sind der Ansicht, dass Mme de Staël sich vermutlich auf die Hölle Odins bezieht, wie eine ihrer Notizen glauben macht: „L’enfer d’Odin est de glace, un froid d’enfer.“ STAËL-HOLSTEIN, [1818] 1996, S. 432f.
Die Rezeption in der französischen Romantik
auf das von Napoleon begangene Unrecht und den an Toussaint verübten Verrat. Ihrer Meinung nach hatte gerade Napoleon nicht das Recht, diese Strafe zu verhängen, da er damit sein Versprechen auf Freiheit und Leben gegenüber Toussaint brach. Chateaubriands Aversion gegen den Sklavenaufstand ist sicherlich auch auf seine traumatischen Erfahrungen während der Französischen Revolution17 zurückzuführen. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die Hinrichtung von Verwandten sowie sein siebenjähriges von Depressionen und Entbehrungen geprägtes Exil in London (1793-1800) verwiesen.18 Der Aristokrat ist zwar ein bedeutender Verfechter der Pressefreiheit, aber die Thematik der Abolition der Sklaverei meidet er als Sohn einer Familie, die durch die Sklaverei zu Geld gekommen war, weitestgehend.19 Dennoch greift auch er die Figur des schwarzen Sklavenführers auf, um sie Napoleon gegenüberzustellen. Chateaubriand, der im Jahr 1800 Napoleons Aufruf zur Rückkehr der emigrierten Adligen Folge leistete, unter ihm eine Karriere als Beamter begann, dann aber nach der Ermordung des jungen bourbonischen Prinzen, dem Duc d’Enghien, im Jahr 1804 mit dem Regime Napoleons brach und sich in die Opposition begab, sieht in seinem 1814 verfassten politischen Essay „De Buonaparte et des Bourbons“ die Gefangennahme sowie die Deportation Toussaints als Verrat Napoleons an: „Peu de temps après, Toussaint-Louverture fut enlevé par trahison en Amérique, et probablement étranglé dans le château où on l’enferma en Europe.“20 Während Mme de Staël lediglich äußert, dass Toussaint in seinem Gefängnis jämmerlich erfroren sei, geht Chateaubriand in seinem Essay darüber
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Der durch die Französische Revolution hervorgerufene Zusammenbruch der alten Werteordnung und die Bewusstwerdung, dass auf eine Rückkehr zu dieser Ordnung nicht mehr zu hoffen ist, führen dazu, dass Chateaubriand beginnt, sich mit der Neuen Welt auseinanderzusetzen. Vgl. KIRSCH, 2000, S. 173f; MÜLLER, 2012, S. 217. Insbesondere durch seine Werke Atala, ou les amours de deux sauvages dans le désert (1801) und René (1802) sowie auch durch seine späteren Schriften Les aventures du dernier Abencérage (1826), Les Natchez (1826) sowie Le voyage en Amé-rique (1827) trug Chateaubriand zur Strömung des literarischen Exotismus bei. Vgl. HÖLZ, 2002, S. 18; MÜLLER, 2012, S. 209. Vgl. KIRSCH, 2000, S. 173. Vgl. SCHMIDT, 2000, S. 99. CHATEAUBRIAND, [1814] 1861, S. 11.
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hinaus: Er stellt den natürlichen Tod Toussaints infrage und vermutet stattdessen, dass er in seiner Zelle erwürgt wurde. Ebenso stilisiert Chateaubriand in seinen 34 Jahre später erschienenen Memoiren Napoleon zum Verräter und Toussaint zum Verratenen: C’est à peu près alors que le Premier Consul nommait ToussaintLouverture gouverneur à vie à Saint-Domingue, et incorporait l’île d’Elbe à la France; mais Toussaint, traîtreusement enlevé, devait mourir dans un château fort du Jura, et Bonaparte se nantissait d’une prison à Porto-Ferrajo, afin de subvenir à l’empire du monde quand il n’y aurait plus de place.21
Er beschreibt, dass es Napoleon selbst war, der den Sklavenführer zum Gouverneur auf Lebenszeit ernannte22 und somit zur Konsolidierung der Macht Toussaints beitrug, bevor er Verrat übte und ihn nach Frankreich deportieren ließ. Im Zusammenhang mit der Exilierung Napoleons nach Sankt-Helena veranschaulicht Chateaubriand, dass dieser gegen seine Deportation protestierte und als Verrat deklarierte: Bonaparte protesta; il argumenta de lois, parla de trahison et de perfidie, en appela à l’avenir: n’avait-il pas dans sa force foulé aux pieds les choses saintes dont il invoquait la garantie? n’avait-il pas enlevé Toussaint-Louverture et le roi d’Espagne? n’avait-il pas fait arrêter et détenir prisonniers pendant des années les voyageurs anglais qui se trouvaient en France au moment de la rupture du traité d’Amiens?23
Chateaubriand rekurriert u. a. auf die vom damaligen Ersten Konsul befohlene Gefangennahme und Verschleppung Toussaints, um deutlich zu machen, dass Napoleon sich nicht auf Gesetze berufen kann, an die er sich früher selbst nicht hielt, sowie nicht auf Werte, die er mit Füßen
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CHATEAUBRIAND, [1848] 1998a, S. 416. Diese Aussage ist nicht ganz korrekt. Zwar wurde Toussaint Louverture von Napoleon zum Gouverneur ernannt, aber die Stellung auf Lebenszeit sprach sich Toussaint selbst durch die von ihm für Saint-Domingue erlassene Verfassung zu. Diese Verfassung wurde Napoleon erst überbracht, als sie in Saint-Domingue bereits in Kraft getreten war. Vgl. Kapitel 1.1.2. CHATEAUBRIAND, [1848] 1998a, S. 714f.
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trat. Mit einem intertextuellen Verweis auf die bereits zitierte Stelle aus Mme de Staëls Memoiren24 hebt Chateaubriand nochmals den Verrat und das Verbrechen an Toussaint hervor und erkennt zugleich die historische Relevanz des schwarzen Sklavenführers an: Le château de Joux défend les approches de Pontarlier; il a vu se succéder dans ses donjons deux hommes dont la Révolution gardera la mémoire: Mirabeau et Toussaint-Louverture, le Napoléon noir, imité et tué par le Napoléon blanc. ‹Toussaint, dit madame de Staël, fut amené dans une prison de France, où il périt de la manière la plus misérable. Peutêtre Bonaparte ne se souvient-il pas seulement de ce forfait, parce qu’il lui a été moins reproché que les autres.›25
Der Hinweis darauf, dass sich die Revolution insbesondere zweier Gefangener des Fort de Joux erinnern wird, ist ausgesprochen aufschlussreich. Während der Name Mirabeaus immer noch eng mit der Französischen Revolution verbunden und im kollektiven Gedächtnis Frankreichs durchaus präsent ist, wurde Toussaint aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht und insbesondere in der Historiografie dem Vergessen preisgegeben.26 Trotz seiner im Génie du Christianisme zunächst deklarierten Ablehnung der Haitianischen Revolution misst Chateaubriand Toussaint im Rückblick eine derart große historische Bedeutung zu, dass er davon ausgeht, der Anführer der Haitianischen Revolution bleibe im Zusammenhang mit der Französischen Revolution in der Erinnerung der Franzosen präsent. Zudem bezeichnet der Bretone an dieser Stelle Toussaint als Erster27 als Napoléon noir, womit er ihn Napoleon gleichstellt. Die Bezeichnung Napoléon noir oder auch Bonaparte noir wird von vielen Autoren später als Titel für ihre Werke über Toussaint
24 25 26 27
Vgl. STAËL-HOLSTEIN, [1818] 1996, S. 114f. CHATEAUBRIAND, [1848] 1998b, S. 382. Zum Vergessen Toussaint Louvertures in der Historiografie vgl. Kapitel 1.2.2 sowie das Werk von YVES BÉNOT, [1987] 2004. In keiner der früheren Toussaint-Rezeptionen findet sich diese Bezeichnung für den ehemaligen Sklavenführer. Auch La Sicotière verweist im Hinblick auf diesen Ausdruck auf Chateaubriand: „Bonaparte noir, comme l’a appelé Chateaubriand“. LA SICOTIÈRE, 1883, S. 6.
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Louverture aufgegriffen.28 Chateaubriand geht sogar so weit zu behaupten, dass Napoleon Toussaint nacheiferte und somit zu ihm aufsah. Um die Bedeutung Toussaints zu schmälern, versicherten die Zeitzeugen in ihren Werken hingegen stets, dass Toussaint Napoleon bewundert habe,29 er ihm als großes Vorbild diente30 und der schwarze Anführer den Ersten Konsul nachahmte.31 Außerdem wird Napoleon nicht nur des Verrates, sondern nochmals explizit des Mordes an Toussaint bezichtigt. Honoré de Balzac wirft Napoleon keinen Verrat an Toussaint vor, aber dennoch greift er in seinem Werk Z. Marcas beide historische Figuren auf und stellt sie einander gegenüber. Der französische Schriftsteller ist, wie auch Chateaubriand, nicht als Befürworter der Abschaffung der Sklaverei zu sehen.32 Wie Schmidt darlegt, hadert er auch nach der Abolition von 1848 noch mit dieser Entscheidung und steht den damit verbundenen Veränderungen in der Gesellschaft kritisch gegenüber. Ein Beleg dafür ist u. a. die Korrespondenz mit seiner späteren Ehefrau Mme de Hanska, gegenüber der er sich gegen die Ideen der Väter der Abschaffung der Sklaverei ausspricht. So schreibt er am 24. Juni 1849: „‹Oh! que de gens ruinés par les doctrines négrophiles, par les Schoelcher, Lamartine et autres›“.33 Balzac, der im Jahr 1799 – im Jahr des Staatsstreichs Napoleons – zur Welt kam, war zunächst ein begeisterter Bewunderer und Verfechter Napoleons. Nach der Julirevolution von 1830 schloss er sich den Legitimisten an, die die Linie der Bourbonen als legitime Herrscher betrachteten und deren Ansprüche auf den Thron unterstützten. In seiner Erzählung Z. Marcas greift der Autor das Mythem des Todes auf und setzt Toussaint Napoleon diametral entgegen, indem er dessen Sterben mit dem Ableben Napoleons vergleicht: 28
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Beispiele für französische und deutsche Autoren, die die Bezeichnung in ihrem Titel aufgegriffen haben: PAUL HAURIGOT, 1943; RAPHAËL TARDON, 1951; KARL OTTEN, 1931; EMIL MAURER, 1982. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 404, 406; LACROIX, [1819] 1995, S. 277. Vgl. NORVINS, 1896b, S. 404. Vgl. Zitat in GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 266. Vgl. SCHMIDT, 2000, S. 107. Auch wenn Balzac nicht als Gegner der Sklaverei betrachtet werden kann, so setzt er sich dennoch mit dem Thema auseinander und prangert in seinem Theaterstück Le Nègre von 1823 die Ausgrenzung aufgrund von Anderssein an, wie auch Mme de Duras in ihrem Roman Ourika. Vgl. GENGEMBRE, 1995, S. 310. Zitiert nach SCHMIDT, 2000, S. 107.
Die Rezeption in der französischen Romantik Il est des différences incommensurables entre l’homme social et l’homme qui vit au plus près de la Nature. Une fois pris, Toussaint Louverture est mort sans proférer une parole. Napoléon, une fois sur son rocher, a babillé comme une pie; il a voulu s’expliquer. […] Le silence et toute sa majesté ne se trouvent que chez le Sauvage. Il n’est pas de criminel qui, pouvant laisser tomber ses secrets avec sa tête dans le panier rouge, n’éprouve le besoin purement social de les dire à quelqu’un.34
Balzac ist der Meinung, dass kein Verbrecher bereit wäre, sein Leben zu lassen, ohne das soziale Bedürfnis zu verspüren, seine Geheimnisse mit seinen Mitmenschen zu teilen. Als Beispiel nennt er Napoleon, der auf Sankt-Helena ständig versucht habe, sich zu erklären.35 Implizit bezeichnet Balzac Napoleon demnach als Verbrecher. Die Begründung für das unterschiedliche Verhalten der beiden historischen Personen liegt laut Balzac im Unterschied zwischen sozialisierten Menschen und Naturmenschen. Hiermit scheint sich Balzac auf Rousseau und sein Bild eines guten Naturmenschen zu beziehen, der erst durch die Gesellschaft korrumpiert wird. Wie Rousseau in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755 demonstriert, folgt der Mensch im hypothetischen reinen Naturzustand nur den zwei Grundtrieben: natürliches Mitleid und Eigenliebe. Beide Triebe dienen im Naturzustand der Selbsterhaltung. Erst im Gesellschaftszustand wird aus der Eigenliebe (amour de soi) Selbstsucht (amour propre), wodurch das Mitleid seine mäßigende Wirkung verliert, da es nun nicht mehr spontan, sondern willentlich ausgeübt und zum bewussten Mitleid wird. Außerdem sieht sich der Mensch im Gesellschaftszustand nunmehr mit den Augen der anderen und will stets den ersten Platz einnehmen.36 Napoleon, der sich als zivilisierter Mensch mit den Augen der anderen sieht, kam nicht umhin, seinen Mitmenschen seine Taten darzulegen. Da dieses Bedürfnis dem Natur34 35 36
BALZAC, [1840] 2009, S. 29f. Zur angeblichen Reue Napoleons vgl. Kapitel 3.2 und siehe Anm. 65 in Kapitel 3.3.1. Vgl. KOHL, [1981] 1983, S. 183f. Im physischen Sinne ist der Naturmensch Rousseau zufolge gut, aber nicht im moralischen Sinne, da er nur seiner Spontaneität folgt und das natürliche Mitleid keine willentliche Entscheidung ist. Vgl. KOHL, [1981] 1983, S. 184.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
menschen fremd ist, scheint Toussaint hingegen nicht den Wunsch verspürt zu haben, seine Geheimnisse mitzuteilen. Einerseits würdigt Balzac die majestätische Stille, die mit Toussaints Tod einherging: Während er als Naturmensch und edler Wilder dargestellt wird, wird Napoleon als Verbrecher herabgesetzt. Andererseits dokumentiert Balzacs Bemerkung über den moralischen Stoizismus Toussaints vielleicht auch sein Bedauern darüber, dass der ehemalige Sklavenführer das Geheimnis seines Schatzes mit ins Grab genommen hat.37 Zwar wird Napoleon bei Balzac nicht zum Verräter erklärt, aber dennoch ist auffällig, dass auch er gerade diese beiden Personen einander gegenüberstellt und das Schweigen Toussaints über das Verhalten Napoleons stellt. Neben der Wandlung Toussaints vom Verräter zum Verratenen ereignet sich in der Epoche der Romantik eine weitere Transformation des Mythos, die anhand des von Chateaubriand aufgegriffenen Mythems der Nationalität deutlich wird. Chateaubriand vertritt in seinem Essay von 1814 die Auffassung, dass, wenn Napoleon Franzose gewesen sei,38 Toussaint erst recht als solcher gelten müsse: Si Buonaparte est François, il faut dire nécessairement que ToussaintLouverture l’étoit autant et plus que lui: car enfin il étoit né dans une vieille colonie françoise et sous les lois françoises; la liberté qu’il avoit reçue lui avoit rendu les droits du sujet et du citoyen.39
Er begründet diese These damit, dass Toussaint in einer Kolonie Frankreichs, in der französische Gesetze herrschten, geboren wurde und aufwuchs. Aufgrund der ihm verliehenen Freiheit hätten ihm die in Frankreich geltenden Menschen- und Bürgerrechte zugestanden. Anhand dieser Argumentation wird deutlich, welcher Logik Chateaubriand folgt, wenn er die Gefangennahme, die Deportation und den Tod Toussaints als Verrat Napoleons einstuft, denn schließlich wurden hierbei seine Rechte verletzt. Der französische Schriftsteller gesteht dem ehemaligen Sklavenführer sogar zu, mehr Franzose zu sein als Napoleon: Schließ37 38
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Vgl. ANTOINE, 1992, S. 91. Chateaubriand verwendet in seinem Werk die italienische Schreibweise des Namen Bonaparte, was seine Auffassung, Napoleon sei Italiener, bereits veranschaulicht. CHATEAUBRIAND, [1814] 1861, S. 34.
Die Rezeption in der französischen Romantik
lich wurde Toussaint Louverture in einer französischen Kolonie geboren und wuchs mit der französischen Sprache auf, wohingegen Napoleon Bonaparte auf Korsika40 zur Welt kam, seine Muttersprache Italienisch war und er sich Chateaubriand zufolge selbst als Italiener betrachtete und die Franzosen hasste und verachtete: Buonaparte n’a rien de françois, ni dans les mœurs, ni dans le caractère. Les traits mêmes de son visage montrent son origine. La langue qu’il apprit dans son berceau n’étoit pas la nôtre, et son accent comme son nom révèlent sa patrie. Son père et sa mère ont vécu plus de la moitié de leur vie sujets de la république de Gênes. Lui-même est plus sincère que ses flatteurs: il ne se reconnoît pas François; il nous hait et nous méprise. Il lui est plusieurs fois échappé de dire: Voilà comme vous êtes, vous autres François. Dans un discours, il a parlé de l’Italie comme de sa patrie, et de la France comme de sa conquête.41 [Herv. i. O.]
Dass Louverture in Chateaubriands Augen als Franzose zu werten sei, hängt mit der in den Kolonien betriebenen Politik der Gleichsetzung der Kolonien mit dem Mutterland zusammen: Ende des 18. Jahrhunderts machte es sich die französische Krone zur Aufgabe, Kolonialverwaltungen einzurichten, die ähnliche Aufgaben übernahmen wie die Provinzialregierungen in Frankreich. Dadurch entstand das neue Prinzip, das der Zeitzeuge J.-B. Dubuc folgendermaßen zusammenfasste: „‹Les colonies sont des provinces du royaume de France […] égales aux autres.›“42 Dieses Ideal der Gleichsetzung griff die Erste Republik auf und machte die französischen Kolonien durch ihre Verfassung vom 22. August 1795 zum Bestandteil der Republik.43 Chateaubriand rekurriert auf dieses fortan in Frankreich verbreitete Ideal des französischen Kolonia40
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Korsika wurde durch den Vertrag von Versailles 1768 von Genua faktisch an Frankreich verkauft und ist seitdem, abgesehen von einer kurzen Übernahme durch die Engländer im Zuge der Französischen Revolution, französisches Staatsgebiet. Napoleon wurde 1769 und somit kurz nach der Annexion geboren. CHATEAUBRIAND, [1814] 1861, S. 33f. Zitiert nach PERVILLÉ, 1991, S. 32. Vgl. PERVILLÉ, 1991, S. 34. Artikel 6 der Verfassung vom 22. August 1795 besagt: „Les colonies françaises sont parties intégrantes de la République, et sont soumises à la même loi constitutionnelle.“ ASSEMBLÉE NATIONALE, 1795.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
lismus und die damit verbundene Argumentationsweise, denn seiner Ansicht nach war Saint-Domingue ein Teil Frankreichs. Zudem fußt die Argumentation des Schriftstellers auf dem ius soli, dem sogenannten Geburtsort- bzw. Territorialprinzip,44 nach dem ein Land die Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die in seinem Territorium geboren werden. Chateaubriand betrachtet demnach auch die Bewohner der französischen Kolonien – unabhängig von Ursprung und Hautfarbe sowie der Entfernung vom Mutterland – als Franzosen. Daher standen dem liberalen Konservativen zufolge, der sich hier auf Werte der Französischen Revolution beruft, dem freien Bürger Toussaint Louverture die gleichen Menschen- und Bürgerrechte wie jedem anderen Franzosen zu. Dies ist eine sehr fortschrittliche Argumentationsweise, die sich von den Meinungen der Zeitzeugen abhebt, die Toussaint noch überwiegend einen verbrecherischen Afrikaner schimpften und ihm die französische Staatsbürgerschaft nicht zuerkannten.45 Das Mythem wird ins Gegenteil transformiert und führt somit zu einer anderen Perzeption Toussaint Louvertures. Diese Wandlung ist bei Mme de Staël nicht zu beobachten; sie scheint in Toussaint eher noch den Afrikaner zu sehen. Mme de Staël verweist nicht auf Rechte, über die Toussaint verfügte: Ihre Argumentation beruht hauptsächlich auf moralischen Werten, denn sie verurteilt Napoleon dafür, nicht Wort gehalten zu haben. Die verschiedenen Textbeispiele veranschaulichen, wie Toussaint Louverture bei Balzac, Chateaubriand und Mme de Staël eine Funktionalisierung als programmatischer Widerpart Napoleons erfährt. Das Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ scheint hier zuzutreffen.46 Es konnte nachgewiesen werden, dass diese Autoren nicht um eine genaue Darstellung Toussaints bemüht waren, sondern dass sie auf die historische Figur als Instrument zurückgreifen, um dadurch Napoleons Verbrechen und sein diktatorisches Regime zu brandmarken: Der schwarze Sklavenführer dient den Schriftstellern als Projektionsfläche, um die Taten Napoleons zu veranschaulichen und den Mythos um 44
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Durch den Code Civil wurde das ius soli bereits 1804 durch das ius sanguinis, das sogenannte Abstammungsgesetz, ersetzt. Damit entschied nicht mehr der Geburtsort, sondern die Staatsangehörigkeit der Eltern über jene des Kindes. Vgl. BRUSCHI, 1995, S. 3. Vgl. Kapitel 3.2. Passenderweise wird dieses Zitat Napoleon zugeschrieben. Vgl. WOXIKON, 2006-2014.
Die Rezeption in der französischen Romantik
Bonaparte, der zur damaligen Zeit noch viele Anhänger hatte, zu demontieren. Dennoch sind diese Werke für die Repräsentation Toussaint Louvertures von großer Bedeutung, da der ehemalige Gouverneur von Saint-Domingue eine Transformation vom Verräter zum Verratenen erfährt. Trotz der Dämonisierung Napoleons erfolgt keine Glorifizierung Toussaints: Die Taten Toussaints werden nicht gerechtfertigt, und er wird weiterhin als Verbrecher charakterisiert. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die monarchistisch gesinnten Schriftsteller eine ablehnende Haltung gegenüber der Französischen Revolution sowie der Haitianischen Revolution einnahmen, da ihnen diese mit zu viel Blutvergießen verbunden war. Mme de Staël, die sich eigentlich gegen die Sklaverei einsetzte, befand, dass die Abolition durch den Staat herbeigeführt werden muss und nicht durch eine blutige Revolution. Wenn die Romantiker Toussaint auch weiterhin als Kriminellen betrachten, schwingt durchaus eine gewisse Bewunderung – insbesondere durch Balzacs Würdigung seiner majestätischen Stille im Angesicht des Todes – sowie Empathie für den ehemaligen Sklavenführer in ihren Stimmen mit. Dieses Mitgefühl basiert einerseits vermutlich auf der von Chateaubriand vorgenommenen Transformation seiner Nationalität: Während er bei den Zeitzeugen noch als Afrikaner wahrgenommen wurde, wird nun argumentiert, dass er als Franzose betrachtet werden kann. Andererseits ist diese Empathie auch ein geeignetes Werkzeug, um die Skrupellosigkeit und Grausamkeit Napoleons zu verdeutlichen.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
3.3.4 Toussaint Louverture als Vater der haitianischen Nation Im Zentrum der Betrachtung dieses Kapitels liegt das vermutlich erstmals 1827 oder 1828 anonym veröffentlichte Werk L’Haïtiade sowie das 1839-1840 von Alphonse de Lamartine verfasste Theaterstück Toussaint Louverture, das erst 1850 publiziert und in Paris uraufgeführt wurde.1 Anders als bei Victor Hugo trägt der ehemalige Sklavenführer in beiden Schriften nun den Namen Toussaint Louverture und ihm gilt – im Gegensatz zu den Texten Mme de Staëls, Balzacs und Chateaubriands – das komplette Werk. Das aus acht Gesängen bestehende epische Gedicht L’Haïtiade wurde von einem europäischen Philanthropen geschrieben2 und nur ein bis zwei Jahre nach den Werken Bug-Jargal (1826) und Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue (1826) herausgebracht – somit noch zu einer Zeit, in der Toussaint Louverture aufgrund des noch schmerzlichen Verlusts der reichsten französischen Kolonie oftmals dämonisiert wurde.3 Der aus Bordeaux stammende Autor einer Toussaint-Biografie Thomas Prosper Gragnon-Lacoste,4 der 1878 eine neue Edition von L’Haïtiade herausgab, vergleicht das anonym geschriebene Werk mit La Henriade von Voltaire.5 Im Gegensatz zu La 1
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Nach dem Theatererfolg erschienen zwei Parodien sowie etliche Karikaturen zum Stück von Lamartine, die es der Lächerlichkeit preisgaben. Dazu gehört Chams Comic mit dem Titel „Toussaint sale figure ‒ pièce en vers et contre tout ce qui est blanc, mêlée de strophes, d’apostrophes et catastrophes“, das 1850 in der Zeitschrift Le Punch veröffentlicht wurde. Des Weiteren wurde 1850 die Parodie „Traversin et Couverture. Parodie de Toussaint Louverture en quatre actes mêlés de peu de vers et de beaucoup de prose“ von Eugène Labiche und Charles Varin in Paris im Théâtre de la Montansier uraufgeführt. Beide Werke dienen insbesondere dazu, die persönlichen Ambitionen Lamartines sowie der Schauspieler ins Lächerliche zu ziehen, ebenso wie die Ästhetik seines Werkes. Vgl. MIDDELANIS, 1996, S. 120-124. Cham, der Sohn der Familie de Noé – der einstigen Besitzer der Plantage Bréda (vgl. SCHOELCHER, 1879, S. 4) –, prangert vor allem den antiweißen Rassismus des Werkes von Lamartine an. Vgl. DONNADIEU, 2009, S. 241. Vgl. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. III. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1878, S. XI. Die im Jahr 1877 veröffentlichte Biografie Gragnon-Lacostes über Toussaint Louverture wird in Kapitel 3.4.1 analysiert. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1878, S. IX.
Die Darstellung in der französischen Romantik
Henriade werden beim anonymen Verfasser von L’Haïtiade nicht nur moralische Werte personifiziert, sondern Gott selbst wird dargestellt. Zu Beginn des Gedichts wird Toussaint vom Genius der Freiheit vor Napoleon gewarnt, der sich seiner Insel bemächtigen möchte. Gott warnt den Genius Frankreichs, dass er bereit sei, die Franzosen mit dem Tod zu bestrafen, falls sie die Sklaverei auf Saint-Domingue wieder einzuführen gedenken. Gott stellt sich somit auf die Seite der Aufständischen bzw. auf die Seite der Freiheit. Die Insurgenten scheinen den Kampf gegen die Franzosen dennoch zu verlieren, und Toussaint sieht sich gezwungen, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Leclerc wird mittels seiner Frau Pauline vom Satan verführt und strebt nun danach, den Thron von Saint-Domingue einzunehmen. Damit ist Leclercs Schicksal sowie jenes der gesamten Expedition besiegelt. Toussaint wird nach Frankreich deportiert und ins Fort de Joux gebracht. Dort trifft er auf einen anderen Gefangenen namens Malet,6 dem er die Geschichte Haitis erzählt. Nach Toussaints Tod erscheint er seinen ehemaligen Gefolgsleuten und sagt ihnen den Sieg voraus. Am Ende des Gedichts müssen die Franzosen die Kolonie verlassen und die Bewohner Saint-Domingues sind frei. Zwar wurde Lamartines Werk erst 1850, also nach der zweiten Abschaffung der Sklaverei von 1848, veröffentlicht, aber vollendet war es bereits 1840. Das Theaterstück hält sich nicht an historische Fakten, was Lamartine damit entschuldigt, dass er sich beim Entstehen des Stückes auf dem Land befand und keinen Zugang zu historischen Quellen hatte.7 Das Theaterstück erhielt reichlich negative Kritik, fand aber beim Publikum Anklang: Die Aufführungen im Jahr 1850 waren ein großer Erfolg, wobei das Stück anschließend jedoch rasch wieder in Vergessenheit geriet.8 Lamartine, der dem französischen Landadel entstammte und sich weigerte, unter Napoleon seinen Militärdienst zu leisten, betont in seinem Vorwort, dass es nicht seine Absicht war, ein literarisches, sondern in erster Linie ein politisches Stück für die breite Öffentlichkeit zu schreiben.9 Der Schriftsteller, der nach dem Sturz Napoleons unter König Ludwig XVIII. als Diplomat tätig war und sich nach
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Siehe Anm. 58 in Kapitel 3.3.4. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. XIf. Vgl. ANTOINE, 1978, S. 264; GENGEMBRE, 1995, S. 313. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. XII.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
der Julirevolution vom Legitimisten zum überzeugten Republikaner entwickelte, sieht sein Werk als „un cri d’humanité en cinq actes et en vers“.10 Er setzte sich allerdings nicht nur in seinem Theaterstück, sondern auch in der Realität für die Abolition ein, indem er nach der Februarrevolution als Chef der Provisorischen Regierung das Dekret zur Abschaffung der Sklaverei vom 27. April 1848 unterzeichnete.11 Im Theaterstück wird die Ankunft der Expedition Leclercs beschrieben, mit der auch die Kinder Toussaints als Geiseln zurück nach SaintDomingue gebracht werden. Toussaint schleicht sich in Verkleidung zusammen mit seiner Adoptivtochter Adrienne ins Lager Leclercs, um von den Plänen der Franzosen Kenntnis zu erlangen. Dort wird er Zeuge des Verrats seiner Person durch seinen Neffen Moïse12 und erdolcht diesen vor den Augen der Franzosen, kann aber nach der Tat entkommen. Leclerc bietet Toussaint im Austausch für seine Kinder Frieden an. Durch einen Brief, dem Toussaint entnimmt, dass Napoleon den Schwarzen feindlich gesinnt ist und er die Sklaverei wieder einführen will, wird deutlich, dass es zu keinem dauerhaften Frieden kommen kann. Das Theaterstück endet mit dem Beginn der Kampfhandlungen zwischen Franzosen und Insurgenten. Beiden Werken ist gemein, dass die christliche Religion eine bedeutende Rolle spielt und Toussaint Louverture als Auserwählter Gottes funktionalisiert wird. Bereits auf der ersten Seite wird in L’Haïtiade explizit gemacht, dass Gott aufseiten der Sklaven steht und die Kolonisten mit den Ereignissen der Haitianischen Revolution dafür bestraft wurden, dass sie sich über das Recht der Freiheit hinweggesetzt und sich an der Sklaverei bereichert haben: Là, méprisant ce Dieu dont les lois libérales /Dotèrent les humains de facultés égales, /Quelques faibles tyrans, séduits par leur orgueil, /Sur la liberté sainte étendirent le deuil. /Ils ne sont plus: le Ciel a puni tant d’audace, /Et d’éclatants effets ont suivi sa menace.13
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LAMARTINE, 1850, S. V. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. X. Die Schreibweisen Moïse und Moyse sind geläufig. Die Verfasserin greift jeweils auf die im Werk verwendete Version zurück. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 3.
Die Darstellung in der französischen Romantik
Es wird nicht nur deutlich gemacht, dass Gott allgemein auf der Seite der aufständischen Sklaven steht,14 sondern speziell Toussaint Louverture von Gott gesandt wurde, um sein Land in die Freiheit zu führen: „Du suprême pouvoir par le Ciel investi, /TOUSSAINT dictait des lois aux peuples d’Haïti. /Ce guerrier généreux trahi dès sa naissance, /Dans de honteux liens traîna sa longue enfance.“15 [Herv. i. O.] Dass Toussaint ein Auserwählter ist, wird auch durch den Verweis auf Raynal herausgestellt: Étranger à la gloire, étranger à l’étude, /A cette heure inconnu de mes frères proscrits, /J’osais d’un noble espoir enflammer mes esprits; /J’osais penser qu’un bras endurci sous des chaînes, /Pouvait prêter sa force aux bandes africaines. /Raynal avait prédit que, jaloux de ses droits, /Un Jalafe orgueilleux ferait trembler les rois. /Un sentiment secret, à cette heure suprême, /Sembla dire à mon cœur: ce héros, c’est toi-même.16
Im epischen Gedicht des Philanthropen erkennt Toussaint Louverture selbst, dass er den von Raynal angekündigten schwarzen Spartakus verkörpert. Am Ende des Gedichts wird offenkundig, dass Toussaint nicht nur ein Gesandter Gottes, sondern selbst göttlich ist: Nach seinem Tod erscheint Toussaint seinem General Pétion,17 um ihm im Kampf gegen die Franzosen Mut zuzusprechen und den Sieg der Schwarzen zu prophezeien. Toussaints Erscheinungsbild hat sich gewandelt und er wird nun als göttliches Wesen geschildert: Ce n’est plus ce héros dont le bouillant courage /Fit tomber à ses pieds les fers de l’esclavage: /Son front n’est plus orné du panache flot14
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Wie im epischen Gedicht üblich, spielen auch die Götter eine Rolle. Beispielsweise lässt Gott einen Sturm aufkommen, als sich die Franzosen mit ihrer Expedition auf dem Weg nach Saint-Domingue befinden. Eloa, der Genius Frankreichs, verspricht, dass die Franzosen nichts Böses, nicht die Wiedereinführung der Sklaverei, im Schilde führen, sondern als Freunde kommen, um den Bewohnern die Freiheit zu lehren. Vgl. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 42-47. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 5. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 134. Alexandre Sabès Pétion kämpfte an der Seite Toussaints und herrschte ab 1806 bis zu seinem Tod 1818 als Präsident über den Süden Haitis.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos tant, /Qui guidait aux combats le Jalafe inconstant. /Un long voile de lin couvre son corps débile, /Son regard est perçant et sa pose immobile: /Une couronne d’or, sur ses cheveux blanchis, /Rappelle ces élus de tous maux affranchis. /La palme est dans ses mains, c’est celle du martyre, /Et sur sa bouche éclate un glorieux sourire.18
Ebenso zieht sich in Lamartines Theaterstück das Mythem der Religion wie ein roter Faden durch das gesamte Werk, und es wird hervorgehoben, dass Toussaint Louverture stark durch die katholische Religion geprägt wurde und dem christlichen Glauben angehörte.19 Der Voodoo wird hingegen nicht thematisiert. Im zweiten Akt, in dem Toussaint zum ersten Mal in Erscheinung tritt, wird sein Zimmer beschrieben, in dem ein Betstuhl steht und ein Kruzifix hängt.20 Außerdem kommt es zu einem Zwiegespräch Toussaints mit Gott, bei dem erkenntlich wird, dass sich Toussaint als Auserwählter Gottes betrachtet und er Gott auf der Seite der Schwarzen glaubt: „Courage donc, Toussaint, voilà ton Sinaï! /Dieu se lève vengeur dans ton peuple trahi!“21 Zudem ist Toussaint überzeugt, dass der Gott der Weißen, ihr einstiger Erlöser, nun zu ihrem Richter wird: Quelle amère ironie! /Où se heurte mon cœur lorsque je veux prier? /Quoi? c’est le Dieu des blancs qu’il nous faut supplier? /Ces féroces tyrans, dont le joug nous insulte, /Nous ont donné le Dieu que profane leur culte; /En sorte qu’il nous faut, en tombant à genoux, /Effacer leur image entre le ciel et nous! /Eh bien, leur propre Dieu contre eux est mon refuge! /Il fut leur rédempteur, mais il sera leur juge! /La justice à ses yeux n’aura plus de couleur, /Puisqu’il choisit la croix, il aima le malheur.22
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ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 149f. Ein Beispiel für den tiefgreifenden Glauben Toussaints ist die Szene, als Toussaint seine Kinder wiedersieht, die aus Frankreich zurückgekehrt sind, und es ihm ein großes Anliegen ist, dass sie zuerst alle zusammen beten. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. 223. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. 33. LAMARTINE, 1850, S. 34. LAMARTINE, 1850, S. 35f.
Die Darstellung in der französischen Romantik
Wie in L’Haïtiade wird demnach auch im Theaterstück davon ausgegangen, dass Gott für die Schwarzen eintritt.23 Die Prophezeiung, Toussaint werde die schwarze Bevölkerung in die Freiheit führen, wird bei Lamartine allerdings nicht auf Abbé Raynal bezogen. Stattdessen erzählt ein Kapuzinermönch, der mit dem Propheten Samuel aus dem Alten Testament verglichen wird, Toussaint, dass seine Seele „Aurore“ heiße, wodurch in seinem Inneren das Streben nach Freiheit erwacht: Quel est ton nom? ‒ Toussaint. ‒ Pauvre mangeur d’igname, /C’est le nom de ton corps; mais le nom de ton âme, /C’est Aurore, dit-il… ‒ O mon père, et de quoi? /‒ Du jour que Dieu prépare et qui se lève en toi! /Et les noirs ignorants, depuis cette aventure, /En corrompant ce nom m’appellent Louverture. /Ce moine baptisait en moi la liberté; /Je ne l’ai plus revu, son nom fut vérité. /Aux lointaines lueurs que ce mot me fit luire, /Ignorant, je sentis le besoin de m’instruire. /Un pauvre caporal d’un de leurs régiments, /Des sciences des blancs m’apprit les éléments. /Je réduisais d’un sou ma vile nourriture /Pour payer jour par jour ses leçons d’écriture. /Sitôt que le rideau de mes yeux fut levé, /Je vis plus clairement ce que j’avais rêvé; /La volonté me vint avec l’intelligence, /Je sentis la justice et conçus la vengeance [...].24
Aufgrund der Vorhersage einer bedeutenden Zukunft beginnt Toussaint, Lesen und Schreiben zu lernen, und mit zunehmender Bildung entwickelt sich sein Wunsch nach Gerechtigkeit und Rache für die Schwarzen. Père Antoine, der im Theaterstück als Berater Toussaints fungiert, wiederholt nochmals, dass Gott hinter den Schwarzen stehe und Toussaint der von Gott auserwählte und geliebte Anführer sei, der 23
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In beiden Werken finden die Probleme zwischen Mulatten und Schwarzen und der daraus resultierende Bürgerkrieg keine Erwähnung. Toussaint wird als Anführer aller Schwarzen und Mulatten dargestellt. In La Haïtiade werden die zwischen Mulatten und Schwarzen herrschenden Vorurteile sogar explizit verurteilt und Toussaint ist die unbestrittene Leitfigur – unabhängig von seiner Hautfarbe. Rigaud selbst habe die anderen Anführer dazu aufgerufen, sich Toussaint zu unterstellen: „Rassemblés à sa voix, Dessalines, Faubert, /Christophe, Pétion, Boyer, Villate, Aubert, /Me nommèrent leur chef. Les âmes bien placées /S’élèvent au-dessus des vulgaires pensées!“ ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 135. LAMARTINE, 1850, S. 42f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
über die Zukunft entscheiden werde: „Je t’aime, roi des noirs, parce que mon Dieu t’aime; /Parce que l’avenir du quart de ses enfants /Repose avec sa foi sur tes bras triomphants.“25 Toussaint wird in diesem Zitat zwar als König der Schwarzen bezeichnet; dies darf jedoch nicht als Anspielung auf eine königliche Abstammung verstanden, sondern muss auf die göttliche Auserwählung bezogen werden. Dennoch erfüllt dieses Mythem denselben Zweck, denn Toussaint wird somit über die anderen Schwarzen gestellt. Er wird in beiden Werken zu einem Heiligen stilisiert, der die bedeutende Aufgabe übertragen bekommen hat, die Schwarzen zu retten und in die Freiheit zu führen.26 Wie Toussaint diese ihm von Gott übertragene Aufgabe umsetzt, wird in den Texten verschieden dargestellt. Während Toussaint bei Anonymus schon immer für sein Volk gekämpft hat27 und an ihm bezüglich des Kampfes auch keine Zweifel nagen, wird der schwarze Sklavenführer bei Lamartine als sehr komplexe, beinahe schon hybride Persönlichkeit präsentiert. Auch sein vorheriger Kampf auf der Seite der Spanier wird erwähnt, wobei ihm seine eigentlich von Gott anvertraute Aufgabe wohl immer bewusst blieb, denn er schlug sich direkt nach der Verkündung der Abschaffung der Sklaverei auf die Seite der Franzosen, wo er versuchte, die ihm zugewiesene Aufgabe des Gouverneurs von Saint-Domingue mit der Berufung Gottes in Einklang zu bringen: L’indépendance enfin me donne le signal: /J’étais parti soldat, je revins général. /On me suit: les Français minés par la discorde /Acceptent humblement le pacte que j’accorde; /Ils s’embarquent laissant un homme de ma peau, /Un diadème au front caché par mon chapeau. /Ma double autorité tient tout en équilibre; /Gouverneur pour le blanc, Spartacus pour le libre [...].“28
Nach der Ankunft der Expedition Leclercs in Saint-Domingue und den ersten kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Insurgenten und 25 26 27
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LAMARTINE, 1850, S. 50. Vgl. KNABE, 1991, S. 432. Die Übertritte Toussaints zu den Spaniern, zu den Franzosen oder auch das Angebot Englands, sich mit ihrer Unterstützung zum König SaintDomingues zu machen, finden bei Anonymus keine Erwähnung. LAMARTINE, 1850, S. 43.
Die Darstellung in der französischen Romantik
Franzosen wird Toussaint in beiden Werken vor eine schwierige und bedeutsame Wahl gestellt: Er muss sich zwischen seinem Volk bzw. der Freiheit für alle und seinen Söhnen, die zur Erziehung nach Frankreich geschickt worden waren und zusammen mit der französischen Expedition wieder nach Saint-Domingue zurückkehrten, bzw. einem Waffenstillstand mit Leclerc entscheiden, denn bei Anonymus wie auch bei Lamartine werden die Kinder von Napoleon bzw. von den Franzosen als Geiseln genommen und sind somit Teil der französischen Kriegsstrategie. In L’Haïtiade wird diese Vorgehensweise der Franzosen als schändliche Politik und abscheuliche Rache verurteilt: Près de lui, de Toussaint les deux fils malheureux, /Otages de la France, osaient pleurer entr’eux; /Isaac et Telephe, aux beaux jours du jeune âge, /D’un destin rigoureux sentaient déjà l’outrage. /Pourquoi donc, étrangers à de sanglants débats, /Servaient-ils d’instrument aux plus noirs attentats? /Politique odieuse! effroyable vengeance! /Vous ne respectez rien, pas même l’innocence!29
Bei Lamartine wird Toussaint die Drohung durch einen Brief Napoleons übermittelt, aus dem hervorgeht, dass die Kinder von Frankreich als Geiseln eingesetzt werden: „Elle [La République] voit dans vos fils le sceau de vos serments, /Et le nœud mutuel des plus sûrs sentiments. /Vous êtes père!... Ils sont le prix qu’elle vous garde; /Leur sort est dans vos mains, la France vous regarde“.30 Père Antoine folgert aus diesem Brief, dass Napoleon Toussaint keinesfalls auf Augenhöhe sieht31 und er die Absicht hegt, die Sklaverei in Saint-Domingue wiedereinzuführen: Crois-tu l’indépendance et les droits des humains /Plus sûrs aux mains d’autrui que dans leurs propres mains? /Crois-tu que les Français, maîtres de ces rivages, /Viennent pour adorer vos droits sur vos visages, /Et de l’indépendance assurant les progrès /Admirer tout armés la révolte de près? /Non, tu ne rêves pas ce stupide délire: /L’esclave au
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ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 33. LAMARTINE, 1850, S. 61. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. 60.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos cœur du maître a trop appris à lire; /Tu sais qu’on ne voit pas des bœufs baisser leurs cous /Sans que l’on soit tenté de leur tendre les jougs!32
Zunächst stimmt Lamartines Toussaint seine Truppen auf den Kampf gegen die Franzosen ein, wozu er zu ihrer Motivation u. a. das Maisgleichnis aufgreift.33 Allerdings ringt dieser Toussaint anschließend sehr lange mit einer endgültigen Entscheidung, während der Toussaint bei Anonymus diesen Entschluss ohne zu zögern fasst: „Envoyé des Français, mes fils me sont bien chers, /Je m’arrache à leurs bras, qu’ils reprennent leurs fers; /A mon peuple, à mon Dieu, je veux être fidèle, /Je sais tous mes devoirs, mon cœur me les rappelle [...].“34 Toussaint räumt im epischen Gedicht seinem Volk eindeutig Priorität ein, wohingegen er im Theaterstück als zwischen Vaterliebe und Patriotismus zerrissener Held beschrieben wird: Ah! laisse-moi, mon ange [Adrienne], avant le saint combat, /Reposer sur ton cœur ma vertu qui s’abat. /Hélas! j’enfante un peuple et, maudit sur la terre, /Seul, je n’ai pas d’enfant qui m’appelle son père! /Liberté de ma race, es-tu donc à ce prix, /Que pour sauver mon peuple, il faut perdre mes fils?... /Que pour sauver mes fils, il faut perdre ma race?...35
Die Meinungsverschiedenheiten der Söhne und ihre ungleichen patriotischen Gefühle spiegeln die Zerrissenheit und den inneren Konflikt Toussaints wider.36 Während sich Albert den Franzosen verpflichtet fühlt – wie im Stück schon früh ersichtlich wird, da er Napoleon als seinen Gott bezeichnet37 –, hält Isaac zu den Aufständischen. Schließ32 33
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LAMARTINE, 1850, S. 66. Wie auch im Roman Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue wird Toussaints Maisgleichnis zur Veranschaulichung der zahlenmäßigen Übermacht der Schwarzen aufgegriffen und als Motivation für seine Truppen positiv instrumentalisiert: „Tenez, le noir se venge; /En remuant les grains, voyez comme tout change! /On ne voyait que blanc, on ne voit plus que noir; /Le nombre couvre tout, et ceci vous fait voir /Comment l’égalité, quand l’honneur la rappelle, /Rend à chaque couleur sa valeur naturelle! /Le talent n’y peut rien. ‒ Ils sont un et vous dix.‒ /Haïti sera noir, c’est moi qui vous le dis.“ LAMARTINE, 1850, S. 77. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 60. LAMARTINE, 1850, S. 210. Vgl. KNABE, 1991, S. 430f. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. 112.
Die Darstellung in der französischen Romantik
lich teilt Albert seinem Vater seine Entscheidung für die Seite der Franzosen mit: O mon père! au consul ma parole m’enchaîne; /Si je ne pouvais pas vous fléchir, j’ai promis /De ne pas me ranger parmi ses ennemis. /Pardonnez! votre gloire et notre délivrance /Pour vous sont en ces lieux, et pour moi sont en France! /En vain mon cœur se brise en s’arrachant d’ici! /Ma promesse... est ailleurs!...38
Daraufhin scheint Toussaints Vaterliebe zu obsiegen, und er ist bereit, mit Leclerc einen Waffenstillstand zu unterzeichnen: „Mon fils! reviens, je cède!...“.39 Infolgedessen bezichtigt Père Antoine Toussaint des Verrats an seinem Volk: „O honte! ô trahison! /C’est un peuple qu’il cède!“40 Toussaints Adoptivtochter Adrienne gibt daraufhin das Zeichen zum Angriff und der von Gott berufene Toussaint, der zunächst strauchelte, entscheidet sich letztlich doch für sein Volk, das er nun in den Kampf gegen die Franzosen führt.41 Mit Toussaints Ausruf „Aux armes!!!“42 endet das Theaterstück Lamartines. Eng mit dieser Entscheidung Toussaints ist in beiden Texten auch seine Nationalität verknüpft. Der Lehrer von Toussaints Kindern, der diese zurück nach Saint-Domingue begleitet, behauptet in einer Rede, dass Frankreich angeblich alle Schwarzen als Franzosen und Bürger betrachtet: „Vous êtes tous Français, la France République /Adopte pour toujours les enfants de l’Afrique; /De l’esclavage impie elle rompt les liens, /Et les Noirs à ses yeux sont tous des citoyens.“43 Allerdings wird in L’Haïtiade sehr deutlich, dass diese vermeintliche Sichtweise der Franzosen nicht der Realität entspricht, da sich die Expedition SaintDomingue nähert, um die Sklaverei wiedereinzuführen. Toussaint, der als stark von der afrikanischen und weniger von der französischen Kultur geprägt geschildert wird, nimmt die von Gott übertragene Aufgabe – die Freiheit der Schwarzen zu verteidigen – ohne zu zögern an. Dem Toussaint im epischen Werk scheint es somit leicht zu fallen, sich voll38 39 40 41 42 43
LAMARTINE, 1850, S. 238. LAMARTINE, 1850, S. 241. LAMARTINE, 1850, S. 241. Vgl. LAMARTINE, 1850, S. 244. LAMARTINE, 1850, S. 244. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 59.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ständig von Frankreich zu lösen, sein Mutterland hinter sich zu lassen und eine neue Nation zu gründen.44 Lamartines Toussaint ist hingegen nicht nur ein zwischen Vaterliebe und politischer Pflicht zerrissener Held, sondern auch eine in Sachen Nationalität zwiegespaltene Person. Als nahezu hybride Persönlichkeit empfindet Toussaint einerseits Bewunderung für die Franzosen, andererseits aber auch Hass aufgrund der Unterdrückung der Schwarzen.45 Sein Entschluss gegen seine Kinder und für den Kampf ist gleichzeitig eine ihm schwerfallende Abkehr von der französischen Kultur und seinem weißen Vaterland Frankreich. Letztendlich nimmt Toussaint aber seine neue und wahre Identität an und ist im Begriff, eine neue Nation46 zu gründen: „Peuple! si vous suivez mon inspiration, /Vous étiez un troupeau, je vous fais une nation!“47 Toussaint Louverture verkörpert bei Lamartine also nicht nur eine komplexe Persönlichkeit, sondern ist gleichzeitig die Inkarnation dieses neu entstandenen Volkes.48 Beide Werke enthalten die Botschaft, dass durch den Kampf Toussaints eine neue Nation entsteht – die Nation Haiti. Toussaint wird als Retter der Freiheit und Vater der haitianischen Nation funktionalisiert und der Unabhängigkeitskampf der Schwarzen findet Rechtfertigung.49 In beiden Texten spielt des Weiteren Napoleon, der als Tyrann und Feind der Abolition dämonisiert wird, eine essenzielle Rolle. Bei Lamartine findet diese historische Figur außer in Zusammenhang mit dem an Toussaint gerichteten Drohbrief noch an einer weiteren Stelle Erwähnung: Toussaint hat Napoleons Spiel durchschaut und erkannt, dass er den Schwarzen ihre endgültige Freiheit nie zugestehen wird, und er44 45
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Vgl. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 5, 139. Whittaker zeigt auf, dass der französische Teil der Nationalität Toussaints auch als eine Form von Exil betrachtet werden kann und zwar als Exil von seiner eigentlich wahren Identität. Vgl. WHITTAKER, 2001. In Lamartines Vorwort zum Theaterstück steht sein berühmt gewordener Satz über Toussaint, der die Bedeutung aufzeigt, die Lamartine Toussaint zuschreibt: „Cet homme est une nation.“ LAMARTINE, 1850, S. XXXII. LAMARTINE, 1850, S. 72f. Vgl. HOFFMANN, 1973, S. 213. Laut Hoffmann ist Lamartines Theaterstück das einzige fiktionale Werk des 19. Jahrhunderts, das den haitianischen Unabhängigkeitskampf verteidigt. Vgl. HOFFMANN, 2009, S. 343. Dies ist nicht ganz richtig, denn der Kampf Toussaints wird bereits in der Schlussfolgerung des Romans Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue gerechtfertigt. Vgl. Kapitel 3.3.2.
