Das Wissen der Architektur: Vom geschlossenen Kreis zum offenen Netz [1. Aufl.] 9783839415535

Ein paradigmatischer Wandel des Architektur-Begriffs eröffnet neue theoretische Perspektiven und entwickelt große Erklär

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German Pages 190 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Was ist Architektur?
Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vor moderne
Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne
Exkurs 1: Alexander von Humboldt
Wissenstheorie der Netze
Exkurs 2: Die Rede vom Rhizom
Handlungswissen der Architektur (1) Interventionen im Kontext
Exkurs 3: Über die Vernetzung der Architektur mit der Welt
Handlungswissen der Architektur (2) Architektur und Macht
Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik
Literatur
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Das Wissen der Architektur: Vom geschlossenen Kreis zum offenen Netz [1. Aufl.]
 9783839415535

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G. de Bruyn, W. Reuter Das Wissen der Architektur

Architektur Denken 5

Architektur Denken Architekturtheorie und Ästhetik Herausgeber: Jörg H. Gleiter, Berlin / Bozen Beirat: Gerd de Bruyn, Stuttgart Kurt W. Forster, Como / New Haven Matthias Sauerbruch, Berlin Philipp Ursprung, Zürich

Gerd de Bruyn, Wolf Reuter Das Wissen der Architektur Vom geschlossenen Kreis zum offenen Netz

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Philipp Heinlein, Bozen (I) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1553-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt 6 Vorwort 12 Einleitung: Was ist Architektur? 16 Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne 30 Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne 42 Exkurs 1: Alexander von Humboldt 50 Wissenstheorie der Netze 68 Exkurs 2: Die Rede vom Rhizom 76 Handlungswissen der Architektur (1) Interventionen im Kontext 106 Exkurs 3: Über die Vernetzung der Architektur mit der Welt 118 Handlungswissen der Architektur (2) Architektur und Macht 150 Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik 184 Literatur

Vorwort

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Beginnen wir mit einer lexikalischen Verdichtung und dem Versprechen, unsere Inhalte im weiteren Verlauf stets reflexiv zu entwickeln. Die Wissenstheorie will die Enzyklopädie des Wissens, d. i. das Zustandekommen und den Erwerb, die Bewahrung, Auswertung, Entwicklung und Weitergabe, die Organisation und Systematisierung des Wissens darstellen. Sie würde sich jedoch beschränken, käme sie dabei nicht ihrem Anspruch nach, auch die Modernisierung, Dynamisierung und Vernetzung sowie die kulturelle Bedeutung, gesellschaftliche Funktion, mediale und praktisch-technische Anwendung des Wissens zu beschreiben, zu analysieren und zu definieren. Diese herkulische Aufgabe kann sie reduzieren und überschaubarer gestalten, sobald sie sich auf einzelne Wissenschaften, Techniken oder künstlerischen Disziplinen etc. beschränkt. Bildungspolitischer Reformdruck und der selbst gewählte, schwerlich begründbare „Zwang“, an der Ausbildung zu sparen, erzeugen neuerdings in Deutschland Verteilungskämpfe unter Disziplinen, die bislang ohne Profilierungszwang koexistierten, während international eher gegenläufige Trends zu vermelden sind. Strenge oder angewandte Wissenschaft zu sein, gehört hierzulande zum wichtigsten Kriterium für Mittelzuweisungen. Glücklicherweise fragen sich vorerst nur diejenigen, die am wenigsten hierfür qualifiziert sind (Bildungsökonomen und Politiker), welche Fächer Wissenschaften genannt zu werden verdienen und welche nicht. Dennoch stehen die deutschen Architekturfakultäten unter immensem Legitimationsdruck und unternehmen große Anstrengungen, die Zahl der Forschungs-

Vorwort

projekte, die als Indikator für Wissenschaftlichkeit dienen, zu erhöhen; wohl wissend, dass Menge und Kosten allein noch keine Qualität verbürgen. Aus diesem Grund hat eine wissenschaftstheoretische Debatte begonnen, die herausfinden will, ob Architektur eine Wissenschaft ist. Dass sie es war, steht außer Zweifel, doch ist nicht geklärt, ob sie es immer noch ist. Hierzu müssten wir ja auch erst mal herausfinden und präzisieren, welches Wissen in die Architektur einwandert, wie es seinen Weg dorthin findet, zu was es verarbeitet wird und welch neues Wissen die Architektur selbständig erzeugt und in die Welt setzt? Mit anderen Worten: der wissenschaftstheoretischen Debatte muss eine wissenstheoretische Reflexion vorangehen. Die Architekturtheorie hatte von Anbeginn an den Anspruch erhoben, neben vielem Anderen auch eine Wissens- und Wissenschaftstheorie der Architektur zu sein. Seit Vitruv denkt sie darüber nach, welches Erfahrungs- und Theoriewissen in die „Wissenschaft vom Bauen“ einwandern soll.1 Sie hat nicht definiert, welches Wissen die Architektur eigenständig hervorbringt. In der Regel wurde sie als Anwendungsbereich eines nicht von ihr selbst verantworteten Wissens beschrieben: als reine Nutznießerin dessen, was Philosophen, Staatskundler, Kunsttheoretiker, Mathematiker, Physiker, Astronomen, Mediziner, Juristen, Ökonomen, Historiker, Geologen und Geographen wissen. Später kamen die Soziologie, Psychologie, Biologie, Ökologie und die modernen Ingenieurswissenschaften noch hinzu. Als der Architektur zugehörig wurde einerseits das ausgemacht, was wir das intellektuelle Anverwandlungswissen der Architekten nennen können. Mit seiner Hilfe wurden etwa in 1

„Die Baukunst ist eine, mit vielerley Kenntnissen und mannichfaltiger Gelehrsamkeit ausgeschmückte, Wissenschaft, welche sich mit Geschmack die Werke aller anderen Künste zu eigen macht.“ Gleich im ersten Kapitel macht Vitruv zweierlei klar: dass die Architektur eine Wissenschaft ist, die, wie es im nachfolgendem Satz heißt, aus Praxis und Theorie besteht, und dass sie zugleich eine Kunst ist. Andernfalls könnte nicht die Rede davon sein, sie mache sich die Werke aller übrigen Künste zueigen. ( Vitruv: Baukunst, Erster Band, übers. v. August Rode, Zürich/München: Artemis 1987, S. 12.)

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der Antike musikalische Intervalle in proportionstheoretische Regeln und in der Renaissance sozialphilosophische Ideen in Stadtutopien transformiert. Andererseits beschäftigt sich die Architekturtheorie seit jeher mit dem pragmatischen Handlungswissen der Architekten, das ihnen ermöglicht, sämtliche architekturrelevanten Erkenntnisse und Methoden aus den oben aufgezählten Wissenschaften in ihre Entwurfs- und Baupraxis zu überführen. Heutzutage reicht der Verweis auf ihr spezifisches Anverwandlungs- und Handlungswissen nicht mehr dazu aus, die Architektur als Wissenschaft zu begründen. Vor der Moderne war sie fraglos Wissenschaft und Kunst zugleich gewesen, solange beide Sphären nicht im Zwist miteinander lagen. Ihre Einheit verdankte sich einem Wissenschaftsverständnis, das die Architektur mehr denn jede andere Disziplin repräsentierte. Und zwar so sehr, dass man sie eine oder sogar die Leitwissenschaft der Neuzeit nennen möchte.2 Damals stand das in dickleibigen Handbüchern beschriebene Handlungswissen der Architekten niemals nur im Schatten hoch gebildeter ästhetischer Reflexionen. Thronte doch über allem der Anspruch, in der Architektur die von Philosophen, Theologen und Universalgelehrten beschworene Kongruenz von Weltwissen und Weltordnung behaupten und veranschaulichen zu können. In der Moderne hat sich der Enzyklopädismus als Wissenschaft überlebt, auch wenn er als Bildungsattitüde und künstlerische Haltung nicht tot zu kriegen ist. Doch hat ja längst etwas Anderes seine Stelle eingenommen: die großräumige, permanent anwachsende Vernetzung eines Wissens, das dem geordneten Ganzen, worauf die Enzyklopädisten spekulierten, insofern die Treue hält, als sich in ihm jederzeit produktive Verknüpfungen und immense Anhäufungen unterschiedlichster Ideen, Erfahrungen und Erkenntnisse ergeben können. Daraus 2

Als solche löste sie die Jurisprudenz ab, die vielleicht mit noch größerem Recht die Leitwissenschaft des Mittelalters genannt werden kann. (Vgl. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München: Beck 2009, S. 58.)

Vorwort

folgern wir: Falls sich neue Formen der Wissenserzeugung mit der Architektur ähnlich stringent verbinden lassen wie der alte Enzyklopädismus, dann eröffnet sich die Chance, die Architektur auch in der Moderne als eine autonome und vielleicht sogar wieder vorbildliche Wissenschaft zu etablieren. Nur mit einem sich in ihrem Ideenzentrum neu formierenden und exklusiv entwachsenden Wissen ließe sich die Architektur als eine eigenständige Wissenschaft begründen, sofern sie auch alle anderen Wesensmerkmale wissenschaftlichen Arbeitens erfüllte. Andernfalls wäre sie ein beliebig mit Spartenwissen zu mästendes Fach, das den Status einer Fakultät allein aus rein organisatorischen und didaktischen Gründen beibehielte: aus organisatorischen deshalb, weil sich Studierende der Architektur aufgrund der unterschiedlichen Fachkulturen, die Einfluss aufs Bauen nehmen, nicht permanent durch mehrere Fakultäten zugleich schleusen lassen; und aus didaktischen Gründen, da die Aneignung mehrerer Expertensprachen eine Überforderung darstellt. Aus diesem Grund wird den Studierenden der Architektur sämtliches geistes-, gesellschafts-, natur- und ingenieurwissenschaftliche Wissen stets als ein auf die Architektur angewandtes „mundgerecht und häppchenweise“ zugeführt. Zu befürchten ist daher: Wenn es der Architektur nicht gelingt, sich so bald wie möglich als eigenständige Wissenschaft zu profilieren, wird sie von sparwütigen Politikern aus der Universität verjagt werden, um fortan in Kunstakademien als reines Entwurfsfach und in Fachhochschulen als applied science ihr Dasein zu fristen. Die beiden Autoren dieses Buches sind Angehörige einer Universität, die mit Max Bense einen bedeutenden Gelehrten vorzuweisen hat, der als studierter Philosoph, Mathematiker, Physiker, Chemiker und Geologe sowie als Dichter und Hörspielautor wahrlich ein moderner Enzyklopädist genannt zu werden verdient. Zugleich war Bense einer der ersten Theoretiker der Nachkriegszeit, der bereits das Netz als zentrale Metapher gebrauchte, um modernes wissenschaftliches Denken und Handeln zu beschreiben. Im Essay „Über die spirituelle Rein-

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heit der Technik“ (1952) heißt es: „Wir bewohnen eine technische Welt. Eine Welt, die wir machten, deren Veränderung in unseren Händen liegt und deren Vollkommenheit wesentlich von unserer Vernunft und unserer Einbildungskraft abhängt. Wir haben diese Welt wie ein Netz über die Natur gespannt. An zahllosen Stellen hat dieses Netz die Form einer Haut angenommen, auf deren Fläche wir ein altes Spiel von Begriffen, Bildern und Regeln vollenden wollen, das wir Wissenschaft nennen.“ Wir hoffen, dieser Beschreibung mit unsrem Buch einigermaßen gerecht zu werden, auch wenn wir natürlich Benses Anspruch auf Vollkommenheit nicht länger teilen wollen. Umso mehr sind wir überzeugt davon, dass die Architektur eine eigenständige Form der Kognition und ein eigenständiger Handlungstyp ist, der sich dadurch auszeichnet, dass er ein sehr weit vernetztes Planungswissen und -handeln repräsentiert. Die Architektur behauptet ihren Platz an der Universität, weil sie die universitas zum einen als komplexe Wissensdisziplin und zum andern als eine gestalterische Arbeit, in der Theorie und Praxis eine unverbrüchliche Einheit bilden, in sich trägt. Unabhängig vom gegenwärtigen Diskurs, auf den wir aus gegebenem Anlass Bezug nehmen, sind wir überzeugt, dass nur wissenschaftliche Hochschulen in der Lage sind, den enzyklopädischen, interdisziplinär vernetzten und an der Praxis orientierten Wissensfundus der Architektur zu vermitteln und weiter zu entwickeln. Wir wollen mit unserem Buch nicht zuletzt für den Erhalt dieser wertvollen Eigenständigkeit und Vernetzung, für die reiche Binnendifferenzierung und vielfältigen Einbindungen plädieren, die uns wie so vielen anderen Kolleginnen und Kollegen das große Glück intensiver und erkenntnisreicher Kooperationen beschert haben, woraus allein das Wagnis unserer gemeinsamen Autorenschaft begonnen werden konnte. Gerd de Bruyn, Wolf Reuter Stuttgart im Mai 2010

Einleitung: Was ist Architektur?

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Die Architekturtheorie sucht Antworten auf die Grundsatzfrage: Was ist Architektur? Selbst dann, wenn sie scheinbar harmlos nach einer modernen, sozialen, funktionalen, innovativen, repräsentativen oder schönen etc. Architektur fragt. Immer zielt sie auf die Beantwortung der Frage, ob ein luxuriöses oder schlichtes Gebilde, eine komplexe oder simple Struktur, ein hoch intelligenter oder nur gebrauchstüchtiger (Denk-)Raum Architektur genannt werden dürfen. Ist also die Architektur etwas Besonderes? Eine Auszeichnung, auf die nur wenige Phänomene Anspruch erheben dürfen? Wir behaupten: ja, das ist sie, und geraten unversehens in unübersichtliche Terrains, in denen Begriffsungetüme wie Kunst und Wissenschaft gefräßig oder abweisend lauern. In diesem Buch entwickeln wir Gedanken, die nicht abheben wollen, aber ambitioniert sind. Wir versuchen einen Begriff von Architektur zu gewinnen, der präziser ist als die Vorstellungen, die über Architektur gemeinhin kursieren. Diesen Begriff wollen wir in Augenhöhe mit den Wissenschafts- und Kunstbegriffen unserer Zeit diskutieren. Die Hauptthese, die das Buch figuriert, behauptet einen Wandel im Konzept von Architektur, der sehr einschneidend und in seinen Folgen kaum schon begriffen ist. Wir schreiben über die grundlegende Veränderung des Selbstverständnisses der Architektur, die durch eine seit langem beobachtbare Umwertung ihres Anspruchs auf Universalität veranlasst wurde. Diese Umwertung sucht den reichen Wissens- und den Erfahrungsschatz, der immer schon in die Architektur eingegangen

Einleitung

ist, als Netzstruktur zu begreifen, nachdem die Legitimität und Logik eines Enzyklopädismus’, der das Wissen der Menschheit als eine Einheit präsentierte, in der sich die dem Kosmos unterstellte Ordnung zu spiegeln schien, über die Jahrhunderte hinweg mit Kreismetaphern beschrieben wurde. Plakativ gesprochen geht es uns darum, Architektur als eine einzigartige und eigenartige Wissenskultur zu verstehen, die in der Moderne vom Kreis bzw. Zyklos aufs Netz umgestellt wurde. Den traditionellen, bis ins 18. Jahrhundert hinein gültigen Anspruch, Wissenschaft und Kunst enzyklopädisch zu einen, büßte die Architektur in der Moderne angesichts fortschreitender territorialer Abgrenzungen der Konzepte von Kunst und Wissenschaft zunächst ein. Wir sind aber der Überzeugung, dass die Produktion von Architektur und die Tätigkeit des Entwerfens in epistemologischer Perspektive als eigenständige kognitive Handlungsweisen begreifbar werden. Berücksichtigt man nun noch die in der Architektur besonders wirksame Konzeption eines transdisziplinär vernetzten Wissens, fühlen wir uns zu der These berechtigt, dass der enzyklopädische Charakter des architektonischen Universalismus immer wieder aktualisiert wird, und dies umso eher, als wir davon ausgehen, dass Kunst und Wissenschaft auch in der Moderne „eingelagerte Domainen“ der Architekturproduktion bleiben. Den Wandel der Darstellung architektonischer Wissensund Kunstformen von der Kreis- zur Netzstruktur lösten gesellschaftliche und ökonomische Faktoren sowie Herrschaftsformen aus, die sich keineswegs nur mit einer Wissenstheorie der Architektur verstehen lassen, sondern auch mit einer Handlungstheorie architektonischer Interventionen und mit kritischen Bemerkungen über das Verhältnis von Architektur und Macht zu versehen waren. In den Netzen, die wir beschreiben, verschränken sich unterschiedliche Wissenskulturen und -strategien, es aktualisieren sich dort aber auch jene Verfransungen von Wissenschaft und Kunst, die der vormoderne Enzyklopädismus im Schilde führte. Begleitet wurde der Wandel zum Netz von einer Neubewertung dessen, was unter dem Begriff Kontext verstanden

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und verhandelt werden soll. Auch Kontexte lassen sich ja als Netze darstellen, in die sich Architekturprodukte „verfangen“, an denen sie mitweben und die sie ausbessern („flicken“) oder erweitern helfen. Der universale Charakter und die Aktualität des enzyklopädischen Anspruchs der Architektur zeigen sich in der infiniten Breite und Tiefe ihrer Auswirkung auf reale Kontexte und, nachdem diese reflektiert wurden, auf moderne Wissensnetze. Insgesamt kann daher die These aufgestellt werden: Der Architektur wird die Welt, die sie in sich aufnimmt und reflektiert, stets in spezifischen Kontexten zugeführt. Geschichte in Gestalt historischer Bausubstanz, Städte und Regionen, Kultur und Technik etc. bilden solche Kontexte aus. Und da die Architektur immer schon in spezifischen sozialen Verhältnissen produziert wurde, kristallisiert sich im Kontext zugleich das unumgängliche Verhältnis der Architektur zur Macht heraus. Gebaute Architektur gerät, umso teurer sie uns zu stehen kommt, unweigerlich zur Legitimation von Herrschaft. Aus diesem Grund muss überprüft werden, wie viel Herrschaftswissen in ihren Universalismus seit jeher eingeflossen ist und weiterhin dort eindringt. So wie das (universale) Wissen niemals nur in regulärer bzw. zünftig akademischer Weise in die Architektur einwandert, sondern beim Entwerfen immer auch spontan erfasst und mithilfe analogischen Denkens und freier Assoziationen angeeignet werden muss, so ist umgekehrt das Künstlerische in der Architektur nie nur intuitiv am Werk. Es vermittelt sich dem Entwurf über mannigfache Rationalisierungsschritte, Abstraktions- und Reduktionsprozesse, die in ästhetischen Theorien und Regelwerken verhandelt werden. Da wir die Verwandlung des kreisförmigen in den netzförmigen Wissensfundus der Architektur einigermaßen vollständig beschreiben wollten, haben wir unsere Ausführungen um einige ästhetische Reflexionen ergänzt, die mit einer Diskussion der Maßstäbe für die Qualitätsurteile vernetzter Architektur den Schluss des Buches bilden.

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

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Kurze etymologische Selbstvergewisserung Bevor wir uns

den Pflichten wissenschaftlicher Theorie- und Thesenbildung widmen, sei ein wenig Kür erlaubt, um sich der ursprünglichen Gehalte, Anspielungen und Tätigkeiten zu vergewissern, die ’ lrfo´¡goti anklingen. _ ’ lrfo´¡goti im altgriechischen Wort _ (architekton) meint im Griechischen Baumeister und Theaterpächter.3 Man sollte meinen, dass es sich hierbei nur um ein so genanntes „Teekesselchen“ handelt und nicht um die hintergründige Verbindung zweier radikal unterschiedlicher Berufsgruppen. Wir kommen noch darauf zurück, nehmen aber zuerst einmal die einzelnen Wortbestandteile unter die Lupe. ’ d (archä = Mit dem Wortbestandteil Archi-, der von _lr´ Anfang, Beginn, Ursprung, auch: Erstling, Erster) herrührt, wird offensichtlich eine ursprüngliche Disziplin angesprochen und, wie eine weitere Bedeutung als „Herrschaft“ signalisiert4, sogar eine, die anderen Disziplinen übergeordnet ist bzw. die „erste“ Rolle unter ihnen spielt. Auf die Frage, welche Disziplin gemeint sein könnte, gibt die dritte Silbe -tekt Aufschluss, die auf das griechische o´¡goti (tekton: Handwerker, Künstler) und ebenso auf o¡go_´fik+_f (tektainomai = bauen, verfertigen, erfinden) und o¡gokifg´kn (tektonikos = als Subjekt: der 3

Vgl. Langenscheidts Taschenwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, Erster Teil Griechisch-Deutsch, von Prof. Dr. Hermann Menge, Berlin/München/Zürich: Langenscheidt 1967 (32. Auflage), S. 70.

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’ lr´d d ‘ : A 1. Anfang, Beginn, Ursprung; 2. Ursache, Grund, Ebenda (_ Prinzip; B Anführung, Oberbefehl, Herrschaft)

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

Baumeister, als Adjektiv: im Bauen geschickt) bezogen werden kann. Zwar hat es sich eingebürgert, im Tektoniker vor allem den Zimmermann zu sehen, Tatsache ist jedoch, dass im Griechischen mit o´¡goti genauso auch der Steinmetz oder Schmied gemeint sein kann. Wichtig scheint uns die Silbe tek, mit der die Griechen Wörter bildeten, die auf Zeugungsakte und artifizielle Produktionen anspielen. So wäre also der Architekt einer, der handwerklich versiert etwas sehr Artifizielles erzeugt, und zwar innerhalb einer künstlerischen Disziplin, die am Beginn aller kreativen Tätigkeit des Menschen stand und möglicherweise aus diesem Grund die erste bzw. bedeutendste Kunstausübung darstellt. Da wir hier eine Theorie der Architektur in Angriff nehmen, sollten wir noch das griechische Wort e¡tl´f_ (theoria) untersuchen, zumal wir in _lrfo´ ’ ¡goti noch keinen Hinweis für den Einfluss des Wissens und der Wissenschaften auf die Architektur gefunden haben. Bislang können wir uns nur denken, dass der Architekt ein geschickter Handwerker und Künstler ist. Doch war er von Beginn an auch ein Wissender? Im Griechischen bedeutet der Begriff e¡tl´f_ zunächst Anschauung, Betrachtung, dann darauf fußend Untersuchung, Erkenntnis und schließlich Theorie. Die ursprüngliche Bedeutung führt uns allerdings auf eine Spur, die deutlich macht, dass wissenschaftliche Konnotationen jüngeren Datums sind. Mit e¡tl´f_ war zunächst nicht die überlegte oder analytische Betrachtung gemeint, sondern das bloße Staunen und die reine Schaulust. Wie schon Gottfried Semper richtig beobachtet hatte, scheinen sich alle ernsthaften Bemühungen des Menschen aus kindlich lustvollen Tätigkeiten herzuleiten. Das griechische e¡tl´f_ hält die Erinnerung daran wach, denn es bezeichnet das teilnehmende Zuschauen bei Festen und Festumzügen und ebenso den Zuschauer, der einem Schauspiel beiwohnt. Entsprechend bedeutete auch das Wort e¡´tld+_ (theorema) zunächst nur das Angeschaute und das Spektakel, bevor darunter ein Theorem (d. i. ein Lehrsatz, der innerhalb einer bestimmten Theorie Gültigkeit beansprucht) verstanden wurde.

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Die merkwürdige Koinzidenz von Theorie und Schauspiel ’ lrfo´¡goti und könnte einen zu der Spekulation verleiten, _ e¡tl´f_ meinten auf beiden Wortbedeutungsebenen Ähnliches. Es tummeln sich ja nicht nur der Pächter eines Theaters und die Theorie, die ein „Schauspiel“ verspricht, in der gleichen ’ lr´d, der von alters her ein o´¡goti, Hemisphäre – auch der _ ein Erzeuger und Produzent ist, rückt in die Nähe des Theoretikers, sofern wir unter ihm einen kreativen, wissenden Akteur verstehen, da das Verb tektainomai im Deutschen nicht nur als bauen übersetzt, sondern ebenso gut mit „ins Werk setzen“ und „erfinden“ wiedergegeben werden kann. Demnach träfen in Theorie und Architektur immer schon Grundlagenforschung und Handlungswissenschaft aufeinander. Wie nicht anders zu erwarten war, bildeten im Griechischen Praxis und Theorie, Kunst und Wissenschaft eine unverbrüchliche Einheit.5 Die enzyklopädische Architektur Seit der Antike galt die Architektur als Kunst und Wissenschaft. Einmal, weil diese beiden Sphären kaum voneinander unterschieden wurden, und zum andern, weil die Architektur die Einheit und Gleichwertig-

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Auch wenn man den letzten Satz für richtig hält, kann man dennoch misstrauisch gegenüber seiner etymologischen Herleitung sein, da sie allzu konstruiert klingt. Versucht man die Wissenschaft in die Architektur einzulagern, funktioniert das logisch so: Aus der Anschauung (Theoria) erwachsen beschreibende und abstrahierende Sätze (Theoreme, Regeln, Axiome etc.), die so gefügt werden müssen, dass sie ein möglichst widerspruchsfreies, vollständiges, formal einfaches und nach Regeln schlüssig gefügtes Gedankengebäude darstellen. Die Theoria gewinnt in dieser Beschreibung die Eigenschaften eines Gebäudes und bewiese daher auf der allgemeinen Ebene, die wir uns zugänglich machen wollen, architektonische Eigenschaften. Diese Sicht findet ihre Evidenz auch in Redewendungen wie der von der „Architektur der (Ost-)politik“ oder der „Software-Architektur“; oder wenn Kant die Vernunft als ein Vermögen definiert, das sich selbst als ein System nach Regeln der Architektonik aufbaut. Architektonik, die ein System nach Ideen darstellt, stiftet erst den Zusammenhang der Erkenntnisse. (vgl. Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, Basel: Schwabe 1971, S. 502.)

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

keit beider Bereiche auffällig repräsentierte. Gern wurde sie der Mutterschoß genannt, der sämtliche künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen aus sich entließ und wieder in sich vereinte. Der Grund hierfür war ihr von Vitruv beschworener „enzyklopädischer Charakter“, der ihr bis zum Barock eine herausragende Stellung in den Wissenschaften und Künsten garantierte. Über die Epochen hinweg galt die Architektur als Paradigma einer Allwissenheit, in der sich der Kosmos als einheitliche, harmonische und sinnvolle Ordnung spiegelte. In der Welt mochte es noch so katastrophal zugehen – die Architektur garantierte dennoch im Denken großer Gelehrter wie Alberti, Claude Perrault oder Christopher Wren, dass unserem Leben aller Willkür zum Trotz eine unerschütterliche Ordnung zugrunde liege. Voltaire war einer der ersten, der sich über diese Naivität mokierte und so dauerte es nicht mehr lange, bis nahezu alle alten Gewissheiten als Illusionen entlarvt waren. Während aber die Dichter, Maler und Musiker so taten, als hätten sie immer schon geahnt, dass die traditionellen Harmonievorstellungen bloße Chimären waren, erwarteten die Architekten das Ende ihrer Kunst. Modernisierung schien in ihrem Fall zu heißen: sich des ureigenen Wesens zu entschlagen und in einer unentschiedenen Pendelbewegung zwischen Kunstanspruch und Kunstverbot verharren zu müssen. Das Verständnis von Architektur, Wissenschaft und Kunst, das vor und zu Beginn der Aufklärung prägend war, bezeichnen wir als „enzyklopädisch“. Waren einst Kunst und Wissenschaft ungeschiedene Disziplinen, wovon die Architektur besonders profitierte, wurden sie ab dem 18. Jahrhundert einer Autonomisierung überantwortet, welche die Architektur in eine Dauerkrise stürzte. Sie wurde nach Jahrhunderten, in denen sie die Einheit von Kunst und Wissenschaft spiegelte, in vergleichsweise kurzer Zeit (als die modernen Dichotomisierungsprozesse begannen) erst zu einer Teilwissenschaft der Mathematik erklärt, um in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer

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Enzyklopädischer Denkkreis aus der Ars Magna des Ramon Llull (um 1305)

Gattung der schönen Künste aufzusteigen. Durand war es, der dafür sorgte, dass es mit dieser „eitlen“ Zugehörigkeit sehr schnell vorbei sein und die Architektur schon bald zu einer sparsamen Zweckkunst herabsinken sollte, die sich seitdem die Kompetenzen, die ihr einst selber (freilich nur in vormoderner Ausprägung) zugehörten, von Disziplinen ausleihen muss, die ihr entlaufen sind. Die traditionelle enzyklopädische Funktion der Architektur, das Wissen einer Welt zu veranschaulichen, die „in Ordnung“ ist, lässt sich in die These fassen, dass die beiden Artefakte: der menschliche Mikrokosmos Haus und der göttliche Makrokosmos Welt, wechselseitig ineinander abbildbar sind. Die Reziprozität von Haus und Kosmos liegt tatsächlich

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

nahe, um die vormoderne Idee der Architektur zu erläutern, ist uns aber nicht emphatisch genug. Architektur war ein brisantes Anschauungsmedium, in dem das enzyklopädische Wissen, das eine Modellierung des Mikro- und Makrokosmos’ intendierte, eine fassliche, begriffliche und greifbar „schöne“ Gestalt annahm. Damals ging es darum, jedes neue Wissen sogleich einer Erklärung der ganzen (nämlich: vollständigen und heilen) Welt verfügbar zu machen. Johannes Keplers „Berechnung“ der Planetenabstände bietet ein leuchtendes Beispiel hierfür: Die Welt, so wie sie ist, soll exakt beschrieben werden und wird zugleich neu gesetzt. Solche Dinge geschahen stets in architektonischer Absicht. Doch wie damals Architektur als ein Anschauungsmedium des Kosmos verstanden wurde, so könnten wir heute ein Haus als Anschauungsmedium für den kulturellen Kosmos begreifen, dem es entstammt und auf den es sich bezieht (nur dann wäre es ja wert, Architektur genannt zu werden). Es ist gut möglich, dass in unseren Tagen die allmächtige Rede von der Kultur längst den Platz einnimmt, der in alter Zeit von den enzyklopädischen Wissensordnungen besetzt wurde. Mit dem Unterschied freilich, dass der Architekt heute seine Entwürfe selten aus der intimen Kenntnis eines Kontextes entwickelt, den er als unverrückbare Harmonie imaginiert, sondern sich viel lieber von konkurrierenden kulturellen Sphären animieren lässt, die er mit seinen Ideen bereichern oder auch verunsichern will; die Angst, dass dadurch die Welt zum Einsturz gebracht würde, hat sich ja stark gelegt. Man kann die These aufstellen: Die Architektur vermag sich nicht aus ihrer enzyklopädischen Verfassung zu lösen, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihre genuine Identität zu verlieren. Zielt ein Entwurf auf Architektur, muss er sich weiterhin als enzyklopädische Disziplin bewähren. Doch scheint das die Moderne nicht zu erlauben, zumal sie sich Differenzierungsprozessen verdankt, die u. a. auch zu einer irreversiblen Trennung von Kunst und Wissenschaft geführt haben. Die Ankettung der Architektur an ihre vormoderne Konstitution hieße jedoch, dass

