194 7 130MB
German Pages 441 [442] Year 1990
Teil I: Politik Band 1 - 3 [Namensregister von Teil I in Band 3]
Teil II: Wirtschaft/Landwirtschaft Band 4 - 5 [Namensregister von Teil II in Band 5]
Teil III: Kultur Band 6 - 8 [Namensregister von Teil III in Band 8]
K-G-Saur München-NewYork-London-Paris 1990
Der deutsch-israelische Dialog Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik Herausgegeben von Rolf Vogel
Teil III: Kultur
Band 7
K-G-Saur München-NewYork-London-Paris 1990
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Der deutsch-israelische Dialog : Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Aussenpolitik / hrsg. von Rolf Vogel. — München ; New York ; London ; Paris : Saur. ISBN 3-598-21940-7 NE: Vogel, Rolf [Hrsg.] Bd. 7 : Teil 3, Kultur. - 1990 ISBN 3-598-21947-4
Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag GmbH Sc Co. KG, München 1990 Mitglied der internationalen Butterworth-Gruppe, London Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: FotoSatz Pfeifer, Gräfelfing b. München Druck/Binden: Graphische Kunstanstalt Jos. C. Huber, Dießen/Ammersee ISBN 3-598-21940-7 (Gesamt) ISBN 3-598-21947-4 (Band 7)
Inhaltsverzeichnis
Juden und Christen 1 Christentum und nichtchristliche Religionen - die Erklärung Papst Pauls VI. anläßlich des 2. Vatikanischen Konzils 1.1 Der Text der Erklärung in Auszügen 1.2 Ein Gespräch mit dem Weihbischof von Hildesheim, Heinrich Pachowiak 1.3 Stellungnahmen beim 81. Deutschen Katholikentag 1966 . . . . 1.3.1 Ernst Ludwig Ehrlich (Basel) 1.3.2 Gertrud Luckner (Freiburg/Br.)
7 8 9 11
2 Pinchas Lapide: „Warum sollte ein Jude Papst Pius XII. verteidigen?"
23
3 Tantur — Ein ökumenisches Institut für theologische Studien auf dem Wege nach Bethlehem
28
4 Juden und Christen beim 83. Deutschen Katholikentag 4.1 Gemeinschaftsgottesdienst 4.2 Arbeitskreis „Die Gemeinde und die jüdischen Mitbürger" 4.3 Das Referat von Willehad Paul Eckert
35 35 35 36
5
6
Das christlich-jüdische Problem beim Ökumenischen Pfingsttreffen in Augsburg
45
Der evangelische Kirchentag 1973 in Düsseldorf
48
7 Evangelischen Christen und Juden. Studie des Rates der KircheEine in Deutschland 8
9
...
4 4
49
Verleihung des Romano Guardini-Preises der Katholischen Akademie in Bayern am 9. März 1976 an Teddy Kollek und Professor Talmon
78
Gespräch mit Josef Burg über Judentum und Zionismus
88
10 „Juden und Christen" — Die Ansprache des evangelischen Bischofs von Berlin, Martin Kruse, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche . . . . 95 V
Inhaltsverzeichnis
11 Pnina Nav£ Levinson auf dem 85. Deutschen Katholikentag 1978 in Freiburg
101
12 Achtzig Jahre Erlöserkirche in Jerusalem
108
13 Juden und Christen im neuen Katechismus - Ein Gespräch mit Wilhelm Breuning 13.1 Die Ansprache Papst Johannes Pauls II. an die Vertretung der Juden im Dommuseum in Mainz am 17. November 1980
113 115
14 Die Rede Philipp Jenningers bei einer Gedenkstunde der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zum 9. November 119 15 Die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Heinz Kremers 16 „Woche der Brüderlichkeit" in der Rhein-Ruhr-Halle Duisburg
129 . . . 135
17 Der 89. Deutsche Katholikentag in Aachen vom 10.-14. September 1986
142
18 „Suchet der Stadt Bestes — Brüderlichkeit in der modernen Gesellschaft": Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Berlin . . .
144
19 Otto-Hirsch-Medaille für Pfarrer Fritz Majer-Leonhard
155
20 Ökumene auf den Stationen Trier, Jerusalem und Frankfurt — Pater Laurentius Klein berichtet über seine Erfahrungen
167
21
22
Die zweite Pastoralreise Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik 21.1 Die Seligsprechung der Karmeliterin Edith Stein 21.2 Begegnung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland . . . 21.2.1 Die Ansprache von Werner Nachmann 21.2.2 Die Ansprache des Papstes 21.3 Die Seligsprechung des Jesuitenpaters Rupert Mayer in München
174 174 180 180 181
Der evangelische Kirchentag 1987 in Frankfurt 22.1 „Seht, welch ein Mensch" - Oberrabbiner Albert Friedlander spricht in der Katharinenkirche in Frankfurt 22.2 Shalom Ben Chorin zum Auferstehungsbericht im JohannesEvangelium
189
182
189 193
23 Verleihung des Sternberg-Preises des Internationalen Rates der Christen und Juden an Gertrud Luckner
198
24
204
VI
Heinz M. Bleicher zum 65. Geburtstag
Inhaltsverzeichnis
Juden und Judentum in der Bundesrepublik 1
Vom „Jüdischen Gemeindeblatt" für die britische Zone zur „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" 1.1 „Wir, die deutschen Juden" — Karl Marx im „Jüdischen Gemeindeblatt" 1.2 „Vor einer schweren Aufgabe" — Eine Broschüre zu Karl Marx'60. Geburtstag 1.3 Zum Tod von Karl Marx 1.4 Hermann Lewy, neuer Chefredakteur der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung"
2 Axel Springer stiftet Glockenturm und Geläut für die Jerusalems-Kirche in Berlin 3 4 5 6
7
8 9
206 206 209 216 217 221
Fünfundzwanzigjähriges Jubiläum der Jüdischen Gemeinde in Berlin
224
Werner Nachmann: „Die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945"
233
Die „bibliotheca judaica" des Lothar Stiehm Verlages in Heidelberg
236
„Jüdische Maler im Berlin der Jahrhundertwende": Eine Ausstellung, organisiert von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit
241
Die Stiftung Volkswagenwerk fördert Forschungsprojekte zur Emigration deutschsprachiger Wissenschaftler 1933-1945 und zum Thema Juden und Judentum in der Volkskultur
245
„Erinnern bedeutet nicht dauernd mahnen und bemäkeln" — Ein Interview der „Welt" mit Pinchas Lapide
246
„Juden in Deutschland — 40 Jahre nach dem Holocaust": Ein Vortrag Ernst Cramers vor der israelisch-deutschen Gesellschaft in Tel Aviv
254
10 Glückwünsche zum jüdischen Neujahrsfest 10.1 Grußwort des Bundespräsidenten 10.2 Grußbotschaft des Präsidenten des Deutschen Bundestages 10.3 Grußwort des Bundeskanzlers 10.4 Grußworte der Parteien
261 261 261 262 264
VII
Inhaltsverzeichnis 11
Einwanderungshilfe nach Israel: Ein Gespräch mit dem Vertreter der Jewish Agency, UriAloni
266
Das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität/Gesamthochschule Duisburg
272
Mündliche Anfrage der Grünen im Landtag zur Erhaltung und Restaurierung von Synagogen in Rheinland-Pfalz
275
Geburtstagsempfang f ü r Heinz Galinski im Großen Saal der Jüdischen Gemeinde in Berlin
280
15
Die Einweihung der neuen Synagoge in Freiburg/Br
282
16
Der Tod von Hans Rosenthal
284
17
„In schwieriger Mission" — Yohanan Meroz über seine Zeit als Botschafter Israels in der Bundesrepublik
288
12
13
14
18
Heinz Galinski wird Ehrenbürger von Berlin 18.1 Die Laudatio des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen 18.2 Die Danksagung Heinz Galinskis
290
19
Der Friedrich Hänssler Verlag
300
20
Eine Ausstellung zur Geschichte des Philanthropin in Frankfurt . . . 303
21
Die Synagoge von Ahrweiler 21.1 Auszüge aus einer Veröffentlichung von Superintendent Warnecke 21.2 Ein Gespräch mit Superintendent Warnecke
22
VIII
Internationaler Jüdischer Kongreß f ü r Medizin und Halacha vom 16.-20. November 1988 in Berlin 22.1 Die Eröffnungsansprache Heinz Galinskis 22.2 Auszüge aus der Rede der Bundesministerin f ü r Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Rita Süßmuth 22.3 Grußwort des Senators f ü r Gesundheit und Soziales, Ulf Fink 22.4 Der Vorsitzende der Jüdischen Ärzte und Psychologen in Berlin, Roman M. Skoblo 22.5 Rolf Winau: „Der jüdische Beitrag zur deutschen Medizin"
290 294
308 308 313 315 315 317 319 322 . . 327
Inhaltsverzeichnis
Antisemitismus und Neonazismus in der Bundesrepublik 1
Verfassungsfeinde von rechts — Ein Kommentar Hendrik van Berghs zum Jahresbericht des Verfassungsschutzes 1964 338
2
Hendrik van Bergh: „Das Geheimnis der Organisation .Spinne'. Gibt es eine geheime Fluchthilfe-Organisation für ehemalige Nationalsozialisten?"
342
„Erfahrung aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen im Jahre 1965": Ein Bericht des Bundesinnenministers
345
Der deutsche Botschafter in Israel, Rolf Pauls, zu den Erfolgen der NPD bei den bayerischen Landtagswahlen 4.1 Die Erklärung für die israelische Presse 4.2 Interview mit der israelischen Zeitung „Davar"
347 347 347
Fünf-Punkte-Erklärung der Bundesregierung zum Links- und Rechtsradikalismus
350
6
Synagogenschändung in München
352
7
„Die Verantwortung aller demokratischen Parteien gegenüber Anfängen antisemitischer Tendenzen": Aktuelle Stunde des Deutschen Bundestages
355
Renate Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach: „Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach." Eine Repräsentativbefragung im Auftrag des Stern im Jahre 1986
367
Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahre 1988: „Ausmaß und Formen des heutigen Antisemitismus"
407
3
4
5
8
9
IX
Der deutsch-israelische Dialog Teil III: Kultur Band 7
Juden und Christen
1
Christentum und nichtchristliche Religionen — die Erklärung Papst Pauls VI. anläßlich des 2. Vatikanischen Konzils
Im Oktober 1965 verkündete Papst Paul VI. im Petersdom in Rom im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils eine Erklärung, die einen Neuanfang in dem Verhältnis zwischen den jüdischen Gemeinschaften und der katholischen Kirche darstellt.
1.1 Der Text der Erklärung in Auszügen „1. In unserer Zeit, da sich das Menschengeschlecht von Tag zu Tag enger zusammenschließt und die Beziehungen unter den verschiedenen Völkern sich mehren, erwägt die Kirche mit um so größerer Aufmerksamkeit, in welchem Verhältnis sie zu den nichtchristlichen Religionen steht. Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, faßt sie vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt. Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ1; auch haben sie Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse erstrecken sich auf alle Menschen 2 ; bis die Erwählten vereint sein werden in der Heiligen Stadt, deren Licht die Herrlichkeit Gottes sein wird; werden doch alle Völker in seinem Lichte wandeln 3 . Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen? 2. Von den ältesten Zeiten bis zu unseren Tagen findet sich bei den verschiedenen Völkern eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist, 1 2 3
4
Vgl. Apg 17,26. Vgl. Weish 8, 1; Apg 14, 17; Rom 2 , 6 - 7 ; 1 Tim 2,4. Vgl. Apg 21,23 f.
1 Christentum, und nichtchristliche Religionen u n d nicht selten findet sich auch die Anerkenntnis einer höchsten Gottheit oder sogar eines Vaters. Diese W a h r n e h m u n g u n d Anerkenntnis durchtränkt ihr Leben mit einem tiefen religiösen Sinn. Im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Fortschreiten d e r Kultur suchen die Religionen mit genaueren Begriffen u n d in einer mehr durchgebildeten Sprache Antwort auf die gleichen Fragen. So erforschen im Hinduismus die Menschen das göttliche Geheimnis u n d bringen es in einem unerschöpflichen Reichtum von Mythen und in tiefdringenden philosophischen Versuchen zum Ausdruck u n d suchen durch asketische Lebensformen oder tiefe Meditation o d e r liebend-vertrauende Zuflucht zu Gott Befreiung von d e r Enge u n d Beschränktheit unserer Lage. In den verschiedenen Formen des Buddhismus wird das radikale U n g e n ü g e n d e r veränderlichen Welt anerkannt u n d ein Weg gelehrt, auf d e m die Menschen mit f r o m m e m u n d vertrauendem Sinn entweder den Zustand vollkommener Befreiung zu erreichen o d e r — sei es durch eigene B e m ü h u n g , sei es vermittels höherer Hilfe — zur höchsten Erleuchtung zu gelangen vermögen. So sind auch die übrigen in d e r ganzen Welt verbreiteten Religionen b e m ü h t , der U n r u h e des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem sie Wege weisen: Lehren u n d Lebensregeln sowie auch heilige Riten. Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr u n d heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie j e n e Handlungs- und Lebensweisen, j e n e Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von d e m abweichen, was sie selber f ü r wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jen e r Wahrheit e r k e n n e n lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verk ü n d e t sie u n d m u ß sie verkündigen Christus, d e r ist ,der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Jo. 14, 6), in d e m die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat 4 . Deshalb m a h n t sie ihre Söhne, daß sie mit Klugheit u n d Liebe, d u r c h Gespräch u n d Zusammenarbeit mit d e n Bekennern a n d e r e r Religionen sowie d u r c h ihr Zeugnis des christlichen Glaubens u n d Lebens j e n e geistlichen und sittlichen Güter u n d auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, a n e r k e n n e n , wahren u n d f ö r d e r n . (...)