Die Darstellung in der französischen Romantik
klärt ihn somit zu seinem Feind: „Son masque de héros ne me cache plus rien, /L’ennemi de ma race est à jamais le mien!“50 Die Verantwortung für die nun beginnenden Kampfhandlungen wird somit Napoleon zugeschrieben, da Toussaint durch Napoleons Plan der Wiedereinführung der Sklaverei gezwungen ist, die gewonnene Freiheit in einem Krieg zu verteidigen.51 Beide Szenen sind Indikatoren dafür, dass Napoleon bei Lamartine als moralisch verwerfliche und heuchlerische Person auftritt, welche als Widerpart Toussaints52 agiert. Im epischen Gedicht steht die Auseinandersetzung zwischen Toussaint und Napoleon noch stärker im Mittelpunkt. Bereits zu Anfang erscheint Toussaint der Genius der Freiheit, um ihn vor Napoleon und seinem Vorhaben, die Insel zurückzuerobern, zu warnen: Un soldat, un héros que la Corse a vu naître, /S’arroge insolemment la puissance d’un maître; /Habile à déguiser ses sentiments secrets, /De son ambition il sert les intérêts. /Sorti des rangs obscurs où dormait son courage, /Des antiques vertus il offre l’assemblage. /Ses desseins glorieux, de la foule ignorés, /Par un pouvoir divin paraissent inspirés. [...] /Mais le jour n’est pas loin où, cessant toute feinte, /Il se dépouillera d’un reste de contrainte; /Et du sang de Henri, revendiquant les droits, /Revêtira la pourpre et le bandeau des rois. [...] /Il veut porter au loin la fureur des combats, /Et l’objet de ses vœux est l’or de vos climats. / Les Français, à sa voix, exaltant leur courage, /Se font les instruments du plus vil esclavage; /Et de leur liberté comptent les derniers jours.....53
Die Hypokrisie Napoleons wird angeprangert, und es wird prophezeit, dass der Zeitpunkt kommt, an dem Napoleon jegliche Scheu verlieren und den Versuch unternehmen werde, sich des Goldes der Karibik zu
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LAMARTINE, 1850, S. 233. Die Freiheitsliebe sowie seine patriotischen Gefühle für die neu entstehende Nation Haiti zwingen Toussaint nicht nur dazu, den Krieg zu beginnen, sondern auch seinen Neffen Moïse zu opfern, der ihn aus Rachegefühlen an die Franzosen verraten hatte. Vgl. HOFFMANN, 2009, S. 344. Somit werden beide Taten als notwendig gerechtfertigt. Laut Middelanis wird Toussaint von Lamartine „zum Agenten seines eigenen Antibonapartismus“ (MIDDELANIS, 1996, S. 115) stilisiert. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 24-26.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
bemächtigen. Dadurch wird – im Gegensatz zu den Zeitzeugen – nun Napoleon und nicht mehr Toussaint als raffgieriger Herrscher präsentiert. Bedeutsam ist, dass gleich zu Beginn des Gedichts klar wird, dass Napoleon und seine von ihm entsandte Expedition die Sklaverei in Saint-Domingue wiedereinführen möchten, was als kriminelle Verschwörung bezeichnet wird.54 Toussaint erklärt, dass er Napoleon nicht als bedeutenden Mann, sondern als Unterdrücker wertet: „Dans le guerrier, consul, que l’Europe renomme, /Je vois trop l’oppresseur, pas assez le grand homme. /Que nous demande-t-il? Nos biens, nos droits acquis? /Jamais!.... Plutôt la mort.“55 In Analogie zu Mme de Staël und Chateaubriand werden die Gefangennahme und der Tod Toussaints56 nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstands zwischen Frankreich und Toussaint im Gedicht als Verrat und Verbrechen Napoleons deklariert: „Là, de Napoléon les ordres solennels /Font inhumer vivant le plus grand des mortels.“57 Wie auch bei Lamartine kommt es im epischen Gedicht zu einer offensichtlichen Dämonisierung Napoleons, der Toussaint als raffgieriger, despotischer und verlogener Herrscher gegenübersteht. Die Dämonisierung Napoleons gewinnt im weiteren Verlauf des Gedichts zunehmend an Prägnanz,58 bis am Ende des Gedichts in der Hymne der Freiheit gelobpreist wird, dass Tyrannen wie Napoleon ihre Maske haben fallen lassen müssen: Salut, fille du Ciel! Salut, liberté sainte! /Du malheur sur nos fronts viens effacer l’empreinte. /Après des temps de deuil, le siècle est arrivé, /Les tyrans sont connus et leur masque est levé; /L’Europe en pro54 55 56
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Vgl. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 42. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 60. Da Lamartines Theaterstück mit dem Beginn der Kampfhandlungen zwischen Toussaint und der Expedition Leclercs endet, werden die Mytheme der Gefangennahme und des Todes bei ihm folglich nicht aufgenommen. Dies ist eigentlich erstaunlich, da der antinapoleonisch gesinnte Lamartine insbesondere diese Mytheme für eine dämonisierte Darstellung Napoleons hätte verwenden können. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 92. Auch Malet, einer der Insassen im Fort de Joux, auf den Toussaint im Gefängnis trifft, nennt Napoleon einen feigen Unterdrücker und einen Tyrannen. Vgl. ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 139. Die historische Person Claude-François Malet wandte sich schon während des Konsulats gegen Napoleon. 1808 nahm er an einer Verschwörung gegen Napoleon teil und verübte 1812 einen Staatsstreich gegen ihn.
Die Darstellung in der französischen Romantik clamant des vérités sublimes, /Rendit tous les humains à leurs droits légitimes [...].59
Beide Schriften sind Plädoyers für die Abolition der Sklaverei und für die Gleichheit.60 In den Werken wird Toussaint als von Gott auserwählter Retter und Anführer der Sklaven idealisiert. Napoleon, der Toussaints Kinder zu Geiseln macht, stellt den schwarzen Sklavenführer vor eine grausame Wahl: einen Waffenstillstand, der ihm die Rückkehr seiner Kinder garantiert, oder einen Kampf, durch den er die Freiheit für sein Volk erhalten könnte. Während Anonymus’ Toussaint die Entscheidung ohne zu zögern fällt, zaudert der komplexer dargestellte Toussaint Lamartines, der zwischen Vaterliebe und Patriotismus zerrissen ist. Schließlich optiert auch der Toussaint im Theaterstück für den Kampf und für sein Volk. Die Schuld für die kriegerischen Auseinandersetzungen wird somit Napoleon zugeschrieben, da er die Absicht hegte, die Sklaverei wiedereinzuführen und Toussaint keine andere Wahl ließ. Dadurch erfährt der haitianische Unabhängigkeitskampf im Gegensatz zu den bisherigen Werken61 eine Rechtfertigung. Eine Transformation erfährt nicht nur die Darstellung des Freiheitskampfs, sondern auch das Mythem der Nationalität. Während der Toussaint im Gedicht sich sofort von seiner französischen Zugehörigkeit löst, fällt es Lamartines Toussaint schwer, sich von der französischen Kultur und Nationalität zu trennen. Letztendlich wird Toussaint aber in beiden Texten als Haitianer betrachtet und auch die in den anderen Werken noch stets als Saint-Domingue bezeichnete ehemalige Kolonie wird nun Haiti genannt. Toussaint wird als von Gott gesandter Freiheitskämpfer und als Vater des haitianischen Volkes funktionalisiert. Der Erste Konsul, der als Gegner der Freiheit in Erscheinung tritt und dafür an den Pranger gestellt wird, tritt als Antagonist Toussaints auf. Konkludierend kann festgehalten werden, dass zwischen der Verordnung Karls X. zur Anerkennung der Souveränität der Bewohner Saint-Domingues von 1825 und der zweiten Abschaffung der Sklaverei von 1848 bedeutende Transformationen des Toussaint-Mythos stattfanden. Die bei den Zeitzeugen hauptsächlich durch die bonapartistische 59 60 61
ANONYMUS, [ca. 1827/28] 1878, S. 157. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 403. Mit Ausnahme des Romans Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Propaganda ausgelöste Dämonisierung Toussaint Louvertures wandelt sich in der französischen Romantik zu einer zunehmend positiveren Darstellung, die von Empathie über Bewunderung bis hin zur Idealisierung als Freiheits- und Unabhängigkeitskämpfer reicht. Während sich bei Bug-Jargal ein idealisierter schwarzer Sklavenanführer einer realen Revolution, der Toussaint ähnelt, aber nicht seinen Namen trägt, insbesondere durch seine königliche Abstammung und Loyalität hervorheben kann, wird bei Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue Toussaint vor allem durch seine von Europäern erhaltene aufklärerische Bildung und ebenfalls durch seine Loyalität gegenüber seinem ehemaligen Besitzer von den anderen Schwarzen abgehoben und erfährt unter seinem Sklavennamen Bréda eine Idealisierung. Diese Verherrlichung Toussaints findet im epischen Gedicht L’Haïtiade und im Theaterstück Toussaint Louverture ihren vorläufigen Höhepunkt, denn in diesen Werken wird der Sklavenführer unter seinem wahren Namen als ein von Gott gesandter Retter und Freiheitskämpfer des als gerechtfertigt dargestellten Aufstands funktionalisiert und als Vater des haitianischen Volkes abgebildet. Diese wachsende Idealisierung Toussaints geht mit einer zunehmenden Dämonisierung Napoleons einher, der zum Widerpart des schwarzen Sklavenführers stilisiert wird. Während eine gewisse Anprangerung des Ersten Konsuls im Werk Hugos in die Reue des Unteroffiziers über die Erschießung Bug-Jargals interpretiert werden kann, erfolgt die Dämonisierung im anonym veröffentlichten Roman explizit durch den anhand der Mytheme der Gefangennahme und des Todes deklarierten Verrat an Toussaint – ohne allerdings den Namen Bonapartes zu nennen. In den Memoiren Chateaubriands und Mme de Staëls wird der Name Napoleon genannt und ihm wird die am schwarzen Sklavenführer begangene Perfidie zum Vorwurf gemacht. Toussaint dient in diesen Werken als Projektionsfläche, um die Verbrechen des Ersten Konsuls zu veranschaulichen und den NapoleonMythos zu demontieren. Eine Dämonisierung findet ebenfalls im Theaterstück Lamartines und im epischen Gedicht statt, wobei diese besonders bei Lamartine zu großen Teilen auf der Wiedereinführung der Sklaverei fußt. Während die Zeitzeugen Toussaint anlasteten, hypokritisch und moralisch verwerflich zu handeln, Verrat und grausame Verbrechen zu begehen, werden diese Eigenschaften und Taten bei den Romantikern allmählich auf Napoleon übertragen, sodass es zu einem
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Die Darstellung in der französischen Romantik
Rollentausch der beiden historischen Figuren kommt. Während Toussaint als Freiheitskämpfer funktionalisiert wird, der die Werte Freiheit und Gleichheit verbreiten und umsetzen möchte, wird Napoleon als Unterdrücker und Gegner dieser Werte dargestellt. Bedeutend ist fernerhin die in dieser Epoche erfolgte Transformation der Nationalität Toussaints vom Afrikaner zum Franzosen und schließlich zum Haitianer, welche durch das während der Französischen Revolution angewandte und argumentativ von Chateaubriand in Anspruch genommene ius soli sowie durch die allmähliche Akzeptanz der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie erklärt werden kann.
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Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
3.4 Das lange Verschw eigen Toussaint Louvertures in Frankreich Durch den Einfluss der bonapartistischen Propaganda dämonisierten die Zeit- und Augenzeugen Toussaint Louverture weitestgehend, während die Romantiker – auf der Grundlage der Quellen der Zeitzeugen – den Toussaint-Mythos rezipierten, um Toussaint insbesondere als Widerpart zu Napoleon zu funktionalisieren und als Freiheitskämpfer zu glorifizieren. Wenn auch ihre Repräsentation Toussaints sehr unterschiedlich, beinahe gegensätzlich ausfiel, so haben diese beiden Epochen doch gemein, dass Toussaint Louverture durch die Rezeptionszeugnisse im kollektiven Gedächtnis Frankreichs präsent gehalten wurde. Dies änderte sich jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts und der schwarze Sklavenanführer fiel bis Mitte des 20. Jahrhunderts dem Vergessen anheim.1 Während der Zweiten Französischen Republik (1848-1852) erfolgte auf Initiative Victor Schoelchers durch die provisorische Regierung un1
Zu erwähnen sind allerdings die bedeutsamen Werke der haitianischen Historiker Joseph Saint-Remy (Vie de Toussaint-L’Ouverture) und Beaubrun Ardouin (Études sur l’histoire d’Haïti). Nach dem Sturz des haitianischen Präsidenten Jean-Pierre Boyers durch Oppositionelle im Jahr 1843 suchten haitianische Intellektuelle wie u. a. diese beiden Historiker in Frankreich Zuflucht, wo sie 1850 bzw. 1853-1860 in Paris ihre historischen Werke veröffentlichten. Vgl. BÉNOT, 2005, S. 271. Viele Autoren, die sich später mit Toussaint auseinandersetzten, griffen auf diese beiden klassischen Werke der Haitianischen Revolution zurück sowie auf die Schrift Histoire d’Haïti des haitianischen Historikers Thomas Madiou, der sich zwischen 1824 und 1835 in Paris aufhielt, sein historiografisches Werk allerdings 1847-1848 in Port-au-Prince veröffentlichte. Da alle drei Historiker selbst der mulattischen Elite angehörten, verteidigen sie insbesondere diese soziale Schicht sowie deren Anführer und Rivalen Toussaints, Rigaud. Von den drei Autoren steht Saint-Remy Toussaint am feindlichsten gegenüber. Vgl. GEGGUS, 2013. Auch wenn diese Werke über die Haitianische Revolution zum Teil in Paris veröffentlicht wurden, müssen sie dennoch hauptsächlich vor dem Hintergrund der haitianischen Geschichte und dem zu dieser Zeit herrschenden Faustin Soulouque betrachtet werden. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 396. Der haitianische Präsident und ab 1849 als Kaiser Faustin I. regierende Herrscher begegnete der mulattischen Elite mit Abneigung und ließ 1848 ein regelrechtes Massaker an dieser sozialen Schicht verüben, welches den Einfluss der Mulatten im Land über mehrere Jahre hinweg verringerte. Vgl. BERNECKER, 1996, S. 84-86.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
ter Alphonse de Lamartine im April 1848 zwar die zweite und endgültige Abolition der Sklaverei in Frankreich, aber die historisch virulenten Rassismen und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl gegenüber Schwarzen bestanden in der Gesellschaft dennoch weiter fort. Bereits zur Zeit der Aufklärung waren französische Naturforscher wie GeorgesLouis Leclerc, Comte de Buffon bestrebt gewesen, Rassismus wissenschaftlich zu begründen,2 und Mitte des 19. Jahrhunderts wurden ihm naturwissenschaftliche Erklärungen zugrunde gelegt. Der französische Rassentheoretiker Arthur de Gobineau argumentiert in seiner Abhandlung Essai sur l’inégalité des races humaines (1853-1855), dass sich nicht alle menschlichen Rassen gleichermaßen perfektionieren ließen, wobei die weiße Rasse das größte Perfektionspotenzial biete und die schwarze Rasse sich am wenigsten weiterentwickeln könne. Des Weiteren spricht er von der Degeneration des Blutes der weißen Rasse durch die Vermischung mit der schwarzen Rasse.3 Der britische Anthropologe Francis Galton entwickelte basierend auf dem vom britischen Naturforscher Charles Darwin 1859 erschienenen Werk On the origin of species die Theorie des Sozialdarwinismus und prägte den Begriff der Eugenik, worunter er eine Lehre versteht, die durch Zucht und Auswahl den Anteil der positiv bewerteten menschlichen Erbanlagen zu vergrößern sucht.4 Durch die Abschaffung der Sklaverei waren die Rassismen gegenüber Schwarzen und Mulatten keineswegs erloschen. Vielmehr wurde versucht, die Minderwertigkeit dieser Rassen wird durch naturwissenschaftliche Theorien zu untermauern. Unter der Herrschaft Napoleons III., der seinen Aufstieg und Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1848 vor allem dem noch wirkenden Nimbus seines Onkels Napoleon I. verdankte, wurde kein einziges Werk5 über Toussaint Louverture verfasst. Nachdem Toussaint
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Vgl. Kapitel 1.2. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 143-151. Vgl. DELACAMPAGNE, 2005, S. 152f. In dieser Zeitspanne wurden in Frankreich lediglich die Memoiren Toussaint Louvertures (1853) sowie die Erinnerungen des Zeitzeugen Moreau de Jonnès (1858) veröffentlicht. Diese Berichte wurden allerdings schon viele Jahre vorher geschrieben und nur spät publiziert. Ferner erschienen 1860 die Biografie von Jean Pierre Edmond Jurien de la Gravière über seinen Vater Pierre Roch Jurien de la Gravière, der an der Expedition nach Saint-Domingue teilgenommen hatte, sowie 1853-1860 das
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
während der Epoche der Restauration und der Julimonarchie eine wachsende Idealisierung und Napoleon in der Gegenüberstellung mit dem Sklavenführer eine zunehmende Dämonisierung erfahren hatten, wurde unter Charles-Louis-Napoleon Bonaparte, der sich im Dezember 1851 durch einen Staatsstreich vom französischen Präsidenten (1848-1852) zum Kaiser der Franzosen (1852-1870) machte, Napoleon I. als Held gefeiert und als Träger der Werte der Französischen Revolution verehrt. Der Neffe Napoleons I. setzte die Wirkmächtigkeit des NapoleonMythos zu seinen Zwecken ein und wählte seinen Kaisernamen Napoleon III., um Kontinuität zu Napoleon I. zu suggerieren und sich in dessen Glanz zu sonnen. Toussaint Louverture wurde hingegen dem Vergessen preisgegeben. Das Stillschweigen um den ehemaligen Sklavenführer, der durch sein Wirken maßgeblich die erste Niederlage Napoleons vorbereitet hatte, lag natürlich zudem in der repressiven Zensur, die unter Napoleon III. ausgeübt wurde, begründet.6 Erst 1870 wurde unter dem Druck der Opposition die Präventivzensur abgeschafft und die Druckfreiheit wieder gewährt.7 Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg und der Absetzung Napoleons III. wurde 1871 die Dritte Französische Republik (1871-1940) gegründet, wobei zunächst die Hoffnung auf eine Restauration nicht aufgegeben wurde, sich die drei unterschiedlichen Gruppen der Monarchisten (Legitimisten, Orléanisten, Bonapartisten) aber nicht einigen konnten, welcher Monarch den Thron besteigen sollte.8 Bis 1880 hatte sich indessen die Republik, die zunächst mit dem Makel der Niederlage gegen Preußen geboren worden war, bereits so in der Gesellschaft verwurzelt, dass es keine Alternative mehr zu geben schien.9 Zwischen 1879 und 1899/1902 wurde die Regierung von den gemäßigten Republikanern dominiert.10 Den Republikanern, die sich auf die Aufklärung, den Laizismus, die Tradition der Französischen Revolution und die Idee des Fortschritts beriefen11 und deren Ideenwelt vom Posi-
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historiografische Werk Beaubrun Ardouins. Siehe auch Anm. 1 in Kapitel 3.4. Vgl. WILKE, 2013, S. 37. Vgl. WILKE, 2013, S. 37. Vgl. ENGELS, 2007, S. 22f, 27. Vgl. ENGELS, 2007, S. 28, 104. Vgl. ENGELS, 2007, S. 30. Vgl. ENGELS, 2007, S. 46.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
tivismus und wissenschaftlichen Rationalismus getragen wurde,12 gelang es, sich während der Dritten Republik immer stärker durchzusetzen und allmählich die Republik mit der Nation identisch werden zu lassen.13 Nationalismus und Patriotismus stellten bedeutende Faktoren der nationalen Integration dar. Diese fanden auch sichtbaren Ausdruck in der Kolonialpolitik.14 Unter der Leitung des Politikers Jules Ferry, der „als Vater der republikanischen Reformen der 1880er Jahre gilt“15, wurde die 1830 in Algier begonnene Kolonialexpansion fortgesetzt; der Aufbau eines Kolonialreichs war eines der großen Projekte der Außenpolitik der Dritten Republik.16 Als Gründe für den französischen Kolonialismus führte Jules Ferry in einer Rede Ende Juli 1885 an, dass die Kolonien als Absatzmärkte für Frankreich von großer Bedeutung seien und dass die zivilisierten Völker gegenüber den weniger zivilisierten die Pflicht hätten, sie zu erziehen und ihnen den Fortschritt zu bringen, wobei sich Ferry hier vor allem auf den Kampf gegen die Sklaverei berief.17 Wie Engels aufzeigt, war die Kolonialisierung „ein gigantisches Programm zur Verbreitung republikanisch-positivistischer Ideale.“18 Ein weiteres Argument Ferrys für das Kolonialreich war, Frankreich als internationale Macht zu etablieren. In dieser Phase des Hochimperialismus dehnten sich die Territorien Frankreichs bis zum Ersten Weltkrieg von 1 Million auf 12 Millionen Quadratkilometer aus.19 Während die Franzosen anfangs noch an den kolonialen Projekten zweifelten, waren die Kolonien – aufgrund der massiven Kolonialpropaganda – spätestens gegen 1900 Teil des französischen Selbstverständnisses.20 Es entstand eine französische Kolonialkultur, deren Doktrin alle Bereiche des Lebens in Frankreich prägte und die ihren Höhepunkt in der internationalen Kolonialausstellung von 1931 fand.21
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Vgl. ENGELS, 2007, S. 59. Vgl. ENGELS, 2007, S. 16. Vgl. ENGELS, 2007, S. 12. ENGELS, 2007, S. 36. Vgl. ENGELS, 2007, S. 31. Vgl. ENGELS, 2007, S. 110. ENGELS, 2007, S. 110. Vgl. ENGELS, 2007, S. 112. Vgl. ENGELS, 2007, S. 111f. Vgl. BLANCHARD/LEMAIRE, 2003, S. 5-7.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
Da die Kolonien unter der Dritten Republik Teil der republikanischen Identität wurden und das geschaffene große Kolonialreich als Erfolg galt, wurden die Haitianische Revolution und ihre Akteure weiterhin verschwiegen. Schließlich wurde Haiti in Kolonialfragen gerade als jenes Negativbeispiel angesehen, das es nicht zu reproduzieren galt.22 An die Haitianische Revolution oder an den bedeutendsten Anführer der Revolution zu erinnern, hätte als unpatriotisch gegolten, denn schließlich wollte die Dritte Republik jene Afrikaner ‚zivilisieren‘, deren Vorfahren ihnen diese Niederlage zugefügt hatten.23 Im Gegensatz zur Zeit der Regentschaft Napoleons III. wurden während der Dritten Republik, in der ab 1881 die Pressefreiheit per Gesetz garantiert wurde,24 dennoch einige wenige Werke über Toussaint Louverture veröffentlicht. Im Folgenden soll diesen Ausnahmen, die das rund 100-jährige Verschweigen des Toussaint-Mythos durchbrechen, besondere Beachtung zuteilwerden. Bemerkenswerterweise ist die Toussaint-Darstellung in den wenigen Werken dieser Epoche überwiegend positiv: Im Jahr 187725 erschien die Biografie Toussaint-Louverture, Général en Chef de l’Armée de Saint-Domingue, surnommé le Premier des Noirs von Thomas Prosper Gragnon-Lacoste, einem Bekannten der Familie Isaac Louverture. Dieses Werk stellt einen wahren Lobgesang auf Toussaint Louverture dar26 und ist insbesondere hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach der angeblichen Superiorität der Weißen bzw. Minderwertigkeit der Schwarzen von besonderer Bedeutung. Vier Jahre später veröffentlichte Georges-François Le Gorgeu eine Studie über Jean-Baptiste Coisnon, den Lehrer der Söhne Toussaints: Étude sur Jean-Baptiste Coisnon: Toussaint-Louverture et JeanBaptiste Coisnon. Der Autor, der selbst darauf verweist, wie eng die 22 23 24 25
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Vgl. SCHMIDT, 1991, S. 338. Vgl. HOFFMANN, 2009, S. 340. Vgl. WILKE, 2013, S. 38; ENGELS, 2007, S. 30. Bereits 1874 erschien der Roman Les deux enfants de Saint-Domingue von Julie Gouraud. Toussaint wird in diesem fiktionalen Werk fälscherweise als Aufwiegler der Revolution von 1791 dargestellt. Seine Figur wird allerdings ausschließlich auf den ersten Seiten erwähnt und dient nur dazu, dem Text einen real wirkenden historischen Hintergrund zu verleihen. Vgl. FERGUSON, 1987, S. 399. Vgl. ADELAÏDE-MERLANDE, 1982, S. XVI.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Geschichte Coisnons, der die Kinder auf ihrem Weg nach SaintDomingue zurückbegleitete, mit der Expedition Leclercs und Toussaint Louverture verwoben ist, geht daher ebenfalls auf diese Ereignisse ein. Er beschreibt den ehemaligen Sklavenführer als außerordentlichen Mann und verurteilt Napoleon und die von ihm befohlene Expedition scharf, indem er sie als „cette sanglante et funeste entreprise du ‹Premier des Blancs›“27 bezeichnet. Sein Werk, das nach eigenen Angaben auf Informationen der Biografie Gragnon-Lacostes beruht, knüpft an dessen Würdigung Toussaints an. Aufschlussreich ist ebenfalls der Vortrag des französischen Philosophen Pierre Laffitte mit dem Titel „Toussaint-Louverture“ an der Pariser Sorbonne aus dem Jahr 1882. In seiner Vorlesungsreihe Grands Types de l’Humanité widmete sich der Positivist dem schwarzen Sklavenführer. Er setzte sich mit der ‚Rassenfrage‘ auseinander und hatte es sich zum Ziel gesetzt, anhand der Genialität und Größe Toussaints die Gleichheit aller Hautfarben zu belegen. Auf diesen redigierten Vortrag, der 1882 in der Zeitschrift La revue occidentale, philosophique, sociale et politique veröffentlicht wurde, wird im Folgenden noch näher eingegangen. In der Erzählung L’évasion du Fort de Joux (1883) des französischen Politikers und Lokalhistorikers Léon de la Sicotière findet Toussaint – auch wenn er nicht im Mittelpunkt der Handlung steht – als einer der bedeutendsten Gefangenen des Fort de Joux Erwähnung. Das Werk handelt vom erfolgreichen Ausbruch von vier Häftlingen im Jahr 1805. Nebenbei schildert der Autor die Geschichte Toussaints und bringt seine Sympathie gegenüber dem schwarzen Sklavenführer zum Ausdruck, den er als königlich und berühmt beschreibt.28 Er kritisiert, dass Toussaint in einen Hinterhalt gelockt, auf brutale Art und Weise mitsamt seiner Familie deportiert wurde und einen elenden Tod in diesem Gefängnis starb.29 Der französische Politiker und Abolitionist Victor Schoelcher veröffentlichte 1889 eine Biografie über Toussaint Louverture, an der er beinahe zehn Jahre gearbeitet hatte: Vie de Toussaint Louverture.30 Diese
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LE GORGEU, 1881, S. 6. Vgl. LA SICOTIÈRE, 1883, S. 6. Vgl. LA SICOTIÈRE, 1883, S. 6. Vgl. SCHMIDT, 1991, S. 339.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
wurde zur bekanntesten Biografie des 19. Jahrhunderts über Toussaint und nimmt heute noch einen großen Stellenwert ein: Anhand dieses historiografischen Werkes sowie den Schriften Gragnon-Lacostes und Laffittes wird die Repräsentation Toussaints während der Dritten Republik genauer herausgearbeitet. Im Gegensatz zu diesen überwiegend positiven Darstellungen Toussaints, stellt Henri Castonnet des Fosses in seinem Werk La Perte d’une colonie: la révolution de Saint-Domingue (1893) den schwarzen Sklavenführer als unredlichen, machtbesessenen Mann und jenen Feind Frankreichs dar, der um jeden Preis aus der Kolonie hätte vertrieben werden müssen.31 Es wird deutlich, dass der französische Historiker und Geograf hinter der Kolonialpolitik der III. Republik steht und es seine Intention ist, die Gründe für den Verlust der Kolonie SaintDomingue offenzulegen, um Frankreich künftig vor Fehlern bei der Kolonisierung zu bewahren.32 Die Toussaint-Biografie Schoelchers greift er scharf an und nimmt Anstoß an der für ihn zu positiven Darstellung Toussaints.33 Er verteidigt die Vorgehensweise Frankreichs, denn Toussaint hatte die Gefangennahme aufgrund seiner grausamen Taten verdient.34 Nicht nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts35, sondern auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts36 gab es Ausnahmen zu dem 31 32 33 34 35
Vgl. CASTONNET DES FOSSES, 1893, S. 184. Vgl. CASTONNET DES FOSSES, 1893, S. VI. Vgl. CASTONNET DES FOSSES, 1893, S. 130, 315f. Vgl. CASTONNET DES FOSSES, 1893, S. 315f. In den Jahren 1896-1897 erschien zudem das dreibändige Werk Souvenirs d’un historien de Napoléon. Mémorial de J. de Norvins von Jacques de Norvins. Allerdings handelt es sich hierbei um Memoiren eines Augenzeugen, die erst viele Jahre später veröffentlicht wurden. Ende des 19. Jahrhunderts fand Toussaint Louverture ebenfalls in der Presse Erwähnung. Im Jahr 1898 widmete Gerbal dem Anführer der Haitianischen Revolution einen Artikel in der wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Les Contemporains. Er moniert, dass Toussaint bisher immer entweder glorifiziert oder dämonisiert wurde. Seiner Meinung nach findet sich die Wahrheit über den Sklavenführer zwischen beiden Extremen. Im Gegensatz zu Gragnon-Lacoste und Schoelcher spricht er ihm aber ab, ein bedeutender Mann gewesen zu sein, da ihm dazu die nötige Bildung fehlte: „Il lui manqua, pour être un grand homme, une éducation plus soignée et un milieu plus favorable.“ GERBAL, 1898, S. 16. Diese Auffassung deckt sich mit der neuen Kolonialpolitik Frankreichs, die sich die Erziehung und Zivilisierung der Kolonialisierten zur Aufgabe macht. Im gleichen
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allgemein herrschenden kollektiven Verschweigen von Toussaint Louverture: Michel Vaucaire stellte den ehemaligen Sklavenführer in einem Roman und Paul Haurigot in einem Theaterstück in den Mittelpunkt. Der Roman des französischen Autors Michel Vaucaire wurde 1930 unter dem Titel Toussaint-Louverture und 1933 unter dem Titel L’étrange destin de Toussaint-Louverture37 veröffentlicht. Vaucaire, der zuvor bereits ein Werk über den Freiheitskämpfer Simón Bolívar veröffentlicht hatte, veranschaulicht in einem Nachwort seine Beweggründe für die Erstellung eines Werkes über Toussaint Louverture. Er ist der Auffassung, dass Toussaint bisher entweder zum „bandit sans scrupule“38 oder „Christ de la race noire“39 stilisiert wurde, und versucht, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Zwar basiert das 1935 zum ersten Mal publizierte Theaterstück Napoléon noir von Paul Haurigot auf historischen Gegebenheiten der Haitianischen Revolution, aber dennoch werden bewusst fiktionale Elemente in das Stück eingeflochten (u. a. lässt sich Toussaint zum Kaiser krönen) und viele Namen (u. a. die Namen von
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Jahr berichtet Le Figaro über die geplante Überführung der sterblichen Überreste Toussaint Louvertures, die sich laut (falscher) Angaben von Le Figaro in Bordeaux befinden sollen (vgl. LE FIGARO, 1898b, S. 1), nach Haiti. Das Vorhaben, das schon beschlossene Sache schien, musste der Zeitung zufolge aufgrund des Konflikts zwischen den USA und Spanien auf Eis gelegt werden. Vgl. LE FIGARO, 1898a, S. 1. Erst am 16. März 1983 wurde Haiti symbolisch eine Handvoll Erde vom Fort de Joux übergeben, da die sterblichen Überreste Toussaints verschollen sind. Vgl. GENRE, 2013. In den 1920er Jahren erschienen in Paris die von Alfred Auguste Nemours verfassten Werke über Toussaint Louverture. Der in Haiti geborene und zur Ausbildung nach Paris gesandte Nemours absolvierte die Militärschule Saint-Cyr, reformierte das haitianische Militär, vertrat Haiti beim Völkerbund und hegte eine große Bewunderung für Toussaint, die in seinem zweibändigen Werk Histoire militaire de la guerre d’indépendance de Saint-Domingue (1925 und 1928) sowie in Histoire de la captivité et de la mort de Toussaint-Louverture. Notre pèlerinage au fort de Joux (1929) zutage tritt. Vgl. DUPUIS, 2004. Alle drei Werke erschienen zwar in Paris, stehen allerdings in einem anderen Diskussionszusammenhang. Sie müssen nicht vor dem Hintergrund der Französischen Dritten Republik, sondern im Kontext der Besetzung Haitis durch die USA verstanden werden. Vgl. HECTOR, 1993, S. 545f. Die Seitenangaben zum Werk Vaucaires beziehen sich auf diese Ausgabe. VAUCAIRE, 1933, S. 227. VAUCAIRE, 1933, S. 227.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
Toussaints Frau, seiner Söhne, seines Plantagenverwalters) und Daten (Toussaint starb nicht erst 1804, als Napoleon zum Kaiser gekrönt wurde, sondern bereits 1803) werden absichtlich verfälscht, um mehr Parallelen zwischen Toussaint und Napoleon herzustellen. Toussaint fungiert, wie bereits bei den Romantikern, als Widerpart Napoleons.
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3.4.1 Toussaint als Symbol für die Gleichheit aller Menschen (Laffitte, Gragnon-Lacoste, Schoelcher) Zwar erfolgte die zweite und endgültige Abolition der Sklaverei in Frankreich bereits 1848 und somit mehrere Jahrzehnte vor dem Erscheinen der Toussaint-Biografien Gragnon-Lacostes und Schoelchers, aber Vorurteile im Hinblick auf die angebliche Minderwertigkeit der Schwarzen existierten zu diesem Zeitpunkt weiter und wurden sogar durch naturwissenschaftliche Erklärungen zementiert. Bevor auf die beiden umfassenden Werke Gragnon-Lacostes und Schoelchers eingegangen wird, soll ein kurzer Blick auf die Vorlesung Laffittes an der Sorbonne im Jahr 1882 geworfen werden. Der französische Philosoph Pierre Laffitte war ein Schüler Auguste Comtes. Nach dessen Tod übernahm er die literarische Nachlassverwaltung und wurde zum neuen Anführer der Strömung des Positivismus.1 Bereits der Begründer des Positivismus, Auguste Comte, hatte Toussaint – neben Bolívar, Jefferson, Washington – in seinen Calendrier positiviste aufgenommen und somit dessen Kampf um die Freiheit gewürdigt.2 Laffitte, der an der Transformation der republikanischen Partei zur wahren Regierungspartei mitwirkte, war ein republikanischer Positivist, der grundsätzlich eher konservativ geprägt war.3 Im Jahr 1881 erhielt er vom damaligen Minister für das Erziehungswesen Jules Ferry, der zuvor Comte als „le plus grand penseur du siècle“4 gewürdigt hatte, die Möglichkeit, an der Sorbonne Vorlesungen zum Thema Grands Types de l’Humanité abzuhalten,5 in denen er die Bedeutung Toussaint Louvertures hervorhob. Laut Gérard arbeitete Laffitte eng mit den führenden republikanischen Politikern, die den großen Ideen des Positivismus nahe standen, zusammen.6 Von den gemäßigten Republikanern wurde für Laffitte 1892 ein neuer Lehrstuhl für die allgemeine Geschichte der Wissenschaften am Collège de France geschaffen.7 Während Comte ei-
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Vgl. AMIS ET PASSIONNÉS DU PÈRE-LACHAISE, 2010. Vgl. COMTE, 1852, S. 42; LAFFITTE, 1882, S. 48. Vgl. AMIS ET PASSIONNÉS DU PÈRE-LACHAISE, 2010. Zitiert nach GÉRARD, 2003, S. 295. Vgl. GÉRARD, 2003, S. 295. Vgl. GÉRARD, 2003, S. 295. Vgl. GÉRARD, 2003, S. 296.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
ne Politik der Dekolonialisierung reklamierte, wandte sich Laffitte von den bis zu den 1870er Jahren gerühmten pazifistischen Idealen ab und sprach sich gegen die Unabhängigkeit Algeriens und Korsikas aus und befürwortete gar die Eroberung Tunesiens sowie insgesamt die Kolonialpolitik der Republikaner.8 Diese Haltung Laffittes kommt in seinem Vortrag über Toussaint Louverture in seiner Vorlesungsreihe Grands Types de l’Humanité zum Ausdruck. Zwar macht er sich für die Gleichheit aller Menschen stark, wendet sich aber nicht gegen die neue Kolonialexpansion der Dritten Republik. Entschieden spricht er sich jedoch gegen die Sklaverei aus9 und bringt Toussaint, seinem Kampf für die Freiheit sowie seinen Errungenschaften für Saint-Domingue große Bewunderung und Anerkennung entgegen: Le génie, la grandeur, ils sont dans ce noir de Saint-Domingue, qui, sans préparation, sans conseils, presque sans moyens, ne conçoit que des choses nobles et des choses possibles; qui, dans l’éxécution [sic] de ses plans, se conduit d’une manière si habile et si honnête, que ceux-là même dont il triomphe ne peuvent retenir leur admiration; qui donne à son œuvre des fondements si solides, que le jour où une politique criminelle prétend la détruire, l’édifice se trouve déjà indestructible et résiste à tous les assauts.10
Die Gefangennahme und Deportation Toussaints empfindet er daher als großes Unglück und eine Schande für Frankreich, das seiner Meinung nach in dieser Kolonie als Unterdrücker auftrat: „Quelques jours après, il tombait dans un guet-apens. La fin de cette histoire est si lamentable, que nous renonçons à la dire. On sait ce que Bonaparte fit du héros noir.“11 Napoleon und Leclerc macht er die Expedition sowie insbesondere den Versuch der Wiedereinführung der Sklaverei zum Vorwurf.12 Wie bereits die Schriftsteller der Romantik, stellt Laffitte Toussaint Napoleon vergleichend gegenüber, beschreibt ihn als dessen Widerpart und erkennt Toussaint als das wahre politische Genie an: „Plus l’on 8 9 10 11 12
Vgl. GÉRARD, 2003, S. 298. Vgl. LAFFITTE, 1882, S. 49. LAFFITTE, 1882, S. 118f. LAFFITTE, 1882, S. 117. Vgl. LAFFITTE, 1882, S. 116.
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compare Bonaparte avec l’homme qu’il a assassiné, plus on sent en quoi diffère la vraie grandeur de la fausse, le véritable génie politique du simple génie d’aventures.“13 Seiner Ansicht nach enthüllen die politischen Entscheidungen Napoleons bezüglich Saint-Domingue dessen wahren Charakter: „N’eût-il à son passif que l’expédition de Saint-Domingue, que cela suffirait à faire l’équation de Bonaparte. Ne se dévoile-t-il pas là tout entier, avec ses conceptions chimériques, sa bassesse d’âme, sa perfidie, sa férocité?“14 Laffitte ist der Meinung, dass das Vorgehen Napoleons nicht verteidigt werden kann. Er kritisiert den französischen konservativen Historiker und Politiker Adolphe Thiers, der ein großer Bewunderer Napoleons und erster Präsident der Dritten Republik (1871-1873) war und Napoleon in seinem historiografischen Werk Histoire du Consulat et l’Empire faisant suite à l’Histoire de la Révolution française von 1845 von jedwedem Vorwurf freisprach: „Il faut être Thiers pour trouver une justification à tant d’immoralité et d’ineptie, et plaider non coupable.“15 Zwar ist Thiers einer der wenigen Historiker, die Toussaint und die Haitianische Revolution überhaupt in ihre historiografischen Werke aufnahmen,16 aber Laffittes Kritik richtet sich vor allem gegen die Tatsache, dass Thiers Napoleons Vorgehensweise aufgrund dessen patriotischer Gründe für den Kolonieerhalt Frankreichs legitimiert.17 Obgleich Laffitte hinter der Kolonialpolitik der Dritten Republik steht, sind in seinen Augen die französischen Kolonien nicht um jeden Preis zu halten. Ihm zufolge habe die Politik zwischen ehrenhaft („honorable“) und niederträchtig („odieux“) zu unterscheiden.18 Während er die der zweiten Welle der Kolonialisierung innewohnende zivilisatorische Mission Frankreichs befürwortet, spricht er sich deutlich gegen Sklaverei und die Anwendung von Gewalt zur Erhaltung der Kolonien aus. Am Ende seiner Ausführungen über Toussaint stellt Laffitte noch den Tod Toussaints dem Sterben Napoleons diametral entgegen, um den ehrenhaften Charakter Toussaints, der in Dignität und ohne Klage
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LAFFITTE, 1882, S. 118. LAFFITTE, 1882, S. 117. LAFFITTE, 1882, S. 117f. Vgl. Kapitel 1.2.2. Vgl. LAFFITTE, 1882, S. 118. Vgl. LAFFITTE, 1882, S. 118.
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gestorben sei, und das würdelose Verhalten des Verbrechers Napoleon aufzuzeigen: Il n’est pas jusqu’à la façon dont ont fini ces deux hommes qui ne les montre sous leur vrai jour: l’un, trop doucement châtié par l’Europe d’un brigandage de quinze ans, et posant néanmoins en martyr, n’a même pas l’esprit de mourir avec dignité; l’autre, payant de sa vie la gloire d’avoir affranchi quatre cent mille esclaves, ne laisse pas échapper une plainte et exhale son dernier soupir les yeux tournés vers sa patrie.19
Dieser Vergleich erinnert an Balzacs Novelle Z. Marcas, in der ebenfalls die verschiedenen Arten des Ablebens und die majestätische Stille Toussaints angesichts des Todes betont wurden.20 Entgegen der Tendenz des Verschweigens Toussaints in der Dritten Republik hebt der republikanische Positivist die Verdienste des Freiheitskämpfers, den er als „plus illustre enfant […] de la race noire de Saint-Domingue“21 bezeichnet, hervor. Anhand seiner Person will er belegen, dass Schwarze keine minderwertige Rasse bilden, sondern gleichermaßen brillante Persönlichkeiten hervorbringen können. In seiner Argumentation ist der dem Positivismus zugrunde liegende Fortschrittsgedanke zu erkennen, der sich auch in der von Frankreich empfundenen Pflicht, den weniger zivilisierten Völkern zu Fortschritt und Wohlstand zu verhelfen und sie zu erziehen,22 widerspiegelt. Laffitte propagiert, wie bereits Comte – dessen Devise „l’Amour pour principe, et l’Ordre pour base; le Progrès pour but“23 lautete –, den ständigen Progress der Gesellschaft, der alle Völker miteinschließen soll. Am Beispiel von Toussaint macht Laffitte deutlich, dass eine solche Perfektionierung und Weiterentwicklung aller Völker möglich ist. Thomas Prosper Gragnon-Lacoste und Victor Schoelcher plädieren auf dem Höhepunkt der Kolonialexpansion Frankreichs in ihren Toussaint-Biografien ebenfalls für die Gleichheit aller Menschen. Sie wollen anhand des Anführers der Haitianischen Revolution belegen, 19 20 21 22 23
LAFFITTE, 1882, S. 119. Vgl. Kapitel 3.3.3; LAMMEL, 2015. LAFFITTE, 1882, S. 119. Vgl. ENGELS, 2007, S. 110. Zitiert nach OUELBANI, 2010, S. 51.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
dass Schwarze Weißen ebenbürtig sind und sich unter ihnen bedeutende Individuen finden. Die Biografie Toussaint-Louverture, Général en Chef de l’Armée de Saint-Domingue, surnommé le Premier des Noirs von Thomas Prosper Gragnon-Lacoste24 erschien 1877. GragnonLacoste, ein reicher Kaufmann25 und Generalkonsul Haitis in Bordeaux, stand mit der Familie Isaac Louverture in Kontakt und hatte dank dieser Bekanntschaft Zugang zu bisher unveröffentlichten Dokumenten, wie er selbst angibt.26 In seinem Werk wird ein Großteil der Memoiren Isaac Louvertures abgedruckt,27 die das komplette Kapitel XXXII umfassen. Bereits in seinem Vorwort beklagt Gragnon-Lacoste die um Toussaint herrschende Stille und erläutert den Zweck seines Buches: Va, mon livre; va, au nom de Toussaint-Louverture; va, au nom de cet homme qu’une convention fit esclave; mais que Dieu fit grand! va attester au Monde que les plus nobles qualités de l’esprit et du cœur se rencontrent chez le Noir civilisé, tandis qu’elles ne sauraient être le partage du blanc vaniteux et intolérant!28 [Herv. i. O.]
Er hebt die herausragenden Eigenschaften Toussaints hervor und instrumentalisiert ihn als Märtyrer, der sich für die Freiheit der Schwarzen opferte.29 Sein Ziel ist es, Toussaint Louverture von den ihm angelasteten Verbrechen freizusprechen und stattdessen die wahren Schuldigen anzuprangern.30 Um Toussaint zu mehr Bekanntheit zu verhelfen, organisierte Gragnon-Lacoste 1879 eine Konferenz über den Anführer der Haitianischen Revolution. Der Erlös der Konferenz sollte zur Er-
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Gragnon-Lacoste brachte 1878 eine neue Edition von L’Haïtiade heraus, die bereits in Kapitel 3.3.4 dieser Arbeit behandelt wurde. Vgl. GERBAL, 1898, S. 16. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. VI. Die Memoiren Isaacs wurden bereits 1825 in Antoine Métrals Histoire de l’expédition des Français à Saint-Domingue sous le consulat de Napoléon Bonaparte (1802-1803) abgedruckt. Vgl. MÉTRAL, [1825] 1985, S. 227-324. Gragnon-Lacoste veröffentlicht in seinem Kapitel nicht die vollständigen Memoiren, sondern lediglich die Seiten 227-309. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. VIII. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 370. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 98.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
richtung eines Denkmals zu Ehren Toussaints in Bordeaux genutzt werden31 – ein Vorhaben, das niemals umgesetzt wurde.32 Victor Schoelcher, der sich für die Abolition stark machte und einer der Initiatoren des Dekrets zur Abschaffung der Sklaverei vom 27. April 1848 war, schrieb bereits 1840 ein Werk mit dem Titel L’abolition de l’Esclavage. Examen critique du préjugé contre la couleur des Africains et des Sang-Mêlés, in dem er die Abolition der Sklaverei befürwortet und intendiert, die angebliche Inferiorität der Schwarzen zu widerlegen. Im Anschluss an seine Reise nach Haiti im Jahr 1841 – als erster führender europäischer Abolitionist seit 180433 – verfasste er eine Abhandlung über diese ehemalige Kolonie Frankreichs, Colonies étrangères et Haïti, résultats de l’émancipation anglaise, die 1843 veröffentlicht wurde. Schoelcher, der während der Zweiten Republik erst Martinique und später Guadeloupe als Abgeordneter in der Nationalversammlung vertrat,34 hielt bei der von Gragnon-Lacoste organisierten Konferenz einen Vortrag über Toussaint Louverture,35 der 1879 in einem Tagungsband veröffentlicht wurde und den Beginn seiner Recherche über Toussaint Louverture markierte.36 Der französische Abolitionist und Republikaner, der sich während der Herrschaft Napoleons III. im Exil aufhielt und erst während der Dritten Republik nach Frankreich zurückkehrte, publizierte 1889 kurz vor seinem Tod sein vielbeachtetes Werk über Toussaint: Vie de Toussaint Louverture. Ähnlich wie bei Gragnon-Lacoste, auf dessen Werk Schoelcher rekurriert37 und den er als „un négrophile ardent, plein de cœur“38 bezeichnet, scheint sein wesentliches Ziel zu sein, anhand der Figur Toussaint aufzuzeigen, dass Schwarze gleichwertig sind und sich unter ihnen ebenfalls bedeutende Persönlichkeiten finden.39 Außerdem ist es ihm ein wichtiges Anliegen, 31 32 33 34 35
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Vgl. SCHMIDT, 1994, S. 231. Vgl. GEGGUS, 2013. Vgl. SCHMIDT, 1994, S. 41; GEGGUS, 1985, S. 123. Vgl. SCHMIDT, 2000, S. 229. In dieser Rede artikulierte Schoelcher bereits eine kurze Synthese dessen, was er in seinem Vie de Toussaint Louverture später weiter ausbaute, wobei die wesentlichen Merkmalen die gleichen blieben. Vgl. ADELAÏDEMERLANDE, 1982, S. X. Vgl. SCHMIDT, 1994, S. 231. Vgl. beispielsweise SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 254, 264. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 357. Vgl. ADELAÏDE-MERLANDE, 1982, S. VII-X.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
das durch die Sklaverei begangene Unrecht zu verurteilen: „Il n’y a pas plus d’esclavage légitime que d’assassinat légitime.“40 Schoelcher stützt sich insbesondere auf die Informationen der haitianischen Historiker Beaubrun Ardouin, Charles Nicolas Céligny Ardouin und Thomas Madiou, auf unveröffentlichte Dokumente der französischen Nationalarchive sowie auf Berichte von Augenzeugen (u. a. Malenfant, Lacroix, Vincent, Norvins). Der allmähliche Aufstieg Toussaints zum Anführer der Revolution und Gouverneur Saint-Domingues wird in beiden Biografien als positive Entwicklung betrachtet. Sie beschreiben Toussaint als ein intelligentes Oberhaupt, zu dem die Aufständischen aufsahen.41 Zwar vertreten die Autoren bezüglich der Art und Weise der Aneignung des Wissens verschiedene Ansichten, aber der in ihrer Epoche dominierende Gedanke des Fortschritts und der Zivilisierung kommt bei beiden zum Ausdruck und sie heben die herausragende Entwicklung Toussaints hervor, der sich dadurch von den anderen Rebellen abhebt. Gragnon-Lacoste beschreibt, wie sein Vater ihn zunächst die Sprache der Aradas, die Geschichte seiner Ahnen sowie Kenntnisse der Pflanzenheilkunde lehrte.42 Er ist der Meinung, dass Toussaint sich viel Wissen anhand von Büchern aneignen konnte und sich von seinem Paten Pierre-Baptiste viel über Kriegsstrategien vorlesen ließ: Doué d’une grande intelligence, d’un excellent jugement, d’une mémoire prodigieuse, d’une faculté d’assimilation étonnante; méprisant les ignorants et les paresseux, visant aux honneurs, il se fit lire d’abord l’histoire, les auteurs, et plus tard les traités de stratégie et les Commentaires de César; il posséda également la vie des grands capitaines.43 [Herv. i. O.]