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es im grundsätzlichen Sinne keine moderne Architektur geben kann, sondern bestenfalls eine modernisierte Architektur, deren enzyklopädischer Charakter allmählich zerbröckelt. Unserer Meinung nach gibt es zwei Möglichkeiten, dieser fatalen Konsequenz zu entgehen. Die erste besteht darin, künstlerische und wissenschaftliche Avantgarden als ein Milieu zu beschreiben, das um einer besseren Moderne willen gegen die sich faktisch vollziehende Modernisierung der Gesellschaft eine Reformulierung der enzyklopädischen Architektur im Schilde führt. Nach dieser Theorie garantierten die historischen Avantgardebewegungen der Architektur zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Fortleben in der Moderne. Auf ihre Art tun das natürlich auch die Traditionalisten, die den Fortbestand vormoderner Disziplinen durch Konservatismus und Brauchtumspflege zu sichern suchen. Die zweite Möglichkeit, die Architektur in der Moderne jenseits von Traditionalismus, Denkmalpflege und Avantgardismus fortleben zu lassen, ergibt sich dann, wenn wir uns fragen, ob das Enzyklopädische, das über lange Zeiträume hinweg den Charakter der Architektur prägte, auch dann eine conditio sine qua non für den Begriff der Architektur darstellt, wenn dieser sich nicht vornehmlich der Geschichte, sondern einer logisch-systematischen, strukturanalytischen Erörterung verdankt. Vielleicht tauchen dann in ihr auch andere, neue Eigenschaften auf, die die Architektur nicht weniger gut charakterisieren und dennoch in Korrespondenz zum Enzyklopädismus und zu modernen Konzepten von Kunst und Wissenschaft stehen? Womöglich muss ja das spezifische Konzept von Architektur, das der Geschichte abgelesen werden kann, nicht verstetigt werden, um der Architektur auch in unserer Zeit noch eine emphatische Identität zusprechen zu können. Die avantgardistische Reformulierung des Enzyklopädismus

Das Projekt der Avantgarden bestand darin, die Moderne zu überlisten, indem die Reformulierung der Architektur als universelle Wissenschaft und Kunst für moderner noch als

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

die Moderne ausgegeben wurde. Die Avantgarden waren das schlechte Gewissen der Moderne – sie arbeiteten ihr zu, indem sie ihr widersprachen. Futuristen, Expressionisten, die De-StijlArchitekten und russischen Konstruktivisten entdeckten, dass das Neue, dies Lebenselixier der Moderne, zweierlei Formen zeitigt: Es kann etwas sein, das noch nie der Fall war; es kann freilich auch die Wiedergeburt eines Alten sein, das aus der Versenkung auftaucht wie ein zuvor nie Dagewesenes. Im Unterschied zu den Spezialisten des faktisch Neuen, den Ingenieuren, gerierten sich die Avantgarden als Experten eines Vergangenen, das in Gestalt radikaler Neuformulierungen das Publikum provozierte. Man denke nur an Le Corbusier, der die prähistorische Pfahlbauarchitektur in seinen auf Stelzen balancierenden Häusern wiederaufleben ließ. Die Avantgarden konterkarierten mit ihren wagemutigen Bauten die Moderne, weil in ihnen durch das Quäntchen Utopie, das darin steckte, eine andere Gesellschaft als die moderne und eine andere Architektur als die modernisierte zum Ausdruck kamen. Das utopische Denken und die enzyklopädische Architektur verbündeten sich, um der Moderne besser zu widerstehen. Begünstigt wurde dieser Bund durch das, was man die Dialektik der modernen Vernunft nennen könnte. Sie zeigte sich darin, dass die Architekturavantgarden und das utopische Denken eine Ratio favorisierten, die modern genannt zu werden verdient, da sie Planungsvorgänge systematisieren half, doch richteten sie sich zugleich gegen die Moderne, weil sie die Differenzierungsprozesse bekämpfte, die mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Gesellschaft notwendigerweise einhergingen. Das beste Beispiel bot Tony Garniers „ideale Industriestadt“ (1904 – 1917), in der das Bauen radikal rationalisiert und dennoch auf sämtliche sozialen Differenzierungen einer modernen Industriegesellschaft verzichtet wurde. Dem Enzyklopädismus der Architekturavantgarden, der die Auffächerung des Wissens nur so weit akzeptierte, als dadurch die harmonia mundi nicht infrage gestellt wurde (vgl. Modulor), entsprachen die Simplifizierungsstrategien der bauenden Schüler Charles

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Die Enzyklopädie des Kreises weitet sich zum modernen Oval einer utopischen Welt. (Claude-Nicolas Ledoux: Idealplan der Saline in Arc-et- Senans, die 1779 fertig gestellt wurde)

Fouriers, Robert Owens oder Peter Kropotkins (dessen Einfluss von Ebenezer Howard bis Frank Lloyd Wright reichte), die die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften zugunsten traditioneller Vorstellungen von sozialer Solidarität zurückzuschrauben suchten. Die Avantgarden waren zu klug, um nicht der faktischen Modernisierung, die sie am eigenen Leib erlebten, eine alternative Moderne entgegenhalten zu wollen, mit der die Probleme, die im entfesselten Kapitalismus auftraten, bewältigt werden sollten. Sie waren aber, schaut man beispielsweise auf Bruno Tauts „Die Auflösung der Städte“ (1920), zugleich zu naiv, um dabei nicht Modellen der Ausbildung von Gesellschaften, Städten und Häusern aufzusitzen, die ihr Heil in der Komplexitätsreduktion moderner Systeme wie Wissenschaft, Kunst, Technik, Bürokratie, Politik und Rechtssprechung suchten. Seit Ledouxs Planungen für die Idealstadt Chaux durchweht avantgardistische Architektur ein antiurbaner, bukolischer Zug. Dies durchschaut zu haben, ist das Verdienst einer Zeit, die keinen

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

Der das vormoderne Leben bergende Kreis öffnet sich und verliert seinen einschließenden Charakter. (Bruno Taut: Die Auflösung der Städte, 1920)

himmelstürmenden Avantgardismus und auch kein utopisches Denken mehr kennt. Die Avantgarden, die wir für die Speerspitze der gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklung halten, haben stets gegen die Moderne opponiert, indem sie die faktisch sich

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vollziehenden Modernisierungsprozesse für rückschrittlich erklärten, um an ihre Stelle die Idee eines Neuen zu rücken, das noch viel neuer sein sollte als all die wissenschaftlichen, technischen und sozialen Innovationen, welche die Moderne zu verantworten hat. Jedoch lag die Qualität des avantgardistisch Neuen in Wirklichkeit nicht darin, dass es innovativer als die Errungenschaften der Moderne war, sondern anders. Schockierend anders sogar, da es uralt war. Das Uralte der Avantgarden stand in der Tradition der von Rousseau entfesselten modernen Kulturkritik, die sich im 19. Jahrhundert zur Kapitalismuskritik steigerte. Heute scheint es keine Avantgarden mehr zu geben, da die Kulturkritik vollständig von den Traditionalisten übernommen wurde und die Kritik des Kapitalismus von ihm selber besorgt wird (zurzeit durch die „sachgerechte“ Verstaatlichung von Banken), und sich dadurch sein Überleben sichert. Hinzu kommt, dass das Neue der Popkultur nicht uralt sein muss, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Popkultur ist per se archaisch und triebhaft genug, um den Avantgardismus durch die Mode zu ersetzen. In der Mode ist das ästhetisch Neue ein Jüngstvergangenes, das nur wenig altern musste, um in Vergessenheit zu geraten. Moderne Schnelllebigkeit sorgt für rasche Verfallszeiten. Drum ist Mode ja selten schockierend im Sinne der „Schocks der Moderne“. Sie inszeniert Überraschungen auf den Laufstegen der Moderne, nicht aber, indem die Macht eines Uralten sich wie ein böser Geist aufbläht, der riesengroß einer Flasche entsteigt, sondern durch die Dramatisierung koketter Wagnisse, mit der Jüngstvergangenes neu interpretiert wird.6

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Es sind die Übertreibungen der Interpretation, die uns heutzutage vor den Bildschirmen in Atem halten, und kein schlummerndes Unheil, das darauf wartet, in avantgardistischer Kunst zum Leben zu erwachen. Unheilvoll waren Baudelaires „Fleur du Mal“ nur für die moderne Gesellschaft selbst, die er überwuchert sah von der Saat der Gewalt, die Großstädten und Maschinen entströmt. Sie wollte er mit der archaischen Kraft seiner Dichtung überformen. Die Architektur war immer ein Medium, in dessen Untiefen anar-

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Vormoderne

Die Zweifel, ob es einen Avantgardismus in der Postmoderne geben kann, der das Geschäft der Reformulierung der enzyklopädischen Architektur weiter betreiben könnte, sind nicht leicht von der Hand zu weisen. Aus diesem Grund wechseln wir jetzt die Spur, um ein strukturanalytisches Konzept von Architektur zu entwickeln, das auf der These aufbaut, dass die konstitutiven Eigenschaften der Architektur sich auch anders als in historischer Absicht beschreiben lassen, ohne dass dabei ihr enzyklopädischer Kern verloren gehen muss. Mit anderen Worten: Von nun an versuchen wir die Reformulierung der Architektur nicht auf avantgardistischem sondern epistemologischem Wege fortzusetzen.

chische Konzepte sich verausgabender Frühkulturen lauern (vgl. Gottfried Semper). Die Attraktionen der Mode sind ein Oberflächenphänomen. Mit ihnen muss sich beschäftigen, wer eine neue Interpretation der Moderne wagen will.

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

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Was soll unter Architektur verstanden werden? Architektur

ist ein Gebiet des Wissens, als solches eine Forschungs-, Lehr und Lerndisziplin, deren Gegenstand die Gesamtheit architektonischer Produkte im weitesten Sinne als auch deren Produktionsweisen ist. Die Vertreter der Disziplin bilden darüber im Ganzen, aber auch bezogen auf Segmente oder einzelne Produkte und Produktionsweisen Theorien und entwickeln und vermitteln Wissen, das für die Produktion erforderlich ist. Indem Architektur als Forschungs-, Lehr- und Lern-Disziplin ihre Produkte und technischen wie ästhetischen Verfahren zum Gegenstand ihrer Betrachtung macht, mit dem Ziel, möglichst viele richtige Aussagen über diesen Objektbereich zu erzeugen, ist sie eine eigenständige Wissenschaft: die Wissenschaft von der Architektur. Architektur ist überdies die Gesamtheit der Ideen, Konzepte, Methoden und Produkte als auch ihrer einzelnen Ausprägungen (auf den Menschen, die Kultur, die Technik etc.), die für Gebäude, Städte und viele andere gestaltete zwei- und vor allem dreidimensionale Gebilde im realen und virtuellen Raum konzipiert wurden und werden. In einem metaphorischen, abstrahierenden und ebenfalls sehr konkreten Sinn befreit sich ihre Eigenschaft, in einer Ordnung nach einem Konzept gefügt zu sein, von diesen ursprünglich fachlich damit verbundenen Gegenständen, und wird dann ebenfalls als Architektur bezeichnet. Die Emanzipation des Entwerfens von konventionellen und disziplinären Bindungen ist nie nur im übertragenen Sinne

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

möglich. Konzeptionelle Entwürfe sind alles andere denn abstrakt. Schon Semper wusste: das Zweistromland und nicht Griechenland markiert den Beginn einer Architektur, deren Ursprung in den sich verausgabenden Festumzügen früher Völker mit ihren Fahnen, Trommeln, Tänzern und blutigen Opfergaben zu suchen ist. Erst in späterer Zeit wurden die textilen und temporären Urarchitekturen zur monumentalen Baukunst (zum babylonischen Zikkurat, zur ägyptischen Pyramide und zum griechischen Tempel etc.) abstrahiert. Semper begründete dies damit: um ein kollektives Gedächtnis auszubilden. Die steinernen Monumente sollten an die ursprüngliche Konzeption der Architektur erinnern, die nach dem Lustprinzip (der Freude am Spielen und Schmücken) gebildet wurde und nicht nach einer Notwendigkeit. Frank Lloyd Wright ergänzte Semper, indem er anfügte, dass die monumentale Architektur ein Gedächtnis ausbildete, das erst nach Jahrtausenden durch das gedruckte Buch abgelöst wurde. Seit Gutenberg kämpft die Architektur um eine Legitimation, die nie in erster Linie in ihren Bauten zum Ausdruck kam, wohl aber in ihren enzyklopädischen Tugenden: dem Aufschreiben und Bewahren. Dennoch stellt sich die Frage, wie weit die Emanzipation des Entwerfens von disziplinären Bindungen gehen soll und auf welche Domänen sich das Entwerfen erstrecken darf? Kann eine Software eine Architektur haben? Wir wissen, dass der heutige Wortgebrauch das so will, jedoch nur insoweit mit Recht, als in der Software gefügte Ordnung erkennbar wird. Kann jemand eine Marketingstrategie entwerfen, eine Corporate Identity, einen Turnschuh, eine Nudelform, eine Stadt, ein regionales Verkehrssystem, die Wasserversorgung? Noch sagen wir: ja. Kann jemand ein Gesundheitssystem für eine Nation entwerfen? Kann ein philosophisches Argument, ein Gedankengebäude eine Architektur haben? Kann das System der Elementarteilchenphysik eine Architektur haben? Wir meinen: ja! Schon fraglicher ist, ob ein Architekt, den wir der Disziplin „Baukunst“ zurechnen, ein gutes Gesundheits-, Versicherungsund Rechtssystem oder das Gedankengebäude einer neuen

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Wissenschaft entwerfen kann. Mit einigem Erfolg kann das nur jemand versuchen, der den kognitiven Tätigkeitstyp Entwerfen in seiner Domäne anwendet. Semper und Wright haben weitläufige Theoriegebäude, sie haben aber auch Bauwerke geschaffen. Architekturprodukte beziehen die Berechtigung, sich so zu nennen, aus ihrer Fähigkeit, das kollektive Gedächtnis zu veranschaulichen. Das muss nicht in Bauwerken sein. Das kann auch in Bildern gelingen (siehe Boullée), sowie in unterschiedlichsten dreidimensionalen Gebilden im realen wie im virtuellen Raum. Hinzu kommen Prozeduren, Strategien, Methoden aller Art. Immer müssen sie anschauliche konzeptionelle Ordnungsmuster schaffen, die das kollektive Interesse an Gesellschaftlichem zugleich befriedigen und zum Ausdruck bringen.7 Die Vorgehensweise des Architekten, Planers und Entwerfers ist eine eigenständige kognitive Tätigkeit, die sich von anderen kognitiven Typen wie Lehren, Lernen, Forschen oder Organisieren unterscheidet. Diese eigenständige Leistung des Architekten beim Entwerfen offeriert ganz neue Verhältnisse zu Kunst und Wissenschaft, in denen wir deren ehemals ungetrennte Kognition wieder erkennen können. Wir behaupten nicht, dass diese Dinge identisch sind, sondern möchten lieber von einer Retheoretisierung sprechen oder besser davon, dass in der Analyse der originären Energie des Entwerfens die verlorene Qualität des enzyklopädischen Wissens wieder hervortritt.

7

Das kollektive Gedächtnis ist eine Größe, die eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit beschreibt. Seltsamerweise muss es nicht in jedem Kopf präsent sein, um zu existieren. Vielleicht erkennt sich jedoch jeder darin und findet sich oder spiegelt sich darin, wie wir dies schon im Verhältnis von Haus und Kosmos angedeutet haben. Daran sieht man auch seinen ideellen Charakter. Es existiert, ohne in seiner einzelnen Ausprägung zu existieren. So kann man sich übrigens auch den Enzyklopädismus in der Moderne vorstellen: als vernetzte Bildung. Architektur ist im Netz ideell universal, weil die Idee des Netzes umfassend ist. Das Kollektive ist nicht die Summe der Gehirne der Mitglieder des Kollektivs, sondern die Kenntnis seiner Verbindungen, die sie zusammenschließen. Dazu später mehr.

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

Was unterscheidet die Architektur in der Moderne von der Wissenschaft? Auf den ersten Blick repräsentieren Architektur

und Wissenschaft in der Moderne Konzepte, die sich wechselseitig ausschließen. Zwar sind beides innovative Tätigkeiten, die eine erzeugt neues Wissen, die andere neue Produkte; aber genau dadurch ist die Art ihrer Problemstellung wesentlich anders. Die Maschine Wissenschaft produziert hauptsächlich Wissen über Tatsachen in der Welt und Modelle über die Welt, mithin Versuche zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der modernen Wissenschaft geht es um Wissen über die reale Welt, über Sachverhalte, die existierten und existieren. Zusätzlich kümmert sie sich auch um die Entwicklung von Maschinen als Instrumente für Zwecke, deren gesellschaftlicher Sinn selten reflektiert wird. Außerdem, und das mag noch problematischer sein, bemüht sich die Wissenschaft heutzutage zunehmend um Modellierungen und Simulationen, die ein stets fester gewirktes Band um die reale, die virtuelle und die zukünftige (durch innovative Technologien veränderte) Welt schlingen. Dieses Wissen und die daraus abgeleiteten Erklärungsmodelle sollen möglichst universal gültig sein und uns ermöglichen, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden. Immerhin schimmert durch den modernen Anspruch auf Universalität das vormoderne Wissenschaftsverständnis der alten Universalgelehrten hindurch. Man erinnere sich nur an Leibniz’ Konzeption einer Universalsprache, die heute von Technikhistorikern in direkten Bezug zu heutigen Computersprachen gesetzt wird. Aller Universalismus kann als ein Enzyklopädismus verstanden werden, der, um in der Moderne fortbestehen zu können, nominalistisch oder „situationär“ gewendet werden bzw. vom Besonderen seinen Ausgang nehmen muss.8 8

Das alte Universalwissen der Architektur zersprang in der Moderne zum situationären Wissen progressiver Architekten, die ihre „Zweckbauten“ in eine sich verändernde Welt hineinplanen mussten. Zugleich zeigte sich im latenten Klassizismus der stilistisch „modernen Architektur“ der Wunsch, zumindest im Ästhetischen weiterhin universell Gültiges zu schaffen. Einerseits gilt, dass die traditionelle Architektur, obschon auch sie die Welt veränderte,

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In den Naturwissenschaften geht es zudem darum, dass sich Erkenntnisse bzw. gemessene Daten und Fakten, die in Experimenten gewonnen wurden, an unterschiedlichen Orten durch verschiedene kompetente Personen wiederholen, überprüfen, verbessern und in Zweifel ziehen lassen. Hieraus folgt, dass Lösungsversuche nur solange gelten, solange sie nicht widerlegt sind. Insofern sind alle Lösungswege vorläufig. Prinzipiell müssen sie sich Widerlegungsversuchen aussetzen können, so Poppers konsequente Forderung. Hergestellt werden soll so eine personenunabhängige „Objektivität“. Im Positivismusstreit wurden zudem für die Sozialwissenschaften die Einführung des auf Gültigkeit überprüfbaren Arguments und das Mittel der Protokollierung von Argumenten – d. i. maximal herstellbarer Transparenz und Nachvollziehbarkeit – gefordert9. In den modernen Wissenschaften geht es um ein faktisches und erklärendes Wissen sowie um Konventionen, die seine Gültigkeit (Validität) regeln. Anders die Architektur: sie produziert und nutzt, wenn ihre Akteure ihrer ureigensten Tätigkeit des Entwerfens und Planens nachgehen, Wissen über besondere Situationen. Es ist ein

indem sie ihr etwas hinzufügte, niemals etwas ändern, sondern immer nur die herrschenden Kosmologien bestätigen wollte. Andererseits wurden sämtliche Idealstadtentwürfe in Welt verbessernder Absicht vorgenommen. Darin kündigte sich bereits eine Moderne an, in der die (mit Leibniz gesprochene) prästabilierende Intention der Architektur verblassen musste. Immerhin kam es seit Durand auch zu einer gewaltigen Auffächerung neuer Bauaufgaben in, wenn man so will: situationärer und enzyklopädischer Absicht. Dass sich hierdurch die Motivation der Architekten gewaltig änderte, liegt auf der Hand. Sie wollten nun auch die Programme bestimmen, die für den Verlust ihrer kosmischen Relevanz mit „Lebenswelt“ und reichlich Praxisbezug aufgefüttert wurden. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stand ganz im Bann situationsgebundener Programme, die in der zweiten Jahrhunderthälfte drastischer Kritik unterworfen wurden. 9

Jürgen Habermas: „Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus“, in: Theodor W. Adorno u. a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt : Luchterhand 1972, S. 251.

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

Wissen über die Tatsache und die Art ihrer Intervention, über den Kontext, in den sie eingreift, und die Wirkungen in diesem Kontext. Dieses Wissen ist großteils und wesentlich situationär und damit einem Wissen, das sich universell gültig dünkt, sowohl unter- wie überlegen. Man könnte die These aufstellen, dass die Architektur zu den Tätigkeiten gehört, die Erkenntnisse und Erfahrungen formt, welche den in den modernen Wissenschaften geprägten Begriffen mit Skepsis begegnen, da diese den Dingen, die sie benennen, immer auch im Namen des Objektivitätsideals Gewalt antun. Aus dieser Skepsis resultierte ja u. a. die enorme Faszination, die die Situationistische Internationale auf die avantgardistischen Architektenszenen nach dem Zweiten Weltkrieg ausübte. Situationisten sind unzeitgemäße Mimetiker: Wie zweifelnde Enzyklopädisten saugen sie den Kosmos Stadt auf, um sich in der Unüberschaubarkeit der Metropolen zu verlieren, jederzeit bereit, in ihre Abgründe zu stürzen… Architekten erzeugen beim Planen und Entwerfen Wissen darüber, wie die Welt aussehen soll, mithin Sollwissen. Entwerfen besteht aus einer ständigen Produktion von Urteilen darüber, dass etwas zum Besseren verändert werden kann und wie, mit welchen Methoden, dies am besten zu erreichen wäre. Sollwissen ist Inhalt und Gegenstand von kontroversen Diskursen, von normativer Argumentation. Entwerfen ändert die Realität und fügt der alten Welt neue Teile zu, die zuvor nicht existierten. Um ihre Visionen und Verbesserungsideen in die Realität zu überführen, benötigen und verarbeiten Architekten Erkenntnisse, wie man die Welt anders gestaltet, wie man das Gewünschte zustande bringt, also instrumentelles Wissen. Mit beiden Arten von Wissen bewegen sich Architekten freilich in einem sozialen Kontext, in dem es umstritten ist. Während die Wissenschaft die Effekte ihrer eventuellen Intervention minimiert, greifen architektonische Entwürfe willentlich in die Welt ein, indem sie ihr etwas Neues zufügen. Unterscheidet die Wissenschaft wenigstens für bestimmte Zeiträume zwischen wahren und falschen Sätzen, können über

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Zielscheibe Charles de Gaulle, Bestandteil einer von den Situationisten organisierten Ausstellung in Odense (1963), bei der auf Politiker geschossen werden konnte.

Pläne und Entwürfe allenfalls Urteile auf einer Güteskala gefällt werden. Ein architektonischer Plan kann bezweifelt, kritisiert und nach allen Regeln der Kunst verrissen, nie jedoch widerlegt werden. Nicht einmal im Test kann man ihn auf Gültigkeit prüfen. All das gilt im Übrigen strukturell gleichermaßen für Politiker, Militärs, Stadtplaner, Designer, Wirtschaftsführer… Insofern Architekten faktisches Wissen auch der universalen Art – ganz im Sinne Vitruvs – verarbeiten (Physik, Chemie, Geometrie) und auf geprüftes instrumentelles Wissen zurückgreifen (Mechanik, Konstruktion), insofern ihnen für die Simulation der Folgen erwogener Maßnahmen Partialmodelle zur Verfügung stehen (Windkanal, Systemsimulation) und sie

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

ihre Soll-Aussagen einer validitätsgeprüften und damit auch transparenten Argumentation unterwerfen (Diskurstheorie und praktischer Diskurs), sind sie dem Wissenschaftler verwandt. Aus diesem Grund und aufbauend auf historische Analysen ist auch in der Moderne eine Strategie denkbar, Architektur und Wissenschaft so zu konzipieren, dass eines das andere enthält. Zumal einige Entwurfstheoretiker zu einem Stretching der Konzepte tendieren. Eines ihrer Argumente läuft darauf hinaus, dass auch in der Wissenschaft die Theorie- und Modellentwicklung definitiv als ein Akt des Entwerfens beschrieben werden kann.10 Ob man nun daran festhalten will, dass die Architekturproduktion einen besonderen kognitiven Tätigkeitstyp beschreibt, weil dessen essentielle Kompetenz im Setzen neuer Weltteile und im Urteilen liegt, oder ob man auch für die Moderne an der Verwandtschaft von Architektur und Wissenschaft festhält, so oder so fällt auf, dass die Kognition der Architektur, wird sie nun als originär oder reproduktiv beschrieben, auf die in der alten Architektur praktizierte Union des Künstlerischen und Wissenschaftlichen anspielt. Doch bevor wir uns diesem Umstand widmen, muss erst mal beantwortet werden, inwieweit die Architektur in der Moderne eine Kunst genannt zu werden verdient.

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Das ist aber nur eingeschränkt richtig, da sich die Modelle der Wissenschaft am Ideal der Abbildung vorhandener Realitäten orientieren, und nicht an der möglichen Imagination vorgestellter Welten, wie dies beim architektonischen Entwerfen der Fall ist. Zu den Regeln von Wissenschaft gehört, ihre Richtigkeit und ihren Wahrheitsanspruch der Überprüfung durch andere Wissenschaftler zugänglich zu machen. Die Überprüfung der Modellannahmen und der Modellfolgerungen kann zur Verwerfung, Ablehnung und Falsifizierung führen. Für die Überprüfung gibt es Regeln. Im Betrieb des Entwerfens hingegen nicht; Kritik führt hier allenfalls zu gleichberechtigt nebeneinander stehenden guten und schlechten Urteilen, niemals aber zu Wahrheitsentscheidungen. Eine wie auch immer vorläufige „Wahrheit“ stellt für ein neues Entwurfsprodukt wie für Architektur insgesamt eine unangemessene Kategorie dar.

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Was unterscheidet die Architektur in der Moderne von der Kunst? Die strikteste Unterscheidung sprach bekanntlich Adolf

Loos aus, als er auf dem Höhepunkt der Autonomisierung der modernen Künste, die er in der ästhetischen Entwicklung seiner komponierenden, malenden und dichtenden Freunde hautnah miterleben durfte, für die radikale Entfernung der Gebrauchskunst Architektur aus dem Reich der freien Künste votierte. Er begründete dies damit, dass ja die Architektur an ein Publikum adressiert sei, das zugleich ihr Nutznießer ist und zwar im alltäglichen Umgang mit Wohnungen, Häusern, Straßen und Plätzen, während die autonome Kunst mit einem Publikum rechnet, zu dem sie in keinem funktionalen und nicht einmal in einem moralischen Verhältnis steht, weshalb es ihm keine Rechenschaft schuldig ist. Nur einen kleinen Restbestand an Gebautem, Grabmäler und Denkmäler, ließ Loos als Kunst gelten, da hier die ästhetischen Entscheidungen alle anderen Erwägungen, die beim Bauen eine Rolle spielen, bei weitem dominieren würden. Trotz dieses weit verbreiteten Diktums, das dazu führte, dass sich die Ästhetik des Bauens allenthalben an Fragen der Gebrauchstüchtigkeit und der Lebenspraxis gebunden fühlte („etwas Unpraktisches kann nicht schön sein“), gab es schon in den Zwanziger Jahren Architekten wie Le Corbusier, die sich nicht scheuten, die Architektur als eine ästhetisch autonome Kunst zu betreiben, die deshalb nicht durch funktionale Zwänge beeinträchtigt werden konnte, weil zum einen die Form der Funktion übergeordnet und zum andern nicht für empirische Menschen entworfen wurde, sondern für den „neuen Menschen“11. Nicht also wie wir sind und was wir faktisch fühlen und begehren, spiele die entscheidende Rolle beim Entwerfen, als vielmehr die Frage, wie wir sein könnten, wenn

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Vielleicht wird Corbusier’s Vision der modernen Welt als dasjenige Artefakt in die Geschichte eingehen, dem – ungewollt – das größte Gewaltpotential innewohnte, welches letztlich jeder ästhetischen Formung der Welt ein Stück weit eingeschrieben ist.

Architektur, Wissenschaft und Kunst in der Moderne

uns die moderne Ästhetik zu einem veränderten Verhalten und Leben verführt oder gezwungen hätte. Theodor W. Adorno stimmte übrigens im Nachhinein der Konzeption der Architektur als Kunst in seiner Rede „Funktionalismus heute“ (1965) dialektisch zu, indem er den Architekten ins Stammbuch schrieb, sie müssten zwar um der Humanität willen die falschen Bedürfnisse konkreter Menschen in ihr Kalkül ziehen, jedoch immer auch besser von den Menschen denken, als sie sind! Interessant ist, dass Adorno selbst in seinen wenigen Verweisen auf Beispiele „großer Architektur“, in der die Ästhetik zu ihrem Recht komme, zielstrebig auf den Organiker Scharoun verwies und nicht etwa auf den Rationalisten Le Corbusier, der zusammen mit Guiseppe Terragni zu den Leitsternen Peter Eisenmans zählt, der hier stellvertretend für alle Architekten steht, die heutzutage für den Kunstanspruch der Architektur plädieren. Aber es sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ja nicht nur Architekten gewesen, die als Grenzgänger den Graben wieder zuzuschütten suchten, den Loos aufgerissen hatte. Viele Künstler wären ebenso zu nennen, welche die Demarkationslinien zwischen Architektur, Bildhauerei, Malerei, Film, Fotografie und Musik missachten. Als Grund mag man hierfür neben Neugier und Lust an Provokationen die Tatsache ansehen, dass in unserer Zeit in dem Maß, in dem die allereinfachsten Alltagsbedürfnisse Kunstcharakter annehmen, das Ästhetische zu einem universellen und performativen Lebenszweck „verkommt“. Auch das strukturanalytische Denken führt zu den unterscheidenden Eigenschaften von Gebrauchswert und Rechtfertigungsverhältnis. Wollte man an der Einheit von Kunst und Architektur trotz der unterscheidenden Merkmale festhalten, wäre der nicht zu beendende Diskurs darüber eröffnet, ob die Kunst zu einer eingelagerten Domäne der Architektur würde oder selber die führende Rolle übernähme, sich jedoch zu Kompromissen herbeiließe, um brauchbar zu sein. Übrigens gibt es unabhängig von allen Architekten, die sich dagegen wehren, dass ihrem Schaffen jede künstlerische Energie

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per definitionem abgesprochen werden soll, auch strukturanalytische Argumente für den Kunstcharakter der Architektur. Entgegen der Verwegensten aller Behauptungen der Moderne, dass Schönheit unmittelbar aus der Funktion erwachse, lässt sich feststellen, dass ästhetische Entscheidungen in jedem Entwurfsprozess ein Eigenleben entfalten, auf der Basis eines gleichsam neutralisierten Gebrauchswertes, und dass sie oft ganz anderen Einflüssen des Kulturbetriebs verpflichtet sind als der behaupteten „Ableitung“ aus der Funktion. Der Akt der ästhetischen Setzung verbindet Kunst und Architektur essentiell. Außerdem gilt natürlich für sämtliche Architekten immer dann, wenn sie ein dreidimensionales Gebilde neu erfunden und in die Welt gesetzt haben, dass sie zuvor ästhetische Urteile zu fällen hatten, die im Sinne Kants zu den ethischen Urteilen zählen, die keine hinreichende Begründung durch einen Nutzen haben.

Exkurs 1: Alexander von Humboldt Der letzte europäische Enzyklopädist von Rang, Alexander von Humboldt, war zugleich der erste Netzwerker: Ein international agierender Gelehrter, der bereits mit vollem Bewusstsein an der Vernetzung des Wissens zur Erzeugung neuer Erkenntnisse und Wissensdisziplinen arbeitete. Die Vorstellung, dass nur das vernetzte Weltwissen rasant anwachse und zudem sein Sinn und Nutzen für die Menschheit gewaltig zunehme, war ihm schon derart geläufig, dass er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, ein Enzyklopädist genannt zu werden.