4. Bei i h r e r Besinnung auf das Geheimnis d e r Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des N e u e n Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist. So a n e r k e n n t die Kirche Christi, daß nach d e m Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei d e n Patriarchen, bei Moses u n d d e n Propheten finden. Sie bekennt, d a ß alle Christgläubigen als Söhne Abrahams d e m Glauben nach 5 in der B e r u f u n g dieses Patriarchen eingeschlossen sind u n d d a ß in d e m Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil d e r Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist. Deshalb kann die Kirche 4 5
Vgl. 2 Kor 5, 18-19. Vgl. Gal 3, 7.
5
Juden und Christen auch nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind 6 . Denn die Kirche glaubt, daß Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat 7 . Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß .ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus demFleische nach stammt' (Rom 9,4—5), der Sohn der Jungfrau Maria. Auch hält sie sich gegenwärtig, daß aus dem jüdischen Volk die Apostel stammen, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Welt verkündet haben. Wie die Schrift bezeugt, hat Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt 8 , und ein großer Teil der Juden hat das Evangelium nicht angenommen, ja nicht wenige haben sich seiner Ausbreitung widersetzt 9 . Nichtsdestoweniger sind die J u d e n nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich 10 . Mit den Propheten und mit demselben Apostel erwartet die Kirche den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm .Schulter an Schulter dienen' (Soph 3, 9)". Da also das Christen und J u d e n gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist. Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben 12 , kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern. Darum sollen alle d a f ü r Sorge tragen, daß niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht. Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus 6 7 8 9 10 11 12
6
Vgl. Rom 11, 17-24. Vgl. Eph 2, 14-16. Vgl. Lk 19,44. Vgl. Rom 11,28. Vgl. Röm 11,28-29; vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen Gentium: AAS 57(1965) 20. Vgl. Is 66,23; Ps 65,4; Röm 11,11-32. Vgl. Jo 19,6.
1 Christentum und nichtchristliche Religionen politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben. Auch hat j a Christus, wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden. 5. Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die j a nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern. Das Verhalten des Menschen zu Gott dem Vater und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern stehen in so engem Zusammenhang, daß die Schrift sagt: ,Wer nicht liebt, kennt Gott nicht' (1 J o 4,8). So wird also jeder Theorie oder Praxis das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk bezüglich der Menschenwürde und der daraus fließenden Rechte einen Unterschied macht. Deshalb verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen, weil dies dem Geist Christi widerspricht. Und dementsprechend ruft die Heilige Synode, den Spuren der heiligen Apostel Petrus und Paulus folgend, die Gläubigen mit leidenschaftlichem Ernst dazu auf, daß sie .einen guten Wandel unter den Völkern führen' (1 Petr 2 , 1 2 ) und womöglich, soviel an ihnen liegt, mit allen Menschen Frieden halten 13 , so daß sie in Wahrheit Söhne des Vaters sind, der im Himmel ist 14 ."
1.2 Ein Gespräch mit dem Weihbischof von Hildesheim, Heinrich Pachowiak Am Tag nach der Erklärung flog ich gemeinsam mit dem Weihbischof von Hildesheim, Heinrich Pachowiak, nach Deutschland zurück. Ich fragte ihn als einen deutschen Bischof nach seiner Meinung zu der eben beschlossenen Erklärung. Er sprach das aus, was ich auch schon in vielen Gesprächen von anderen deutschen Bischöfen gehört hatte, von Weihbischof Sedlmaier aus Rottenburg genauso wie von Weihbischof Kampe aus Limburg, der sich besonders um uns deutsche Journalisten gekümmert hatte. Weihbischof Pachowiak sagte zu mir: „Die Erklärung wurde mit einer Gegenstimmenzahl von 88 verabschiedet. Das könnte im Vergleich zu den anderen Schemata hoch erscheinen, aber man muß 13 14
Vgl. Röm 12, 18. Vgl. Mt 5 , 4 5 .
7
Juden und Christen wohl diese 88 Neinstimmen etwas näher unter die Lupe nehmen. Darin stecken sicher eine Reihe solcher Stimmen, die lieber die bisherige Fassung dieses Schemasgesehen hätten. Man muß aber auch diejenigen berücksichtigen, die zwar inhaltlich voll einverstanden waren, wie einer der Bischöfe, der im Konzil neben mir sitzt, mir ausdrücklich sagte - er kommt aus Ägypten - aber den Zeitpunkt für inopportun halten. Man kann sagen, daß ein gutes Ergebnis erzielt ist, besonders auch wenn man sich die gesamte Geschichte dieses Schemas vergegenwärtigt. Man muß auch feststellen, daß die Zahl derer, die sich dagegen gestellt haben, von Abstimmung zu Abstimmung geringer geworden ist." Ich fragte den Bischof weiter nach seiner Meinung zu den praktischen Auswirkungen des Schemas auf d e n Religionsunterricht und den Katechismus sowie auf die religiöse Unterweisung und Erziehung im allgemeinen. Dazu sagte er: „Vorweg möchte ich sagen, man darf jetzt nicht in den Fehler verfallen, als sei bisher d e r Religionsunterricht belastet gewesen mit einer sehr abwertenden Behandlung des jüdischen Volkes. Wenn ich mich zurückerinnere an meinen Religionsunterricht in der Schule, dann spielte doch das 11. Kapitel des Römerbriefes darin schon eine Rolle. Und es wurde uns sehr deutlich auseinandergesetzt, wie man nicht von einem verworfenen oder von Gott verurteilten Volk sprechen darf. So darf man es wohl begrüßen, daß das Wort vom Gottesmord nicht mehr vorkommt. Ich meine, Kardinal Bea selbst habe geäußert, daß man ein solches Wort gar nicht in Umlauf bringen sollte u n d es daher auch nicht günstig sei, wenn es in einer solchen offiziellen Verlautbarung steht. Im ganzen gesehen möchte ich meinen, daß jetzt eine sehr klare Grundlinie gegeben ist f ü r den Unterricht und f ü r alle Katecheten. Jetzt weiß man genau, woran man sich halten kann und wie die ganz offizielle Linie der Gesamtkirche hier liegt." Ein südamerikanischer Bischof, der mit uns im Flugzeug war, fügte den Worten des Hildesheimer Weihbischofs hinzu, daß er gerade von seinem Sekretär einen Brief erhalten hätte. In d e r Stadt, in der sie leben, gäbe es eine große jüdische Gemeinschaft. Und in dem letzten Brief schrieb der Sekretär, daß seit der Vorabstimmung über das Schema ein viel herzlicherer Ton zwischen der jüdischen Gemeinde u n d den katholischen Geistlichen herrsche. Allgemein sei die Freude groß über diesen Schritt von Rom.
1.3 Stellungnahmen beim 81. Deutschen Katholikentag
1966
Auf d e m 81. Deutschen Katholikentag in Bamberg fand am 15. Juli 1966 eine Feierstunde statt, die dem T h e m a „Der Katholizismus nach dem Konzil u n d die J u d e n " gewidmet war. In Anwesenheit des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofs8
1 Christentum und nichtchristliche Religionen konferenz, Kardinal Julius Döpfner, zahlreicher Bischöfe und einiger hundert maßgebender Persönlichkeiten der katholischen Verbände in Deutschland sprach der jüdische Religionswissenschaftler Dr. Ernst Ludwig Ehrlich aus Basel ein Grußwort, und Frau Dr. Gertrud Luckner hielt das Hauptreferat.
1.3.1 Ernst Ludwig Ehrlich (Basel) „Nichts könnte die Situation, in welcher Christen und Juden eigentlich stehen sollten, besser umschreiben als der soeben gehörte Vers aus der Genesis: ,Wir sind ja verbrüderte Männer' (15,8). Die jüdische Tradition ergänzt diese Feststellung durch den Hinweis: ,Ihre Gesichtszüge haben sich geglichen.' Das hat nicht nur für Abraham und Lot Geltung, sondern auch für Christen und Juden. Ist das nicht auch die geistige Lage, in der wir uns befinden könnten? Zwei Religionen, die aus ihrem Ursprung her verbrüdert sind und deren Gesichtszüge sich daher gleichen. Aber so klar der biblische Befund über die theologische Beziehung zwischen Christentum und Judentum ist, in der Geschichte hat sich von dieser Brüderlichkeit nur selten etwas gezeigt. Zwischen Christen und Juden herrschte meist Fremdheit. Schon sehr früh bemühte man sich, dem Judentum die ihm von Gott verliehene Würde zu nehmen. Hätte man in der Vergangenheit als Motto für die Begegnung zwischen Christen und Juden den Vers gewählt: ,Wir sind ja verbrüderte Männer' so wäre man wohl weithin auf Unverständnis gestoßen: Die Juden, zumal als .getrennte Brüder', lagen meist außerhalb des Kreises jener, für die man eine wirkliche Solidarität empfand, die einen etwas angingen. Dem sogenannten , Alten Testament' galt auch weiterhin fromme Verehrung; man wehrte sich dagegen, es sich von den neuheidnischen Barbaren rauben zu lassen. Das lebendige Volk dieses Buches hingegen, die unter den Christen lebenden Juden, standen oft außerhalb des Horizontes der Christenheit. Diese befand sich nur selten geistig und menschlich mit lebendigen Juden in einer konkreten Beziehung. Wenn man vom Juden sprach, geschah dies gelegendich in diskriminierender und unwahrhaftiger Weise: Man wandte das Zerrbild des ruhelosen Ahasver auf den jüdischen Menschen an. Und das geschah noch in einer Zeit, als der jüdische Mensch seinen christlichen Mitbürger am allernötigsten gebraucht hätte. Dieser aber war damals allein mit sich beschäftigt. Die wenigen Ausnahmen bestätigen leider die allgemeine Regel. Wir wissen alle, warum sich heute allmählich ein langsamer Wandel in den Anschauungen anzubahnen beginnt. Er erfolgte vor allem nicht, weil eine neue Erkenntnis auf Grund einer theologischen Umkehr zu den Quellen biblischer Offenbarung angebrochen wäre. Die Hinwendung zu den Juden geschah vielmehr aus dem namenlosen Schrecken, der die Christenheit nach 1945 befallen hat, weil das im sogenannten .christlichen Europa' geschehen konnte, was Menschen hier vor unser aller Augen anderen Menschen antaten. Nicht, weil man vom Rufe des Herrn gepackt worden wäre, haben sich Christen nun f ü r Juden interessiert, sondern weil man sich endlich vergegenwärtigt hat, daß ein ermorde9