Wie bereits für Régis scheint es auch für Gragnon-Lacoste undenkbar, sich Wissen anders als mithilfe von Büchern anzueignen. Demgegenüber ist Schoelcher der Auffassung, dass Toussaints Pate ihn nur wenig 40 41
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SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 91. Die Toussaint entgegengebrachte Verehrung führt Gragnon-Lacoste auch auf seine königliche Abstammung zurück (vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 2, 16), welche bei Schoelcher keine Erwähnung findet. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 9. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 11.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
Lesen und Schreiben lehrte44 und die Besonderheit darin liegt, dass Toussaint eben gerade keine Bildung aus Büchern erhalten habe. Er bewundert die Fähigkeit eines ungebildeten Mannes, der sich in kurzer Zeit vieles selbst aneignete und zum geschickten Politiker und Anführer avancierte: Il ne fut pas donné à Toussaint de fortifier son intelligence par les leçons qu’on puise dans les livres. Il ne savait presque rien de ce que la lecture enseigne. Il tira tout de son propre fonds, et c’est dans l’espace de dix années (1792 à 1802) qu’il éleva sa prodigieuse fortune. Une si courte période de temps a suffi à ce nègre dépourvu de toute instruction pour égaler les blancs qui ont laissé un grand nom, pour être un chef militaire souvent victorieux, un politique habile, un homme d’Etat à vues longues, un puissant organisateur.45
Interessanterweise wird in beiden Biografien angegeben, dass Toussaint L’Histoire philosophique des Deux Indes von Abbé Raynal gelesen habe und dieses Werk der Aufklärung einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen habe.46 Gragnon-Lacoste weist darauf hin, dass Toussaint, der schon zuvor die Hautfarbe als Akzidens ansah und nicht verstand, dass ihr eine so große Bedeutung beigemessen wurde, sich insbesondere durch das Buch Raynals der Ungerechtigkeit und Ungeheuerlichkeit der Sklaverei bewusst wurde: „La lecture de certaines pages lui fit voir toute la profondeur des maux qui écrasaient ses semblables; peut-être même se demanda-t-il alors s’il ne deviendrait point un jour leur libérateur.“47 Gragnon-Lacoste erläutert im Gegensatz zu Schoelcher zusätzlich, dass Toussaint sich als der von der Vorsehung auserwählte Befreier seines Volkes ansah, und stilisiert ihn schon zu Beginn seines Werkes zum Freiheitshelden: Et s’il était ce libérateur réservé par la Providence! Eh bien! ce sera sous les bannières ensanglantées des siens que Toussaint ira s’enrôler,
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Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 88f. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 384. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 89. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 19f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos non pour le crime, mais pour l’indépendance;48 l’indépendance! sainte cause à laquelle il restera désormais fidèle jusqu’au martyre.49
Beide Werke repräsentieren Toussaint nicht nur als intelligenten, zivilisierten und von der Aufklärung geprägten, sondern auch als loyalen Mann. Die Autoren legen dar, dass Toussaint sich an den ersten Revolten nicht beteiligte und sogar die Familie seines Verwalters vor den Aufständischen in Sicherheit brachte – ein Mythem, das die Treue und Loyalität Toussaints gegenüber seinem Herrn veranschaulicht.50 Ebenso wird der ehemalige Sklave von den Autoren als sehr gottesfürchtig beschrieben. Gragnon-Lacoste erwähnt, dass Toussaint – wie bereits sein aus Afrika deportierter Vater51 – die christliche Religion annahm52 und jeden Sonntag die Messe besuchte.53 Der aus Bordeaux stammende Schriftsteller bezeichnet ihn als „un disciple fervent et zélé“54 des Katholizismus und als strikten Gegner des Voodoo-Kultes: Toussaint-Louverture, ennemi de tout ce qui sentait la superstition, et ne voyant dans toutes les sortes de magie que pratiquaient les Africains, qu’une insulte au culte du vrai Dieu et un retour vers la barbarie, enfin, un aliment à la paresse, publia, pour la seconde fois, une ordonnance sévère dans laquelle il défendait l’exercice du Vaudoux.55 [Herv. i. O.]
Schoelcher verweist darauf, dass einige Zeitzeugen Toussaints Religiosität als Hypokrisie interpretierten, da Toussaint vornehmlich vor schrecklichen Taten – wie zum Beispiel der Ermordung vieler Spanier bei seinem Übertritt zu den Franzosen – betete. Er selbst zweifelt nicht an Toussaints Glauben und empfindet es nicht als ungewöhnlich, dass der Mensch Gott auch im Vorfeld schlechter Taten um Beistand bittet.56 48
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In diesem Fall muss das französische Wort indépendance als Streben nach Freiheit für die Sklaven und nicht nach Unabhängigkeit von Frankreich verstanden werden. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 28. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 25; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 89. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 4. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 88, 178, 198. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 207. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 267. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 254. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 97.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
Ferner verteidigt er Toussaint gegen den von Zeitzeugen erhobenen Vorwurf von Affären mit verheirateten weißen Frauen, der auch dazu diente, seinen Glauben infrage zu stellen. Schließlich sei er nicht der Einzige, der trotz seiner Religiosität außerehelichen Verführungen verfiel: „Mais sa religion s’accommodait, comme il arrive pour tant d’autres, même instruits, de tout ce dont il avait le besoin ou le goût. Elle ne le retint pas sur la pente où nous entraîne la plus dominante des passions humaines.“57 Auch Gragnon-Lacoste stellt Toussaints Frömmigkeit deswegen nicht in Abrede. Er kritisiert vielmehr, dass Toussaints Liebschaften mit weißen Frauen nicht per se, sondern aufgrund seiner Hautfarbe58 für Entrüstung sorgten: „Toussaint-Louverture n’a pas été précisément coupable aux yeux de ces Messieurs parce qu’il aurait joué le Louis XV au petit pied, mais parce qu’il était noir. O préjugé de couleur, quel n’a point été ton empire sur les hommes!“59 Gragnon-Lacostes Vorwurf, dass der Empörung über Toussaints Verhältnisse ein rassistisches Motiv innewohnt, ist durchaus begründet. Wenngleich Affären zwischen schwarzen Frauen und weißen Männern in Saint-Domingue damals üblich waren und geduldet wurden, schürten sexuelle Beziehungen zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern Ängste, da sie das vorhandene Weltbild der Superiorität der Weißen ins Wanken brachten und „die Gefährdung des soziokulturellen Status quo“60 signalisierten.61 Während Toussaints Religiosität aufgrund seiner außerehelichen Affären von Zeitzeugen infrage gestellt wurde, hätte es niemand in Betracht gezogen, Ludwig XV., auf den Gragnon-Lacoste anspielt, oder Kolonisten, die Verhältnisse mit ihren schwarzen Sklavinnen hatten, ihren christlichen Glauben abzusprechen. Beide Autoren beschreiben den allmählichen Aufstieg Toussaints unter den Aufständischen, beginnend bei seiner Rolle als Medizinmann. Gragnon-Lacoste nutzt dieses Mythem, um Toussaint deutlich von den
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SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 396f. Allerdings lässt sich Gragnon-Lacoste von Vorurteilen leiten, wenn er sich wenig überrascht zeigt, dass Liebesbriefe von Frauen an Toussaint gefunden wurden, da die Schwachheit des schönen Geschlechts bekannt sei und es in tropischen Gefilden bekanntlich zur Lockerung der Sitten komme. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 123f. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 124. MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, 2008, S. 148. Vgl. Kapitel 3.2.2.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
anderen Anführern der Revolte abzugrenzen: Während Boukman, Biassou und Jeannot als grausame Wilde62 dargestellt werden, wird Toussaints Aufgabe als „mission d’un apôtre de la charité“63 gepriesen. Laut Gragnon-Lacoste hatte Toussaint insgeheim bereits zu diesem Zeitpunkt beschlossen, sich für die Freiheit aller Sklaven einzusetzen: „il résolut de commencer, à l’insu de tous, la guerre de l’indépendance.“64 Bei Schoelcher hingegen erfolgt keine Abgrenzung gegenüber den anderen Aufständischen.65 Im Gegensatz zu den bisherigen Toussaint-Rezeptionen verteidigt er nicht nur Toussaints Verhalten, sondern ebenfalls jenes der anderen Insurgenten: „Victor Schoelcher was unusual in making his biography a defence, not just of a singular hero, but of the enslaved masses in general, including their use of violence and dislike of plantation labor.“66 Toussaints Kampf für die Freiheit steht bei Gragnon-Lacoste stets im Mittelpunkt und rechtfertigt zudem den Seitenwechsel der Aufständischen zu den Spaniern: „[…] les insurgés n’étaient déjà plus que des soldats de la liberté, combattant à leur profit avant de servir les intérêts de l’Espagne.“67 Ebenso verteidigt Schoelcher dieses Vorgehen, allerdings mit der Begründung, dass Toussaint damit lediglich seinem Chef Jean-François folgte,68 dem – wie auch Biassou – nur sein persönlicher Vorteil am Herzen lag.69 Den in Zusammenhang mit diesem Mythem von den Zeitzeugen häufig angeführten Vorwurf des Vaterlandsverrats entkräftet Schoelcher, indem er darauf verweist, dass in Frankreich zu jener Zeit noch die Sklaverei existierte und ein Sklave kein Vaterland habe: 62
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Gragnon-Lacoste beschreibt Boukman als „[a]ssassin vulgaire“ (GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 29, Fußnote 2), Biassou als „monstre dans la véritable acception du mot“ (GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 29) und über Jeannot schreibt er: „Naturellement méchant, vindicatif, il se portait sans regret et sans remords aux crimes les plus abominables.“ GRAGNONLACOSTE, 1877, S. 30. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 31. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 42. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 89. GEGGUS, 2013. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 55. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 89. Schoelcher kritisiert, dass sich Jean-François und Biassou an dem Verkauf von Sklaven in den Osten der Insel beteiligten. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 37.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures On lui a reproché d’être entré au service de l’Espagne, de s’y être battu contre le drapeau tricolore; c’est oublier que le drapeau tricolore couvrait encore l’esclavage et son atroce législation; c’est oublier aussi qu’un esclave n’a pas de patrie, et ne sait même pas ce que veut dire ce mot plein de grandeur qui inspire tant d’amour.70
Den anschließenden Wechsel Toussaints zu den Franzosen begrüßen die Autoren und sie betonen, dass die Aussicht auf die Freiheit aller Sklaven der Grund für Toussaints Entscheidung war,71 wodurch er in beiden Biografien als Freiheitskämpfer instrumentalisiert wird. Die entstandene Union zwischen Toussaint und der Französischen Republik bezeichnet Gragnon-Lacoste als „les plus heureux changements dans les affaires de la République à Saint-Domingue.“72 Sind sich die Schriftsteller über das positive Motiv des Übertritts Toussaints einig, so differiert ihre Beurteilung, auf welche Art und Weise dieser Wechsel stattgefunden hat: Schoelcher wirft Toussaint Heimtücke und Unredlichkeit vor, da er nicht in aller Stille zu den Franzosen übergelaufen sei, sondern eine Gelegenheit abwartete, um mit seinen Truppen möglichst viele Spanier zu töten und die von ihnen besetzten Gebiete für Frankreich zurückzuerobern. Dennoch oder gerade deswegen sieht Schoelcher in ihm den bedeutenden Mann: „[Toussaint] était un grand homme, et les grands hommes ne regardent pas à la moralité des moyens qu’ils emploient.“73 Gragnon-Lacoste bewertet indessen die Übergriffe auf die Spanier als legitime Rache; denn zuvor war dem Autor zufolge Toussaints Familie sowie Moyse auf Befehl der Spanier verhaftet worden.74 Dieser neu entstandene Zusammenschluss konnte auch nicht durch England zerstört werden, das Toussaint die Unabhängigkeit SaintDomingues unter seiner Regentschaft anbot. Gragnon-Lacoste erklärt, dass Toussaint sich zwar geschmeichelt fühlte, seine Tugendhaftigkeit jedoch obsiegte und er die Krone von Saint-Domingue ablehnte.75 Ebenso schlägt Schoelchers Toussaint diese Offerte aus, da er laut Au70 71 72 73 74 75
SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 90. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 81; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 96f. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 80. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 97. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 74. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 187f.
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tor nicht von Ehrgeiz getrieben war, wie es ihm etliche Male von Zeitund Augenzeugen vorgeworfen wurde: „Toussaint-Louverture refusa. Il n’avait pas l’ambition d’un Bonaparte, ou d’un Christophe […].“76 Die Ablehnung von Englands Angebot hängt in beiden Fällen mit dem Mythem der Nationalität zusammen. Die Autoren scheinen der Argumentationsweise Chateaubriands zu folgen,77 dass Toussaint als Franzose betrachtet werden muss. Einen Beleg für diese Ansicht sieht GragnonLacoste in der vermeintlichen Tatsache, dass Toussaint gegenüber Frankreich patriotische Gefühle sowie den dringenden Wunsch hegte, Franzose zu bleiben.78 Während Schoelcher zuvor noch darauf verwiesen hatte, dass Sklaven keinem Vaterland zugehörig seien, wird nun ersichtlich, dass sich Toussaint einem Frankreich verbunden fühlt, das die Sklaverei abgeschafft hat: „Toussaint-Louverture s’était montré inébranlablement attaché à la mère patrie lorsque l’Angleterre lui offrit de le couronner roi d’Haïti.“79 Allerdings sind durch die Union zwischen Frankreich und Toussaint nicht alle Probleme in der Kolonie beseitigt. Beide Autoren prangern das Überlegenheitsgefühl der Mulatten gegenüber den Schwarzen in Saint-Domingue an. Gragnon-Lacoste bezeichnet die Hautfarbe als Akzidens und plädiert für die Gleichheit aller Hautfarben: Les hommes de sang-mêlé manifestaient souvent devant lui des sentiments hostiles envers les soldats des régiments européens. […] En effet, si ceux-ci oubliaient qu’ils ne devaient la supériorité de leur couleur qu’à un simple effet de latitude […]; les premiers ne se faisaient pas plus faute de rendre la réciproque aux noirs, méconnaissant, en agissant ainsi, la souveraine Sagesse qui a permis qu’il y ait un trait d’union souvent imperceptible entre les hommes des différentes régions du globe, pour marquer que toutes les couleurs sont en étroite harmonie; [...] il est souverainement puéril de tirer vanité d’un accident, d’un caprice de la nature. [...] Cet oubli des lois divines et humaines va se montrer dans la guerre qui a reçu la qualification de Guerre du Sud.80 [Herv. i. O.] 76 77 78 79 80
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SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 224. Vgl. Kapitel 3.3.3. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 78, 167, 178, 189. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 303. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 208.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
Ebenso stellt sich Schoelcher gegen eine solche Superiorität, betont aber, dass Mulatten als Opfer dieser Politik der rassistischen Vorurteile zu werten sind, da ihnen von Geburt an vermittelt wurde, sie stünden über den Schwarzen: Ils étaient victimes de la démoralisation dans laquelle la servitude des nègres avait jeté la société coloniale. Ils se croyaient véritablement d’une race supérieure à celle de leur mère, de même que les blancs se figuraient être d’une race supérieure à celle de quiconque avait une goutte de sang nègre dans les veines.81
Die Schriftsteller weisen dem französischen General Hédouville die Schuld am Bürgerkrieg zwischen Schwarzen und Mulatten zu, da er den Anführer der Mulatten, Rigaud, beim Verlassen der Kolonie von jedwedem Gehorsam gegenüber Toussaint entband.82 Durch seine offene Rebellion gegen Toussaint löste Rigaud den Bürgerkrieg zwischen Mulatten und Schwarzen aus, weshalb er als Verbrecher dargestellt wird, während Toussaint als rechtmäßiger Anführer der Armee von SaintDomingue gilt.83 In beiden Werken wird betont, dass sich Toussaint nach dem Ende des Bürgerkriegs für ein Vergessen der Gräueltaten84 und eine schnelle Aussöhnung einsetzte, um wieder eine Einheit herzustellen.85 Dieser Einheitsgedanke Toussaints spiegelt sich ebenfalls in einem Weingleichnis wider, das Toussaint gemäß den Autoren verwendet hat, um die Untrennbarkeit aller Bewohner der Insel unter Beweis zu stellen. Das bisher u. a. von Lamartine aufgegriffene Maisgleichnis wird von Gragnon-Lacoste – der sich hierbei auf Dokumente von Isaac Lou-
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SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 92. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 204; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 245. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 218; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 245. Laut Gragnon-Lacoste erwiesen sich Toussaints Generäle Dessalines und Moyse gegenüber den Anhängern Rigauds bzw. gegenüber Weißen jedoch als sehr grausam. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 238. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 235f; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 267f.
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verture stützt – explizit als falsch zurückgewiesen.86 Als sich schwarze Arbeiter weigerten, weiterhin für Weiße und Mulatten zu arbeiten, soll Toussaint Wein und Wasser zusammengefügt und gefragt haben, wer beides jetzt wieder trennen könne. Seine Erkenntnis lautete: „Dieu veut que nous soyons tous de même inséparables, pour nous aimer les uns les autres.“87 Durch dieses Mythem findet abermals die den Biografien zugrunde liegende Botschaft der Gleichheit aller Menschen – unabhängig von ihrer Hautfarbe – Betonung und Toussaint wird als Gründer der Einheit in Saint-Domingue funktionalisiert. Zusätzlich nehmen Schoelcher und Gragnon-Lacoste ein neues88 Mythem in ihre Werke auf und zwar den mutmaßlichen Plan Toussaints, einen Feldzug in Afrika zur Abschaffung des dortigen Sklavenhandels zu führen. Das Vorhaben, von dem Toussaint angeblich schon lange Zeit träumte, wird von Gragnon-Lacoste als „un projet digne de son génie“89 sowie als „une idée de philanthropie et de charité chrétienne“90 bezeichnet. Er berichtet, dass Toussaint sogar bereits einen Geldgeber von seiner Idee überzeugen konnte,91 er diese aber insbesondere aufgrund der Expedition Leclercs niemals umsetzen konnte. Ebenso bedauert Schoelcher die Nichtrealisierung dieses Vorhabens: „Si les circonstances eussent permis à Toussaint de réaliser ce magnifique projet, peut-être, avec la puissance d’organisateur dont il était doué, était-ce la civilisation portée en Afrique.“92 Beide Autoren stilisieren Toussaint damit zu einem globalen Freiheitskämpfer, dem es 86
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Gragnon-Lacoste zeigt auf, dass das Maisgleichnis nur einer ungenauen Paraphrasierung einer Proklamation Toussaints geschuldet ist – einer Paraphrasierung, die auf Thiers und sein Geschichtswerk Histoire du Consulat et de l’Empire zurückgeht (vgl. THIERS, 1845b, S. 181f) und von Lamartine aufgenommen wurde. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 146f. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 396. Gragnon-Lacoste zitiert den gleichen Satz und lässt lediglich „de même“ wegfallen. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 148. Während Gragnon-Lacoste behauptet, dass er dieses Mythem zum ersten Mal aufzeigt (vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 202), merkt Schoelcher zurecht an, dass dieses Mythem bereits bei Saint-Anthoine im Jahr 1842 erwähnt wurde. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 401; SAINTANTHOINE, 1842, S. 28f. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 191. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 202. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 203. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 402.
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nicht nur um die Abolition der Sklaverei in Saint-Domingue ging, sondern der diese Errungenschaft weltweit verbreiten wollte. Befürworteten die Schriftsteller das bisherige Verhalten Toussaints weitestgehend und stellten Toussaint als loyalen, religiösen, intelligenten Mann dar, dessen Aufstieg von seinem Einheitsgedanken und dem Kampf für Freiheit geprägt war, so divergieren ihre Ansichten bezüglich jener Mytheme, die seinen allmählichen Niedergang beschreiben. Während Gragnon-Lacoste die 1801 entworfene Konstitution unterstützt, lehnt Schoelcher diese ab. Gragnon-Lacoste nennt die Verfassung – neben der Beendigung des Bürgerkriegs und der Einnahme des spanischen Teils der Insel93 – eines der bedeutendsten Projekte Toussaints.94 Er ist der Meinung, dass die Verfassung als Geschenk für den Ersten Konsul gedacht war und Toussaint vermutlich um die Freiheit der ehemaligen Sklaven bangte, da auf den Nachbarinseln immer noch Sklaverei herrschte.95 Einzig kritisiert er an diesem Projekt, dass Toussaint die Konstitution ohne Zustimmung Frankreichs in Kraft treten ließ, wodurch seine Gegner ihm nun Unabhängigkeitsbestrebungen zum Vorwurf machen konnten: „Les adversaires que lui a faits sa haute réputation, ont eu beau jeu de l’accuser, depuis, d’avoir ‹rêvé d’indépendance personnelle›, de s’être mis ‹en révolte ouverte contre la mère-patrie›.“96 Schoelcher97 hingegen spricht von Toussaints „détestable constitution“.98 Er wirft ihm vor, die Souveränität Frankreichs 93
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Durch die Inbesitznahme des spanischen Teils wollte Toussaint GragnonLacoste zufolge insbesondere den in dieser Hälfte der Insel florierenden Handel mit schwarzen Sklaven unterbinden. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 242f. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 247. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 258. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 263. Das Schreiben „Du Premier des Noirs au Premier des Blancs“ wird bei Schoelcher als Unsinn und als Erfindung von Weißen abgetan: „On a répété souvent que Toussaint, en écrivant à Bonaparte, intitulait ses lettres: Le premier des noirs au premier des blancs. […] C’est une invention de blancs trop désireux de ridiculiser un noir.“ SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 303f, Fußnote 3. [Herv. i. O.] Bei Gragnon-Lacoste findet das Schreiben keine Erwähnung, allerdings nennt er Toussaint an mehreren Stellen den „Premier des Noirs“ (beispielsweise GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 359) – eine Bezeichnung, die bereits im Titel seines Werkes zu finden ist. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 400.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
bezüglich der Kolonie infrage zu stellen, da die Konstitution einer Unabhängigkeitserklärung99 gleichkomme: „L’île y est toujours, il est vrai, respectueusement nommée ‹une colonie faisant partie de l’empire français›, mais [...] la souveraineté de la France est purement nominale“.100 Zwar gesteht Schoelcher Toussaint zu, dass dieser die Werte der Freiheit und Gleichheit vor Napoleon schützen wollte,101 aber er veranschaulicht anhand dieses Mythems vor allem, wie sich Toussaint durch die uneingeschränkte Macht zum Diktator entwickelte.102 Schoelcher macht ihm hauptsächlich die in der Konstitution stehende Wiedereinführung des Sklavenhandels (Artikel 17) sowie die Zwangsarbeit der ehemaligen Sklaven (Artikel 16) zum Vorwurf.103 Er ist der Auffassung, dass Toussaint nicht über ausreichend moralische Stärke verfügte, um sich von seiner Vergangenheit als Sklave zu lösen und nun selbst die jahrelang erfahrene Unterdrückung weitergab und zum Tyrannen wurde.104 Gragnon-Lacoste glaubt hingegen, in der Verfassung wie in all seinen Taten einen Beitrag zur Emanzipation der Schwarzen zu erkennen, wobei die mit der Konstitution einhergehenden Passagen zur Zwangsarbeit unerwähnt bleiben.105 Das Mythem spiegelt ebenfalls die Haltung beider Autoren zur Kolonialisierung in der Dritten Republik wider. Wie Laffitte verdammen sie zwar die Sklaverei als abscheuliches System, stellen aber die neue Kolonialexpansion Frankreichs nicht in-
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Bereits die Verhaftung von General Roume, dem Vertreter Frankreichs in Saint-Domingue, betrachtet Schoelcher als wahren Staatsstreich, der die Autorität Frankreichs auf der Insel gefährdete. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 286f. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 293. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 303. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 305, 312. Diese unterschiedliche Darstellung Toussaints wird durch das Mythem Moyse noch bekräftigt. Gragnon-Lacoste veranschaulicht die Diffizilität der Entscheidung, mit der sich Toussaint konfrontiert sieht, und befürwortet seinen Beschluss, den er auf dessen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zurückführt. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 268f. Für Schoelcher ist die Hinrichtung Moyses indessen ein treffendes Beispiel, das die zunehmende Rohheit, Tyrannei und Unbarmherzigkeit Toussaints offenbart. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 312. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 295-297. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. XXVI. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 247.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
frage und wenden sich daher entschieden gegen etwaige in Toussaints Konstitution innewohnende Unabhängigkeitsbestrebungen. Des Weiteren wird das Mythem des Waffenstillstands ungleich veranschaulicht, was wiederum zu einer unterschiedlichen Repräsentation Toussaints führt. Ein Dissens liegt bereits bei der Frage vor, wer den Waffenstillstand reklamierte: Gragnon-Lacoste zeigt anhand des Manuskripts von Isaac Louverture auf, dass Leclerc einen Waffenstillstand mit Toussaint schließen wollte, der Krieg vermeintlich aus einem Missverständnis heraus entstanden sei und Toussaint keine Schuld daran trage.106 Demgegenüber macht Schoelcher deutlich, dass es Toussaint war, der Leclerc Verhandlungen über einen Waffenstillstand anbot, als die allmählichen Übertritte seiner Generäle auf die Seite Frankreichs – die Schoelcher als gerechte Strafe für Toussaints Despotismus ansieht – ihn zu diesem Schritt zwangen: Toussaint trouva là le châtiment de son despotisme. […] Le régime qu’il avait fait peser sur l’île entière lui avait aliéné le cœur de tous les hommes intelligents. Il était craint, il n’était plus aimé. […] Il était soutenu par la conviction de défendre la liberté en péril; mais il dut s’avouer que, tout en pouvant prolonger la lutte, il ne pourrait en sortir vainqueur. Il résolut d’y mettre un terme.107
Während Gragnon-Lacostes Toussaint nach der Schließung des Waffenstillstands sein ruhiges, zurückgezogenes Leben auf der Plantage genoss,108 zeigt Schoelcher – rekurrierend auf Lacroix – auf, dass dieser im Hintergrund weiter konspirierte, den Kampf wiederaufnehmen wollte und sich somit nicht an die Vereinbarungen des Waffenstillstands hielt: „Il était dans le caractère de Toussaint de n’avoir pas brûlé ses vaisseaux et de penser à reprendre les armes.“109 Daraus resultiert auch die divergierende Sichtweise des Mythems der Gefangennahme. Da sich Gragnon-Lacostes Toussaint ohne konspirative Absichten auf seine Plantage zurückgezogen und das Waffenstillstandsabkommen damit nicht verraten hatte, trägt er keine Mitschuld an
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Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 323f. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 338f. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 338. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 348.
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seiner Gefangennahme.110 Anhand des Manuskripts von Isaac Louverture wird aufgedeckt, dass die Franzosen Toussaint erst aufgrund einer Intrige Dessalines’ eine Falle stellten.111 Schoelcher hingegen beschreibt, dass die Franzosen sowie seine ehemaligen Generäle davon ausgingen, dass Toussaint diesem Waffenstillstand nicht ohne Hintergedanken zugestimmt hatte, und daher seine Deportation reklamierten. Die Festnahme scheint Schoelcher zufolge damit einerseits berechtigt zu sein, andererseits führt er Verrat als Gegenargument an: „Un général, le général Brunet, se chargea de l’arrêter par trahison. Honteux office.“112 Laut Gragnon-Lacoste wurde Toussaint vor der Falle gewarnt, aber er stellte sein Vaterland heroisch über sein persönliches Wohlergehen.113 Schoelcher zeigt die Möglichkeit einer solchen Warnung auf, betont aber hauptsächlich den moralischen Stoizismus Toussaints, als dieser sich bewusst wurde, dass er der Falle nicht mehr entrinnen konnte.114 Während Gragnon-Lacoste das Handeln Toussaints uneingeschränkt unterstützt, beleuchtet Schoelcher zudem die Ambivalenzen in Toussaints und Frankreichs Verhalten. Der nach der Deportation Toussaints115 wiederaufflammende Widerstand wird in den Toussaint-Biografien auf unterschiedliche Weise beschrieben. In Gragnon-Lacostes Werk wird eine mögliche Wiedereinführung der Sklaverei außer Acht gelassen; die ehemaligen Generäle Toussaints kämpften aus Gründen der Empörung, Rache und Verzweiflung, die durch dessen Gefangennahme ausgelöst wurden: „Une multitude effarée qui le suivait, faisait retentir les collines de ses cris d’indignation, de vengeance et de désespoir: tous redemandaient leur père...“116 Interessanterweise stellt Gragnon-Lacoste die an den ehemaligen Anhängern Toussaints begangenen Grausamkeiten in den Vordergrund, ohne allerdings dafür die Franzosen an den Pranger zu stellen. Zwar wird angemerkt, dass es sich um einen Auftrag Leclercs handelte, 110 111 112 113 114 115
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Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 339. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 340-345. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 348. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 343. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 349. In beiden Werken wird die Wurzelmetapher Toussaints zitiert, wodurch die grundlegende Bedeutung der Freiheit für Toussaint erneut betont wird. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 352; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 349. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 350.
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aber die Verbrechen werden den beiden ehemaligen Generälen Toussaints, Dessalines117 und Christophe, angelastet, die als infernalische Verräter instrumentalisiert werden.118 Ebenso betont Schoelcher vornehmlich die von Europäern begangenen Schandtaten, die ihm zufolge jene der Aufständischen bei Weitem übertreffen.119 Während der Freiheitskampf der Anhänger Toussaints justifiziert und heroisiert wird, wird der Versuch der Wiedereinführung der Sklaverei scharf verurteilt, und es kommt durch die Veranschaulichung des Massakers an den Rebellen – u. a. das Zerfleischen durch Hunde oder das Ertränken im Meer – zu einer Dämonisierung der Franzosen: „Dans cet amas d’atrocités, quel parti viola le plus les lois de la morale et de l’humanité: celui des civilisés qui se souillent de tous les crimes pour soumettre des hommes à la servitude, ou celui des barbares qui défendent leur liberté?“120 Die moralischen und physischen Qualen Toussaints in seinem französischen Gefängnis Fort de Joux, die ihm gemäß der Autoren aufgrund der ihm zur Last gelegten Verbrechen zugefügt wurden, kritisieren beide.121 Zwar erklären sie, dass Toussaint letztendlich an einem Hirn-
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Wie bereits durch das Mythem der Gefangennahme dargelegt wurde, verriet Dessalines Toussaint an die Franzosen. Auch sonst wird er im Buch als bösartig und gewalttätig sowie als erbitterter Feind der Weißen und Mulatten beschrieben. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 238, 268. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 351. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 371. Bereits in seinem Vorwort macht Schoelcher klar, dass die Weißen die Schwarzen in ihrer Grausamkeit übertrafen und die Schwarzen bei ihrem Freiheitskampf alle heroischen Tugenden mit sich brachten: „A Saint-Domingue, la race blanche a été plus atroce dans ses efforts à maintenir la race noire sous le joug avilissant de la servitude que la race noire dans tout ce qu’elle a fait pour se venger. La vérité est que si les nègres, lorsqu’ils furent esclaves en révolte, ont commis des crimes horribles, comme les révoltés de tous les pays, de toutes les couleurs et de tous les temps, ces nègres, devenus soldats, ont montré, en conquérant leur liberté, toutes les vertus de l’héroïsme.“ SCHOELCHER, [1889] 1982, S. XXVIII. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 374. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 363; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 356. Gragnon führt die schlechten Haftbedingungen auch auf den dringenden Wunsch der Franzosen zurück, sich des Schatzes Toussaints zu bemächtigen, wobei die Existenz eines Schatzes bei beiden Autoren negiert wird. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 379; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 356.
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schlag gestorben sei,122 aber sie sind dennoch der Ansicht, dass Toussaints Tod durchaus als Mord – Schoelcher spricht sogar von einem besonders abscheulichen Mord – betrachtet werden kann, da er durch die in der Zelle herrschende Kälte und die schlechte Behandlung herbeigeführt wurde.123 Während Gragnon-Lacoste allgemein von einem grausamen System spricht, macht Schoelcher explizit Napoleon für die Humiliationen und den Tod Toussaints verantwortlich.124 Das heroische Verhalten Toussaints angesichts seines Todes wird von beiden Schriftstellern bewundernd hervorgehoben. Gragnon-Lacoste würdigt, dass Toussaint wie ein „soldat d’honneur“125 gestorben sei, und Schoelcher betont, dass Toussaint in aller Stille gelitten habe: „Si éprouvé qu’il fût par la torture du froid et par la maladie, il garda le silence.“126 Diesen Stoizismus stellt Schoelcher – wie bereits Balzac und Laffitte – den würdelosen Lamentationen Napoleons127 im Exil diametral gegenüber: […] entouré d’une maison princière, libre de parcourir l’île entière où il [Bonaparte] était confiné, il se lamentait misérablement à propos de ses titres, de ses promenades, de ses rideaux et de sa vaisselle; sans respect pour la hauteur de la position d’où il était tombé, ni pour l’opinion de l’Europe qui le regardait, il poussait de longs gémissements sur sa captivité.128
Gragnon-Lacoste weist indessen auf die Parallelen zwischen Toussaint und Napoleon hin, die beide den Zerfall ihres Ruhmes in Gefangenschaft auf einem Felsen miterleben mussten, und scheint damit die ausgleichende Gerechtigkeit hervorheben zu wollen: „[…] il reste un fait positif, c’est que Toussaint-Louverture expia sa gloire sur un rocher 122 123 124 125 126 127
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Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 383; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 357. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 358, Fußnote 1; SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 357. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 352. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 283. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 359f. Wie schon Chateaubriand prangert er außerdem an, dass Napoleon sich auf Werte und Gesetze berief, die er zuvor selbst mit Füßen getreten hatte. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 360f. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 360.
Das lange Verschweigen Toussaint Louvertures
glacé du Jura, comme Napoléon prisonnier rendit son grand nom au néant sur le rocher de Sainte-Hélène...“129 Auffällig ist, dass die Repräsentation Napoleons in den Werken unterschiedlich ausfällt. Während Napoleon bei Schoelcher eine explizite Dämonisierung erfährt, ist die Instrumentalisierung des Ersten Konsuls bei Gragnon-Lacoste von Ambivalenz geprägt. Einerseits verurteilt er das Verhalten Napoleons gegenüber Toussaint und bezeichnet ihn als Despoten, der Toussaint vernichtete, damit er seinem Ruhm nicht im Wege stand.130 Ferner verurteilt er die „politique ténébreuse du premier consul“131 und stellt Toussaint über Napoleon, indem er rekurrierend auf Chateaubriand behauptet, Napoleon habe Toussaint imitiert und nicht umgekehrt.132 Andererseits kritisiert er die Wiedereinführung der Sklaverei nicht ausdrücklich und Napoleon figuriert bei ihm nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer: „[…] nos souvenirs nous reportent vers ce rocher de Sainte-Hélène où gémit à son tour dans les fers une autre grande victime des temps modernes.“133 Zwar wird Napoleon bei Schoelcher ebenfalls nicht als direkter Widerpart Napoleons inszeniert, dennoch äußert der Autor seine Verachtung für den Ersten Konsul unmissverständlicher. Napoleon wird als ein von Vorurteilen befangener Mann, der den Schwarzen Missachtung entgegenbrachte und seine eigenen Interessen über jene des Vaterlands stellte, präsentiert.134 Vor allem wird ihm sein Versuch der Wiedereinführung der Sklaverei in Saint-Domingue zum Vorwurf gemacht.135 Schoelcher kommt zu dem Schluss, dass Napoleons Herrschaft Frankreich um hundert Jahre zurückgeworfen habe.136 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Laffitte, Gragnon-Lacoste und Schoelcher Toussaint Louverture auf die gleiche Art und Weise funktionalisieren und zwar als herausragendes Beispiel und Symbol für die Gleichheit der Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe. Den drei Autoren scheint es vor dem Hintergrund der Kolonialisie129 130 131 132 133 134 135 136
GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 384. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. VI. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 280. Vgl. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 266f. GRAGNON-LACOSTE, 1877, S. 369. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 305, 314. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 374, 379. Vgl. SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 318.
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rungswelle der Dritten Republik und der damit einhergehenden massiven Kolonialpropaganda von elementarer Bedeutung zu sein, die 1848 endgültig abgeschaffte Sklaverei sowie das weiterhin vorhandene Superioritätsgefühl der Weißen und die virulenten Rassismen scharf zu verurteilen. Die Autoren stellen die Kolonisierung per se jedoch nicht infrage und stehen der neuen Kolonialexpansion Frankreichs nicht entgegen. Sie scheinen allerdings mit ihren Werken verhindern zu wollen, dass die der Kolonialisierung anhaftende Mission der Erziehung und Zivilisierung auf dem gegenüber anderen Rassen empfundenen Minderwertigkeitsgefühl fußt und insistieren zu diesem Zweck anhand der Figur Toussaint, dass Schwarze Weißen nicht unterlegen, sondern durchaus ebenbürtig sind. Dennoch wird deutlich, dass sich die Schriftsteller von der damals üblichen Einteilung der Menschen in Rassen noch nicht distanzieren können. Bei Gragnon-Lacoste und Schoelcher wird Toussaint als ein intelligenter, religiöser, loyaler Mann dargestellt, der von der Aufklärung beeinflusst wurde und sich für die allgemeine Freiheit einsetzte. GragnonLacoste hebt Toussaint von den anderen Aufständischen, die er als grausame Verbrecher beschreibt, deutlich ab, wohingegen Schoelcher ebenso die übrigen Rebellen sowie den Gebrauch von Gewalt rechtfertigt. Toussaints Zusammenarbeit mit Frankreich nach der Abschaffung der Sklaverei von 1794 findet große Anerkennung, und er wird von den Autoren als Franzose erachtet. In den Biografien wird Toussaint als Freiheitsheld gepriesen, der stets um die Schaffung einer Einheit in Saint-Domingue bemüht war, den Wert der Freiheit darüber hinaus in die Welt tragen wollte und damit gar zum globalen Freiheitskämpfer stilisiert wird. Beide Autoren setzen sich mit den Texten der Augenzeugen auseinander, wobei Gragnon-Lacoste jegliche negative Darstellung Toussaints, die nicht mit seinem glorifizierten Bild Toussaints übereinstimmt, als Diffamation des schwarzen Helden zurückweist und somit stark wertend vorgeht, um dem Leser einen makellosen Helden zu präsentieren. Schoelcher hingegen versucht, ein objektiveres und damit ambivalenteres Bild des ehemaligen Sklavenführers zu zeichnen und hebt zudem negative Aspekte des Mythos hervor, ohne jedoch dadurch seine große Bedeutung infrage zu stellen.137 Nach Toussaints Erlass ei137
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„Que l’on aime ou qu’on n’aime pas son caractère, que l’on doive lui reprocher de n’avoir pas toujours été bon, on ne peut s’empêcher de recon-
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ner Verfassung, die der Abolitionist aufgrund der enthaltenen Gesetze zum Sklavenhandel und zur Zwangsarbeit sowie der innewohnenden Unabhängigkeitsbestrebungen als verabscheuungswürdig deklariert, zeichnet Schoelcher einen Prozess zum Despoten und Tyrannen. Allerdings legt er diese Entwicklung der Sklaverei zur Last, da Toussaint von diesem System stark geprägt war und sich gedanklich nicht von ihm lösen konnte. Schoelcher und Laffitte prangern explizit die Franzosen und Napoleon für die an Toussaint und die nach dessen Deportation an den Insurgenten begangenen Taten an, während Gragnon-Lacoste die anderen schwarzen Anführer zu den Verrätern Toussaints erklärt. Zudem wird Napoleon bei Gragnon-Lacoste zum Sujet einer ambivalenten Instrumentalisierung, denn einerseits wird er als Despot und andererseits als Opfer dargestellt. Gragnon-Lacoste versucht, das Unmögliche zu realisieren: Eine Glorifizierung Toussaints und die Verurteilung der Sklaverei, die ja erst von Napoleon wieder in Saint-Domingue eingeführt werden sollte, ohne eine damit einhergehende Dämonisierung Napoleons. Dazu grenzt er Toussaint von den anderen als verräterisch und grausam dargestellten Aufständischen ab und bringt die Sklaverei in Zusammenhang mit der Expedition nicht direkt zur Sprache. Schoelcher und Laffitte hingegen verurteilen die von Napoleon befohlene Expedition und vor allem den damit verbundenen Versuch, die Sklaverei wiedereinzuführen, wodurch Napoleon zum grausamen und niederträchtigen Despoten wird. Auch wenn Gragnon-Lacoste nicht wie Schoelcher und Laffitte massive Kritik an seinem Vaterland und Napoleon übt, beeinträchtigt dies die Hauptbotschaft nicht, und es kommt in allen drei Schriften die Kritik an Sklaverei und Rassismus sehr markant zum Ausdruck. Die Autoren greifen die Kolonisierung sowie die Einteilung der Menschheit in Rassen zwar noch nicht an, aber dennoch können sie als Vorreiter der Werke Césaires, Dadiés und Glissants betrachtet werden. Toussaint wird in einer Zeit, in der er hauptsächlich dem Vergessen anheimfiel, in drei Werken als globaler Freiheitskämpfer gepriesen und vor allem zum naître que toute sa vie démontre un esprit vraiment supérieur. Il a fait de grandes choses, il a bien mérité de la France, il a été utile. Ce sont là des titres à l’admiration de tous, et le vieux nègre de l’habitation Breda sera toujours rangé parmi les hommes dont l’existence a honoré l’espèce humaine.“ SCHOELCHER, [1889] 1982, S. 402.
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Symbol für die Gleichheit der Menschen aller Hautfarben transformiert. Der in der Romantik erfolgte Rollentausch der beiden historischen Figuren, der Toussaint zum Freiheitskämpfer und Napoleon zum Unterdrücker machte, wird beibehalten. Die in jener Epoche erfolgte Transformation der Nationalität Toussaints vom Afrikaner zum Franzosen und schließlich zum Haitianer wird in der Dritten Republik wieder umgekehrt und Toussaint wird wie bei Chateaubriand als Franzose betrachtet. Vor dem historischen Kontext des Hochimperialismus kann Toussaint nicht mehr als Haitianer dargestellt werden, da dies der Kolonialexpansion der Dritten Republik und der Eroberung neuer Territorien sowie der in den Werken eingeschriebenen Verurteilung von Unabhängigkeitsbestrebungen diametral entgegenstünde.
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Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
3.5 Toussaint als S ymbolfigur der Antikolonialismusbew egung Bei den vorangegangenen Betrachtungen ist auffällig, dass die meisten Rezeptionszeugnisse des Toussaint-Mythos bisher von weißen Schriftstellern stammten und die Ereignisse aus europäischer Sicht dargestellt wurden.1 Rekurrierend auf Roland Barthes zeigt Bremer auf, dass in dieser Zeit von einer „kollektiven écriture blanche“2 [Herv. i. O.] gesprochen werden kann und eine eigene Ausdrucksweise erst durch die Négritude-Bewegung gelang.3 Nach dem jahrelangen Vergessen des Mythos wandten sich im Rahmen der Antikolonialismusbewegung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zunehmendem Selbstbewusstsein schwarze Schriftsteller aus den Départements d’Outre-Mer sowie aus Côte d’Ivoire der Rezeption des ehemaligen Sklavenführers zu, was einem Perspektivwechsel gleichkam, da Toussaint nun mit den Augen von Schriftstellern aus ehemals von Frankreich kolonialisierten Ländern betrachtet wurde. In diesem Kapitel werden die Werke der aus Martinique stammenden Schriftsteller Aimé Césaire und Édouard Glissant4 sowie des Ivorers Bernard Binlin Dadié betrachtet und auf ihre Funktionalisierung Toussaints untersucht. Die Autoren Césaire und Glissant, die auch mit ihren theoretischen Schriften5 einen Beitrag zur Dekolonialisierung leis1 2 3
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Vgl. BREMER, 1982, S. 336. BREMER, 1982, S. 336. Vgl. BREMER, 1982, S. 337. Der Wandel begann laut Bremer und Jahn bereits mit den Toussaint Louverture-Dramen der haitianischen Autoren Massillon Coicou und Vendenesse Ducasse, wobei diese sich noch nicht gänzlich von der weißen Schreibweise lösen konnten. Vgl. BREMER, 1982, S. 336f; JAHN, 1966, S. 126f. Der aus Martinique stammende Raphaël Tardon, der zu den bedeutendsten antillanischen Schriftstellern zählte, die die Négritude-Bewegung abgelehnt haben, da sie ihnen zufolge eine andere Art des Rassismus förderte, und dessen Schriften für Martinique eine große Bedeutung haben, schrieb bereits 1951 – noch vor Césaire und Glissant – einen Roman über den haitianischen Helden: Toussaint Louverture: le Napoléon noir. Allerdings war auch er noch sehr der weißen Schreibweise verhaftet und schuf mit diesem Werk lediglich eine mittelmäßige Biografie über Toussaint Louverture. Vgl. CORZANI, 1978c, S. 129, 162f. Césaire stieß mit seinem Discours sur le colonialisme (1950) die modernen Kolonialismusdebatten an. Auch Glissant setzte sich u. a. in Le dis-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
teten,6 befassten sich in einem für sie untypischen Genre mit dem haitianischen Nationalhelden.7 Bei dem vor allem als Lyriker bekannten Césaire fand Toussaint nicht nur in Cahier d’un retour au pays natal (1939) Erwähnung, sondern er widmete ihm auch einen kompletten Essay, Toussaint Louverture. La révolution française et le problème colonial (1960), der insbesondere durch das Werk The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution des aus Trinidad stammenden marxistischen Theoretikers und Schriftstellers Cyril Lionel Robert James inspiriert wurde.8 Der Romanschriftsteller, Dichter und Essayist Glissant hingegen setzte sich in dem Theaterstück Monsieur Toussaint (1961/1978) mit dem Toussaint-Mythos auseinander. Zudem befasste er sich in seinen Gedichtbänden Les Indes (1965) und La cohée du Lamentin (2005) mit dem haitianischen Revolutionsführer. Der ivorische Schriftsteller Bernard Binlin Dadié griff die Thematik um Toussaint Louverture in seinem Werk Iles de tempête (1973) auf. Diese intensive Beschäftigung mit dem Toussaint-Mythos dürfte insbesondere auf Haitis frühe und durch eine Revolution erreichte Unabhängigkeit zurückzuführen sein, die den anderen ehemaligen Kolonien als Vorbild diente. Wie Césaire bereits in Cahier d’un retour du pays natal erklärte, habe sich die Négritude in Haiti zum ersten Mal gezeigt: „Haïti où la négritude se mit debout pour la première fois et dit qu’elle croyait à son humanité“.9 Aufgrund der vielfachen Auseinandersetzung mit dem haitianischen Freiheitskämpfer wurde den antillanischen Autoren bisweilen ein soge-
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cours antillais (1981) und Traité du tout-monde (1997) mit den Problemen der Dekolonialisierung auseinander. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 332. Vgl. ANTOINE, 1992, S. 96. The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution, das 1938 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, wurde zu einem der bekanntesten historiografischen Werke über die Haitianische Revolution. Allerdings konnte weder die Veröffentlichung der französischen Übersetzung des historiografischen Werks von C.L.R. James im Jahr 1949 noch die Veröffentlichung des Essays von Aimé Césaire das bezüglich der Haitianischen Revolution und Toussaint Louverture in der französischen Historiografie herrschende Schweigen brechen. Vgl. TROUILLOT, 1995, S. 102; Kapitel 1.2.2. CÉSAIRE, [1939] 1996, S. 52.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
nannter ‚Toussaint-Komplex‘ unterstellt wie Glissant veranschaulicht.10 Allerdings macht er deutlich, dass diese konstante Thematisierung nicht mit dem Nichtvorhandensein eigener Helden zu erklären sei, sondern ein historisches Phänomen darstelle, da schließlich Toussaint ein Teil des kollektiven antillanischen Bewusstseins sei.11 Die literarische Rezeption des Toussaint-Mythos muss im Kontext der Dekolonialisation und der Identitätssuche der antillanischen Inseln als auch der Republik Côte d’Ivoire betrachtet werden, die im Gegensatz zu Haiti gar nicht bzw. erst sehr spät ihre Unabhängigkeit erlangten. Nachdem der Zweite Weltkrieg durch den zeitweiligen Machtverfall Frankreichs sowie den Beitrag der Kolonisierten zum Sieg der Alliierten die Stärkung der Emanzipationsbewegung gefördert hatte, propagierte de Gaulle 1944 bei der Kolonialkonferenz in Brazzaville die Liberalisierung des französischen Kolonialreichs. In der Verfassung der IV. Republik wurde im Zuge der Dekolonisation in der Präambel die Union française festgehalten, die zum Ziel hatte, das Kolonialreich in ein Commonwealth of Nations nach britischem Vorbild umzugestalten. Wenn in der Präambel auch die Gleichheit der Rechte und Pflichten proklamiert wurde, blieb die politische Handlungsfreiheit der Kolonisierten sehr beschränkt. Die Verfassung konnte auch keine einheitliche Verwaltungsstruktur der Kolonien schaffen.12 Während Côte d’Ivoire als Teil Französisch-Westafrikas unter der Verwaltung des Überseeministeriums stand, wurden Martinique sowie Guadeloupe, FranzösischGuayana und La Réunion durch die loi de départementalisation vom 19. März 194613 zu französischen Departements deklariert, die somit zu einem integralen Bestandteil Frankreichs wurden und daher nunmehr dem Innenministerium unterstanden. Die Bewohner aller dieser Kolonien galten, im Gegensatz zu den assoziierten Territorien und Staaten, als Bürger der französischen Republik.14 Während sich Aimé Césaire in seiner Funktion als Politiker zunächst für die Departementalisierung starkmachte, sehr bald nach deren Umsetzung aber desillusioniert war, sprach sich Édouard Glissant ge10 11 12 13 14
Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 231-234. Vgl. LOTH, 1987, S. 152-154. Vgl. ASSEMBLÉE NATIONALE, 1946. Vgl. LOTH, 1987, S. 154.