Der Humboldt-Forscher Otmar Ette schreibt: „Wenn unser Jetztzeitalter das Netzzeitalter ist, dann ist Alexander von Humboldt gewiss dessen wissenschaftlicher Vordenker.“ (Alexander von Humboldt, gemalt von Friedrich Georg Weitsch,1806)

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Zu seiner Zeit war der Enzyklopädismus in einer Weise in Misskredit gekommen, dass man darunter nur mehr eine geistlose Methode additiver Faktenhuberei verstehen wollte. Hatten noch knapp hundert Jahre zuvor Diderot und D’Alembert das Wissen der Aufklärung in der großen Encyclopédie in einem grandiosen Netzwerk von „Querverweisen“ präsentiert, war schon den nachfolgenden Generationen nichts Besseres mehr eingefallen, als aus dem Enzyklopädismus ein langweiliges und dennoch profitables buchhändlerisches Geschäft zu machen. In seinen „Einleitenden Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses“, die Humboldt seinem Hauptwerk „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ (1845) voranstellte, spricht er abschätzig von der „enzyklopädischen Oberflächlichkeit“, die er selbst in jedem Fall zu vermeiden trachte. Unmissverständlich wird klargestellt, dass die „Lehre vom Kosmos, wie ich sie auffasse, nicht etwa ein encyclopädischer Inbegriff der allgemeinsten und wichtigsten Resultate (ist), die man einzelnen naturhistorischen, physikalischen und astronomischen Schriften entlehnt.“12 Weder ging es Humboldt um eine nachlässig strukturierte Wissensanhäufung, noch um stupende Aneinanderreihungen von Allgemeinbegriffen, mit deren Hilfe sich ein beziehungsloses Spartenwissen

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Alexander von Humboldt: „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, Frankfurt am Main: Eichborn 2004, S. 25. Dass das umfangreiche Buch eine Enzyklopädie im besten Sinne genannt zu werden verdient, erhellen schon die von Humboldt ausgearbeiteten Inhalts-Übersichten, die er seinem in fünf Bänden publizierten Werk voranstellte. Sie umfassen selbst in der Platz sparenden Neuausgabe des Eichborn Verlags 24 Seiten, die die Fülle sämtlicher Gegenstände des „äußeren Sinnes“, die Humboldt beschreibt, bereits in eine innere Ordnung zu überführen trachten. Selbst hier trifft man immer wieder schon auf Ausformulierungen seiner Leitgedanken: „Die Geschichte der Erkenntniß des Weltganzen ist von der Geschichte der Naturwissenschaften, wie sie unsere Lehrbücher der Physik und der Morphologie der Pflanzen und Thiere liefern, ganz verschieden. Sie ist gleichsam die Geschichte des Gedankens von der Einheit in den Erscheinungen und von dem Zusammenwirken der Kräfte im Weltall.“ (S. XVII)

Exkurs 1

begründen ließe. Indem Humboldt die hohle enzyklopädische Praxis seiner Zeit geißelte, traf er exakt den Nerv des emphatischen Universalgelehrtentums, dem sich schon Forscher von der Statur eines Johannes Kepler oder Gottfried Wilhelm Leibniz verpflichtet hatten. Ihnen war es ja auch niemals um etwas anderes zu tun gewesen als um das, was Humboldt das Allerwichtigste und Wesentlichste seines ganzen Unternehmens nannte: „die innere Verkettung des Allgemeinen mit dem Besonderen, den Geist der Behandlung in Auswahl der Erfahrungssätze, in Form und Styl der Composition.“13 Gleich in der Vorrede tritt mit dieser Bemerkung das Außergewöhnliche seines Anspruchs unverstellt zutage. Die „Erfahrungssätze“, die sich der Anarchie des Empirismus bzw. einer Forschung verdanken, die unverhofft und sprunghaft Erkenntnisse produziert, will er einer geistvollen Auswahl unterwerfen. Diese versucht jede Naturbeobachtung mit dem Begriff, der sie verallgemeinern soll, so zu verbinden, dass dabei ihre Besonderheit nicht verloren geht. Denn das war ja gerade das Bewundernswerte an Humboldt, dass dieser Berserker, der nicht die geringste Rücksicht auf seinen Körper nahm, wenn es darum ging, einen Vulkan zu untersuchen oder einen Dschungel zu erkunden, schon ein modernes Feingefühl gegenüber den Ansprüchen und der Unversehrtheit des Besonderen ausgebildet hatte. Jedenfalls lässt sich in seiner Zeit kaum ein zweites Projekt finden, das trotz des Anspruchs, „im wellenartig wiederkehrenden Wechsel physikalischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren“,14 so viel Freude an der Entdeckung des Spezifischen und Unerwarteten verbreitete. Laut Humboldt muss die Einzelbeobachtung dem großen kosmischen Zusammenhang durch „innere Verkettung“ anverwandelt werden, mithin durch den Nachweis echter Verwandtschaft. Alles andere gebe ein Beispiel für enzyklopä-

13

Ebd., S. 7.

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Ebd.

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dische Oberflächlichkeit. Doch damit allein ist die Arbeit des modernen Kosmologen noch nicht getan: Humboldt stellt in dem angeführten Zitat aus der Vorrede außerdem die Forderung auf, dass die Verkettung und das „Zusammenwirken der Kräfte im Naturganzen“ anschaulich und lebendig geschildert werden müsse. Dem Geist der Goethezeit gehorchend machte er es sich zur Pflicht, beim Aufschreiben all seiner „Erfahrungssätze“ sich in einen Schriftsteller zu verwandeln, der seine Texte stilvollen Kompositionen unterwirft und den Gebrauch der richtigen Form und die Wahl eines gewandten Stils zu den wesentlichen Aufgaben seines Forschungsprojekts zählt. Der Anspruch, in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, stand bei Humboldt über allem anderen. Ihm ging es um eine Versöhnung von Idealismus und Empirismus, da er bei aller Begeisterung für die genaue Naturerkundung während weiter Entdeckungsreisen nicht von der philosophischen Spekulation auf den „Geist der Natur“ ablassen wollte. Damit diese aber nicht fremd und herrisch über das empirische Wissen herrschen konnte, schaltete er ein ästhetisches und ein anthropologisches Gefühl dazwischen. Ersteres sorge dafür, dass wir neben dem Allgemeinbegriff und der Einzelbeobachtung immer auch und zuallererst die Schönheit der Natur erkennen könnten, so dass uns „selbst das Schreckliche in der Natur, alles was unsere Fassungskraft übersteigt, in einer romantischen Gegend zur Quelle des Genusses“15 werde. Das anthropologische Gefühl hinwiederum gebe dieser Erfahrung die Grundlage, indem es dafür sorge, dass wir uns „mit allem Organischen verwandt“ fühlten. Dies wiederum habe zur Folge, dass solche Gefühle in Kombination mit der Empirie und der philosophischen Spekulation dazu beitragen, uns die Lebendigkeit der Natur unter dem strengen Begriff ihrer Einheit nicht verloren gehen zu lassen.16

15

Ebd., S. 11.

16

Wörtlich schreibt Humboldt: „So leiten dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen, wie später die Thätigkeit der combinierenden Vernunft, zu der Erkenntniß, welche alle

Exkurs 1

Doch weil ihm der psychologische Hinweis auf die Emotionen, die bizarre Landschaften und die schöne Natur in uns auslösen, nicht ausreichend erschien, um die Kluft zwischen der begrifflichen Abstraktion (dem theoretischen Wissen) und der empirischen Forschung (dem praktischen Wissen) zu schließen, ließ sich Humboldt noch den Naturgenuss einfallen, „der aus Ideen entspringt“.17 Letztere berichtigen die unreflektierte Empirie und geben ihr erst ein Erkenntnisziel. Wenn eine Beobachtung mit diesem Ziel, das auf die Einheit der Natur spekuliere, ausgerüstet sei, steige zugleich der Genuss der Natur. Humboldt trat mit dieser Meinung ganz entschieden gegen Denker wie Edmund Burke auf, welche geradewegs aus der Unkenntnis der Natur deren Bewunderung abzuleiten suchten. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass die Naturwissenschaften, denen er bereits für seine Zeit einen „glänzenden Zustand“18 attestierte, und die Kunstphilosophie (der ästhetische Diskurs des Naturschönen) getrennte Wege gehen. Nicht nur in dem Bestreben, eine umfassende physische Weltbeschreibung abzuliefern, sondern mehr noch in der Forderung, dass Kunst und Natur auch und gerade unter den Gesetzen der modernen Wissenschaft eine Einheit bilden sollten, präsentiert sich uns Humboldt als emphatischer Enzyklopädist. Und die Tatsache, dass er seine Forschung in Literatur kleidete, beweist, dass es nicht nur bei der Forderung blieb. Mit Kopf, Händen und Füßen wehrte er sich nicht nur gegen die Spaltung von Kunst und Wissenschaft, sondern wollte mit seinem eigenwilligen Wissenschaftsbegriff schon der drohenden Dichotomisierung der Geistes- und Naturwissenschaften widerstehen. Entsprechend betonte er: „Was ich physische Weltbeschreibung nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde), macht

Bildungsstufen der Menschheit durchdringt, daß ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge.“ (S. 11) 17

Ebd., S. 16.

18

Ebd., S. 23.

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keine Ansprüche auf den Rang einer rationellen Wissenschaft der Natur; es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen.“19 Dass mit „denkender Betrachtung“ eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche Investition gemeint waren, wird u. a. durch den Hinweis auf die historiographischen Anteile einer Arbeit deutlich, die im Großen und Ganzen das geglückte Beispiel einer „Erfahrungs-Wissenschaft“20 geben sollte. Diese profitiere, schrieb Humboldt, zunehmen von der Tatsache, dass inzwischen auch die Naturwissenschaften nicht mehr so sehr durch die Fülle, als vielmehr durch „die Verkettung des Beobachteten“ zu überzeugen verstünden. Und nun folgt im Blick auf Phänomene der Tier- und Pflanzenwelt, die lange Zeit isoliert nebeneinander standen, jetzt aber durch neue Entdeckungen endlich einen Zusammenhang zu bilden begännen, ein sensationeller Satz, der eine verborgene Pforte zwischen den Jahrhunderten aufstößt. Urplötzlich trifft ein heller Strahl aus unserer Zeit in Humboldts Studierstube, um sie für einen Moment auszuleuchten. Der Satz lautet: „Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe (Hervorhebung von uns), nach höherer Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken in der relativen Übermacht der Theile, stellt sich allmälig dem forschenden Natursinn dar.“21 Da haben wir’s: Die „denkende Betrachtung“, die wir Humboldt zum Trotz enzyklopädisch nennen, weil sie die isolierten Naturerscheinungen sinnvoll miteinander zu verknüpfen weiß, profitierte nicht nur vom Pioniergeist des großen Gelehrten und Abenteurers, und auch nicht nur von seinem Anspruch, wie ein Magier die unterschiedlichen Wissenschaften unter dem Dach einer modernen Kosmologie oder Weltbeschreibung zu

19

Ebd., S. 22.

20

Ebd., S. 23.

21

Ebd.

Exkurs 1

versammeln. Sie profitierte mindestens genauso schon von einer Methode, die wir in wissenstheoretischer Absicht der Architektur während ihrer Verwandlung von einer enzyklopädischen zu einer modernen Disziplin unterstellen. Und diese Methode besteht eben nach den Worten des großen Entdeckers darin, die allgemeine (d. i. die auf den Begriff gebrachte) Verkettung des Wissens nicht „in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe“ vorzunehmen. Resümieren wir daher: Humboldt hat ein vornehmlich aus der Empirie gewonnenes Wissen, das er sich bei seinen langen Forschungsreisen aneignete, zu den Grundbausteinen einer modern vernetzten Enzyklopädie machen wollen. Den Zusammenhalt dieser Bausteine aber sollte ein metaphysisches Theoriewissen gewährleisten: Die von den alten Griechen fort wirkende Spekulation auf die Harmonie des Kosmos und die daraus abgeleitete Synthese des Wissens, die den besessenen Empiriker Humboldt antrieb. Weiterhin eingebettet in den Kontext eines idealistischen Ganzheitskonzeptes, katapultierten ihn dennoch sein mutiges Wesen und sein vorurteilsloser Blick mitten in die Moderne. Freilich sollte es noch eine Weile dauern, bis sich die Idee des vernetzten Wissens abseits traditioneller Harmoniekonzepte derart weiterentwickelte, damit endlich Zusammenhänge darstellbar waren, die für das praktische Funktionieren der Welt stets wichtiger wurden. Doch können wir gerade mithilfe der modernen Entdeckung des Zusammenhangs der erkennbaren Welt den beiden zeitlich so fernen Konzepten des kreis- und des netzförmig organisierten Wissens eine gemeinsame Metaphysik unterstellen. Dies bedeutet natürlich, dass in der wissenstheoretischen Idee des Netzes, die wir im Folgenden ausführen, nicht nur eine neue anarchische Organisation und unhierarchische Struktur des Wissens aufscheint und Wirklichkeit wird, sondern zugleich die vormoderne Vorstellung eines kreisförmigen Wissens, das auf die Einheit der Welt vertraut, wie residual auch immer fortlebt.

Wissenstheorie der Netze

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Das Ende der Kreismetapher In der Moderne vermag das Enzy-

klopädische in dem ursprünglichen Sinn, dass das Weltwissen eine Einheit bildet und dementsprechend als ein mit Kreisen und Kugeln symbolisierbares oder als Monade imaginierbares einheitliches Ganzes gedacht werden kann, keine konstitutive Eigenschaft der Architektur mehr zu sein. Viel zu lange hat die Menschheit es schon mit unüberschaubaren und heterogenen Wissensmengen zu tun. Vermutlich waren diese immer schon zu groß für eine einzelne Disziplin, doch hoffte man die Menge des Gewussten ordnen und beherrschen zu können, solange den Gelehrten der irdische Kosmos im Unterschied zur Unendlichkeit Gottes überschaubar dünkte. Nicht nur die ins Unermessliche angewachsene Quantität des Wissens hindert uns daran, Universalgelehrte alten Stils zu sein, sondern ebenso das Ende der Illusion, die in alle Welt versprengten Ideenparadiese (Novalis) einst wieder zusammenführen zu können. Wenn wir den Anspruch auf eine Universalität, die sich enzyklopädisch verwirklicht, nicht im wörtlichen Sinn auf einen potentiellen Wissensträger projizieren, sondern als Teil eines Konzepts betrachten, das tatsächliche und ideelle Eigenschaften der Architektur beschreibt, wäre dennoch zu fragen, ob das Enzyklopädische für einen modernen Begriff von Architektur wünschenswert und einlösbar ist. Zur Eigenschaft eines solchen Begriffs würde ja gehören, dass er realiter oder idealiter, konkret oder symbolisch das Wissen der heutigen Welt und über die heutige Welt in sich vereinte. Mit der fragwürdigen Folge, dass im Unterschied zu den Avantgarden, die mit

Wissenstheorie der Netze

einer progressiven Reformulierung des Alten die Fundamentalkritik der Moderne im Schilde führten, ein traditionalistisches Weltbild restauriert würde. Auch wenn man dessen wissenschafts- und vernunftskritischen Nachhall wohl vernähme, bliebe der Makel daran haften, dass es sich hierbei um eine sentimentale Übertragung mythischer und kosmischer Ordnungsvorstellungen in die Architektur handelt, und zwar allein deshalb, weil auch sie eine Ordnung begründende und schaffende Disziplin ist. Tatsächlich war letzteres der Grund, warum das Architektonische und Kosmologische in eins gedacht wurde, und Architektur und Theologie in einem „klebrigen“ Verhältnis standen. Demgegenüber wollen wir die These verfechten, dass die mit dem Wissensbegriff des Enzyklopädischen historisch vollzogene Intervention religiös geprägter Weltanschauungen ins Architektonische nicht die Säkularisierung der Architektur verhindert. Vielmehr gehen wir davon aus, dass sie in der Moderne Züge ihres ursprünglichen Wesens beibehalten hat. Was umso klarer wird, wenn ihr enzyklopädischer Charakter wissenschaftstheoretisch neu definiert und von der religiös aufgeladenen Kreis- und Kugelmetapher und den damit einhergehenden Architektur- und Wissensformen emanzipiert wird. Der Kreis gibt nicht nur ein griffiges Bild, er gibt auch eine grundlegende Ordnungsstruktur des Wissens vor. Ordnungspolitisch umfasst er sämtliche Wissenschaften, beispielsweise die klassischen Universalwissenschaften, die Real- und Geisteswissenschaften, sowie unter deren Regime alle Einzelwissenschaften und bei fortschreitender Segmentierung sogar jeden einzelnen Wissenspartikel. Ein derart schematisches Ordnungssystem mag für die Aufbewahrung und Auffindung von Büchern in Bibliotheken von Alexandria bis Washington einigermaßen praktikabel sein. Es mag sogar aufgrund der Erfindungen moderner Retrieval-Techniker und mithilfe von Facettenklassifikationen und Keyword-Vergaben seine eigene Starrheit zu überlisten. Derartige “Tricks“ sind notwendig, um das Wissen einigermaßen inhaltsbezogen unterbringen zu können; schließ-

53

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Der Kreis: eine hierarchische Ordnung allen Wissens

lich entsteht es ja in der Moderne nicht nur durch die Ausdifferenzierung einzelner Gattungen, sondern in Zwischenreichen und den synergetischen Verbindungen von zum Teil weit voneinander entfernten Disziplinen. Doch trotz listenreicher Manöver erweist sich die alte, enzyklisch organisierte Wissensordnung oft genug als hinderlich für alle diejenigen, die keine Wissenschaftler sind, da es die von ihnen benötigten Informationen in den zentriert geordneten Spalten und Höhlen klassischer Wissensorganisation versteckt hält. Arten des Wissens Orientieren wir uns nun neu und inte-

ressieren uns für eine Organisation des Wissens, die sich – gleichsam in Umkehrung der vormodernen Ordnungsgewalt (um nicht zu sagen: von der göttlichen zur anthropogenen Ordnung) – am Wissensbedarf derer orientiert, die auf und in unserer Welt in konstruktiver Absicht handeln. Beispielhaft steht für sie der Architekt, der ein innerweltlich Handelnder par

Wissenstheorie der Netze

excellence und zugleich dadurch ausgezeichnet ist, dass in seine Praxis die Aktivitäten des Forschers und Künstlers wesentlich hineinragen, so wie wir dies bereits beschrieben haben. Wir unternehmen nun den Versuch einer systematischen Erklärung und gehen dabei von der zentralen und konstitutiven Besonderheit der Architekturproduktion aus: vom Entwerfen, das ja schon als eigenständige Form kognitiver Tätigkeit deutlich wurde. Hierbei interessiert nicht, ob ein Architekt den Entwurf eines konzeptionellen Gedankengebäudes intendiert oder konkrete Baupläne für ausführende Handwerker erstellt. Im einen wie anderen Fall halten Architekten Wissen vorrätig, doch resultiert aus ihrem Wissensrepertoire nicht automatisch der Entwurf. Vielmehr ist es so, dass sie beim Entwerfen eines Artefakts (einer Idee, eines Konzeptes oder Planes) Wissen benötigen, zugleich aber – und das erscheint uns wichtiger – immer auch Wissen erzeugen. Wer handelt, benötigt Wissen über die Umgebung, in der er handelt, sodann darüber, in welche Richtung er diese Umgebung durch sein Handeln verändern will, und schließlich muss ihm auch klar sein, welches die Instrumente seines Handelns sind und sein könnten. Im Folgenden übernehmen wir eine Klassifikation des Planungs- und Wissenstheoretikers Horst Rittel (1930 – 1990). Fünf unterschiedliche Wissensarten22 hat er für Handelnde als relevant, ausreichend und vollständig postuliert: Faktisches Wissen bezieht sich auf das, was wir Sachverhalte in der realen Welt nennen; deontisches Wissen enthält Aussagen über das, was der Fall sein soll; instrumentelles Wissen stellt die Mittel, Techniken, Technologien, Wege, Prozeduren und Methoden bereit, mit deren Hilfe man das, was verändert werden kann oder soll, erreichen kann; explanatorisches Wissen erklärt, warum etwas der Fall ist oder der Fall sein wird, und

22

Die ersten vier Kategorien des Wissens für Handelnde haben Werner Kunz und Horst Rittel in ihrem Buch „Die Informationswissenschaften“ (München/Wien: Oldenbourg 1973, S. 37) unterschieden; die fünfte hat Rittel später hinzugefügt.

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erklärt zudem das Funktionieren der Welt, indem es Modelle dieses Funktionierens anbietet; konzeptuelles Wissen besagt, was unter einer Bezeichnung verstanden werden kann oder soll. Die Repräsentation all dieser Wissensarten kann verschiedenste Formen annehmen: Tabellen, Zahlen, Aussagen, Zeichnungen, Skizzen, Pläne, Piktogramme, Beschreibungen, Anweisungen, Argumente, mathematische Simulationsmodelle, 3D-Modelle, Graphen, Wünsche, empirische Ermittlungen, Bücher, Internetseiten… Entstehung des Wissens Zu Beginn des Entwerfens ist keinem Entwerfenden die Gesamtheit des Wissens präsent, das für seinen Entwurf relevant sein könnte. Er weiß weder, welches Wissen ihm zu Hilfe kommen könnte, noch, wo es zu finden wäre. Und wenn ihm das alles schließlich klar sein sollte, weiß er nicht sogleich, ob er dieses Wissen akzeptieren, bezweifeln oder vertiefen soll. Kurzum: Der Entwerfer befindet sich in einer Situation des Unwissens, weshalb zu Beginn eines jeden Entwurfs als adäquater Ausdruck dieses Unwissens Fragen gestellt werden, so der Befund Rittels.23 Beispielsweise grundsätzliche Fragen nach dem Sinn, Zweck und der Bedeutung dessen, was entworfen werden soll. Mit dem fortlaufenden Aufwerfen von Fragen und dem Versuch ihrer Beantwortung entsteht Wissen. Dieses erzeugt der Entwerfende teils selbst, indem er ein Konzept erfindet, eine Technik auswählt, eine ästhetische Entscheidung trifft, eine Idee skizziert oder einen Plan zeichnet. Entwerfen kann man alleine oder in fortlaufendem Austausch mit anderen. Die eigenen Argumente und die der anderen sind allesamt Wissensbeiträge. Doch kann das zu nutzende Wissen auch aus einer Modellrechnung, einem

23

Vgl. den dieser Buchpublikation vorangegangenen, in den USA viel zitierten Aufsatz von Werner Kunz und Horst Rittel: „Issues as Elements of Information Systems“, in: working paper 131, College of Environmental Design, University of Berkeley, California 1970.

Wissenstheorie der Netze

Forschungsbericht, einem Zeitschriftenartikel oder belletristischen und wissenschaftlichen Büchern entnommen werden. Nicht selten verdankt sich Wissen, das in architektonische Entwürfe einfließt, intensiver Kunstrezeption: dem Musikhören, dem Besuch einer Ballettaufführung oder Kunstausstellung. Entscheidend ist in allen Fällen, dass die Initiation zur Entstehung dieses Wissens von den Fragen des Entwerfenden ausgeht. Diese allein bestimmen, ob ein vorhandenes Wissen durchforstet, Experten aufgesucht, die Modellierung einer Teilwirklichkeit vorgenommen werden muss, oder weiterführende Fragen auf die Agenda gesetzt und zur Diskussion gestellt werden. Zur Netzstruktur des Wissens Die Wissensstruktur tritt zutage,

wenn wir beobachten, wie sich das Wachstum des Wissens entwickelt. Es folgt keiner vorgegebenen Ordnung, sondern gemäß dem suchenden Interesse des Akteurs, entsprechend seiner Intuition, zu fragen, und entlang seiner Neugier, sowie seiner aktuellen Aufgabenstellung, die ihn veranlasst, nach Information zu suchen. Vor allem aber wächst sein Wissen in Abhängigkeit zu dem, was er schon weiß, weil sich aus diesem Fundus seine individuelle Art bestimmt, Dinge zu beurteilen, zu problematisieren und ggf. zu verändern. Die Verbindung zwischen den einzelnen Wissenspartikeln entsteht dadurch, dass man sie nicht automatisch, sondern aktiv, einsichtig, phantasievoll und analytisch herstellt und benennt. Wissensrelationen und Wissensordnungen werden gemacht, sie existieren nicht unabhängig von den Akteuren. Das Wissen ist in seiner Struktur nicht hierarchisch, da alle Fragen und Wissenspartikel in Verknüpfung mit weiteren Fragen und fortlaufendem Wissen Resultate autarker Such- und Entwicklungsentscheidungen zeitigen. Dies schließt notwendig ein, dass kleine und größere Wissensmengen stets quer zu Gattungsgrenzen und über große klassifikatorische Distanzen hinweg miteinander verknüpft werden. Bestehende Ordnungssysteme und Klassifikationen erscheinen irrelevant angesichts

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Statt hierarchisch geordnet …

…präsentiert sich das sich entwickelnde Wissen als Netz

der autonomen Suchstrategien Wissen sammelnder und verbindender Akteure. Die Intelligenz ihres Vorgehens besteht darin, die enzyklopädische Ordnung dem Diktat aktueller Denk- und Handlungsvorgänge zu unterwerfen. Da moderne Systemtheoretiker nicht-hierarchische Strukturen Halbverbände oder Netze nennen, machen wir den Vorschlag, uns das beim Entwerfen spezifisch erzeugte Wissen der Architekten in einer Netzstruktur vorzustellen. Jede im Vorhinein aufgestellte klassifikatorische Ordnung wirkt als starkes Hemmnis der Phantasie, des Assoziationsver-

Wissenstheorie der Netze

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Ein Netz der Disziplinen, die Architekten beim Entwerfen befragen und integrieren

59

mögens, der Ausbildung von Kritik und dem Talent, zwischen scheinbar Beziehungslosem einen sinnvollen Zusammenhang zu stiften. Es gibt keine Autorität, die den Entwerfer in diesen Vorgängen einschränkt. Dies ist – neben der ohnehin zu konstatierenden typischen Querlage von Planungsproblemen – ein weiteres Argument für die prinzipiell anarchische Struktur der Wissensnetze, in denen wir und mit deren Hilfe wir nach Lösungen suchen. Aus dem gleichen Grund sind auch die Wachstumsrichtungen des Wissens nicht voraussagbar. Sie sind in Form und Ausdehnung unkalkulierbar und unüberschaubar. Das Ende des Fragens und damit auch das Ende des Wissens, das für einen bestimmten Entwurf nötig scheint, bestimmen stets der Entwurfsautor und/oder das Entwurfsteam. Einschub: ein etymologischer Zufall? Sucht man nach den sprachlichen Ursprüngen, in denen das Bedeutungsfeld für den Netzbegriff entstand, stoßen wir unter anderen Funden auch auf ein altes Wort, das einen überraschenden Sinnzusammenhang stiftet. Das Griechische `kh´d (bolä) übersetzen wir im Deutschen mit Wurf, Schuss und zuweilen mit Blick, da man ja auch Blicke werfen und mit ihnen sogar „töten“ kann wie mit Schüssen. Dass die Griechen unter ¡’ +`´_hh¡fi „hineinwerfen“ verstanden, rückt es in die Nähe des Ent-Werfens. Zudem bedeutete `kh´d ursprünglich „Fischfang mit dem Netz“ und zugleich das „Auswerfen eines Netzes“.24 Entspre’ + f`´_hh¡fi: „sich einen Umhang oder Schal chend heißt _ umwerfen“ sowie: „jemanden umgarnen“, was bei diesem wiederum Zweifel, Verlegenheit und große Bedrängnis auslösen ’ + f`kh´f_ (amphibolia) kann, welches die Griechen mit _ wiedergeben.

24

www.operone.de/stw/greek.php, 15.11.2009

Wissenstheorie der Netze

Ent-Wurf: Auswurf eines Netzes

Netzarchitektur (Buckminster Fuller, Biosphère Montreal, 1967 – gebaut als Pavillon der USA für die Expo 67)

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Aufgrund dieser vielfältigen Bezüge kann das Adjektiv ’ + ´f`khkn nicht nur in moderner Deutung als „vernetzt“ _ wiedergegeben, sondern mit gleichem Recht als umgarnt, zweifelhaft, ungewiss und ratlos übersetzt werden. Wir sehen auf diese Weise, dass 1. im Entwerfen der „Wurf“ als gleichsam genialer Vorgang und ebenso seine Einbindung in ein weites Netz von Bezügen mitschwingt, und dass damit 2. zugleich der Zweifel angesprochen wird, der jedem Entwerfer innewohnt, sowie die Ratlosigkeit, die ein Entwurf bei seinen Betrachtern und ein realisierter Bau bei seinen Nutzern hervorrufen kann. Doch sind damit die Interpretationen, die im Entwerfen stecken, immer noch nicht ausgelotet, da ja mit dem, was man sich als Kleidungsstück umwirft obendrein der textile Ursprung der Architektur angesprochen wird, über den Gottfried Semper in einer Weise zu spekulieren verstand, die viele Architekten heute noch in Bann schlägt. Permanentes

Wachstum

Eine wesentliche Eigenschaft des Architekten- und Planerwissens ist sein permanentes Wachstum. Wenn wir in dieser Permanenz ein Prinzip erkennen – als Resultat grenzenloser Neugier sowie der Eigendynamik, die sich in der Verfolgung kausaler Verflechtungen entwickelt – dann ist auch das Netz des Architektenwissens als unendlich definiert. Ein weiteres Argument für seine Unendlichkeit kann man aus der Beschäftigung mit den Folgewirkungen einer erwogenen Maßnahme oder Intervention schöpfen. Kausale Vorgänge sind nicht nur unendliche Ketten, weil jede Folge gleichzeitig Ursache für eine neue Wirkung sein kann, sondern sind auch in einem Wirkungsnetz unendlich divers verteilt. Das Architektenwissen ist schon deshalb situationär, weil es sich am Entwurfsgegenstand und allen Fragen, die damit einhergehen, orientiert. Auch diejenigen Wissenspartikel, die nach gängiger Wissenschaftskonvention für allgemeingültig gelten, verlieren sogleich ihre universelle Bedeutung, wenn der Architekt allein ihre Entwurfsrelevanz im Auge hat. Zudem ist Architektenwissen a-disziplinär, da seine Bestandteile keiner

Wissenstheorie der Netze

bestimmten Disziplin mehr angehören bzw. von unterschiedlichsten Wissenschaften erborgt, sodann entgegen ihrer akademischen Gepflogenheiten weiterverarbeitet werden und nicht selten unkenntlich in dem Artefakt, das der Entwurf darstellt, und dem Kunstwerk, das er notiert, verschwinden. Architektonische Wissensnetze entwickeln sich dynamisch in Abhängigkeit zu den im Entwurf generierten Fragestellungen. Maßgebend ist hierbei das jeweils vorherrschende Erkenntnisinteresse, das sich stets ändert in Orientierung an den ständig wechselnden Bedingungen und Anforderungen, die an den Entwurf gestellt werden. Permanent altern Ideen im Entwurfsprozess, wandern in den Papierkorb, um neuen Erwägungen Platz zu machen. Mir diesen Veränderungen wird immer deutlicher, dass das Planerwissen prinzipiell unvollständig bleibt. Bereits die Festlegung des Systems, in dem die Lösung gesucht und angesiedelt wird, bedeutet die Reduktion eines komplexen Ganzen auf die Simplizität eines Ausschnitts. Und innerhalb dieses Ausschnitts häkeln abermals Relevanzentscheidungen das Wissensnetz kleiner, um den Gegenstand nur umso handhabbarer erscheinen zu lassen. Die Unendlichkeit der Wirkungsketten, die im Netz verfolgt werden können, setzt der Vollständigkeit eine prinzipielle Grenze. Umgang mit Komplexität Intendiert die reale Architektur-

produktion einerseits, den Netzausschnitt für den jeweiligen Entwurf pragmatisch zu vereinfachen, weil jede Materialisierung Entscheidungen im zeit- und einflussbegrenzten Raum nahe legt, so fordern andererseits Offenheit, Relationalität und die stetig wachsende Struktur des Netzes, Zusammenhänge ins Auge zu fassen, die über solche Begrenzungen und Simplifizierungen hinausweisen. Dem entspräche zugleich der Wunsch, die Architektur in einem universal gedachten Wissensnetz zu verankern. Dennoch müssen wir sehen, dass die beiden Ansprüche an die Architektur – vom universalen Wissensfundus der Netze zu profitieren und dennoch Inspiration und Realisierungschancen in den Grenzen realer Kontexte zu suchen – sich gegenseitig in Schach halten.