Juden und Christen ter J u d e immerhin auch ein ermordeter Mensch ist. Es scheint fast, als ob ein solcher Gedanke allzu lange aus dem Bewußtsein allzu vieler geschwunden sei. So will man auf eine neue Weise die Beziehung zu den noch Lebenden suchen, um gegenseitige Fremdheit zu überwinden, Mißtrauen zu beseitigen. Und als man diesen jüdischen Menschen nun endlich ins Antlitz schaute, merkte man zu seinem Erstaunen, was die jüdische Tradition über Abraham und Lot ausführt: ,Ihre Gesichtszüge glichen sich.' Das ist die postkonziliare Situation, in der wir heute stehen. Das Konzilsdekret führt die theologischen Gemeinsamkeiten im Sinne des katholischen Verständnisses aus. Aber, so müssen wir nun fragen, was folgt eigentlich aus dieser neuen Hinwendung, aus diesem neuen Zurkenntnisnehmen nach fast zwei Jahrtausenden der Entfremdung, die sich n u r allzu oft zur Feindschaft ausgeweitet hatte? Mir scheint, wir sollten in diesem Zusammenhang die Betonung auf zwei Sätze der Konzilserklärung legen: ,Da nun Christen und J u d e n ein so großes geistiges Besitztum gemeinsam haben, so möchte diese heilige Versammlung anregen und empfehlen, daß sie einander kennen und schätzen lernen, und das erreicht man vor allem durch biblische und theologische Studien und ein brüderliches Gespräch.' Wir haben mit all dem kaum erst begonnen und sind noch damit befaßt, zunächst die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Wir kennen einander noch nicht, wir haben bisher nur selten miteinander Studien getrieben und brüderliche Gespräche geführt, die über allgemeine Höflichkeiten hinausgingen. Wer wirklich sich diese Empfehlungen und Wünsche des Konzils zu eigen machen möchte, wird in Deutschland u n d anderwärts gesprächsbereite jüdische Pfarrer finden, die willens sind, auf gleicher Ebene mit ihren katholischen Freunden zu reden, um gemeinsam mit ihnen diesen Berg des Unverständnisses, des Mißtrauens, der Fremdheit abzutragen, der einem Verstehen und Kennen im Wege steht. Freilich eines muß zu Beginn klar sein, und nicht anders meint es ja auch der Konzilstext: Ein brüderliches Gespräch setzt gleichberechtigte Partner voraus, nicht jüdische Missionsobjekte. Daß diese Prämisse heute in weiten katholischen Kreisen verstanden wird, bedeutet einen Fortschritt in unserer Begegnung. Von gleicher Bedeutung ist ein weiterer Gedanke des Konzilstextes: .Darum sollen alle darauf achten, daß sie weder im Religionsunterricht noch in der Predigt etwas lehren, was nicht mit der evangelischen Wahrheit und mit dem Geiste Christi übereinstimmt.' Es ist hier nicht der Ort, all das zu entfalten, was in diesem einen Satz enthalten ist. Vorläufig ist es noch so, daß Christen u n d J u d e n beim Hören eines solchen Hinweises recht verschiedene Assoziationen besitzen. Christen mögen ihn als allgemeine Mahnung verstehen, sorgfältig mit dem Worte der Heiligen Schrift umzugehen. Was aber J u d e n hier empfinden, ist durch den Satz umschrieben worden, der sich n u r in der 1. und 3. Fassung dieses Textes gefunden hatte: .Mögen darum alle Sorge tragen, daß weder im Religionsunterricht noch in der Verkündigung des Wortes Gottes irgendetwas gelehrt werde, was in den Herzen der Gläubigen Haß oder Verachtung gegen die J u d e n entstehen lassen könnte.' Das ist leider n u r allzu oft geschehen, auch heute sind manche Lehr- und 10
1 Christentum und nichtchristliche Religionen Handbücher oder Broschüren nicht frei davon. Die Erwachsenen lesen meist darüber hinweg, den Kindern hingegen dringt es in die Seele. Das alles gehört keineswegs der Vergangenheit an. Immerhin ist aber nun eine Wende erfolgt: Wir sehen einen Weg, der aus diesen traditionellen Haltungen herausführt, aus dieser Gleichgültigkeit, diesen unverbindlichen Floskeln, diesen vordergründigen Gesten, dieser frommen Geschichtsklitterung und der gemessenen Distanzierung, sich ja nicht allzu weit mit den Juden einzulassen. Ob dem einen dieses, dem anderen jenes Wort der Konzilserklärung über die jüdische Religion nicht gefallen mag, hier sind Akzente gesetzt worden, hier liegen für uns gemeinsam konkrete Möglichkeiten der Zusammenarbeit und eines Studiums aller Probleme, die uns bisher die Erkenntnis dafür versperrt haben, daß sich unsere Gesichtszüge gleichen. Jede Konzilserklärung bleibt toter Buchstabe, wenn Menschen sie sich nicht aneignen, sie nicht in die Tat umsetzen. Das Konzilsdokument über die nichtchristlichen Religionen bietet dazu eine Wegleitung mit einem Vers aus dem 1. Johannesbrief: ,Wer nicht liebt, kennt Gott nicht.' Eine Meditation über diesen Vers aus dem Neuen Testament wird jene Christen, die wirklich den Weg zu den .Verbrüderten Männern' aus Israel suchen, nicht in die Irre gehen lassen. Christen und Juden werden, jeder auf eigene Weise, dessen inne werden, was das eigentlich bedeutet: Den anderen zu lieben, obwohl er anders ist, eine Weisung, die Juden und Christen von ihrem gemeinsamen Herrn empfangen haben. Daß dieser göttliche Anruf wieder gehört und danach gehandelt werde, auch gegenüber dem jüdischen Menschen, ist unsere Hoffnung für die Zukunft."
1.3.2 Gertrud Luckner (Freiburg/Br.) Abraham, sprach zu Lot: .Nicht sei doch Streitigkeit zwischen mir und dir, zwischen meinen Hirten und deinen Hirten, wir sind ja verbrüderte Männer'." (1. Mos. 13, 8) An dieses Wort des Berliner Evangelischen Kirchentages von 1951 erinnerte Dr. Lothar Kreyssig, der Präses der EKD in der DDR, als er dem Berliner Katholikentag 1952 die Grüße der evangelischen Christenheit überbrachte mit dem Wort: ,Wir sind doch Brüder.' Präses Kreyssig, der auch unserem Anliegen, der Begegnung von Christen und Juden, eng verbunden ist, schrieb mir im Zusammenhang mit dem,Freiburger Rundbrief dieser Tage: ,Was ist aus den hektographierten Blättern der ersten Jahre geworden, aus einem jungen Stämmchen ein breitästiger Baum (...). Diese hektographierten, etwa gut 22 Seiten der ersten Rundbriefnummer bereiteten wir — vier Wochen nach der Währungsreform! — zum 1. September 1948 anläßlich des ersten Mainzer Nachkriegskatholikentages vor. Auf diesem Katholikentag hielt der im Sommer 1963 verstorbene Professor Karl Thieme den Vortrag: ,Die Judenfrage auf dem Katholikentag', den die zweite Rundbriefnummer vom März 1949 wiedergibt. Wir verdanken dem 1960 verstorbenen ehemaligen Oberpräsidenten von Oberschlesien und 1. Bundesvertriebenenminister in der 11
Juden und Christen Bundesrepublik, d e m Helfer auch in d e r Verfolgungszeit, Dr. Hans Lukaschek, daß d e r erste Nachkriegskatholikentag auf Veranlassung des Freiburger Rundbriefkreises die Wiedergutmachungsfrage schon damals behandelte. Dr. Lukaschek hielt in Mainz ein Korreferat und leitete die Diskussion, auf G r u n d dessen d e r Deutsche Katholikentag eine Entschließung zur J u d e n f r a g e a n n a h m . Darin heißt es: Angesichts des u n g e h e u r e n Leides, das d u r c h eine Hochflut von öffentlich unwidersprochen gebliebenen Verbrechen über die Menschen jüdischen Stammes gebracht worden ist, erklärt d e r 72. Deutsche Katholikentag im Geiste christlicher Bußgesinnung gegenüber d e r Vergangenheit u n d im Bewußtsein d e r Vera n t w o r t u n g g e g e n ü b e r der Zukunft: a) Das geschehene Unrecht f o r d e r t Wiedergutmachung im R a h m e n des Möglichen. Es handelt sich hierbei nicht bloß u m die gerechte Verteilung vorhand e n e r Güter, sondern u m die Rückgabe widerrechtlich entwendeter. b) An j e d e n einzelnen Christen wird der Appell gerichtet, zu seinem Teil dazu beizutragen, d a ß die christliche Bevölkerung sich von einem bereits wieder a u f f l a m m e n d e n Antisemitismus freihält. Als Familienväter, als Mütter, als Lehrer, als Seelsorger sollen wir die rechte christliche Liebeshaltung auch gegenüber den J u d e n leben u n d lehren ... Auch die Katholikentage von 1949,1950 u n d 1952 hatten unter a n d e r e m das christlich-jüdische T h e m a in ihrem Programm: Der Bochumer Katholikentag von 1949 mit d e m Vortrag .Unsere Christenpflicht in d e r Frage d e r Wiedergutm a c h u n g nationalsozialistischen Unrechts' (wiedergegeben im Rundbrief Nr. 5/ 6, Dezember 1949); die Altöttinger Werktagung von 1950 mit einem Vortrag von Prof. Dr. Thiene ,Der katholische Beitrag im gegenwärtigen Gespräch zwischen Kirche u n d Synagoge' (abgedruckt im FR V/19/20 vom J a n u a r 1953), d e r Berliner Katholikentag von 1952 mit einem Referat von Prof. Karl Thieme ,Der ältere Bruder', in einer a n d e r e n Arbeitsgemeinschaft dort sprach ich über J u d e n u n d Christen'. Nach d e m II. Vatikanischen Konzil greifen wir n u n nach der langen Pause heute hier das Anliegen wieder auf. Inzwischen hat d e r Freiburger Rundbrief (FR) in d e n bisher erschienenen XVII. Jahresfolgen (die XVIII. f ü r 1966 wird etwa im Herbst erscheinen) eine fortlaufende Dokumentation und Diskussion aller einschlägigen Probleme dargestellt und den Versuch gemacht, ein echtes Gespräch zwischen Christen u n d J u d e n zu entwickeln. Hier fehlt die Zeit, u m die bisherigen XVIII. Jahresfolgen des FR zu umreißen. Wir meinen, d a ß wir etwas zur Vorbereitung d e r sog. J u d e n e r k l ä r u n g des Konzils haben tun d ü r f e n . Am Vorabend des Konzils haben die deutschen Bischöfe zur Sühne aufgerufen. In ihrem Hirtenwort vom 29. August 1962 heißt es: ,In einer großen Stunde d e r Kirche haben wir deutschen Bischöfe uns am Grab des hl. Bonifatius in Fulda versammelt, bevor wir am Grabe des hl. Petrus in Rom zusammenkommen, u m am Zweiten Vatikanischen Konzil teilzunehmen, das Papst Johannes XXIII. zum 11. Oktober e i n b e r u f e n hat (...) In dieser historischen Stunde r u f e n wir unsere Diözesanen auf zur ernsten 12
1 Christentum, und nichtchristliche Religionen Sühne für all die furchtbaren Verbrechen, die von gottlosen Machthabern im Namen unseres Volkes gegen die grundlegenden Menschenrechte verübt wurden. Erneut erinnern wir in diesem Sühne-Appell insbesondere an die unmenschliche Vernichtungsaktion gegen das jüdische Volk, das der Menschheit die Offenbarung des einen wahren Gottes überlieferte und dem der Welterlöser Jesus Christus dem Fleische nach (Rom. 9, 5) entstammt. Wer vielleicht selber sich vom Machtrausch blenden und vom gottlosen Rassenwahn anstecken ließ, hat umso mehr Grund, den Weg der Buße und Sühne zu gehen. Im Namen unseres ganzen Volkes aber rufen wir mit dem Psalmisten Israels im De Profundis um Gottes Erbarmen: >Wolltest Du, Herr, der Sünde immer gedenken, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei Dir ist Vergebung der Sünden.Kategorie< nach betroffene Mitmensch wurde zu einer Sache erniedrigt und damit als Person ausgestrichene Schon in einem Brief vom 16. September 1919 hat Hitler sozusagen den geistigen Anspruch seines Antisemitismus wie in etwa auch dessen Zielsetzung folgendermaßen formuliert: >Der Antisemitismus als politische Bewegung darf nicht und kann nicht bestimmt werden durch Momente des Gefühls, sondern durch die Erkenntnis von Tatsachen, Tatsachen aber sind: zunächst ist das J u d e n t u m unbedingt Rasse und nicht Religionsgenossenschaft.< Und weiter: >Der Antisemitismus der Vern u n f t (...) muß f ü h r e n zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der J u d e n (...). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der J u d e n überhaupt sein.< Diese Ansicht fand dann ihren Niederschlag im Parteiprogramm der NSDAP. Für die sogenannte nationalsozialistische Weltanschauung« war die nordische Rasse — verkörpert durch den Führer — das Prinzip des Guten, der J u d e aber die >Gegenrasse< das mit fast übernatürlichen Kräften ausgestattete Prinzip des Bösen, gleichsam der Teufel.' Noch ahnten die wenigsten, wie blutig ernst gefährlich solche Gedanken und Parolen werden konnten, wenn eine politische Gruppe sie sich zu eigen machte, die zunächst die Nation zum sittlichen Höchstwert erklärte, sodann aber auch sich selbst und ihren Führer als Verkörperung der Nation verabsolutierte und damit den Anspruch erhob, souverän die Maßstäbe ihres politischen Handelns zu setzen (...). Durch die am 30.1.1933 erfolgte Ernennung zum Reichskanzler erhielten die antisemitischen Tendenzen der nationalsozialistischen Partei bald den Charakter der offiziellen Regierungspolitik. In den Dienst dieser Tendenzen konnte der neue Reichskanzler n u n m e h r die Macht- und Propagandamittel sowohl seiner starken Partei als auch des von ihm überraschend schnell völlig beherrschten Staates stellen. Hier seien n u r einige Etappen angedeutet: Die erste große J u d e n aktion' des neuen Regimes, der Boykott vom 1.4.1933. 17