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gen die Eingliederung der Insel als Departement und für eine Unabhängigkeit von Frankreich aus.15 Laut Forsdick bringen die beiden Autoren aus Martinique mit ihren Werken über Toussaint ihre Ängste bezüglich der Departementalisierung zum Ausdruck.16 Im Herbst 1946 gründete Félix Houphouët-Boigny, ein ivorischer Abgeordneter, der später der erste Präsident Côte d’Ivoires werden sollte, mit der RDA (Rassemblement démocratique africain) eine Sammelbewegung für ein unabhängiges Afrika, deren Handeln bis 1951 verfolgt wurde. Im Jahr 1956 wurde den afrikanischen Kolonien durch das Rahmengesetz für die Überseeterritorien17 eine Halb-Autonomie gewährt. Dennoch wurde die Vorrangstellung Frankreichs in diesen Kolonien durch die Verfassung der V. Republik von 1958,18 in der die Union française durch die Communauté française ersetzt wurde, nochmals festgeschrieben.19 Erst 1960 erhielt Côte d’Ivoire, das 1893 zur französischen Kolonie erklärt worden war, seine Unabhängigkeit, wobei Frankreich versuchte, seine wirtschaftlichen und politischen Einflussmöglichkeiten zu wahren.20 Dadiés Renarration des Toussaint-Mythos muss vor dem Hintergrund der bis 1960 bestehenden Kolonialisation seines Heimatlandes betrachtet werden. Wie auch die Werke Césaires und Glissants setzt sich Dadiés Theaterstück mit der damaligen Gegenwart und zwar insbesondere mit der Schwierigkeit der Dekolonialisierung und der Gefahr des Neokolonialismus auseinander. Mit ihren literarischen MythosRezeptionen sorgten die frankophonen Autoren dafür, dass der ehemalige Sklavenführer wieder einen Weg zurück in die Literatur fand und mit der Rückeroberung eines Platzes im kollektiven Gedächtnis Frankreichs beginnen konnte.
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Vgl. Kapitel 2.3. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 332. Vgl. LEGIFRANCE, 1956. Die Loi-cadre Defferre wurde vom damaligen Minister für die Überseegebiete, Gaston Defferre, und Félix HouphouëtBoigny initiiert und am 23. Juni 1956 von der Französischen Nationalversammlung angenommen. Vgl. CONSEIL CONSTITUTIONNEL, 1958. Vgl. LOTH, 1987, S. 162f. Vgl. LOTH, 1987, S. 163.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
3.5.1 Toussaint als Vorreiter und Gründer der ersten schwarzen Nation (Césaire) Im Jahr 1931 kam Aimé Césaire zur Vollendung seines Studiums nach Paris, wo er auf Léopold Sédar Senghor aus dem Senegal und Léon Damas aus Französisch-Guayana traf, mit denen er gemeinsam die literarische Négritude-Bewegung gründete.1 Solche Reisen in die Hauptstadt, die in den Augen der Regierung den Höhepunkt der Integration der Kolonisierten markieren sollten, vereinten in den 1930er Jahren Studenten aus verschiedenen Kolonien in Paris. Diese wurden sich der Unterdrückung durch die westliche Kultur bewusst, stellten sie infrage und forderten eine wahre Gleichstellung.2 Daraus entstand eine paradoxe Situation, die Raoul Girardet wie folgt beschreibt: Ainsi étaient-ce ceux-là même en qui semblaient s’incarner les plus indiscutables réussites de la politique d’assimilation et de la mission ‹éducatrice› de la colonisation, ces universitaires, ces agrégés, qui proclamaient bien haut leur volonté de récuser le modèle occidental de civilisation.3
Die Ablehnung der angeblichen Superiorität der westlichen Kultur und die Forderung nach kultureller Identität und Selbstbehauptung der afrikanischen Bevölkerung sind in Césaires lyrischem Werk Cahier d’un retour au pays natal, an dem er von 1938 bis 1939 schrieb und das 1939 in der Zeitschrift Volontés zum ersten Mal veröffentlicht wurde, erkennbar. Bereits in diesem Gedicht rekurriert Césaire auf Toussaints Tod in seinem Gefängnis im schneebedeckten Juragebirge und die Stille, die mit seinem Tod einhergeht. Das Interesse, das Césaire Haiti im Allgemeinen4 und dem haitianischen Freiheitskämpfer im Besonderen entgegenbrachte, zeigt sich schließlich vor allem in dem 1960 veröf-
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Vgl. zu Césaire und seinem Beitrag zur Dekolonialisierungsdebatte Kapitel 2.3. Vgl. MURPHY u. a., 2004, S. 70, 72. GIRARDET, [1972] 2007, S. 250. Im Jahr 1963 veröffentlichte Césaire des Weiteren ein Stück mit Bezug zu Haiti, in dem Henri Christophe die Hauptrolle spielt: La Tragédie du Roi Christophe.
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fentlichten Essay Toussaint Louverture. La révolution française et le problème colonial. Die Tatsache, dass sich der als Lyriker bekannte Aimé Césaire zugunsten von Toussaint Louverture einer anderen Gattung – dem Essay – zuwandte, zeugt von der Bedeutung, die dieser ehemalige Sklavenführer für ihn hatte.5 Toussaint, den Césaire zur Ikone der Négritude-Bewegung und zur Gründerfigur eines neuen postkolonialen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses erhob, schien sein bevorzugter Held gewesen zu sein.6 Picanço verweist auf die Parallelen zwischen dem politischen Verhalten Toussaints und Césaires gegenüber Frankreich, denn wie Césaire durch die Befürwortung der loi de départementalisation lehnte auch Toussaint die Forderungen nach einer Unabhängigkeit von Frankreich ab. Picanço folgert daher, dass sich Césaire in Toussaint selbst wiederfand.7 Ebenso ist Corzani der Meinung, dass dieses Werk am deutlichsten die Persönlichkeit sowie das persönliche Drama Césaires umreißt.8 Der Essay ist in drei Bücher unterteilt, wobei sich das erste Buch mit der Revolte der grands blancs, das zweite mit dem Aufstand der Mulatten und das dritte mit der Revolution der Schwarzen auseinandersetzt. Wie bereits der Titel des Werkes erahnen lässt, steht Toussaint im Zentrum des Essays, wodurch der Erinnerung an den beinahe 100 Jahre lang vergessenen Toussaint-Mythos in Frankreich neues Leben eingehaucht wird. Es werden beinahe alle Mytheme aufgenommen – mit Ausnahme jener,9 die mit Toussaints Kindheit und seiner Zeit als Sklave in Zusammenhang stehen. Wenngleich diese Mytheme auch keine Erwähnung finden, so wird dennoch hervorgehoben, dass Toussaint einer der wenigen Sklaven war, die Lesen und Schreiben lernten, und dass er über einen ausgezeichneten Intellekt verfügte: „Agé de quarante-huit ans, sachant lire et écrire, il jouissait parmi les siens d’un prestige certain, dû aussi bien à la fermeté de son caractère qu’à sa supériorité
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Vgl. FORSDICK, 2008, S. 332. Vgl. CORZANI, 1978a, S. 330f. Vgl. PICANÇO, 2001, S. 35f. Vgl. CORZANI, 1978a, S. 330f. Die Mytheme der königlichen Abstammung, der Prophezeiung Raynals, Toussaints Darstellung als Fatras-Bâton sowie die Rettung seines Verwalters fallen bei Césaire weg.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
intellectuelle.“10 Diese Fähigkeiten verhalfen Toussaint, den Césaire an einer weiteren Stelle als Genie bezeichnet,11 zu großem Ansehen innerhalb der Gemeinschaft. Neben seinen intellektuellen werden auch seine militärischen Fähigkeiten gepriesen.12 Sein Beitritt zu den aufständischen Truppen, seine Rolle als Medizinmann13 sowie sein Pakt mit den Spaniern werden im Essay aufgegriffen. Es wird betont, dass es Toussaint bei dieser Allianz allein um den Schutz durch die Großmacht Spanien ging und seine Loyalität nicht den Spaniern galt: Alliance paradoxale de toute évidence, provisoire probablement. Mais enfin une alliance. C’est ce que supputèrent les nègres. Et sagement. Quoi qu’il en soit, l’alliance espagnole se révéla tout de suite payante. [...] Toussaint, à travers toutes les étapes intermédiaires et les compromis imposés par le développement historique, ne perdit jamais de vue le but final: la libération des nègres.14
Césaire lastet Toussaint keinen Verrat an Frankreich an, sondern rühmt sein hohes Ziel der Befreiung der Schwarzen. Dass bei dieser Allianz auch royalistische Gedanken eine Rolle spielten, weist Césaire strikt zurück.15 Stattdessen wird die revolutionäre und veritable Devise Toussaints in den Vordergrund gerückt: „Nous n’aurons jamais d’autre devise: vaincre ou mourir pour la Liberté!“16 Dieser Freiheitsgedanke gab laut Césaire auch den entscheidenden Impuls für den Schulterschluss mit den Franzosen.17 Nachdem Toussaint ein Überlaufen zunächst mehrmals abgelehnt hatte, löste die Verkündigung der Abschaffung der Sklaverei durch Sonthonax schließlich den Wechsel der Aufständischen auf die Seite Frankreichs aus: „Sans ressources sans alliés, en butte à la guerre étrangère comme à la guerre civile, il [Sonthonax] prit
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 194. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 311. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 292. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 198. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 208. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 198f. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 196. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 208.
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l’initiative que Toussaint attendait de lui: le 29 août 1793, dans une proclamation retentissante, il proclama l’abolition de l’esclavage“.18 Césaire zählt noch weitere positive Effekte auf, die der Übertritt Toussaints auf die Seite der Franzosen mit sich brachte, wie beispielsweise die Beseitigung seiner Konkurrenten sowie die solide Ausgangsbasis, die er sich für seine zukünftigen Handlungen schuf: Il est facile de voir tout ce que le ralliement à la France rapportait à Toussaint. Et d’abord la ‹liberté générale›. Puis d’être débarrassé de la concurrence infatuée de Jean-François, comme de la tutelle imbécile de Biassou. Et plus encore, une base territoriale solide, point de départ stratégique pour toute action future.19
Diese Gründe, die Toussaint ebenfalls zu einem Seitenwechsel motivierten, schmälern laut Césaire sein Verdienst jedoch nicht, da Toussaint ohne jeden Zweifel ein Verfechter des Abolitionismus war und das Ziel der Freiheit für alle stets vor Augen hatte. Hinsichtlich eines Übertritts zu den Engländern urteilt Césaire, dass Toussaint Louverture zwar die Krone Haitis und somit die Unabhängigkeit der Kolonie mit Unterstützung Englands ablehnte, der mit dem englischen General Maitland am 31. August 1798 unterzeichnete Friedensvertrag jedoch einen ersten Schritt in Richtung Unabhängigkeit darstellte: Ainsi donc une colonie française, Saint-Domingue, signait avec l’Angleterre, toujours en guerre contre la France, un traité de paix séparée. Le traité de la Pointe Bourgeoise, c’est le premier acte d’indépendance de Haïti. Les Anglais tentèrent d’aller plus loin encore. Ils offrirent à Toussaint de proclamer franchement l’indépendance de l’île et lui proposèrent la couronne de Haïti. Toussaint, avec beaucoup de dignité, refusa.20
Dieser gesonderte Friedensvertrag mit dem Feind des Mutterlands kam einer Ablehnung der französischen Autorität gleich, worin Césaire be18 19 20
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 212. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 225. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 259.
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reits die Grundlage für die spätere Unabhängigkeit und deshalb Toussaint als Gründer der Nation Haiti sieht. In Césaires Werk geht es also nicht wie in den bisherigen Toussaint-Rezeptionen darum, anhand des Mythems die Loyalität Toussaints gegenüber Frankreich zu unterstreichen oder ihn als Verräter zu brandmarken. Stattdessen befürwortet Césaire Toussaints Schritt in Richtung Unabhängigkeit und rückt sein für die Schaffung der ersten schwarzen Nation bedeutsames Handeln in den Vordergrund. Ferner ist Césaire überzeugt, dass Toussaint durch sein Agieren im Rahmen des Bürgerkriegs zwischen Schwarzen und Mulatten zur Etablierung einer Einheit beitrug, auf der sich die Nation Haiti letztlich gründen konnte. Der Schriftsteller macht deutlich, dass der Krieg durch das Verhalten des französischen Generals Hédouville provoziert wurde, der Rigaud von jedwedem Gehorsam gegenüber Toussaint vor seiner Abreise entband, und von dem Mulatten Rigaud ausgelöst wurde: [...] Hédouville avait laissé une bombe dont il espérait bien qu’elle éclaterait sans trop de retardement. Il avait délié Rigaud de tout devoir d’obéissance envers Toussaint, proclamé par lui, traître à la France. [...] Rigaud était lancé dans une voie où il était bien difficile de l’arrêter. De fait, c’est lui qui [...] prit l’initiative des opérations et déclencha la guerre des races. [...] Le triomphe militaire de Toussaint était total. Mais une victoire qui n’est que militaire est une victoire imparfaite. Toussaint s’employa à ménager l’avenir. Tout au cours de la guerre, il n’avait cessé de faire de très méritoires efforts pour ‹dépigmenter› la guerre.21
Toussaint trifft Césaire zufolge keine Schuld an dem Bürgerkrieg. Vielmehr bereitete er schon während des Krieges die künftige Einheit der schwarzen Nation vor, indem er darauf hinarbeitete, den Krieg nicht als Krieg zwischen den unterschiedlichen Hautfarben, sondern zwischen ihm und den ihm den Gehorsam verweigernden Truppen Rigauds zu propagieren. Césaire führt vor Augen, dass sich Toussaint – insbesondere nach dem Staatsstreich Napoleons – des drohenden Krieges mit Frankreich
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 261f.
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bewusst war und daher früh mit den nötigen Vorbereitungen begann.22 Durch Handelsverträge mit den USA und England beabsichtigte Toussaint, Saint-Domingue mit Lebensmitteln und Waffen zur Absicherung ihrer Freiheit zu versorgen. Allerdings benötigte er zum Kauf ausreichend finanzielle Mittel, die aus dem Wiederaufbau der Plantagenwirtschaft fließen sollten.23 Zu diesem Zweck ließ er die weißen Kolonisten wieder nach Saint-Domingue zurückkehren – eine Politik, die ihm laut Césaire oftmals fälschlicherweise als proweiße Politik ausgelegt wurde. Césaire verteidigt und befürwortet diese Ideen, bemängelt aber deren Umsetzung.24 Denn Toussaint versuchte, auch die sozialen und wirtschaftlichen Probleme durch militärische Strategien zu lösen, wie beispielsweise den wirtschaftlichen Wiederaufbau durch eine rigide Arbeitsverordnung, die seine Verbindung zur Masse kappte.25 Zwar hebt Césaire den wirtschaftlichen Erfolg dieser Strategie hervor, veranschaulicht aber auch die dadurch entstandenen sozialen Probleme und den zunehmenden Verlust des Rückhalts in der Bevölkerung: Saint-Domingue avait toute seule, sans aide de la métropole, retrouvé sa vigueur économique. Cependant, sur ce front économico-social, Toussaint connut un échec d’importance. Il ne suffit pas qu’un mot d’ordre soit juste. [...] Mais il faut réussir à en faire plus qu’un mot d’ordre. Il faut réussir à le faire vivre dans la conscience des masses. Bref la caporalisation compromit la mobilisation. Et c’est par là que Toussaint échoua. Le meilleur signe de cet échec est qu’il dut avoir recours à la répression.26
Diese Problematik spiegelt sich im Mythem Moïse wider. Die Bauern protestierten gegen Toussaints Politik und riefen bei ihren Aufständen nach General Moïse, der als vermeintlich weißenfeindlich, als Gegner der Plantagenwirtschaft und Befürworter einer Zerstückelung der großen Agrarflächen galt. Toussaint setzte auf Repression, woraufhin zwar wieder Ruhe in die Kolonie einkehrte, sein Ansehen bei der Bevölkerung jedoch geschmälert wurde: „La révolte fut matée; Moïse, 22 23 24 25 26
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Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 262. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 266f. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 269. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 269-273. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 274.
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quoiqu’ayant participé à la répression, fut arrêté, déféré devant le Conseil de guerre et fusillé. En quelques jours tout rentra dans l’ordre. Mais l’avertissement était grave pour Toussaint.“27 Nicht nur verteidigt Césaire die Wirtschaftspolitik Toussaints, sondern selbst die Errichtung seiner Diktatur, indem er demonstriert, dass die von Toussaint erlassene Verfassung für Saint-Domingue unerlässlich war, um die Freiheit – auch nach Napoleons28 Beschluss der Notwendigkeit spezieller Gesetze für die Kolonien – zu erhalten: Pour éviter à Saint-Domingue l’octroi de la charte française, il n’y avait qu’un moyen: la rendre inutile en obtenant de Saint-Domingue qu’elle votât sa propre Constitution. [...] C’est la situation exceptionnelle comme elle l’était, révolutionnaire, qui imposait la dictature. C’est à cette dictature, celle de Toussaint, que la Constitution vint donner son armature juridique. Œuvre donc de circonstance.29
Césaire sieht in der Verfassung keinen Loyalitätsbruch Toussaints, sondern preist indessen die einzigartige Chance, die diese Konstitution Frankreich darbot. Durch Toussaint wäre es möglich gewesen, SaintDomingue als Teil eines französischen Commonwealth zu etablieren.30 Als einzigen Fehler lastet Césaire Toussaint an, mit dieser Idee seiner Zeit weit voraus gewesen zu sein: Intuition géniale. L’idée d’un Commonwealth français était là en germe. Toussaint n’avait qu’un tort: d’être en avance sur son époque, et d’un bon siècle et demi. [...] Et c’était en effet pour la France une chance ex-
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 275. Bei Césaire wird nicht darauf verwiesen, dass Napoleon die Kinder Toussaints als Geiseln genommen haben soll, sondern diese werden Toussaint zusammen mit einem Brief von Napoleon mit der Expedition Leclercs nach Saint-Domingue zurückgebracht. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 288. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 278f. Diese Verteidigung der Idee Toussaints muss auch vor dem Hintergrund der loi de départementalisation von 1946 betrachtet werden, für die sich Césaire als Politiker starkgemacht hatte und die er der Unabhängigkeit Martiniques zunächst vorgezogen hatte. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 333336.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos ceptionnelle de liquider dans de bonnes conditions, sans pertes et avec surcroît de prestige, la mésaventure coloniale.31
Toussaint hätte seine Aufgabe bereits als erfüllt betrachtet, wenn aus der einstigen Kolonie Frankreichs eine Nation einer Nationengemeinschaft hervorgegangen wäre, da es ihm nicht um die Unabhängigkeit per se ging, sondern die Priorität auf dem Fortbestand der Freiheit der Schwarzen und der Schaffung einer Einheit lag. Frankreich ließ diese Chance jedoch ungenutzt verstreichen und Napoleon entsandte als Replik auf Toussaints Verfassung eine Expedition nach Saint-Domingue.32 Den im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Expedition und Toussaints Truppen angebotenen Waffenstillstand vonseiten Leclercs33 nimmt Toussaint, Césaire zufolge, aus strategischen Gründen an. Er ist der Ansicht, dass es sich bei der Niederlage Toussaints nicht um einen militärischen, sondern in erster Linie um einen politischen Misserfolg handelte. Diesen sieht der frankophone Schriftsteller in dem Problem begründet, dass Toussaint sein Volk niemals von der drohenden Gefahr einer Wiedereinführung der Sklaverei überzeugen konnte und sich weigerte, von Frankreich die Unabhängigkeit zu fordern:34 Bien sûr il y avait des raisons militaires, d’ordre stratégique. [...] La vérité est que la défaite de Toussaint ne fut pas d’ordre militaire, mais d’ordre politique. L’échec de Toussaint, c’est qu’il ne réussit jamais à démasquer complètement l’ennemi aux yeux des masses. [...] on commença à croire que le vieux Toussaint avait exagéré, sinon inventé le péril d’un retour à l’esclavage. [...] Il y a un mot magique que Toussaint refusa toujours de prononcer: le mot indépendance.35 [Herv. i. O.]
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 283. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 283. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 302. Dieser Vorwurf muss wiederum im Kontext der Departementalisierung verstanden werden. Als sich nach dem Gesetz von 1946 die erhoffte Gleichstellung nicht realisierte, stellte sich bei Césaire Desillusionierung ein und seine Angst vor dem Neokolonialismus wuchs. Vgl. FORSDICK, 2008, S. 333-336. Diese Furcht scheint hier zum Ausdruck zu kommen. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 303f.
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Zugleich lehnt es Césaire ab, den Waffenstillstand als Kapitulation zu werten. Auch wenn Toussaint bereit war, sich zu ergeben, hatte er seine Ziele nicht aufgegeben: „En somme, Toussaint acceptait de se rendre, mais non de compromettre l’avenir: l’armée serait sauve et resterait sur ses positions. [...] Capitulation? Non. Tout au plus un cessez-le-feu.“36 Ebenso handelte es sich laut Césaire bei der Gefangennahme Toussaints um eine strategische Entscheidung des schwarzen Anführers, da er sich der Falle bewusst war und der Einladung General Brunets trotzdem Folge leistete. Der schwarze General ahnte, dass sein Werk in der Kolonie nur in seiner Abwesenheit Vollendung finden würde: Il sentait que c’était un piège... Et pourtant il irait. Il savait... Mais il irait: il le fallait. [...] On peut l’expliquer en psychologie: Toussaint avait le sens tragique de la vie: d’une part, il était chrétien, sincèrement et non par feinte comme on l’a insinué; et d’autre part, contemporain de la Révolution française, il voyait, comme tant d’autres de ses contemporains, en la politique, la forme moderne du destin. [...] il se pénétrait peu à peu de cette idée que sa disparition seule pouvait la [son œuvre] parfaire.37
Césaires Interpretation zufolge machte erst Toussaints Deportation aus Saint-Domingue den Weg für die Einheit seines Volkes frei. Er musste weichen, damit sein Volk zu einer Nation zusammenwachsen konnte: La liberté générale, plus que jamais, son maintien était conditionné par l’union, par l’unité du peuple haïtien. Et il ne pouvait se cacher que sa personne, mêlée comme elle l’avait été à tous les événements, faisait obstacle à l’indispensable fusion. Rigaud, le mulâtre, avait disparu de la scène. Lui, Toussaint, devait choisir, lui aussi, de disparaître. Après quoi, la voie serait libre pour le regroupement. [...] Toussaint gênait donc. Alors, disparaître, pour unir. Disparaître pour ressouder.38
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 307. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 310. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 312.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Toussaint hatte sich mit dieser Tatsache arrangiert und war bereit, die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Dieses für sein Volk erbrachte Opfer bezeichnet Césaire als politischen Akt, der schließlich zur Gründung der ersten schwarzen Nation Haiti führte.39 Die von Toussaint bei seiner Deportation ausgerufene Wurzelmetapher bewahrheitete sich letzten Endes, denn Saint-Domingue war ohne Freiheit nicht länger vorstellbar.40 Nachdem das Volk durch die erneut etablierte Sklaverei in Guadeloupe zu der Erkenntnis gelangte, dass Napoleon den Sklavenhandel sowie die Sklaverei in den französischen Kolonien wiedereinzuführen gedachte und Toussaint mit seinen Befürchtungen Recht behalten hatte,41 führte es durch einen erneuten Widerstand gegen die Franzosen den Kampf Toussaints zu Ende: Par l’exemple de la Guadeloupe, Saint-Domingue sut désormais que le vieux Toussaint n’avait pas menti; que malgré les dénégations de Leclerc, il était bel et bien dans les intentions du gouvernement français de rétablir l’esclavage et que s’il avait différé l’application de la mesure à Saint-Domingue, c’était à la lutte de Toussaint Louverture qu’on le devait.42
Zwar beschreibt Césaire die Zeit Toussaints im Gefängnis,43 die von Krankheit und Entbehrung geprägt war44 und von ihm daher als „le calvaire de Toussaint Louverture“45 bezeichnet wird, aber von weitaus größerer Relevanz als die Umstände seines Todes ist für ihn die Wirkung des Freiheitskämpfers über seinen Tod hinaus. Dessen unauslöschlichen Einfluss hatte Frankreich laut Césaire unterschätzt; man hatte gehofft, nach dessen Tod in der Kolonie die vorrevolutionären Zustände wiederherstellen zu können: „Toussaint mort, la France crut Saint-Domingue décapitée, à sa merci, livrée. Mais c’est alors qu’on 39 40 41 42 43
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Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 310-313. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 314. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 315. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 323f. Im Hinblick auf das Mythem des Schatzes wird bei Césaire nur erwähnt, dass General Caffarelli Toussaint im Auftrag Napoleons nach der Existenz eventueller Schätze befragen sollte. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 326. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 325-330. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 325.
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s’aperçut des vraies dimensions de l’homme; de l’importance de son œuvre, et qu’elle dépassait infiniment son auteur.“46 Stattdessen nahm das Volk – geleitet vom Geist Toussaint Louvertures – den Kampf wieder auf: […] ce qui à Saint-Domingue résista à la puissance française, au feu de ses canons et à la charge de ses soldats, ce fut l’esprit de Toussaint Louverture, l’esprit forgé par Toussaint Louverture. [...] A vrai dire avec lui, s’en allait Saint-Domingue. Mais c’est que Haïti était née. La première de toutes les nations noires.47
Toussaint hatte durch seine Bemühungen erreicht, ein nationales Bewusstsein in Saint-Domingue zu begründen, das nun aufflammte und in der Schaffung der Nation Haiti gipfelte: „Partout une conscience nouvelle, qu’il faut bien appeler la conscience nationale, s’éveillait, s’affirmait, se révoltait.“48 Während der Kampf des Volks zur Verteidigung der Freiheit und der Entstehung der ersten schwarzen Nation von Césaire gebilligt wird, verurteilt er die Grausamkeit der Franzosen, die in der Kolonie einen Vernichtungskrieg führten: „Leclerc n’avait fait qu’envisager une guerre d’extermination. Rochambeau, qui lui succéda, se flatta de la mettre en pratique. On dressa des chiens à dépecer le nègre; on le tortura; on le pendit; on le fusilla; on le noya selon les méthodes mises en honneur à Nantes par Carrier.“49 Konkludierend fasst Césaire die Leistungen Toussaint Louvertures zusammen: On lui avait légué des bandes. Il en avait fait une armée. On lui avait laissé une jacquerie. Il en avait fait une Révolution; une population, il en avait fait un peuple. Une colonie, il en avait fait un état; mieux, une nation. Qu’on le veuille ou non: tout dans ce pays, converge vers Toussaint, et de nouveau irradie de lui. C’est bien un centre que Toussaint
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 330. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 330f. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 333. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 337.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos Louverture. Le centre de l’histoire haïtienne, le centre sans doute de l’histoire antillaise.50
Der Schriftsteller bezeichnet Toussaint als Zentrum der haitianischen und auch der antillanischen Geschichte sowie als Gründer der ersten schwarzen Nation.51 Die Tragweite der Haitianischen Revolution und des Wirkens Toussaints sieht er nicht nur auf Haiti und die Antillen begrenzt. Er ist vielmehr der Auffassung, dass dieses Ereignis auch einen Teil der Menschheitsgeschichte darstellt, da in Saint-Domingue die Umsetzung der Menschenrechte stattfand: Le combat de Toussaint-Louverture fut ce combat pour la transformation du droit formel en droit réel, le combat pour la reconnaissance de l’homme et c’est pourquoi il s’inscrit et inscrit la révolte des esclaves noirs de Saint-Domingue dans l’histoire de la civilisation universelle.52 [Herv. i. O.]
Auch wenn Toussaint Louverture selbst nie Bürger eines unabhängigen Haitis war, so wird er bei Césaire doch als einer der bedeutendsten Haitianer überhaupt gewürdigt. Er steht für ihn am Beginn der Geschichte der schwarzen Nation, da Dessalines ohne ihn niemals die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie hätte proklamieren können: „Il ne saurait être question de nier les mérites de Dessalines ni les lacunes de Toussaint. Mais on peut clore le débat d’un mot: au commencement est Toussaint Louverture et sans Toussaint, il n’y aurait point eu de Dessalines, cette continuation.“53 Insgesamt kann festgehalten werden, dass Toussaint in Césaires Essay als Vorreiter im Kampf gegen die Sklaverei und als Gründer der ersten schwarzen Nation funktionalisiert wird. Er wird als intelligenter, religiöser Mann dargestellt, dem es stets um die Freiheit und die für eine Nation notwendige Bildung einer Einheit ging. Aufgrund der Darstellung der Schwächen und Fehler Toussaints kann nicht von einer uneingeschränkten Glorifizierung gesprochen werden, allerdings erfahren Toussaints Ziele eine Verherrlichung und die zu ihrer Umsetzung not50 51 52 53
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CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 331. Vgl. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 345. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 344. CÉSAIRE, [1960] 1981, S. 331.
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wendigen Maßnahmen – selbst die Errichtung einer Diktatur – werden gerechtfertigt. Césaire hebt zwar die durch Toussaint offerierte Möglichkeit eines französischen Commonwealth positiv hervor, tadelt aber auch die ausgebliebene Forderung nach einer Unabhängigkeit von Frankreich. Jedoch liegt das Hauptaugenmerk darauf, dass Toussaint stets das Beste für sein Volk vorschwebte und er sich am Ende sogar selbst aufopferte, um den Weg in die Unabhängigkeit für sein Volk freizumachen. Obwohl nicht das Bild eines makellosen Helden gezeichnet wird, lässt Césaire an der herausragenden Bedeutung Toussaints für Haiti, die Antillen und die ganze Welt keine Zweifel aufkommen: Er wird nicht nur als Gründer von Haiti, sondern auch als Visionär instrumentalisiert, der als Erster für die Universalität der Menschenrechte kämpfte. Zwar wird kritisiert, dass Napoleon SaintDomingue nicht in eine Nation eines Commonwealth umwandelte und die Sklaverei wiedereinführen wollte, allerdings findet er nur wenig Erwähnung, sodass es zu keiner veritablen Dämonisierung des Ersten Konsuls kommt und er auch nicht als Widerpart Toussaints eingesetzt wird. Im Hinblick auf Frankreich werden insbesondere der Sklavenhandel, die Sklaverei sowie der nach der Exilierung Toussaints beginnende Vernichtungskrieg angeprangert.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
3.5.2 Toussaint Louverture als ambige Persönlichkeit (Glissant, Dadié) Wie auch Césaire begab sich der ebenfalls in Martinique geborene Édouard Glissant – im Jahr 1946 – zum Studium nach Paris. Im Gegensatz zu Césaire forderte der Philosoph, Schriftsteller und Dichter Glissant die Unabhängigkeit Martiniques von Frankreich und sprach sich gegen die loi de départementalisation aus, die er als Bestrebungen Frankreichs interpretierte, die Inseln vom karibischen Verbund zu trennen.1 Mit seiner in den 1960er Jahren gegründeten Bewegung der Antillanité,2 die eine kulturelle und politische Einheit der Antillen vorsieht, ging er über die Négritude hinaus.3 Laut Glissant wurden durch die Kolonialisierung die Erinnerungen an die antillanische Geschichte ausgelöscht4 und das kolonisierte Volk verlor seine eigene Vergangenheit aus den Augen.5 Um diesem Effekt entgegenzuwirken und den Antillanern ihre eigene Geschichte wieder näherzubringen, ist es sein Anliegen als Schriftsteller, diese verschütteten historischen Erinnerungen wieder zum Vorschein zu bringen.6 Teil dieser Erinnerungen ist der Toussaint-Mythos,7 der gemäß dem Autor nicht nur für Haiti, sondern auch für das kollektive Gedächtnis der übrigen Antillen von großer Bedeutung ist.8 Glissant zufolge kann die Gegenwart ausschließlich durch die Aufarbeitung der Vergangenheit verstanden werden, wie er im Vorwort zu seinem Theaterstück über Toussaint Louverture betont: „Renouer avec son histoire obscurcie ou oblitérée, l’éprouver dans son épaisseur, c’est se vouer mieux encore aux saveurs du présent; les-
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Vgl. LUDWIG, 2008, S. 116. Vgl. zu Glissant und seinem Konzept der Antillanité Kapitel 2.3. Vgl. LUDWIG, 2008, S. 115; GLISSANT, [1981] 1997, S. 426f. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 223f. Vgl. MILLER SCHULTZ, 2000, S. 116-118. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 227f. Laut Corzani griff Glissant den Toussaint-Mythos auch deshalb auf, da er Parallelen zwischen Toussaint und Césaire sah, der sich seiner Ansicht nach, insbesondere hinsichtlich der Departementalisierung Martiniques, immer mehr selbst verleugnete: „C’est en filigrane le procès du député parisien évoluant dans des cercles qui, progressivement, l’aveuglent et le conduisent au reniement de soi.“ CORZANI, 1978b, S. 217. Vgl. GLISSANT, [1981] 1997, S. 233f.
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quelles, dépouillées de cet enracinement dans le temps, ramènent à une vaine délectation. C’est là une ambition poétique.“9 Glissants Theaterstück Monsieur Toussaint, das die Geschichte der Revolution aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet,10 erschien kurz nach Césaires Essay im Jahr 1961. Das Werk wurde in zwei Versionen veröffentlicht: 1961 mit dem Untertitel „théâtre“ und 1978 als „version scénique“11, wobei nachfolgend auf die zweite Fassung Bezug genommen wird. Dieses Stück Glissants ist in vier Teile (les dieux, les morts, le peuple, les héros) untergliedert und spielt sich auf zwei verschiedenen, simultanen Handlungsebenen ab – zum einen befindet sich Toussaint physisch im Gefängnis und zum anderen ist er mit seinem Bewusstsein auf Saint-Domingue. Ferner verfügt es über drei Zeitebenen. Es gibt die Jetztzeit, die die Grundebene darstellt, in der sich der kranke Toussaint in seinem Gefängnis aufhält, und es sind zwei zeitliche Bereiche auf der Bewusstseinsebene vorhanden: ein Bereich für Toussaints Erinnerungen an wahre, in der Vergangenheit liegende Ereignisse und ein Bereich für fiktive Gespräche mit bereits verstorbenen Personen wie beispielsweise Mackandal,12 der sein schlechtes Gewissen verkörpert.13 Des Weiteren nahm Glissant in seinem 1965 veröffentlichten Gedichtband Les Indes Bezug auf Toussaint und wenige Jahre vor seinem Tod machte er ihn in La cohée du Lamentin (2005) zum Thema eines Gedichts. In beiden Texten setzte er sich insbesondere mit dem Tod Toussaints und dem Umgang mit diesem auseinander. Neben den Werken Glissants wird auch das Theaterstück Iles de tempête von Bernard Binlin Dadié und dessen Repräsentation des Toussaint-Mythos betrachtet. Der ivorische Schriftsteller schloss 1936 seine Schulausbildung an der im Senegal etablierten Eliteschule für junge Afrikaner École Willi9 10 11 12
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GLISSANT, [1978] 1998, S. 9f. Vgl. MILLER SCHULTZ, 2000, S. 119f. Vgl. COURSIL, o. J. Der Marone François Mackandal (auch Macandal oder Makandal) war in der prärevolutionären Phase einer der berühmtesten Anführer von Aufständen in Saint-Domingue. Mackandal wurde gefangen genommen und 1758 öffentlich bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sein Einfluss blieb auch über seinen Tod hinaus bestehen; seine Figur ist noch heute von vielen Mythen und Legenden umrankt. Vgl. FICK, 1990, S. 59-62; CAUNA, 2009, S. 34f. Vgl. KNABE, 1991, S. 433f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
am Ponty ab und arbeitete sich anschließend in der französischen Kolonialverwaltung empor. Zwischen 1947-1950 war er unter verschiedenen Pseudonymen als Journalist tätig. Mit der Veröffentlichung von Artikeln im Presseorgan der RDA (Réveil) zeigten sich das politische Engagement Dadiés und seine Forderung für ein entkolonialisiertes und freies Afrika. Dadié, der gegen den wirtschaftlichen und politischen Kolonialismus kämpfte, wurde 1949 von der Kolonialverwaltung verhaftet und war bis 1950 politischer Gefangener. Nach der Unabhängigkeit bekleidete er in Côte d’Ivoire verschiedene politische Ämter. Dadié veröffentlichte verschiedene Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Gedichtsammlungen sowie ein Gefängnistagebuch und ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Côte d’Ivoires.14 Im Jahr 1973 wurde Dadiés Theaterstück Iles de tempête veröffentlicht, in dem er sich mit dem Toussaint-Mythos auseinandersetzt. Dieses Stück muss mit Blick auf die bis 1960 anhaltende Kolonialisierung sowie die darauffolgende Dekolonialisierung und die bestehende Gefahr des Neokolonialismus gesehen werden. Das Theaterstück besteht aus sieben verschiedenen Bildern, wobei die ersten drei Bilder die Entwicklung Saint-Domingues bis zur Machtübernahme Toussaints veranschaulichen, das vierte Bild mit dem Titel „Toussaint Louverture bâtisseur“ den Höhepunkt darstellt und die restlichen drei Bilder den Niedergang Toussaints beleuchten. Das letzte Bild zeigt eine simultane Darstellung der beiden historischen Figuren Napoleon und Toussaint in ihrem Exil. Toussaints Fehler werden im Werk intensiv behandelt, und er scheint als Antimodell in Bezug auf die Entkolonialisierung zu dienen,15 wodurch ersichtlich wird, dass das Theaterstück als „ein Lehrstück zur Problematik der Kolonisierung/Entkolonisierung“16 wirken soll. In den Werken beider Autoren wird Toussaint eine Nachahmung der Weißen vorgeworfen sowie seine Vorgehensweise als Gouverneur der Kolonie als proweiße Politik interpretiert und missbilligt. Hinzu kommt, dass Dadié zusätzliche Mytheme einfügt, um Toussaints Verzicht auf die ‚Andersheit‘ und seine Anpassung an die europäischen Normen und Werte noch zu unterstreichen. 14 15 16
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Vgl. ZÜRN, 1998, S. 15f. Vgl. PAGEAUX, 1984, S. 213. KNABE, 1991, S. 438.
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Das Mythem der Alphabetisierung Toussaints17 erfährt bei Glissant eine völlig neue Darstellung. Ging es in den bisherigen Werken darum, anhand dieses Mythems entweder die Intelligenz bzw. Bildung oder die Ignoranz Toussaints zu demonstrieren, werden in Glissants Theaterstück dadurch die zwischen ihm und seinem Volk entstandenen Missverständnisse zusammengefasst: Je peux à peine écrire, ton capitaine le voyait bien. J’écris le mot ‹Toussaint›, Macaïa18 se penche, il épelle ‹traître›. J’écris le mot ‹République›, Mackandal devine ‹mensonge›. J’écris le mot ‹discipline› et Moyse, sans même jeter un regard sur la page, crie aussitôt ‹tyrannie›. J’écris le mot ‹prosperité›, Dessalines s’éloigne, il pense dans son cœur ‹faiblesse›. Non. Je ne sais pas écrire, Manuel.19
Die Vorwürfe lauten, dass Toussaint die Revolution verraten und zu sehr auf Frankreich vertraut habe. Die von Toussaint erlassenen Arbeitsgesetze, die zu neuem Wohlstand führen sollten, lassen ihn vor seinem Volk als Tyrannen dastehen. Zusätzlich wirft ihm Dessalines Feigheit vor, da er nicht gewillt war, die Unabhängigkeit der Kolonie zu erklären. Dieses Zitat fasst die grundsätzlichen Probleme zusammen, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird. Allerdings wird sein politisches Vorgehen nicht nur von seinem eigenen Volk, sondern auch von den Weißen kritisiert. Beispielsweise urteilt der Verwalter seiner ehemaligen Plantage, dessen Frau er einst das Leben rettete,20 dass sein Vorgehen mit zu viel Gewalt und Blutvergießen einherging.21 Auch andere weiße Kolonisten ächten Toussaints Politik in Glissants 17
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In beiden Werken spielen Mytheme, die mit der Kindheit und dem Aufstieg Toussaints zum Gouverneur der Insel zusammenhängen, keine Rolle. Gemein ist den Theaterstücken, dass sie sich auf Raynal und dessen Prophezeiung eines neuen, schwarzen Spartakus beziehen. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 21; GLISSANT, [1978] 1998, S. 46. Macaïa ist einer der Anführer der Aufständischen, der Toussaint als Geist in seiner Gefängniszelle erscheint. GLISSANT, [1978] 1998, S. 136. Der Gefängniswächter Manuel ist eine fiktive Figur in Glissants Theaterstück. Vgl. KNABE, 1991, S. 433, Fußnote 18. Das Mythem der Rettung der Familie des Verwalters kommt bei Dadié nicht vor. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 50.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Theaterstück und betrachten seinen Aufstieg kritisch. Dadurch wird offenbar, dass sich Toussaint nicht nur von seinem eigenen Volk entfernt hat, sondern sich auch unter den Weißen kaum Anhänger finden.22 Während Glissant diese innere Zerrissenheit Toussaints zwischen seinem Volk und den Weißen bzw. Frankreich in den Mittelpunkt verlagert, verweist Dadié vor allem auf das mimetische Verhalten Toussaints wie beispielsweise aus der unterschiedlichen Darstellung des Mythems der Religion hervorgeht: Zunächst nimmt Glissants Toussaint zwar den Glauben der Weißen an, entfernt sich dadurch von seinen kulturellen Wurzeln und seinem eigenen Volk23 und fordert eine Assimilierung seines Volkes, indem er die Existenz der Voodoo-Götter leugnet: „Il n’y a pas Legba, il n’y a pas Ogoun. Il y a la science et la connaissance.“24 Die Voodoo-Göttin Maman Dio, die Toussaint in seinem Gefängnis erscheint, erkennt jedoch bereits zu Beginn des Theaterstücks, dass Toussaint nach außen hin zwar den Gott der Weißen ehrt, in seinem Inneren aber der Voodoo-Gott Ogoun bedeutsam ist: „Car il est rapide comme Ogoun! /Il est fort comme Ogoun guerrier. /Il prend l’éclair et il le déchire. /Toussaint adore le Dieu des Blancs /Mais dans son cœur Ogoun est puissant!“25 Toussaints Verbundenheit mit seiner alten Religion tritt zutage, als er davon spricht, dass er entsprechend des Voodoo-Glaubens nach seinem Tod in Afrika sein wird: „Jusqu’au dernier mot qui m’emportera au Congo.“26 Seine Rückkehr zu seinem afrikanischen Glauben wird insbesondere durch seine letzten Worte vor seinem Tod manifest, als er sich nicht an den christlichen Gott, sondern auf Kreolisch an den Voodoo-Gott wendet: „Man lé la libèté pou SinDoming! Ogoun, Ogoun!“27 Dadiés Toussaint hat dem Voodoo hingegen völlig abgeschworen. Er steht für eine strikte Politik der Assimilierung und verlangt, dass sein Volk den Voodoo-Glauben aufgibt und die Religion der Weißen annimmt: „Je ne veux pas que sous couvert de culte on sème le désordre dans le pays. Je veux nous voir tous dans la même chapelle, disant, blancs et noirs, la même prière dans le même
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Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 32. Vgl. KNABE, 1991, S. 435. GLISSANT, [1978] 1998, S. 36. GLISSANT, [1978] 1998, S. 48. GLISSANT, [1978] 1998, S. 57. GLISSANT, [1978] 1998, S. 159.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
langage: le latin.“28 Aus Angst vor einem Aufstand lässt Toussaint den Voodoo-Kult verbieten: „Le Vaudou! Le Vaudou! Tout avait ainsi commencé le 22 août au Bois Caïman. [...] Faites immédiatement proclamer que j’interdis désormais le culte du Vaudou.“29 Dieses von Dadié veranschaulichte mimetische Verhalten ist von dem im Theaterstück stets zum Ausdruck kommenden Bedürfnis Toussaints nach Anerkennung vonseiten Frankreichs geprägt. Dieser Wunsch erstreckt sich auch auf die Frauen der gehobenen Gesellschaft Saint-Domingues, durch deren Aufmerksamkeit Toussaint sich sehr geschmeichelt fühlt.30 Diese innere Zerrissenheit bei Glissant sowie die Mimikry31 bei Dadié spiegeln sich auch in der Darlegung der Nationalität Toussaints wider. Während in Glissants Theaterstück die Nationalität insbesondere durch die Mytheme der Übertritte zu den Spaniern und zu den Franzosen32 verdeutlicht wird, ist sie bei Dadié eng mit dem Mythem der von den Engländern offerierten Krone Saint-Domingues33 verwoben. Im ersten Akt „Les dieux“ muss sich Toussaint bei Glissant gegenüber den Weißen und seinem Volk für seine Wechsel in die verschiedenen Lager rechtfertigen und fühlt sich dabei von allen unverstanden. Bei den Weißen wird ihm insbesondere vom ehemaligen Verwalter der Plantage Bréda, Libertat, das Überlaufen zu den Spaniern und damit Landesverrat vorgeworfen: „Tu as trahi ta patrie, combattu avec les Espagnols.“34 Toussaint erwidert daraufhin, dass er nicht anders handeln konnte, da die Regierung die allgemeine Freiheit ablehnte: „Ma patrie? Trahir est votre privilège, un esclave ne trahit pas. Le gouvernement refusait la liberté générale. Les colons désertaient pour conserver leurs bêtes, j’ai marronné pour défendre des hommes.“35 Außerdem greift Glissants Toussaint auf das bereits von Schoelcher vorgebrachte Argument zurück, dass ein Sklave kein Vaterland und er somit keinen 28 29 30 31
32 33 34 35
DADIÉ, 1973, S. 67. DADIÉ, 1973, S. 66. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 70f, 96. Mimikry darf in diesem Kapitel nicht als Form des Widerstands, sondern muss als aufgezwungene Assimilierung, als Strategie der Unterwerfung und Unterdrückung der Kolonisierten durch die Kolonisatoren betrachtet werden. Vgl. zum Konzept der Mimikry Kapitel 2.3. Diese beiden Mytheme werden bei Dadié nicht aufgenommen. Das Angebot der Engländer findet bei Glissant keine Erwähnung. GLISSANT, [1978] 1998, S. 41. GLISSANT, [1978] 1998, S. 41.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Verrat begangen habe.36 Zudem unterstellt Libertat Toussaint in Bezug auf seine Rückkehr auf die Seite der Franzosen Opportunismus: „Hier espagnol et royaliste, aujourd’hui français et républicain. La vie de l’homme est courte.“37 Vom ehemaligen Revolutionsführer Macaïa, der Toussaint als Geist erscheint, wird ebenfalls seine Abkehr von den Spaniern und seinen damaligen Mitstreitern als Verrat kritisiert: „Puis il se porte contre les Espagnols, contre Biassou son frère! Ils étaient tous dans la confiance, et Toussaint l’homme le plus pur! Mais trahir a fait de lui un général républicain!“38 Toussaint rechtfertigt seine Entscheidung mit dem französischen Dekret zur Abschaffung der Sklaverei und erklärt, dass er treu zur Republik steht: „Laveaux m’avait juré la liberté, ma confiance était en Laveaux! L’Assemblée nationale vota enfin le décret. [...] La République me donne un pays, pour ma vie je suis fidèle à la République.“39 Nach der Abolition scheint Toussaint, der sich als Sklave noch als vaterlandslos betrachtete, Frankreich als sein Heimatland zu erachten. Allerdings wird die weiterhin bestehende Zerrissenheit Toussaints an mehreren Stellen im Theaterstück sichtbar. Trotz seiner innigen Verbundenheit zu Frankreich, fühlt sich Glissants Protagonist auch weiterhin seinen afrikanischen Wurzeln verpflichtet, wie auch das Mythem der Religion demonstriert. Bei Dadié wird Toussaints Zugehörigkeitsgefühl zu Frankreich anhand seiner Reaktion auf das Angebot des englischen Gesandten offenkundig: Sa Majesté britannique qui place la liberté et l’indépendance au-dessus de tous les droits – ne les a-t-elle pas accordées à ses territoires d’Amérique? – est prête à vous aider. [...] Voudriez-vous être roi, empereur? Sa Majesté britannique est prête à vous reconnaître et à vous offrir couronne et carrosse.40
Toussaint lehnt diese Offerte mit der Begründung ab, dass er ein französischer General sei,41 womit er seine Loyalität zu Frankreich aus36 37 38 39 40 41
278
Vgl. Kapitel 3.4.1. GLISSANT, [1978] 1998, S. 43. GLISSANT, [1978] 1998, S. 43. GLISSANT, [1978] 1998, S. 44. DADIÉ, 1973, S. 68f. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 69.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
drückt. Dadiés Toussaint scheint sich als Franzose zu sehen und versucht durch sein mimetisches Verhalten, seine Verbundenheit zu versichern. Allerdings wird im Laufe des Stückes klar, dass die Franzosen ihn stets als den ‚Anderen‘ ansehen werden und seine Assimilierung letztlich scheitern wird.42 Im Gegensatz zu Césaires Toussaint wird der Sklavenführer in diesen beiden Theaterstücken nicht als Haitianer betrachtet, sondern als gespaltenes Wesen, das sich durch Mimikry versucht, von seinen afrikanischen Wurzeln loszureißen und sich Frankreich anzupassen – ein Versuch, der misslingt, da Toussaint sich von seinem afrikanischen Ursprung nicht zu lösen vermag bzw. von den Franzosen nicht als Landsmann anerkannt wird. Besteht das stetige Oszillieren zwischen Franzose und Haitianer bei Glissant bis ans Ende fort, erfährt Dadiés Protagonist im Sterben eine Transformation vom imaginierten Franzosen zum Haitianer.43 Der von Césaire insbesondere im Hinblick auf den Krieg zwischen Schwarzen und Mulatten gepriesene Einheitsgedanke Toussaints wird auch von Glissant und Dadié aufgenommen. Neben der Freiheit und Sicherheit für Saint-Domingue führt Glissants Toussaint als Rechtfertigungsgrund für seine Kriege die Schaffung einer Einheit44 an: „La première guerre contre les Anglais et les colons, pour la liberté; la deuxième contre Rigaud, pour l’unité; la troisième contre les Espagnols, pour la sécurité. Voilà ma vie.“45 Ebenso drängt Dadiés Toussaint auf eine solche Einheit aller Klassen und Hautfarben, um nach dem 42
43 44
45
Vgl. hierzu Kapitel 2.3. Dies entspricht auch Bhabhas Theorie, dass eine solche Nachahmung der Kolonisierten immer zum Scheitern verurteilt ist. Vgl. BHABHA, 1994, S. 86-88. Vgl. hierzu das Mythem Tod. Vor dem Hintergrund dieses Strebens nach Einheit muss auch der in Glissants Werk beschriebene gemeinsame Traum Laveaux’ und Toussaints verstanden werden. Sie wollten eine Einheit schaffen, indem sie den weißen und schwarzen Mais mischten: „Général Laveaux. [...] Nous remontons le temps jusqu’à ce premier jour, quand nous voulions mélanger le maïs noir avec le maïs blanc. L’amitié avance de travers, quand elle doit franchir tant de siècles sur tant d’océans. Nous avions rêvé un rêve, Laveaux.“ GLISSANT, [1978] 1998, S. 137. Das Maisgleichnis wird nicht wie in den bisherigen Renarrationen zur Überzeugung der schwarzen Anhänger Toussaints herangezogen, sondern zur Darlegung des Einheitsgedankens, der bereits im transformierten Weingleichnis bei Gragnon-Lacoste und Schoelcher zum Ausdruck kam. Vgl. Kapitel 3.4.1. GLISSANT, [1978] 1998, S. 97.