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Komplexität heißt ja nicht nur, dass viele Elemente durch unterschiedlichste Relationen miteinander verknüpft sind. Es bedeutet darüber hinaus, dass die Interaktionen der Teile eines Systems alles andere als einfach zu verstehen sind. Das Ganze ist stets mehr und andres als die Summe seiner Teile. Für den Prozess der Architekturproduktion folgert daraus: Es ist nicht erlaubt, aus den Eigenschaften von Teilen und den Gesetzen ihrer Wechselwirkungen auf das Ganze zu schließen. Zumal ihre Beziehungen untereinander unterschiedlich stark und möglicherweise unstabil sind. Teilsysteme dienen divergierenden Zielen wie ökologischer Effizienz vs. ästhetischem Konzept vs. sozialer Akzeptanz etc; ihre Harmonisierung folgt keiner verifizierbaren Funktion. Diese Art „nervöser“ und disparater Beziehungen und Eigenschaften sind bereits im Netz des Wissens repräsentiert als kontroverse Positionen beteiligter Interessenten oder als diverse Anforderungen aus verschiedenen Teilsphären. Als problematisch erweisen sie sich allerdings erst in der Architekturproduktion. Findet diese in einem sozialen Kontext statt, dessen Akteure in je eigenem Interesse Einfluss auf den Plan für ein Haus oder eine Stadt nehmen, erweitert sich die Komplexität der Entwurfaufgabe um Kategorien wie Diskurs und Macht. Bei Konflikten entstehen sodann dilemmatische Entscheidungssituationen.25 25

Aristoteles hielt in klarer Sicht dieses Dilemmas das Konzept der „Phronesis“ bereit. (Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam 1969, S. 156 ff.) Es ist ein geistiges Vermögen, welches normative Einsicht mit Erfahrungen verbindet, die in der Praxis gewonnen wurden; Phronesis (Klugheit des Handelns) befähigt zu vernünftigem Handeln. Sie wird subjektiv erworben, doch kann der Einzelne sie nicht für sich reklamieren. Sie muss einer Person von den Mitbürgern zugeschrieben werden. Das aber kann nur geschehen, wenn diese Person bewiesen hat, dass sie ihre aus der Praxis erworbenen Erfahrungen verantwortlich und erfolgreich zu gebrauchen weiß. Ihre Fähigkeit muss sich gezeigt haben und entsprechend kommuniziert worden sein, damit ihr Urteilsvermögen dem der anderen überlegen gilt. Zu untersuchen wäre, ob und in welcher Weise auch im Netz Zuschreibungen dieser Art vorgenommen werden.

Wissenstheorie der Netze

Zu den Eigenschaften von Architektur zählt auch ein ihr innewohnendes Metawissen, das gegenläufig zu ihrem enzyklopädischen Anspruch die Unvollständigkeit der Vollständigkeit vorzieht, weil sie eine entschiedene Wissensselektion vornimmt, die allein schon die Tatsache der Unendlichkeit der im Netz verfolgbaren Wissensketten nahelegt. Man kann es eine Art „kontrollierter Ignoranz“ nennen, die wie ein Auswahlfilter funktioniert, der reflektiert gehandhabt werden soll und kann. Würden wir analog zur Theorie des Enzyklopädismus auch der Wissenstotalität der Netze Harmonie unterstellen wollen, stünde dies sogleich im krassen Widerspruch zu realen Debatten und Machtkonstellationen, die dort stattfinden. Die moderne Ignoranz gegenüber der alten Idee eines vollkommenen Wissens reagiert auf Mechanismen, die mithilfe von Diskursen oder auch qua Machtanspruch all die Urteilsdiversitäten, die unsere Wissensnetze in ständige Vibration versetzen, auflösen wollen. Dies geschieht letztlich mit dem Anspruch, die Akteure im modernen Wissensnetz handlungsfähig zu machen. Zudem sind im Umgang mit nicht-additiven bzw. „unharmonischen“ Zusammenführungen von Teillösungen andere „Logiken“ gefragt. So etwa die Koexistenz von x und nicht-x; die Verzeitlichung, Prozessualisierung des Gleichzeitigen;26 die Emergenz neuer Lösungen, wenn divergierende Ansprüche durch den engen Flaschenhals der Ideenkonzeption gepresst werden. Der Kompetenz der konzeptionellen und der künstlerischen Kreativität sowie des transparenten Urteilens haben sich Fähigkeiten hinzugesellt, die in Konfliktsituationen transparent zu argumentieren und selbstverständlich auch mit Macht umzugehen wissen. Es muss uns also Komplexität nicht schrecken. Ihre Eigenschaften sind letztlich die des Wissensnetzes selber, das wir zu beschreiben suchen. Alles zusammen entspricht einer modernen, nicht länger wissenschaftsgläubigen Konzipie26

Siehe dazu auch Wolfgang Dehm et al.: Wirkung statt Wahrheit, in: wiwa 3.doc, 6. 2.1998

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rung enzyklopädischen Wissens in der Architektur. Bereits die Erzeugung des Wissensnetzes als Strukturierung eines Gegenstandsbereichs stellte einen ersten Schritt zur Bewältigung von Komplexität dar. Weitere Schritte bestünden darin, prozedurale Fragmente zu entwickeln, die den Umgang mit komplexen Architekturproblemen erleichtern, wie etwa Diskurslogiken, Urteilsreflektion oder eben ein vertieftes Wissen um moderne Wissensarchitekturen. Enzyklopädik des Netzes Vergewissern wir uns kurz der bislang

beobachteten Eigenschaften: Das Netz enthält vielfältiges Wissen, antizipiert Wissen in virtuellen Verknüpfungen, wächst unüberschaubar und permanent und ist im Prinzip unendlich. Das Netz ist nicht-hierarchisch, allenfalls kann man sagen, es sei „schwach“ strukturiert durch die ihm eingelagerten Logiken der Abfolge von Such- und Findungsstrategien, die den Entwerfenden leiten, sobald er Relationen herstellt. Zudem ist das Netz des Wissens der Architektur dynamisch, situationär, anarchisch und komplex. Gleichwohl erweist es sich in Struktur, Inhalt und Ausdehnung immerzu als Produkt und Artefakt seiner Nutzer und Erzeuger. In seiner unendlichen Ausdehnbarkeit, Heterogenität, Transparenz und unübertroffenen Verknüpfungsqualität stellt das Netz ein Modell des Wissens zur Verfügung, das in der Moderne den Kreis als Bild einer idealen, harmonischen und geschlossenen Ordnung abgelöst hat. Doch können wir auch das Netz in einem ideellen Sinn als universal bezeichnen, da es die Gesamtheit des für einen bestimmten Architekturentwurf verfügbar zu machenden Wissens repräsentiert. Als Akteure sind Architekten und Planer stets irgendwo im Netz positioniert. Kennen sie ihren Standort und bewahren sie von dort aus den Überblick über seine Struktur und Ausdehnung, stehen sie durchaus weiterhin in der Tradition der Enzyklopädisten und Universalgelehrten. Wir haben der großformatigen Metaphysik enzyklopädischer Architektur, die sich zum Statthalter des göttlichen Welt-

Wissenstheorie der Netze

baumeisters aufplusterte, eine andere Interpretation des Architektonischen zur Seite gestellt, die einen zugleich kleineren und größeren Maßstab aufweist. Kleiner ist er, weil der entwerfende Mensch nicht mehr das große Ganze des Schöpfungsplans zu imitieren sucht, sondern die Gestaltung seines temporären Auftritts in der Erdgeschichte in Angriff nimmt. Größer ist er, insofern architektonische Entwürfe in der Moderne stets als Interventionen angelegt sind, die vor dem Hintergrund vernetzten Wissens Bezüge zu einem Kontext aufweisen, der sich jederzeit zu einem globalen erweitern kann. Die im Zuge des Entwerfens geknüpften Wissensnetze können partiell als wissenschaftlich bezeichnet werden, da ihre Transparenz und ein Teil der von ihnen eingefangenen Ideen, Konzepte, Theorien und Befunde den Wissenschaftskonventionen folgen. Zugleich können wir die Produktion von Wissensnetzen als künstlerisch beschreiben, da ja die Entwicklung von Sollwissen immer höchst artifiziell und „artefaktisch“ vonstatten geht. Die wichtigste Voraussetzung der Netze aber bildet die handlungsorientierte Definition und Ordnung des Wissens. Es steht quer zu den traditionellen Klassifikationsschemata des universalen Wissens, ist aber gleichwohl in der Lage, diese in sich aufnehmen. Im vollen Bewusstsein der Differenzen von Kreis- und Netzmetapher stellen wir fest, dass auf Grund der notwendigen Einbindung der distinkten Konzepte von Kunst und Wissenschaft eine Aktualisierung des historischen Anspruchs der Architektur auf Universalität über die Struktur der Netze möglich ist. Im deutlichen Unterschied zum vormodernen Charakter des Enzyklopädismus stellt die Netzstruktur eine genuin moderne Errungenschaft dar. Das Netz repräsentiert eine nicht-hierarchische universale Agglomeration des Wissens und ist heute in einer ähnlichen Weise architektonisch, als sinnvoll geordnetes Gefüge, zu begreifen, in der einst das enzyklopädische Wissen als Architektur verstanden und in konkreten Bauwerken veranschaulicht wurde. Was der Kreis einschloss und limitierte, entfesselt das Netz und legt es frei. Das Netz erscheint

67

uns darum der Architektur verwandt und in besonderer Weise zugehörig, da ihre Produktionsweise, das Entwerfen, Ausdruck vernetzten Denkens ist und uns die wichtigsten Eigenschaften der Architektur in der besonderen Kognition des Entwerfens deutlich geworden sind. Die Affinität des Enzyklopädischen zu Netzstrukturen zeigt sich schon darin, dass bereits den historischen Enzyklopädisten die Unmöglichkeit bewusst war, als Einzelne oder als kleines Team (vgl. die französischen Enzyklopädisten) das Wissen vervollständigen und verlustfrei über ein vollkommenes Wissen verfügen zu können. Aus diesem Grund versichert sich der kluge Enzyklopädist zum einen der Strategie der Archivierung und Strukturierung desjenigen Wissens, das sich mit anderem Wissen sinnvoll verknüpfen lässt, und zum anderen der Strategie der Vernichtung überflüssigen Wissens, das dieser Verknüpfung im Wege steht.27 Mit Sicherheit ist das Entwerfen eine Tätigkeit, die nicht der Architektur allein zugeschrieben werden darf, doch scheint sie ihr in einem Maße zugehörig, dass wir die These aufstellen können: Es sind netzförmige Wissensstrukturen, die der Architektur den Eintritt in die Moderne ermöglichen und ermöglicht haben. Einen Eintritt im übrigen, der keineswegs nur von Verweigerung und Selbstverleugnung geprägt ist; im Gegenteil – es spricht viel dafür, dass die enzyklopädische Architektur, die im Kreissymbol ihre Erfüllung und Beschränkung fand, in der Moderne als eine Wissensdisziplin fortlebt, die im Modell des Netzes und in der Realität der Netzwerke einen zeitgemäßen Ausdruck und ein adäquates Entfaltungspotential gefunden hat.

27

Vgl. hierzu „Dialektik des Enzyklopädismus“, in: Gerd de Bruyn: Die enzyklopädische Architektur, Bielefeld: transcript 2008, S. 101 – 105.

Exkurs 2: Die Rede vom Rhizom Als die Kybernetiker und

Systemtheoretiker der ersten Stunde – William Ross Ashby (1947: „self-organizing“), Norbert Wiener (1948: „Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“), Ludwig von Bertalanffy (1949: „General System Theory“), John von Neumann (1958: „Die Rechenmaschine und das Gehirn“) und andere – ihren Forschungsansatz propagierten, ging es ihnen um die Begründung einer neuen Disziplin. Sie sollte dazu fähig sein, unterschiedlichste Phänomene aus Natur, Wirtschaft und Gesellschaft, die in den klassischen Wissenschaften isoliert voneinander betrachtet werden, mit einer gemeinsamen Sprache präzise zu beschreiben und mittels gemeinsamer Wirkungsmodelle zu erklären. Auf diese Weise rückten die Phänomene eng zusammen und kamen in den Genuss so abstrakter und antithetischer Eigenschaften wie hierarchisch/vernetzt, offen/geschlossen, statisch/dynamisch, determiniert/probalistisch, sich selbst regelnd/regelungsbedürftig. Doch schon dieser relativ harmlos klingende Umstand signalisierte einen ungewöhnlichen Aufbruch aus den Universalwissenschaften. Wir haben schon erfahren: Netze sind spezielle Systeme, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Elemente mit beliebigen anderen Elementen eine Verbindung haben können, ohne ihnen unter- oder übergeordnet zu sein. Netze werden besonders interessant, wenn man, wie Jay Wright Forrester – ein Pionier der Computertechnik und Begründer der sogenannten „System Dynamics“ (1962) – das Verhalten von Systemen wie z. B. Städten („Urban Dynamics“) mit untereinander abhängigen Variablen simulieren will, oder wenn Ereignisse in gesellschaftlichen Teilsystemen, wie beispielsweise dem technischen, unvorhergesehene Auswirkungen auf andere Teilsysteme (z. B. dem der Ökonomie) haben. Die erregendste Anwendung fand seine Entwicklung durch seinen Schüler Meadows, der für das ökologische System Erde 1972 „Die Grenzen des Wachstums“ simulierte und angesichts der zu erwartenden schockierenden Folgen die politische Diskussion über den Erhalt der Erde als Behausung des Menschen eröffnete.

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Hierarchische Systeme sind einfacher zu handhaben; sie haben eine lange Denktradition, scheinen überschaubarer und dem Gehirn zugänglicher zu sein. Entsprechend hegten die Design- und Entwurfstheoretiker der 50er Jahre, die ihre methodische Orientierung am gerade entstandenen Operations Research gewonnen hatten, die Vorstellung, man könne Entwurfsprobleme in immer kleinere Bestandteile „herunterbrechen“, diese sukzessive lösen und dann sämtliche Teillösungen zu einer Gesamtlösung zusammenführen. Dass sich diese allzu naive Arbeitshypothese für die Aufgabe der Umweltgestaltung auf Dauer nicht aufrecht halten lasse, wurde jedoch den Theoretikern der Disziplin schon bald klar. 1965 erschien der prominente Essay Cristopher Alexanders: „A City is not a Tree“, der Maldonado-Schüler Gui Bonsiepe schrieb: „Arabesken der Rationalität“ (1967) und der Architekt und Utopist Yona Friedman definierte in: „Gruppen, Netzwerke“ (1977) Gemeinschaften und Gesellschaften als Netzwerke, deren Grundbaustein das Individuum ist. Zudem löste sich das systemanalytische Denken von der Vorstellung einer „1. Generation“ von Kybernetikern und Systemtheoretikern, die Probleme der Planer seien in definierten Lösungsräumen auf der Basis vollständiger Information und bei fixierbarem „Gütemaß“ zu behandeln. Stattdessen stellte Horst Rittel als Initiator einer „2. Generation“ des Systemdenkens fest, dass Planer und Architekten durchaus mit „bösartigen“ Problemen befasst sind, für die es viele Expertisen gibt, für die aber keine Eingrenzungsregel gilt und schon gar kein eindeutiges Gütemaß existiert. Vielmehr ging man nun davon aus, dass Pläne Resultate offener Argumentationsnetze und deren Träger sind.28

28

Horst Rittel: „On the Planning Crisis: Systems Analysis of the ´First and Second Generations´“, in: Bedriftsökonomen, no 8, Oktober 1972, S. 390 – 396; ders. zusammen mit Melvin Webber: „Dilemmas in a General Theory of Planning“, in: Policy Sciences 4, 1973, S.155 – 169.

Exkurs 2

Von nun an leiteten Vorstellungen eines vernetzten Denkens und Handelns die Perspektiven der Architekten und Stadtplaner auf die Welt. Netze erschienen auf der Handlungsebene und ebenso im operationalen Bereich leistungsfähig, um Zusammenhänge zwischen Wissens- und Wirkungspartikeln darstellen zu können. Zudem wurden sie als universelle Denkstruktur analysiert, die neue Initiativen auslöst, um Teilwelten zu beschreiben und zu gestalten. Für Frederic Vester (1980: „Die Kunst vernetzt zu denken“) eröffnete sich auf diese Weise die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen Teilen der Umwelt zu beschreiben und damit der Planung zugänglich zu machen. Das Netz wurde zum universalen Konzept: Teams in der Industrie und in den Hochschulen, aber auch Machtstrukturen, soziale Hilfen, Beziehungen, Firmen, Handel, Kommunikation, Nachrichten, Geheimdienste – es gab nichts mehr, was nicht mit dieser Struktur beschrieben werden konnte. Inzwischen sind Hypertext und Internet die im Alltag präsenten Formen des Netzes.29 Durch seine Herkunft aus der Welt der Systemtheorie, die sich als Modellierungsinstrument für Phänomene verschiedener Wissenschaften verstand, aber auch durch seine fast schon inflationäre Beschreibungskraft ist das Netz so gewöhnlich, so prosaisch und anziehend wie gewöhnliches Straßenpflaster geworden. Doch unter dem Pflaster liegt bekanntlich der Strand. In ihm begann 1976 etwas Neues zu wuchern: die Rede vom Rhizom. Begonnen wurde sie von Gilles Deleuze und Félix Guattari im zweiten Band ihres Aufsehen erregenden Gemeinschaftswerks „Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie“ (1980), das den Rationalismus einer fundamentalen Kritik unterzog.

29

Seine ungreifbare Ubiquität ruft auch Kritiker auf den Plan, da abgesehen von den realen Netzen für Verkehr, Wasser und Energie der Begriff des Netzes „nur“ auf ein Modell verweist und darum „höchstens eine modellistische und keine ontologische Kategorie (ist), eine transzendentale Form also, kein Seiendes“. (Vgl. Rainer Fischbach: Mythos Netz, Kommunikation jenseits von Raum und Zeit?, Zürich: Rotpunkt 2005, S. 73.)

71

Dem Wunsch der Philosophen (insbesondere der Hegelianer) nach dem absoluten Begriff hielten Deleuze und Guattari den Anspruch auf eine „nomadische Wissenschaft“ entgegen, in der Vielheit statt Einheit und Heterogenität statt Homogenität vorherrscht. Die Metapher des Rhizoms30 sollte eine Alternative zu allen enzyklopädischen Repräsentationen der Welt sein, die sich auf Gedeih und Verderb dem antiken Wissensbaummodell verschrieben hatten. Der Baum des Wissens mit seinem Stamm und seinen Verzweigungen in Haupt- und Nebenäste stellt eine hierarchische Organisation des Wissens und der Wissenschaften dar, bei der sich jedes Element immer nur auf einer einzigen Ordnungsebene befinden kann. Querverbindungen ergeben sich nur in derselben Sphäre. Es gibt keine Beziehung, die Hierarchieebenen überspringen könnte. Dieser Starrheit und Unbeweglichkeit wollten die Autoren ein Wissensmodell konfrontieren, das sich als offen genug für die veränderten Forschungsperspektiven, die in der modernen Wissenswelt unumgänglich sind, erweisen sollte. Statt der sich über dem Boden entfaltenden Sichtbarkeit des Baumes gaben Deleuze und Guattari der unterirdischen Unsichtbarkeit rhizomatischer Pflanzenstrukturen (aber auch den Bauten von Ameisen und Ratten, die sie ebenfalls als „Rhizome“ bezeichneten) den Vorzug, weil ihre komplexe Gestalt zutage fördert, was die klare Form des

30

„Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome. Pflanzen mit großen und kleinen Wurzeln können in ganz anderer Hinsicht rhizomorph sein, und man könnte sich fragen, ob das Spezifische der Botanik nicht gerade das Rhizomorphe ist. Sogar Tiere sind es, wenn sie eine Meute bilden, wie etwa Ratten. Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen rhizomorph, als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.“ (Gilles Deleuze, Felix Guattari (1980): Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve 1992, S. 16.)

Exkurs 2

Baumes verbirgt. Weiterhin war also die Biologie gefragt, die Organisation des Wissens zu veranschaulichen, doch stand den Forschern von nun an eine Metapher zur Verfügung, die der (post)modernen Vorstellung von der vielfach verflochtenen Struktur des Wissens weit besser entsprach. Die Rede vom Rhizom hat seitdem nichts von ihrer faszinierenden Emphase verloren. Sie war mit manifestartigen Rufen wie „Hoch lebe die Vielheit!“ verkündet und mit einer klaren Botschaft an kommende Jünger verkündet worden: „Macht Rhizome, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nicht Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie!“31 So jedenfalls endet der Text “Rhizom“ (1976) und enthält damit wesentliche Züge der neuen Botschaft, die zugleich eine alte ist, wenn man an die Forderungen der italienischen Futuristen denkt. Die Idee des Rhizoms ist ein Affront gegen jede Form einer unflexiblen Organisation und Klassifikation des Wissens. Für Rhizome gelten verschiedene Prinzipien: Sie sind konnektiv, sie leben von Verbindungen, sind heterogen, nicht homogen; es gilt das Prinzip der Vielheit (statt Einheit, die erst durch die Macht entsteht) und das Prinzip der a-signifikanten Brüche, d. h. solche, die gegen Schnitte gerichtet sind, welche trennen. Es gibt keine genetische Achse oder Tiefenstruktur. Das Rhizom besteht nicht aus Kopien, sondern bildet eine Kartografie des Denkens, die offen, ständig in Bewegung und modifizierbar ist. „Das Rhizom ist eine AntiGenealogie“, es „geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor“.32 Während im Wissensbaum eine gleichmäßige Linie von unten nach oben aufsteigt, um die unterschiedlichen Erkenntnisse miteinander zu verknüpfen, verbindet das Rhizom jeden beliebigen Wissenspartikel mit jedem anderen.

31

Gilles Deleuze, Felix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve 1977, S. 41.

32

Ebd., S.34 f.

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Die Ähnlichkeiten von Netz und Rhizom sind offenkundig. Beide Konzepte sind leicht ineinander abbildbar, ohne dass eines der beiden einen wesentlichen Verlust hinnehmen müsste. Umso mehr interessieren wir uns für die Unterschiede, die sich zwischen Rhizom und Netz auftun, so wie wir es im Zusammenhang mit der Architekturproduktion beschrieben und postuliert haben. Wichtig ist aber auch die präzise Beschreibung der Gemeinsamkeiten, die die postmoderne Modellierung der epistemologischen Struktur des Wissens mit ihrer modernen Beschreibung als Netz aufweist. Zunächst gilt festzuhalten: Wir haben die Struktur des Netzes aus einer Anschauung der besonderen Methodik gewonnen, nach deren Regeln sich die Produktion von Architektur vollzieht. Am Anfang unserer Argumentation stand kein Postulat, sondern die Beschreibung eines Vorgangs, die erst in dem Moment zu einer Theorie zu verfestigen war, als sich die spezifische Struktur dieses Vorgangs bzw. des Entwerfens abzuzeichnen begann. Die Wissenstheorie des Netzes erwuchs aus der Beobachtung kognitiver Vorgänge, die mit der Tätigkeit des Architekten Hand in Hand gehen. Damit beginnen aber auch schon die Unterschiede: Das Netz erlebt am Anfang seiner Aktivierung eine Initialzündung; man könnte auch sagen, es wird durch eine gestalterische Intervention geknüpft und generiert. Von ihr aus beginnt es zu wachsen und weist daher eine generative Richtung auf. Für das Rhizom trifft das allerdings laut Deleuze und Guattari nicht zu. Es ist ungerichtet, dient keiner Macht und übt auch selber keine aus. Macht entsteht in Entwurfsprozessen durch Akteure, die implizit oder explizit Einfluss auf ihren Output, den Plan, nehmen wollen. Der anarchische Charakter des Netzes erwächst daher weniger aus einer nicht-hierarchischen, auf Machtausübung verzichtenden Struktur, als vielmehr aus der lapidaren Tatsache, dass es im Netz niemanden gibt, der uns befiehlt oder rät, wie wir unser Wissen zu ordnen und in welche Richtung wir fortzuschreiten haben. Bei Deleuze und Guattari äußert sich Macht allein schon durch die Gewalt, die den Begriffen inne-

Exkurs 2

wohnt, da sie den Dingen Gewalt antun, sobald sie sich ihrer bemächtigen. Darüber hinaus gibt sich Macht in den Hierarchien der klassischen Wissensordnungen zu erkennen. In ihrem gewaltlosen Charakter erweist sich die Metapher des Rhizoms am kraftvollsten; da glimmt das wahre Potential dieser gelenkigen Modellierung des Wissens auf. In ihr bebt der subversive Charakter des untergründigen Geflechts nach, jener unsichtbaren Revolution von unten, die sich nicht zeigt, aber ständig und gefährlich am Brodeln ist. Während sich die Netzmetapher mit – unterstellt – formal definierbaren Relationen und vorstellbaren Maschenweiten eher unspektakulär entwickelt und ihr Leben in Wissenschaft und Technik gefristet hat, ehe sie sich in der digitalen Welt voll entfaltete, hat die Rhizomatik hohe Wellen im philosophischen Diskurs geschlagen. Doch waren es beides Konzepte, die eine bis heute spürbare paradigmatische Wende in der Modellierung des Wissens und den Möglichkeiten der Weltbeschreibung auslösten.

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Handlungswissen der Architektur (1) Interventionen im Kontext

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Der architektonische Entwurf ist eine Intervention in die Welt, bei der sich das Konzept des netzförmigen Wissens, wie wir es als repräsentativ für Architektur erörtert haben, prägnant mit dem Handeln verschränkt. Wir werden zeigen, dass sich hier das (potentielle) Wissen über die Welt (so wie sie schon existiert, bevor der Architekt sie berührt) und das Wissen, das der Architekt für sein Handeln erzeugt, dramatisch treffen. Hierbei entwickeln, überlagern, verändern, durchdringen und spiegeln sich auf oft ungewisse doch unausweichliche Weise zwei Welten: diejenige, die ohne die architektonische Intervention besteht, und diejenige, die durch das Handeln des Architekten verändert wurde. Kontext ist der Teil der Welt, der schon existiert, bevor eine neue architektonische Manifestation der Welt hinzugefügt wird. Kontext entsteht aber erst dadurch, dass dieses Einfügen erwogen wird. Im Umgang mit Kontext zeigt sich, dass Architektur weder eine autistische geistige Übung noch eine autonome ästhetische Entäußerung kreativer Individuen ist, sondern als Eingriff in die reale Welt immer auch ein Handeln ist, das seine Inspiration genau durch diesen Zwang bzw. in seiner Freiheit im Umgang mit diesem Zwang gewinnt. Daraus folgt, dass sich jede architektonische Intervention sowohl auf einer höchst aufmerksamen Orientierung im Netz des Wissens über die reale Welt, als auch auf einem hohen Maß an Urteilsfähigkeit gründen sollte. Die gegebene Situation, in die der Architekt etwas hineinwirft bzw. entwerfen will, ist dann und genau dadurch Kontext,

Interventionen im Kontext

dass sie den Zusammenhang bezeichnet, der zwischen der Kreation des Architekten und der umgebenden Situation besteht. Kontextuell orientiertes Bauen ist zunächst mit verschiedenen visuellen Vorstellungen und Vorlieben verbunden, die einen vom Architekten favorisierten Gedanken illustrieren, wie es etwa beim Haus Falling Water oder bei den von Koolhaas entworfenen Wohnhäusern für den Amsterdamer Hafen der Fall ist. Wir wissen aber auch, dass sich Frank Lloyd Wrights Stilistik nicht allein der Anmutung von Fels und Wasser verdankte und dass uns Rem Kohlhaas’ Entwurfsidee nicht bloß an die Container erinnert, die es an diesem Hafen schon bald nicht mehr geben wird, sondern dass beide Architekten fest mit einer zeitgeistigen Akzeptanz ihrer Assoziationen gerechnet haben, d.h. mit einer kulturellen Umgebung. Selbst Massenwohnungsbauten wie im Märkischen Viertel oder an der Ostküste Chinas wurden und werden nicht kontextlos entworfen; immer geht ihnen Wohnungsmangel, knapper Boden, soziale Imperative, aber auch Profitinteressen und große Kapitalkonzentrationen in Investorenhand voraus. So erkennen wir zwei Potentiale von Kontext: das eine stellt ein Modell in Aussicht, das die handfesten Realitäten und konkreten physische Umgebungen vergegenwärtigt, das andere entzündet die entwerferische Phantasie und animiert die Entwicklung kreativer Konzepte. Wie weit immer diese Potentiale genutzt werden – es ist prinzipiell nicht möglich, kontextlos zu entwerfen. Um nun den Umgang mit Kontext systematisch und in seinen verschiedenen Facetten zu entwickeln, ordnen wir unsere Gedanken nach strukturanalytischer Methode in Form von Fragen: Was ist Kontext? Kontext ist nicht ein Gegenstand oder ein

Konstrukt, das in sich selbst existiert, wie eine geometrische Form oder eine Farbe; er ist immer auf ein Anderes bezogen, das in ihn eingebettet ist; Kontext bezeichnet eine Relation. Die Literatur- und Sprachwissenschaft hat diesen Terminus eingeführt, um zu verdeutlichen, dass ein Satz oder eine Aussage nur

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dann verstanden werden kann, wenn sie in einem sinnvollen Zusammenhang zum vorausgehenden und nachfolgenden Text gesehen wird. Diese Erkenntnis wird dadurch erweitert, dass zum Kontext auch die Eigenschaften der Situation gehören, in der eine sprachliche Äußerung fällt. Sie kann von der Biografie der Beteiligten über soziale Verhältnisse, psychische Spannungen und mentale Horizonte bis zur je aktuellen Kulturgeschichte reichen. Nur wenn der innere Textzusammenhang und seine Verbindung mit äußeren Gegebenheiten realisiert wurde, kann ein Stück Text oder Literatur richtig verstanden und interpretiert werden. Wenn Architekten und Stadtplaner vom Kontext sprechen, dann dreht sich der Fokus um: Der Entwurf und das aus ihm resultierende Bauwerk werden nicht durch den Bezug auf einen Kontext, in den sie bereits eingebettet sind, verstanden, sondern werden durch den Architekten als ein Neues erst in ihn hineingestellt – und gleichzeitig mit seiner Hilfe erst geboren! Der Architekt platziert sein ureigenstes Produkt in einen Weltzusammenhang, den er selbst nicht gestaltet hat, den er als Faktum vorfindet; doch wird es insofern durch dessen Einfluss geformt, als ein Architekt ihn so wie aufgefunden für seinen Entwurf akzeptiert hat, um ihn sodann, als gebaute Architektur, eben diesem Kontext, der ihm als Inspirationsquelle diente, wieder zuzuführen und einzupflanzen. Unser Verständnis des Kontexts setzt also eine Intervention voraus, die Neues mit einem Vorhandenen zusammendenkt und beides miteinander verflechtet und verwebt. contextus in der lateinischen Bedeutung steht allgemein für dieses Zusammenspiel und dient in der Literatur speziell der Kunst des Interpretierens, wobei wir bemerken, dass Interpretieren und Entwerfen ja gar nicht weit voneinander entfernt sind – beides sind genuin konzeptuelle Tätigkeiten. Wir fragen nun genauer, was mit Kontext gemeint ist. Nehmen wir zur Verdeutlichung eine andere Sprache, nämlich die der Systemtheoretiker, zu Hilfe. Etwas, das existiert und dem wir gerade unsere Aufmerksamkeit schenken, ist dann ein System, wenn wir es in seinen einzelnen Elementen und