Juden und Christen ,Eine sich immer erneuernde Hetze, namentlich der nachgeordneten Parteistellen, sowie der Presse unter Vorantritt des >Stürmer< stempelten die Juden zu Aussätzigen unter ihren Mitmenschen. Die Zahl der Tafeln mit beleidigenden Parolen war Legion.' Ein anderes einschneidendes Datum waren die Nürnberger Gesetze vom 15.9.1935. Zur Vorbereitung hatte der >Stürmer< zuvor eine Sondernummer über den Ritualmord gebracht. Eheschließungen oder außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen sogenannten >Ariern< und Juden waren fortan verboten. Der Prozeß der gesetzlichen Diskriminierung< erfolgte bezeichnenderweise stufenweise. Von dem 9.11.1938, dem Tag des Synagogenbrandes und der Pogrome sagt Reinhold Schneider:, An jenem Tage hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen, es ist entscheidend, daß dies nicht geschah.' Rabbiner Leo Baeck erinnert daran, ,daß in jener Nacht auch, ob wir das wissen wollen oder nicht, an die Kirche Hand angelegt worden ist, denn die Synagoge ist geschichtlich und geistig die Mutter der Kirche. Beide haben ein unteilbares Schicksal.' In den ersten Jahren des Nationalsozialismus versuchte man,,die Judenfrage' noch durch Auswanderung zu lösen. Die deutsche Devisengesetzgebung, die einseitige Berufsschichtung der Juden und die Überlastung der jüdischen Hilfsorganisationen mit außerdeutschen Auswanderern erschwerte die Auswanderung. Das Büro Grüber, das evangelischerseits den Christen jüdischer Herkunft Auswanderungshilfe gab, wurde von der Gestapo am 19.12.1940 geschlossen; katholischerseits hatte die älteste katholische Auswandererorganisation, der St. Raphaels verein, diese Hilfe übernommen, bis sein Generalsekretariat am 25.6.1941 durch die Gestapo aufgelöst und verboten wurde. Offiziell wurde am 1.7.1941 jede Auswanderung verboten. Die Volkszählung vom 16.6.1933 ergab im Deutschen Reich einschließlich des Saarlandes 502.799 Juden. 1939 war die Zahl auf 213.930 zurückgegangen, am 1.9.1944 betrug sie noch 14.544. Am 20.1.1942 wurde in der sogenannten Wannseekonferenz im Gebäude der Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission die geplante .Endlösung' besprochen. Das hierfür vorliegende Protokoll über die Phasen des bisherigen .Kampfes' gegen die Juden hatte Eichmann abgefaßt. Inzwischen war die erste Deportation aus dem Altreich am 12.2.1940 aus Stettin und Pommern mit 8 000Juden in das damalige .Generalgouvernement Polen' erfolgt. Am 22.10.1940 wurden 7 000 Juden aus Baden und der Pfalz in den unbesetzten Teil Frankreichs (Gurs) deportiert. Nach der völligen Besetzung Frankreichs im Herbst 1942 kam der noch überlebende Teil zur Vernichtung nach dem Osten. Die allgemeinen Deportationen aus dem .Großdeutschen Reich' in die Ghettos, Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager in das damalige .Generalgouvernement Polen' begannen am 14.10.1941. Insgesamt sind 5 bis 6 Millionen Juden durch die nationalsozialistische Verfolgung umgekommen. Was konnten wir angesichts dieser immer lückenloser organisierten, systematisch geplanten Vernichtung menschlichen Lebens dagegen tun? Offen organi18
1 Christentum und nichtchristliche Religionen sierte Hilfe war unmöglich. J e d e Hilfe f ü r auch n u r einen dieser Betroffenen galt als Staatsverbrechen. Nachdem nach Kriegsausbruch 1939 Auswanderung bis auf ganz wenige A u s n a h m e n nicht m e h r möglich war, w u r d e eine Hilfe von Mensch zu Mensch i m m e r dringender, die den ständig von T a g zu T a g wechselnden u n d von O r t zu O r t völlig verschiedenen Umständen angepaßt werden mußte. Es galt, Hilfsbereite zu finden in Zusammenarbeit mit allen die o h n e Rücksicht auf Konfession o d e r sonstige Unterschiede den Bedrängten zu helfen suchten, u n d es galt zu ermitteln was jeweils noch möglich war. Wie ich in mehr-wöchigen Verhören d u r c h die Gestapo feststellte, schien eine solche Hilfe von Mensch zu Mensch übrigens das Begriffsvermögen d e r Gestapo zu übersteigen. Gestapoleute konnten sich schwer vorstellen, daß f ü r derartige G e f ä h r d e t e sich Hilfsbereite mit eigener Initiative, o h n e dahinterstehende Interessengruppen u n d gesteuerte Opposition einzusetzen vermochten. Es ist d a r a n zu erinnern, daß bereits 1933 die deutschen Bischöfe in d e n einzelnen Diözesen einen Hilfsfonds f ü r die sogenannten,nichtarischen' Katholiken eingerichtet hatten. Dieser wurde aber o h n e Rücksicht auf Konfession verwandt. Vor allem mußten seit Beginn d e r Deportationen Wege nachgehender Fürsorge g e f u n d e n werden. Im Rahmen des Deutschen Caritasverbandes, mit Unterstützung u n d seit 1941 im A u f t r a g des damaligen Freiburger Erzbischofs, Dr. Conrad Gröber, als Caritasreferent d e r deutschen Bischofskonferenz, versuchte ich, ein Netz d e r Hilfe über das damalige Deutsche Reich bis nach Wien zu schaffen. Auch in Berlin u n d Wien errichteten die dortigen Bischöfe solche Hilfsstellen. (In Berlin Bischof Graf Preysing a m 1.9.1941, genau 14 T a g e vor Kennzeichnung d e r J u d e n mit d e m Judenstern'.) Meine von Freiburg ausgehende u n u n t e r b r o c h e n e Wandertätigkeit bis zur V e r h a f t u n g d u r c h die Gestapo im März 1943 diente auch d e r A u f n a h m e und ständigen Kontakten mit leitenden Persönlichkeiten d e r .Reichsvereinigung der J u d e n in Berlin' (vor allem zu d e m damaligen letzten Berliner Rabbiner Dr. Leo Baeck), ebenso zu d e r .Bekennenden Kirche' u n d d e n ihr angehörenden Pfarrern in vielen Orten. Auch ergaben sich vertrauliche Besuche bei den jüdischen Kultusgemeinden. Die u n u n t e r b r o c h e n e Wandertätigkeit bot f e r n e r die Möglichkeit von Kurierdiensten u n t e r den nächsten Angehörigen u n d F r e u n d e n d e r Verfolgten, die einander o f t nicht m e h r zu schreiben wagten. Eine Einzeldarstellung d e r Hilfe kann hier nicht gegeben werden. Man konnte wenig g e n u g tun. Das Wesentliche war wohl d e r Versuch, die Ausgeschlossenen u n d V e r f e h m t e n spüren zu lassen, daß es noch Menschen gab, die ihrer gedachten u n d wenn auch n u r allzu beschränkt, soweit als möglich, zu helfen bereit waren. Die in d e r Verfolgungszeit d e r a r t gewonnenen, d u r c h ein besonderes Vertrauensverhältnis gekennzeichneten Beziehungen setzten sich, zuweilen auch noch d u r c h recht merkwürdige Umstände u n d Begegnungen, sogar noch im Konzentrationslager fort. Die E r f a h r u n g e n d e r gemeinsamen Verfolgung von J u d e n u n d Christen und das d a d u r c h bedingte besondere Vertrauensverhältnis f ü h r e n nach 1945 zu 19
Juden und Christen
einerNeubesinnung über das gegenseitige Verhältnis von Christen und Juden und wie Judenheit und Christenheit grundsätzlich und wie sie in der Geschichte zueinander standen. Gleichzeitig kam es zu Bestrebungen, um ein besseres Verhältnis zueinander zu gewinnen als bisher. Im evangelischen wie auch im katholischen Bereich Deutschlands begannen sich diese Kreise von 1948 an zu sammeln. Im Anschluß an die Hilfstätigkeit in den Verfolgungsjahren und wie zuvor im Rahmen der Verfolgtenfürsorge des Deutschen Caritasverbandes kam es zur Herausgabe des ,Freiburger Rundbriefes' und der damit verbundenen Arbeit, besonders durch meine 1946 erfolgte erstmalige Begegnung mit Karl Thieme. Die materielle und moralische Wiedergutmachung ist bis heute eines der Hauptthemen des Freiburger Rundbriefs. Unter die Geschichte des Unheils von Juden und Christen will nun das II. Vatikanische Konzil einen Schlußstrich ziehen. Neben der Erklärung über die Juden ist auch die theologische Aussage über das alttestamentliche Bundesvolk, die die Konstitution über die Kirche in ihrem Kapitel über das Volk Gottes enthält, bedeutsam. ,Hier bekennt sich das Konzil zu der Verwurzelung des neuen Bundes in der Geschichte Israels. Hier ist die Grundlage gelegt für die pastoralen Anweisungen, die vom Sekretariat für die Einheit der Christen ausgearbeitet wurden und die das praktische Verhalten der katholischen Christen gegenüber den Juden regeln wollen.' Wenn es nun heute im Sinne dieser Konzilsentscheidung darum geht, ,die gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist...', so sind wir uns doch bei all diesen Bestrebungen bewußt: .Einer Verständigung zwischen Christen und Juden — auch und gerade in der neu erfahrenen Nähe beider Bundesvölker sind deutliche Schranken gesetzt: es kann ihr nicht darum gehen, Gegensätze des Glaubens und der Lehre zu nivellieren, sondern nur darum, einander im Gegenüber zu erkennen.' (MarschlThieme S. 11) Zur Gewinnung eines solchen Verständnisses ist vor allem eine Revision des Religionsunterrichtes erforderlich. Unter Hinweis auf die praktischen katechetischen Forderungen der Konzilsentscheidung vom 28. Oktober 1965 wurde die im August 1950 im Rundbrief (R 8/9 S. 3 ff.) veröffentlichte .Christliche Lehrverkündigung über das Alte Gottesvolk der Juden' 1965 im FR Nr. 61/64 erneut veröffentlicht mit den 1950 in Schwalbach redigierten Seelsberger Thesen von 1947, die umlaufenden Irrtümer in Katechese und Verkündigung entgegenzutreten suchen. Dieses Material wurde mit noch anderem im Winter 1950/51 an Zehntausende von katholischen und evangelischen Pfarrern und Religionslehrern versandt, an die Katholiken vom Freiburger Rundbriefkreis aus. Eine besondere Hilfe will auch der umfassende Teil der .Literaturhinweise' im Rundbrief bieten. In den Arbeiten, die die theologische Wiederbegegnung zwischen Juden und Christen seit 1945 aufzeigen, ,wird nunmehr eine Einmütigkeit im Bekenntnis der >Auserwählung< Israels deutlich, die es gleich der Kirche von den Gestalten der Gesellschaft dieser Welt sondert, wobei die gemeinsame Herkunft aus dem unauflöslichen Gottesbund beide verbindet'. In einer Würdigung des Freiburger 20
1 Christentum und nichtchristliche Religionen Rundbriefes schreibt Walter Leisgang im Hochland: .Nichts verdeutlicht eindringlicher, wie f r u c h t b a r diese Einsicht bereits zu werden beginnt, als d a ß die Bezieh u n g e n zwischen Israel und d e r Kirche vom »Sekretariat zur F ö r d e r u n g d e r Einheit d e r Christen < und nicht etwa d e r Kommission f ü r die Missionen übertragen wurde. Diese Entscheidung, die »Erklärung ü b e r das Verhältnis d e r Kirche zu d e n nichtchristlichen Religionenvom Kreuz< genannt zu werden.' Und auf das Andachtsbildchen zu ihrer ewigen Profeß läßt sie das Wort des heiligen Johannes vom Kreuz drucken: ,Mein einziger Beruf ist fortan n u r mehr lieben.' Liebe Brüder und Schwestern! Wir verneigen uns heute mit der ganzen Kirche vor dieser großen Frau, die wir von jetzt an als Selige in Gottes Herrlichkeit anrufen dürfen; vor dieser großen Tochter Israels, die in Christus, dem Erlöser, die Erfüllung ihres Glaubens u n d ihrer Berufung für das Volk Gottes gefunden hat. Wer in den Karmel geht, der ist nach ihrer Überzeugung ,für die Seinen nicht verloren, sondern erst eigentlich gewonnen; denn es ist j a unser Beruf, f ü r alle vor Gott zu stehen.' Seit sie .unter dem Kreuz' das Schicksal des Volkes Israels zu verstehen begann, ließ sich unsere neue Selige von Christus immer tiefer in sein Erlösungsgeheimnis hineinnehmen, um in geistlicher Einheit mit ihm den vielfältigen Schmerz der Menschen zu tragen und das himmelschreiende Unrecht in der Welt sühnen zu helfen. Als .Benedicta a Cruce - die vom Kreuz Gesegnete' wollte sie mit Christus Kreuzträgerin sein f ü r das Heil ihres Volkes, ihrer Kirche, der ganzen Welt. Sie bot sich Gott an als ,Sühneopfer f ü r den wahren Frieden' und vor allem f ü r ihr bedrohtes und gedemütigtes jüdisches Volk. Nachdem sie erkannt hatte, daß Gott wieder einmal schwer seine Hand auf sein Volk gelegt hatte, war sie davon überzeugt, .das das Schicksal dieses Volkes auch das meine war.' Als Schwester Teresia Benedicta a Cruce im Karmel von Echt ihr letztes theologisches Werk .Kreuzeswissenschaften' beginnt, das jedoch unvollendet bleiben wird, da es in ihren eigenen Kreuzweg einmündet, bemerkt sie: ,Wenn wir von Kreuzeswissenschaft sprechen, so ist das nicht (...) bloße Theorie (...), sondern lebendige, wirkliche und wirksame Wahrheit.' Als die tödliche Bedrohung ihres jüdischen Volkes sich auch über ihr wie eine dunkle Wolke zusammenzog, war sie bereit, mit ihrem eigenen Leben zu verwirklichen, was sie schon f r ü h e r erkannt hatte: ,Es gibt eine Berufung zum Leiden mit Christus und dadurch zum Mitwirken mit seinem Erlösungswerk (...) Christus lebt in seinen Gliedern fort und leidet 178