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Bürgerkrieg den gemeinsamen Aufbau des Landes zu gewährleisten: „Il faut qu’affranchis d’hier et affranchis d’aujourd’hui se serrent les coudes, que nègres et mulâtres se donnent la main pour bâtir le pays, que toutes les nuances de coloration érigées en barrières se fondent pour qu’enfin du gouffre où il se traîne surgisse l’homme.“46 Um diese Einheit zu ermöglichen, verlangt Toussaint bei Dadié jedoch explizit, dass die Schwarzen die Zeit ihrer Sklaverei vergessen: „Je vais demander aux nègres d’oublier ce qu’ils ont subi au cours de l’histoire.“47 Dadurch erwartet er auch von allen anderen, sich seinen von Dadié als mimetische Verhaltensweise und proweiße Politik dargestellten Maximen anzupassen. Während bei Glissant, wie auch bei Césaire, das Streben nach Einheit als positives Ziel hervorgehoben wird, das für die Schaffung einer Nation erforderlich war, kommt diesem bei Dadié eine negative Wertung zu. Er preist mit dieser Aufforderung des Vergessens nicht Toussaints Bemühungen um die Schaffung einer Einheit, sondern warnt stattdessen vor dem Verdrängen der eigenen Vergangenheit und der damit verbundenen Gefahr des Neokolonialismus für die ehemals kolonisierten Länder. Am deutlichsten tritt die Gespaltenheit und Assimilierung Toussaints in den Mythemen Moyse und Verfassung zutage. Im Dialog mit Dessalines beschließt Glissants Toussaint, dass Moyse sein Nachfolger werden soll: „Un soldat cultivateur, avoue-le, il n’y a que Moyse. N’es-tu pas de mon avis? Le général Moyse est populaire, les travailleurs l’acclament, c’est l’homme de mon testament.“48 Die Geister in der Gefängniszelle mokieren sich über diese Entscheidung, da Moyse tot ist – hingerichtet auf Befehl Toussaints. In der anderen Bewusstseinsebene, in der die wahren Ereignisse behandelt werden, rechtfertigt Toussaint diese Entscheidung seiner Frau gegenüber mit seinem Versprechen der Unversehrtheit, das er den Kolonisten bei ihrer Rückkehr auf die Insel gegeben hat, und mit der Tatsache, dass Moyse seiner Ansicht nach ein Verbrecher sei, der seine Aufgabe nicht erfüllt habe: „Promesse de vie sauve aux émigrés qui reviennent! Je ne renierai pas ma parole. Tout général qui favorise les troubles dans son département
46 47 48
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DADIÉ, 1973, S. 63f. DADIÉ, 1973, S. 63. GLISSANT, [1978] 1998, S. 99.
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est un traître. Je vous le dis, le général Moyse a failli à son devoir.“49 Diese unterschiedliche Ansichten Toussaints in den zwei zeitlichen Bereichen der Bewusstseinsebenen veranschaulichen die Gespaltenheit Toussaints: Auf der einen Seite will der revolutionäre Toussaint seinen Neffen Moyse zu seinem Nachfolger erklären; auf der anderen Seite betrachtet der an Frankreich assimilierte Toussaint ihn als Verbrecher und Verräter, den er zu recht hinrichten ließ. Bei Dadié wird dem Mythem Moyse viel Raum innerhalb des Theaterstücks zuteil, was seine Bedeutung unterstreicht. In der dritten Szene im vierten Bild befindet sich auf Toussaints Schreibtisch eine Akte über Moyse, der ständig neue Dokumente beigefügt werden,50 bis Moyse schließlich zu Toussaint gebracht wird, der ihm vorhält, dass in seinem Sektor eine Revolte stattfindet – „[u]ne légitime révolte“51, wie Moyse betont. Toussaint hingegen ist der Auffassung: „Il n’y a pas de légitime révolte contre la loi établie.“52 Moyse fordert, das Land an die Bevölkerung zu verteilen und die Unabhängigkeit auszurufen. Er ist der Meinung, dass die derzeitige Gesellschaft Saint-Domingues eine Karikatur der westlichen Gesellschaft darstellt: „Notre révolte doit balayer le passé, tout le passé; il nous faut une société nouvelle, d’hommes travaillant dans la joie, et non une caricature de société occidentale...“53 Insbesondere gebe Toussaint sich mit der Imitation anderer Herrscher zufrieden: „Général Toussaint Louverture, le drame de l’homme au pouvoir, c’est de toujours tenter d’imiter et les autres et les monarques des légendes. La vie traîne au milieu du peuple mais jamais au pied des trônes. A vouloir à tout prix s’insérer dans l’histoire...“54 Toussaint bezeichnet Moyse als „[t]raître à la patrie!“55 und verurteilt ihn und seine Anhänger zum Tode. Mit seiner Kritik an Toussaints Mimikry wird Moyse zur Antithese seines Onkels stilisiert.56 Wie bei Glissant erachtet Toussaint Moyse zunächst als Verräter. Allerdings bereut Toussaint am Ende von Dadiés Theaterstück im Gefängnis, dass er Moyse und andere für ihre 49 50 51 52 53 54 55 56
GLISSANT, [1978] 1998, S. 101f. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 64, 65, 66, 69. DADIÉ, 1973, S. 79. DADIÉ, 1973, S. 79. DADIÉ, 1973, S. 81. DADIÉ, 1973, S. 84. DADIÉ, 1973, S. 82. Vgl. PAGEAUX, 1984, S. 214.
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Verbrechen gegen Weiße, die ihn nun gefangen halten, hinrichten ließ: „J’ai fait fusiller Moyse et les noirs du Limbé, du Dondon, de Plaisance pour leur hostilité contre les blancs, et voilà ma récompense!“57 Seine letzten Worte vor seinem Tod gelten denn auch Moyse und Haiti.58 Im Hinblick auf die Verfassung wird bei Glissant das Augenmerk nicht nur auf dieses Regelwerk selbst, sondern insbesondere auch auf die damit einhergehende Agrarreform Toussaints gelegt. Die Kolonisten im Theaterstück prophezeiten, dass Toussaint nur durch sich selbst besiegt werden kann: „Quand Toussaint oubliera son peuple, quand il sera repris par sa passion d’économe et de sarcleur, son peuple le quittera, et il sera entre vos mains. Mais vous ne l’aurez pas vaincu. Seul Toussaint Abréda triomphera de Toussaint-Louverture.“59 Durch die mit der Verfassung verbundene Wiedereinsetzung des Plantagensystems realisiert sich diese Vorhersage: Toussaint verrät den Revolutionsführer Toussaint Louverture und wird wieder zum Sklaven.60 Ebenso konstatiert der Geist Macaïa, dass vom früheren Toussaint, dem Anführer des Aufstandes, nichts mehr übrig geblieben ist.61 Dies zeigt, wie Glissants Toussaint durch die wirtschaftlichen Reformen sein Volk preisgibt und sich Frankreich sowie vor allem den weißen Kolonisten zuwendet. Der Erfolg über Toussaint wird im Theaterstück somit nicht den Franzosen zugeschrieben, sondern Toussaint besiegte sich durch diese Transformation selbst. Die Gespaltenheit Toussaints wird aufgrund seiner Rechtfertigung der Verfassung mit sich widersprechenden Argumenten abermals herausgestellt: Gegenüber den Geistern verteidigt er die Agrarreform mit der Abhängigkeit Saint-Domingues von den Ernten, um Munition zu kaufen und zur Verteidigung der Freiheit, eine Armee aufzustellen.62 Frankreich gegenüber reklamiert er die Notwendigkeit der Konstitution und betont, dass diese seiner Treue und Verbundenheit zum Mutterland nicht entgegenstehe.63 Wie der Akte Moyse ständig neue Papiere zugefügt werden, so wiederholt Toussaint im Theaterstück Dadiés mehrmals die Idee, eine Ver57 58 59 60 61 62 63
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DADIÉ, 1973, S. 131. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 134. GLISSANT, [1978] 1998, S. 55. Vgl. GEWECKE, 2008, S. 259. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 94. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 94. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 77f.
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fassung zu erlassen,64 bis ihm schließlich die von Weißen ausgearbeitete Konstitution vorgelegt wird. Toussaint wirkt im Stück naiv, als er davon auszugehen scheint, dass sich Napoleon an dieser von Weißen ausgearbeiteten Verfassung erfreuen wird: Cette constitution m’ayant été proposée par des blancs, n’est-ce pas dire qu’elle entre dans les vues de la France? [...] il nous faut écrire au Général Bonaparte pour lui annoncer l’excellente nouvelle... Je pense qu’il y prendra un vif plaisir... (dictant) J’ai aujourd’hui la satisfaction de vous annoncer que la dernière main vient d’être portée à mon ouvrage et qu’il en résulte une constitution qui promet le bonheur aux habitants de cette colonie si longtemps infortunée. Je m’empresse de vous l’adresser pour avoir l’approbation et la sanction du gouvernement.65
Die Konstitution soll Napoleon „de la part du Premier des Noirs, au Premier des Blancs“66 übergeben werden. Mit dieser Aussage wird offenkundig, dass Toussaint der Illusion erliegt, vom Ersten Konsul als ebenbürtig wahrgenommen zu werden. In Napoleons Augen ist die Verfassung allerdings reine Provokation, und er nimmt an, dass Toussaint damit seine Maske67 hat fallen lassen: „En proclamant sa constitution, il a jeté le masque, tiré l’épée du fourreau pour toujours.“68 Der hier entstehende Eindruck, dass der leichtgläubig wirkende Toussaint versucht, Napoleon zu gefallen und ihn nachzuahmen, wird bei Dadié noch durch zwei zusätzliche Mytheme verstärkt: Zwei Architekten werden bei Toussaint vorstellig und schlagen ihm den Bau eines neuen Palastes sowie das Anlegen eines türkischen Gartens vor. Zunächst lehnt Toussaint beide Projekte ab, ändert aber seine Meinung, nachdem die Herren ihm schmeicheln und sagen, dass auch Napoleon
64 65 66 67
68
Vgl. DADIÉ, 1973, S. 68, 69, 75, 85. DADIÉ, 1973, S. 86. DADIÉ, 1973, S. 87. Bei Glissant wird dieses Mythem nicht aufgegriffen. Im Hinblick auf das Verhalten der Mimikry zeigt Bhabha auf, dass der Kolonisator zwischen wahrer Unterwürfigkeit und Maskerade unterscheiden muss. Vgl. BHABHA, 1994, S. 100. Toussaint wird bei Dadié vorgeworfen, mit der als von Bhabha bezeichneten sly civility gehandelt zu haben und seine Maske erst mit dem Erlass einer Verfassung fallen gelassen zu haben. Vgl. Kapitel 2.3. DADIÉ, 1973, S. 97.
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ein solches Projekt in Auftrag gegeben hat.69 Bevor nach den Architekten ein Versicherungsmakler die Bühne betritt, macht Dadiés Toussaint nochmals die Bedeutung und Vorbildfunktion Napoleons70 für ihn explizit: „Qui pourra décider Bonaparte à effectuer un voyage pour voir ce que nous avons fait ici pour la France et au nom de la France? Il en serait enthousiasmé. Ce serait la plus belle récompense de ma vie.“71 Auch das Angebot einer Lebensversicherung nimmt Toussaint erst nach dem Hinweis an, dass alle französischen Generäle, selbst General Bonaparte, eine solche Versicherung abgeschlossen haben. Diese Mytheme reflektieren das bereits von Moyse angeprangerte Identitätsproblem Toussaints. Die Ambiguität seines Charakters wird herausgestellt sowie die Tatsache, dass Dadiés Toussaint sich damit begnügte, ein zweiter Napoleon72 zu sein, anstatt für die Unabhängigkeit zu kämpfen und ein eigenständiger Held zu werden. Nachdem sich seine Generäle ergeben haben,73 ist Toussaint bereit, einen Waffenstillstand mit Frankreich zu schließen und sich auf seine Plantage zurückzuziehen.74 Die darauffolgende Verhaftung Toussaints wird in beiden Theaterstücken unterschiedlich inszeniert: Bei Glissant verkünden die Geister in Toussaints Bewusstsein der fiktiven Gespräche im Rückblick, wie sie Toussaint damals vor einer Gefangennahme warnten.75 Im Bewusstsein der wahren Ereignisse wird aufgezeigt, wie ihn sogar sein französischer Sekretär Granville76 über die Pläne der Verhaftung informierte.77 Toussaint entgegnet ihm, dass seine Abwesenheit für das Land wichtig sei: „Mes yeux ne verront plus mon pays, mon pays a besoin de mon absence. Vous ne pouvez voir un absent, 69 70
71 72 73 74 75 76
77
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Vgl. DADIÉ, 1973, S. 71-74. Die Parallelität der Geschichte der beiden Männer, die bei Dadié hervorgehoben wird, wird im nächsten Kapitel dargelegt. Napoleon spielt in Glissants Werk hingegen keine Rolle. DADIÉ, 1973, S. 74. Vgl. PAGEAUX, 1984, S. 215. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 111, 115, 149; DADIÉ, 1973, S. 113, 116, 117. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 115; DADIÉ, 1973, S. 117. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 22, 83. Granville, der bei Dadié als Grand’Ville auftaucht, ist keine historische Figur. Wie auch die vorkommenden drei Siedler, Maman Dio, Manuel repräsentiert er nur eine Person, die mit ihrer Meinung so hätte auch in Wirklichkeit vorkommen können. Vgl. KNABE, 1991, S. 433, Fußnote 18. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 124.
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même si vos yeux voient Toussaint.“78 Auch aus dem Gespräch Toussaints mit seiner Frau ergibt sich, dass Toussaint von der Falle wusste und er sich absichtlich, zum Wohl seines Landes, verhaften ließ.79 Er scheint seine Niederlage zu akzeptieren und sie in einen Sieg zu transformieren.80 Die Gefangennahme wird als seine eigene Entscheidung dargestellt, die er gegenüber Granville auch als „mon projet le plus important“81 und „ma suprême tactique“82 bezeichnet. Es ist sein Wunsch, dass Dessalines sein Projekt vollendet und das Land in die Unabhängigkeit führt: Ce que veut Dessalines est loin au-delà de ma vie. Ce que veut Dessalines, je ne pouvais le vouloir. Il a besoin de moi. Il faut que j’appelle sa trahison, pour que sa trahison devienne fidélité. Il faut que j’accepte son ingratitude, afin qu’elle soit ma récompense. Il faut que je tombe encore, et qu’il m’oublie encore, pour que ma défaite allume sa victoire.83
Ähnlich wie bei Césaire opfert sich Glissants Toussaint für die Zukunft seines Landes auf, da ihm bewusst ist, dass erst durch seine Abwesenheit die Unabhängigkeit der Kolonie möglich wird. Durch die Wurzelmetapher prophezeit er den Sieg der Freiheit.84 Mit der Deutung seines aufopfernden Weggangs verteidigt sich Toussaint gegenüber seinen Geistern. Im Gegensatz zu Césaires Toussaint verrät Glissants Toussaint diesen Plan für sein Land allerdings in dem Moment, als er sich in der Jetztzeit des Stückes vor Caffarelli im Gefängnis erneut zu Frankreich und der Republik bekennt.85 Durch dieses abermalige Bekenntnis zum Mutterland wird die Zerrissenheit Toussaints durch sein Opfer nicht überwunden, sondern aufs Neue bekräftigt. Auch Dadiés Toussaint wird von allen Seiten vor einer Falle gewarnt, aber er vertraut den Versprechungen Leclercs und glaubt nicht an eine Verhaftung: „[...] je suis un soldat et mieux encore un général 78 79 80 81 82 83 84 85
GLISSANT, [1978] 1998, S. 124. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 128. Vgl. GEWECKE, 2008, S. 259. GLISSANT, [1978] 1998, S. 123. GLISSANT, [1978] 1998, S. 123. GLISSANT, [1978] 1998, S. 123. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 132. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 77f; GEWECKE, 2008, S. 260.
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français. Leclerc n’a-t-il pas devant Dieu et devant les hommes, par toutes ses proclamations, juré de respecter nos libertés?“86 Seine Gefangennahme trifft ihn daher völlig unerwartet, und er fühlt sich von Frankreich zutiefst verraten.87 Der Leser hingegen wird von dieser Falle nicht überrascht, da er über die Pläne Napoleons in Saint-Domingue bereits zuvor informiert wurde: „Le déclarer traître à la France, l’arrêter et nous l’envoyer comme criminel de droit commun.“88 Aufgrund dieses Frankreich vorbehaltlos entgegengebrachten Vertrauens mutet Dadiés Toussaint naiv an. Die Verhaftung führt schließlich zu einer Kehrtwende in seinem Denken und zu einer Abwendung von Frankreich: Ließ er sich bisher wie eine Marionette von den Franzosen sowie ihrer vorgegebenen Politik leiten und lehnte stets die von Dessalines geforderte Verkündung der Unabhängigkeit ab, so macht er durch die Wurzelmetapher89 deutlich, dass die Freiheit letzten Endes siegen wird.90 Während Glissants Toussaint bis zu seinem Tod als eine innerlich zerrissene Person dargestellt wird, kann sich Dadiés Toussaint von seiner Verbundenheit zu Frankreich sowie seinem mimetischen Verhalten frei machen und strebt nun doch die Unabhängigkeit Saint-Domingues an, was insbesondere auch die letzten Worte vor seinem Ableben, das in beiden Stücken als natürlicher Tod dargestellt wird,91 bezeugen: „A quel peuple appartient-il d’écrire l’histoire pour d’autres peuples? Haïti, Haïti, c’était le nom que prononçait […] …Moyse. […] Haïti… Haïti…“92 Wurde Dadiés Protagonist während des gesamten Stückes als sich selbst perzipierender Franzose dargestellt, bekennt er sich mit
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92
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DADIÉ, 1973, S. 119. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 121. DADIÉ, 1973, S. 101. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 121. Vgl. PAGEAUX, 1984, S. 216f. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 159; DADIÉ, 1973, S. 134. Das Mythem des Schatzes spielt in den Theaterstücken keine dominante Rolle. In beiden Werken äußert Toussaint gegenüber General Caffarelli, über kein solches Vermögen zu verfügen. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 105; DADIÉ, 1973, S. 129. Im Gegensatz zu Dadié wird bei Glissant auf die Legende verwiesen, Toussaint habe seinen Schatz vergraben und die Mitwisser anschließend ermorden lassen. Vgl. GLISSANT, [1978] 1998, S. 105. DADIÉ, 1973, S. 133f.
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seinen letzten Worten zu Haiti und erfährt somit eine Transformation vom imaginierten Franzosen zum Haitianer. Insgesamt kann konstatiert werden, dass Toussaint Louverture bei Glissant und Dadié als ambige Persönlichkeit dargestellt wird. In beiden Theaterstücken wird ihm eine Assimilierung an Frankreich und eine proweiße Politik unterstellt. Steht bei Glissant die innere Zerrissenheit Toussaints im Mittelpunkt, wird ihm bei Dadié vor allem sein mimetisches Verhalten zu Lasten gelegt. Nach seinem im Kontext der Abolition der Sklaverei erfolgten Bekenntnis zu Frankreich oszilliert Glissants Toussaint stets zwischen der Loyalität zum Mutterland und seinem Volk; bei Dadiés Toussaint hingegen scheint die Assimilierung weiter fortgeschritten zu sein, und er perzipiert sich selbst vorbehaltslos als Franzose. Während bei Glissant der Volksverrat durch Toussaints Agrarreform und sein Unvermögen, sich von Frankreich zu lösen, im Zentrum steht, wird bei Dadié der Fokus auf Toussaints Wunsch nach Anerkennung von Frankreich sowie die ständige Imitation seines Vorbilds Napoleon gelegt. Erst durch seine Verhaftung erkennt Dadiés Toussaint, dass er von den Franzosen nie als ebenbürtig wahrgenommen wird. So spricht er sich im Sterben letztendlich doch noch für die Unabhängigkeit Haitis aus, wodurch eine Transformation vom Franzosen zum Haitianer erfolgt. Bei Glissant deklariert Toussaint seine Deportation zwar als Opfer für sein Volk – das schließlich zur Unabhängigkeit führen soll –, verrät seine Anhänger jedoch durch sein abermaliges Bekenntnis zu Frankreich erneut, wodurch kein Wandel ersichtlich wird und Toussaint weiterhin eine gespaltene Persönlichkeit bleibt.
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3.5.3 Thematisierung des Vergessens Im Gegensatz zu früheren Werken, in denen der Tod Toussaints oft als Mord beurteilt wurde, geht es Glissant und Dadié nicht so sehr darum, die Umstände des Todes des haitianischen Revolutionsführers anzuprangern, als vielmehr um die Missbilligung des danach einsetzenden Verschweigens des schwarzen Anführers. Die von Glissant insbesondere auch in seinem Werk Le discours antillais stark gemachte Kritik an der Dominanz der westlichen Geschichtsschreibung, die andere Formen der Vergangenheitserinnerung unterdrückte,1 kommt in beiden Theaterstücken zum Ausdruck, und die Autoren thematisieren explizit die lange Zeit, in der Toussaint dem Vergessen anheimgefallen war. In Glissants Theaterstück spottet der zweite Kommandant des Fort de Joux bereits vor Toussaints Tod, dass sein Ansehen zerstört und er als ungebildeter, wilder Anführer, der seinen Herren nacheiferte, in die Geschichte eingehen werde, da die Franzosen über Erinnern und Vergessen entscheiden. Die Spuren seines Kampfes würden ausgelöscht und seine Person vergessen werden: Eh bien, Monsieur est le Centaure des Îles! Monsieur inventait la stratégie! Monsieur fondait un empire! Mais nous faisons et nous défaisons la trame de la renommée! Nous crierons: ‹Toussaint? Un vague chef de bande, illettré, sans grandeur. Il imitait ses maîtres.› Et tiens, nous irons jusqu’à t’appeler, par exemple, le Consul noir. Oui, un pantin de carnaval. ‹Il a tué quelques Blancs, c’était un sauvage, un peu cannibale, nous le ramenâmes à la raison. Simple, simple: nous fûmes pour l’arrêter, puis ce fut la prison. Il y mourut...› Parce que nous décidons de ce que l’homme connaît et de ce qu’il ignore. Nous imprimons les livres, sans lesquels la mémoire est un gouffre sans fond, un puits sans margelle. Nous effacerons de la terre la trace de tes combats.2
Interessant ist auch die Drohung des Kommandanten, dass die Nachwelt ihn in Zukunft als schwarzen Konsul bezeichnen werde. Glissant
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Vgl. Kapitel 2.3. GLISSANT, [1978] 1998, S. 154.
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deckt auf, welch mimetisches Verhalten Toussaint durch diese Benennung, die tatsächlich gebräuchlich wurde,3 unterstellt wird. Der verbitterte französische Kommandant ist der Meinung, dass die Franzosen die Erinnerung an Toussaint ganz auslöschen, die Geschichte verfälschen und somit letztendlich über die siegreiche Expedition Frankreichs nach Saint-Domingue schreiben werden: Mais, pour finir, les hommes t’effaceront comme ils effaceront 4 Langles. Ils écriront: l’expédition VICTORIEUSE de Saint-Domingue. Ils le publieront dans leurs ouvrages, ils l’inscriront dans leurs encyclopédies. Oui, nos descendants y veilleront, jusqu’à la troisième génération et au-delà. Ils tiennent pouvoir de décider sur le juste et le faux! Ils t’enfermeront dans un fort plus terrible que Joux, dans une montagne plus abrupte que le Jura: c’est le silence public. Maudis, supplie, implore, les siècles se referment sur toi! Ainsi tu mourras mille et une fois. Et avant que le bruit de vos armes traverse l’épaisseur de cette absence, eh bien tu seras devenu un vague reflet sur un peu de givre, un pâle rayon tombé dans un informe tombeau, un peu de suint sur la muraille d’un lieu sans nom. Nous sommes forts à ce jeu. Ils t’oublieront, tous. Ou alors, tu devras changer le nombril du monde! [...] Et ils crieront à tes fils: ‹Toussaint, le vaincu de Saint-Domingue!...› Et à la fin ils le croiront eux-mêmes, ce sera le plus beau.5 [Herv. i. O.]
Er vertritt die Ansicht, dass das Verschweigen Toussaints seinen Gefängnisaufenthalt oder seinen Tod noch an Grausamkeit übertreffe,
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Weniger als schwarzer Konsul, aber vor allem als schwarzer Napoleon oder schwarzer Bonaparte wurde Toussaint häufig bezeichnet. Chateaubriand war der Erste, der Toussaint „le Napoléon noir“ (CHATEAUBRIAND, [1848] 1998b, S. 382) nannte. Allerdings unterstellte der Bretone dadurch nicht etwa Toussaint mimetisches Verhalten, sondern er war der Auffassung, dass Napoleon den haitianischen Revolutionsführer imitierte. Vgl. CHATEAUBRIAND, [1848] 1998b, S. 382; Kapitel 3.3.3. Die Benennung wurde von einigen Autoren später als Titel aufgegriffen. Diese Werke erschienen bezeichnenderweise nur wenige Jahre vor jenen von Césaire, Glissant und Dadié: vgl. beispielsweise PAUL HAURIGOT, 1943 und RAPHAËL TARDON, 1951. Langles ist in Glissants Theaterstück der bereits zuvor erwähnte zweite Kommandant des Fort de Joux. GLISSANT, [1978] 1998, S. 155f.
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denn so werde er 1001 Tode sterben, womit er prophezeit, was in der Historiografie Realität wurde: Toussaint fiel dem Vergessen anheim. In diesem Zitat scheint die Kritik Glissants an der Histoire durch, die er als Instrument des Westens ansieht, um andere Formen der Erinnerungen zu unterdrücken.6 In diesem Fall trifft das Sprichwort „Die Geschichte wird von den Gewinnern geschrieben“ nicht zu. Vielmehr war es den Verlierern, denen die Histoire vorbehalten war, möglich, durch das Instrument der Geschichtsschreibung die Geschichte umzuschreiben. Bereits im 1965 veröffentlichten Gedichtband Les Indes nimmt Glissant Bezug auf Toussaint und dessen Tod im französischen Gefängnis: „Et Toussaint! qui tenait lyre de flammes et d’entrailles, lui, /Fut jeté à la mer blanche du Jura; où attisé de neige, de sarcasme, /De faim, il put mourir, si roide, en son fauteuil.“7 Das weiße Meer repräsentiert die tiefe Stille und Weite, die Toussaint Louverture umgeben, wodurch Glissant auch im Gedicht das Vergessen Toussaints beanstandet.8 In dem 2005 erschienenen Gedichtband La cohée du Lamentin brandmarkt Glissant in „Proféré à un autre Spectre“ ebenfalls das Toussaint umhüllende Stillschweigen. In seiner Hinführung zum Gedicht offenbart er die Bedeutung des vergessenen Toussaints und weist darauf hin, dass die Erinnerung an ihn wieder aus der Tiefe emporsteigen wird: „Un homme peut être une ville, à lui tout seul. Je pense à Toussaint Louverture, créateur de monde, perdu dans la glace du Jura, vers les années 1800. Ce fut une ville. Un spectre oublié, qui étendra bientôt ses avenues. Une mer à nouveau, qui monte des profondeurs.“9 Ferner wird im Gedicht deutlich, dass das Gespenst Toussaint auch nach seinem Tod weiter umherirrt: „Et vous errez ingouverné /Sous les remblais hagards du fort de Joux.“10 Diese posthume ‚errance ingouvernée‘ Toussaints sieht Forsdick in den widersprüchlichen und komplexen Darstellungen Toussaints zu Beginn des 19. Jahrhunderts.11 Das nach dieser frühen Rezeption einsetzende Verschweigen des Mythos, 6 7 8 9 10 11
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Zu Glissants Theorie der Histoire vgl. Kapitel 2.3. GLISSANT, [1965] 1985, S. 74. Vgl. CORZANI, 1978b, S. 213. GLISSANT, 2005, S. 240f. GLISSANT, 2005, S. 242. Vgl. FORSDICK, 2007, S. 22; FORSDICK, 2008, S. 329f.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
der nun langsam wieder an Bedeutung zurückgewinnen kann, wird von Glissant verurteilt. Während das Stillschweigen in Césaires Essay nicht explizit angeprangert wird, kommt diese seinen Tod umgebende Stille jedoch bereits in seinem Cahier d’un retour au pays natal von 1939 zum Ausdruck: La mort décrit un cercle brillant au-dessus de cet homme /la mort étoile doucement au-dessus de sa tête /la mort souffle, folle, dans la cannaie mûre de ses bras /la mort galope dans la prison comme un cheval blanc /la mort luit dans l’ombre comme des yeux de chat /la mort hoquette comme l’eau sous les cayes /la mort est un oiseau blessé /la mort décroît /la mort vacille /la mort est un patyura ombrageux /la mort expire dans une blanche mare de silence.12
Der Tod, der Toussaint in seinem Gefängnis ereilt, „verscheidet in der weißen Lache des Schweigens“13 – wie es die deutsche Übersetzung von Janheinz Jahn wiedergibt. Wie in Glissants Gedicht steht der Schnee für die Toussaint umringende tiefe Stille, wodurch auch Césaire das Vergessen des Mannes, den er als Gründer der haitianischen Nation betrachtet,14 an den Pranger stellt. Dadié moniert diese Stille um Toussaint als Folge der Dominanz der westlichen Historiografie durch eine Darstellung der Parallelität zwischen Toussaint Louverture und Napoleon Bonaparte. Nachdem eine Abhängigkeit Toussaints von Frankreich, die Illusionen hinsichtlich seiner Stellung bei den Franzosen im Allgemeinen und Napoleon im Besonderen sowie sein Wunsch ein zweiter Napoleon zu sein bereits von Dadié thematisiert wurden, widmet er sich in seinem siebten und letzten Bild den Gemeinsamkeiten der beiden großen historischen Figuren, die er insbesondere anhand der Mytheme der Gefangennahme 15 und des Todes demonstriert. 12 13 14 15
CÉSAIRE, [1939] 1996, S. 53. CÉSAIRE, 1962, S. 33. Vgl. Kapitel 3.5.1. Die Gleichzeitigkeit der beiden Helden in Gefangenschaft ist ein Anachronismus, den Dadié in Kauf nimmt, um ihre Gemeinsamkeiten besser zu veranschaulichen. Während Toussaints Gefangenschaft mit seinem Tod im Jahr 1803 endete, war Napoleon erst von 1815 bis zu seinem Tod 1821 auf Sankt-Helena im Exil.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Bereits im vierten Bild geht es um eine mögliche Similarität der beiden Figuren, denn Toussaint fragt sich, ob Napoleon und ihn das gleiche Schicksal eint: „Aurions-nous le même destin? Tous deux des isles, tous deux généraux, la même ascension fulgurante.“16 Toussaint fragt sich, ob Napoleon es ihm verübelt, dass auch er Geschichte schreibt: „M’en voudrait-il, le Général Bonaparte, d’être dans l’histoire, tout comme lui, un repère? N’est-ce pas l’identité de notre destin? Ici, je brise les chaînes et là-bas, il brise les trônes.“17 Die Replik auf diese Frage Toussaints folgt im fünften Bild, in dem Napoleon im Gespräch mit seinem Polizeiminister Fouché und weißen Kolonisten von SaintDomingue klarstellt, dass er gedenkt, allein in die Geschichte einzugehen: „La République n’est pas un jeu pour enfants et encore moins un jeu pour nègres. Nous ne serons pas deux à écrire l’histoire de l’époque.“18 Er gibt zu verstehen, dass er nicht willens ist, sein Ansehen und seine Macht zu teilen: „Pensez-vous qu’il entre dans mes intentions de partager le monde avec quelqu’un d’autre? Je suis l’arbitre. J’ai sifflé. Toussaint Louverture est donc hors-jeu.“19 Napoleon demonstriert in Bild fünf, dass er sich Toussaint eindeutig überlegen und übergeordnet fühlt, und er weist jegliche Parallelen zwischen ihm und dem schwarzen General scharf zurück. Genau diese Ähnlichkeiten zwischen den beiden historischen Figuren veranschaulicht Dadié aber im letzten Bild seines Theaterstücks. Toussaint und Napoleon sehen ihre Verhaftung und Deportation nach Frankreich respektive Sankt-Helena gleichermaßen als Verrat an. Toussaint, der zunächst an einen Irrtum glaubt, als er von einem Polizisten im Auftrag General Brunets verhaftet wird, ruft schließlich aus: „C’est une trahison!“20 Parallel hierzu ist Napoleon bei seiner Exilierung nach Sankt-Helena der Auffassung, dass es sich bei dieser Maßnahme um einen Treuebruch handelt: „Non! jamais. C’est de la forfaiture... de la félonie. Je n’irai pas à Sainte-Hélène. J’en appelle à toute l’Europe. C’est de la trahison! De la trahison...“21 Durch ihre Deportation wurden sie jeweils von Frau und Kindern getrennt, wie beide lamen16 17 18 19 20 21
292
DADIÉ, 1973, S. 75. DADIÉ, 1973, S. 85. DADIÉ, 1973, S. 96. DADIÉ, 1973, S. 98. DADIÉ, 1973, S. 121. DADIÉ, 1973, S. 124f.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
tieren.22 Toussaint und Napoleon beschließen jeder für sich, sich über ihre Behandlung in ihrem Exil schriftlich zu beschweren: Will Toussaint einen Brief an Napoleon aufsetzen,23 so wendet sich Napoleon in seinem Schreiben an die Regierung in London.24 Beide werden nur noch als Gefangene perzipiert und dementsprechend reagieren die Gefängniswärter auf ihren Versuch, sich auf ihre Bedeutungen und Erfolge zu berufen: „Je n’ai ici qu’un prisonnier“.25 Während Toussaint sich rühmt, ein französischer General und Gouverneur auf Lebenszeit von Saint-Domingue zu sein,26 führt Napoleon etliche seiner Titel und Siege auf: Je suis Napoléon, l’empereur Napoléon Ier. Sacré empereur, j’ai fait et défait des souverains. Mes titres? Empereur des Français, Roi d’Italie, Maître de Hollande, Souverain d’Espagne et du Portugal, Protecteur de l’Allemagne, Souverain de Pologne, et j’en passe. Mes victoires... Il me suffirait de vous rappeler Lodi, Arcole, Campo Formio, Marengo, Essling, Wagram, Eylau, Friedland, Rivoli, Austerlitz.27
Beide Helden betrachten ihre Behandlung als Schande: „C’est une honte! Une honte!“28; „C’est une honte pour toute l’Europe de me traiter ainsi.“29 Eine weitere Gemeinsamkeit hinsichtlich ihres Exils ist die Tatsache, dass sie einem Klima ausgesetzt wurden, das sich von dem ihrer Heimat grundsätzlich unterscheidet, wie Napoleon feststellt: „Au fort de Joux, dans le Jura, lui qui était des tropiques! Le soleil doit lui manquer comme me manquent le froid et la neige. [...] la neige... qui pourrait nous en apporter sous ce climat insalubre, mortel... criminel, qui s’associe à nos ennemis pour lentement nous achever...“30 Er vermutet dahinter eine Absicht der Engländer, damit er einen langsamen, von
22 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. DADIÉ, 1973, S. 126. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 127. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 128. DADIÉ, 1973, S. 125, 128. Vgl. DADIÉ, 1973, S. 125. DADIÉ, 1973, S. 128. DADIÉ, 1973, S. 131. DADIÉ, 1973, S. 131. DADIÉ, 1973, S. 132.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Entbehrungen und Provokationen gezeichneten Tod stirbt.31 Ein solches Lebensende wird Toussaint auch von Napoleons Gesandtem Caffarelli prophezeit: „Une mort lente que chacun verra venir, progresser.“32 Beide müssen in aller Stille und Abgeschiedenheit im Exil sterben. Napoleon echauffiert sich über die Stille der Zeitungen, seiner Freunde sowie die Stille Europas, ja der ganzen Welt: „Un silence étouffant. Silence des gazettes, silence des amis, silence de l’Europe, silence du monde!“33 Toussaint hingegen bekümmert insbesondere das Schweigen seiner Familie und die Tatsache, dass er den Tod einsam in seinem Verlies erleiden muss: „Ils veulent que je meure ici loin des miens, sans nouvelles des miens, sans personne pour m’offrir la dernière goutte d’eau, pour me fermer les yeux...“34 Als Napoleon in seinem Exil beschließt, Toussaint Louverture frei zu lassen, ist dieser bereits verstorben. Nachdem er vom Tod seines Kontrahenten erfahren hat, konstatiert Napoleon, dass es doch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab: „Nous étions tous deux des îles. Nous avons tous deux eu à lutter contre les mêmes puissances. Il est mort sur le continent.“35 General Henri-Gatien Bertrand, der laut Geschichtsschreibung einer der engsten Vertrauten Napoleons war und ihn nach Sankt-Helena begleitete, bezeichnet sowohl Napoleon als auch Toussaint im Theaterstück als „tempête“. Napoleon nennt er gar den schrecklichsten Sturm, der Europa jemals heimgesucht habe: „N’avezvous pas été la plus terrible des tempêtes qui ait jamais soufflé sur l’Europe?“36 Auch Toussaint sei für die Kolonialmächte ein Sturm gewesen: „Il aura lui aussi été tempête pour les puissances coloniales.“37 Diese Assoziation der beiden Helden mit einem Sturm, die sich bereits im Titel des Stückes widerspiegelt, bringt die ihnen von Dadié zuerkannte historische Bedeutung sowie die Tragweite ihres politischen Handelns zum Ausdruck. Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Kritik am Vergessen des haitianischen Revolutionsführers allen drei Autoren ein zentrales 31 32 33 34 35 36 37
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Vgl. DADIÉ, 1973, S. 132. DADIÉ, 1973, S. 129. DADIÉ, 1973, S. 133. DADIÉ, 1973, S. 133. DADIÉ, 1973, S. 134. DADIÉ, 1973, S. 132. DADIÉ, 1973, S. 134.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
Anliegen ist. Glissant und Dadié machen hierfür explizit die europäische Historiografie verantwortlich. Dadié zeigt durch seinen Vergleich der beiden historischen Figuren auf, wie manipulativ die westliche Geschichtsschreibung vorging, indem sie Napoleon zu einem Mythos stilisierte und Toussaint keinen Platz in der Geschichte einräumte. Durch die Darstellung der Parallelitäten stellt Dadié Toussaint mit Frankreichs größtem Helden auf dieselbe Stufe, wodurch der Napoleon-Mythos destabilisiert und destruiert wird.38 Durch die Anprangerung des Verschweigens des Sklavenführers wird deutlich, dass allen drei Schriftstellern am Herzen liegt, dass Toussaint seinen ihm gebührenden Platz in der Geschichte wiedereinzunehmen vermag. Konkludierend kann festgehalten werden, dass Toussaint in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Schriftstellern aus ehemals von Frankreich kolonialisierten Ländern wieder zurück in die Erinnerung geholt und als Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung dargestellt wird. In allen drei Werken, die vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung und Identitätssuche der ehemaligen Kolonien betrachtet werden müssen, ist auffällig, dass Toussaint aufgrund seiner Loyalität gegenüber Frankreich selbst nicht in der Lage ist, die Unabhängigkeit Haitis zu verkünden. Während in Césaires Essay Toussaint dennoch als Gründer der ersten schwarzen Nation funktionalisiert wird, der nur sein Volk nicht von der Notwendigkeit seiner ihm als proweißen ausgelegten Agrarpolitik und Frankreich nicht von der Genialität eines französischen Commonwealth überzeugen konnte, wird Toussaint bei Glissant und Dadié Verrat an der Revolution und an seinem Volk vorgeworfen und ihm die Assimilierung an Frankreich sowie seine Unfähigkeit, die Unabhängigkeit zu verkünden, angelastet. Diese unterschiedliche Perspektive Césaires und Glissants muss im Kontext ihrer Sichtweise der Departementalisierung ihrer Heimat Martinique verstanden werden. Während Césaire dieses Gesetz mit auf den Weg brachte, später aber hinsichtlich der Wirkkraft desillusioniert war, sprach sich Glissant stets dagegen aus. Die bei Dadié zum Ausdruck gebrachte Kritik an der Assimilierung Toussaints und der Nichterklärung der Unabhängigkeit muss als Aufforderung aufgefasst werden, die Kolonialisierung nicht zu vergessen und die Gefahr des Neokolonialismus nicht zu unterschätzen.
38
Vgl. MILLER SCHULTZ, 2000, S. 218f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Im Gegensatz zu Césaire, dessen Toussaint als einer der bedeutendsten Haitianer überhaupt dargestellt wird, werden in den Theaterstücken Glissants und Dadiés anhand verschiedener Mytheme vor allem die Zerrissenheit bzw. die Mimikry des Protagonisten in den Fokus gerückt. Während Dadiés Toussaint sich noch kurz vor seinem Tod der Notwendigkeit einer Unabhängigkeit Haitis bewusst wird, sich von Frankreich abwendet und sich vom imaginierten Franzosen zum Haitianer wandelt, bleibt Glissants Toussaint diese Transformation vorenthalten, und er wird bis zum Schluss als eine zwischen seinem Volk und Frankreich stehende Persönlichkeit dargestellt. Bedeutend ist in allen drei Texten das Vorhaben Toussaints, nach dem Bürgerkrieg in Saint-Domingue eine Einheit zu schaffen. Während diese Einheit bei Césaire und Glissant als etwas Positives dargestellt wird und an den dritten Raum Bhabhas erinnert, an dem Differenzen ohne Hierarchisierung aufeinandertreffen,39 erfährt diese Kreation der Einheit bei Dadié eine negative Wertung: Dadiés Toussaint will nämlich keinen solch hybriden Raum schaffen, sondern den Schwarzen eine Assimilierung an die Weißen vorschreiben und sie von ihrer Kultur lösen. Entgegen vieler früheren Toussaint-Rezeptionen spielt Napoleon im Text von Glissant keine und bei Césaire, der insbesondere die Ablehnung eines Commonwealth und die Wiedereinführung der Sklaverei durch den Ersten Konsul kritisiert, nur eine geringe Rolle. Dadié räumt Napoleon hingegen mehr Platz ein und intendiert durch seine Darstellung der Parallelitäten Napoleons und Toussaints eine Destabilisierung und Destruktion des NapoleonMythos. Gemein ist allen drei Schriftstellern, dass sie durch ihre Werke einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, dass Toussaint dem Vergessen entkommen konnte. Dank ihnen entwickelte sich Toussaint zu einem Symbol eines neuen postkolonialen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses und konnte sich aufmachen, einen neuen Platz im kollektiven Gedächtnis Frankreichs zu erobern. Das vorausgegangene jahrhundertelange Vergessen Toussaints wird in verschiedenen Werken Césaires, Glissants und Dadiés explizit kritisiert, und sie prangern die westliche Geschichtsschreibung für ihr Verschweigen des haitianischen Revolutionsführers an. Im Unterschied zu den Werken der Dritten Republik, die sich nur gegen Sklaverei und Rassismus aussprachen, nicht aber gegen die neue 39
296
Vgl. Kapitel 2.3.
Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung
Kolonialexpansion Frankreichs, wird nun der Kolonialismus per se verurteilt und die Schritte Toussaints in Richtung einer Unabhängigkeit werden befürwortet bzw. als nicht weitreichend genug verurteilt. Ferner wird die während der Zeit des Hochimperialismus vorgenommene Transformation Toussaints vom Haitianer zum Franzosen rückgängig gemacht und Toussaint wird – wie bereits in Werken der Romantik – wieder als Haitianer bzw. als zwischen Frankreich und seinem Volk schwankende Figur dargestellt.