Interventionen im Kontext

Eingriff in den Kontext: Wissen über Inspirationsquellen und Folgewirkungen

deren Beziehungen zueinander analysieren und betrachten. Ein System besteht aus einer Vielzahl miteinander verbundener Elemente. Jeder Eingriff in ein solches System hat die Veränderung jedes benachbarten Elementes zur Folge. Daraus folgt, dass sich Wirkungen in vernetzten Gebilden endlos fortsetzen. Ebenso verhält es sich bei architektonischen Eingriffen in einen Kontext. In einer Großstadt wie Frankfurt kann beispielsweise die imponierende Skyline der vorhandenen Wolkenkratzer ihre Fortsetzung durch weitere Hochhäuser nahe legen. Zu bedenken ist freilich, dass durch solch eine Planung das Verkehrsaufkommen und damit auch der CO2-Ausstoß erhöht werden, wodurch sich das Stadtklima weiter verschlechtert und die Attraktivität der Stadt als Lebensmittelpunkt und Wirtschaftsstandort erheblichen Schaden nehmen kann. Selbst im Kleinen kann eine nachteilige Kettenreaktion ausgelöst werden, wenn ein neuer Bankturm eine sensible und zugleich hochwertige

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Nachbarschaft wie einen stark frequentierten öffentlichen Platz oder Park verschattet. Das alles beschreibt dennoch bloß einen Bruchteil der möglichen Folgewirkungen im System Stadt. Wir erleben die Schwierigkeit, den Kontext zu fassen, aber wir sehen auch an einem solchen Beispiel, dass die Reflexion des Kontexts die geplanten Folgen eines Eingriffs zu entdecken hilft. Wir können daher Kontext wie folgt begrifflich eingrenzen: Kontext ist ein System all der Elemente des betrachteten Ausschnitts der Welt, die Architekten und Stadtplaner auf die von ihnen beabsichtigte Intervention beziehen können. Diese Elemente können sehr verschiedener Natur sein. Es können physische Aspekte wie etwa benachbarte Gebäude, psychische Faktoren wie Wohlbefinden oder Zufriedenheit, mentale Elemente wie das Wissen über kulturelle Gewohnheiten oder Rituale sein. Zunehmend werden Aspekte angeführt, die das umgebende ökologische System beschreiben. Insofern repräsentiert Kontext in einem universalen Sinn das gewusste Netz aller möglichen Einflussgrößen, die wir als Inspirationsquelle gestalterischer Eingriffe und als Folgewirkungen dieser Eingriffe in das System Stadt, Region, Dorf etc. betrachten. Das System „Kontext“ ist das Netz, das den architektonischen Eingriff umgibt und als machtvolle Entzündung architektonischer und städtebaulicher Phantasie wirken kann; gleichzeitig sehen wir, wie sich im Kontext die Wellen ausbreiten, die der architektonische Eingriff auslöst. In dieser Definition stellt sich ein weiterer Aspekt ein, der schon anklang, als wir System definierten: Die jeweilige Eingrenzung eines Systems hängt vom Horizont und Interesse des Betrachters ab. Nehmen wir als Beispiel einen ganz unspektakulären Fall, den Entwurf eines Wintergartens für ein Fertighaus, das in Großserie gehen soll. Bei der Wahl des Materials für die Profile stehen einheimisches und tropisches Holz, Aluminium und Kunststoff zur Debatte. Auf der Basis von derzeitigen Marktpreisen, Sondermüllkosten, einem Kalkül der Haltbarkeitszeit und der haptischen Qualitäten wegen mag die Entscheidung für Tropenholz fallen. Unberücksichtigt blieben

Interventionen im Kontext

aber sodann Schadenskosten, die in den Herstellungspreis nicht eingerechnet wurden, ausgeklammert wären außerdem die ökologischen Folgen der Abholzung von Tropenwäldern und ebenso die Folgen des Verzichts auf den Handel mit Tropenholz für die dortigen Wirtschafts-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse etc.. Mit nur wenigen Reflexionsschritten der Wirkungsketten sind wir in die komplexen Gefilde globaler Wirtschafts- und Umweltpolitik hineingeraten und sehen uns der schuldhaften Verstrickung der Industrie- mit den Entwicklungsländern konfrontiert. Entfernte Wissensgebiete, unterschiedliche Wertvorstellungen und Machtinteressen diverser „Parteien“, schwer durchschaubare Beziehungsgeflechte kommen unweigerlich ins Spiel, sobald wir mit Intuition, Wissen, normativer Unruhe und praktischem Verstand die Grenzen professionell gewohnter Ignoranz überschritten haben. Wir erkennen: Jeder Entwurf kann in einem engeren oder weiteren Kontext konzipiert bzw. eher engstirnig oder weltläufig, egoistisch oder verantwortungsvoll angelegt werden, gleichviel ob es sich um ein Wohnhaus am Stadtrand oder die neuen Bürogebäude auf Ground Zero handelt… Was wir in dem Fall des Wintergartenprofils wie auch in beliebigen anderen Fällen sehen können, ist, dass es einen engeren Kontext und einen weiteren Kontext gibt und dass die Ausdehnung eines Kontextes abhängt von dem Wissen, das ein Akteur hat, aber auch von seiner Assoziationsfähigkeit und Phantasie und seinem Mut, den Linien seines Wissens zu folgen. Es scheint keine Regel zu geben, die den Horizont der den Kontext definierenden Elemente begrenzen könnte. Entsprechend lässt sich nicht festlegen, welche Enge oder Weite eines Kontexts für einen Entwurf gültig ist. Es scheint sogar nicht einmal möglich, konkurrierende Kontexte abzuwägen und in eine Hierarchie unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedeutungen einzutragen. So sind einige Architekturen prägnant, weil sie als signifikante Skulpturen im Kontext der Kunstproduktion oder als innovative Objekte

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Vom Hausdetail zum Erdzustand: Bewegung im Netz der Wirkungen

im Kontext von Technik und Industrie herausragen. Andere Gebäude sind auffällig, weil ihre Gestalt sensibel auf landschaftliche oder städtebauliche Formationen reagiert, oder ihre Ästhetik den Symbolbedarf einer Kultur deckt, oder weil in sie ein energietechnisches Know-How investiert wurde, das konstruktiv auf den bedrohten Zustand des Weltklimas reagiert. All diese sehr unterschiedlich intendierten Architekturen finden weltweit eine große Anhängerschaft. Sollen wir hieraus folgern, dass wir in der Wahl des zu berücksichtigenden Kontexts frei walten und schalten können? Oder gibt es Gruppen von Menschen, bestimmte Orte und Problemstellungen, die uns die

Interventionen im Kontext

Eingrenzung von Kontext? Wissenshorizont, Phantasie, Mut, …

Kontexte der Kunst, der Technik, der politischen Kultur und Ökologie etc. unterschiedlich bewerten lassen? Warum ist Kontext interessant für Architekten und Planer?

Wenn offenbar über die Art und Weise, wie eng oder weit gefasst ein Kontext, auf den wir uns berufen, kein endgültiges Urteil gefällt werden kann und der Wert und Unwert einander widersprechender Kontexte, die um die Aufmerksamkeit der Architekten buhlen, nur schwer zu bestimmen ist, dann fragt der Leser zurecht nach den Motiven, warum wir ihn in dieses Thema engagieren. Es gibt drei Hauptgründe: Zum einen lohnt es sich, das Potential und die Auswirkungen erwogener Eingriffe in bestehende Situationen zu verfolgen; zum anderen reizt uns die Möglichkeit, die Grenzen unserer Eingriffe besser kennen zu lernen und des weiteren, die stimulierende Kraft des Kontexts für kreatives Arbeiten zu nutzen. Der erste Grund betrifft die Erwartung von Bauherrn und Politikern an den Berufsstand der Architekten, genaueste Auskunft über die Folgen eines erwogenen Eingriffs zu erhalten, damit sie ihre Planungsentscheidungen auf der denkbar besten Informationsbasis treffen können. Debatten in kontroversen Situationen entzünden sich oft an den zu erwartenden Auswir-

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kungen. Will der Planer die Folgen eines neuen Hochhauses in Innenstadtlage abschätzen, sucht er nach den Größen, die dadurch verändert würden. Sie reichen von Verschattungen über die Durchlüftungsrelevanz, die im Windkanal überprüfbar ist, und Windturbulenzen in unmittelbarer Nähe des Bauwerks, von der Verkehrsfrequenz, Erhöhung der CO2-Emission, die mit Luftausbreitungsmodellen verfolgt wird oder in regionale Bilanzmodelle eingeht, bis hin zur Sozialverträglichkeit, Stadtraumästhetik, zur Corporate Identity und zum Marketing einer Stadt. Nicht zuletzt wird auch zum Bedeutungswettkampf mit alten, identitätsstiftenden Kulturbauten wie Rathaus und Kirche etc. Stellung zu beziehen sein. Planende Architekten sollten darum über all diese Zusammenhänge Bescheid wissen, zumindest sich als argumentationsfähig erweisen. Der zweite Grund unseres Interesses am Kontext hat damit zu tun, dass er die Freiheit architektonischer Interventionen begrenzt. Die Gesetze einer Stadt schreiben die Dimension oder Geometrie eines Gebäudes vor – Naturschutzpläne verbieten es Bäume zu fällen, der Denkmalsschutz schreibt vor, wie ein Haus zu verändern ist. Oder das Budget ist begrenzt, oder der Baugrund zu felsig. In traditionsreichen deutschen Städtchen gibt es die Vorschrift der Dachform. Architekten mit Vorliebe für klassisch-modern-kubisches Vokabular müssen in einem solchen Fall Satteldächer entwerfen. Der Galgenhumor diktiert an dieser Stelle: Kontexte „faszinieren“ als Quelle von Restriktionen. Unser dritter Grund ist der für den schöpferischen Architekten interessanteste. Er öffnet uns die Augen dafür, dass Kontexte die architektonische Intervention nicht nur beeinflussen, sondern stimulieren. Außergewöhnliche Lösungen (im 18. Jahrhundert hätte es geheißen: Gebäude mit Charakter) entstehen infolge von Kontexten, die selber sehr „charakteristisch“ bzw. deutlich profiliert sind. Der Kontext gibt der gestalterischen Arbeit Impulse, da er von sich aus ein Angebotspotential entwickelt, auf das Architekten kreativ reagieren können. Kontext eröffnet Chancen für Konzepte. Wir behaupten daher,

Interventionen im Kontext

dass der Kontext – neben der intellektuellen und künstlerischen Begabung und Ausstattung eines Architekten – die mächtigste Quelle für seine Ideen ist. Man muss nur gescheit mit ihm umzugehen wissen. So unterschiedliche Architekten wie Frank Lloyd Wright, César Manrique, Oswald Mathias Ungers oder Herzog und de Meuron vermochten diese unschätzbare Ressource intelligent zu nutzen. Damit ist nicht festgelegt, welcher Impuls jeweils welche Reaktion hervorruft. Die kreative Antwort auf einen Kontext unterliegt keinem behaviouristischen Modell, weder als Pawlow’scher Reflex auf einen Reiz hin, noch als Skinner’sche „operante Konditionierung“, in der eine richtige Aktion belohnt würde und als solche erlernbar wäre33. Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass es höchst sinnvoll ist, sich mit dem Kontext zu befassen. Allerdings dürfte auch schon deutlich geworden sein, dass die Theoretisierung des Kontextes weder methodisch einfach, noch ein nach klaren Regeln beschreibbarer automatischer Vorgang bzw. eine Schritt für Schritt abwickelbare Prozedur ist. Stattdessen haben wir es mit einem heiklen Problem zu tun. Warum? Welches sind die Probleme (und Chancen) im Umgang mit Kontext? Selbst wenn wir die typischen Schwierigkeiten im

Umgang mit Kontext in den Vordergrund rücken werden, sollte doch klar sein, dass wir jede dieser Schwierigkeiten gleichzeitig und entschieden als Chance begreifen. 1.

Wahrnehmung von Kontext ist intellektuelle und

emotionale Arbeit Stellen wir uns vor, wir kommen an den

noch unbebauten Ort, an dem unsere Architektur entstehen soll. In einer Art Gesamtwahrnehmung machen wir uns ein erstes pauschales Bild der Situation, das sehr persönliche Eindrücke aber auch allgemein gültige Sachverhalte umfasst. Wenn wir beginnen, diese Gesamtwahrnehmung zu differenzieren, entde33

Burrhus Frederic Skinner: Wissenschaft und menschliches Verhalten, München: Kindler 1973.

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Herzog & de Meuron nutzen den Kontext: Schaulager im Kies des Rheintales

cken wir Aspekte, zu denen objektive Aussagen möglich sind, wie z. B. Sonnenstände, Windstärken, Temperaturverläufe, Bodenfestigkeiten, Baumbestände etc.; des Weiteren werden wir auf Eindrücke und Wahrnehmungen stoßen, die zwar subjektiver Natur sind, jedoch mit fremden Menschen leicht ausgetauscht und geteilt werden können. Mit anderen Worten:

Interventionen im Kontext

unsere Einschätzungen und Empfindungen mögen zwar bei dem einen oder andern Befremden auslösen, sie können aber auch von vielen Leuten verstanden und erwidert werden. In diesem Fall werden sie „intersubjektiv geteilt“, wie beispielsweise das erhebende Gefühl bei einem sensationellen Ausblick. Daneben gibt es freilich auch exklusiv persönliche Wahrnehmungen. Selbst und gerade wenn wir merken, dass es sich hierbei um Gefühle und Urteile handelt, die kein oder kaum ein anderer mit uns teilt, können sie einen besonders großen Einfluss auf Entwurfsentscheidungen ausüben. Solche sehr eigenwilligen, für die künstlerische Arbeit bedeutsamen Eindrücke betreffen oft Fragen der Atmosphäre, der Aura und einer Stimmung, die durch einzelne Töne, Farben, Gerüche oder ein Sammelsurium sinnlicher Natureindrücke ausgelöst werden können. Biographische Vorkommnisse mögen Vorlieben ausgeprägt haben, die unser selektierendes Verhältnis zur Welt insgesamt oder in Details prägen. Doch gibt es noch ganz andere Hintergrundsmelodien, die großen Einfluss auf unser Denken und Handeln nehmen können: Sympathien und Antipathien, die einzelnen Menschen, ganzen Parteien und Verbänden gelten, oder aber auf moralische Handlungen, Religionen, Moden, Essgewohnheiten, Sportarten und Hobbies etc. zielen. Wahrnehmung ist selbstverständlich nicht nur „sehen“ in jenem photographischen Sinn, dass eine Wirklichkeit direkt und unverfälscht, gültig und wahr, abgebildet wird. Hierzu gehören auch Prozesse der Selektion und der Interpretation, die nicht von allen Individuen in gleicher Weise vollzogen werden. Auch sind diese Prozesse nicht zufällig verteilt. Einer der bekanntesten Wahrnehmungstheoretiker, Ulrich Neisser, hat in „Cognition and Reality“ 1976 ein „Schema“ eingeführt, welches aus Faktoren wie Erziehung, kultureller Sozialisation, Interesse, Haltungen, Einstellungen, Vorwissen u. a. zusammengesetzt ist. Diese Faktoren leiten „Erkundungen“ ein, die wiederum unsere Auswahlprozesse steuern, mit deren Hilfe wir aus der Gesamtmenge der verfügbaren Informationen den Teil entnehmen, für den wir empfänglich sind. Dieser Teil fließt wieder in unser

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persönliches Wahrnehmungsschema zurück und bestätigt es dann oder ändert es auf eine Weise, dass der Wunsch nach neuen Erkundungen ausgelöst wird34. Die Existenz solcher Schemata erklärt auch die Ähnlichkeit von Wahrnehmungen bei gleicher Kultur-, Schicht- oder Berufszugehörigkeit und das Befremden, das uns in unvertrauten Milieus überfällt. Antike Ruinen in Delphi stimulieren vor allem das Schönheitsempfinden mitteleuropäischer Bildungsbürger und nicht das thailändischer Reisbauern; die Sultan Hassan Moschee in Kairo entzückt den islamischen Architekten und macht manchen westlichen Kollegen ratlos. Wenn ein Kunsthandwerker in die Kirche Vierzehnheiligen kommt, richtet er die Aufmerksamkeit auf den stucco lustro und die Perfektion der barocken Verzierungsarbeiten, die Architektin gibt sich eher von der atemberaubenden Suggestion des Raumvolumens gefangen, der Kunsthistoriker schaut auf die stilistischen Merkmale, die ihm die zeitliche Einordnung vereinfachen, die fromme Pilgerin erspäht das Kruzifix, vor dem sie sich bekreuzigt, und den Theatermann fasziniert die Inszenierung der Heiligenfiguren im farbigen Licht, das bemalte Kirchenfenster erzeugen. Oder, um ein anderes Beispiel zu wählen, der Blick des Konstrukteurs, der über die Landschaft schweift, erkennt, dass ein Tal durch eine Brücke mit großer Spannweite überwunden werden kann, während ein Landschaftsplaner die Stille und Unberührtheit der gleichen Situation als höchstes Gut preist, und ein Architekt behauptet, wie anmutig sich eine von ihm entworfene Siedlung in diesem Tal ausnehmen würde… Wie lautet nach all diesen heterogenen Beschreibungen unser Befund? Kontext ist zwar immer eine Faktizität, ein Gegebenes, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, doch gilt ebenfalls, dass er nichts fix Definierbares, eindeutig und objektiv Beschreibbares darstellt, sondern stets auch auf subjektiven Wahrnehmungen beruht und von den damit einherge34

Ulrich Neisser: Kognition und Wirklichkeit, Stuttgart : Klett 1979, S. 27.

Interventionen im Kontext

henden Interessen, Wertsystemen, Interpretationen, Auswahlkriterien und Relevanzentscheidung abhängig ist. Kurzum: die Realität des Kontexts wird immer nur durch unsere persönliche Sensitivität und Urteilskraft greifbar. Die Chance der Architekten, den Restriktionen des Kontexts zu entkommen, besteht daher nicht darin, diese zu leugnen, sondern umgekehrt in der Wahrnehmung und eigenwilligen Interpretation eines Kontexts. Hierin einen wichtigen Zugang und vielleicht sogar den Schlüssel für die eigene Entwurfsidee zu suchen, ist der Ausweg, den der Kontext selber bietet. So wäre also gerade der Versuch, sich als Architekt für den Kontext und dessen kreative Aneignung zu sensibilisieren, eine erfolgsversprechende Methode, zu einer eigenen Position und Sprache zu kommen. 2.

Kontext hat keine gegebenen Grenzen Sobald wir Kontext nicht nur als physische, sondern auch als mentale Umgebung eines Eingriffs begreifen, betreten wir die Domäne des Wissens. Neue Dimensionen eröffnen sich. Wissen über Kontext bezieht sich z. B. auf einen sozialen Wandel, einen kulturellen status quo, einen philosophischen Diskurs, eine ökonomische Situation, die Geschichte eines Ortes, den ökologischen Zustand der Region, der Erde, etc.. Man kann diese Sachverhalte nicht sehen, allenfalls aus erfahrenen Situationen auf sie schließen. Es gehört zu den wichtigsten Entscheidungen des Architekten, solche Sachverhalte auf einen Ort und eine spezifische Planungsaufgabe zu beziehen und auf diese Weise seinen Wissensbeständen über das, was Kontext ausmacht, einzuverleiben oder daraus auszuschließen. Die Frage nach der Ein- oder Ausschließung von Wissen steigert die Schwierigkeit beträchtlich. Nehmen wir einmal an, dass es nur eine Sache der Phantasie, der Informationen und der verfügbaren Zeit sei, einen Gebäudeentwurf wie den eines Museums mit einem barbarischen Phänomen wie der „Entjudung“ von Wohnraum zusammen zu denken und dieses Wissen wiederum mit weiteren Informationen über die Zeit des Nationalsozialismus in ein universales Wissensnetz einzubinden. Die

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Assoziationsketten von Daten sind im Prinzip unendlich und es gibt keine Regel, die besagt, wann wir damit aufhören sollen. Es gibt nur den Entschluss aller tätigen Subjekte und Architekten, die Grenze ihrer Recherchen und Reflexionen nicht zu weit und zu spät zu ziehen, um nicht das eigene Handeln zu verpassen. Andererseits kommen wir ja erst ins Handeln, wenn uns Anlass und Ziel deutlich vor Augen stehen, und kommen speziell ins kulturelle Handeln, sofern dieses uns aus einem nicht trivialem Wissen erwächst. Entsprechend griff Daniel Libeskind auf Daten über die „entjudeten“ Wohnungen in Berlin zurück, um mit Linien, die sie auf dem Stadtplan miteinander verbinden, die Geometrie seines Entwurfs für das jüdische Museum zu stützen. In ähnlicher Weise zog er die Jahreszahl der Verkündung der amerikanischen Verfassung zur Bestimmung der Gebäudehöhe seines Hochhausprojekts für Ground Zero in Betracht, um seinen Entwurf mit einem politischen Symbolwert auszustatten. Es besteht nicht die Notwendigkeit, solche Dinge bei der Ausarbeitung eines Entwurfs zu berücksichtigen, doch wird es nur schwer gelingen, jenseits von Konventionen und einem standardisierten Formvokabular eine Gestalt aufs Papier zu bringen, wenn ihr Entwerfer nicht von Anstößen profitiert, die aus Kontexten resultieren. Die Regel lautet daher: Entwürfe ohne kontextuelle Bezüge bleiben blass und gewöhnlich; doch gibt es keine Regel, wie viel Kontext in einen Architekturplan eingehen muss, damit er an Profil und Eigensinn gewinnt. 3.

Angesichts der vielen Kontextaspekte gibt es keine Hilfe

für eine Relevanzentscheidung Nehmen wir an, wir hätten

in großer Anstrengung Fakten gesammelt, Modelle simuliert, den Geist eines Ortes erspürt, Assoziationsketten analytisch verfolgt. Wir haben nun viele Aspekte im Kopf: geschichtliche Vorgänge und deren Bedeutung, landschaftliche Schönheit, spezielle Vegetation, klimatische Bedingungen, zeitgeistige Stilströmungen, Kollegenurteile, die funktionale Widmung, Nutzerprofile, Trends, die architektonische Umgebung samt relevanten Gebäudehöhen und regionalen Baumaterialien.

Interventionen im Kontext

Welchen Aspekt nehmen wir als Aufhänger für unseren schöpferischen Eingriff? Welcher soll als wichtigster Aspekt gelten? Oder soll uns stattdessen eine Kombination mehrerer Aspekte leiten? Doch welche sollen dies sein? Wieder sind wir auf unsere Urteilskraft, unseren Instinkt, auf die bewusste Entwicklung von Vorlieben angewiesen, denn niemand nimmt uns diese Entscheidung ab. Wir merken, dass mit der Wahl und der Hierarchisierung mehrerer Kontexte der Entwurfsprozess bereits begonnen hat. Herzog und de Meuron wählten für die Fassade der Bibliothek in Eberswalde eine Präsentation ihres Inhalts, beim Schaulager am Basler Rheinhafen bestimmte hingegen eine landschaftstypische Materialwahl die Gestaltung der Gebäudehülle. Wieso dürfen Architekten derart unterschiedlich an ihre Entwürfe herangehen? 4.

Es gibt keine Vorschrift für die Art der Reaktion auf

Kontext Stellen wir uns vor, wir hätten im Hinblick auf eine Entwurfsaufgabe unterschiedliche Kontexte wahrgenommen und bereits die Entscheidung getroffen, welche wir in unsere Überlegungen einbeziehen und welche wir ausschließen wollen. Nehmen wir an, wir hätten ebenso schon eine Vorstellung davon gewonnen, welches die relevantesten Aspekte des Kontextes sind, auf den wir zuerst reagieren möchten. Gesetzt den Fall, es wäre dies alles entschieden, dann gerieten wir sogleich in die nächste Schwierigkeit und müssten nun die Frage klären, wie wir auf diese für relevant erachteten Aspekte reagieren sollten? Die Antwort lässt sich weder logisch erschließen noch ergibt sie sich auf irgendeine andere regelbasierte Art. Es gibt keine Anweisung und keine methodische Schrittfolge, nach der wir auf eine eindeutige Intervention schließen könnten. Wir sind in der Wahl unserer Reaktionen frei. Es gibt noch einen weiteren Kontext: den, in dem die Architekten selber wirken. Sie arbeiten im Kontext der Akzeptanz, der Kritik und sogar der Ablehnung, sie rechnen mit öffentlichen Kommentaren, mit der Einspruchsmacht des Bauherrn und jederzeit mit der Aufforderung, ihr Tun zu begründen und ihre

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Entscheidungen transparent zu machen. Der in diesem Kontext entstehende Diskurs zwingt zwar den Architekten sich auszuweisen, doch provoziert auch der Legitimationszwang keine logische Reaktion. Man kann darum nur sagen, dass in der Freiheit der Wahl und der kontextrelevanten Entscheidungen, die Architekten treffen, eine explosive Chance für ihre Kreativität liegt. Und desgleichen für ihr zuweilen existentielles Bekennertum, das in eine offene Konfrontation und sogar zum Bruch mit Bauherren und öffentlichen Medien führen kann. Es gehört in Deutschland zu den Alltagsaufgaben von Architekten, in die geschützte Silhouette einer typischen alten deutschen Kleinstadt mit spitzem Kirchturm und kleinvolumigen Häusern mit roten Ziegeldächern, die alle ähnlich sind in Form und Neigung, einen Neubau zu setzen. Auf diesen gleichen städtebaulichen Kontext gibt es sehr verschiedene Reaktionen, wie etwa das Kaufhaus in Schwäbisch Hall von Mahler und Schuster oder das Südmetallhaus in Reutlingen von Allmann und Sattler oder der Kindergarten von Arno Lederer in Tübingen zeigen. Die einen konfrontieren den Kontext mit radikal modernen Positionen, die in der Vereinfachung der Geometrie oder der Reduktion der Materialien oder dem Kontrast der Konstruktion ihr Heil suchen. Der andere bietet eine sensible Transformation an, wobei er strukturelle Elemente der alten Stadt verwendet und in moderner Sprache interpretiert. Wir lernen daran, sowohl den interpretatorischen Freiraum, den Kontext eröffnet, zu verstehen, wie auch die Möglichkeit, in die Reaktion das Bekenntnis zu unterschiedlichen persönlichen Positionen einzubauen. Allen drei ist gemeinsam, dass sie bestimmte Aspekte des Kontextes wie Traufhöhe, Dachneigung und Volumen der Gebäude nicht nur akzeptieren, sondern auch zur Regel ihres Entwurfs machen. Umso mehr stellt sich die Frage, ob ein Architekt diese Aspekte mit Erfolg hätte verletzen können? Das führt uns zur letzten Schwierigkeit. 5. Auch Kontext ist veränderbar Unsere Hypothese lautet, dass die oft als invariabel angesehenen Elemente des Kontexts

Interventionen im Kontext

oben links: Kontext deutsche Stadt (Luftbild Tübingen); Drei Reaktionen auf den Kontext deutsche Stadt oben rechts: Mahler/Gumpp/Schuster (Schwäbisch Hall 1995) gegenüber, oben: Allmann/Sattler/Wappner (Reutlingen 2002) gegenüber, unten: Lederer/Ragnarsdóttir/Oei (Tübingen 1988)

keine festen Konstanten bedeuten, sondern durchaus verändert werden können. Auch der Kontext lässt sich schmieden. Es ist durchaus offen, welche seiner Momente oder Eigenschaften wir als Invarianten betrachten und welche wir als wandelbar ansehen. Oft ist es so, dass wir geneigt sind, bestimmte Aspekte des Kontexts vorbehaltlos zu akzeptieren, dabei kann es sich z. B. um eine ästhetische Regel handeln, wie die Wahrung symmetrischer Größenverhältnisse, oder wir wollen nicht Hand anlegen an eine Landschaft, einen schönen alten Baum und ein historisches Gebäudeensemble. Desgleichen mag uns das Gesetz tabu sein, das die maximale Höhe von Gebäuden festschreibt. Andere Regeln wiederum, die sich aus dem Kontext speisen, wollen wir vernachlässigen oder ändern, wie die Dominanz verwendeter Baumaterialien und Fassadenanstriche. Selbst der Kontext,

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den uns die Rechtssprechung in Form eines Bebauungsplans, der den Straßenverlauf festlegt, beschert, muss nicht für alle Zeiten gelten. Hat uns doch die Erfahrung gezeigt, dass auch Vorschriften ausgelegt, erweitert, verhandelt und infolge dessen geändert werden können. Einen Kontext zu ändern erweist sich als eine Frage des Mutes, des Engagements, des Einsatzes von Zeit, Geld, Geduld und nicht selten auch als eine Frage persönlichen Geschicks, politischer Beziehungen und Macht. Auch Invarianten können sich in Variable ändern. Man denke nur an die Aufweichung der Dogmen der Moderne im Befreiungsschlag der so genannten „Postmoderne“, die sich mit dem Präfix post von einem Denken abgrenzen wollte, das strikt antitraditionalistisch auf die Weltbühne trat und dennoch selbst

Interventionen im Kontext

zur Tradition zu erstarren drohte. Jede Revolution, ob eine politische oder künstlerische, ist Kontextänderung. Avantgarden brechen mit den geltenden Regeln und proklamieren an deren Stelle alternative Normen. Sie bilden den Ausgangspunkt für einen neuen Kontext. Oder – um ein ganz anderes Beispiel anzuführen – man denke nur daran, dass bis in die 90er Jahre der mit dem Bruttosozialprodukt exponential ansteigende Stromverbrauch als Invariante und die Stromversorgung als eine der Energieversorgung anheim gegebene Variable angesehen wurde. Mit der Folge, dass eine große Zahl von (Atom-)Kraftwerken geplant wurde. Inzwischen hat sich jedoch ein Wandel vollzogen, der nun umgekehrt den Stromverbrauch zur planbaren Variable (Geräteverbrauch, Effizienzsteigerung, Dämmungen) und die Energieversorgung zu einem neuen Kontext verwandelt hat, der von uns verlangt, Niedrigenergiehäuser statt Kraftwerke zu bauen. Im Bedeutungswandel der Kontexte liegt die entwerferische Freiheit der Architekten. Sie können selbst entscheiden, ob sie einen gegebenen Kontext bekräftigen oder ersetzen wollen. Oft sind die Zäune nicht draußen, sondern drinnen, in den Köpfen. Die Botschaft lautet darum: wenn wir wirklich wollen, muss nichts so bleiben wie es ist. Wir haben uns mit der Frage nach den Schwierigkeiten im Umgang mit Kontext befasst und, was noch wichtiger war, mit den sich gleichzeitig eröffnenden Chancen. Jetzt stellen wir die Frage nach den Dimensionen, in denen sich diese Chancen zeigen, und entwickeln eine kleine Phänomenologie des Kontexts. Was sind die Erscheinungsformen von Kontext? Die

gemeinhin von Architekten als Kontext betrachtete physische Umgebung ist nur ein schmaler Ausschnitt dessen, was den Kontext für das entwerfende Denken ausmacht. Die Ausdehnung des Wissensnetzes als eine Galaxie potentiell relevanter Wissenspartikel lässt sich erst erahnen, wenn wir uns versuchsweise einige seiner Subsysteme vergegenwärtigen.