21 Die zweite Pastoralreise Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik in ihnen fort; und das in Vereinigung mit dem Herrn ertragene Leiden ist Sein Leiden, eingestellt in das große Erlösungswerk und darin fruchtbar.' Mit ihrem Volk und ,für' ihr Volk ging Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz zusammen mit ihrer Schwester Rosa den Weg in die Vernichtung. Leid und T o d nimmt sie jedoch nicht nur passiv an, sondern vereinigt diese bewußt mit der sühnenden Opfertat unseres Erlösers Jesus Christus. .Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen mit Freude entgegen', hatte sie einige Jahre zuvor in ihrem Testament geschrieben: ,Ich bitte den Herrn, daß er mein Leiden und Sterben annehmen möge zu seiner Ehre und Verherrlichung, f ü r alle Anliegen (...) der heiligen Kirche.' Der H e r r hat diese ihre Bitte erhört. Die Kirche stellt uns heute Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz als selige Märtyrin, als Beispiel heroischer Christusnachfolge zur Verehrung u n d Nachahmung vor Augen. Öffnen wir uns f ü r ihre Botschaft an uns als Frau des Geistes und d e r Wissenschaft, die in der Kreuzeswissenschaft den Gipfel aller Weisheit erkannte, als große Tochter des jüdischen Volkes und gläubige Christin inmitten von Millionen unschuldig gemarterter Mitmenschen. Sie sah das Kreuz mit aller Unerbittlichkeit auf sich zukommen; sie ist in allem Schrecken nicht vor ihm geflohen, sondern hat es in christlicher H o f f n u n g mit letzter Liebe u n d Hingabe umfangen und im Geheimnis des Osterglaubens sogar begrüßt:, Ave Crux, spes unica!' —, Edith Stein ist', wie euer verehrter Herr Kardinal Höffner in seinem kürzlichen Hirtenschreiben gesagt hat, ,ein Geschenk, ein Anruf und eine Verheißung f ü r unsere Zeit. Möge sie Fürsprecherin bei Gott f ü r uns und f ü r unser Volk und f ü r alle Völker sein.' Liebe Brüder und Schwestern! Heute erlebt die Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts einen großen Tag: Wir verneigen uns tief vor dem Zeugnis des Lebens und Sterbens von Edith Stein, der herausragenden Tochter Israels und zugleich Tochter des Karmels, Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, einer Persönlichkeit, die eine dramatische Synthese unseres Jahrhunderts in ihrem reichen Leben vereint. Die Synthese einer Geschichte voller tiefer Wunden, die noch immer schmerzen, f ü r deren Heilung sich aber verantwortungsbewußte Männer und Frauen bis in unsere Tage immer wieder einsetzen; und zugleich die Synthese der vollen Wahrheit über den Menschen in einem Herzen, das so lange unruhig und unerfüllt blieb, ,bis es schließlich Ruhe fand in Gott.' Wenn wir uns geistig an den Ort des Martyriums dieser großen Jüdin und christlichen Märtyrin begeben, an den Ort jenes schrecklichen Geschehens, das heute ,Schoah' genannt wird, vernehmen wir zugleich die Stimme Christi, des Messias u n d Menschensohnes, des Herrn und Erlösers. Als Bote des unergründlichen Heilsgeheimnisses Gottes spricht er zu der Frau aus Samaria am Jakobsbrunnen: ,Das Heil kommt von den J u d e n . Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, da die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit: denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.' (Joh 4,2224). Selig gepriesen sei Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, eine wahre Anbeterin Gottes — in Geist und Wahrheit. Ja, selig ist sie! — Amen.' 179
21.2 Begegnung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland Am Nachmittag des 1. Mai 1987 traf PapstJohannes Paul II. im Haus vonJosefKardinal Höffner in Köln mit einer Delegation des Zentralrats der Juden in Deutschland zusammen. Die Delegation des Zentralrats umfaßte folgende Persönlichkeiten: Werner NOchmann, Senator, h. c., Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland, Alexander Ginsburg, Generalsekretär des Zentralrates der Juden, Prof. Dr. Gerrard Breitbart, Ignatz Bubis, Senator Henry Ehrenberg, Max Willner, Landesverband Hessen des Zentralrates der Juden, Michael Fürst, Kurt Neuwald, Heinrich Scheinmann, Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Karla Müller-Tupath.
21.2.1 Die Ansprache von Werner Nachmann „Eure Heiligkeit! Ich darf mich bei Ihnen bedanken f ü r die heutige Begegnung. Ihre Ansprache an uns vor sieben Jahren anläßlich des damaligen Besuchs in Mainz hat wesentlich dazu beigetragen, daß in der Bevölkerung ein starkes Interesse wach geworden ist, das sich mit den Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum beschäftigt. Die Gespräche der Vertreter der katholischen Kirche und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland waren immer geprägt von dieser Begegnung in Mainz und von Ihrer damaligen Ansprache. Wir haben in der Zwischenzeit in den sieben Jahren mit großem Interesse die verschiedenen Erklärungen des Vatikans, aber auch der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zum Verhältnis der Katholiken zum Judentum zur Kenntnis genommen. Die Erklärungen über die Vergangenheit, die man nie vergessen darf, waren natürliche Folgen dieser Ansprache. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben ebenfalls viele wichtige Erklärungen sowohl zu Fragen der Vergangenheit als auch zu Tagesthemen abgegeben, die uns Juden ganz besonders interessiert haben. Es ist unser innigster Wunsch, daß sowohl die Erklärungen als auch die daraus resultierenden Erkenntnisse bis in die untersten Glieder der Kirche weitergegeben werden. Wir bitten Sie sehr, d a f ü r zu sorgen, daß sowohl die Pfarrer als auch die Lehrer, die für die Erziehung der Kinder verantwortlich sind, diese Aussagen der Kirche weitergeben, damit schon im Kindesalter eine deutliche Absage an nicht vertretbare Thesen erfolgt, wie zum Beispiel den Tod Jesu mit den Juden in Zusammenhang zu bringen. Es ist weiterhin unser Wunsch, daß die katholische Kirche erneut daran erinnert, daß die Tora zu den Grundlagen des christlichen Glaubens gehört. Es ist für das Judentum von Bedeutung, daß, wie in den letzten Tagen deutlich geschehen, die katholische Kirche an den millionenfachen Judenmord in der Nazizeit erinnert und die katholischen Menschen erneut darüber aufklärt, 180
21 Die zweite Pastoralreise Johannes Pauk II. in die Bundesrepublik
was damals geschehen ist. Das Wissen der verbrecherischen Zeit und des damals Versäumten ist eine Voraussetzung für die Möglichkeit, daß Christen und Juden gemeinsam für den Frieden und die Menschlichkeit auf dieser Welt Erfolg haben. Mit Respekt und Verehrung denken wir an all diejenigen, die sich gegen das Terrorregime gestellt und Bedrängten und Verfolgten geholfen haben. Wir Juden hoffen, daß die katholische Kirche überall ihre Stimme erhebt, um Erscheinungen von Antijudaismus entgegenzutreten. Brüderlichkeit zeigt sich in der Not, und es gibt leider viele Regionen auf dieser Welt, wo unsere jüdischen Brüder und Schwestern dringend auf Hilfe angewiesen sind. Wir würden uns glücklich schätzen — und sind sicherlich im Einklang mit der Weltmeinung — wenn der Staat Israel, der den Überlebenden von Auschwitz eine neue Heimat geworden ist, in Bälde auch die volle Anerkennung des Vatikans erhalten würde. Wir begrüßen, daß jüdische und katholische Vertreter in Genf eine Einigung über das Kloster der Karmeliterinnen in Auschwitz erzielt haben. Wir danken Ihnen, Eure Heiligkeit, daß Sie die Synagoge in Rom besucht haben. Wir wünschen Ihnen für die großen Aufgaben, die noch vor Ihnen liegen, viel Erfolg. Wir hoffen, daß wir gemeinsam für das Gute auf der Welt erfolgreich arbeiten können."
21.2.2. Die Ansprache des Papstes „Es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit, auch während meines zweiten Pastoralbesuchs mit Ihnen zusammentreffen zu können. Diese erneute Begegnung gibt mir Gelegenheit, auf die Bedeutung der Tatsache hinzuweisen, daß es gerade in diesem Land auch heute noch jüdisches Leben und jüdische Gemeinden gibt. Die vatikanischen .Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche' vom Jahre 1985, deren Lektüre und Anwendung ich allen Katholiken sehr empfehle, erinnern an die jüdische Geschichte ,in einer zahlreichen Diaspora, die es Israel erlaubt, das oft heldenhafte Zeugnis seiner Treue zum einzigen Gott in die ganze Welt zu tragen' (vgl. VI, 25). Schon in der Antike trugen Juden dieses Zeugnis der Treue bis ins Rheinland. Hier kam es bereits sehr früh zu einem bodenständigen Judentum von großer geistiger Schöpferkraft. Meine verehrten Brüder, Sie hüten so mit Ihren heutigen Gemeinden ein kostbares geschichtliches und geistiges Erbe und sind gewillt, es fruchtbar zu entfalten. Darüber hinaus bekommen diese Gemeinden einen ganz besonderen Wert vor dem Hintergrund der Verfolgung und versuchten Ausrottung des Judentums in diesem Lande. Bereits die Existenz Ihrer Gemeinden selbst ist ein Hinweis, daß Gott, bei dem ,die Quelle des Lebens' ist (Ps 36,10) und den der Beter als ,Vater und Gebieter meines Lebens' (Sir 23, 1), den Todesmächten nicht erlaubt, das letzte Wort zu haben. Möge der eine, gütige und barmherzige Vater des Lebens Ihre Gemeinden schützen und sie besonders dann segnen, wenn sie sich um sein heiliges Wort versammeln. 181
Juden und Christen Heute ehrt die Kirche eine Tochter Israels, die während d e r nationalsozialistischen Verfolgung als Katholikin dem gekreuzigten H e r r n Jesus Christus u n d als J ü d i n ihrem Volk in T r e u e u n d Liebe verbunden geblieben ist. Zusammen mit Millionen von B r ü d e r n u n d Schwestern hat sie Erniedrigung u n d Leiden bis zum Letzten, bis zur unmenschlichen Vernichtung, der Schoah, erlitten. Mit heroischem Glaubensmut hat Edith Stein ihr Leben in die H ä n d e Gottes, des Heiligen und Gerechten, zurückgegeben, dessen Geheimnis sie ihr ganzes Leben hindurch besser zu verstehen u n d zu lieben suchte. Möge d e r heutige T a g ihrer Seligsprechung f ü r uns alle ein T a g des gemeinsamen Lobpreises u n d Dankes an Gott sein, d e r w u n d e r b a r ist in seinen Heiligen, wie er sich auch als herrlich u n d erhaben erwiesen hat in d e n großen Gestalten des Volkes Israels. Zugleich wollen wir in e h r f ü r c h t i g e r Stille verharren und die fürchterlichen Konsequenzen in unserem Gewissen bedenken, die sich aus d e r L e u g n u n g Gottes u n d aus kollektivem Rassenhaß i m m e r wieder ergeben können. Dabei erinnern wir uns in brüderlicher Solidarität auch an das Martyrium vieler Völker Europas unserer T a g e u n d bekennen uns zu einem gemeinsamen Einsatz aller Menschen guten Willens f ü r eine e r n e u e r t e .Zivilisation d e r Liebe' hier in Europa, die von d e n besten jüdischen u n d christlichen Idealen beseelt ist. Dazu gehören auch ein wachsames Auge, ein mutiges Wort u n d ein klares Vorbild bei allen neuen Formen von Antisemitismus, Rassismus u n d neuheidnischer Glaubensverfolgung. Ein solcher gemeinsamer Einsatz wäre die kostbarste Gabe, die E u r o p a d e r Welt auf ihrem mühsamen Weg zu Entwicklung und Gerechtigkeit anbieten könnte. Die selige Edith Stein erinnert uns alle, J u d e n wie Christen, d u r c h ihr gelebtes Beispiel a n d e n A u f r u f d e r Schrift: ,Ihr sollt heilig sein, wie ich - euer Gott - heilig bin' (Lev 11,45). Diese gemeinsame B e r u f u n g schließt auch eine gemeinsame Verantwortung ein, die .Stadt Gottes' zu erbauen, die Stadt des Gottesfriedens. So wenden sich unsere Gedanken spontan auf Jerusalem hin, .Stadt des Friedens'. Von ihr sagt d e r Prophet: ,Der H e r r hat Erbarmen mit Zion ... Die Stadt gleicht... einer Steppe, doch e r macht sie zum Garten des H e r r n . Freude u n d Fröhlichkeit findet man dort, Loblieder u n d H a r f e n erklingen' (Jes 51, 3). Mit dieser F r i e d e n s h o f f n u n g im Herzen bitten wir den H e r r n u m die Fülle seines barmherzigen Friedens."