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Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
3.6 Die allmähliche Rückkehr Toussai nt Louvertures ins kol lektive Gedächtnis Frankreichs Nachdem der Toussaint-Mythos durch die frankophonen Autoren zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder seinen Weg zurück in die Literatur gefunden hatte, schwappte Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Welle Rezeptionszeugnisse auf den Markt. Auffällig ist, dass Toussaint Louverture zum einen Eingang in andere Gattungen erhielt und er zum anderen nicht länger nur Gegenstand der Literatur war, sondern der Mythos auch in andere Medien, insbesondere in den öffentlichen Raum sowie in audiovisuelle Medien, aufgenommen wurde und somit eine Remediation stattfand. War der haitianische Freiheitskämpfer bisher vor allem in Romanen, Essays, Biografien, Gedichten und Theaterstücken in den Mittelpunkt gestellt worden, fand er nun auch Zugang zu anderen literarischen Gattungen wie dem Comic sowie der Kinder- und Jugendliteratur. Beispiele hierfür sind der Comic Toussaint Louverture. Le Napoléon noir aus dem Jahr 1985 von Nicolas Saint-Cyr mit Zeichnungen von Pierre Briens1 sowie das Jugendbuch Les Révoltés de Saint-Domingue von Bertrand Solet,2 das 1994 zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Ferner entstanden die Kinderbücher Toussaint Louverture, le défenseur des Noirs d’Haïti (2003) von Anne-Sophie Chilard mit Zeichnungen von Christian Epanya sowie Toussaint Louverture von Jacques Vénuleth, das von Frédéric Rébéna mit Bildern versehen und 2011 veröffentlicht wurde. Durch diese Entwicklung konnte der Toussaint-Mythos nunmehr bei einer neuen Zielgruppe Bekanntheit erlangen. War die Kolonialvergangenheit Frankreichs in Saint-Domingue in der städtischen Landschaft bisher nicht präsent gewesen – Dorigny spricht hierbei von einer „silence des lieux de mémoire“3 –, fand 1
2 3
Der Comic wurde unter dem Titel Toussaint Louverture et la révolution de Saint-Domingue (Haïti) im Jahr 2008 vom Verlag Orphie neu aufgelegt. In Solets Roman steht ein Sklave namens Mango im Mittelpunkt des Werkes, der sich den Truppen Toussaints anschließt. DORIGNY, [2005] 2006, S. 56. Dorigny macht darauf aufmerksam, dass in Paris keine Straße, kein Platz nach Haiti, Saint-Domingue oder Toussaint
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Toussaint Louverture nun Zugang zum öffentlichen Raum: Im Jahr 1998 wurde zur Erinnerung an den haitianischen Anführer eine Gedenktafel4 im Pantheon in Paris angebracht, auf der folgende Zeilen zu lesen sind: „À LA MÉMOIRE DE TOUSSAINT LOUVERTURE. COMBATTANT DE LA LIBERTÉ, ARTISAN DE L’ABOLITION DE L’ESCLAVAGE, HÉROS HAITIEN MORT DÉPORTÉ AU FORT DE JOUX EN 1803.“
Abbildung 1: Gedenktafel für Toussaint Louverture im Pantheon in Paris. © Isabell Lammel Des Weiteren wurde das ehemalige Gefängnis Fort de Joux – das 1996 zum historischen Denkmal erklärt wurde – zu einem Museum transformiert, in dem u. a. die Zelle Toussaints besichtigt werden kann.5 Dieser
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5
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Louverture und anderen Akteuren der Haitianischen Revolution benannt wurde. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 56. Die Errichtung der Gedenktafel wurde kontrovers debattiert. Sie kann entweder als eine versöhnliche Geste seitens Frankreichs interpretiert werden oder als ein Versuch, Toussaint für das republikanische Frankreich zu instrumentalisieren. Vgl. FORSDICK, 2005, S. 15. Insgesamt stellt die Stadt Pontarlier eine Ausnahme hinsichtlich der Erinnerung an Toussaint Louverture dar: Im Jahr 1937 benannte der damalige Bürgermeister der Stadt, Raymond Vauthier, als Erstes eine Straße nach Toussaint Louverture und 1972 erhielt eine Fachoberschule den Namen des haitianischen Revolutionsführers. Vgl. GENRE, 2013.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Erinnerungsort wurde 1987 vom damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand besucht, der den Sklavenführer in einer Rede würdigte:6 „Toussaint est l’un des grands hommes de son siècle, il est le symbole de l’émancipation des esclaves noirs mais aussi de l’émancipation de tous“.7 Im Bereich der audiovisuellen Medien entstanden in Frankreich in den letzten Jahren u. a. ein Dokumentarfilm sowie ein zweiteiliger Fernsehfilm über Toussaint. Im Jahr 2004 wurde der Dokumentarfilm Toussaint Louverture. Haïti et la France von Regisseur Laurent Lutaud gedreht und 2012 wurde der zweiteilige Spielfilm von Regisseur Philippe Niang im Fernsehen ausgestrahlt.8 Weitere Rezeptionszeugnisse aus dieser Epoche sind die Romane Le Chouan de Saint-Domingue von Bernard Gilles und Serge Quadru (1979), La deuxième mort de Toussaint-Louverture von Fabienne Pasquet (2001), L’Expédition von Claude Ribbe (2003), Toussaint Louverture, le précurseur von Jean Métellus (2004), Les roses noires de SaintDomingue von Michel Peyramaure (2007) sowie das Theaterstück Fort de Joux, avril 1803. Toussaint Louverture face à Napoléon Bonaparte von Éric Sauray (2003) und die Biografie Toussaint Louverture von Alain Foix (2007). Ferner setzte sich der ehemalige Profifußballer Lili-
6
7 8
Ähnlich wie bei der Gedenktafel im Pantheon kann die Würdigung als ein Angebot der Versöhnung oder als ein Versuch interpretiert werden, Toussaint zu einem Symbol des republikanischen Frankreichs zu machen. Zitiert nach LAMBALOT, 1989b, S. 51. In den USA entstand 2009 u. a. der Dokumentarfilm Égalité for all: Toussaint Louverture and the Haitian Revolution von Noland Walker, der 2011 auch vom deutsch-französischen Sender ARTE mit dem Titel Toussaint Louverture, le libérateur d’Haïti bzw. 1791 – Der Sklavenaufstand von Haiti ausgestrahlt wurde und zur Verbreitung des ToussaintMythos beitrug. Allerdings erhielten die Dokumentarfilme in Frankreich keine so große öffentliche Aufmerksamkeit wie der Spielfilm. Bereits vor 30 Jahren plante der US-amerikanische Schauspieler Danny Glover einen Spielfilm über Toussaint Louverture. 2006 bekam er zwar finanzielle Unterstützung des inzwischen verstorbenen venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez zugesichert, der Film wurde bisher aber nicht gedreht. Vgl. JEFFRIES, 2012. Falls dieses Filmprojekt doch noch realisiert wird, fände der Toussaint-Mythos dadurch in Frankreich sicherlich noch größere Verbreitung, da in Hollywood produzierte Filme bekanntlich auch in Europa stets ein großes Publikum finden.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
an Thuram in seinem Werk Mes étoiles noires. De Lucy à Barack Obama (2010) mit Toussaint Louverture auseinander. Durch die bedeutendere Anzahl der Rezeptionszeugnisse in dieser Epoche, die Aufnahme des schwarzen Revolutionsführers in andere literarische Gattungen sowie die Übernahme Toussaint Louvertures ins Massenmedium Film und in den öffentlichen Raum fand der ToussaintMythos eine weitaus größere Verbreitung als in früheren Epochen – eine Entwicklung, die für eine Rückkehr Toussaints ins kollektive Gedächtnis Frankreichs spricht. Bedeutsam ist, dass sich nicht mehr lediglich Schriftsteller aus den französischen Überseedepartements dem Thema zuwenden, sondern auch Autoren und Regisseure ohne antillanische Wurzeln. Diente Toussaint zuvor hauptsächlich den französischen Überseegebieten als Identifikationsfigur, so scheint er nun auch eine Vorbildfunktion für alle Franzosen zu übernehmen. Das wachsende Interesse am Toussaint-Mythos und seine umfangreiche Rezeption in verschiedenen Medien müssen vor dem Hintergrund der in Frankreich begonnenen Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit, die in den vergangenen Jahren vorangetrieben wurde, betrachtet werden. Nachdem die erste Welle der Kolonialisierung im Allgemeinen sowie Haiti im Besonderen viele Jahre dem Vergessen anheimgefallen war, konnte das Thema der Kolonialisierung bzw. Entkolonialisierung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen.9 Waren die Haitianische Revolution und ihr Anführer in der Historiografie Frankreichs bisher weitestgehend verschwiegen worden,10 so begannen ab den 1980er Jahren verschiedene Historiker wie beispielsweise Yves Bénot und Louis Sala-Molins, dieses Schweigen11 zu durchbrechen, und sie setzten sich kritisch damit auseinander. Auch die französische Politik unternahm zunehmend den Versuch, das koloniale Gedächtnis wiederzubeleben12 und die Integration der Geschichte und der 9 10 11
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Vgl. BANCEL, 2007. Vgl. Kapitel 1.2.2. Wenn das Schweigen auch an manchen Stellen durchbrochen wurde, so werden die Geschichte der Revolution auf den Antillen und insbesondere die Haitianische Revolution in Frankreich heute doch noch weitgehend verschleiert. Vgl. CAUNA, 2009, S. 5. Auch Dorigny hebt hervor, dass in der wissenschaftlichen Forschung und bei der Verbreitung des Wissens noch viel Arbeit zu leisten ist, bevor Haiti wieder ein Teil der französischen Erinnerung werden kann. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 56f. Vgl. BANCEL, 2007.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
historischen Figuren der ehemaligen Kolonien in das französische Gedächtnis zu fördern. Durch die Reden von François Mitterrand sowie von Jack Lang im Jahr 1989 wird das weiterhin vorherrschende Verschweigen der Haitianischen Revolution und Toussaint Louvertures in Frankreich noch ersichtlich: Bei der 200-Jahrfeier des Ballhausschwures sprach der damalige Präsident von „l’abolition de l’esclavage“13 ohne dabei die Revolution in Saint-Domingue oder deren Anführer zu erwähnen. Bei der Pantheonisierung zweier Mitglieder der Amis des Noirs, Condorcet und Abbé Grégoire, verschwieg der damalige Kulturminister die Haitianische Revolution und Toussaint Louverture.14 Ebenso spiegelt sich das Vergessen der Haitianischen Revolution und ihrer Errungenschaften in den Reden des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac wider: Im Jahr 1998 erwähnte Chirac anlässlich der 150-Jahrfeier der zweiten Abschaffung der Sklaverei die erste Abolition von 1794 mit keinem Wort,15 und im Jahr 2000 reichte das Vergessen der Haitianischen Revolution schließlich soweit, dass er auf einer Pressekonferenz während seines Staatsbesuchs in Guadeloupe erklärte: „Haïti n’a pas été, a [sic] proprement parler, une colonie française“.16 Diese Beispiele belegen, dass das Vergessen der gemeinsamen Vergangenheit beider Staaten tief im französischen Unterbewusstsein verankert ist.17 Allerdings zeugt die Tatsache, dass neben Toussaint Louverture, auch der aus Guadeloupe stammende Widerstandskämpfer Louis Delgrès (1998) sowie Aimé Césaire (2011) auf Gedenktafeln im Pantheon verewigt wurden, von der Intention der Integration der antillanischen
13 14 15
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MITTERRAND, 1989, S. 16. Vgl. SALA-MOLINS, 1992, S. 188-191; SALA-MOLINS, 1994, S. 2. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 49. In seiner Rede pries Chirac das französische Integrationsmodell und betonte, dass Frankreich „a su accueillir et intégrer dans la communauté nationale les générations successives d’hommes et de femmes qui ont choisi de s’installer définitivement sur notre sol.“ Zitiert nach SAUX, 1998, S. 6. Delas prangert an, dass Frankreich eines Sieges der Franzosen über sich selbst, eines Sieges des republikanischen Humanismus gedachte und die Rolle der Sklaven verschwiegen wurde, da Frankreich noch nicht wirklich bereit war und ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Vgl. DELAS, 2001, S. 266-274. CHIRAC, 2000. Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 49.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Geschichte ins kollektive Gedächtnis. Zudem traten in Frankreich ab den 1990er Jahren verschiedene Lois mémorielles18 in Kraft: Das Gesetz vom 10. Mai 2001, das sogenannte Taubira-Gesetz,19 durch das der Sklavenhandel und die Sklaverei zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt wurden, sowie das Gesetz vom 23. Februar 2005 über die französische Präsenz auf anderen Kontinenten20 betreffen die ehemaligen Kolonien Frankreichs, wobei insbesondere Paragraf 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 über die positive Rolle der Kolonialisierung heftige Debatten auslöste: Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l’histoire et aux sacrifices des combattants de l’armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit.21
Infolge des erheblichen Widerstands in Frankreich und den ehemaligen Kolonien22 wurde genau dieser Satz aus dem 4. Paragrafen des Gesetzes gestrichen. Wenn die Erinnerungsgesetze auch umstritten sind,23 konnten insbesondere das Gesetz vom 10. Mai 2001 und die dadurch ausgelösten Diskussionen zu einer Bewusstwerdung der ersten vergessenen 18 19 20 21 22
23
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Ein sogenanntes Erinnerungsgesetz legt die offizielle Ansicht eines Staates bezüglich historischer Ereignisse fest. Vgl. LEGIFRANCE, 2001. Vgl. LEGIFRANCE, 2005. LEGIFRANCE, 2005. Der Schriftsteller Aimé Césaire sagte 2005 aufgrund dieses Paragrafen ein geplantes Treffen mit dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy bei seiner Reise nach Martinique ab. Vgl. LE NOUVEL OBSERVATEUR, 2008. Historiker befürchteten, dass sich aus den Erinnerungsgesetzen Einschränkungen der Forschungs- und Meinungsfreiheit ergeben könnten. Gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau wurde 2005 denn auch auf der Grundlage des sogenannten Taubira-Gesetzes Klage eingereicht, da dieser in einem Interview, das am 12. Juni 2005 im Journal du dimanche veröffentlicht wurde, die Charakterisierung des Sklavenhandels als Völkermord ablehnte. Daraufhin riefen am 13. Dezember 2005 neunzehn Historiker in der Tageszeitung Libération zur Freiheit der Geschichte auf. Vgl. AZÉMA u. a., 2005. Zwar wurde die Klage gegen den Historiker 2006 zurückgezogen, dennoch haben sich inzwischen über tausend Historiker dieser Petition angeschlossen und verlangen die Abschaffung der vier Erinnerungsgesetze. Vgl. NORA/CHANDERNAGOR, 2008.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Welle der französischen Kolonialisierung führen und somit auch Haiti wieder mehr in den Fokus rücken.24 Als ein Beleg für das zunehmende Interesse an Haiti auf politischer Ebene kann auch die Einberufung eines Comité de réflexion et de propositions sur les relations franco-haïtiennes unter der Leitung des französischen Philosophen und Schriftstellers Régis Debray gewertet werden – auch wenn Debray in seinem Bericht an den damaligen Außenminister Dominique de Villepin im Jahr 2004 Folgendes konstatieren musste: „Haïti fait partie de notre histoire, mais non de notre mémoire.“25 Die bereits unternommenen Anstrengungen für die Wiederbelebung des kolonialen Gedächtnisses deuten jedoch an, dass die gemeinsame Vergangenheit Frankreichs und Haitis langsam wieder Teil der französischen Erinnerung wird. Ebenso weisen die zahlreichen Renarrationen des Toussaint-Mythos darauf hin, dass auch Toussaint dabei ist, sich allmählich einen Weg zurück ins kollektive Gedächtnis Frankreichs zu bahnen. Aufgrund der großen Anzahl an Rezeptionszeugnissen werden nachfolgend nur einige der angesprochenen Werke untersucht und zwar jene, die eine besondere Herangehensweise an den Mythos aufweisen und Toussaint eine neue Funktionalisierung zuteilen.
24 25
Vgl. DORIGNY, [2005] 2006, S. 56. DEBRAY, 2004, S. 18.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
3.6.1 Eine metamythische Herangehensweise: Fabienne Pasquet und Éric Sauray Für eine neue, sehr außergewöhnliche Darstellung des ToussaintMythos optierten die Schriftstellerin mit haitianischen Wurzeln1 Fabienne Pasquet2 in ihrem Roman La deuxième mort de Toussaint Louverture3 sowie der 1971 in Haiti geborene und in Frankreich lebende Jurist und Politologe Éric Sauray in seinem Theaterstück Fort de Joux, avril 1803. In den beiden in Frankreich veröffentlichten Werken nähern sich die Autoren dem Mythos auf metamythische Art und Weise,4 indem sie eine fiktive Begegnung Toussaints mit einer bekannten historischen Persönlichkeit, die mit ihm über sein Lebenswerk spricht, in den Mittelpunkt stellen. In Pasquets Roman, der durch die Dialogizität und den gleichbleibenden Ort an ein Theaterstück erinnert,5 trifft Toussaint auf den deutschen Dichter Heinrich von Kleist, der im Jahr 1807 auch in der Realität im Fort de Joux Gefangener Napoleons war. Kleist selbst befasste sich ebenfalls literarisch mit der Haitianischen Revolution und zwar in seinem Werk Die Verlobung in St. Domingo,6 das 1811 zum ersten Mal 1
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Fabienne Pasquet wurde als Kind eines haitianischen Vaters und einer französisch-schweizerischen Mutter russischer Herkunft 1954 in Genf geboren. Vgl. CIEF, 2004. Die Autorin schrieb zudem 2002 das Libretto zur Oper Tous Un, die zum 200. Todestag Toussaint Louvertures im Jahr 2003 in Pontarlier uraufgeführt wurde und deren Musik von Patrick Defossez und Anne de Baecker komponiert wurde. Für den Hinweis auf diese Oper danke ich Prof. Dr. Andreas Gipper. Für diesen Roman erhielt Fabienne Pasquet 2002 in der Schweiz den Schillerpreis und 2003 in Frankreich den Marcel Aymé-Preis. Vgl. CIEF, 2004. Metamythisch bedeutet, dass der Mythos in den Renarrationen selbst reflektiert wird. Vgl. WODIANKA, 2005b; Kapitel 2.2. Vgl. CAUVILLE, 2006, S. 41. Zwar handelt Kleists Novelle von der Haitianischen Revolution, spielt allerdings nicht unter der Herrschaft Toussaints, sondern unter jener Dessalines’. Toussaint Louverture findet bei ihm keine Erwähnung. Die Novelle ist aber deshalb von so großer Bedeutung, weil sie in der deutschen Literatur den bekanntesten Text über Haiti darstellt (vgl. Uerlings, 1991, S. 344) und zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von weiteren Erzählungen und Romanen wurde wie beispielsweise Anna Seghers’ Die Hochzeit von Haiti (1949), Heiner Müllers Der Auftrag (1979) und Hans
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
veröffentlicht wurde. Bei Pasquet erscheint Kleist nun der Geist des in derselben Zelle verstorbenen Toussaints, der nur von ihm gesehen werden kann. Der deutsche Dichter vertritt eine typisch europäische bzw. eurozentristische Sichtweise auf den Toussaint-Mythos, und im Dialog mit Toussaint werden schrittweise alle Mytheme metamythisch abgearbeitet, wodurch es zu einer Demythisierung kommt. Toussaint selbst identifizierte sich zu sehr mit dem von Abbé Raynal in seinem Werk Histoire des deux Indes angekündigten Helden und erkennt erst im Dialog mit Kleist, dass dies sein Fehler war und er dadurch sein wirkliches Ich aus den Augen verloren hatte, indem er sich zu dem machen ließ, was die Weißen von ihm erwarteten und in ihm gesehen haben. Am Ende des Romans begreift Toussaint Louverture, dass sich sein Ableben 1803 nur für einen Teil von ihm realisierte, da sich sein Geist noch immer in Kleists Zelle befindet. Demnach ist nur dieser weiße Held gestorben, nicht aber sein kreolisches Ich. Bei Sauray geht für Toussaint im Gegensatz zum tatsächlichen Verlauf der Geschichte ein großer Wunsch in Erfüllung. Am Tag seines Todes, am 7. April 1803, kommt es im Gefängnis Fort de Joux zu einer Begegnung mit Napoleon, an den er zuvor zahlreiche Briefe adressiert hatte, aber keine Antwort erhielt. Im Theaterstück, das aus zwei Akten besteht und nur den Tag des 7. April 1803 umfasst, führt Toussaint im ersten Akt Dialoge mit einem Geistlichen und seinem Gefängniswärter, wobei er am Ende ruft, dass Napoleon endlich zu ihm kommen soll. Im zweiten Akt steht der Dialog zwischen den beiden historischen Figuren im Mittelpunkt und verschiedene Mytheme werden, wie auch bereits in den Gesprächen des ersten Akts, metamythisch aufgegriffen und Toussaint rechtfertigt seine Handlungsweise. Toussaint, der davon ausgegangen war, dass Napoleon ihn frei lässt, sobald er ihm die Gründe für all seine politischen Taten offenbart, ist enttäuscht und wütend. Nachdem Napoleon das Gefängnis verlassen hat, verwünscht Toussaint Frankreich so stark, dass er sich vollkommen verausgabt und stirbt. Sein Leichnam wird anschließend in eine haitianische Flagge gehüllt. Der Zuschauer wird am Ende ausdrücklich dazu aufgefordert, kein Mitleid für Toussaint Louverture zu empfinden, da nicht sein Leben, sondern die Geschichtsschreibung tragisch verlaufen ist, die dafür verantChristoph Buchs Die Hochzeit von Port-au-Prince (1984). Vgl. UERLINGS, 1991; UERLINGS, 1997; STILLMARK, 1991; LÜTZELER, 1999.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
wortlich sei, ob Menschen in Erinnerung behalten oder vergessen werden. In beiden Werken wird eine Vereinnahmung Toussaints als Held der Französischen Republik abgelehnt. Um zu dieser am Ende der Werke stehenden Distanzierung von Frankreich zu gelangen, gehen die Autoren unterschiedliche Wege. Während bei Sauray die Rechtfertigung Toussaints gegenüber Napoleon sowie eine Desillusionierung hinsichtlich des Ersten Konsuls und Frankreichs im Mittelpunkt stehen, findet bei Pasquet durch den Dialog zwischen Toussaint und Kleist eine Offenlegung und Demythisierung der durch die französische Literatur erzeugten europäischen Perspektive auf den Toussaint-Mythos statt. Interessanterweise rekurrieren die beiden Autoren daher auch auf völlig unterschiedliche Mytheme. 3.6.1.1 Die Demythisierung der europäischen Perspektive auf Toussaint Zunächst werden bei Pasquet auf die Mytheme des Aussehens und der Bildung des haitianischen Revolutionsführers metamythisch Bezug genommen: Als Kleist in die einstige Zelle des Freiheitskämpfers gebracht wird, stellt er sich ihn als eine Art wunderschönen Halbgott vor: „Le Prussien ferma les yeux invoquant le Spartacus noir, beau comme un demi-dieu, brandissant l’étendard de la Liberté contre ces gueux de Français.“7 Aufgrund seiner romantischen Idealisierung des Helden8 kann Kleist zunächst nicht glauben, dass es sich bei dem kleinen, hässlichen, von Schmerzen gelähmten Mann in seiner Gefängniszelle um Toussaint handeln soll: „Ce Nègre était trop intelligent pour un Nègre, trop laid et perclus de douleurs pour être un héros ressuscité.“9 Ferner ist Kleist der festen Überzeugung, dass Toussaint Louverture des Lesens und Schreibens mächtig war, und er kann trotz Toussaints Einwänden nicht glauben, dass die drei bedeutendsten Kolonialmächte jener Epoche einem Analphabeten unterlagen: „Mais Toussaint savait écrire. Jamais un analphabète n’aurait pu tenir en échec l’Espagne, l’Angleterre et la France, soit les trois plus grandes puissances colo7 8 9
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PASQUET, 2001, S. 28. Vgl. NZENGOU-TAYO, 2008, S. 209. PASQUET, 2001, S. 65.
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niales du monde. Jamais!“10 Toussaint macht ihm daraufhin diese europäische Theorie, der zufolge jemand, der nicht lesen, zugleich auch nicht denken kann, zum Vorwurf: „L’étrange sourire plissa à nouveau le visage de Toussaint qui, changeant de sujet, déclara être toujours surpris par cette conviction des Blancs selon laquelle ‚qui ne savait pas écrire était incapable d’agir ou de penser correctement‘.“11 Kleist fällt es dennoch sehr schwer zu glauben, dass Toussaint sich sein Wissen über Kriegsstrategien nicht mithilfe von Büchern angeeignet haben soll. Dieser Gedanke scheint seinem Weltbild zu widersprechen, was Toussaint wiederum sehr naiv und erheiternd findet: […] il lui était difficile de croire, expliqua-t-il au vieux, que le stratège qui avait mis en échec les trois plus grandes puissances ait été un analphabète. La stratégie était une science qui requérait de profondes connaissances qu’on étudiait d’abord dans les traités. Toussaint abasourdi par tant de naïveté se mit à rire, masquant des deux mains sa bouche édentée. Peut-être pour les Européens d’aujourd’hui, suggéra-t-il reprenant son sérieux, mais Kleist ne pensait-il pas que ceux qui avaient écrit ces traités avaient d’abord été des guerriers?12
Bei Pasquet wird somit hervorgehoben, dass Alphabetismus nichts über die Intelligenz einer Person auszusagen vermag und Toussaint auch ohne diese Fähigkeit drei Kolonialmächte besiegen konnte. Diese Darstellung widerspricht der Überzeugung vieler früherer Autoren, die Toussaint aufgrund seiner Bildung, die ihn von den anderen Aufständischen abhob, glorifizierten13 oder ihm aufgrund seiner Ungebildetheit Dummheit unterstellten.14 Die Vorstellung Kleists vom ansehnlichen und belesenen Helden wird im Roman durch die Demythisierung beider Mytheme zerstört. Kleist nimmt aus seiner europäischen Perspektive zudem Bezug auf Toussaints Rolle als Medizinmann und auf seine Religion. Der deutsche
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PASQUET, 2001, S. 79. PASQUET, 2001, S. 79f. PASQUET, 2001, S. 108f. Vgl. beispielsweise RÉGIS, 1818. Vgl. beispielsweise PÉRIN, 1802.
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Dichter konfrontiert Toussaint mit der Annahme, er sei ein Hexer gewesen,15 woraufhin Toussaint ihm seine Tätigkeit erläutert: Toussaint lui lança un regard amusé, et répondit qu’il l’était sans doute un peu. D’habitude ce terme faisait peur aux Blancs, mais en effet le poète ne ressemblait pas beaucoup à ses congénères. Cependant, en français, on appelait celui qui guérissait ses semblables un docteur ou un médecin. En 1791, il avait rejoint la révolte des esclaves comme médecin des armées avant d’en prendre la tête. Chez lui on disait docteurfeuilles.16
Toussaint demythisiert das Mythem, indem er Kleist erklärt, dass der Begriff des Hexers lediglich impliziere, dass er sich in der Pflanzenheilkunde auskannte und durch diese Kenntnisse, die ihm seine Eltern weitergaben, Tiere und Menschen heilen konnte.17 Da Toussaint schon früh erkannt hatte, dass Hexerei für Weiße inakzeptabel war, folgerte er, dass ein Bekenntnis zum Voodoo seinen Erfolg hätte gefährden können und erklärte daher den Katholizismus zur alleinigen Religion: Malgré sa force, son courage et ses victoires, les colons n’avaient jamais considéré Makandal18 que comme un misérable sorcier nègre plus habile que les autres. Toussaint avait alors compris que jamais, face aux Blancs, il ne fallait prêter le flanc à des accusations de sorcellerie. Elles leur permettraient de réduire à néant les entreprises les plus grandes et les plus honorables. Devenu chef, il s’en souviendrait et afficherait un catholicisme irréprochable.19
Anhand des Zitats wird ersichtlich, dass sich Toussaint während seiner Zusammenarbeit mit den Weißen aus taktischen Gründen20 mimetisch
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Vgl. PASQUET, 2001, S. 58. PASQUET, 2001, S. 58. Vgl. PASQUET, 2001, S. 61f. Zu Makandal siehe Anm. 12 in Kapitel 3.5.2. PASQUET, 2001, S. 184. Wie bereits bei Glissant und Césaire wird auch Toussaints Gefangennahme bei Pasquet als Teil der Strategie des haitianischen Anführers angesehen: „C’était un acte politique, un sacrifice de guerre.“ PASQUET, 2001, S. 192.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
verhielt und zur christlichen Religion bekannte. Seine Darstellung als treuer Katholik, die in früheren Werken, wie beispielsweise bei Lamartine, zur Glorifizierung Toussaints genutzt wurde, wird somit demythisiert. Allerdings wurde diese Religion auch Teil seiner Identität, die er im Dialog mit Kleist versucht, allmählich wieder abzustreifen. Zwei Mytheme, die metamythisch aufgenommen werden und keine Demythisierung erfahren, sind jene der Sexualität Toussaints und des Schatzes. Wurde bisher die Sexualität Toussaints durchgängig so thematisiert, dass er entweder als treuer Ehemann oder als Frauenheld in Szene trat, fragt Toussaint in Pasquets Werk Kleist direkt nach der Obsession der Weißen mit dem männlichen Geschlechtsteil der Schwarzen: „Pourquoi donc le sexe des Nègres vous intrigue-t-il à ce point, tous autant que vous êtes?“21 Kleist bleibt eine Antwort darauf schuldig und wendet sich von Toussaint ab. An anderer Stelle wird die Irritation und Konsternation Kleists anhand des großen Geschlechtsteils des schwarzen Toussaints zementiert: „Kleist ferma les yeux de toutes ses forces, mais la vision de ce sexe vaillant, bien qu’à moitié mais néanmoins outrageusement dressé, s’incrustait à l’intérieur de ses paupières.“22 Die an Kleist gerichtete Frage führt in diesem Fall nicht zur Demythisierung des Mythems, sondern bleibt im Raum stehen. Im gesamten Roman23 denkt Kleist sehnsüchtig an den Schatz Toussaints, durch den er sich all seiner finanziellen Sorgen entledigen könnte: „L’idée de sortir de prison, avec en poche une carte indiquant la cachette d’un trésor qui lui permettrait de ne plus jamais avoir à se soucier de ses besoins matériels, exaltait le jeune homme.“24 Daher fragt er Toussaint kurz vor dessen zweitem Tod noch ein letztes Mal nach dem Schatz. Toussaint bittet aber, dieses letzte Geheimnis des Helden Toussaint unenthüllt zu lassen: „Ça, c’est du ressort du héros. Laissons, veux-tu? Ne lui enlevons pas tout, concédons-lui sa part de mystère. L’immortalité se construit, m’as-tu dit.“25 Somit wird dieses Mythem zwar metamythisch aufgenommen, aber es findet – auf ausdrücklichen Wunsch Toussaints – keine Demythisierung statt.
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PASQUET, 2001, S. 121. PASQUET, 2001, S. 177f. Vgl. beispielsweise PASQUET, 2001, S. 50, 65, 154. PASQUET, 2001, S. 65. PASQUET, 2001, S. 212.
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Durch die Gespräche mit dem deutschen Dichter und die dadurch erfolgte schrittweise Demythisierung des Mythos wird Pasquets Toussaint bewusst, dass er sich zu sehr von diesen – auch von Kleist vertretenen – europäischen Ideen und Idealen leiten ließ. Er gesteht Kleist, dass er sich in seinem Leben zu stark mit dem vom französischen Schriftsteller Abbé Raynal in seinem Werk Histoire des deux Indes prophezeiten Helden identifizierte: [...] tu as dit que je me suis identifié au héros inventé par l’abbé Raynal et tu as raison. Ce héros a été rêvé par un Blanc, et sa peau est noire, en effet. Mais si l’esprit est empreint des traditions qui l’ont façonné, et elles peuvent être multiples et variées, ce qui est mon cas, sache que le cœur est peint des couleurs des sentiments, qui, eux sont communs à tous les hommes. Ce dont tu m’as fait prendre conscience pourtant, c’est qu’à force de m’identifier au héros de Raynal, j’ai perdu de vue qui je suis. Car, là encore, je te donne raison, je ne suis qu’une copie de ce héros.26
Toussaint erkennt sein mimetisches Verhalten und den dadurch erzeugten Verlust seiner wahren Identität und schildert dem Dichter, wie es zu solch einer Assimilierung kommen konnte. Dazu verweist er erneut auf seine zunehmende Identifikation mit dem von Raynal vorhergesagten schwarzen Spartakus und sein schleichendes Vergessen anderer Identitätsmerkmale: Durant la révolution, poursuivit le vieil homme devenu pensif, à mesure que les siens gagnaient du terrain et que lui-même s’affirmait comme chef, de plus en plus souvent, face aux Blancs, il s’identifiait à ce Toussaint-Louverture inventé à l’image du héros de Raynal. Ce personnage était bien entendu mâtiné d’autres modèles, mais quand il s’était retrouvé en France, dans cette forteresse, il les avait oubliés. Il avait cru devoir se limiter à être ce que les Blancs attendaient qu’il fût.27
Nachdem Toussaint verstanden hat, dass er sich zu einer Figur der Weißen modellieren ließ und er sich nun in zunehmendem Maße auf 26 27
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PASQUET, 2001, S. 165f. PASQUET, 2001, S. 185.
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seine kreolische Identität rückbesinnt, wird ihm immer mehr bewusst, dass er durch seine Assimilierung den Franzosen zu viel Vertrauen und Loyalität geschenkt hat und daher einen gravierenden Fehler beging: die Ermordung seines Neffen Moïse. Dieses Mythem ist eines der wichtigsten und dominantesten Mytheme in Pasquets Roman. Zum ersten Mal kommt das Thema Moïse zur Sprache, als Kleist Toussaint bittet, eine Ratte, die in ihrer Zelle aufgetaucht ist, zu töten. Toussaint, der diese Ratte auf den Namen Moïse getauft hat, ist nicht bereit, das Lebewesen umzubringen, da er bereits einen Moïse auf dem Gewissen hat, wie er dem Dichter erklärt: „De toute façon, je n’ai pas l’intention de mettre à mort cet animal. C’est mon ami. Et puis j’ai déjà tué Moïse et je n’en suis pas fier.“28 Ausgelöst durch diese Konversation mit Kleist beginnt Toussaint, an seinen Neffen zu denken, den er erschießen ließ, um gegenüber Napoleon Bonaparte seine Verbundenheit mit Frankreich zu manifestieren: Et que, précisément cet être-là, lui, Toussaint-Louverture, gouverneur de Saint-Domingue, l’avait fait fusiller. Au fond de son cœur, Toussaint avait toujours su que c’était comme s’il l’avait exécuté de sa propre main. Car en sacrifiant Moïse, qui était non seulement un de ses meilleurs généraux mais aussi son neveu, le gouverneur de Saint-Domingue avait cueilli l’occasion de prouver à Bonaparte son attachement à la France.29
Erst im Gefängnis gelangt Toussaint zur Erkenntnis, dass seine Generäle Moïse und Dessalines recht hatten, als sie ihn vor den Franzosen warnten.30 Sein Neffe hatte ihm zum Vorwurf gemacht, dass er sein Volk nicht mehr verstünde: ‚Mauvaise liberté et bonne souffrance, discours de Blanc! Ton cerveau a blanchi, Toussaint, et ta sagesse s’évanouit. Tu n’es plus capable d’entendre les tiens, alors tu les élimines. Détruire la gangrène pour préserver le corps, dis-tu. Je connais la chanson, docteur! Diagnostic et remède de Blanc. Mauvais diagnostic et mauvais remède. Un jour tu te
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PASQUET, 2001, S. 129. PASQUET, 2001, S. 129. Vgl. PASQUET, 2001, S. 130.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos rappelleras les paroles de Moïse, et j’espère pour mes frères qu’il ne sera pas trop tard. La gangrène, mon oncle, c’est les Blancs‘, affirmait le jeune général.31
Toussaint versichert Kleist, dass er seinen Neffen wie einen Sohn liebte, aber er auf dessen Verrat hin keine andere Möglichkeit sah, als ihn töten zu lassen.32 Seine zunehmende Desillusionierung in Bezug auf Napoleon und die Franzosen allgemein führt dazu, dass er inzwischen zutiefst bereut, seinen eigenen Neffen für die Gunst Frankreichs geopfert zu haben. Diese Enttäuschung Toussaints lässt sich auch aus dem Mythem „Du Premier des Noirs au Premier des Blancs“ herauslesen. Während dieses Schreiben Toussaint oftmals als Anmaßung ausgelegt wurde, greift Kleist im Roman die Formel „Premier des Blancs“ auf und lehnt sie empört ab, da für ihn Toussaint eindeutig über Napoleon steht: „Le ‚Premier des Blancs‘! Vous l’avez écrit, je l’ai vu, lu de mes propres yeux. Et pourtant vous savez qu’il a rétabli l’esclavage dans les colonies! Le ‚Premier des Anthropophages‘, oui!“33 Kleist, der auf Befehl Napoleons ins Fort de Joux gebracht wurde, bringt in diesem Zitat seine Verachtung gegenüber dem damaligen Kaiser zum Ausdruck. Toussaint gibt daraufhin zu, dass er sich in Napoleon und dessen Absichten getäuscht habe: „Vu de là-bas, c’était la liberté en marche. La France et sa liberté. La liberté à l’assaut de l’Europe et du monde.“34 Die Demythisierung des Mythos im Dialog mit Kleist, die Desillusionierung hinsichtlich Napoleons und Frankreichs und die allmähliche Rückbesinnung auf seine kreolische Identität führen Toussaint zur Erkenntnis, dass bei seinem ersten Tod 1803 nur der weiße Held gestorben ist, nicht aber sein wahres Ich: Fils de Noirs alladiens, né à Saint-Domingue, patiné de culture blanche, je tente de cerner cet homme créole que je suis. Je ne me résume pas au héros blanchi, derrière le masque duquel la mort m’a fauché, et raté. Tu vois bien, en mourant ce héros-là n’a pas suffi à me faire accéder au
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PASQUET, 2001, S. 131f. Vgl. PASQUET, 2001, S. 133. PASQUET, 2001, S. 78. PASQUET, 2001, S. 78f.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis monde des ancêtres. La hiérarchie est une prérogative des vivants. La mort s’est mise en veilleuse afin que je me dépouille de mes peaux inutiles. C’est ma dernière mue. La mort est gourmande, je n’ai que peu de temps.35
Das Mythem des Todes weist im Roman somit die Besonderheit auf, dass Toussaint zwei Mal sterben muss. Der erste Tod, der für Toussaint allerdings unvollendet blieb, liegt, als Toussaint dem deutschen Dichter in dessen Gefängniszelle erscheint, bereits vier Jahre zurück. Toussaint wird bewusst, dass er erst diese weiße Maske36 abnehmen muss, um nicht mehr als Geist umherzuirren, sondern wirklich sterben und zu seinen Vorfahren zurückkehren zu können: J’avais enfoui dans l’oubli tous les enseignements de mon père. J’ai erré, pendant quatre ans, dans une nuit si profonde qu’aucune voix des ancêtres ne m’est parvenue, j’ai divagué dans la lande désolée des esprits maudits. Je suis là, à présent, pour réussir ma mort.37
Toussaint dankt Kleist, der ihn heraufbeschworen und ihm damit die Möglichkeit verschafft hat, zu seiner wahren Identität zu finden und einen zweiten Tod zu sterben: Si je suis ici, c’est à cause de toi, ou, pour être franc, grâce à toi. Je suis là pour reprendre les derniers pas qui me conduisent à la mort, et cette fois il ne me faut pas rater l’issue. Tu m’as appelé, comme personne avant toi n’a su le faire. Par bonheur. Je t’en remercie, et je saurai en profiter.38
Dieser im Mittelpunkt stehende und bereits im Titel erwähnte zweite Tod Toussaints, der erst durch seine Rückbesinnung auf seine kreolischen Wurzeln möglich wird, veranschaulicht gleichzeitig die Toussaint im Roman zugewiesene Nationalität. Die alleinige französische Natio35 36
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PASQUET, 2001, S. 208f. Diese von Schwarzen getragene weiße Maske prangerte auch Frantz Fanon in seinem Werk an. Vgl. FANON, [1952] 1975. An diese Thematik knüpfte Homi Bhabha an. Vgl. BHABHA, 1994; Kapitel 2.3. PASQUET, 2001, S. 186. PASQUET, 2001, S. 187.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
nalität wird strikt zurückgewiesen und Toussaint wird als Kreole und hybride Persönlichkeit angesehen, die durch die Kultur seiner aus Afrika stammenden Vorfahren sowie der weißen Kultur auf SaintDomingue geprägt wurde.39 Insgesamt kann festgehalten werden, dass es bei Pasquet durch die Demythisierung der nicht zuletzt durch die französische Literatur geprägten Mytheme des Toussaint-Mythos zur Zerstörung des eurozentristisch geprägten Bildes des haitianischen Helden kommt. Insbesondere Mytheme, die früher der Glorifizierung Toussaints dienten, wie beispielsweise seine Bildung bei Régis (1818) sowie seine Religion bei Lamartine (1850) werden demythisiert. Die Assimilation Toussaints als strategisches Vorgehen wird aufgezeigt, wobei deutlich wird, dass Toussaint sich letzten Endes selbst zu sehr mit dem von Raynal prophezeiten Helden identifizierte und einen Teil seiner Identität einbüßte. Im Dialog mit Kleist perzipiert Toussaint, dass er mehr ist als dieser europäische Held, und er macht sich gemeinsam mit Kleist auf die Suche nach seiner wahren Identität. Toussaint wird gewahr, dass er Frankreich zu viel Vertrauen entgegenbrachte und die zunehmende Enttäuschung im Hinblick auf Frankreich und Napoleon lassen ihn seinen schwerwiegenden Fehler, die Erschießung Moïses, eingestehen. Die allmähliche Rückbesinnung auf sein wahres kreolisches Ich führt Toussaint zur Erkenntnis, dass bei seinem ersten Tod nur der weiße Held Toussaint gestorben ist. Erst als Toussaint sich seiner weißen Maske, die er sich während seiner Herrschaft angelegt hat, entledigt, kann er zu seinen Vorfahren zurückkehren. Klar opponiert wird durch diese Entwicklung Toussaints im Roman gegen eine europäische Sichtweise auf den haitianischen Revolutionsführer sowie gegen eine Vereinnahmung des haitianischen Helden vonseiten Frankreichs. 3.6.1.2 Die Justifikation und Desillusionierung Toussaints Im zweiten Akt des Theaterstücks von Sauray spielt sich ein Treffen zwischen Toussaint und Napoleon ab, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Toussaint bezweckt, den Dialog zu nutzen, um seine Taten zu rechtfertigen: „J’ai toujours agi dans l’intérêt de la France. J’ai tou-
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Vgl. PASQUET, 2001, S. 208.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
jours pris mes décisions en étant sûr que c’est ce qui conviendrait à la France.“40 Toussaint rühmt sich damit, die Engländer von der Insel vertrieben zu haben, und weist eine Zusammenarbeit mit ihnen strikt von der Hand.41 Ferner bestreitet er seine Schuld am Bürgerkrieg zwischen Schwarzen und Mulatten und hebt stattdessen hervor, dass die Wiederherstellung der Ordnung in Saint-Domingue nach dem Krieg sein Verdienst war und er damit wiederum zum Wohle der Kolonie und des Mutterlandes gehandelt habe: „C’est moi qui ai rétabli l’ordre à SaintDomingue en mettant fin à la guerre civile.“42 Des Weiteren wird auch das Mythem der Verfassung, das eine dominierende Rolle im Stück spielt, da Napoleon insbesondere daran den Verrat Toussaints am Mutterland festmacht, metamythisch zwischen den beiden historischen Personen diskutiert. Bereits zu Anfang des Stückes wirft der Kommandant des Gefängnisses Toussaint den Erlass der Konstitution vor: „[...] un homme qui édicte une Constitution [...], ce n’est pas un agneau, c’est un loup, monsieur.“43 Im Dialog macht Napoleon Toussaint aufgrund der Verfassung schließlich klar, dass er nicht unschuldig sein kann: „[...] je le dis tout haut parce que si quelqu’un qui écrit une Constitution pour diviser la France est un innocent, alors, moi aussi, malgré tout ce que j’ai fait, je suis un innocent.“44 Napoleon bezeichnet den Erlass der Verfassung, die auch die Ernennung Toussaints zum Gouverneur auf Lebenszeit beinhaltete, als unverzeihliche Tat: C’est surtout cela que je ne vous pardonne pas, Toussaint et je ne vous le pardonnerai jamais, mon cher ami. Oui, même si je fais semblant d’ignorer que vous avez négocié un pacte avec les Anglais, je ne peux pas digérer cette folie qui vous a poussé à commettre cet acte grave. Oui, faire une Constitution pour vous nommer Gouverneur à vie avec le droit de nommer votre successeur, c’est une insulte pour moi et pour la France. Et en plus vous avez osé me demander mon accord, ce qui veut dire que vous me prenez pour un imbécile.45
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SAURAY, 2003, S. 67. Vgl. SAURAY, 2003, S. 65. SAURAY, 2003, S. 65. SAURAY, 2003, S. 48. SAURAY, 2003, S. 66. SAURAY, 2003, S. 66.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Toussaint hingegen beharrt darauf, dass die Konstitution für das Funktionieren der Kolonie notwendig war, er dabei stets die Interessen Frankreichs im Blick hatte und keinesfalls die Unabhängigkeit SaintDomingues anstrebte.46 Diese Rechtfertigungen zeigen, dass Toussaint Frankreich als sein Vaterland zu betrachten scheint und er aus seiner Sicht viel für diese Nation getan habe: „c’est la mère patrie pour laquelle j’ai tout sacrifié.“47 Toussaint beruft sich auf die vielen Dienste, die er dem Mutterland erwiesen hat: „Venez voir ce que vous avez fait d’un des plus nobles, d’un des plus zélés, d’un des plus tenaces, d’un des plus grands serviteurs de la France.“48 Gegenüber Napoleon deklariert Toussaint explizit seine Liebe zu Frankreich und versichert ihm, dass er den Posten als Gouverneur nur angenommen habe, um der Republik zu dienen: Quand je servais la France comme un honnête citoyen, je ne le faisais pas pour vous faire plaisir. Quand je risquais ma vie dans les batailles pour la France, je ne le faisais pas pour vous faire plaisir, monsieur le Premier Consul. Je l’ai fait parce que j’aime la République. Je l’ai fait parce qu’en bon général j’aime la patrie et j’ai le goût de l’honneur. Et quand j’ai accepté le poste de Gouverneur, c’était pour sauver l’honneur de la République menacée de tous les côtés.49
Somit wird im Theaterstück durch Toussaint selbst manifestiert, dass er sich keineswegs illoyal gegenüber Frankreich verhalten habe. Stattdessen wird dargelegt, dass er sich als Franzose versteht und die Kolonie im Sinne der Republik verwalten wollte. Während Toussaint Napoleon seine Loyalität gegenüber Frankreich belegt, wird ihm durch den Dialog zunehmend bewusst, dass es ein Fehler war, Frankreich und dem Ersten Konsul uneingeschränktes Vertrauen geschenkt zu haben, und es findet eine Ernüchterung des Revolutionsführers statt. Diese Desillusionierung Toussaints wird insbesondere anhand der Mytheme der Gefangennahme und des Schatzes aufgezeigt: Nachdem Toussaint vom bevorstehenden Besuch Napoleons erfahren
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Vgl. SAURAY, 2003, S. 67. SAURAY, 2003, S. 42. SAURAY, 2003, S. 43. SAURAY, 2003, S. 68.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
hat, stellt er am Ende des ersten Akts in einem Monolog viele an Napoleon gerichtete Fragen in den Raum, darunter auch die Frage nach den Gründen für seine Gefangennahme: „Venez me dire les raisons de mon arrestation par des lâches. Venez me dire pourquoi j’ai été embarqué d’abord sur ‘La Créole’ puis, par ironie, on m’a embarqué sur ‘Le Héros’.“50 Im Zwiegespräch mit Napoleon erhält er schließlich Antworten und stellt erstaunt und indigniert fest, dass Napoleon seinen Schwager nach Saint-Domingue gesandt hat, um sich seiner zu entledigen. Es wird deutlich, dass Saurays Toussaint – im Gegensatz zum Toussaint bei Pasquet – die drohende Gefahr einer Gefangennahme, die von Napoleon befohlen wurde und die Toussaint als Verrat ansieht, aufgrund seines unerschütterlichen Vertrauens in Frankreich im Vorfeld nicht erkannte: Ah! Napoléon vous êtes terrible. Vous avez envoyé Leclerc à SaintDomingue pour vous débarrasser de moi? Oh! Non je ne veux pas le croire. Mon arrestation par traîtrise, c’est vous? Mon embarquement sur ‹La Créole›, c’est vous. Mon incarcération dans une cage pour animal, dans la cale de ce maudit navire appelé ‹Le Héros›, c’est vous? Mon internement ici, c’est vous?51
Napoleon erklärt ihm, dass er die Wahl zwischen Toussaint und Chaos oder Leclerc und Ordnung hatte und sich in Anbetracht dieser Optionen für seinen Schwager entschieden hat.52 Zwar muten das Erstaunen und die Empörung Toussaints naiv an, dennoch unterstreicht diese Reaktion erneut die Überzeugung Toussaints, stets im Interesse der Republik gehandelt zu haben; denn basierend auf dieser Denkweise gäbe es für den Ersten Konsul keinen Grund, Toussaint im Gefängnis festzuhalten. Ebenso veranlasst die Diskussion um seinen Schatz den ehemaligen Gouverneur von Saint-Domingue seine Perzeption Napoleons zu überdenken. Im Theaterstück bittet der Erste Konsul Toussaint im Gespräch, ihm das Versteck seines Schatzes zu verraten, da er damit seine Kriege zu finanzieren gedenkt:
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SAURAY, 2003, S. 42. SAURAY, 2003, S. 69. Vgl. SAURAY, 2003, S. 69.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos Il faut me dire où est-ce que vous avez caché votre trésor. J’en ai besoin pour financer mes guerres. […] Ou bien vous me dites où est caché votre trésor et vous serez libre, une fois qu’on l’aura rapatrié en France. Là je pourrais envisager de vous restaurer dans vos fonctions à SaintDomingue quitte à déplaire à Joséphine et aux grands propriétaires. Ou bien vous ne me dites rien et je serai obligé de vous garder, ici, en prison.53
Toussaint verrät Napoleon sein Geheimnis, stellt aber klar, dass ihm nicht an der im Gegenzug versprochenen Freiheit gelegen ist. Der Schatz umfasst allerdings nicht – wie von Napoleon erwartet – eine große Menge Gold, sondern es handelt sich um einen metaphorischen Schatz: Mon trésor est en Amérique. C’est ce trésor qui a rempli les caisses de la France et qui l’a placée au premier rang des puissances coloniales. Grâce à ce trésor, les vôtres se sont enrichis et vos voyous sont devenus des gens de classe. Grâce à lui, vos exclus de petite extraction se sont faits un nom et ont créé de grandes familles. Grâce à lui, tous ceux qui ne sont rien chez vous deviennent quelqu’un dès qu’ils y arrivent. Mon trésor, Napoléon, c’est Saint-Domingue. Je l’aime. Je l’adore. Vous le voulez, mais, il vous faudra des jours, des semaines, des mois, des années, des siècles, des millénaires pour vous le procurer. Voilà, maintenant, vous savez où est caché mon trésor, allez le chercher si vous le pouvez.54
Auf die Offenbarung Toussaints, dass er seine Heimat Saint-Domingue als seinen Schatz betrachtet, reagiert Napoleon empört und ungehalten, was Toussaint wiederum vor Augen führt, dass er sich im Ersten Konsul, dem weder die Freiheit noch die Zukunft Saint-Domingues am Herzen liegen, sondern der nur an seiner persönlichen Bereicherung interessiert ist, getäuscht hat.55 Diese Desillusionierung ist die bedeutendste Konsequenz aus dem Dialog der beiden historischen Persönlichkeiten bei Sauray. Toussaint 53 54 55
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SAURAY, 2003, S. 55f. SAURAY, 2003, S. 61. Vgl. SAURAY, 2003, S. 62f.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
stellt fest, dass sich Napoleon nicht wie ein bedeutender Mann verhält, der Geschichte schreiben will: „Vous agissez comme un petit politicien, Napoléon Bonaparte et non comme un homme qui fait l’histoire.“56 Es wird deutlich, wie sehr Toussaint von Napoleon enttäuscht ist und wie tief er in seiner Wertschätzung gesunken ist. Im Schlussmonolog zeigt sich, dass Toussaint nicht nur im Hinblick auf Napoleon, sondern auch auf Frankreich all seiner Illusionen beraubt wurde, insbesondere in Anbetracht der Reaktion des Landes bezüglich seiner Verfassung. Diese Konstitution habe ihm zufolge die Ideale der Republik in sich getragen und war für ihn ein Werkzeug zur Anwendung der Universalität der Menschenrechte: Ô! France, France de mes amours, France pour qui j’ai risqué ma vie, France pour qui j’ai sacrifié ma jeunesse, France, toi en qui j’ai placé tous mes espoirs, France, toi à qui j’ai consacré mon existence, Ô! France, aujourd’hui, la souffrance, l’humiliation, le mépris, le déshonneur, la prison, la privation, telles doivent être mes récompenses? Ô France, dois-je mourir pour la Constitution que j’ai écrite? Une Constitution grâce à laquelle j’ai inventé le citoyen noir. Une Constitution dont pourtant tu devrais être fière parce que grâce à elle, j’ai consacré et donné un sens à tous les idéaux que tu as proclamés mais que tu n’as pas su appliquer. Une Constitution grâce à laquelle je t’ai donné l’unique occasion de ton histoire d’expérimenter la plus belle aventure humaine qui consiste à faire vivre ensemble des hommes d’origine et de culture différentes.57
Die Verfassung Toussaints kam dem Theaterstück zufolge der Erfindung des schwarzen Bürgers gleich und wäre für Frankreich eine einzigartige Gelegenheit gewesen, die von ihr proklamierten Ideale umzusetzen und ein Beispiel für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur zu schaffen. Die Konstitution wird durch diese Beschreibung und die ihr beigemessene Bedeutung glorifiziert.58 56 57 58
SAURAY, 2003, S. 63. SAURAY, 2003, S. 76f. In der Historiografie wird die Verfassung Toussaints wesentlich kritischer gesehen. Zwar erfolgte durch die Konstitution eine juristische Gleichstellung von Personen aller Hautfarben, aber gleichzeitig wurde
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Nach all diesen Erkenntnissen verdammt Toussaint Frankreich, das seine Möglichkeit nicht ergriffen hat, durch ihn und seine Verfassung auf Saint-Domingue eine neue ethnisch gemischte und friedlich koexistierende Gesellschaft zu etablieren. Zwar wird die bekannte Wurzelmetapher nicht wörtlich aufgegriffen, aber die Prophezeiung Toussaints kurz vor seinem Tod verkündet die baldige Freiheit seines Volkes gleichermaßen: Ma mort va révolter tous mes frères noirs et mulâtres de SaintDomingue qui s’uniront dans un même amour pour dresser devant toi et en face du monde, une Saint-Domingue rebelle, une Saint-Domingue triomphante, une Saint-Domingue d’où jaillira un peuple libre, un peuple fier qui mettra fin aux préjugés. Un peuple qui donnera à tous les opprimés le courage de lutter pour sortir de tout asservissement colonial.59
Seiner Desillusionierung folgen somit eine Distanzierung von Frankreich und eine Hinwendung zu dem neu entstehenden Haiti. Die Verdammung Frankreichs und die Verkündung der nahenden Freiheit seines Volkes erschöpfen Toussaint derartig, dass er – wie aus der Szenenanweisung hervorgeht – letzten Endes stirbt, sodass eine Kausalität zwischen Toussaints Enttäuschung über Napoleon bzw. Frankreich und dem Mythem des Todes besteht: „Il tousse beaucoup, tombe sur la face et meurt. On éteint les lumières. On allume une bougie projetée sur l’horloge qui s’est arrêtée à 11h30.“60 [Herv. i. O.] Die Distanzierung Toussaints von Frankreich kommt durch die sich nach seinem Tod transformierende Darstellung der Nationalität noch expliziter zum Ausdruck: Eine schwarz gekleidete, mysteriöse Frau, die die Trikolore bei sich trägt, betritt die Bühne. Sie reißt den weißen Streifen aus der französischen Flagge und verknüpft den blauen und roten Streifen miteinander, sodass aus der Trikolore die haitianische Flagge wird. In diese Fahne hüllt sie Toussaint schließlich ein. Dadurch
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auch eine Diktatur Toussaints errichtet, da er sich selbst zum Gouverneur auf Lebenszeit ernannte, seinen Nachfolger bestimmen konnte und alle Gesetze erst von ihm bestätigt werden mussten. Vgl. CAUNA, 2009, S. 168; PLUCHON, 1989, S. 380f; Kapitel 1.1.2. SAURAY, 2003, S. 77. SAURAY, 2003, S. 77.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
wird deutlich, dass Toussaint, der zuvor Frankreich als sein Vaterland ansah, kein Franzose, sondern Haitianer ist.61 Insgesamt lässt sich im Theaterstück Saurays durch den Dialog Toussaints mit Napoleon die Desillusionierung des schwarzen Revolutionsführers bezüglich des Ersten Konsuls und Frankreichs konstatieren, die zu einer Abwendung vom Mutterland und einer Hinwendung zum im Entstehen begriffenen Haiti führen. Zunächst wird hervorgehoben, dass Toussaint stets zum Wohle Frankreichs handelte und keine Konspiration und Unabhängigkeit, sondern lediglich das Funktionieren und Prosperieren der Kolonie im Sinne Frankreichs vor Augen hatte. Toussaint bekennt sich zudem deutlich zu Frankreich. Im Dialog mit Napoleon erkennt er jedoch zunehmend seinen Fehler, zu sehr auf Frankreich und Napoleon vertraut zu haben. Vor allem die Diskussion über die Gefangennahme, die Toussaint als Verrat Napoleons deuten muss, und den Schatz, der Toussaint die niederen Beweggründe Napoleons demonstriert, verändern seine Perzeption des Ersten Konsuls. Seine Enttäuschung und allmähliche Distanzierung von Frankreich erfolgen, da die Republik es ablehnte, durch Toussaints Konstitution zur Verbreitung ihrer Werte in der Kolonie und zu einem friedlichen Koexistieren beizutragen. Die kurz vor seinem Tod vollzogene Distanzierung von Frankreich und seine Transformation zum Haitianer werden durch die Einhüllung seines Leichnams in eine haitianische Flagge veranschaulicht. Konkludierend kann festgestellt werden, dass Toussaint Louverture in den Werken von Pasquet und Sauray durch seine Begegnung mit einer historischen Persönlichkeit eine ähnliche Entwicklung vollzieht: Während sein Handeln als Gouverneur Saint-Domingues von seiner Loyalität gegenüber Frankreich geprägt ist, erfährt er im französischen Gefängnis eine zunehmende Desillusionierung bezüglich Napoleons und Frankreichs, welche eine Distanzierung von Frankreich sowie eine Rückbesinnung auf seine kreolischen Wurzeln zur Folge hat. Toussaint wird somit als hybride Persönlichkeit und Haitianer inszeniert. Diese Funktionalisierung steht einer Instrumentalisierung Toussaints für die Französische Republik eindeutig entgegen. Des Weiteren ist beiden Werken gemein, dass sie zur Destruktion des Napoleon-Mythos beitra-
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Vgl. SAURAY, 2003, S. 78.