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Die soziale Struktur einer Gesellschaft unterliegt samt ihrer kleineren Teile ständigen Veränderungen. Zerfallsprozesse spiegeln sich in Ghettobildungen; aber wir beobachten auch, dass Migranten und Minoritäten nach ihren kulturellen Wurzeln und eigenen Ausdrucksformen in Kunst und Mode suchen, die wiederum Eingang in die dominierenden Gesellschaftstrends finden können. Die Demographie zeigt uns den steigenden Anspruch älterer Generationen an Lebensraum und wir beobachten desgleichen, dass sich die stets mehr auseinanderklaffende Einkommensschere auf die Verteilung und die Nutzungsrechte urbaner Flächen auswirkt. Im politischen Raum streiten konservative und progressive Milieus um den Vorrang, sich architektonisch darzustellen. Staatsmacht kämpft mit Wirtschaftsmacht um den öffentlichen Raum der Innenstädte. Jede Nation hat ihr eigenes delikates Verhältnis zur Selbstrepräsentation in ihren Staatsbauten. Kein soziales Teilsystem erweist sich in seiner Durchsetzungsfähigkeit beständiger als das ökonomische, dessen Gesetz des maximalen output bei minimalem input in einer materiell ausgemergelten Brückenkonstruktion genauso sichtbar wird wie im Massenwohnungsbau einer chinesischen Millionenmetropole. Die maximale Nutzung teuren Bodens bestimmt die Gestalt der Städte; die Verteilung von Ressourcen zwischen Öffentlicher Hand und privatem Kapital erklärt und steuert so manches Projekt. Gleichwohl bleibt die kulturelle Leistung konstitutiv für das Etikett Architektur. Der Zustand der Künste, der geltende Kanon der Bauweisen, die erlaubten Grenzüberschreitungen und Proklamationen der Avantgarden, die Situation des Aufmerksamkeitsmarktes, die Entdeckung und Neuschöpfung von Traditionen, von Riten, die Produkte lokaler Kulturen, die Vielfalt und Dynamik der Subkulturen, die noch nicht durchdrungen sind vom Marktwert und ständig neue Trends ausbilden – all dies bildet den soziokulturellen Kontext auf einer Palette vielfältigster Erscheinungsformen aus. Auf ihr können wir immer wieder beobachten, dass Aspekte, die eben noch trivial und rein pragmatisch erschienen, sich

Interventionen im Kontext

im nächsten Moment einen Platz in der vorderen Reihe jenes globalisierten Wertesystems erobert haben, das heutzutage unser Handeln leitet. Ökologie als eine Aufgabe des nachhaltigen Umgangs mit dem Haushalt Erde scheint erst aus der Perspektive der Astronauten auf unseren kleinen blauen Planeten zu einem universellen Imperativ angewachsen zu sein. In terrestrischer Beschränkung wirkt sich dies aus in Form wachsender Standards für ein immissionsgeschütztes und emissionsarmes Alltagsleben. Wir wollen nicht die Reihe sämtlicher Aspekte durchdeklinieren, nennen aber noch im Vorübergehen einige. Wie unterschiedlich zum Beispiel der historische Kontext bewertet wird, mag man am Vergleich unserer Hemisphäre mit einer aufsteigenden Macht wie China ermessen. Was immer die Motive seien – es scheint, dass in den Köpfen der Bewohner so dynamischer Metropolen wie Shanghai die Vergangenheit kaum, die Gegenwart ein wenig, die Zukunft aber mit ihren vielversprechenden und immer wieder kurzfristig eingelösten Visionen eine überbordende Rolle spielt. In Mitteleuropa haben sich diese Verhältnisse längst umgekehrt: die Bewahrung des kulturellen Erbes schiebt sich mehr und mehr in den Vordergrund. Nach der Katastrophe zweier Weltkriege liegt uns offenbar die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit näher als spekulative Gedanken an eine ungewisse Zukunft. Aus diesem Grund mutiert Europa in den Augen vieler Chinesen langsam zu einem Freiluftmuseum, dem die Asiaten vermutlich lange noch einen hohen touristischen Wert beimessen werden – gerade wenn sich der Steinbruch innovativer Kulturleistungen zu erschöpfen scheint. Juristische, geologische, biologische, klimatische und semantische Aspekte machen die Liste der berücksichtigungswerten Kontexte immer länger, und wir fügen noch eine knappe Aufzählung physischer Aspekte hinzu, weil sie das architektonische Entwerfen zwar oft allzu vereinfachend, dafür aber umso nachdrücklicher bestimmen. Insbesondere wäre hier die Rücksicht auf topographische Formationen, den Landschaftscha-

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rakter, mächtige Bäume, dominierende Blickbeziehungen und die benachbarte Bebauung zu nennen, die mit ihren Volumina, Höhen, Proportionen, Anordnungsmustern, Oberflächenstrukturen, Relieftiefen, Materialien, Farben und anderen charakteristischen Details Anknüpfungspunkte bieten, die von Architekten oft und gern bedacht und verwertet werden. Die Liste ist unvollständig. In speziellen Situationen können noch zusätzliche Bestimmungen auftauchen, doch so trocken unsere Aufzählung auch sein mag, sie geschieht nicht ohne den Hintergedanken, uns zu zeigen, dass die Phänomenologie des Kontexts ja nicht nur eine große Hürde bedeutet, sondern zugleich die Gehirne der Architekten mit einer breiteren und vielfältigeren Perspektive programmiert, die sich kreativ auf das Entwerfen auswirkt. Welche Arten der Reaktion auf Kontext sind denkbar?

Erinnern wir uns an die vierte Schwierigkeit im Umgang mit Kontext, diejenige, die die grundsätzliche Freiheit in der Reaktion auf einen Kontext betraf. Entscheidungen sind das Ergebnis von Urteilen. Sie können transparent argumentiert sein, auf expliziten oder unbewussten Präferenzen beruhen oder instinktiv ablaufen. Die Reaktion auf einen Kontext mag durch die Rezipienten, die Fachwelt, die Öffentlichkeit akzeptiert oder angegriffen werden. Entscheidend für uns ist es festzuhalten, dass beim Entwerfen stets alternative Optionen für die Reaktion des Architekten auf einen Kontext auftauchen können. Beginnen wir mit den verschiedenen Varianten angepasster Reaktion. Als politisch affirmativ, opportunistisch und ruchlos ist beispielsweise Albert Speers architektonische und politische Übereinstimmung mit dem pangermanischen Machtanspruch Hitlers zu nennen. Affirmativ gegenüber dem in Berlin vorherrschenden urbanistischen Diskurs verhalten sich heute auch Hans Kollhoffs Entwürfe. Ebenso plant Speer junior in Anting bei Shanghai angepasst an die Erwartungen der chinesischen Eliten, denen sich ebenfalls die Gebäude unterwerfen, die Auer und Weber für dieselbe Satellitenstadt erdacht haben. Sensitiv

Interventionen im Kontext

Maison Carrée in Nimes. Reaktion des Architekten Norman Foster: Er abstrahiert und kontrastiert im Neubau den antiken Tempel.

anpassend reagiert das Büro Norman Foster auf das Maison Carree in Nimes. Zugleich handelt es sich um eine Strategie der Abstraktion, da die Gliederungsprinzipien und Volumenproportionen des antiken Tempels zwar aufgenommen, aber mithilfe modernen Materials und neuer Konstruktionsweisen in die Gegenwart übersetzt werden. Mit diesem Beispiel beginnt das facettenreiche Spektrum der Kontrastierung. Es reicht bis zum programmatischen Durchdeklinieren aller Variablen wie Material, Gliederung oder semantischer Konventionen, wie dies in Köln Arno Brandlhuber demonstriert hat. Kontrast als bewusstes Durchbrechen eines status quo zeigt Gewinnmöglichkeiten im Kontext des Aufmerksamkeitsmarktes auf. Sie reichen von individualseparatistischen Strategien, wie sie etwa bei Rem Kohlhaas oder Zaha Hadid zu beobachten sind, bis hin zu Beiträgen, die das mitzuprägen verstehen, was wir Zeitgeist nennen. Als

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erfolgreich in diesem Sinne erwiesen sich neoavantgardistische Gruppen wie Archigram, aber auch Einzelkämpfer wie Denise Scott Brown und Robert Venturi. Die Besonderheit eines Ortes zu interpretieren und in die Sprache der Architektur zu übersetzen, intendierte bereits vor Christian Norberg-Schulz, der im Verweis auf Martin Heidegger die Bedeutung des Genius Loci herausstrich, Corbusier mit seinem Aufsehen erregenden Entwurf der Wallfahrtskapelle in Ronchamp. In ihrer üppig organischen Form sollten die sanft geschwungenen Konturen der umgebenden Landschaft ihre Resonanz finden. Literarisch kann man die ästhetische Ausgestaltung von Inhalten und Funktionen nennen. Das Kunstgewerbemuseum in Shanghai, das die Form eines Bronzegefäßes angenommen hat, führt eine solche Deutung vordergründig vor. Gleiches gilt für das Maritimmuseum in Luchaogang, das mit zwei funktionslosen Segeln geschmückt wurde. Geistreicher wirkt da schon das bauchige Segel auf dem Bürohaus in der Berliner Kantstraße, das Josef Paul Kleihues in den neunziger Jahren aufrichten ließ, und am wenigsten scheint Daniel Libeskind sein Entwurfsthema verfehlt zu haben, als er Grundriss und Gestalt des Jüdischen Museums in Form eines Blitzes ausführte. Eine Steigerung wäre die Paraphrase, die Venturi ansprach, als er die mit reichhaltigen Informationen dekorierte Kiste der postmodernen Architektur den wortkargen abstrakten Formen des modernen Bauens konfrontierte, dessen skulpturale Tendenz er ausgerechnet in einer als Ente ausgebildeten Hähnchengrillstation wieder erkennen wollte. Von nun an galten die ästhetischen Prinzipien der Moderne als Gipfel einer Geschmacklosigkeit, die im tristen Utilitarismus des Bauwirtschaftsfunktionalismus und im als Doppeltoast ausgeformten Hamburgerstand ihre konsequente Fortsetzung erfuhr. Wesentlich delikater wirken da narrative Arbeiten, die Orte, aber auch Moden, Trends und vieles mehr kommentieren, so wie dies etwa James Stirling in der Stuttgarter Staatsgalerie vorführte, die einen öffentlichen Weg durch das Museum legt

Interventionen im Kontext

Reaktion: paraphrasierend (The Longaberger Home Office, Newark, Ohio, United States, 1997)

und sich die eine oder andere ironische Anspielungen auf die Popkultur nicht verkneifen mochte. Dass in Reaktion hierauf die absurde Anschuldigung erhoben wurde, Stirling habe sich einer postfaschistischen Ästhetik bedient, da ja die Fassade aus monumentalen Steinquadern gebildet sei, zeigt einmal mehr, wie sehr in Folge des Neuen Bauens das aktive Betrachten und Lesen der Bauwerke zu einer ungewohnten Übung verkommen war. Im Gegensatz zur erzählenden Architektur, die sich Farbe und Ornament zurückerobert hat und inzwischen recht geschwätzig scheint, bieten sich Strategien der Minimalisierung an, mit deren Hilfe sich der Ausdruck der Architektur erheblich steigern lässt. Entwurfbüros wie Diner und Diner wissen die ästhetischen Effekte der Reduktion virtuos zu nutzen. Doch erschöpft sind damit die Möglichkeiten, auf Kontexte zu reagieren, noch lange nicht. Es gibt Beispiele für Formen ästhetischer Indifferenz und bewusster Vernachlässigung, die schon in den fünfziger Jahren von der englischen Independent Group

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proklamiert wurden, als man die Architekturästhetik nach dem Motto „as found“ Zufallsfunden, die der Alltag nach oben spülte, überlassen wollte. Und es gibt selbstverständlich, um ein provokantes Letztes noch zu erwähnen, auch die Negierung des Kontexts, die Mario Botta mit seinen Tessiner Villen intendiert. Selbstverständlich könnten weitere Optionen genannt werden, wobei zu bedenken ist, dass sich ihre Abgrenzung schwierig darstellt, da sie selten in Reinform auftreten. Zusammenfassende Schlussfolgerungen Kontext entsteht,

wenn ein Handelnder – der Architekt – eine Intervention in die reale Welt entwirft. Die Intervention ist der Katalysator für eine Theorie des Handelns des Architekten in der Welt. Kontext wird als das Netz konzipiert, in welches ein solcher architektonischer Eingriff eingewoben ist. In einem universalen Sinn ist er das Wissensnetz aller möglichen Größen, die der Architekt als Quelle der Inspiration seines Eingriffs in eine gegebene Situation oder als dessen Folgewirkung ins Auge fasst. Das vorgestellte Konzept zum Umgang mit Kontext ist konstruktivistisch in dem philosophischen Sinn, dass Kontext nie nur ein Gegebenes ist, sondern stets ein Produkt intelligenter und emotionaler Arbeit. Indem der Architekt dieses Netz des Kontexts aktiv erkundet, auswählt, kausale Ordnungsmuster erzeugt, Wissen assoziiert und Phantasie walten lässt, konstruiert er dieses Netz wesentlich mit. Die Konstruktion des Netzes ist gleichzeitig ein Mittel, um, wie in einer Modellierung, die Auswirkungen erwogener Eingriffe zu simulieren. Wenn der Architekt um die möglichen Konsequenzen seiner Intervention weiß, werden sie zu wesentlichen Anforderungen, die er selber an seine Kreativität und Urteilsfähigkeit beim Entwerfen von Häusern und Planen von Städten erhebt. Unser Konzept ist dynamisch in dem anarchischen Sinn, dass es Kontext als formbar und veränderbar fasst, ihn selbst zu einer Variablen macht und Architekten befähigt, gegebene Umstände, Sachverhalte, settings bezweifeln und deren Gegenteil postulieren zu können. Insofern dies geschieht, eröffnet

Interventionen im Kontext

sich gleichzeitig eine Freiheit, die sowohl berauschend als auch beängstigend ist und die den Architekten zur Sorgfalt bei der Entwicklung seiner Interventionen auffordert. Unser Konzept ist urteilsabhängig in dem anti-objektivistischen Sinn, als Kontext ja kein Gegenstand vermeintlich objektiver Analyse ist. Der Umgang mit ihm wird wesentlich von Entscheidungen über seine Ausdehnung bestimmt, über die den Kontext bestimmenden Größen, ihren unterschiedlichen Bedeutungsgrad und die Reaktionen darauf. Derartige Entscheidungen sind verflochten mit den Wertsystemen, Präferenzen, Interessen, die der Kontext bereithält, werden aber auch von den Architekten selbständig getroffen und gehen in das ein, was man ihre (Entwurfs-)Position nennen könnte. Die Erkenntnis dieser Prozesse weist uns auf zweierlei hin. Zum einen charakterisiert sie die besondere Art der Produktion der Architektur, die sich in einem von Architekten subjektiv geformten Netz kontextuellen und das heißt auch situationären Wissens entwickelt. Gewiss blitzt in diesem Bild etwas vom heroischen Zug einer einsame Entscheidungen treffenden Schöpfergestalt auf, darum wollen wir auf diese traditionalistisch anmutende Zuschreibung nicht verzichten, da sie dem einzelnen Entwerfer Autorenschaft und Verantwortung zuschreibt. Zum anderen verweist die Erwähnung unterschiedlicher Präferenzsysteme auf die gleichsam nietzscheanische Situation der Moderne hin, in der mangels einer allgemein gültigen Orientierung alles gesellschaftliche Handeln unter der Prämisse steht, dass niemand mehr weiß, was prinzipiell richtig ist. In dieser Situation zu handeln, heißt, dass entweder auf einen virtuellen Konsens spekuliert werden muss – Habermas hat hierfür seine Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt – oder dass ohne die Annahme eines Konsenses aus einer selbst gesetzten Autorität und Machtanmaßung heraus (besserwisserisch) gehandelt wird. Wir werden uns im Kapitel über den Umgang mit Macht einer Theorie des Handelns im sozialen Kontext widmen, wodurch das Wissensnetz in einer ganz eigenen Weise geformt wird.

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Halten wir nochmals fest: Unser jetziger Befund schält die konstruktivistische Konzipierung von Kontext, seinen dynamischen Charakter und die Urteilsabhängigkeit architektonischer Interventionen heraus. Dadurch beweist sich erneut der radikal an-archische Prozess der Wissensnetzerzeugung. Außerdem zeigt sich, wie uns die Theorie lehrt, dass das Netz auf der Basis freier Vereinbarung auch sozial konstruiert werden kann. Gleichviel ob individuelle oder soziale Konstruktion – im Akt des konstruierenden Handelns entfaltet sich genau jenes atemberaubende Potential, das aufgrund seiner Verflochtenheit in den amorph-unendlichen Kontext in das – im enzyklopädischen Sinne – Ganze der Welt hineinragt.

Exkurs 3: Über die Vernetzung der Architektur mit der Welt

Nur um der sprachlichen Klarheit willen haben wir bei der Aufzählung der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Kontext in Luhman’scher Manier Teilsysteme getrennt etikettiert. In Wahrheit wissen wir freilich, dass sie zum Überleben intern vernetzt sind. Aus diesem Grund interessieren wir uns besonders für die Annullierung der Grenzen, die die einzelnen Systeme voneinander sondern. Wir beobachten, wie sie sich austauschen, beeinflussen und sich zu steuern und beherrschen suchen. Wichtig ist, welche Handlungsräume sich hierbei für die Architektur ergeben. Von der Darstellung der Architektur als Handlung ist es nur ein Schritt zu einem weiteren Sachverhalt: den der Vernetzung des Eingriffs der Architektur in die Welt mit der Welt. Die Tatsache der Vernetzung ist durch vorangegangene Erörterungen nichts Neues mehr. Doch wollen wir nun die Perspektive ändern, um auch einen Kommentar zur jeweiligen Art dieser Vernetzung entwickeln zu können. Hatten wir in unseren Überlegungen zum Kontext den Architekten in der Situation seines Eingreifens in die Welt dargestellt, in der er die möglichen Wunder der Inspiration und die Nöte des in der Welt Handelnden erfährt, kehren wir nun die Perspektive um. Wir betrachten die Facetten der Auswirkung seines Tuns aus Sicht des Rezipienten. Dieselbe Anstrengung und Denkweise, die auf Seiten der Produktion in die enzyklopädisch angelegte Konstruktion des Netzes einmündet, durchläuft der Rezipient in einer spiegelbildlichen Erfahrung. In unserer gedanklichen Konstruktion fungiert er als ideeller Rezipient, da wir von keinem konkreten Individuum ausgehen und zudem wissen, dass bestimmte Theorien behaupten, sinnliche Wirkungen existierten nur dann, wenn es ein Lebewesen gibt, das sie wahrnimmt. Ungeachtet dessen und unabhängig auch davon, welche Intention der Produzent eines Gebäudes verfolgt haben mag, gehen wir davon aus, dass jeder Gegenstand unvermeidlich Wirkungen hervorruft. Im Folgenden handelt es sich

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daher um nichts andres, als die Impulse zu konstatieren, die der Architekt mit seinen Produkten in die Welt sendet. Stellen wir uns das Netz des Wissens als ein riesiges dreidimensionales Gebilde vor, dessen Verfransungen sich nach allen Seiten im blauen Dunst verlieren. Ähnlich einer interstellaren Galaxie empfängt dieses Netz Licht von einer Quelle. In unserm Fall ist es der Architekt, der mit seiner investigativen Lampe auf den Pfaden des Netzes herumgeistert. Gestartet ist er vom Ort seiner Intervention aus. Jetzt nehmen wir einen zweiten Flaneur im Netz ins Visier. Auch er leuchtet Pfade aus, wenn er Antworten auf die Frage sucht: Welche Wirkungen hat ein Produkt, das aus der Intervention des Architekten resultiert? Zumindest partiell, so wird man annehmen, sollten die Teile des Wissensnetzes, welche die Produktion, und diejenigen, welche die Rezeption der Architektur ermöglichten, deckungsgleich sein. Selbst wenn der Architekt unwissend gehandelt hätte, oder ohne Interesse an den Folgen – die Auswirkungen seines Tuns wären dennoch real. Unser ideeller Rezipient repräsentiert eine Welt, in die Architektur hineinwirkt, soweit sie ihm durch sein Erfahrungssystem zugänglich ist. Wir konstruieren Wirkungsbereiche, indem wir uns in einem Feld mentaler, physischer und psychischer Sensationen orientieren, die von Architektur ausgehen. Obwohl wir durch derartige Begrifflichkeiten die Welt in Felder der Vernetzung aufteilen, ist uns bewusst, dass solche Grenzziehungen die Gewalt von Schubladen haben, deren solipsistischer Charakter das wechselseitige Befeuern der Teile eines insgesamt nervösen Systems unterbelichten. Spätestens seit Maturana und Varela wissen wir, wie im Gehirn und anderen Körperregionen Reize und Informationen aus unterschiedlichsten Richtungen an diversen Knotenpunkten zusammenlaufen und dort zu neuen Botschaften verarbeitet werden35. Wir glauben, dass dieses innermenschliche Netz in seiner 35

Humberto Maturana und Francesco Varela: Der Baum der Erkenntnis, München: Scherz 1987.

Exkurs 3

Struktur die Gesamtheit des Wissensnetzes spiegelt, das als die Wirkung der Architektur auf die Welt durch eben dieses System wahrgenommen werden kann. Auch dies entspricht den Überlegungen der oben genannten Neurobiologen. Die von uns vorgenommene Aufteilung macht die nachfolgende Aufzählung übersichtlicher. Die Nennungen sind unvollständig und die Begriffe liegen nicht auf der gleichen Ebene. Sie überschneiden sich gelegentlich, sind manchmal uneindeutig in ihrer Zuordnung zu den drei Bereichen Psyche, Physis, Mentales System, mithin in jeglicher Hinsicht grob fahrlässig. Wir haben sie dennoch angeführt, weil sie auf erstaunliche und zugleich beängstigende Weise zeigen, wie weit die Architektur in unsere erfahrbare Welt hineinragt und auf wie vielfältige und detaillierte Weise sie mit ihr verflochten ist. Psyche Was sind die architektonischen Auswirkungen auf die

Psyche? Bauwerke, Straßen, Plätze, Park- und Kaianlagen etc. lassen uns empfinden, dass und wo wir auf der Welt sind, welches unsere kulturelle und physische Umgebung ist, der Ort unseres Daseins auch im konkreten Sinn einer lebenslangen Orientierung. Ein gleitender Übergang entsteht von hier aus zum Bewusstsein der Identität, das wir mit der Einzigartigkeit des Ortes oder eines Bauwerks wie des Elternhauses verbinden36. Architektur sollte stets Sicherheit und Schutz erzeugen, sie kann aber beides auch verweigern und uns der Gefahr aussetzen. Architektur kann uns unter sich begraben, vermag aber als Grabmal auch die würdigste Stätte zu sein, die wir je bewohnen werden. Zu Lebzeiten kann sie uns Chancen der Entwicklung unserer Wahrnehmung eröffnen oder einengen und an Erinnerungen appellieren, die uns zurückführen bis in die frühe Kindheit.

36

Christian Norberg-Schulz: Genius Loci, Landschaft-LebensraumBaukunst, Stuttgart: Klett-Cotta 1982. Norberg-Schulz nennt drei Kategorien zur Beschreibung eines Genius Loci: Orientierung, Identifikation und Erinnerung (Wiedererkennen).

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Architektur vermag sehr kurze und sehr lange Assoziationsketten auszulösen. Sie kann unser Empfinden für Vielfalt bestätigen, gar überschreiten und oft auch unterfordern. In ihr lernen wir die Erhabenheit oder Erbärmlichkeit des Monumentalen, Kargen und allzu Schlichten kennen. Architektur verfügt über ein gravierendes Potential, alle Arten von Stimmungen zu erzeugen, zu bestätigen oder zu unterdrücken. In ihrer Nähe fühlen wir uns erschlagen oder großartig, als Herren oder Knechte, frei oder unfrei, freudig oder traurig, erschreckt oder gelassen, erregt oder gleichgültig, verängstigt oder ermutigt, zufrieden oder sehnsüchtig. Um diese Vielfalt der Wirkungen zu registrieren, haben Osgood, Suci, Tannenbaum in „The Measurement of Meaning“ als Methode das Semantische Differential entwickelt37. Architektur kann sämtliche Sinne anreizen oder verarmen lassen, nicht nur die fünf, die üblicherweise genannt werden, sondern auch unseren Sinn für Proportionen, Volumina und räumliche Dimensionen, für Gleichgewicht, Balance oder Fallen – für den Komfort der Seele. Die Architektur moduliert im weitesten Sinn unsere Stimmungen und unser Lebensgefühl, nämlich: wie wir uns fühlen in der Welt. Physis Geläufiger ist Architekten die physische Verwicklung

ihrer Produkte mit der Welt. Bauten steuern die Umweltbedingungen für den Körper, die Temperatur, die ihn umgibt, und die Feuchtigkeit. Unterschiedliche Formen der Erzeugung von Raumwärme, durch Konvektion oder Strahlung, ausgehend von Wand, Decke oder Fußboden, und die physischen Folgen der Klimaattacken, die auf den Kopf durch Deckenstrahlung und auf die Bronchien durch schwebende Staubteilchen geführt werden – all das ist tägliches Brot für architektonische Arbeit. Gesundheit oder Krankheit können ihre Ursachen in Bauten haben. Diese erzeugen elektromagnetische Felder, durch Lage und Leitungen. Gewisse Materialien emittieren Radon, Farben 37

C. E. Osgood, C. J. Suci und P. A. Tannenbaum: The Measurement of Meaning, Urbana: University of Illinois Press 1957.

Exkurs 3

und desgleichen Isolierungen, Kleber und Kunststoffe sondern Giftstoffe wie z. B. Pentachlorphenol aus, oder verseuchen, wie das bei Asbest der Fall ist, die Luft mit Krebs erzeugenden Mikrofasern. Die flächendeckende Verbauung mit Asbest gibt uns ein Musterbeispiel für ein über lange Zeiträume herrschendes gravierendes Unwissen über die Gefährlichkeit eines Baumaterials. Architektur weitet den Blick und engt ihn ein, sie steuert Körperbewegungen und eröffnet Möglichkeiten neuer Verhaltensweisen, indem sie Wege und Nutzungsflächen anbietet. Sie greift – über die Umwälzung von Material – in den physischen Zustand der Welt ein: an unterschiedlichen Stellen wie Bodenverbrauch, Materialverbrauch, Energieverbrauch sowie bei der industriellen oder handwerklichen Produktion von Bauwerken. Aber auch mit der Haltbarkeit der Bauten und dem kürzeren oder längeren Lebenszyklus, den sie durchlaufen, greift Architektur in die Umwelt ein mit zum Teil unvorhersehbaren Folgen für das Klima, die Volkswirtschaften, für Umwelt- und Entwicklungspolitik. Mentales System Welcher Art sind die Impulse der Architektur

auf das mentale System von Rezipienten? Welche Wirkungen übt sie auf den Verstand aus? Inwiefern regt sie unser Denken an? Nehmen wir zum besseren Verständnis das semiotische Modell zu Hilfe, in dem gemäß der triadischen Zeichenrelation (Pierce, Bense) ein Interpretand (der Architekturrezipient) einem Objekt (Gebäude) eine Bedeutung zuweist und fragen wir, welche Art Bedeutung die Architektur transportiert? Sie kann z.B. Inhalt und Funktion eines Gebäudes mitteilen, sofern sie seiner Form oder Gestalt selbstverständlich abzulesen und diese Formen fester Bestandteil eines kollektiven Erfahrungsschatzes sind. Man könnte genauso gut von einem gemeinsamen Repertoire sprechen, von Signaturen, die sich in der Architektur zu unterschiedlichen Typologien ausgebildet haben. Solche Typologien sorgen dafür, dass damals wie heute Rathäuser und Kirchen, aber auch Fabriken, Sporthallen,

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Theater oder Wohnhäusern leicht unterscheidbar sind. Jedenfalls ist das in der Regel so. Umso bedeutsamer und informativer wirken alle Abweichungen auf uns. Architektur kann über die Funktion hinaus auch die Intentionen der Hauseigentümer zum Ausdruck bringen. In der Architekturtheorie spielt es von alters her eine große Rolle, ob sich die gesellschaftliche Stellung eines Bauherrn in den Gebäudedimensionen und dem verwendeten Dekor korrekt widerspiegelt. Alles andere galt als unangemessen und unschicklich. Heute tasten unsere Augen mit einem ähnlichen Interesse Firmensitze, Bankhochhäuser und Privatvillen ab, um den sozialen Status derer, die dort leben und arbeiten, ermessen zu können. Schutzvorrichtungen in Gestalt von hohen Zäunen, Mauern, gesicherten Toren, Überwachungskameras und Wachdiensten kommen hinzu, um die fortgeschrittene Teilung einer Gesellschaft in arm und reich auszuplaudern und die Geld- und Machtverteilung in einer Stadtgesellschaft offen zu demonstrieren. Wieder erkennbare Formen, Gebäudetypologien und Baustile, die darin verwandt sind, dass sie die Wiederholung ähnlicher und identischer Formelemente sicherstellen, die typisch sind für einen bestimmten Zeitabschnitt oder ein besonderes Milieu, repräsentieren niemals nur eine bestimmte Geschmackskultur, sondern lassen sich auch als Ausdruck einer spezifischen Gemengelage von Werten verstehen. So vermittelt beispielsweise ein Bauen, das nicht nur konstruktive, sondern auch soziale, kommunikative, organisatorische und ökologische Probleme ingenieurtechnisch zu lösen vorgibt und obendrein unter der Flagge der High-Tech-Architektur segelt, dass die Technik an sich, über ihre Mittelfunktion hinaus, ein hoher Wert sei. Die postmoderne Architektur der sechziger und siebziger Jahre war im Unterschied hierzu daran interessiert, im Rückgriff auf traditionelle Formelemente, durch topographische Bezüge, bunte Farben und schmückende Details ein Wertesystem zu veranschaulichen, das mit den ästhetischen Dogmen der modernen Bewegung radikal brach. Nicht nur

Exkurs 3

das Primat des Funktionierens wurde prinzipiell angezweifelt, sondern zugleich die Praktikabilität bzw. der alltagspraktische Wert „funktionalistischer“ Architektur. Der modernistische Triumphzug der ökonomistischen Schönheit des minimalen Inputs für maximalen Output wurde gestoppt und zugunsten einer Inauguration plural facettierter Wertsysteme aufgelöst, die der Architektur ihre verlorenen Geschichten und Orte, ihren Mutterwitz (vgl. Robert Venturi: Mother’s House, 1964), ihre Phantasie und Bedeutung wiedergeben sollten. Auch sagt das Formenrepertoire etwas über die Zeit der Entstehung einer Architektur aus. In der Regel können wir einen Bau aus den siebziger Jahren treffsicher von einem Gebäude unterscheiden, das zwanzig Jahre früher oder später entstand. Noch leichter fällt es, Bauten aus den zwanziger Jahren, der Jahrhundertwende oder der Gründerzeit zu erkennen; oder neogotische, klassizistische und barocke Gebäude zu identifizieren. Die Menschen haben gelernt, den naiven Fortschrittsoptimismus, der einst zum untrüglichen Merkmal der Moderne gehörte, zu relativieren. Immer deutlicher wird, dass heutzutage die Musealisierung und Historisierung europäischer Städte, Dörfer und Landschaften ebenso engagiert betrieben wird wie die neugierige Erprobung neuester Hard- und Software aus der Informationsindustrie. Mögen auch in der Mikrowelt der Apparatetechnik weiterhin technische Innovationen alle Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen, gilt zugleich, dass in der Makrowelt des Bauens und Planens gern der traditionellen Architektur- und Stadtbildästhetik der Vorzug gegeben wird vor neuen Lösungen. Oft werden die neue Architektur und der neue Städtebau allein durch ökonomischen Druck erzwungen. Neubauten würden in unseren Breiten unterlassen, wenn der Erhalt des Altbaus an gleicher Stelle nicht so teuer wäre und das Grundstück nicht weit profitabler ausgenutzt werden müsste. Die Moderne ist längst sentimental geworden. Der Westen ahnt, dass der Höhepunkt seiner eigenen Modernisierung überschritten ist. Die Fokussierung auf die heroische Vergangenheit hat längst

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begonnen. Hierzu passt, dass die Menschen zunehmend an der Lesbarkeit der Geschichte interessiert sind. Sie sehen im Erhalt der historischen Bauten und der ihnen angepassten Architektur ein steinernes Gedächtnis entstehen, das zur unverwechselbaren Eigenart der europäischen Stadt beiträgt. Unabhängig hiervon kann Architektur nicht nur dem historisch Gebildeten etwas bieten, sie gibt auch dem strukturanalytisch interessierten Betrachter interessante Hinweise. Angesichts auffälliger Bauten fragt er sich: Ist hier ein Konzept zu entdecken, das diese Architektur trägt? Wie drückt es sich im Entwurf aus? Ist es in der Realisierung vollständig erhalten? Gibt es eine Konsistenz der Details zu einem Gesamtkonzept? Zeichenhaftigkeit von Architektur und ihren Teilen kann gedankliche Assoziationen auslösen, die mit Wissen, Hoffnungen, Ängsten, Sehnsüchten zu tun haben. So haben sich Architekten immer schon im Auftrag Mächtiger des Formenrepertoires bedient, das sie mit allen Angehörigen ihres Kulturkreises teilen, sogar mit den Menschen in den einstigen Kolonien, den Eroberern wie den Unterworfenen. Nur so konnte es zur weltweiten Verbreitung des Palladianismus kommen, der sowohl den politischen Herrschaftsanspruch des Westens als auch den Universalitätsanspruch okzidentaler Rationalität vollkommen repräsentierte. Der Siegeszug des antiken Tempelportikus, der mithilfe einer ideologisierten Architekturtheorie profanisiert wurde, zeigt uns, dass das Prinzip der Reduktion für eine gewaltige Homogenisierung der Architektur sorgte, die sich rasch auf alle Baugattungen ausweitete. Der Abbé Laugier war der erste, der die Dreieinigkeit von Säule, Gebälk und Giebel für alle Ewigkeit auf sämtliche Bauaufgaben angewendet wissen wollte. Würdevoll und lächerlich, ernst und unernst zugleich stehen die antiken Versatzstücke vor Kirchen, Herrscherhäusern, Gerichten, Parlamenten, Ministerien, Banken, Museen und Senioren-„Residenzen“. Die raffinierteste Anwendung demonstrierte Axel Schultes mit der Dekonstruktion des griechischen Säulenportikus vor dem Berliner Bundeskanzleramt.