21.3
Die Seligsprechung des Jesuitenpaters Rupert Mayer in München
In d e r bayerischen Landeshauptstadt hat Johannes Paul II. in München Pater Rupert Mayer seliggesprochen, d e r mit seinem klaren Widerstand gegen die Nationalsozialisten gewirkt hat. Aus dieser Ansprache des Papstes sollen hier ebenfalls wichtige Zeugnisse festgehalten werden: „Der A u f r u f des Apostels Paulus zur Stärke im H e r r n ist gleichsam die angemessene E r g ä n z u n g j e n e r Worte, die Jesus bei d e r ersten Aussendung der Apostel 182
21 Die zweite Pastoralreise Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik spricht. Die Kirche nimmt beide Texte heute als Lesungen f ü r die Liturgiefeier, in der ich euren Landsmann, den Jesuitenpater Rupert Mayer, seligsprechen darf; hier in der Stadt München, mit der sein Leben und priesterlicher Dienst auf das engste verbunden sind. Erst vor eineinhalb Jahren konnte ich in Rom die bayerische Ordensfrau Schwester Maria Theresia von Jesu Gerhardinger zur Ehre der Altäre erheben, die ebenfalls in dieser Stadt gelebt und weltweit gewirkt hat. Es ist mir deshalb eine besondere Freude, heute wiederum einen aus eurer Mitte im Namen der Kirche den Gläubigen zur Verehrung und Nachahmung vor Augen zu stellen. Pater Rupert Mayer wird zu Recht .Apostel Münchens' genannt. Aber das Licht seines Lebens u n d Wirkens leuchtet weit über diese Stadt hinaus in die weite Welt. Von Herzen grüße ich alle, die sich hier eingefunden haben, um im festlichen Gottesdienst gemeinsam mit uns diesen Gnadentag zu begehen. Nicht wenige davon haben unseren neuen Seligen gewiß noch persönlich gekannt. Mein brüderlicher Gruß gilt vor allem dem verehrten H e r r n Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, sowie allen anwesenden Bischöfen, den Priestern und Ordensleuten; darunter besonders den Patres und Brüdern der Gesellschaftjesu, der unser Seliger angehört hat, und den Schwestern der Heiligen Familie, deren Mitbegründer und langjähriger Spiritual er gewesen ist. Ich grüße ferner seine Landsleute aus d e r Heimatdiözese Rottenburg und die Mitglieder der Marianischen Männerkongregation, die in ihrem früheren Präses nun einen mächtigen himmlischen Fürsprecher erhalten; ebenso die Vertreter aus Staat und Gesellschaft sowie alle Gäste von nah und fern, die durch ihre Anwesenheit das Andenken dieses mutigen Glaubenszeugen ehren. Die Worte des heutigen Evangeliums, die Christus bei der ersten Aussendung an die Apostel gerichtet hat, scheinen im Leben u n d Wirken des Dieners Gottes Rupert Mayer eine neue Aktualität zu gewinnen. Christus sagt: ,Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen u n d arglos wie die Tauben!' Und darauf: .Nehmt euch aber vor d e n Menschen in acht' (Mt 10, 16-17). Wie vielsagend sind doch diese Worte: Ich sende euch zu den Menschen — und zugleich: Ich warne euch vor den Menschen. Und warum warnt Christus seine Jünger vor ihnen? .Sie werden euch vor die Gerichte bringen (...) Ihr werdet um meintwillen vor Statthalter und Könige geführt (...)'. (Mt 10, 17-18). Als Rupert Mayer sich im J a h r e 1900 als j u n g e r Priester zum Eintritt in die Gesellschaft Jesu entschloß, galten die Jesuiten noch offizell als .Reichsfeinde', die durch Gesetz des Landes verwiesen und verboten waren. Er selbst bezeichnet sie als .Geächtete, Verbannte und Heimatlose', da ihnen nicht gestattet war, im damaligen Reichsgebiet eigene Niederlassungen zu gründen und zu unterhalten. Die mächtig geschürte antikatholische Hetze u n d Aktivität gegen d e n Orden — statt ihn abzuschrecken — bestärkte ihn vielmehr noch in seinem Willen, sich dieser so geschmähten Gesellschaft Jesu anzuschließen. Durch seinen baldigen Ruf nach München wurde Pater Mayer in zunehmendem Maße mit antireligiösen und antikirchlichen Strömungen, mit einer Atmosphäre von Hohn und Haß gegen Christus und die Kirche konfrontiert, in der es immer mehr Mut und Tapferkeit 183
Juden und Christen erforderte, den katholischen Glauben frei zu bekennen. J e offenkundiger und brutaler in j e n e n Jahren der Kampf gegen Religion und Kirche wurde, ein um so entschiedener u n d unerschrockener Kämpfer f ü r die Wahrheit des Glaubens und f ü r die Rechte der Kirche wurde unser neuer Seliger. Wir hörten in der Lesung aus dem Epheserbrief die Worte des Apostels: .Legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am T a g des Unheils standhalten, alles vollbringen u n d den Kampf bestehen könnt (...). Gürtet euch mit Wahrheit (...). Vor allem greift zum Schild des Glaubens (...). Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes!' (Eph 6,13-17). Was der Apostel hier empfiehlt, hat Rupert Mayer in hervorragender Weise getan. Er hat Gottes Rüstung angezogen u n d sie bis zu seinem Tod nie mehr abgelegt. Unerschrocken und unbeugsam kämpfte er f ü r die Sache Gottes. Als unbestechlicher Zeuge der Wahrheit widerstand er den Lügenpropheten j e n e r Jahre, immer bereit, f ü r das Evangelium vom Frieden zu kämpfen. Ausgerüstet mit dem Schild eines tiefen, unbeirrbaren Glaubens führte er in seinen berühmten Predigten das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Es gab Monate, in denen er bis zu siebzigmal predigte. ,Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sorgen (...)', sagt Jesus weiter zu den Aposteln. Rupert Mayer wußte, daß nach 1933 seine Predigten von der Polizei überwacht wurden. Trotzdem verkündete er die Wahrheit ungeschminkt und unverkürzt. Als er gefangengenommen wurde, gab er vor der Geheimen Staatspolizei zu Protokoll: ,Ich erkäre, daß ich im Falle meiner Freilassung trotz des gegen mich verhängten Redeverbotes nach wie vor sowohl in den Kirchen Münchens als auch im übrigen Bayern, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, predigen werde.' Er konnte nicht schweigen, ebensowenig wie der Apostel Paulus, der sagte: ,Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!' (1 Kor 9, 16). Bereitwillig nahm unser Seliger dafür Gefängnis und Konzentrationslager auf sich. Er schrieb auf den Fragebogen, den er im Gefängnis auszufüllen hatte: ,Ich bin mit diesem Los keineswegs unzufrieden: ich empfinde es nicht als Schande, sondern als Krönung meines Lebens.' Und aus der Gestapo-Haft vor der Einlieferung in das Konzentrationslager Sachsenhausen berichtet er: ,Als die Gefängnistür eingeschnappt war u n d ich allein in dem Raum war, in dem ich schon so viele Stunden zugebracht hatte, kamen mir die T r ä n e n in die Augen, und zwar waren es T r ä n e n der Freude, d a ß ich gewürdigt wurde, um meines Berufes willen eingesperrt zu werden und einer ganz ungewissen Zukunft entgegenzusehen.' Das ist nicht die Stimme eines lediglich tapferen Menschen, sondern eines Christen, der stolz darauf ist, am Kreuz Christi teilzuhaben. Vorgestern habe ich in Köln die Karmelitin Schwester Teresia Benedicta a Cruce, die vom Kreuz Gesegnete, seliggesprochen. Beide Selige gehören zueinander. Denn auch euer Münchner Seliger, Pater Rupert Mayer, war vom Kreuz gesegnet. In einem Brief aus dem Gefängnis an seine betagte Mutter lesen wir: Jetzt habe ich wirklich nichts und niemanden mehr als den lieben Gott. Und das ist genug, j a übergenug. Wenn die Menschen doch einsehen wollten, es gäbe viel mehr Glückliche auf Erden.' In der Einsamkeit seiner H a f t galt das ganze Mühen von Pater Rupert Mayer der Vertiefung seiner inneren Bindung an Gott. In völliger Hingabe an ihn such184
21 Die zweite Pastoralreise Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik te er alle Bedrängnisse u n d Nöte f ü r seine innere E r n e u e r u n g und Heiligung fruchtbar zu machen. Als Angeklagter vor seinen Richtern e r f u h r er die tröstend e u n d stärkende Nähe Gottes, die Christus seinen Zeugen verheißen hat: ,(...) macht euch keine Sorgen, wie u n d was ihr r e d e n sollt. Nicht ihr werdet d a n n reden, sondern d e r Geist eures Vaters wird d u r c h euch reden' (Mt 10, 19-20). Diese Worte Jesu sind eine V o r a n k ü n d i g u n g d e r Lebensgeschichte d e r Apostel, der besonderen Gegenwart Gottes in ihrem Wirken, vor allem in ihrem Glaubenszeugnis. Sie bewahrheiten sich schon in j e n e r Begebenheit, von d e r die heutige erste Lesung spricht. Am Pfingstfest ,trat Petrus auf, zusammen mit d e n Elf (Apg 2, 14) u n d sprach zum erstenmal zu d e n versammelten Bewohnern von Jerusalem u n d d e n Besuchern, die zum Fest gekommen waren. Er legte Zeugnis ab f ü r Christus, d e n Gekreuzigten u n d Auferstandenen. Ist es aber wirklich n u r Petrus, d e r an diesem bedeutungsvollen T a g spricht? O d e r ist es vielleicht .nicht n u r Petrus? In d e r Tat! Durch Petrus spricht zugleich d e r Geist des Vaters u n d des Sohnes. Ebenso scheinen die Worte des Psalmisten u n d Königs David, die Petrus anf ü h r t , nicht n u r von diesem, sondern auch von unserem neuen Seligen gesprochen zu werden: ,Du zeigst mir die Wege zum Leben, d u erfüllst mich mit Freude vor deinem Angesicht' (Apg 2,28). Selbst inmitten großer Bedrängnis e r f ä h r t Pater Rupert Mayer Gott als die innere Kraft u n d beglückende Erfüllung seines Lebens. Zugleich wird er aus dieser tiefen V e r b u n d e n h e i t mit Gott in d e n Zeiten großer Not selbst f ü r viele Menschen zum Quell des Trostes, zum Vermittler neuer H o f f n u n g u n d Zuversicht, zum Vater d e r A r m e n , die ihn ihren 15. Nothelfer nannten. Wie sich die Menschen einst u m Jesus scharten u n d bei ihm Hilfe fanden, strömten sie mit allen ihren Nöten auch zu ihm. Sechzig, siebzig Hilfesuchende klopften täglich an seine T ü r . Mit o f f e n e m Herzen n a h m er sie alle auf. Viele Stunden verbrachte er auch im Beichtstuhl, zu dem sich die Menschen drängten, u m Hilfe in ihren geistlichen Nöten zu suchen. ,Es m u ß W ä r m e von uns ausgehen, d e n Menschen m u ß es in unserer Nähe wohl sein, u n d sie müssen f ü h l e n , daß d e r G r u n d dazu in unserer Verbindung mit Gott liegt.' Mit diesem Wort sagt uns d e r n e u e Selige, worum es ihm im Dienst an d e n A r m e n ging: Er wollte Gottes Liebe sichtbar u n d e r f a h r b a r machen u n d die Menschen s p ü r e n lassen, d a ß sie von Gott geliebt sind. Seine Güte u n d Hilfsbereitschaft war von solcher Kraft, daß er es auch ertrug, wenn sie einmal mißbraucht w u r d e n . Als man ihn darauf a u f m e r k s a m machte, gab er n u r zur Antwort: ,Wer noch nicht angeschmiert wurde, hat nie etwas Gutes getan.' Die Torheit seiner Liebe ist Teilhabe an d e r Torheit des Kreuzes, in d e r sich d e r liebende Gott uns zugewandt hat, u m uns alle an sich zu ziehen. Der Grundsatz, d e m Pater Rupert Mayer zeitlebens treu geblieben ist, lautet: .Christus, d e r Mittelpunkt unseres Lebens. Zwischenlösungen gibt es nicht.' Was er war, das wollte er ganz sein. Diese seine Entschiedenheit in d e r Nachfolge Christi hat ihn auf d e n Weg d e r Heiligkeit g e f ü h r t . Gemäß d e m Wahlspruch seines Ordens: .Alles zur größeren E h r e Gottes' ging es ihm vor allem um Gottes Ehre u n d damit u m die Rechte Gottes. ,Der H e r r g o t t hat das erste Anrecht auf uns', 185