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gen, indem sie Napoleon als Befürworter der Sklaverei, Gegner der Freiheit und Verräter Toussaints diskreditieren.
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3.6.2 Die Destruktion des Napoleon-Mythos Der Schriftsteller, Historiker und Philosoph Claude Ribbe, der 1954 in Frankreich geboren wurde und dessen Vater aus Guadeloupe stammt, stellte die ehemalige französische Kolonie Saint-Domingue in zwei Werken in den Mittelpunkt. Im Jahr 2003 erschien sein Roman L’Expédition und 2005 sein Pamphlet Le crime de Napoléon. Im Ersteren wird die Expedition nach Saint-Domingue aus der Sicht Pauline Bonapartes, der Ehefrau Leclercs und Schwester Napoleons, erzählt. Pauline wird als unbekümmerte, schöne und rebellische, junge Frau dargestellt, die ihrem Gatten Leclerc – der Napoleon verehrt und gewillt ist, dessen Befehle auf Saint-Domingue auszuführen – bei zahlreichen Gelegenheiten untreu ist. Aus der Ich-Perspektive berichtet sie im Rückblick über das Leben in der Kolonie und über Toussaint Louverture. Nach Leclercs Tod kehrt Pauline nach Paris zurück, wo es zwischen ihr und Napoleon zu einem aufschlussreichen Streit kommt. Es stellt sich heraus, dass der Erste Konsul versucht, jegliche Schuld für die in Saint-Domingue begangenen Gräueltaten auf Leclerc zu schieben. Bemerkenswert ist, dass Ribbe in diesem Roman die Schwester Napoleons zur Erzählfigur macht, die Kritik an ihrem eigenen Ehegatten und Bruder übt und somit zur allmählichen Entglorifizierung des Napoleon-Mythos beiträgt. Für Toussaint hingegen bringt sie Respekt und teils sogar Bewunderung für seine Taten zum Ausdruck. Für viel Polemik in Frankreich sorgte insbesondere das Pamphlet Le crime de Napoléon, in dem Ribbe den Napoleon-Mythos sukzessive zerstört und den einst größten Helden der Franzosen als Rassisten, Befürworter der Sklaverei und Antisemiten präsentiert, der Hitler inspiriert haben soll.1 Das Werk erzählt die Geschichte Saint-Domingues/Haitis und Guadeloupes von 1802 bis 1815, wobei Ribbe Napoleon als ersten rassistischen Diktator der Geschichte zu entlarven versucht.2 Dem Historiker zufolge wusste Napoleon von all den begangenen Verbrechen in den Kolonien wie z. B. die Zerfleischungen durch Hunde, Vergasungen, Ertränkungen, Erschießungen, da er selbst den Befehl zum Genozid gegeben hatte.3 Das in seinem Exil auf Sankt-Helena im Rückblick vorge1 2 3
Vgl. RIBBE, 2005a, S. 55. Vgl. RIBBE, 2005a, S. 200. Vgl. RIBBE, 2005a, S. 153.
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brachte Bedauern Napoleons um den Verlust von Saint-Domingue und der falschen Einschätzung Toussaints4 wird von dem Schriftsteller als Versuch gedeutet, der Nachwelt ein positives Bild seiner Person zu hinterlassen. Er bezweifelt, dass Napoleon seinen verübten Genozid sowie die Wiedereinführung der Sklaverei bereute.5 Das Buch sowie die dadurch entstandenen kontroversen Debatten6 führten zu einer veränderten Perzeption Napoleons und trugen zur Destruktion des Mythos bei.7 Da Toussaint Louverture im Pamphlet Ribbes nur am Rande erwähnt wird, wird nachfolgend lediglich sein Roman L’Expédition analysiert, in dem Toussaint neben Pauline, Leclerc und Napoleon im Zentrum steht und Ribbe bereits mit der in Le crime de Napoléon auf die Spitze getriebenen Zerstörung des Napoleon-Mythos beginnt. Bereits vor ihrer Reise nach Saint-Domingue berichtet Pauline im Roman L’Expédition von Toussaint Louverture, von dem sie schon in Paris verschiedene Geschichten gehört hat. Demnach erfreute sich Toussaint schon zur Zeit der Haitianischen Revolution in Frankreich einer gewissen Bekanntheit; sie liest unter anderem einen Bericht über ihn in Le Moniteur,8 erzählt von „ce Spartacus africain“9 – ohne allerdings Bezug auf Raynal zu nehmen – und verweist auf die königliche 4
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Diese Reue wird in den von Las Cases verfassten Memoiren über Napoleons Zeit in seinem Exil beschrieben. Vgl. LAS CASES, 1842, S. 687; Kapitel 3.2. Vgl. RIBBE, 2005a, S. 196f. Durch das Werk Ribbes wurde die französische Nationalikone Napoleon derart infrage gestellt, dass die 200-Jahrfeier der Schlacht von Austerlitz in Frankreich in aller Diskretion und ohne die Anwesenheit der Regierung stattfand. Daraufhin schlug die Institution zurück, indem Pierre Nora, Mitglied der Académie française, Claude Ribbe und sein Werk Le crime de Napoléon in einem Artikel in Le Monde für das Nichtgedenken an die sogenannte Dreikaiserschlacht verantwortlich machte. Er ist der Auffassung, dass Frankreich hierdurch „[l]e fond de la honte et le fond du ridicule“ (NORA, 2005) erreicht habe. Wiederum in Le Monde bezog Claude Ribbe zu diesem Artikel Noras Stellung. Vgl. RIBBE, 2005b. Diese öffentlich geführte Diskussion, die zeitgleich mit der Debatte um die Erinnerungsgesetze stattfand (vgl. Kapitel 3.6), lenkte noch mehr Aufmerksamkeit auf das Werk von Claude Ribbe, wodurch auch die Geschichte Haitis wieder mehr in den Mittelpunkt des Interesses rücken konnte. Vgl. LAMMEL, 2014, S. 116. Vgl. RIBBE, 2003, S. 17. RIBBE, 2003, S. 25.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Abstammung Toussaints: „Descendant – paraît-il – d’un roi du Dahomey, il avait eu la chance d’être affranchi dans sa jeunesse et d’acquérir depuis une certaine aisance.“10 Zudem merkt sie an, dass sich Toussaint gerne mit ihrem Bruder verglich: „Toussaint se comparait d’ailleurs volontiers au premier consul.“11 Ebenso greift sie die Gerüchte12 um den schwarzen Gouverneur und seine Affären mit Frauen aus der Oberschicht auf: „On disait que les femmes de la meilleure société se bousculaient à l’entrée de son palais de Port-au-Prince et que les planteurs, leurs maris, n’étaient pas jaloux, du moment qu’ils y trouvaient leur compte.“13 Da Pauline im Roman selbst von vielen Liebhabern umringt ist, dient dieses Mythem nicht der Diffamierung Toussaints, sondern wird von der Schwester Napoleons eher bewundernd zur Kenntnis genommen. Somit zeichnet Pauline noch vor ihrer Reise nach Saint-Domingue ein positives Bild des Sklavenführers. Parallel dazu tritt auch die Bösartigkeit Napoleons noch vor ihrer Abreise zutage, wie insbesondere anhand der Mytheme der Verfassung und der Kinder Toussaints aufgezeigt werden kann. Als Napoleon vom französischen Oberst Vincent erfährt, dass Toussaint dem Volk in Saint-Domingue eine Konstitution gegeben, sich selbst zum Gouverneur auf Lebenszeit ernannt und den spanischen Teil der Insel eingenommen hat, ist er außer sich vor Wut; er lässt den Überbringer der Nachricht auf die Insel Elba deportieren und schwört, Toussaint zu stoppen und wieder unter Kontrolle zu bringen: Après avoir traité Vincent de lâche, parce qu’il défendait Louverture, il [Napoléon] l’avait fait chasser de son bureau et avait donné l’ordre qu’on le déporte immédiatement à l’île d’Elbe. Ensuite, il s’était mis à taper du pied, à jurer qu’il enverrait quarante mille hommes s’il le fallait
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RIBBE, 2003, S. 24. RIBBE, 2003, S. 31. Später im Roman bewahrheiten sich diese Gerüchte, als in Toussaints ehemaligem Palast an ihn gerichtete Liebesbriefe kreolischer Frauen gefunden werden: „En arrivant dans ce palais, Boudet avait découvert un coffre rempli de mèches de cheveux et de lettres enflammées à l’adresse de Toussaint. Les lettres étaient très compromettantes pour les femmes créoles de la meilleure société qui avaient eu l’imprudence de les signer. On a dit qu’elles avaient été détruites.“ RIBBE, 2003, S. 117. RIBBE, 2003, S. 24.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos mais qu’on allait promptement remettre en cage ce général Jacquot et son armée de sapajous.14 [Herv. i. O.]
Um seiner Verachtung für Toussaint Ausdruck zu verleihen, animalisiert Napoleon den schwarzen General, den er als Papageien bezeichnet, der wieder in seinen Käfig gesperrt werden muss. Seine Drohung macht Napoleon wahr und entsendet 40.000 Mann zusammen mit seinem Schwager Leclerc, dessen Frau Pauline und Sohn Dermide nach SaintDomingue. An Bord befinden sich ferner die Kinder Toussaints, die – wie Pauline im Vorfeld ihrer Abreise aufzeigt – Geiseln ihres Bruders sind:15 „Mon frère retenait deux de ses fils en otages. L’excuse trouvée était qu’ils devaient terminer leurs études à Paris, au collège de la Marche, là où les colons envoyaient leurs enfants.“16 Nach der Ankunft in Saint-Domingue berichtet Pauline Bonaparte von einem Brief Napoleons, der Toussaint durch seine Kinder und deren Lehrer zugestellt wird und ihn in eine Falle locken soll: On expédia les fils Louverture et leur professeur du côté des Gonaïves. Les jeunes gens attendirent leur père sur une habitation qu’il avait près d’Ennery. Toussaint accourut pour les embrasser et le prêtre lui donna une lettre de mon frère qui n’avait plus beaucoup d’intérêt, puisque les hostilités avaient déjà été déclenchées. Toussaint ne prit même pas le temps de la lire et, renvoyant ses enfants, leur remit un courrier pour Leclerc. Il demandait une trêve. Mon époux, en réponse, lui accorda quatre jours pour venir le voir au Cap. Naturellement, Toussaint se garda bien de tomber dans un piège aussi grossier et préféra organiser ses positions défensives autour du port des Gonaïves.17 [Herv. i. O.]
Somit wird nicht nur die Niedertracht kritisiert, die mit der Geiselnahme der Söhne einhergeht, sondern auch die mithilfe der Kinder gestellte heimtückische Falle Leclercs. Dass Toussaint nicht auf den französischen Vorschlag eines Treffens eingeht, sondern seine Verteidigung
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RIBBE, 2003, S. 31f. Vgl. RIBBE, 2003, S. 65. RIBBE, 2003, S. 24. RIBBE, 2003, S. 111.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
aufbaut, wird von Pauline als verständlich empfunden, da der Plan der Franzosen zu durchschaubar war und Toussaint zu intelligent, um in diese Falle zu tappen. Durch die Ausführungen Paulines erfährt der Leser von Toussaints für Frankreich errungene Siege gegen die Spanier und Engländer. Zwar wird ebenfalls erwähnt, dass Toussaint Louverture nach seinen Siegen über die feindlichen Truppen versuchte, sich allmählich der Autorität Frankreichs zu entziehen: „Toussaint Louverture, après avoir repoussé les Espagnols et les Anglais, après avoir soumis les populations du sud qui contestaient son autorité, s’était arrangé pour se soustraire, progressivement et avec beaucoup de finesse, au contrôle des Français.“18 Dies wird von Pauline aber nicht etwa verurteilt, sondern vielmehr schwingt Bewunderung für Toussaints Scharfsinn in ihrer Erzählung mit. Die angebliche Konspiration Toussaints mit den Engländern weist sie als Unwahrheit zurück. Stattdessen zeigt sie daran eine taktische Lüge der Franzosen auf, die die Kampfmoral der französischen Truppen stärken sollte: On avait voulu les persuader que Toussaint s’était allié avec les Anglais et les émigrés, qu’il voulait rétablir l’esclavage à son profit. Que pouvaient-ils penser en voyant ces hommes qui se battaient pieds nus aux cris de La liberté ou la mort! et qui brandissaient, eux aussi, le drapeau français?19 [Herv. i. O.]
Somit wird auch das Mythem der Engländer nicht gegen Toussaint verwendet, sondern dient dazu, die Durchtriebenheit und List aufzuzeigen, mit der die Franzosen im Kampf gegen die Schwarzen vorgingen. Die Beschreibungen Paulines lassen auch Rückschlüsse auf die Toussaint im Roman zugeschriebene Nationalität zu: Einerseits wird Toussaint von Pauline als „un général français“20 anerkannt, der sich im Gefecht gegen die gemeinsamen Feinde Frankreichs wie England und Spanien verdient machte. Ebenso kämpfen die aufständischen Truppen Toussaints unter der französischen Flagge. Andererseits wird auf die af-
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RIBBE, 2003, S. 89. RIBBE, 2003, S. 113. RIBBE, 2003, S. 91.
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rikanische Abstammung Toussaints verwiesen;21 er wird von Pauline explizit als „l’Africain“22 bezeichnet und seine Unabhängigkeitsbestrebungen werden ins Feld geführt. Diese antagonistischen Deskriptionen Toussaints veranschaulichen, dass der schwarze Revolutionsführer im Roman als hybrides Wesen23 repräsentiert wird, das durch die französische Kultur sowie seine afrikanischen Wurzeln beeinflusst wird. Die französischen Generäle sind im Buch bemüht, diese Hybridität24 aufzulösen und Toussaint sowie seine Truppen als Afrikaner und somit als ‚die Anderen‘ zu kategorisieren. Damit soll verhindert werden, dass unter französischen Soldaten die Frage auftaucht, ob nicht im Grunde ein Kampf gegen eigene Kräfte geführt werde. Als Pauline Bonaparte vom Waffenstillstand mit Toussaint erzählt, macht sie dabei offenkundig, dass dieser durch die Übergabe seiner Truppen an Leclerc eine gute Möglichkeit erhielt, an Informationen zu gelangen: J’appris que Toussaint, après des pourparlers avec Leclerc, s’était en effet rendu au Cap, accompagné par les hommes les plus dévoués de sa garde, le regard hautain et le sabre nu. Lors d’une longue entrevue, mon mari lui avait proposé d’être son lieutenant, mais Toussaint avait refusé. Il avait quand même daigné assister à un dîner de réconciliation. [...] Ensuite, l’Africain était allé se retirer sur la propriété où il dressait encore lui-même ses coursiers. Le rusé avait accepté de laisser le gros de ses hommes au Cap. [...] Leclerc n’avait pas compris que ce noyau de fidèles allait constituer un incomparable réseau de renseignements que Toussaint exploiterait du plus profond de sa retraite.“25
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Vgl. RIBBE, 2003, S. 24. RIBBE, 2003, S. 130. Es wird auch darauf verwiesen, dass Toussaint als „le centaure de la savane“ (RIBBE, 2003, S. 93) bezeichnet wurde. Durch diesen Vergleich mit einem Zwitterwesen wird die Hybridität Toussaints nochmals hervorgehoben. Interessanterweise wird auch implizit auf die Hybridität des von Korsika stammenden Napoleons verwiesen, indem Napoleon seine Schwester Pauline im Roman mit deren italienischem Namen begrüßt: „Paoletta mia“. RIBBE, 2003, S. 39. [Herv. i. O.] Siehe auch Anm. 40 in Kapitel 3.3.3. RIBBE, 2003, S. 129f.
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Später werden im Roman Briefe aufgefunden, die eindeutig belegen, dass dieser Waffenstillstand nur eine Finte Toussaints war, um Leclerc und seine Expedition endgültig zu besiegen: „Ces lettres laissaient entendre que la soumission de Toussaint n’était qu’une feinte, qu’il ne s’était pas résigné, qu’il comptait bien sur l’épidémie pour reprendre l’épée. Nul doute qu’à la première occasion, il allongerait une bonne estocade à l’expédition.“26 Dieses Täuschungsmanöver wird von Pauline keineswegs verurteilt, sondern die Raffinesse Toussaints stößt bei ihr auf Anerkennung. Stattdessen kritisiert sie die Falle, die Toussaint von den Franzosen gestellt wurde. Sie beanstandet, dass der französische General und ehemalige Gouverneur Saint-Domingues ohne Rücksichtnahme und Respekt wie ein Maronensklave abgeführt wurde: „Au mépris de sa qualité de général de division et d’ancien gouverneur général de la colonie, Toussaint fut garrotté comme un esclave marron et traîné sans ménagements aux Gonaïves.“27 Während die Gefangennahme insbesondere die Bösartigkeit Leclercs, der den Befehl zur Verhaftung gab, und Brunets, der die Festnahme ausführte, aufdeckt, offenbaren die Mytheme des Schatzes und des Todes im Roman erneut die Diabolie Napoleons gegenüber Toussaint: Im Dialog mit Pauline erzürnt sich Napoleon über Toussaint, da dieser ihm das Versteck seines Schatzes nicht verraten will, was seine Raffgier veranschaulicht: „Eh bien, il n’a pas voulu nous dire où il avait caché son trésor. Tant pis pour lui! Sa santé n’est pas bonne; il supporte mal l’hiver. Qu’il crève!“28 Auf die Frage, ob es einen solchen Schatz nun gab oder nicht, wird nicht weiter eingegangen. Allerdings hebt diese Aussage Napoleons neben dessen Habsucht ebenso seine Grausamkeit hervor, da der Tod Toussaints in seinem kalten Verlies kaltblütig von Napoleon berechnet war.29 Zwar war der Tod Toussaints kein expliziter Mord, wie Christophe vermutet,30 allerdings war sein baldiges Sterben von Napoleon durchaus beabsichtigt, wodurch eine 26 27 28 29
30
RIBBE, 2003, S. 141f. RIBBE, 2003, S. 142f. RIBBE, 2003, S. 210. Vgl. auch RIBBE, 2003, S. 213. Schon zuvor hatte Toussaints ehemaliger General Christophe gegenüber Pauline diesen Verdacht geäußert: „D’après lui, Bonaparte avait même donné des ordres pour qu’il ne passe pas l’hiver“. RIBBE, 2003, S. 172. Vgl. RIBBE, 2003, S. 172.
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Schuld des Ersten Konsuls am Tod des haitianischen Revolutionsführers angeprangert wird. Eine weitere Dämonisierung Leclercs und Napoleons erfolgt durch die im Kampf verwendeten Mittel, die den Krieg als einen im Auftrag des Ersten Konsuls von seinem Schwager ausgeführten Genozid darlegen. Während Gräueltaten von Schwarzen an Weißen ausgeklammert bleiben und nur erwähnt wird, dass auch auf der französischen Seite hohe Verluste zu beklagen waren,31 werden die von den Franzosen – insbesondere nach der Deportation Toussaints – verübten Grausamkeiten detailliert beschrieben. Zunächst kommt die Entscheidung Leclercs, die Soldaten der kolonialen Brigaden umbringen zu lassen, zur Sprache, woraufhin der französische General Humbert Leclerc und Napoleon als Schlächter bezeichnet: „Leclerc a donné l’ordre de les faire égorger! C’est un boucher! Oui, ton mari est un vrai boucher! Et ton frère aussi!“32 Im weiteren Verlauf des Romans wird die systematische Ausrottung aller Afrikaner im Umfeld Leclercs erwähnt: „[…] Leclerc ne pouvait mener aucune offensive, mais il avait choisi d’exterminer méthodiquement tous les Africains qui seraient à sa portée.“33 Leclerc führt im Roman zwei verschiedene Gründe als Rechtfertigung für seine Taten an: Einerseits wollte er die verstorbenen Soldaten rächen;34 andererseits führte er nur die Befehle Napoleons aus: „Je ne suis qu’un soldat [...]. Lui, c’est mon général. Il m’a donné un ordre: je dois garder la colonie par tous les moyens, même les plus abominables.“35 Hierzu merkt Pauline an, dass man Leclerc zugutehalten kann, dass er entgegen Napoleons beständigen Forderungen die Sklaverei nicht wiedereingeführt hat.36 Nachdem Pauline nach dem Tod Leclercs wieder nach Paris zurückgekehrt ist, spricht sie ihren Bruder auf den Befehl an, die Kolonie mit allen Mitteln zu halten. Dieser ist sich sicher, dass in den Augen der Nachwelt Leclerc der Schuldige für all die verübten Verbrechen sein wird, falls sich überhaupt jemand dieser Episode der Geschichte entsinnen wird: 31 32 33 34 35 36
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Vgl. RIBBE, 2003, S. 114. RIBBE, 2003, S. 177. RIBBE, 2003, S. 184. Vgl. RIBBE, 2003, S. 186. RIBBE, 2003, S. 190f. Vgl. RIBBE, 2003, S. 192.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis Pour la postérité, ce sera lui le méchant homme, pas moi! Mais rassuretoi pour Saint-Domingue: je connais les Français. Personne ne parlera jamais de tout cela. Un jour, ils ne se souviendront même plus que nous y sommes restés cent cinquante ans et que nous y avons transporté un million d’hommes.37
Leclerc und Napoleon schieben sich im Roman gegenseitig die Verantwortung für die Gräueltaten auf Saint-Domingue zu. Deutlich wird durch die Erzählung Paulines, dass sie sich beide schuldig gemacht haben, wobei Napoleon zudem die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung der Sklaverei angelastet wird – eine Tat, die der Erste Konsul laut Aussage seiner eigenen Schwester nicht bedauerte: S’il a exprimé des regrets d’avoir fait arrêter Toussaint Louverture et d’avoir perdu Saint-Domingue, il ne s’est jamais repenti d’avoir rétabli ou maintenu l’esclavage à la Guadeloupe, à la Martinique, en Guyane aux îles de France et de Bourbon. Que Dieu lui pardonne si cela peut se pardonner!38
Wie in Le crime de Napoléon angeprangert,39 wird auch hier dargestellt, dass Napoleon auf Sankt-Helena zwar die Verhaftung Toussaints sowie den Verlust Saint-Domingues, nicht aber die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung der Sklaverei in den anderen französischen Kolonien bereute. Insgesamt kann im Roman eine deutliche Dämonisierung Napoleons und eine Funktionalisierung Toussaints als Opfer der perfiden Politik des Ersten Konsuls festgestellt werden. Bereits vor ihrer Abreise spricht Pauline voller Anerkennung von Toussaint und geht dabei auf die zu jener Zeit kursierenden Gerüchte um den afrikanischen Spartakus, diesen Frauenheld königlicher Abstammung, ein, die vor seiner Verleumdung durch die bonapartistische Propaganda zur Genese des Mythos in Frankreich beitrugen.40 Paulines Bruder Napoleon wird hingegen als cholerischer und bösartiger Herrscher inszeniert, der aus Wut über die
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RIBBE, 2003, S. 210. RIBBE, 2003, S. 216. Vgl. RIBBE, 2005a, S. 196f. Vgl. Kapitel 3.2.
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Verfassung Toussaints eine ganze Armee nach Saint-Domingue entsendet und nicht davor zurückschreckt, die Kinder seines Antagonisten als Geiseln zu verwenden. Während ihres Aufenthalts in Saint-Domingue rechtfertigt Pauline Toussaints Agieren gegen Frankreich bzw. Leclerc und Napoleon, wie insbesondere seine Ablehnung eines Treffens mit ihrem Ehemann, seine Unabhängigkeitsbestrebungen sowie sein Konspirieren während des Waffenstillstands; seine Siege gegen England und Spanien sowie sein intelligentes und trickreiches Vorgehen gegen die Franzosen rufen bei ihr sogar Bewunderung hervor. Bemerkenswert ist vor allem die Inszenierung des Mythems der Engländer. Die angebliche Konspiration mit England wird von Pauline als taktische Lüge der Franzosen entlarvt, die dazu diente, dass Toussaint und seine Truppen in den Augen der französischen Armee als die ‚Anderen‘ wahrgenommen wurden, obwohl sie ebenfalls unter französischer Flagge kämpften. Durch diese Maßnahme sollte dafür gesorgt werden, dass das zur damaligen Zeit vorherrschende Denken in den Kategorien des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ beibehalten wurde. Im Roman wird jedoch durch die sich widersprechenden Charakterisierungen Toussaints als Afrikaner sowie als französischer General genau dieses Denkmuster durchbrochen und Toussaint wird als hybride Persönlichkeit dargestellt, die sowohl durch die afrikanische Abstammung als auch die französische Kultur geprägt wurde. Interessanterweise wird zudem auf die korsische Herkunft Napoleons Bezug genommen, die dessen Hybridität veranschaulicht. Leclercs Verhalten wird insbesondere aufgrund der würdelosen Verhaftung und Deportation des ehemaligen Gouverneurs kritisiert und die Diabolie Napoleons wird durch dessen Habsucht und sein eiskaltes Kalkül mit Blick auf Toussaints Tod offenbart. Vor allem werden den beiden historischen Personen jedoch die Gräueltaten an den Schwarzen, die auch im Pamphlet Ribbes als Genozid gewertet werden, angelastet. Zusätzlich wird Napoleon die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung der Sklaverei zum Vorwurf gemacht, welche er laut Pauline nicht bereute, sowie der Versuch, jegliche Schuld für die Verbrechen auf SaintDomingue auf Leclerc abzuwälzen. Somit findet bei Ribbe eine Destruktion des Napoleon-Mythos statt, wohingegen Toussaint in ein sehr positives Licht gerückt wird.
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Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
3.6.3 Die Glorifizierung und Republikanisierung Toussaint Louvertures1 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erhielt Toussaint Louverture Einzug ins französische Fernsehen, und der Mythos wurde in Kinder- und Jugendbücher aufgenommen. Der erste TV-Film über Toussaint Louverture, der 2011 vom Regisseur Philippe Niang gedreht und in zwei Teilen am 14. und 15. Februar 2012 zur Hauptsendezeit auf France 2 ausgestrahlt wurde, ist nicht unumstritten, da sich der Regisseur, Sohn eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter, bei der Umsetzung des Films einige Freiheiten nahm. Es wurden einige zusätzliche Szenen aufgenommen, wodurch es zu einer geschichtlichen Verfälschung kommt. Dies veranlasste den Historiker Philippe Pichot, den Film als „[r]éécriture de l’histoire, manipulation mémorielle, propagande idéologique“2 zu bezeichnen. Der Fernsehfilm, den im Durchschnitt drei Millionen Zuschauer sahen3 und der in den Medien große Aufmerksamkeit erhielt, sorgte für eine Verbreitung des Mythos und ebnete den Weg für die Rückkehr Toussaints, der im Film von Jimmy Jean-Louis4 verkörpert wird, ins kollektive Gedächtnis Frankreichs. Zu Beginn des Films wird Toussaint Louverture im schneebedeckten Juragebirge von seiner Familie getrennt und ins Gefängnis Fort de Joux gebracht. Nachdem General Caffarelli Toussaint das Versteck seines Schatzes nicht entlocken konnte, sendet Napoleon einen jungen Offizier namens Pasquier5 zu Toussaint. Diesem gelingt es, das Vertrauen des schwarzen 1 2 3 4
5
Vgl. zu diesem Kapitel insbesondere LAMMEL, 2014. Zitiert nach GUILLERM, 2012. Vgl. PREMIERE, 2012. Beim 20. Kinofestival Panamerican Pan African Film gewann der Film insgesamt drei Preise: den Preis für den besten Film, den Publikumspreis sowie den Preis für den besten Hauptdarsteller. Vgl. PREMIERE, 2012. Pasquier ist im Gegensatz zu Caffarelli keine historische Person. Im Dialog mit Pasquier erhält Toussaint durch die rückblickende Erzählweise die Gelegenheit, die Gründe für sein Handeln offenzulegen und teilweise zu rechtfertigen. Die Erzählungen Toussaints wecken bei Pasquier eine zunehmende Bewunderung, die auch den Zuschauer überzeugen soll, dass es sich bei Toussaint Louverture um eine bedeutende, in der Geschichtsschreibung zu oft vergessene Persönlichkeit handelt. Gleichzeitig werden durch diese Darstellungen aber auch die Taten der französischen Generäle angeprangert. Diese Ungerechtigkeiten sorgen für eine immer
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Sklavenführers zu gewinnen, der ihm im Gefängnis rückblickend die Geschichte seines Lebens und der Haitianischen Revolution erzählt. Kurz vor seinem Tod vertraut Toussaint dem französischen Offizier das Versteck seines Schatzes an, der sich als Kette entpuppt, die Toussaint von einer Voodoo-Priesterin geschenkt bekam und ihm Macht verleihen sollte. Während die Franzosen von dieser Kette enttäuscht sind, versteht Pasquier, der sich angesichts der Lebensgeschichte Toussaints immer mehr über dessen Behandlung durch Frankreich empört und sich der historischen Bedeutung dieses Mannes bewusst wird, dass sein Kampf für die Freiheit den wahren Schatz Toussaints darstellt. Im Jahr 2011 wurde das Kinderbuch Toussaint Louverture vom elsässischen Schriftsteller Jacques Vénuleth mit Zeichnungen von Frédéric Rébéna veröffentlicht.6 Es erschien beim Verlag Actes Sud Junior in der Reihe T’étais qui, toi?, die sich an Kinder zwischen neun und zwölf Jahren richtet.7 Den Kindern sollen durch die Bücher verschiedene historische Figuren näher gebracht werden, und Toussaint wird in eine Liste mit Persönlichkeiten wie Josef Stalin, Leonardo da Vinci, Benjamin Franklin und Katharina von Medici eingereiht. Wie auf der Rückseite des Buches zu lesen ist, dient diese Reihe dazu, „découvrir les hommes et les femmes qui ont fait l’Histoire, parfois héroïques, parfois peu recommandables, ou tout simplement humains.“8 Somit wird der Toussaint-Mythos nun auch einer neuen Zielgruppe vermittelt. Das erste Kapitel setzt mit dem Tod Toussaints und der Flucht eines Geckos aus dessen Gefängniszelle ein. Anschließend erfolgt die chronologische Wiedergabe der Geschichte des Freiheitskämpfers von seiner Geburt bis zu seiner Verhaftung. Im letzten Kapitel wird die Leidenszeit Toussaints im Gefängnis beschrieben, die als zu zahlender Preis für die Freiheit seines Volks veranschaulicht wird. Erneut taucht der Gecko auf, der die Abschaffung der Sklaverei nach und nach in der ganzen Welt verkündet.
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größer werdende Empörung Pasquiers, die dazu führt, dass auch der Zuschauer indigniert ist. Die Figur Pasquier scheint der Verkörperung der Admiration und der Indignation zu dienen. Vgl. LAMMEL, 2014. Vgl. ACTES SUD JUNIOR, 2010. Vgl. HISTOIRE D’EN LIRE, 2007-2014. VÉNULETH, 2011, Buchrückseite.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Im Film sowie im Kinderbuch werden beinahe alle Mytheme aufgenommen, wobei Niang – aus Gründen der Dramaturgie9 – sogar noch weitere hinzufügt. In beiden Werken erfolgt eine Reduktion der Komplexität, wobei eine solche Simplifizierung für die Gattung Kinderbuch in gewissem Maße natürlich ist. Zudem ist in beiden Rezeptionszeugnissen eine starke dichotomische Kategorisierung in Gut und Böse vorhanden: Während Toussaint sich beinahe aller Widersprüche und Fehler entledigen kann und eine starke Glorifizierung erfährt, wird Napoleon dämonisiert und dem Revolutionsführer als Widerpart gegenübergestellt. In den Mythos-Rezeptionen wird Toussaint als großer, muskulöser Mann10 präsentiert, der meist in einer eleganten Uniform zu sehen ist.
Abbildung 2: Der Freiheitskämpfer Toussaint Louverture. Jacques Vénuleth, Toussaint Louverture, illustr. v. Frédéric Rébéna, Arles 2011, S. 34. © ACTES SUD 2011.
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Vgl. FRAT, 2012. Im Gegensatz zum Film wird bei Vénuleth auch die zunächst schlechte Konstitution Toussaints als Kind erwähnt. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 14.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Abbildung 3: Der Freiheitskämpfer Toussaint Louverture. Philippe Niang, Toussaint Louverture, 2012, DVD 2, 1:31. © FZJLM/ELOA PROD 2011. Neben dem positiven äußeren Erscheinungsbild des schwarzen Revolutionsführers wird sowohl im Film als auch im Kinderbuch auf die Besonderheit verwiesen, dass Toussaint – obwohl er ein Sklave war – Lesen und Schreiben lernte.11 Im Film wird zusätzlich betont, dass Toussaint daraufhin begann, das Werk Histoire des deux Indes von Abbé Raynal zu lesen. Während das Mythem des von Raynal angekündigten schwarzen Spartakus im Kinderbuch nicht vorhanden ist, spielt es im Film eine zentrale Rolle und fungiert als Auslöser für den Kampf Toussaints gegen die Sklaverei: Il ne manque aux nègres qu’un chef assez courageux pour les conduire à la vengeance et à la révolte. Où est-il ce grand homme que la nature doit peut-être à l’honneur de l’espèce humaine? Où est-il ce Spartacus nouveau? [...] il [ce livre] m’a ouvert les yeux. À l’époque je me croyais heureux sur la plantation de mon maître, alors que je n’étais qu’un esclave un peu mieux loti que les autres.12 11
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Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:17; VÉNULETH, 2011, S. 14. Erstaunlicher als die Bildung Toussaints mutet im Film allerdings jene seines schwarzen Dieners Mars Plaisir an. Dieser kann nicht nur Lesen und Schreiben, sondern beherrscht angeblich sogar Latein, Griechisch und schreibt Gedichte: „Je lis, j’écris le latin, le grec. Et lorsque les tâches ménagères me laissent le loisir, je m’essaie à la poésie.“ NIANG, 2012, DVD 2, 0:30. NIANG, 2012, DVD 1, 0:17.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Der Einfluss dieses aufklärerischen Textes sorgt dafür, dass Toussaint sein bisherigen Leben als Sklave infrage stellt und beginnt, sich mit den Werten der Aufklärung zu identifizieren. An den ersten Aufständen partizipiert Toussaint in beiden Werken dennoch nicht.13 Ebenso wenig beteiligt er sich an der zuvor stattfindenden Voodoo-Zeremonie im Bois-Caïman und wird im Gegensatz zu den anderen Insurgenten als bekennender Christ dargestellt. Nachdem er die Teilnahme an der Zeremonie verweigert, droht der damalige Anführer der Revolte Biassou, ihn zu erschießen. Als sich aus seiner Waffe allerdings kein Schuss lösen will, glauben die Aufständischen, dass die Voodoo-Geister Toussaint beschützen.14 Toussaint jedoch bekennt sich entschieden zum katholischen Glauben: „Je suis catholique. Je n’ai qu’un seul Dieu.“15 Zwar wird im Kinderbuch auf den Voodoo-Kult verwiesen,16 aber es wird ebenfalls unmissverständlich herausgestellt, dass Toussaint bekennender Christ war.17 Nur aus Verbundenheit zu seinem Volk – nicht aus religiösen Gründen – trug er ein rotes Kopftuch,18 das laut Vénuleth seine Verbindung zum Loa Ogun demonstriert: „Il donne ainsi des messes solennelles et chante le Te Deum après chaque victoire... Mais il n’oublie pas que, pour les siens, son foulard rouge a une signification vaudou et le rattache au redoutable esprit guerrier Ogûn-Ferraille.“19 [Herv. i. O.] Somit wird in beiden Werken vermittelt, dass Toussaint sich im Gegensatz zu den anderen Aufständischen vom Voodoo-Glauben distanzierte und sich selbst der katholischen Religion zugehörig fühlte. Dadurch wird das ‚Fremde‘ von der Figur entfernt, um vermutlich eine leichtere Identifikation mit dem Revolutionsführer zu ermöglichen.
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Stattdessen wird betont, wie Toussaint die Familie seines Verwalters in Sicherheit bringt. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:36; VÉNULETH, 2011, S. 32. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:34. NIANG, 2012, DVD 1, 0:39. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 7f, 28f. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 39. Im Film trägt Toussaint – nachdem er sich Biassou angeschlossen hat, bis zu seinem Übertritt zu den Franzosen – auch ein rot-weiß-kariertes Tuch. Dieses scheint jedoch keine Voodoo-Bedeutung zu haben, denn bei Niang wird Toussaint als streng katholisch dargestellt. VÉNULETH, 2011, S. 48.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Als sich Toussaint – zunächst als Medizinmann20 – den Rebellen anschließt, wird deutlich, dass diese Aufgabe nur der Beginn einer steilen Karriere ist, da er als den anderen Anführern weit überlegen präsentiert wird und schnell die führende Rolle übernimmt.21 Die Seitenwechsel im Laufe seines Aufstiegs finden bei Niang und Vénuleth Rechtfertigung und die diesen Entscheidungen innewohnenden Widersprüche22 werden aufgehoben: Der Beschluss Toussaints für den Wechsel zu den Spaniern wird mit seiner religiösen und zunächst monarchistischen Einstellung begründet.23 In beiden Werken wird zudem darauf verwiesen, dass Toussaint diesen Übertritt nur als Übergangslösung betrachtete und insgeheim schon weiter vorausdachte.24 Der Film enthüllt, dass das eigentliche Ziel Toussaints bereits zu diesem Zeitpunkt die Abolition der Sklaverei war: „Nous allons nous battre pour un roi. [...] Nous allons nous battre pour son cousin Charles IV, le roi d’Espagne. [...] A leurs côtés, nous serons plus forts. Nous prenons l’avantage sur les Français et ils seront obligés de négocier. [...] La fin de l’esclavage!“25 Die spätere Verbündung Toussaints mit Frankreich ist in beiden Werken eines der bedeutendsten Mytheme. Obwohl der Grund für diesen Übertritt in der Geschichtsschreibung umstritten ist, scheint dieser in den Rezeptionen eindeutig festzustehen und wird deutlich hervorgehoben: Toussaints einzig wahres Ziel ist die Abschaffung der Sklaverei. 20 21
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Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:46; VÉNULETH, 2011, S. 35. Biassou wird im Film als ständig betrunken dargestellt, und es zeigt sich, dass er nicht in der Lage ist, die Truppen anzuführen. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:49. Nicht nur in Bezug auf sein außen- sondern auch sein innenpolitisches Verhalten wird Toussaint im Film von den seiner Person anhaftenden Widersprüchen befreit wie das Mythem Moyse veranschaulicht: Toussaints Entscheidung, seinen Neffen Moyse erschießen zu lassen, wird durch dessen im Film aufgezeigte negative Veränderung seiner Persönlichkeit – nicht zuletzt auch wegen seines Alkoholmissbrauchs – gerechtfertigt. Die Generäle Dessalines und Christophe befürworten die Hinrichtung, da an Moyse, der die Meinung vertritt, dass die Insel von allen Weißen befreit werden muss (vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:43), ein Exempel statuiert werden muss, um weitere Massaker zu verhindern. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:55. Toussaint scheint im Film somit im Interesse des Gemeinwohls zu handeln. Im Kinderbuch findet dieses Mythem keine Erwähnung. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 1:08f; VÉNULETH, 2011, S. 38f. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 39. NIANG, 2012, DVD 1, 1:08f.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Diese Intention des schwarzen Revolutionsführers wird schon an mehreren Stellen vor seinem Wechsel auf die Seite der Franzosen betont:26 „Je ne combats pas pour notre amnistie. Je me bats pour libérer tous les esclaves: la liberté générale.“27 Ebenso bleibt auch bei Vénuleth noch vor Toussaints Wechsel kein Zweifel daran, dass Toussaint die Werte der Französischen Revolution vertritt28 und sich für die Freiheit aller Sklaven einsetzt: „Il n’oubliera jamais la couleur de sa peau, conscient de ne devenir libre et respectable qu’à partir du moment où ses frères le seront et le resteront“.29 Während Niangs Toussaint die Seiten in der Annahme wechselt, dass die Hoffnung auf eine baldige Abschaffung der Sklaverei auf spanischer Seite vergeblich und auf französischer Seite wiederum möglich erscheint,30 erfolgt Toussaints Übertritt bei Vénuleth erst nach der offiziellen Abolition vonseiten Frankreichs, wobei nochmals darauf verwiesen wird, dass er seit Beginn seines Kampfes für die Abschaffung der Sklaverei eintrat: Toussaint ne se précipite pas. Il se contente de lancer, le même jour, le 29 août 1793, sa première déclaration: ‘Frères et amis, je suis Toussaint Louverture; mon nom s’est peut-être fait connaître jusqu’à vous. J’ai entrepris la vengeance de ma race. Je veux que la liberté et l’égalité règnent à Saint-Domingue. Je travaille à les faire exister. Unissez-vous, frères, et combattez avec moi pour la même cause. Déracinez avec moi l’arbre de l’esclavage.’ Histoire de bien montrer qui se bat depuis le début contre l’esclavage! Mais il attend presque un an ‒ ce n’est pas chez lui qu’il y a le feu ‒ pour abandonner les Espagnols. Il attend en fait que l’abolition de l’esclavage devienne officielle avec le décret de la Convention, qui dirige alors la France, du 16 pluviôse an II (4 février 1794).31
Dieses Engagement Toussaints spiegeln auch die Zeichnungen auf der Vorder- und Rückseite des Kinderbuches wider, auf denen Toussaint 26 27 28 29 30 31
Vgl. auch NIANG, 2012, DVD 1, 1:14. NIANG, 2012, DVD 1, 1:05. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 7. VÉNULETH, 2011, S. 17. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:06-8. VÉNULETH, 2011, S. 42f.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
mit den zerrissenen Ketten der Sklaverei abgebildet ist. Trotz der unterschiedlichen zeitlichen Einordnung des Übertritts haben beide Werke gemein, dass Toussaint glaubt, dass er sein Vorhaben nur an der Seite Frankreichs realisieren kann und dass der Verrat an den Spaniern durch sein glorreiches Ziel der Freiheit aller Sklaven legitimiert wird.32 Toussaint wird als Abolitionist und Freiheitskämpfer idealisiert, der die Ideale der Französischen Revolution bzw. der französischen Republik33 vertritt. Die Festhaltung Toussaints an diesen Idealen sowie sein Ziel der Freiheit zeichnen sich in beiden Werken auch anhand der Erklärung Toussaints für den Erlass einer Verfassung in Saint-Domingue ab. Im Film betont Toussaint, dass er keine Unabhängigkeit von Frankreich anstrebt, sondern es ihm nur darum geht, die errungene Freiheit gesetzlich zu verankern: Si le Premier consul veut de nouvelles lois, nous les ferons nousmêmes. [...] J’ai décidé de doter Saint-Domingue d’une constitution. [...] Qui vous parle d’indépendance? Je ne veux pas me séparer de la France. [...] La France est bien trop loin de Saint-Domingue. Il nous faut des lois nouvelles, adaptées à notre pays.34
Gegenüber Pasquier weist Toussaint im Gefängnis rückblickend nochmals darauf hin, dass seine Verfassung keiner Unabhängigkeitserklä32
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Im Film wird aufgezeigt, dass der Wechsel keinen Vertrauensbruch darstellt, da die Spanier Toussaint zuerst verraten hatten. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 1:22-26. Ebenso wird eine Konspiration Toussaints mit England in beiden Werken von der Hand gewiesen und Toussaint kein Verrat zum Vorwurf gemacht. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 44. Bei Niang lehnt Toussaint die angebotene Krone Saint-Domingues mit der Begründung ab, sie sei mit dem Blut der Sklaven Englands besudelt. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:16. Diese Funktionalisierung Toussaints tritt im Film auch deutlich in jener Szene zutage, in der Toussaint nach seiner Ernennung zum Gouverneur in einer Kirche vom Altar zu den weißen Bewohnern von SaintDomingue predigt: „Citoyens de Saint-Domingue, je vais faire comme Jésus-Christ, que l’on adore dans cette église. Lui a pardonné au nom de son père, moi je vais pardonner au nom de la République.“ NIANG, 2012, DVD 2, 0:17. Toussaint wird dadurch als Vertreter des französischen Republikanismus mit einer messianischen Seite präsentiert. NIANG, 2012, DVD 2, 0:47.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
rung entsprach, denn ansonsten – so seine Aussage – hätte er gleichzeitig jeden Kontakt mit Frankreich abgebrochen.35 Ebenso wird die Verfassung bei Vénuleth positiv gewertet: „[…] Toussaint, tout seul comme un grand, promulgue une Constitution.“36 In beiden Werken ist auffällig, dass die von Toussaint in diesem Zusammenhang erlassene Agrarreform, die die ehemaligen Sklaven zur Zwangsarbeit führte, keine Erwähnung findet. Dies befreit Toussaint wiederum von in der Historiografie vorhandenen Widersprüchen seiner Person, und er wird weiterhin als Freiheitskämpfer37 dargestellt. Allerdings muss ebenfalls darauf verwiesen werden, dass Toussaint in den Rezeptionszeugnissen mit der Verfassung sich diametral entgegenstehende Ziele verfolgt: Während er bei Niang keine Unabhängigkeit von Frankreich anstrebt, sondern die Kolonie für und im Sinne von Frankreich regieren will, wird die Konstitution bei Vénuleth als Teil seines Wirkens betrachtet, das zur Gründung einer neuen Nation führt.38 Diese verschiedene Sichtweise hängt eng mit der ebenfalls unterschiedlichen Betrachtung der Nationalität Toussaints zusammen. Im Film wird er durch seine Verbundenheit mit dem Mutterland, die er gegenüber Pasquier bezeugt, als Franzose dargestellt. Diese Auffassung unterstreicht bei Niang auch der französische General Laveaux durch seine Folgerung, dass Toussaint Franzose sei, da er Französisch spreche: „Vous êtes de la nation dont vous parlez la langue: la France.“39 Die Hybridität der Figur wird ausgelöscht und dem Zuschauer wird suggeriert, Toussaint habe sich als Franzose gesehen. Bei Vénuleth hingegen bewahrt Toussaint seine Hybridität: Er wird als Kreole bezeichnet;40 es wird explizit auf seine afrikanische Abstammung verwiesen41 und die Beeinflussung durch die französische Republik ist – insbesondere anhand der Übernahme der Ideale der Französischen Revolution42 – ersichtlich. Zudem scheint Toussaint durch die Repräsentation als 35 36 37
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Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:02. VÉNULETH, 2011, S. 54. Seine Repräsentation als Freiheitskämpfer wird auch durch die Aufnahme der Wurzelmetapher untermauert. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:23; VÉNULETH, 2011, S. 64f. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 65. NIANG, 2012, DVD 1, 1:19. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 13. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 39. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 7.