Exkurs 3

Dort versucht sich der wieder erstarkte Machtanspruch einer wiedervereinten Nation hinter dem modernen Ballett tanzender Pfeiler und Scheiben zu verbergen. Es ist ein aus der Formation gesprungener und dennoch streng symmetrischer Schleiertanz, der diesen Tempel der Macht mit einem wehenden Textil umschmeichelt. Jedes Bauwerk, das die Architekturgeschichte ein Stück fortschreibt und auf diese Weise stets auch Wahrnehmungsgewohnheiten und Zeichenrepertoires irritiert, aufbricht und erweitert, eröffnet die Interpretation der Differenzen und beflügelt den kulturellen Diskurs über Stilrichtungen, Innovationen, Mode, Trends und großrahmige Werteverschiebungen. Architektur wirkt auf das mentale System, gleichviel ob ihre Schöpfer dies beabsichtigten oder nicht, indem sie dem denkenden Subjekt die Möglichkeit ihrer Interpretation anbietet. Als ein Zeichen mit Bedeutungsgehalt erweist sich Architektur gegenüber unterschiedlichen Interpreten stets als kontroverses Medium. Die drei Arten von Wirkungen Wenn wir über Wirkungen im

Netz der Welt sprechen, dann setzen wir eine Unterscheidung voraus, die diese Wirkungen nicht mindert, allenfalls relativiert, auch nichts über ihr Gewicht und ihre Bedeutung aussagt, sie aber anders ordnet. Es gibt Effekte, die auf Skalen messbar sind wie Kosten, Flächen oder eine Energiebilanz. Sie sind unabhängig von Subjekten und daher nach unserem Sprachgebrauch objektiv. Hierzu gehören beispielsweise die Kosten und die Energiebilanz einer 5000 Quadratmeter großen Hochhausfassade aus speziellem Sonnenschutzglas, angeboten von einer speziellen Firma. Sodann gibt es Wirkungen, die keine derart „harte“ Dimension aufweisen, gleichwohl in der Wahrnehmung einer Gruppe von Leuten, die sehr groß sein kann, gleich oder ähnlich ausfallen. So etwas hängt meist mit verwandten Sozialisationsmustern und Akkulturierungsprozessen, mit vergleichbaren Informationshintergründen, Konventionen und Gruppenritualen zusammen. Wir sagen in diesem Fall: Wirkungen

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werden intersubjektiv geteilt, wie die Schönheit bestimmter Landschaften (Heidelandschaft) und Stadtansichten (Heidelberg). Selbstverständlich gibt es auch Sinneswirkungen, die in der Subjektivität eines Einzelnen eingeschlossen bleiben, die sich kaum mitteilen lassen und von anderen nicht geteilt werden. Sie verdanken sich z. B. einer ganz besonderen, nicht wiederholbaren Situation bzw. Grenzerfahrung, vielleicht auch einem sogenannten psychischen Defekt. Ansonsten gilt: Kein Detail, keiner der aufgeführten Punkte im Netz der Wirkungen ist für sich neu oder erstaunlich. Informativ ist lediglich der Umfang der Vernetzung, die Vielfalt und der Reichtum, aber auch die Gefahr, die von den rhizomatischen Wucherungen architektonischer Sensationen im Humus unserer Lebenswelt ausgeht. Wir weisen ohne Beleg darauf hin, dass jeder physische Effekt Ursache einer veränderten psychischen Befindlichkeit sein kann, und dass jede mentale Verarmung oder Bereicherung die Weichen für die kulturelle Produktivität von Individuen und Gruppen stellt. Es sei der Phantasie eines in der Lebenswirklichkeit orientierten Lesers überlassen, sich die weit verzweigten Wirkungen semantischer Desorientierung, ästhetischer Unterforderung, die Folgen von Gesundheit oder Krankheit, Sinneslust oder Ermattung, von Verlusterfahrungen, hoher Schulden (beim Bau eines Hauses) oder des Klimawandel auf persönliche Schicksale vorzustellen. Wenn Architekten nicht Spieler sind, sondern verantwortlich handeln wollen, dann eröffnet sich ihnen unweigerlich die Bandbreite der Ethiken, die ihr Handeln leiten könnten. Mit der Ethik oder Moralphilosophie nennen wir nur kurz ein weiteres Subsystem planerischen Handelns, aus dem, je nach Option, ein moralischer Bezug zum universal vernetzten oder auch enzyklopädischen Denken geknüpft werden kann. Dieser Hinweis bildet nicht von ungefähr eine Schwelle zwischen zwei Kapiteln: dem über den Eingriff des Architekten in einen Kontext, und dem Abschnitt über ein wesentliches Konstituens des Handelns im sozialen Kontext – dem Phänomen der Macht. Überschreiten wir die Schwelle, so geraten wir in

Exkurs 3

einen anderen Explikationszustand und eine andere Färbung des Netzes. Doch verfärbt es sich ja nicht nur, es ändert auch seine Form und gewinnt neue Knoten und Verbindungen. Wir werden die Struktur und Technologien der Macht im nachfolgenden Kapitel ausbreiten. Sie weist viele Dimensionen auf. Eine davon, die Macht der Wirkungen, haben wir gleichsam vorweggenommen, indem wir zeigten, wie die Architektur mit der Welt vernetzt ist. Um aber das Handeln im Netz der realen Welt wirklichkeitsgetreu modellieren zu können, bedarf es noch des allgemein bekannten, gern ausgeklammerten und deshalb nur umso wirksameren Konzeptes der Macht, jenes Triebs mithin, der laut Nietzsche alles steuert.

Handlungswissen der Architektur (2) Architektur und Macht

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Schiere Größe wie im Falle von Ceaucescus Palast in Bukarest, dreiste Höhe, man denke an die in den Himmel schießenden Türme des global agierenden Finanzkapitals, repräsentative Platzierungen von Regierungssitzen, Okkupationen zentraler innerstädtischer Orte durch die Hauptsitze großer Konzerne, Gebrauch von Zeichen aus dem Repertoire antiker Tempel- und Herrscherbauten – dies alles sind Mittel der Architektur, um einen Teil der Menschen herauszuheben, ihn über den anderen Teil zu stellen; denn es gilt Distanz zu wahren und ganz wenige sehr groß und allzu viele sehr klein zu machen. Darum fragen wir: Haben die Architekten das selbst so gewollt, weil sie die entsprechende genetische Anlage zeigen, durch ihre Ausbildung dazu konditioniert werden, oder vom sozialen Unterschied der Menschen überzeugt sind? Oder haben sie sich den herrschenden Verhältnissen bloß angepasst? Ist es nicht eine schlichte Tatsache, dass, wer baut, Geld braucht, und wer über Geld verfügt, Macht hat? Macht, die als amorphe Form von Herrschaft zur unweigerlich bestimmenden Kontextgröße der Architektur wird? Oder ist es nur der verbissene Kampf um – ideelle und merkantile – Marktanteile, der Architekten den Schulterschluss mit den Mächtigen dieser Welt eingehen lässt, um sich Konkurrenten vom Halse zu schaffen und sie auszustechen? Die Verflechtung der Architekten mit der Macht ist offenkundig, doch scheint sie einem leisen Tabu zu unterliegen. Jedenfalls ist sie kein Gegenstand innerprofessioneller Diskurse. Wenn wir daher den Anspruch unserer These aufrechterhalten,

Architektur und Macht

Trinity Church: Wer besetzt die zentralen Orte?

dass Architektur Weltwissen ist und verkörpert, dann wird außerdem zu zeigen sein, dass die Verbindung von Architektur und Macht Teil der von uns angesprochenen universale Netzstruktur ist. Wir stellen daher die These auf, dass es nicht nur einen tief sitzenden, strukturellen Zusammenhang zwischen Architektur und Macht gibt, sondern dass dieser Zusammenhang die soziale Vernetzung der Architektur repräsentiert und dass Macht ein wesentliches Konstituens des Handelns der Architektinnen und Architekten in der Welt ist.

121

Der Einzelne soll sich klein fühlen… (Deutsches Stadion, Reichsparteigelände in Nürnberg 1937–39, Modell des Sockels in Originalgröße.)

Der soziale Kontext Wenn wir von einem Konzept des Wissens

als einem sich ständig erweiternden Netz unter der Regie wissbegieriger Akteure ausgehen, dann scheint seine Richtung und sein Inhalt – wie im Abschnitt über die Wissenstheorie der Netze beschrieben – ausschließlich abhängig vom Interesse des suchenden Architekten zu sein. Wir haben vormoderne klassifikatorische Ordnungen als Hemmnisse identifiziert und Möglichkeiten ihrer „rhizomatischen Unterwanderung“ aufgezeigt, die zur Förderung assoziativer Phantasieleistungen dienen und den situationären Erfordernissen eines Planungsprojekts viel besser entsprechen. Das assoziative Schweifen der Gedanken und die Freiheit des Suchens bilden anarchische Formen einer Hermeneutik, die wir in einem Zusammenhang postulierten, in dem es uns um die Entwicklung des Wissens im wachsenden Netz ging, unabhängig von den gefügten universalen Ordnungssystemen der enzyklopädischen Anstrengungen vormoderner Provenienz. Sobald wir diesen epistemologisch entwickelten Schauplatz des Aufstandes gegen die disziplinierenden Ordnungssysteme

Architektur und Macht

verlassen und die Entwicklung des Wissens in der Realität des Planens und Entwerfens betrachten, dann zeigt es sich (wie wir dies schon bei der Aufstellung von Komplexitätsbedingungen vorausgesagt hatten), dass auch und gerade die architektonische Wissensproduktion in den sozialen Kontext, in dem der Architekt agiert, eingebunden ist. Bekanntlich arbeiten Architekten nicht in Hochsicherheitstrakten oder in klinisch-aseptischen, nur über Schleusen zugänglichen Operationsräumen, die frei von den Keimen der Kritik, der Konkurrenz und des Kapitaleinsatzes sind. Und schon gar nicht befinden sie sich wie Adam oder Eva im Paradies oder in Isolierhaft. Alles Planen und Entwerfen geschieht in einem sozialen Kontext. Es gibt hier keine Ausnahme. Und: Dieser Tatbestand hat Auswirkungen. Die Erkenntnis, dass Architekten- und Planerwissen nur zu einem kleinen Teil objektiv gegeben und empirisch ermittelt und gewiss nicht nur in der Individualität eines Autors vermutet werden kann, sondern zu einem überwiegenden Teil ein soziales Konstrukt ist, führt zu einem besonderen Mechanismus, über den Wissen erlangt wird: dem der sozialen Interaktion. Gemeint ist damit die explizite wie auch implizite Kommunikation über die Inhalte des Wissens. Insofern Architektur als Kulturprodukt in den sozialen Kontext verflochten ist, ist sie nicht autark. Der soziale Kontext umfasst die herrschenden ökonomischen Verhältnisse und politischen Strukturen im Allgemeinen, wie auch die jeweils darin eingebetteten besonderen bzw. „situationären“ Konstellationen, die zumeist die in einer Gesellschaft geltenden Bedingungen und Strukturen spiegeln. Politische und ökonomische Verhältnisse sind Machtverhältnisse. Architekturkonzepte können allerdings, wenn sie der Zeit vorausgreifen, als frühe Indikatoren von Verhältnissen, die in Veränderung begriffen sind, angesehen werden. Und zwar durchaus in der rabiaten und zugleich sensiblen Weise, die hellsichtigen Kunstwerken eignet. Als Beispiel hierfür wäre die französische und die russische Revolutionsarchitektur zu nennen, so wie sie Adolf Max Vogt diskutierte. Oder die Eisenund Glasarchitektur der Pariser Passagen, die Walter Benjamin

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als ein Ort beschrieb, an dem sich ein vergangenes Jahrhundert in die Moderne hineinträumte. Oder wir denken an die großherzigen alpinen Überbauungen Bruno Tauts, die zusammen mit den Glasutopien Paul Scheerbarts nicht nur auf eine bessere Zukunft, sondern auf eine unseren Lebensverhältnissen sogar physikalisch widersprechende exterrestrische Welt spekulierten. Konträr hierzu kann Architektur auch sehr sentimental werden und „goldenen Zeitaltern“ nachtrauern, wie es der politisch reaktionäre Teil der neogotischen Bewegung unternahm, als er den durch die Industrielle Revolution bewirkten Aufbruch des 19. Jahrhunderts in die vermeintlichen Handwerksidyllen des Mittelalters umleiten wollte. Damit stehen wir schon auf der Schwelle zur Lüge, die das Neue Bauen dem Historismus in seiner Gesamtheit vorwarf, doch scheint ja das Lügen erst so recht von einigen Protagonisten der Postmoderne zur bewussten Strategie erhoben worden zu sein (vgl. Ricardo Bofill). Der überwiegende Fall aber ist sicher der, dass Bauwerke die präzise Spiegelung der realen Verhältnisse anstreben, ob nun als Index oder Symbol, als Affirmation von Technokratie und Bürokratie, als Ausdruck der Produktionsverhältnisse oder als Interpret des Privaten angesichts der res publica. Architektur, die gebaut wird und sich dabei keiner alternativen Herstellung bedient, ist automatisch ein Produkt der herrschenden Machtverhältnisse. Mit dem Anspruch unserer These, dass Architektur Weltwissen inkorporiert, eröffnen wir den Schauplatz für Überlegungen, wie sich das Phänomen der Macht mit dem enzyklopädischen Netz architektonischen Wissens verbindet. Wir interessieren uns für die Struktur der Macht und dafür, in welcher Weise sich ihre Äußerungen in die Such- und Findungsprozesse des modernen Wissens einlagern, wie sie diese überformen und auf welchen Wegen und mithilfe welcher Mechanismen sie schließlich auch die Richtung und Ausdehnung des universellen Wissensnetzes verändern. Architekturpläne verteilen stets unter dem Schutzschild segregativer Regeln Vor- und Nachteile: solche des Ruhmes,

Architektur und Macht

der Selbstrepräsentation und semantischen Vorherrschaft, auch solche des Geldes natürlich, der Territorien und Lagegunst etc.. Der Produzent des Plans ist ex ante oder in productione (in der Verwertung auch ex post) nie derjenige, der allein bestimmt, sondern er ist fortwährend Einflüssen ausgesetzt. Diese können impliziter oder expliziter Natur, von außen herangetragen oder bereits internalisiert sein. Einfluss nehmen vor allem auch konkrete Personen, die größtes Interesse am Ausgang des Entwurfs- und Planungsprozesses haben und somit auch an der schon angeführten Verteilung von Vor- und Nachteilen. Zu seinen eigenen Gunsten will jeder Pläne beeinflussen und formen. Der Architekt wird sich dagegen entweder erfolgreich zur Wehr setzen oder – wider besseres Wissen – nachgeben. So oder so entsteht ein Gerangel, wobei verschiedene Fraktionen und Interessenten versuchen, ihre Ziele durchzusetzen, selbst gegen größte Widerstände, wenn es denn sein muss. Damit sind wir definitiv im spannungsreichen Feld der Macht angelangt. Wir müssen uns nun in Erinnerung rufen, dass das Wissen, das jetzt ins Spiel kommt, nur zum Teil der Wissenschaft mit ihrem Kanon derzeit gültiger Akzeptanzregeln entstammt. Zu einem anderen, nicht gerade unbeträchtlichen Teil entstammt es der Sphäre strategischer, technischer und sozialer Entscheidungen und der zugehörigen Erwägungen, ob etwas so oder anders sein soll. Hier kommen statt Fakten oder Modellierungen nun Positionen und Argumente ins Spiel. Wissen entsteht im Diskurs. Wir nennen es das „Sollwissen“, das erheblich zu den Erkenntnissen beiträgt, die das Entwerfen anleiten. Hierbei stehen ja permanent Fragen zur Entscheidung, die einem erheblichen ökonomischen oder politischen Druck ausgesetzt sind. Beispielsweise die, wie ein Volk sich in seinen Bauten repräsentieren solle, welche Nutzungen dem Zentrum einer Stadt angemessen seien, wer den öffentliche Raum wie bespielen darf, welche Fassade für welchen Inhalt die bessere sei: Ob tatsächlich, wie Mies van der Rohe behauptete, der Grundsatz „weniger ist mehr“ gelten soll, oder ob, wer Geld hat, auch damit protzen darf, oder ob die Gebäudehaut eine technologische Innova-

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tion zur Energieeinsparung nutzen solle. Die Lösung solcher Probleme kann genauso empfindlich an der ästhetischen Position des Architekten wie am ökologischen Gesamtkonzept eines Projekts rütteln. Diese Art Wissensproduktion im Diskurs springt mühelos von der konkret-baulichen in die abstrakte Ebene kultureller oder sozialpolitischer Diskurse, deren Rauschen die ständige Umgebung der Architekten bildet. Dabei unterliegt dieser Diskurs – das hat Foucault (was für die Anhänger der Habermas’schen Idee einer herrschaftsfreien Kommunikation schmerzlich genug war) überzeugend herausgearbeitet – selber Einflüssen der Kontrolle, Selektion und steuernder Kanalisation. Die Folge ist: Der Architekturdiskurs entpuppt sich als „dasjenige, worum und womit man kämpft: er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“38 Da Architekten und Stadtplaner ihre Konzepte und Pläne in einem sozialen Kontext produzieren und dieser Produktionsprozess durch Herrschaftsverhältnisse geprägt ist, müssen wir ihrem Wissen auch das Machtwissen zuschlagen. Genauer gesagt bedarf es jetzt einer besonderen Anstrengung, das architektonische Wissen in zwei Sphären zu unterteilen: In jene, die von Machtallüren frei sein will, und jene, die unter dem Vorbehalt der Macht steht. Gerade Debatten um ethische und ästhetische Positionen sind von Herrschaftsmechanismen unterwandert und werden für Machtspiele missbraucht. Wir werden daher die Verformungen des Wissens durch Einflüsse der Macht, sodann diese Macht selbst, die ja ihrerseits Beziehungsnetze flicht, ebenso strukturanalytisch betrachten wie die Wissensnetze. Machtstrukturen sind wissbare Gegebenheiten, so wie es auch der Architekt lernt und schließlich weiß, mit Macht umzugehen. Wir werden versuchen zu zeigen, dass es sich nicht um fixierte Strukturen handelt, die Architekten einem unausweichlichen Schicksal aussetzen. Sie sind keine passiven Akteure im 38

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt: Suhrkamp 2000, S. 11.

Architektur und Macht

Machtpoker, sondern verfügen über eigene Chancen, Macht aufzubauen und zu nutzen. Zur Struktur von Macht und Herrschaft Rufen wir uns die

Definition von Max Weber in Erinnerung: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.39 Ergänzen wir an dieser Stelle, dass es nicht das Handeln allein ist, das uns hilft, soziale Beziehungen zu strukturieren, sondern dass Macht ein regelrechtes „Vermögen“ (zu handeln) bedeutet – darauf verweist die indogermanische Wurzel „magh“ –, also die Möglichkeit, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun. Halten wir überdies fest, dass die Basis der Chance, seinen Willen durchzusetzen, beliebig sein kann. Durch diesen, wie Weber selbst feststellt, amorphen Charakter des Phänomens Macht sind sehr viele Möglichkeiten offen gehalten, in denen sich Macht und Einfluss entfalten können. Übrigens enthält sich Webers Definition eines ethischen Kommentars. Im Unterschied zur Macht hat „Herrschaft“ ein engeres Profil, insofern sie laut Weber die Chance bedeutet, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.40 Diese Situation gilt in festgezurrten Strukturen, in denen die Mittel der Macht offensichtlich schon erfolgreich waren und zu einem über einen längeren Zeitraum gültigen irreversiblen Verhältnis führten. In modernen Gesellschaften bestehen diese nur mehr in Kommandostrukturen fort, wie sie etwa beim Militär Gang und Gebe sind. In den meisten anderen Sphären erweisen sich soziale Strukturen als eher labil, multilateral, oft auch undurchsichtiger und schwerer zu bestimmen. Wir bevorzugen daher gegenüber dem nach 1968 im Zusammenhang mit Architektur aufkommenden Begriff der Herrschaft (vgl. Reinhardt Bentmann und Michael Müller: Die Villa als 39

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck 1980, S.28.

40

Ebd., S.122.

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Herrschaftsarchitektur, 1970) ein Verständnis von Macht, das nicht nur die Beziehung zu den politisch oder ökonomisch Herrschenden ins Auge fasst, sondern uns auch die feineren Mikrostrukturen beleuchten lässt, die den Architekten im Gewebe des Kontexts umgeben. Auch Foucault argumentierte explizit gegen den fixierten Dualismus von Herrschenden und Beherrschten und entwickelte stattdessen ein Modell, das die jeweilige Verteilung der Macht als ein Ergebnis permanenter Auseinandersetzungen zwischen Individuen, Gruppen und Institutionen darstellt.41 Nach dieser Vorstellung erweist sich Macht in Planungsprozessen als nicht determiniert und nicht fixierbar. Im Gegenteil mischen sich beim Planen die Karten der Machtverteilung neu, oder sie verweigern sich eindeutigen Zuweisungen und verteilen sich auf viele Akteure.42 Ein Blick in die logische Struktur von Machtbeziehungen43 zeigt die Tragfähigkeit dieses Modells und gleichzeitig die Art der eingelagerten Rationalität. Kleiner Exkurs zur Logik der Macht Die Relation zwischen

einem Träger von Macht (T) und einem Objekt (O), das unter dieser Macht zu leiden hat, ist wesentlich bestimmt von T’s Fähigkeit, durch eine Drohung O dazu zu bringen, etwas zu tun, was er nicht will. Damit es zum Konflikt kommt, gehört, dass beide die Differenz ihrer Wünsche kennen (Voraussetzung hierfür ist die Kommunikation darüber). Unabhängig davon darf der Mächtige mit der Empfindlichkeit des Bedrohten für die von ihm ausgesprochene Drohung rechnen. Dem Bedrohten O bieten sich zwei Möglichkeiten der Reaktion: Er kann nachgeben – dann ist die Machtsituation gegeben; er kann sich aber auch weigern zu tun, was T will. Es ist eine Entscheidung auf

41

Michel Foucault: Wille zum Wissen, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 113, 115.

42

Michel Foucault: Mikrophysik der Macht, Berlin: Merve 1976, S. 115.

43

Wolf Reuter: Die Macht der Planer und Architekten, Stuttgart: Kohlhammer 1989, S. 33 ff.

Architektur und Macht

der Basis eines Schadens-Nutzen-Kalküls, also einer argumentativ vollzogenen Abwägung. Das bedrohte Machtobjekt O wägt ab, ob der Schaden, der durch die Realisierung der angedrohten Maßnahme einträte, größer oder kleiner wäre als der Schaden, den es nähme, wenn es dem Willen von T folgte. Weigert sich O, so kann der Schaden groß, aber der moralische Gewinn höher sein; er hat sich jedoch aus der Machtrelation hinausbegeben. Erst wenn O nachgibt, ist die Situation der Macht realisiert. In beiden Fällen rechnet er fest mit T’s Fähigkeit und Willen, seine Drohung wahr zu machen. Hier wird konsequentes Verhalten wechselseitig unterstellt. Das ist generell eine Bedingung von Rationalität, nicht nur der Rationalität der Macht! Da Änderungen von Machtkonstellationen empirisch häufig feststellbar sind, fragen wir nach den Möglichkeiten eines offenen Ausgangs einer Machtauseinandersetzung. Sie liegen wesentlich in zwei Möglichkeiten: zum einen in T’s Möglichkeit, sich zu entscheiden, keine Forderungen zu stellen, und andererseits in O’s Entschluss, der Forderung von T trotz Bedrohung nicht zu folgen. In diesem Fall riskiert er die angedrohte Maßnahme, es sei denn, er verfügt über eine Gegenstrategie. Letztere kann ihren Erfolg z. B. aufgrund einer veränderten Machtbasis kalkulieren. Eine dynamische Situation entsteht, und es wird ersichtlich, dass es keine fixierbare Machtverteilung gibt, dass das „Spiel“ offen ist. Entsprechend kann auch ein Architekt gegenüber einem Bauherren oder einem externen oder internalisierten Referenz- oder Wertesystem stets gewinnen oder verlieren. Es gibt genügend Fälle eines erfolgreichen Ausgangs solcher Machtspiele. Die hohen Freiheitsgrade, nach denen etablierte Architekten wie Herzog und de Meuron oder Rem Koolhaas agieren, beweisen das zur Genüge. Dass es zu Sieg oder Niederlage kommt, hängt von der Fähigkeit ab, die Verteilung von Machtbasen ändern oder den Einsatz von Machtmitteln richtig kalkulieren zu können. Hierzu nehmen wir ein Netzwerk von Machtbeziehungen an, in dem jeder Akteur in irgendeiner Hinsicht und in irgendeinem Ausmaß auf jeden anderen Akteur Macht ausüben kann.

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Kalküle der Macht Normalerweise versuchen die beteiligten Akteure, ihr Risiko, im Machtkampf zu unterliegen, so niedrig wie möglich zu halten. Ihre Abwägung von Machtakten folgt Kalkülen, die wir darstellen können. Es ist die strategische Rationalität eines einzelnen Akteurs, der die Durchsetzbarkeit seines Interesses gegen die Interessen anderer rationaler Gegenspieler kalkuliert. Es sind Kalküle wechselseitiger ‚Images‘: O denkt darüber nach, wie er auf die Drohung von T reagieren könnte. T entwickelt ein Bild der Erwägungen von O und denkt seinerseits über mögliche Reaktionen nach etc.. In wissenschaftlichen Analysen wurden schon verschiedene derartige Kalküle durchgespielt.44 Typische Bestandteile solcher Kalküle sind: Kann T seine Drohung auch ausführen? Wenn ja, würde er es im Ernstfall tun? Was verursacht den größeren Schaden für O: die Drohung in Kauf zu nehmen oder lieber zu vermeiden? Kann O eventuell die Maßnahmen, die T androht, verhindern? Ist er in der Lage, seinerseits eine Drohkulisse aufzubauen, indem er sich mit Gleichgesinnten verbündet, oder mit T in Verhandlungen tritt und ihm einen Kompromissvorschlag unterbreitet? Vielleicht kann O versuchen, T’s Macht zu untergraben? Ist es möglich, dem Scheine nach einzulenken und dennoch weiterhin einen Konfrontationskurs zu steuern? O wird sich fragen, ob T in die Verhandlung hineingehen wird und welche Argumente er parat hat? Für beide Seiten befriedigende Kompromisse werden erfahrungsgemäß nur bei Machtäquivalenz ausgehandelt. Diese wiederum kann nur durch institutionalisierte Verfahren, die missliebigen Machtgebrauch gleichsam neutralisieren, hergestellt werden. Solche Verfahren lauten im Planungs- und Produktionsprozess von Bauten und Städten: wechselseitige Kontrolle, Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Selbsthilfe, Partizipation, Minimalplanung, Prinzip der kleinen Schritte, spezielle Rechte für Minderheiten, Entanonymisierung von

44

Ebd., S. 49 ff.

Architektur und Macht

Verantwortlichkeit etc.. Verfahren zur Subversion angemaßter Macht wurden meist selbst mit den Mitteln zivilen Ungehorsams, mithin durch Demonstrationen der Macht, erzwungen. Wir haben uns nun der Logik, der Struktur und der Kalküle der Macht vergewissert und fragen im Folgenden nach den strukturellen Brücken zwischen Architektur und Macht. Wir finden sie einerseits in gewissen Ähnlichkeiten, andererseits in einer fundamentalen Figur: der Delegation, die die beiden Konzepte miteinander verkoppelt (und schrappen dabei ganz dicht am verfänglichen Wort verkuppeln vorbei, aber nur deshalb, weil uns, obgleich es sich auch im Fall von Architektur und Macht um eine schicksalhaft gestiftete Liaison handelt, uns die Person fehlt, die die Kupplerin spielt – es sei denn die Göttin des Geldes.) Architektur und Macht – strukturelle Ähnlichkeiten Es gibt

einen tief sitzenden, strukturellen Zusammenhang zwischen Architektur und Macht. Beide treffen sich, insofern es um ordnende Konzeptionen geht. Die Architektur, befreit von ihrer gebräuchlichen Äußerungsform in dreidimensionalen Objekten, enthält als Substrat die Eigenschaft, eine nach einer Idee zu einem Ganzen gefügte Ordnung zu sein, ob nun als Gedankengebäude, Ausstellungslayout, Ostpolitik oder Computerprogramm (um nur einige wenige heterogene Bereiche zu nennen). Ähnliches gilt für Macht, die in ihrem Verfügungsbereich strategische Handlungen strikt unter der Vorgabe der Erweiterung von Einflusssphären ordnet. In diesem abstrahierenden Sinn verfügt ein geordneter Machtbereich stets über eine Architektur. Wenn wir davon ausgehen, dass die Architektur in der Zeit ihrer Entstehung direkte oder zumindest strukturelle Parallelen zur Entwicklung von Ritualen aufwies, dann wuchs ihr auch gleich diesen Ritualen die Kraft zu, „eine ansonsten nicht zu meisternde Welt in Ordnung zu halten“ (so Peter Sloterdijk in seiner Rede „Das Zeug zur Macht“ in Karlsruhe 2008). Die Architektur geriet so zu einer archetypischen Verkörperung von Macht, ebendies zu leisten und mit dieser Botschaft den Menschen zu konfrontieren.

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Weitere Ähnlichkeiten treten zutage, weil beide, Architektur und Macht, bei der Produktion von Konzepten, Ideen und Plänen ihre Intentionen stets auf Maßnahmen in der Zukunft richten; überdies zeigen sich Ähnlichkeiten bei der Verteilung von Vor- und Nachteilen: in der Architektur, wenn es um Fragen der Selbstrepräsentation, Exklusion oder Nutzungsform geht, und im Falle der Macht, wenn Schaden bei Nichtbefolgung einer Weisung angedroht ist. Zum dritten erkennen wir Verwandtes im Begehren, notfalls Maßnahmen gegen Widerstände durchzusetzen. Der Mächtige ist hierzu immer bereit, und der Architekt kommt spätestens, wenn er einen Entwurf realisieren will, in die Situation, seine Vorstellungen gegen massive Einsprüche durchsetzen zu wollen, weil die Realität oft nichts anderes ist, als ein einziger mächtiger Widerstand, ob er sich nun in der Person des Bauherren formiert, oder in Gestalt von Ämtern organisiert, oder in abstrakten Regelwerken formalisiert, oder in Konkurrenten personalisiert und als Mainstream idealisiert. Ob er gegen diese Phalanx bestehen kann, hängt beim Architekten wie bei jedem Machthaber von den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln und deren Gebrauch ab. Architektur und Macht in der Struktur der Delegation

Macht ist für einen Architekten immer dann wichtig, wenn er sie für die Entwicklung oder Ausführung seiner Pläne, Ideen und Konzepte braucht. Hatten in der Renaissance noch große Mäzene ihre Macht an Architekten weitergegeben und geliehen – wobei man davon ausgehen konnte, dass die bestimmenden Wertsysteme bei beiden ziemlich kongruent waren – , so ist für moderne Gesellschaften die Diversität der Werte charakteristisch und sogar prinzipiell vorherrschend. Oft ist es nur die triviale aber entscheidende Differenz in der Gewichtung wirtschaftlicher und funktionaler Aspekte gegenüber der kulturellen Verankerung eines Entwurfs. Hinzu kommt, dass nicht allein die Wertvorstellungen verschiedener Subsysteme miteinander konkurrieren, sondern zudem jedes dieser Systeme in sich selber werteheterogen ist.