Juden und Christen sagte er. Und er wußte, daß er damit auch f ü r die Rechte und W ü r d e des Menschen kämpfte. Wir hören heute viel von Menschenrechten. In sehr vielen Ländern werden sie verletzt. Von Gottesrechten aber spricht man nicht. Und doch gehören Menschenrechte und Gottesrechte zusammen. Wo Gott und sein Gesetz nicht geehrt werden, erhält auch der Mensch nicht sein Recht. Wir sehen das deutlich am Verhalten der nationalsozialistischen Machthaber. Sie kümmerten sich nicht um Gott und verfolgten seine Diener; und so gingen sie auch unmenschlich mit den Menschen um in Dachau vor den T o r e n Münchens wie in Auschwitz vor den Toren meiner früheren Bischofsstadt Krakau. Auch heute gilt: Gottesrechte u n d Menschenrechte stehen und fallen miteinander. Unser Leben ist n u r d a n n in Ordnung, wenn unser Verhältnis zu Gott in O r d n u n g ist. Deshalb sagte Pater Rupert Mayer in den weltweiten Bedrängnissen des letzten Krieges: ,Die heutige Zeit ist eine furchtbar ernste Mahnung f ü r die Völker der Erde, zurückzukehren zu Gott. Es geht nicht ohne Gott!' Dieses Wort unseres Seligen hat auch heute nichts an Gewicht verloren. Auch heute gilt es, Gott zu geben, was Gottes ist. Dann wird auch dem Menschen gegeben werden, was des Menschen ist. Liebe Brüder und Schwestern! Die Seligen und Heiligen der Kirche sind Gottes lebendige und gelebte Botschaft an uns. Deshalb stellt sie uns diese zur Verehr u n g und Nachahmung vor Augen, ö f f n e n wir uns also heute j e n e r Botschaft, die uns der neue Selige Rupert Mayer durch sein Wort und Wirken so anschaulich verkündet. Suchen wir wie er in Gott die Mitte und Quelle unseres Lebens. Auf Gott baute er in unerschütterlichem, kindlichem Vertrauen. ,Herr, wie du willst, soll mir geschehen, und wie du willst, wo will ich gehen, hilft deinen Willen nur verstehen', so lautet der erste Vers seines Lieblingsgebetes. Gott, der Herr, war die Quelle, aus der er in langen Stunden des Gebetes, in der heiligen Messe und in d e r täglichen treuen Pflichterfüllung die Kraft schöpfte f ü r sein erstaunliches Lebenswerk. Suchen auch wir aus derselben Kraftquelle unser Leben und unsere Umwelt zu gestalten. Der selige Rupert Mayer ist f ü r uns alle ein Vorbild u n d Anruf, ein heiliges Leben zu führen. Heiligkeit ist nicht eine Sache f ü r einige auserwählte Seelen; zur Heiligkeit sind wir alle berufen, alle ohne Ausnahme. Und er selber sagt uns auch, was zu einem heiligen Leben gehört: .Keine außergewöhnliche Arbeit, keine außergewöhnlichen religiösen Erlebnisse, keine Erscheinungen. Nur: Heroische Tugend.' Das heißt: T a g für Tag treu und unbeirrt Gottes Willen tun und aus seiner Gegenwart leben; jeder ganz persönlich und auch in der Familie. Wir wissen, wie unserem Seligen besonders die christliche Familie am Herzen lag und er zu ihrer Förderung mit zwei anderen Priestern sogar eine eigene Schwesterngemeinschaft gegründet hat. Die hohe Zahl der Ehescheidungen und die geringe Kinderzahl zeigen, welch großen Belastungen und Bedrohungen die Familie in der heutigen Gesellschaft ausgesetzt ist. In euren Familien aber entscheidet sich die Zukunft eures Volkes, auch die Zukunft der Kirche in eurem Volk. Haltet zusammen, daß die Familien gestärkt werden. Haltet die Ehe heilig und laßt die eheliche Liebe fruchtbar werden in den Kindern, die Gott euch schenken 186
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will. Sein Leben heiligen heißt aber auch, sich für das öffentliche Leben mitverantwortlich zu fühlen und es aus dem Geiste Christi mitzugestalten. Keinem Christen darf es gleichgültig sein, wie es in der Welt zugeht. Männer, Frauen und meinejungen Freunde, euch alle rufe ich auf: Setzt euch wie Rupert Mayer für Gottes Rechte und Gottes Ehre auch in der Öffentlichkeit ein. Laßt nicht zu, daß die Entchristlichung weiter um sich greift. Seid Salz der Erde und tragt das Licht der Wahrheit Gottes in alle Bereiche des Lebens hinein. Das ist der Dienst, den wir der Welt schulden. Es geht nicht ohne Gott! Habt nach dem Vorbild unseres Seligen vor allem auch ein Herz für die Armen. Ihr lebt in einem Land, das zu den wohlhabendsten Ländern der Erde ghört. Laßt euer Herz durch euren Besitz nicht stumpf werden für die Not der Hilfsbedürftigen und Vergessenen am Rande eurer Gesellschaft und in aller Welt. Macht auch ihr durch eure Güte Gottes Liebe sichtbar und erfahrbar unter euren Mitmenschen. Liebe Schwestern von der Heiligen Familie, eure Gemeinschaft wurde durch Pater Rupert Mayer nicht nur mitbegründet, sondern vor allem auch geistig geformt. Haltet seinen Geist lebendig. Euer Ideal veraltet nicht. Die Aufgabe, für die eure Gemeinschaft gegründet wurde, ist noch immer zeitgemäß. Liebe Sodalen der Marianischen Männerkongregation, ihr hütet in eurer Kongregationskirche als kostbaren Schatz das Grab des neuen Seligen, an dem ich nach diesem Gottesdienst beten werde. Hütet auch das geistige Erbe, das er euch hinterlassen hat: die Liebe zu Maria und die Bereitschaft zum Dienst an der Welt. Liebe Patres und Brüder der Gesellschaft Jesu, euch beglückwünsche ich zu eurem Mitbruder, den wir von heute an als Seligen verehren. Er ist eine Zierde eures Ordens. Möge er euch auch Vorbild und Ansporn sein, treu dem hohen Ideal des heiligen Ignatius von Loyola euren Dienst in Kirche und Welt zu erfüllen. Euer seliger Mitbruder hat nach diesem hohen Ideal gelebt. Er stehe euch bei, seinem Beispiel zu folgen. ,Seht, ich sende euch (...) werdet stark durch den Herrn!' Liebe Brüder und Schwestern! Sagt nicht auch der selige Rupert Mayer diese Worte am heutigen Tag seiner Seligsprechung zu uns, die wir hier versammelt sind? Zu euch, seinen Landsleuten, hier in dieser Stadt und im ganzen Land? Zur Kirche von München? Zur ganzen Gesellschaft? .Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn! Zieht die Rüstung Gottes an (...). Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern (...) gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister (...)'. (Eph 6, 10-12). Es gibt Zeiten, in denen die Existenz des Bösen unter den Menschen in der Welt in einer besonderen Weise in Erscheinung tritt. Dann wird noch offenkundiger, daß die Mächte der Finsternis, die in den Menschen und durch die Menschen wirken, größer sind als der Mensch. Sie übersteigen ihn, sie kommen von außen über ihn. Der heutige Mensch scheint dieses Problem fast nicht sehen zu wollen. Er tut alles, um die Existenz jener .Beherrscher dieser finsteren Welt', jene .listigen An187
Juden und Christen Schläge des Teufels', von denen der Epheserbrief spricht, aus dem allgemeinen Bewußtsein zu verbannen. Dennoch gibt es solche Zeiten in der Geschichte, in denen diese — n u r widerwillig angenommene — Wahrheit der Offenbarung und des christlichen Glaubens ihre volle Ausdruckskraft und fast handgreifliche Bestätigung findet. Der geistige Sieg von Pater Rupert Mayer erklärt sich vollkommen vor dem Hintergrund einer solchen Epoche, einer solchen geschichtlichen Erfahrung. Die Worte des Apostels beziehen sich in einem gewissen Sinn auf den konkreten Lebensverlauf dieses Dieners Gottes. Er war einer von jenen, die in diesem geistigen Kampf, in diesem Ringen mit d e n Mächten der Finsternis ,die Rüstung Gottes angelegt, sich mit der Wahrheit gegürtet, den Panzer der Gerechtigkeit und als Schuhe die Bereitschaft, f ü r das Evangelium vom Frieden zu kämpfen, angezogen haben' (vgl. Eph 6,12-15). Der Glaube war f ü r ihn wirklich der Helm, und das Wort Gottes war das Schwert des Geistes. Er kämpfte fortwährend mit diesem .Schwert' und ,hörte nicht auf zu beten und zu flehen.' Nein, er vertraute nicht auf seine eigenen Kräfte. Er erinnerte sich an die Worte des Meisters an die Apostel im Abendmahlssaal: ,Der Geist eures Vaters wird durch euch reden' (Mt 10, 20). Und deshalb hörte er auch nicht auf zu bitten, daß Gott ihm ,das rechte Wort schenke (...), u m das Geheimnis des Evangeliums zu verkünden' (vgl. Eph 6, 19). Die Worte des Epheserbriefes hat der Apostel Paulus geschrieben, als er n u r noch als .Gefangener' seiner Sendung nachkommen konnte (vgl. Eph 3, 1; 4, 1 u. a.). So hat auch Pater Rupert Mayer gesprochen und bezeugt, so hat auch er sich verhalten u n d f ü r Christus Verfolgung erduldet - als .Gefangener' in Landsberg und im Konzentrationslager Sachsenhausen. Und so ist er uns in Erinnerung geblieben, im Gedächtnis der Kirche: als mutiger Zeuge der Wahrheit u n d Apostel der Gottes- und Nächstenliebe. Diesem seinem Andenken erweist die Kirche nun ihre besondere Verehrung, damit es von Generation zu Generation fortdauert. Heute spricht dieser .Gefangene Christi' im Lager Sachsenhausen noch einmal zu uns — und die Kirche nimmt seine Worte auf in ihr geistiges Erbe: .Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus (...). Legt die Rüstung Gottes an' (Eph 6, 18.13). Nehmt, liebe B r ü d e r und Schwestern, an diesem Festtag das Zeugnis des Glaubens, der H o f f n u n g u n d der Liebe eures großen Landsmanns an! Möge das geistige Erbe seines Lebens und seines apostolischen Dienstes immer, besonders in Zeiten der Prüfung, mit euch sein und euch stets neue Kraft und Zuversicht schenken in Christus, unserem Herrn. Amen."
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Der evangelische Kirchentag 1987 in Frankfurt
Auf dem evangelischen Kirchentag im Juni 1987 ragten zwei evangelische Theologen mit ihren Ausführungen heraus. Der Kerngedanke des Kirchentages war in seinem Motiv an die Äußerung des Neuen Testaments angelehnt „Welch ein Mensch".