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Gründer einer neuen Nation43 nicht nur als Kreole, sondern bereits als Haitianer betrachtet zu werden. Die in den Werken zum Ausdruck kommende Verbundenheit Toussaints mit den Werten der Französischen Revolution lässt sich zudem am Mythem des Schatzes festmachen – eines der dominantesten Mytheme bei Niang und Vénuleth. In beiden Rezeptionszeugnissen handelt es sich um einen metaphorischen Schatz, dessen Bedeutung dem Zuschauer bzw. Leser schrittweise vermittelt wird und das Ende sowie das Fazit der Werke darstellt. Im Film bekommt Toussaint von einer Voodoo-Priesterin eine Kette aus Muscheln und einem hölzernen Kreuz überreicht.
Abbildung 4: Die Übergabe der Kette. Philippe Niang, Toussaint Louverture, 2012, DVD 1, 0:41. © FZJLM/ELOA PROD 2011. Sie warnt Toussaint, dass er die Kette niemals verlieren dürfe, denn ohne sie sei er verloren.44 Während sein Neffe Moyse vor dem Hinrichtungskommando zu Boden geht, lässt Toussaint die Kette fallen, sodass der Zuschauer erahnen kann, dass eine Schicksalswende bevorsteht,45 die sich in Form der Gefangennahme und Deportation Toussaints auch realisiert. Nachdem Pasquier von Toussaint das Versteck seines Schatzes in Erfahrung bringen konnte, reist er nach dessen Tod an jenen Hü43 44 45
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Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 65. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:41f. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:02.
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gel in Saint-Domingue, wo der Schatz versteckt sein soll. In der geborgenen Truhe befindet sich allerdings nur diese Kette, woraufhin einer der Franzosen ungläubig ausruft: „C’est ça, le trésor?“46 Pasquier, der nach und nach die Signifikanz Toussaints begriffen hat und voller Admiration über ihn spricht, erläutert dem Zuschauer, dass der wahre Schatz Toussaints, der von ihm begonnene Kampf für die Freiheit ist, der auch nach seinem Tod Fortsetzung findet: Le véritable trésor de Toussaint Louverture, c’était cette flamme qu’il avait allumée en triomphant des plus grandes puissances coloniales. C’est cette même flamme qui anima le général Dessalines lorsqu’il proclama un an plus tard l’indépendance d’Haïti, le 1 janvier 1804.47
Bei Vénuleth tritt der metaphorische Schatz in Form eines Geckos zutage. Der Leser soll sich im ersten Kapitel vorstellen, dass Toussaint Louverture unter seinem Kopftuch einen Gecko versteckt hat.48 Diese Echse, die nach Toussaints Tod aus dessen Gefängnis entwischt, verkündet das Ende der Sklaverei und des Rassismus in den verschiedenen Ländern der Welt: Toussaint aurait jusqu’à sa mort caché un document sous son mouchwa tèt, un texte dont le contenu est illisible... Et si ce n’était pas un document, qui était caché là? Si c’était le gecko, celui que nous imaginions au début? Un lézard qui n’aura ensuite aucun mal à s’échapper par l’étroite ouverture, pour aller annoncer en France la nouvelle fin de l’esclavage en 1848, aux États-Unis la fin de la ségrégation raciale en 1964, en Afrique du Sud la fin de l’apartheid en 1991...49 [Herv. i. O.]
Der Gecko inkarniert gleichzeitig den Wunsch und die Hoffnung, dass diese Botschaft bald überall Verbreitung findet.50
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NIANG, 2012, DVD 2, 1:30. NIANG, 2012, DVD 2, 1:31. Vgl. Abbildung 3. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 8. VÉNULETH, 2011, S. 75f. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 77.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
Abbildung 5: Der Gecko in der Gefängniszelle. Jacques Vénuleth, Toussaint Louverture, illustr. v. Frédéric Rébéna, Arles 2011, S. 4. © ACTES SUD 2011. Toussaints Schatz symbolisiert in beiden Werken seine Errungenschaften im Kampf für die Abschaffung der Sklaverei sowie eine Verbreitung der Werte der Französischen Revolution. Der schwarze Sklavenführer und Gouverneur wird somit als bedeutender Abolitionist und derjenige dargestellt, der es wagte, die Ideale der Freiheit und Gleichheit für alle und nicht nur für die Weißen umzusetzen, wodurch er gewissermaßen als Vollender der Französischen Revolution betrachtet wird. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Toussaint in beiden Renarrationen sämtliche seiner historischen Person anhaftende Widersprüche verliert und als guter Katholik, als weitsichtiger, gebildeter, loyaler und ansehnlicher Anführer mit tadellosem Charakter präsentiert wird. Durch sein an zahlreichen Stellen aufgezeigtes, allem übergeordnetes Ziel der Verwirklichung der Werte der Französischen Revolution und der Abschaffung der Sklaverei wird Toussaint als Abolitionist und Freiheitskämpfer glorifiziert. Seine Übertritte zu Spanien und Frankreich, die ihm oftmals als Abtrünnigkeit ausgelegt wurden, finden im
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Film und im Kinderbuch durch seine ruhmvollen Bestrebungen Rechtfertigung. Divergent ist in den Werken allerdings die mit der Verfassung einhergehende Intention des Sklavenführers: Während Niangs Toussaint keine Unabhängigkeit vom Mutterland anvisiert, ist die Gründung einer neuen Nation das Ziel von Vénuleths Toussaint. Dies hängt auch damit zusammen, dass er im Film als Franzose perzipiert wird und seine Hybridität weitestgehend ausgelöscht wird, wohingegen er im Kinderbuch als Kreole bzw. als Haitianer dargestellt wird. In beiden Rezeptionszeugnissen intendiert Toussaint die Ideale der Französischen Revolution bzw. Republik – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – für alle Menschen, unabhängig der Hautfarbe und Herkunft, zur Anwendung zu bringen, wie sich insbesondere anhand des metaphorischen Schatzes zeigt. Dadurch wird er gleichsam als Vollender der Französischen Revolution funktionalisiert, und es erfolgt durch die enge Verknüpfung Toussaints mit Frankreich und der heute in der französischen Verfassung verankerten Devise51 eine Republikanisierung des Revolutionsführers. Dadurch verliert die Figur an Komplexität und insbesondere im Film findet eine Vereinnahmung des Freiheitskämpfers für Frankreich statt. 3.6.3.1 Die Dämonisierung der Gegenspieler Toussaint Louvertures Beiden Werken liegt eine starke Dichotomie zugrunde: Während Toussaint auf der einen Seite glorifiziert wird, kommt es bei seinen Antagonisten hingegen zu einer Dämonisierung. Wird im Kinderbuch hauptsächlich Napoleon verunglimpft, werden im Film zudem auch die Generäle Caffarelli, Leclerc und Rigaud52 als Gegenspieler Toussaints 51
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Zwar lautet auch Haitis Parole Liberté – Egalité – Fraternité, aber dies dürfte vermutlich den wenigsten französischen Lesern und Zuschauern bekannt sein. Ferner werden die Werte im Film sehr eng mit Frankreich bzw. der Französischen Revolution verknüpft. Der Mulattenführer Rigaud wird im Film zum Bösen stilisiert. Er lässt an mehreren Stellen seinem Hass gegenüber den Schwarzen freien Lauf (vgl. beispielsweise NIANG, 2012, DVD 1, 1:02), die er als minderwertige Rasse ansieht, weshalb er sich auch strikt gegen die Abolition der Sklaverei ausspricht. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 1:06. Ferner wird ihm die Schuld am Bürgerkrieg zugewiesen, den er begann, um die Kolonie in
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im Kampf für die allgemeine Freiheit präsentiert. Auffällig ist, dass im Film weitere fiktive Mytheme eingeführt werden, um die Perfidie der Antagonisten Toussaints noch stärker hervorzuheben.53 Zwar hat der Schauspieler, der Napoleon verkörpert, nur einen einzigen Auftritt zu Beginn des Spielfilms,54 aber dennoch ist der Erste Konsul in den Filmdialogen omnipräsent und seine Macht ist ständig spürbar. Die Dämonisierung Napoleons erfolgt durch dessen Befehle, die insbesondere durch Caffarelli, Leclerc und Laveaux ausgeführt werden. Für die Entsendung der Expedition wird die Verfassung Toussaints als Auslöser betrachtet, die allerdings, wie bereits aufgezeigt, in beiden Werken Rechtfertigung findet. Im Film warnt der französische General Laveaux Toussaint, dass Napoleon ihm im Falle eines eigenmächtigen Erlasses einer Konstitution den Krieg erklären werde: „Pour Bonaparte, ce sera la guerre.“55 Im Kinderbuch wird Napoleon die Verfassung zusammen mit dem Schreiben „Du premier des Noirs au premier des Blancs“56 zugestellt.57 Seine Frau Joséphine, die ihren Reichtum den Kolonien verdankt, sowie die allgemeine rassistisch geprägte Gesellschaft58 werden als Grund dafür genannt, weshalb Napoleon die Herr-
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den Händen der Mulatten zu wissen: „La France aux blancs, la Guinée aux nègres et Saint-Domingue aux mulâtres.“ NIANG, 2012, DVD 2, 0:35. Anhand des zusätzlichen Mythems der Ermordung von Toussaints Vater werden des Weiteren auch die Grausamkeit des Sklavenhandels sowie die Herzlosigkeit der französischen Plantagenbesitzer angeprangert. Der kleine Toussaint, sein Vater sowie seine Schwester werden zusammen mit weiteren Sklaven bei einer Versteigerung feilgeboten. Da der Vater einem französischen Käufer zu alt ist, wird dieser kurzerhand von den Sklavenhändlern ins Meer geworfen, wo er ertrinkt. Laut Geschichtsschreibung verstarb der Vater Toussaints erst um das Jahr 1804. Vgl. GUILLERM, 2012. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:03f. NIANG, 2012, DVD 2, 0:47f. Im Film erhält Napoleon dieses Schreiben schon vor dem Erlass der Verfassung. Laut Laveaux sei der Erste Konsul über die anmaßende Anrede schockiert gewesen und halte Toussaint für arrogant. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:47. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 54. Dieser Gesellschaft war Toussaint laut Vénuleth, der auf Aimé Césaire Bezug nimmt, weit voraus: „Toussaint, au contraire, a ‚un siècle et demi d’avance‘, comme le dira l’écrivain Aimé Césaire: il a déjà inventé le premier État noir moderne et indépendant [...]!“ VÉNULETH, 2011, S. 57.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
schaft des schwarzen ehemaligen Sklaven nicht dulden konnte und eine Expedition nach Saint-Domingue entsandte: Une Saint-Domingue avec Toussaint et ses Noirs libres, qui appelleraient au soulèvement les nombreux esclaves de la région... Impossible. Bonaparte n’en est pas là, ne peut pas en être là. Il est trop imprégné de la mentalité raciste de son époque et de l’entourage colonial de son épouse, Joséphine de Beauharnais, née à la Martinique, dans une famille de planteurs esclavagistes.59
Die Reaktion Napoleons auf die Verfassung sowie den Brief „Du premier des Noirs au premier des Blancs“ bringt seine herrsch- und kontrollsüchtige Seite sowie – insbesondere im Kinderbuch – seine rassistische Mentalität zum Vorschein, die zu einer Verunglimpfung des Ersten Konsuls in den Werken beiträgt. In beiden Rezeptionszeugnissen werden die Befürchtungen Toussaints zur Sprache gebracht, Napoleon könne seine Kinder als Geiseln nehmen: „J’ai peur qu’on les prenne en otages.“60; „[…] il se doute qu’on les prend ainsi en otage [sic].“61 Zusätzlich wird diese Angst im Kinderbuch durch die Zeichnung Rébénas verdeutlicht, denn selbst die Kinder scheinen zu ahnen, dass sie zu Geiseln Frankreichs werden. Zwar kehren beide Söhne mit der Expedition Leclercs wohlbehalten zurück, allerdings lässt sich Toussaint vom Ersten Konsul und dessen arglistigen Absichten nicht täuschen: Im Film überbringen die Kinder ihrem Vater einen Brief von Napoleon, der eine an Toussaint gerichtete Drohung enthält, die mit der Stimme des Napoleon verkörpernden Schauspielers vorgelesen wird: […] nous vous envoyons le citoyen Général Leclerc accompagné de forces convenables pour faire respecter notre souveraineté à SaintDomingue. Si vous manifestiez une conduite inconciliable avec l’idée que nous avons de vous, elle creuserait sous votre pas un précipice qui vous engloutirait. Elle contribuerait au malheur de ses braves noirs dont
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VÉNULETH, 2011, S. 56. NIANG, 2012, DVD 2, 0:34. VÉNULETH, 2011, S. 44.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos nous aimons le courage et dont nous nous verrions avec peine punir la rébellion.62
Im Kinderbuch wird insbesondere die drohende Wiedereinführung der Sklaverei hervorgehoben, gegen die Toussaint zu kämpfen gedenkt: Il les [ses enfants] accueille avec émotion, mais ne se laisse pas prendre. Il sait lire derrière les déclarations mielleuses. ‚Le consul maintient l’esclavage à la Martinique et à Bourbon […]; nous serons donc esclaves quand il sera le plus fort‘, remarque-t-il à juste titre.63
Die Befürchtungen der Geiselnahme und insbesondere die im Raum stehenden Drohungen Napoleons sollen in den Werken das wahre Gesicht des Ersten Konsuls offenbaren, der als eine Bedrohung für die von den Schwarzen errungene Freiheit dargestellt wird. In den Renarrationen wird deutlich gemacht, dass beide Parteien den Waffenstillstand für ihre Zwecke zu nutzen versuchten. Im Film wird diese Vereinbarung als eine List angesehen, denn Leclerc gibt zu, dass er keine andere Möglichkeit sieht, um als Sieger aus der Schlacht hervorzugehen: „Il nous faut, je crois, pour abattre Louverture manquer aux principes que nous défendons et utiliser ses propres méthodes, la traîtrise et la ruse.“64 Allerdings wird im Rückblick ebenfalls dargelegt, dass auch Toussaints Angebot eines Waffenstillstands kein ehrliches war, da er mit der Waffe des gelben Fiebers weiterzukämpfen gedachte.65 Ebenso wird im Kinderbuch aufgezeigt, dass Toussaint und Leclerc den Waffenstillstand nutzten, um ihre Stellungen auszubauen: „Lorsque Leclerc et Toussaint signent une trêve en mai 1802, rien n’est définitif. Il n’y a encore ni vainqueur ni vaincu. Chacun espère en profiter pour avancer ses pions.“66 Die trotz des Waffenstillstands erfolgte Festnahme Toussaints wird in beiden Werken als ein Verrat Napoleons und Leclercs angeprangert 62 63 64 65
66
350
NIANG, 2012, DVD 2, 1:12. VÉNULETH, 2011, S. 60f. NIANG, 2012, DVD 2, 1:17. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:18. Allerdings findet Toussaints Vorgehen durch sein hehres Ziel der allgemeinen Freiheit wiederum Rechtfertigung. VÉNULETH, 2011, S. 63.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
und dient der Dämonisierung der Figuren. Im Film wird dem Zuschauer vor Augen geführt, dass Leclerc, als er durch die Verhaftung Toussaints die Vereinbarungen des unterzeichneten Waffenstillstands brach, Wortbruch beging.67
Abbildung 6: Die Gefangennahme Toussaint Louvertures. Philippe Niang, Toussaint Louverture, 2012, DVD 2, 1:23. © FZJLM/ELOA PROD 2011. Dem Zuschauer wird zudem suggeriert, dass Leclerc im Auftrag Napoleons handelte und somit Napoleon die Verantwortung für den Verrat an Toussaint trägt. In Vénuleths Kinderbuch spielt der durch die Gefangennahme begangene Verrat an Toussaint eine große Rolle und wird bereits auf der ersten Seite erwähnt: „C’est Bonaparte, Napoléon Bonaparte, qui l’a fait arrêter par traîtrise, puis transporter et enfermer ici pour qu’il meure en secret.“68 An einer späteren Stelle im Buch wird der genaue Hergang der Verhaftung aufgezeigt (vgl. Abbildung 7) und als Falle kritisiert, die Toussaint von General Brunet im Auftrag von Leclerc und Napoleon gestellt wurde: Le camp de Toussaint doute, ne sait plus pourquoi il se bat, et lui-même se voit encore en position de négocier. C’est peut-être pour cela qu’il tombe dans le piège qu’on lui tend en l’invitant, quinze jours après la signature de la trêve, à une rencontre amicale. Il y va sans escorte. Le 67 68
Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:23. VÉNULETH, 2011, S. 5.
351
Der Toussaint-Louverture-Mythos général Brunet qui l’a invité l’accueille aimablement, puis s’excuse et quitte la pièce, qui est aussitôt envahie par des soldats. Ils entourent Toussaint, le désarment et le mettent aux fers.69
Abbildung 7: Die Gefangennahme Toussaint Louvertures. Jacques Vénuleth, Toussaint Louverture, illustr. v. Frédéric Rébéna, Arles 2011, S. 64. © ACTES SUD 2011. Somit werden Leclerc und Napoleon als Verräter in Szene gesetzt, da sie die ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstands nicht einhielten und Toussaint in eine Falle lockten. Die nach der Deportation Toussaints erfolgte Repression der erneuten Aufstände von Schwarzen und Mulatten in Saint-Domingue wird nur bei Vénuleth beschrieben und führt zu einer allgemeinen Verunglimpfung der Franzosen im Kinderbuch: L’histoire de son pays commence dans une répression féroce, à la mesure de l’ampleur du soulèvement. Féroce et inefficace. Leclerc, dont 69
352
VÉNULETH, 2011, S. 64.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis les troupes sont désormais décimées par la fièvre, réclame sans arrêt des renforts, sans toutefois se faire d’illusions [...] c’est son successeur, Rochambeau, qui profitera avec une cruauté débridée des renforts enfin obtenus: sur la place publique il fera dévorer des prisonniers par des chiens spécialement dressés et volontairement affamés. Une cruauté telle que Noirs et mulâtres s’unissent enfin dans le soulèvement pour le conduire à sa victoire.70
Leclerc sowie vor allem sein Nachfolger Rochambeau werden aufgrund der besonders grausamen Tötungsarten, zum Beispiel das Zerfleischen der Schwarzen durch Bluthunde, dämonisiert. Während der metaphorische Schatz des schwarzen Generals zur Inszenierung Toussaints als großem Abolitionisten und Verteidiger der Werte der Französischen Revolution dient,71 wird das Mythem des Schatzes in beiden Werken noch auf eine weitere Art argumentativ in Anspruch genommen und zwar dient der reale Schatz, den Toussaint angeblich besaß, zur Funktionalisierung Napoleons und seines Gesandten, General Caffarelli, als kaltblütige Personen, die die Prinzipien der Französischen Revolution ihrer Hab- und Machtgier opferten. Zu Beginn des Films wird General Caffarelli vom Ersten Konsul empfangen und es wird der Anschein erweckt, als ob Napoleons wichtigstes Ziel darin besteht, an Toussaints Schatz zu gelangen. Statt erneut seinen Gesandten Caffarelli zu Toussaint ins Fort de Joux zu schicken, wird diese Aufgabe nun Pasquier anvertraut.72 Jedes Mittel scheint Napoleon im Film recht zu sein, um den Schatz an sich zu reißen, wie die Anweisungen Caffarellis an Pasquier belegen: „Ce nègre est malin, retors. Bonaparte en a assez d’attendre! Il veut savoir où se trouve ce foutu trésor de guerre! [...] Vous n’obtiendrez rien par la douceur. C’est un homme fier. Humiliez-le!“73 Zunächst erfolgt die Demütigung durch seine Degradierung – ein Akt, der später durch die Konfiszierung seiner Generalsuniform zementiert wird.74 Schließlich werden die Haftbedingungen durch weniger Feuerholz und Nahrung deterioriert und Toussaint wird jeglicher Briefwechsel und somit auch der Kontakt zu 70 71 72 73 74
VÉNULETH, 2011, S. 67f. Vgl. Kapitel 3.6.3. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:03f. NIANG, 2012, DVD 1, 0:51. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:07, 0:55.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
seiner Familie untersagt.75 Letzten Endes wird Toussaint auch sein Diener Mars Plaisir, die letzte ihm verbliebene Vertrauensperson, genommen.76 Diese Demütigungen Toussaints und die sich verschlechternden Haftbedingungen führen zu einer wachsenden Empathie des Zuschauers mit Toussaint und gleichzeitig zu einer Antipathie gegenüber den Verantwortlichen dieser Maßnahmen. Die Jagd Napoleons nach dem Schatz Toussaints hat allerdings bereits vor der Inhaftierung Toussaints begonnen, wie anhand einer im Rückblick eingeblendeten Szene offenbar wird. Leclerc wird von Napoleons und seiner eigenen Habgier so weit getrieben, dass er das Grab von Toussaints Schwester verwüsten lässt,77 da er an dieser Stelle den Schatz vermutet: „Ils ont retourné la tombe de ma sœur où j’avais soidisant caché mon trésor. Mon trésor… Un charognard, ce Leclerc.“78 Diese Obsession und die unsäglichen Methoden zur Enthüllung des Geheimnisses zeichnen im Film ein dämonisiertes Bild der Gegenspieler Toussaints. Während Toussaint für die Prinzipien der Französischen Revolution kämpft und versucht, sie in der Welt zu propagieren, opfern Leclerc und Napoleon diese Ideale zugunsten ihrer Habgier. Eine solche Verteufelung anhand des Mythems findet ebenfalls bei Vénuleth statt, wenn auch Caffarelli eine untergeordnete Rolle spielt und der reale Schatz nur an einer Stelle erwähnt wird.79 Allerdings werden wie auch im Film Methoden der Isolierung und Demütigung angewandt, um den Verbleib des Schatzes in Erfahrung zu bringen: „On l’isole […]. On l’humilie. […] On l’abandonne sans soins […].“80 Dadurch werden auch im Kinderbuch Napoleon und Caffarelli zu Schurken stilisiert. Beide Werke setzen das Sterben Toussaints in kausale Verbindung zu seiner schmachvollen Behandlung im Gefängnis und machen somit Napoleon für dessen Tod verantwortlich. Im Film wird Toussaint zunehmend als krank, frierend und hustend gezeigt, um die Konsequenzen 75 76 77
78 79 80
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Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 0:09f, 0:31. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:04. Die Grabschändung ist eine neue Szene, die im Film vermutlich aufgenommen wird, um eine zusätzliche Dämonisierung der Franzosen, insbesondere Leclercs und Napoleons, zu erlangen. NIANG, 2012, DVD 2, 1:22. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 74. VÉNULETH, 2011, S. 74.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
der schlechten Versorgung zu demonstrieren. Schließlich stirbt er auf seinem Stuhl vor dem Kamin sitzend.81 Ebenso unterstreicht Vénuleth, der den Tod Toussaints an den Anfang82 und das Ende seines Werkes stellt, dessen schlechte Haftbedingungen: „Il lui reste un peu plus de sept mois à vivre, ou plutôt à souffrir.“83 Ausdrücklich wird Napoleon der langsame und dadurch qualvolle Tod Toussaints angelastet: „Sa morte [sic] lente est programmée par Bonaparte […].“84 Zwar wird nur bei Vénuleth die Schuld Napoleons an Toussaints Tod explizit gemacht, dennoch wird dieser Vorwurf auch dem Zuschauer des Films suggeriert. Bei Niang sorgen weitere fiktive Mytheme für eine zusätzliche Dämonisierung Caffarellis. Gleich zu Beginn des Films erteilt Caffarelli im verschneiten Juragebirge den Befehl, die Familie voneinander zu trennen.85 Laut Geschichtsschreibung kam es zu dieser Trennung jedoch bereits direkt nach ihrer Ankunft in Frankreich. Ferner macht das hinzuerfundene Mythem der Erschießung von Toussaints Diener Mars Plaisir die Kaltblütigkeit des Generals augenscheinlich: Mit dem Versprechen von Freiheit lässt Caffarelli den Toussaint treu ergebenen Diener Mars Plaisir seines Weges ziehen, nachdem dem Freiheitskämpfer auch das Privileg eines Dieners entzogen wurde. Hinterrücks erschießt Caffarelli den nichtsahnenden Mars Plaisir, da dieser ihm das Geheimnis des Schatzes nicht enthüllen konnte und für ihn somit nicht mehr von Wert war.86 In beiden Rezeptionszeugnissen lässt sich insgesamt eine starke Dämonisierung der Widersacher Toussaints feststellen. Im Gegensatz zum Kinderbuch, in dem hauptsächlich Napoleon als Bösewicht funktionalisiert wird, erfolgt im Film eine zusätzliche Diskreditierung der Generäle Leclerc und Caffarelli. Ebenso werden der Mulattenführer Rigaud und die Plantagen- und Sklavenbesitzer allgemein im Film als unmenschliche und grausame Menschen präsentiert. Napoleon wird in beiden Renarrationen aufgrund seiner Reaktion auf Toussaints Verfassung als kontrollsüchtiger, rassistisch geprägter Herrscher dargestellt, 81 82 83 84 85 86
Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:26. Vgl. VÉNULETH, 2011, S. 4f. VÉNULETH, 2011, S. 72. Vgl. Abbildung 5. VÉNULETH, 2011, S. 74. Vgl. NIANG, 2012, DVD 1, 0:01. Vgl. NIANG, 2012, DVD 2, 1:08.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
der den Machtverlust an einen ehemaligen Sklaven nicht dulden konnte; er wird als eine Bedrohung für die erkämpfte Freiheit der Sklaven angesehen. Wie insbesondere die Versessenheit auf den Schatz verdeutlicht, haben der Erste Konsul und seine Helfer ihre Prinzipien für ihre Habund Machtgier aufgegeben. Sie verraten jedoch nicht nur ihre Ideale, sondern auch Toussaint, da sie den schwarzen General in eine Falle lockten, verhafteten und gegen seinen Willen deportierten. Zudem wird vor allem Napoleon für den langen und qualvollen Tod Toussaints im französischen Gefängnis verantwortlich gemacht. Durch die zusätzlichen fiktiven Mytheme im Film erfolgt auch eine Stilisierung Caffarellis zum Bösen. Napoleon und seine Generäle stehen Toussaint, der sich aller Widersprüche entledigen kann und als Vollender und Träger der Werte der Französischen Revolution eine starke Glorifizierung erfährt, diametral gegenüber. Diese starke dichotomische Struktur führt dazu, dass der Leser bzw. Zuschauer Bewunderung und Mitgefühl für Toussaint und gleichzeitig Empörung und Abneigung für dessen Antagonisten empfindet. Im Film findet die instrumentalisierte Admiration und Indignation durch die Figur Pasquier Verkörperung, denn diese sorgt dafür, dass die Glorifizierung bzw. Dämonisierung für den Fernsehzuschauer besser perzeptibel ist.87 Wie der haitianische Revolutionsführer werden auch die Gegenspieler Toussaints durch die simplifizierte Präsentation ihrer Komplexität beraubt – eine Entwicklung, die problematisch ist, da diese Darstellung den Problemen nicht gerecht wird und wieder in alte Repräsentationsformen binärer Opposition verfällt. Während eine Republikanisierung und Vereinnahmung des Freiheitskämpfers für Frankreich erfolgt, findet eine Distanzierung von den französischen Generälen und ihren Taten statt. Ebenso muss diese Instrumentalisierung Toussaints kritisch betrachtet werden, denn durch seine Darstellung als Vollender der Französischen Revolution wird die Niederlage der Franzosen in einen Sieg transformiert und zwar in einen Sieg des humanistischen Republikanismus bzw. einen Sieg der Franzosen über sich selbst.88
87 88
356
Vgl. LAMMEL, 2014. Eine ähnliche Transformation ist auch bezüglich der Erinnerung der zweiten Abolition der Sklaverei von 1848 zu konstatieren. Vgl. DELAS, 2001, S. 267.
Die allmähliche Rückkehr ins kollektive Gedächtnis
Konkludierend kann festgehalten werden, dass durch die zunehmende Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit Frankreichs und die Bemühungen, das koloniale Gedächtnis wiederzubeleben, Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine intensive Auseinandersetzung mit dem haitianischen Revolutionsführer einsetzte. Es konnten insgesamt drei Tendenzen der Instrumentalisierung Toussaints in der Gegenwart ausgemacht werden: Die Autoren Fabienne Pasquet und Éric Sauray verfolgen beide eine metamythische Herangehensweise an den Toussaint-Mythos, die eine Ablehnung der eurozentristischen Perspektive auf den Mythos zum Vorschein bringt. Claude Ribbe greift den Toussaint-Mythos auf, um die in Frankreich vorherrschende glorifizierende Darstellung des Napoleon-Mythos zu destruieren und den Ersten Konsul und seine Politik, als deren Opfer Toussaint dargestellt wird, zu dämonisieren. Bei Niang und Vénuleth wird Toussaint als Abolitionist und Freiheitskämpfer glorifiziert, und es findet eine Republikanisierung des haitianischen Revolutionsführers statt. Während Napoleon in den Werken von Césaire und Glissant kaum eine Rolle spielte, dient er in der Gegenwart, wie bereits in der Epoche der Romantik und bei Dadié, erneut als Widerpart Toussaints. Weiterhin wird Toussaint Louverture, wie Mitte des 20. Jahrhunderts, als hybride Persönlichkeit und Haitianer dargestellt. Nur im Film wird diese Hybridität Toussaints entfernt und er wird als Franzose perzipiert. Dadurch erfolgt eine Vereinnahmung des haitianischen Revolutionsführers vonseiten Frankreichs. Ebenso verliert die Figur im Kinderbuch an Komplexität und durch die Funktionalisierung als Vollender der Französischen Revolution erfolgt sowohl bei Vénuleth als auch bei Niang eine Republikanisierung Toussaints. Gegen eine solche Symbolisierung für das republikanische Frankreich, die dem Land beispielsweise auch aufgrund der für Toussaint angebrachten Gedenktafel im Pantheon zum Vorwurf gemacht wurde,89 richten sich die Werke Pasquets und Saurays. Durch die Darlegung der Desillusionierung Toussaints bezüglich Frankreichs und Napoleons sowie die Rückbesinnung auf seine kreolische Identität sprechen sie sich eindeutig gegen diese Transformation des Toussaint-Mythos aus. Die zahlreichen Rezeptionen in den verschiedenen Medien lassen die zunehmende Präsenz des Mythos in der heutigen Zeit offensichtlich 89
Vgl. Kapitel 3.6.
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
werden und auf eine sukzessive Rückkehr des schwarzen Generals ins kollektive Gedächtnis Frankreichs schließen. Da dies eine sich gerade erst ereignende Entwicklung ist, wird Toussaint von den Franzosen nur allmählich als Identifikationsfigur wahrgenommen.
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S CHLUSSFOLGERUNG Die vorgelegte Untersuchung über die Repräsentation und Funktionalisierung des Toussaint-Mythos in der französischen Literatur konnte aufzeigen, dass der Mythos im Laufe seiner über 200-jährigen Aktivität eine Vielzahl an Transformationen durchlebte, die eng mit der jeweils vorherrschenden kolonialpolitischen Situation des Landes zusammenhingen. Die Genese des Mythos fand in Frankreich noch zu Lebzeiten Toussaint Louvertures statt und sein polarisierendes Potenzial zeigte sich bereits in den Werken der Zeit- und Augenzeugen. War Toussaint nach seinem Übertritt auf die französische Seite zunächst noch in einem eher positiven Licht dargestellt worden, realisierte sich mit der Entsendung der napoleonischen Expedition nach Saint-Domingue und der sie unterstützenden Propaganda eine erste Veränderung im Diskurs um den schwarzen Sklavenführer, der nunmehr überwiegend eine starke Dämonisierung erfuhr, wobei insbesondere auf das Stereotyp der Animalität der Schwarzen rekurriert wurde. Die individuellen Erinnerungen der Zeit- und Augenzeugen, die mit ihrem Versuch, das Undenkbare zu verbalisieren, das kollektive Gedächtnis sowie die späteren Renarrationen prägten, schrieben Toussaint zwar Außergewöhnlichkeit zu, jedoch wurde er vor allem als ambitiöser, grausamer, selbstverliebter, hypokritischer und ungebildeter Afrikaner funktionalisiert, während Napoleon ihm zumeist glorifizierend gegenübergestellt wurde. Die bestehende Interdependenz zwischen dem Toussaint- und Napoleon-Mythos entstand bereits in dieser frühen Rezeptionsphase. Die von 1804 bis 1813 herrschende Zensur sorgte dafür, dass es nach der Unabhängigkeitserklärung der Kolonie kaum zu einer Veröffentlichung von Werken über die Haitianische Revolution und Toussaint Louverture kam. Die danach entstandenen Schriften verleugneten den Sieg der Aufständischen, da eine Niederlage Frankreichs auf359
Der Toussaint-Louverture-Mythos
grund der als selbstverständlich angenommenen Superiorität Europas nicht eingestanden werden konnte. Die von Napoleon entsandte Expedition unter General Leclerc fand in dieser Epoche noch Rechtfertigung und eine etwaige zweite Entsendung von Truppen zur Wiedereroberung der Kolonie war Gegenstand einer kontroversen Debatte. Während diese beiden historischen Personen und ihr Handeln Verteidigung erfuhren, wurde Toussaint – außer im Werk von Régis – zum Bösen stilisiert. Es fanden Diskussionen über die Beibehaltung des Sklavenhandels – der 1818 letztlich verboten wurde – statt; die von Napoleon wiedereingeführte Sklaverei wurde hingegen in den meisten Werken geduldet oder befürwortet. In der französischen Romantik ereignete sich ein Bruch im Diskurs um den Toussaint-Mythos und der zuvor dämonisierte Toussaint erfuhr in den nach der Verordnung Karls X. zur Anerkennung der Souveränität der Bewohner Saint-Domingues von 1825 erschienenen Werken eine zunehmend positivere Darstellung, wobei insbesondere das Stereotyp des guten Schwarzen, der sich von den anderen als brutal und grausam dargestellten Schwarzen abgrenzen kann, zum Tragen kam. War bei Hugo die Idealisierung eines guten schwarzen Sklavenanführers der Haitianischen Revolution nur unter dem fiktiven Namen Bug-Jargal möglich, erhielt Toussaint im Roman Oxiane ou la révolution de SaintDomingue seinen Sklavennamen Bréda. Der Erfolg der Revolution wurde insofern weiterhin verleugnet, als dass er nicht den Aufständischen, sondern indirekt den Europäern zugeschrieben wurde, da Bréda sich erst durch seine von den Franzosen erhaltene aufklärerische Bildung von den anderen abheben konnte, sodass die Annahme der Superiorität der Europäer auch in diesen Werken noch von großer Bedeutung war und eine Assimilierung der Schwarzen an die Weißen begrüßt wurde. Die positive Funktionalisierung Toussaints fand in Lamartines Theaterstück und im epischen Gedicht L’Haïtiade durch seine Repräsentation als Freiheitskämpfer des als gerechtfertigt dargestellten Aufstands sowie als von Gott gesandter Retter ihren vorläufigen Höhepunkt. Bedeutsamerweise ging in diesen Werken mit der wachsenden Glorifizierung des schwarzen Sklavenführers eine zunehmende Dämonisierung Napoleons einher, der nun allmählich zum Widerpart Toussaints stilisiert wurde: Während Toussaint für die Werte Freiheit und Gleichheit eintrat, kam Napoleon die Rolle des Unterdrückers die-
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Schlussfolgerung
ser Werte zu. Zwar erfuhr Toussaint in den Memoiren Chateaubriands und Mme de Staëls keine Idealisierung, aber er diente ihnen als Projektionsfläche, um die Verbrechen Napoleons zu veranschaulichen und dessen Mythos zu demontieren. Besonders markant war in dieser Epoche ebenfalls die sich transformierende Nationalität Toussaints: Basierend auf dem während der Französischen Revolution angewandten ius soli fand zunächst insbesondere bei Chateaubriand eine Wandlung der Darstellung Toussaints vom Afrikaner zum Franzosen, zum ‚schwarzen Napoleon‘, statt. Lamartine sowie der anonyme Verfasser des epischen Gedichts präsentierten ihn hingegen als Haitianer bzw. als Vater der haitianischen Nation – eine Umdeutung, die mit der inzwischen in Frankreich überwiegend vorherrschenden Akzeptanz der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie zusammenhing. War Toussaint im ehemaligen Mutterland in diesen Epochen noch Gegenstand einer zunächst machtvollen literarischen Mythisierung gewesen, so fiel er nach der zweiten Abolition der Sklaverei von 1848 bis zur Antikolonialismusbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Vergessen anheim. Dieses Verschweigen des haitianischen Freiheitskämpfers lässt sich zum einen mit der unter Napoleon III., der sich im Glanz seines Onkels sonnen und nicht an dessen Niederlage in Saint-Domingue erinnern will, herrschenden Zensur begründen. Zum anderen hätte eine Idealisierung Toussaints, der durch sein Wirken zur Unabhängigkeit der Kolonie beigetragen hatte, den 1830 begonnenen massiven Ausbau des französischen Kolonialreichs infrage gestellt. Zwar war die Sklaverei im Jahr 1848 abgeschafft worden, jedoch blieben die virulenten Rassismen und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl gegenüber Schwarzen und Mulatten in der französischen Gesellschaft weiterhin bestehen, und die angebliche Minderwertigkeit anderer Rassen wurde gar versucht, durch naturwissenschaftliche Theorien zu untermauern. Eben gegen diese rassistischen Bestrebungen erhoben die wenigen Toussaint-Renarrationen jener Zeit Einspruch: Laffitte, Gragnon-Lacoste und Schoelcher funktionalisierten Toussaint Louverture entsprechend als herausragendes Symbol für die Gleichheit aller Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe und verurteilten das weiterhin bestehende Superioritätsgefühl der Europäer. Die Autoren stellten allerdings nicht die Kolonialisierung per se infrage, weshalb auch die Unabhängigkeitsbestrebungen Toussaints in den Werken verurteilt
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
wurden, sondern sie insistierten anhand der Figur Toussaint ausschließlich auf der Ebenbürtigkeit der Schwarzen und übten deutlich Kritik an Sklaverei und Rassismus. Der in der Romantik erfolgte Rollentausch Napoleons und Toussaints blieb bestehen: Während der Erste Konsul zumeist die Funktion des Unterdrückers übernahm, wurde Toussaint wie bereits in der Romantik weiterhin zum globalen Freiheitskämpfer stilisiert. Nur Gragnon-Lacoste intendierte, Napoleon ambivalenter und zwar einerseits als Despot und andererseits als Opfer darzustellen, wodurch er versuchte, das Unmögliche zu erreichen: eine Verurteilung der Sklaverei, die ja erst von Napoleon wieder in Saint-Domingue eingeführt werden sollte, ohne eine damit einhergehende Dämonisierung des Ersten Konsuls. Insgesamt fand in der Dritten Republik wieder eine erneute Betrachtung Toussaints als Franzose statt, was vor dem Hintergrund des Hochimperialismus eine notwendige Transformation war, denn eine Darstellung als Haitianer wäre der Verurteilung der Unabhängigkeitsbestrebungen Toussaints in den Werken sowie der durch die Politik befürworteten und angestrebten Eroberung neuer französischer Territorien diametral entgegengestanden. Erst mit dem Zerfall des französischen Kolonialreichs nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der Toussaint-Mythos wieder langsam zurück in die Erinnerung, und es vollzog sich ein Perspektivwechsel, da sich nun Schriftsteller aus ehemals von Frankreich kolonialisierten Ländern dem Mythos annahmen. Sie sorgten dafür, dass sich Toussaint aufmachen konnte, einen neuen Platz im kollektiven Gedächtnis zu erobern, und prangerten das jahrhundertelange Vergessen an. Die Autoren stellten den haitianischen Freiheitskämpfer vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung, ihrer Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Mutterland, ihrer Identitätssuche und der Angst vor Neokolonialismus als Symbolfigur der Antikolonialismusbewegung dar. Im Mittelpunkt der Werke stand die Problematik, dass der Protagonist Toussaint aufgrund seiner Loyalität gegenüber Frankreich – deren Inexistenz in den Werken der Zeit- und Augenzeugen noch bemängelt worden war – nicht in der Lage war, die Unabhängigkeit Haitis zu verkünden. Während Césaire Toussaints Vorgehen als die Idee eines französischen Commonwealth pries, lasteten ihm Glissant und Dadié seine Unfähigkeit zur Unabhängigkeitserklärung als Verrat an seinem Volk an. Im Gegensatz zu den Werken der Dritten Republik fanden nun nicht mehr allein die
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Schlussfolgerung
Sklaverei und der Rassismus, sondern auch der Kolonialismus per se Verurteilung, weshalb die Schritte Toussaints in Richtung einer Unabhängigkeit befürwortet bzw. als nicht ausreichend kritisiert wurden. Anhand dieser veränderten Sichtweise lässt sich auch die unterschiedliche Nationalitätszuschreibung Toussaints erklären: Césaire rühmte Toussaint als einen der bedeutendsten Haitianer und Gründer der ersten schwarzen Nation. Glissant und Dadié rückten hingegen vor allem die Ambivalenz seiner Persönlichkeit, die Zerrissenheit zwischen seinem afrikanischen Ursprung und seiner französischen Prägung bzw. die intendierte Assimilierung an Frankreich in den Vordergrund. Es kam zu einer Umkehrung der während des Hochimperialismus erfolgten Umschreibung Toussaints vom Haitianer zum Franzosen und Toussaint wurde wieder als Haitianer bzw. als zwischen seinem Volk und Frankreich schwankende Figur präsentiert. Césaire und Glissant distanzierten sich von der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem NapoleonMythos und widmeten sich ganz der Repräsentation Toussaints. Entgegen der Darstellungsweise bei den Romantikern betonte Dadié nicht die Unterschiede, sondern hob die Parallelitäten der beiden historischen Figuren hervor, wobei er jedoch die gleiche Intention hegte: eine Destabilisierung des Napoleon-Mythos. Nachdem die frankophonen Autoren die literarische Mythisierung des Toussaint-Mythos zur Fortsetzung gebracht hatten, fand Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Frankreich eine breitere und intensive Auseinandersetzung mit dem haitianischen Revolutionsführer statt, wie anhand der hohen Anzahl an Rezeptionszeugnissen, die Aufnahme der Figur ins Massenmedium Film, in den öffentlichen Raum sowie in andere literarische Gattungen aufgezeigt werden konnte. Zudem beteiligten sich an der Mythos-Rezeption in der Gegenwart nunmehr auch Autoren ohne antillanische Wurzeln, und Toussaint diente nicht mehr nur als Identifikationsfigur der französischen Überseegebiete. Dieser Wandel hing mit der zunehmenden Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit und den Bemühungen zur Stärkung des kolonialen Gedächtnisses bzw. der Aufnahme historischer Figuren der ehemaligen Kolonien ins kollektive Gedächtnis zusammen, um die sich französische Politiker und Historiker in den letzten Jahren bemühten. Insgesamt konnten in den Toussaint-Renarrationen der Gegenwart drei Tendenzen der Mythos-Umdeutung ausgemacht werden: Bei Clau-
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Der Toussaint-Louverture-Mythos
de Ribbe erschien Toussaint als Opfer der perfiden Politik Napoleons. Der Autor knüpfte an die von Dadié sowie bereits in der Romantik erzeugte Destabilisierung des Napoleon-Mythos an, um dessen in Frankreich vorherrschende idealisierte Repräsentation zu destruieren und den Ersten Konsul und seine Kolonialpolitik, die er als Genozid bezeichnete, zu dämonisieren. Die zweite Tendenz ist Toussaints Instrumentalisierung für das republikanische Frankreich, die insbesondere im Film von Niang und im Kinderbuch von Vénuleth festgestellt werden konnte, bei denen er als Abolitionist und Freiheitskämpfer idealisiert wurde. Während Toussaint als Träger der Werte der Französischen Revolution eine Glorifizierung erfuhr, wurden seine französischen Gegenspieler dämonisiert, da sie diese Werte verrieten. Im Gegensatz zu den komplexen Werken der vorigen Epoche wurden die Figuren nunmehr simplifizierend dargestellt und dichotomisch in Gut und Böse kategorisiert, womit die Darstellungen wieder in alte Repräsentationsformen binärer Opposition verfielen. Diametral zur Darstellung bei den Zeit- und Augenzeugen und anknüpfend an diejenige der Romantik wurde Toussaint in dieser dichotomischen Struktur nunmehr zum Helden und Napoleon zum Verbrecher stilisiert. Durch die Zuschreibung republikanischer Werte und die damit verbundene Funktionalisierung Toussaints als Vollender der Französischen Revolution wurde die eigentliche Niederlage der Franzosen in Saint-Domingue in einen Sieg des humanistischen Republikanimus bzw. Frankreichs über sich selbst umgewandelt. Genau gegen eine solche eurozentristische Darstellung des Toussaint-Mythos und eine Vereinnahmung vonseiten Frankreichs richteten sich Fabienne Pasquet und Éric Sauray, die mit ihren Werken, in denen sie eine metamythische Herangehensweise an den ToussaintMythos verfolgten, eher an die Tradition der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Renarrationen von Autoren aus ehemaligen französischen Kolonien anknüpften. In beiden Werken stand Toussaints Rückbesinnung auf seine kreolischen Wurzeln und eine Distanzierung von Frankreich bzw. von der europäischen Perspektive auf den Mythos im Mittelpunkt, wodurch eine Inszenierung als hybride Persönlichkeit und Haitianer erfolgte. Gemein war allen Werken jedoch die Tendenz, zur Destruktion des Napoleon-Mythos beizutragen, denn auch bei Pasquet und Sauray wurde der Erste Konsul als Gegner der
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Schlussfolgerung
Freiheit, Befürworter der Sklaverei und Verräter Toussaints diskreditiert. Unabhängig von den unterschiedlichen Funktionalisierungstendenzen macht die zunehmende Präsenz des Toussaint-Mythos in den verschiedenen Medien in der heutigen Zeit deutlich, dass der haitianische Freiheitskämpfer allmählich ins kollektive Gedächtnis Frankreichs zurückkehrt und er sich auf einem guten Weg befindet, langsam von allen Franzosen als Identifikationsfigur wahrgenommen zu werden. Die Neuund Umschreibung des Toussaint-Mythos ist weiter im Gange und der Mythos noch lange nicht zu Ende gebracht.
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