22.1
„Seht, welch ein Mensch" — Oberrabbiner Albert spricht in der Katharinenkirche in Frankfurt
Friedlander
Der Oberrabbiner aus Londen, Prof. Albert Friedlander, sprach zu dem Thema „Seht, welch ein Mensch" — aus jüdischer Sicht (Eröffnungspredigt über Johannes 19,1-6) in der Katharinenkirche zu Frankfurt: „Liebe Gemeinde — denn wir sind eine Gemeinde, obgleich wir nur alle zwei Jahre zusammengekommen sind: In Nürnberg, in Hannover, Düsseldorf, und jetzt hier in Frankfurt. Alte und neue Freunde, angereist mit unserem Zweifel und mit unserem Glauben, mit unserer Hoffnung und unserer Verzweiflung. Das Alte und das Neue finden sich hier zusammen; hier in der St.-Katharinen-kirche. Für einige von euch ist das neu, daß euch ein Rabbiner in diesem Moment anspricht — und etwas wie Mißtrauen ist nicht nur möglich sondern auch wahrscheinlich. Aber ist es vielleicht nicht auch etwas Altes, ein Nachhall der Zeit vor 2000Jahren, einer verzweifelten Zeit der Rohheit in einem besetzten Land, wo man die Hoffnung in Synagogen und auf offenen Feldern, auf einem Berg oder in einem Fischerboot auf dem See hören konnte? Und waren es nicht Lehrer und RabbinerStimmen, die sich dem status quo entgegenstellten? Die Pilger strömten durch jedes Tor Jerusalems und setzten ihre Gebete gegen die römische Gewaltherrschaft — und sie hofften, daß ein König des Friedens sie jetzt befreien würde. Der Text in Johannes 19, 1-6 spricht von dieser Zeit, und wir wollen ihn zusammen betrachten. Das Tragische an diesem Text ist der Mißbrauch, der ihn durch Jahrtausende in einen Streit-und-Fehde-Text verwandelte. Es war ein Mißbrauch, der uns die Anklage des Textes gegen jeden von uns — gegen jeden Menschen! — vergessen ließ, weil man hier einen Sündenbock für seine eigenen Sünden fand. So war es damals und so ist es heute! Das Plakat des Kirchentages wollte das Wort Ecce homo — Seht, welch ein Mensch — durch ein Bildnis der Menschheit im Kreuz deuten. Der erste gedruckte Entwurf der Künstlerin zeigte auch einen jüdischen Talmudstudenten. Aber von beiden Seiten kam Entrüstung und Ablehnung. Das erste Plakat wurde eingestampft und ein neues ohne den jüdischen Studenten — 189
Juden und Christen brachte uns nach Frankfurt. Mir tat dies leid, wenn es auch triftige A r g u m e n t e auf beiden Seiten gab. Hier e r w ä h n e ich es n u r , u m zu zeigen, daß dieser T e x t heute noch umschritten ist: Ecce homo — seht, welch ein Mensch. Kann m a n d e n Mensch sehen, o h n e sich selbst zu definieren? Aber hat nicht j e d e Identität ihre eigene Geschichte u n d Entwicklung? Das Schicksal des verfolgten J u d e n ist ein Teil meiner Identität; u n d es ist ein Teil d e r Identität jenes Menschen, d e r von dem römischen Gewaltstaat zerstört werden mußte. A n d e r e Wege f ü h r e n euch zu dem Mann, d e r vor Pilatus stand. Aber wir f ü h l e n einen gemeinsamen Schmerz; wir fühlen das Leiden des Verfolgten, mit d e m wir uns identifizieren. Und wir sehen diesen Menschen auch in u n s e r e r Zeit, in j e d e m Unterdrückten in unserem Land, in den Verfolgten in vielen Ländern. Der Genozid von heute ist die Gewalttat des Militärstaates in d e r alten Zeit. U n d die H o f f n u n g von damals ist unser ständiger Trost. I. Der T e x t ,Da n a h m Pilatus ihn u n d ließ ihn geißeln'. Man versucht immer, viel Anständiges über den Henker zu sagen:,Kinder...Familienleben... Liebhaber der Kunst... ein leutseliger Mensch... schließlich tat er n u r seine Pflicht... er vollzog n u r den Befehl von Rom, daß j e d e r mögliche Aufr ü h r e r gegen R o m gekreuzigt werden mußtet' Es ist j a auch wahr, daß viele gekreuzigt w u r d e n zu d e r Zeit, weil i r g e n d j e m a n d sagte: .Vielleicht ist dies d e r Gesalbte, der König Messias, der die Herrschaft Roms zu Ende bringt!' Also—Befehl ist Befehl; u n d so kommen wir zum netten, anständigen Menschen Pilatus, d e r ganz u n d gar unschuldig war, d e r in einer Legende heilig wird u n d in einer anderen Selbstmord begeht. Die historische Wahrheit bleibt etwas umstritten—aber die einzigen historischen Zeugen dieser Zeit außerhalb des Neuen Testamentes geben ein klares Bild. Philon von Alexandrien u n d Josephus zeugen davon, d a ß Pilatus ein wilder, gieriger Steuerpächter war, d e r das Land so erpreßte, d a ß e r sich reiche Güter in Sizilien kaufen konnte; d a ß er wegen Unehrlichkeit u n d Erpressung abgesetzt w u r d e — auch wegen Unfähigkeit! - u n d ruhmlos von d e r Weltbühne verschwand. Hier, in diesem T e x t ist e r einfach einer, der dem Befehl Gehorsam leistet. ,Da n a h m Pilatus Jesus u n d ließ ihn geißeln.' Die christlichen u n d jüdischen Zeugen gegen Klaus Barbie in Lyon sind sich einstimmig, d a ß er nett sein konnte. Frau Lagrange erzählte, wie sie als j u n g e s Mädchen ins Gefängnis kam, u n d wie Barbie ihre W a n g e n tätschelte u n d ihr sagte, wie schön sie sei. ,Hast d u a n d e r e Geschwister?', f r a g t e er. U n d plötzlich riß er an ihrem Zopf u n d schlug sie ins Gesicht — zum ersten Mal in ihrem Leben, daß sie einen Schlag fühlte — u n d wollte wissen, wo man die Geschwister finden könnte. Dann ließ er sie zum Foltern abführen..., Dann ließ er sie geißeln'. KlausBarbies Rechtsanwalt sagte: ,Ja, aber die Franzosen in Algerien haben dasselbe gemacht!' Ist das eine Verteidigung? Plötzlich, hier, hören wir es: Ecce homo—seht, welch ein Menschl Die Szene in u n s e r e m T e x t spielt sich wieder ab in j e d e r Zeit, wo Menschen verfolgt werden, in j e d e r Zeit, wo ein unmenschliches System die Menschen bedrückt, wo die Schergen die Unschuldigen zum Geißeln w e g f ü h r e n . 190
22 Der evangelische Kirchentag 1987 in Frankfurt II. ,Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie aufsein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an, und traten zu ihm und sprachen: >Sei gegrüßt, König der JudenN und schlugen ihm ins Gesicht.' Wir wissen etwas über das Leiden der Opfer, obgleich wir nie das ganze Leiden verstehen können. Nur wer selbst in der Lage war, der weiß es! Aber jeder leidet. Wir vergessen fast immer, daß auch die Schuldigen leiden. Die Verrohung der Gefühle, die Zerstörung des Mitleids, die Angst und Furcht und der Selbsthaß verdrängen das Menschliche im Menschen. Diese Soldatenl Wie der Text sagt, standen sie unmittelbar um Jesus, tasteten ihn an, bekleideten ihn, sprachen zu ihm. Es hätte ein Segen f ü r sie sein müssen — aber es war etwas ganz anderes. Sie konnten ihn nicht sehen, konnten ihn nicht verstehen, weil sie auch ihren Anteil am Gewaltstaat hatten — und deshalb waren sie schon verwandelt, konnten nicht mehr sehen und hören. Sie waren die Besatzung. Die Soldaten wissen es: Keine Freundschaft mit dem Feind, der Bevölkerung — sieht man sie schon als Menschen, dann vergißt man seine Pflicht. Und sie haßten diese Bevölkerung mit einem besonderen Haß. Sie haßten die Juden, und sie hatten Angst vor einem .König der Juden*. Warum? Der Judenhaß ist eine sehr viel ältere Krankheit als wir meistens annehmen. Der Monotheismus war die große Gefahr f ü r die Religionen der vielen Götter. Er stand außerhalb und mußte angegriffen werden. Auch hatten die Soldaten einen besonderen Grund, Jesus und die Juden zu hassen. Zweihundert Jahre vorher hatte Judas Maccabäus einen Bund mit den Römern geschlossen. Wegen dieses Bundes konnte kein Jude in das Römische Militär gepreßt werden. In fast jeder römischen Legion gab es Soldaten von allen Ländern —aber keine Juden. Die Soldaten beneideten die Juden. Die blieben frei, separat, fremd. In diesem besonderen, besetzten Land waren die Juden auf jeden Fall der Feind. Und so konnten sie nur den Feind in Jesus sehen. Deshalb der Spott, die Dornenkrone. Das Purpurgewand. ,Sei gegrüßt, König der Juden!' Ein König, den wir peitschen, den wir foltern können! Sie verletzten und folterten sich selbst in diesem Moment ihrer Unmenschlichkeit. Aber sind sie nicht auch, wie Pilatus, Vertreter der heutigen Menschheit, des Machtstaates, Vertreter des Hasses, der sich in jedem Menschen zeigen kann? Sind sie so entfernt von uns? ,Und sie schlugen ihn ins Gesicht' Auch das Nichtsehen des Nachbarn ist ein Schlag in sein Gesicht. Nicht mit dem Nachbarn zu sprechen, ihn nicht zu sehen, verweigert die Identität des Anderen, ist ein Angriff auf die Existenz des Mitmenschen. Wen haben wir heute geschlagen? In jeder Begegnung mit dem Mitmenschen tritt uns Gott entgegen. Und wie begrüßen wir Gott? Der Mitmensch ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen: Das Gute und das Böse, das Menschliche und das Göttliche. Wir können uns diesen Mitmenschen nicht verweigern, ohne uns Gott zu verweigern: ,Und sie schlugen ihn ins Gesicht!' Auch in den Soldaten, auch in Pilatus finden wir uns selbst. Und dann stehen wir alle vor dem Gericht. ,Da ging Pilatus hinaus und sprach zu ihnen: >Seht, ich f ü h r e ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, daß ich keine Schuld an ihm finde. < Und Jesus kam her191
Juden und Christen aus u n d t r u g die D o r n e n k r o n e u n d das P u r p u r g e w a n d . U n d Pilatus sprach zu ihnen: ecce homo: seht, welch ein Mensch.' Das Grausamste in der ganzen Geschichte ist doch, wie Pilatus mit d e n Menschen spielt. Der gefolterte, gegeißelte Christus, die Dornenkrone auf d e m Kopf u n d Blut im Gesicht, von ihm verurteilt, wird den Leuten zur M a h n u n g gezeigt: Wir dulden keinen König d e r J u d e n ! W e n n Pilatus jetzt scheinheilig sagt .Erkennt, d a ß ich keine Schuld an ihm finde!', so ist das u m so schlimmer! Pilatus sagt damit, daß auch ein Unschuldiger sterben m u ß f ü r die Sicherheit des Staates. Vielleicht wollte dieser Mensch gar nicht einen n e u e n Friedensstaat gegen die römische Gewalt stellen — aber sicher ist sicher. Auch ein schwacher, gefolterter Mensch ist eine G e f a h r f ü r den Staat. U n d er hat recht. Hier zeigt sich die Lehre, die wir von A n f a n g an erkannten: Gott ist mit den Leidenden. Eixe Wiesels Buch N A C H T taucht i m m e r wieder auf in der Theologie nach Auschwitz: Die drei Galgen in Auschwitz, das Kind in d e r Mitte, u n d die Frage: Wo ist Gott? Dort am Galgen! Pilatus — d e r Gewaltstaat. Jesus - d e r gefolterte J u d e . U n d wir wissen, wo Gott ist. ECCE H O M O sagt Pilatus: Das ist e u e r Mensch, ein ohnmächtiges Individ u u m gegen d e n Staat. Auch heute hören wir es. U n d selbst heute ziehen wir uns zurück von d e r G e f a h r , sehen nicht den Menschen im Gulag o d e r im südafrikanischen Gefängnis. U n d Pilatus verhöhnt uns. Das Schlußwort in diesem T e x t ist die grausamste V e r h ö h n u n g , die m a n selten versteht: ,Als ihn die H o h e n Priester u n d Knechte sahen, schrien sie: Kreuzige, kreuzige! Pilatus sprach zu ihnen: »Nehmt ihn hin u n d kreuzigt ihn, d e n n ich f i n d e keine Schuld an ihm.Schriften