Architektur und Macht

Man betrachte nur die unterschiedlichen Lager der so genannten „Funktionalisten“, die sich untereinander spinnefeind waren und immer noch sind; oder sehe sich die erbittert geführten Richtungskämpfe konkurrierender „Ismen“ unter Künstlern und Architekten an. Sodann die Versuche, neue Trends zu erfinden, die die vorangegangenen außer Kraft setzen. In all diesen Fällen gilt jedoch eines: Die Grundstruktur des Verhältnisses von Bauherren und Architekten wird stets durch das Prinzip der Delegation gebildet. Architekt und Stadtplaner sind Experten für ein Produkt, das der Bauherr will und an sie delegiert hat. Zur Expertise der Architekten gehören jedoch auch „deontische“ Wissensbestandteile, die über das, was von ihnen konkret verlangt wird, hinausgeht. Adorno fasste diese besondere Kompetenz in seinem Vortrag „Funktionalismus heute“ (1965) in die Worte: „Menschenwürdige Architektur denkt besser von den Menschen, als sie sind“.45 Architekten müssen wissen, was ist, aber auch aussagen, was sein soll und wie es sein soll. Das schließt ästhetische Aussagen und die strategische Verteilung von Vor- und Nachteilen ein, sei es in Bezug auf die sozial selektive Nutzbarkeit von Gebäuden oder die Selbstrepräsentation einer Stadtgesellschaft. Der Architekt und Stadtplaner schlägt solche Verteilungen vor, bestätigt oder korrigiert sie, und er inkorporiert dem Entwurf seine ästhetischen Vorlieben, seine Idiosynkrasien (Farben, Formen, Materialien etc. betreffend) und seine Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse. Da Wertesysteme – davon können wir ausgehen – bei genügend feiner Betrachtungsweise prinzipiell verschieden sind, ist mit einem Unterschied der Präferenzen beim Architekt und all den anderen Akteuren fest zu rechnen. Diese Diskrepanz begründet das permanente Risiko,

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Allerdings vergaß er nicht zu betonen, dass der Architekt zugleich die an ihn gerichteten Wünsche immer auch ernst nehmen müsse, auch wenn sich darin „falsche Bedürfnisse“ spiegeln sollten. (Vgl. Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aestetica, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 120.)

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dass ein Architekt die Wünsche eines Bauherrn, den Bedarf von Nutzern, die Erwartung der Kritiker oder Kollegen nicht trifft. Jede seiner Festlegungen ist, wenn sie den Vorstellungen des Bauherrn, der Nutzer, Anrainer oder sonstiger Betroffener zuwiderläuft, ein Akt der Macht. So wie alle Änderungsintentionen beispielsweise aus Gründen der Kostenersparnis, der ästhetischen Anpassung eines Entwurfs an die umgebende Bebauung etc., Akte der Macht gegenüber dem Architekten darstellen. In der Delegation von Sollentscheidungen an einen Architekten und in der gleichzeitigen Diskrepanz der Wertesysteme liegt der Keim für Machtgebrauch. Ob Architekt oder „die“ Gegenseite – sämtliche Akteure werden ihre Chancen nutzen wollen, ihre Positionen auch gegen massive Widerstände durchzusetzen. Die Dispersion der Macht im Netz der Beteiligten Wenn wir von „Bauherrn“ und „Architekten“ als den zwei Akteuren im Machtkampf sprechen, so ist dies eine Vereinfachung zu Gunsten oder Lasten von zwei Rollen, die vielleicht einst die Bühne des Baugeschehens im Duett bespielt haben, mittlerweile aber selten ungestört agieren können. Insbesondere bei großen Planungsvorhaben repräsentieren sie nur mehr zwei Knoten in einem Netz, das eine Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf viele Mitspieler vorsieht. Hinter dem „Bauherrn“ stehen oftmals Investoren, die ihrerseits an den Fäden von Kredite verleihenden Bankern zappeln. Oder es tritt als anonymer Bauherr der Staat, das Land oder die Kommune mit undurchsichtig verteilten Verantwortlichkeiten auf. Außerdem gibt es Ingenieure für Tragwerke und Energie effiziente Systeme, die eine Gebäudekonzeption entscheidend mit bestimmen können. Es gibt Stadtplanungs- und Umweltschutzämter, Denkmalsschutzbehörden, Projektsteuerer, Generalunternehmer, Facility Manager, Anlieger, Benutzer, Kollegen, Kritiker und Redakteure. Sie alle und sämtliche öffentlichen Medien machen ein Interesse geltend, das als ihr Präferenzoder Wertsystem bezeichnet werden kann. Die Divergenz der Positionen ist also nie nur zwischen den Monolithen Bauherr

Architektur und Macht

und Architekt aufgespannt, sondern verteilt sich auf das gesamte Netz der Akteure in unterschiedlichsten Ausprägungen. Wenn wir uns als Ergebnis der Struktur und Logik der Macht vergegenwärtigen, dass der Eintritt einer Situation, in der Macht ausgeübt wird, abhängt von den Strategien, Kalkülen und Entscheidungen aller beteiligten Machtträger und Machtobjekte, dann sind prinzipiell die unterschiedlichsten Verteilungen denkbar, ob und wann und in welcher Beziehung jemand über einen anderen Macht hat und ausübt. Werden Machtmittel, wie sie im nächsten Abschnitt beschrieben sind, eingesetzt, dann sind beim Planen und Bauen eine Fülle von Ausgängen des „Machtspiels“ möglich. Es ist keineswegs trivial, dies festzuhalten, da es Theorien gibt, die behaupten, dass Macht den Lenkungsinstanzen des Staates, den herrschenden Klassen, gesellschaftlichen Eliten und Besitzern von Produktions-, Dienstleistungs- und medialen Mitteln unabänderlich zugeordnet sei. Wenn dies zuträfe, könnten selbstverständlich erwünschte Veränderungen der Produktions- und Machtverhältnisse nur über eine radikale Umwälzung der bestehenden Gesellschaft durchgesetzt werden. Bei optimistischer Betrachtung der jüngeren Geschichte und der evolutionären Prozesse in Politik, Kultur und Gesellschaft kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass in den modernen Demokratien mit der Zeit eine gerechtere Verteilung von Macht und Einkommen durch friedliche Reformschritte zu erreichen ist. Auch wenn man anderer Meinung sein sollte, da die kapitalistischen Gesellschaften ihre Konflikte nicht wirklich lösen, sondern nur in die Dritte Welt und in den Nahen Osten etc. externalisiert haben, können wir dennoch davon ausgehen, dass eine fixierte Lokalisierung der Macht längst nicht mehr ausreichend zu beschreiben vermag, wie Macht in der Moderne funktioniert. Mit dieser Einsicht befinden wir uns immerhin in bester Gesellschaft: Laut Foucault sollte man sich von dem Schema lossagen, demzufolge „politische Macht immer in einer bestimmten Anzahl von Elementen loka-

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lisiert sei.“46 Macht beruht „nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt“47, sondern viel eher auf einer „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“, die immer ungleich, immer nur lokal, immer instabil, in jeder Beziehung stets neu erzeugt wird. Macht ist eine „immerwährende Schlacht“48, die sich in „Neuverteilungen, Angleichungen, Homogenisierungen, Serialisierungen und Konvergenzen“49 äußert. Dieses Modell fluktuierender Machtkonstellationen ist erklärungsmächtig für verschiedene Phänomene der Praxis. Koalitionen bilden sich, werden aufgegeben, eingetauscht für andere. Eine Architekturzeitschrift bevorzugt einen Stararchitekten, um ihre Auflage zu erhöhen, und gibt ihn schnell auf, wenn ein neuer Stern am Himmel erscheint. Ein Architekt setzt eine Fassade gegenüber einem Finanzträger durch, wenn er sich Schützenhilfe beim Denkmalsamt holt; wenig später erreicht er den Umbau historischer Bausubstanz gegen dasselbe Amt, weil er den späteren Nutzer veranlasst, über seine Beziehungen zum Bürgermeister die Denkmalschutzbehörde zu beeinflussen. Im großen Stil kommt es zu Machtkonzentrationen, wenn sich die Protagonisten einer Stilrichtung verbandsmäßig zusammentun, um als einflussreiche Berufsverbände Lobbyarbeit zu verrichten und mit politischen Machtträgern für spezielle Projekte zu koalieren. Aber man sieht auch immer wieder, dass diese Verbände nach einiger Zeit ihre Attraktion verlieren, unter starkem Mitgliederschwund zu leiden beginnen und sich auflösen müssen. Auch hier also verkrustet ein Erfolgsmodell nicht zu einer fixen Institution der Macht.

46

Michel Foucault: Mikrophysik der Macht, Berlin: Merve 1976, S. 114.

47

Ders.: Wille zum Wissen, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 114.

48

Ders.: Überwachen und Strafen, Frankfurt: Suhrkamp 1981, S. 38.

49

Ders.: Wille zum Wissen, a.a.O., S. 115.

Architektur und Macht

Macht verteilt sich in einem weiten Netz von Interessenten, Einflussmöglichkeiten und Beziehungen auf viele Köpfe. Der Nachteil ist: die Verantwortung schwindet und irrt im Netz der Macht herum, weil sie kaum noch zu verorten ist. Wenn wir dennoch angesichts der Dispersion der Macht auf unterschiedliche Subjekte im sich ständig verändernden Netz so monolithische Begriffe wie Architekt, Planer, Bauherr beibehalten, tun wir das nur darum, um die jeweilige Entscheidung für oder gegen den Gebrauch von Macht weiterhin konkreten Personen zurechnen zu können, auch wenn sie als Teilhaber der Macht nur mehr zu „Mittätern“ degenerieren. Positionen im Machtgerangel Es gibt nun verschiedene Wege,

auf denen die Beteiligten die Diskrepanz des Sollwissens auflösen könnten, falls sie das wollten. Der Architekt kann simulieren, welche Bedürfnisse seine Klienten (geäußert) haben. Er kann den Bedarf erheben, wie empirische Sozialwissenschaftler dies empfehlen würden. Oder er kann sich an Marktnachfragen, oder an langfristigen Trends ausrichten, wie sie die Zukunftsforscher formulieren. All diese Wege sind beschreitbar, überblenden aber die von Rittel konstatierte grundsätzliche „Symmetrie der Ignoranz“50, der zufolge niemand besser als der andere weiß, „was gesollt werden soll“. Kein Weg scheint an einer Kommunikation vorbei zu führen, die die verschiedenen Positionen zur Debatte stellt, und dabei konkret argumentativ verläuft. Wir werden die verschiedenen Rollen, die diesem argumentativen Diskursmodell zur Auflösung von Machtmissbräuchen zugedacht werden, noch genauer betrachten. Zunächst aber halten wir fest, dass in jeder Entwurfs- und Planungspraxis alle Beteiligten ihr Interesse wahren, Einfluss auf Entscheidungen nehmen, Impulse geben wollen. Je wirkungsvoller ein Akteur dies tut, desto größer ist seine Macht.

50

H. W. J. Rittel: „Zur Planungskrise: Systemanalyse der ersten und zweiten Generation“, in: ders.: Planen Entwerfen Design, Stuttgart: Kohlhammer 1992, S. 49.

137

In diesem Machtgerangel kann der Architekt unterschiedliche Haltungen einnehmen. Er kann sich anpassen an die Mächtigen, und er kann sich auf die Seite der Schwächeren stellen. Er kann seine eigene Position vertreten, die meistens irgendwo dazwischen liegt. Letzteres wird der Normalfall sein. Im Umgang mit dem Konflikt zwischen hochgesteckter Berufsnorm und widerständiger Praxis hat Feldhusen vier Typen unterschieden51: Der „kühle Geschäftemacher“ sieht den Unterschied der Meinungen, jedoch keinen Konflikt. Der „stille Erfüllungsgehilfe“ spürt den Konflikt, versteht sich jedoch als Dienstleister. Der „aufrechte Architekt“ versucht hohe (soziale, ästhetische, qualitative) Ansprüche gegen widrige Umstände aufrecht zu halten, unterliegt dabei aber und resigniert letztlich. Der „professionelle Architekt“ kann aufgrund seiner Autorität seine Ziele durchsetzen, wie immer er auch zu seiner Machtposition gekommen sein mag. Stararchitekten schließlich wie Richard Maier, Rem Koolhaas, Tadao Ando oder Zaha Hadid können sich Bauherren aussuchen, die ihnen zu Füßen liegen. Mittel der Macht „Chance“ hat Max Weber die Macht genannt,

und dabei offen gelassen, worauf sie beruht. Die Basis dieser Chance ist in der Tat vielfältig. Die folgende Aufzählung dient dazu, diese Vielfalt unter Beweis zu stellen, allerdings so, dass zugleich evident wird, wie weit sich die unterschiedlichen Mittel der Macht auf verschiedene Akteure verteilen, wie disponibel ein Machtsystem sein kann und wie lange die Verteilung der Macht im Netz der Akteure hin und her wandert, bis sie sich festsetzt und in einem Gebäude manifestiert. Doch begründen wir diesen Gedanken erst im folgenden Kapitel. Jetzt beschränken wir uns auf systematisches Vorgehen und zählen einfach nur die Instrumente der Macht auf. Dabei geben wir uns wie Machiavelli unbeeindruckt von jeder Moral. Denn Macht-

51

Gernot Feldhusen: Architekten und ihre beruflichen Perspektiven, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1982, S. 76 ff.

Architektur und Macht

instrumente kennen keine Ethik, ihre Erfinder meistens auch nicht, wohl aber ihre Anwender. Persönliche Eigenschaften werden unterschätzt, weil sie trivial scheinen. Vorzüge wie Schönheit, Stimme, Kleidung, Wortgewalt, Humor, Sexappeal, Präsenz stiften im Netz der unterschiedlichsten Gruppen, die in Soziogrammen dargestellt werden, enge Bezüge zu den Trägern solcher Eigenschaften. Starkes Durchhaltevermögen, geringe Ermüdbarkeit, Trinkfestigkeit (!) können als besonders hilfreiche „physische Fähigkeiten“ hinzukommen. Schließlich ist es Charisma, das den Knoten im Netz der Gefolgschaften schürzt. Zuvor verschaffen schon ein trainiertes Gedächtnis, rhetorisches Vermögen, die Fähigkeit überall sogleich Sympathie hervorzurufen, aber auch sicheres Auftreten, Imponiergehabe, nicht selten sogar Hochstapelei, unschätzbare Vorteile. Handfester sind materielle Mittel. Waffen sind gewiss selten in kulturellen Subsystemen wie der Architektur im Einsatz, hingegen Geld sehr oft und in entscheidender Weise. Architekten, die technische Utopien, soziale Visionen, künstlerische Ideen und (philosophische) Theorien illustrieren wollen, entwerfen zwar ohne Auftraggeber, doch nicht selten mit großen Erfolgs- und Gewinnaussichten, wenn sich ihr vorgeblicher Idealismus und Antiutilitarismus im Nachhinein als ein Auskundschaften realer Marktchancen entpuppt. Allerdings gilt in der Architektur wie in allen anderen Künsten, dass jeder Autor niemals nur zu seiner materiellen Reproduktion, sondern für seine künstlerische Motivation und Fortentwicklung auf die mehr oder weniger kompetenten Reaktionen eines Publikums und der Kunstkritik angewiesen ist! Ohne diesen Aufmerksamkeitserweis kann kein Oevre entstehen und reifen. Freilich gilt auch, dass Erfolg blind macht, Geld in viele Machtmittel konvertierbar ist, uns korrumpierbar macht und schwach in der Not. So hatte beispielsweise die Beteiligung junger, mittelloser Architekten wie Oswalt Mathias Ungers am Bau des Märkischen Viertels sicher mehr mit der Größe des Honorars als der Überzeugung zu tun. Ganze Klientelnetze leben von zentralen

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Geldgebern. Reiche bilden untereinander geldelitäre Beziehungsgeflechte. Geistige Machtmittel wirken weniger spektakulär, obgleich Allgemeingut ist, dass Wissen Macht verschafft. Expertise auf dem Gebiet des Entwerfens, Planens und Bauens ist die Basis der Architektenmacht. Dass sie spürbar nachlässt, mögen manche begrüßen, es stellt dies aber auch ein gravierendes Problem dar, da ja unsere sozialen, künstlerischen und technischen Kompetenzen nicht im Tempo unseres Autoritätsverlustes auf andere Akteure übergehen. Gleichwohl wird Architekten immerfort ein Know-how zugeschrieben werden, das den Berufsstand vor dem totalen Machtverlust schützt. Vergessen wir nicht: Architekten sind Gestalter. Sie fallen zweifellos unter den Genieparagraphen. Ihre bildnerische Kompetenz, das „Denken im Raum“ und die ihnen geläufige Terminologie (der Jargon!) schirmt sie ab und hebt sie unter allen heraus, die beim Bauen mitreden, aber nicht vom Fach (Politiker etc.) oder „Fachidioten“ (Ingenieure, Bauhandwerker etc.) sind. Gespräche mit Bauherren, die rhetorisch brillante Anrede eines größeren Publikums (durch Vorträge und mithilfe von Fachzeitschriften) erziehen einen größeren Kreis von Interessenten. Indessen gibt der machtbewusste Architekt sein Expertenwissen nur dosiert weiter oder mystifiziert es gern dann, wenn das Publikum genaueren Aufschluss über die Entwurfsmethode erwartet. Der Laie soll schließlich nicht alles wissen, sondern gerade so viel, dass er intellektuell in der Lage ist, unsere Leistungen angemessen zu würdigen. Insiderwissen bringt nun mal entscheidende Handlungsvorteile. Daran darf nicht gerüttelt werden. Wer eine Funktion ausübt, übt über die Rolle, in die er hierzu schlüpft, immer auch eine gewisse Gestaltungsmacht aus. Sie hängt von seinen persönlichen („schauspielerischen“) Fähigkeiten und geistigen Vermögen ab, besteht aber auch unabhängig davon: Personen sind austauschbar, die Macht der Funktion hingegen bleibt bestehen. Baubürgermeister wissen das zu schätzen. Funktionen sind meist aufgeteilt; dadurch bilden sie und ihre Träger in Bürokratien ein hierarchisches System aus.

Architektur und Macht

Quer zu den Hierarchiezweigen lagern sich allerdings auch informelle Netzstrukturen an. Sie nennt man vornehm Amtshilfe, oder man greift in der Not auf geheime Informationskanäle und ungeschützte Datenflüsse zu. In diesen Prozessen und Verflechtungen lagert sich das Machtmittel der Beziehungsnetze ein. Macht durch Institutionalisierung entsteht, wenn formalisierte Vorgänge, Konventionen, Normen und Riten zwischenmenschliches Verhalten regeln, es gleichsam verdinglichen und instrumentalisieren. Verdinglichung und Ritualisierung entpersönlicht und schwächt die Verantwortung des einzelnen. Viele Architekten beklagen angesichts undurchschaubarer Hierarchien den Übergang der Bauherrenschaft von Einzelpersonen auf Organisationen. In ihnen übt die Mehrzahl der Mitarbeiter nur in einem beschränkten Bereich Macht aus. Erst die Gesamtmacht großer Organisationen, Firmen, Banken und Institutionen etc. ist effektiv, allerdings repräsentiert auch der kleinste Mitarbeiter ein Stück weit die Sanktionsmacht des gesamten Betriebs. Es ist dies ein typisches Phänomen der Gewalt anonymer Apparate, wie sie Kafka porträtierte, und der Macht fest gefügter Beziehungsnetze, denen gegenüber sich der Bürger ohnmächtig fühlt und selten eine schnelle Chance erhält. Architekten bekommen institutionelle Macht beispielsweise in der Auseinandersetzung mit öffentlichen Bauherrn zu spüren, aber auch in Gestalt wenig spannender Ortsbausatzungen, höchst prominenter Städtebauleitbilder oder auch in Richtlinien für Standards des Wohnbaus… Gruppenzugehörigkeit verleiht Macht, entweder in Form von solidarischem Handeln oder geliehener Macht, die den Einzelnen vom Status der gesamten Gruppe profitieren lässt. Architekten bilden (zumindest in der Vergangenheit) durch ihre Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlich hoch angesehenen, erfolgreich agierenden, kreativen, handlungsstarken, (ehemals) gut verdienenden Milieu – eine auch den Vergleich mit dem obersten Planer Gott wenig scheuende – durch schwarze Berufskleidung gekennzeichnete Kaste. Trotz des deutlich ausgebil-

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deten Individualismus ihrer Mitglieder, wird sie durch die gleichen geschäftlichen Interessen zusammengehalten. Jedenfalls gibt es stark vernetzte Untergruppen, wie der im deutschen Architekturwettbewerbswesen sich versammelnde und sich treu ergebene, allenfalls fünfzig Personen umfassende, Kreis der zufriedenen Juroren und glücklichen Gewinner. Networking – Beziehungsnetzwerke zu bilden und zu nutzen gehört zu den effektivsten Machtmitteln. Über Gruppengrenzen und Institutionen hinweg, jenseits geregelter Netze, entwickeln sich informelle Verbünde, in denen gemeinsame Ziele und raffinierte Strategien der Durchsetzung ausgehandelt und vorbereitet, sodann Einflussbahnen eruiert, geöffnet und genutzt werden. Solche Netzwerke müssen nicht notgedrungen das Brimborium von Geheimbünden wie den Illuminaten oder Freimaurerlogen annehmen, um Erfolg zu haben. Lions und Rotarier ziehen der mystischen Bruderschaft offene Vereinigungsformen vor, die englischen Clubs nicht unähnlich sind und eine enorme Fähigkeit darin beweisen, über ein Geflecht von Beziehungen ökonomischen und politischen Einfluss zu nehmen. Wir schließen diesen machiavellistischen Exkurs in die Kunst, Macht zu schaffen, zu erhalten und zu vermehren, mit einer ebenfalls a-moralischen Aufzählung von Ratschlägen, die lose geordnet Machttechniken preisgeben, die auf einer Beobachtung des Architektur- und Planungsgeschehens einer deutschen Kommune über einen längeren Zeitraum beruhen: Nutze Personen mit Charisma oder Charme, mit rhetorischem Vermögen, um ein Interesse, eine Position vorzutragen. Nutze Massenmedien wie Zeitung, Fernsehen, Internet, um eine Meinung zu vervielfachen. Gebrauche Geld, um Entscheidungen zu beeinflussen. Nutze die Expertise bezahlter Wissenschaftler, denen der Ruf vorauseilt, auf ihrem Gebiet Koryphäen zu sein. Zeige dich stets bestens informiert, nutze Wissensvorsprünge und gebe nicht all deine Informationen freizügig preis. Lasse dich mit offiziellen Funktionsstellen oder Ämtern betrauen, um politisches Gewicht zu erlangen. Nutze die Macht

Architektur und Macht

großer einflussreicher Institutionen, schlage nie Beziehungen aus, weder in formalen noch informellen Netzwerken. Weitere Machtakte sind: gezielte Filterung von Informationen, Schaffung unrevidierbarer Fakten, Verkleinerung großer Projekte in zumutbare Teilstücke, damit sie für eventuelle Kritiker leichter kommensurabel werden, Befriedigung des allgemeinen Wunsches nach Mitbestimmung und Erfüllung vorgeschriebener Partizipationsrituale durch symbolischen Demokratie-Gebrauch. Und immer wieder: Vorschützen von ‚Sachzwängen‘, Erzeugung von Zeitdruck (unaufschiebbare Termine), Einsatz von Experten, Lancieren ‚unwiderlegbarer’ Argumente, die Personen des öffentlichen Lebens (am besten Fernsehstars) in den Mund geschoben werden. Immer muss man sich der Mithilfe rhetorisch geschulter Personen vergewissern, den Gruppenstreit und die Zersplitterung oppositioneller Kräfte fördern, mit Einschüchterungen arbeiten, kalkuliert Gerüchte über Gegner verbreiten, Misstrauen schüren, nicht vor Diffamierungen, Unterstellungen, Irreführungen, Kriminalisierungen, Provokationen, Infiltrationen und schon gar nicht vor Falschinformationen und verkürzten Zitaten zurückschrecken. Gegen solche Widersacher, die sich allein schon wegen der unfairen Mittel, die ihnen zugeschrieben wurden, im Unrecht befinden, entwickeln andere Akteure Strategien, die ebenfalls Machtakte sind. Darunter fallen die Mobilisierung Betroffener, Appelle an die Solidarität, Gründung von Bürgerinitiativen und -foren, die Initiierung alternativer Planungsprozesse, Forderungen nach Formen der Partizipation, die realen Einfluss auf Entscheidungsprozesse nehmen wollen, nach der Abwahl verantwortlicher Entscheidungsträger und Politiker; das Spielen auf der Klaviatur professionellen Protests: Initiativen gründen, ein Referendum erzwingen und ein Ultimatum stellen, zivilen Ungehorsam predigen und praktizieren, Tageszeitungen, Radio und Fernsehen mobilisieren, sich der Fürsprache prominenter Personen bedienen…

143

Diskurs als Instrument oder Antipode von Macht Wir versu-

chen nun, den enzyklopädischen Charakter der Architektur genauer in den Koordinaten zu verorten, die wir durch die Einführung der Dimensionen der Macht und des Diskurses aufgezogen haben. Würden wir dem Universalismus der Konstruktion des modernen Wissens so wie in der Vormoderne eine Harmonie unterstellen, die sich an einer universell akzeptierten kosmologischen Ordnung orientierte, hätten wir unsere Rechnung nicht mit der in der Moderne vorherrschenden Diversität der Wertsysteme gemacht und jener Mechanismen, die diese Unvereinbarkeiten auflösen wollen, um uns zum Handeln zu befähigen. Unser Handeln weiß sich nicht länger in einer prästabilierten Ordnung geborgen, sondern navigiert mithilfe eines Kompasses, den die Diskurstheorie liefert, durch ein Geflecht sich ständig verändernder Machtkonstellationen. (So stellt es sich jedenfalls dar, wenn wir unsere gegenwärtige Situation einigermaßen optimistisch betrachten wollen…) Wir haben zu Beginn des Machtkapitels neben dem Wissen, welches Wissenschaft und Technik beisteuern, die Bedeutung des Sollwissens hervorgehoben, weil es dasjenige ist, an dem sich das Interesse der Beteiligten entzündet. Wir haben festgestellt, dass dieses Wissen Gegenstand von Diskursen ist, in denen argumentativ nach besten Antworten gesucht wird, dass aber der Diskurs selbst Gegenstand der Begehrlichkeiten von Machtträgern ist. Wir fußen in dieser Überlegung auf dem Konzept des Diskurses als Mittel der Normenfindung, wie es Habermas (1968, 1972, 1981)52 für strittige Fragen im Prozess des kommunikativen Handelns entwickelt hat. Sein Konzept geht von der These aus, dass in der Moderne, angesichts der pluralen und wechselnden Wertsysteme, ein Weg existiert, Normen für gemeinschaftliches Handeln zu finden, die nicht

52

Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt: Suhrkamp 1968; ders.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt: Suhrkamp 1972; ders.: Theorie des Kommunikativen Handelns, Frankfurt: Suhrkamp 1981.

Architektur und Macht

von Wissenschaft und Technik dominiert sind. Wir polarisieren im Folgenden das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses und die Realität machtorientierten Handelns, um ein Spannungsfeld zu erzeugen, in dem sich die Interferenz von Wissensnetzen und Machtnetzen deutlicher aufzeigen lässt. Wenn wir die Mikrostruktur des Planens und Entwerfens im sozialen Kontext, der Praxis der Produktion von Konzepten, Ideen und Plänen betrachten, sind stets zwei antagonistische „kleinste Einheiten“ identifizierbar: diskursive Akte und Akte der Macht53. Sprechen wir zunächst von ersteren: Sämtliche Äußerungen zu den im Verlauf eines Planungsprozesses aufgeworfenen Fragen, einschließlich des Aufwerfens dieser Fragen selbst, können als diskursive Akte bezeichnet werden. Sie lassen im Prozess der Architekturproduktion eben jenes Wissensnetz entstehen, dessen ideell enzyklopädischen Charakter wir im Kapitel „Wissenstheorie der Netze“ beschrieben haben. Jede Position, jede Antwort, alle Argumente und Gegenargumente sind Wissensbeiträge, die eine Geltung beanspruchen, die ihrerseits problematisiert werden kann. Die Begründung des Geltungsanspruchs erfolgt laut Habermas durch Fakten, Schlussregeln und stützende Argumente. Folgen wir dem Modell des kommunikativen Handelns, hilft es uns aufgrund der Annahme, es sei weitestgehend frei von Machteinflüssen, vernunftgeleitete Normen zu entwickeln. Im Fall von Architektur und Stadtplanung wären das genau solche Setzungen, die Konzepte entwickeln helfen, die den realitätsverändernden Kern einer Idee betreffen. Mit diesem Theorem führt uns Habermas ein Modell von Wissen vor Augen, das frei ist von jeder Art repressiver Einflüsse. In ihm geht es um nichts anderes, als um eine „Wahrheitsfindung“ kraft des besseren Arguments54.

53

Wolf Reuter: Power and Discourse in Planning, in: Planning Theory 18, 1997.

54

Jürgen Habermas: „Wahrheitstheorien“, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des Kommunikativen Handelns, Frankfurt: Suhrkamp 1984, S. 161.

145

Die Akte der Macht haben wir ausführlich benannt. Sie vertrauen gerade nicht auf die Überzeugungskraft des besseren Arguments, sondern nutzen sämtliche Chancen zur Durchsetzung eigener Interessen. Sie können an jeder Stelle entstehender Wissensnetze intervenieren. Die Rationalität, die machtorientiertes Verhalten leitet, liegt in den Kalkülen über bestmögliche Strategien der Durchsetzung der Interessen einzelner Akteure. Umgekehrt beruht die Rationalität eines Wissensnetzes, das sich dem kommunikativen bzw. herrschaftsfreien Handeln verdankt, auf der Möglichkeit, durch Verständigung im Diskurs Partikularinteressen von verallgemeinerungsfähigen Bedürfnissen zu unterscheiden. Zu den Normen, die Habermas dem Handeln plural zusammengesetzter Gesellschaften unterstellt, gehören auch Architekturkonzepte samt ihrer ästhetischen Urteile. Die Struktur eines architektonischen Vorgehens, das Sollsetzungen vornehmen will, bietet uns die theoretische Gegenposition zu der des Machthandelns. Man begreift nun, wie verschieden die beiden Modelle sind, da sie deutlich anderen Rationalitätskonzepten folgen. In Korrektur eines Konzepts, das die strikte Dualität der beschriebenen Handlungsmodelle verordnet, verfolgen wir hier die Hypothese, dass die normativ aufklärerische Intention – die Habermas der Entstehung diskursiver Wissensnetze unterstellt und Rittels Argumentationskonzept unterliegt – und das machtorientierte Handeln nicht trennscharf voneinander existieren, sondern in einer besonderen Weise aufeinander bezogen sind. In der wechselseitigen Bezogenheit der Wissensnetze und der Machtnetze entsteht erst die enzyklopädische Abbildung eines Weltausschnitts. Auf der einen Seite haben wir soeben das herrschaftsfreie Argumentieren einem Modell zugerechnet, das sich des Mittels der Überzeugung bedient und mithin auf den friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Interessen baut. Auf der anderen Seite können wir feststellen, dass friedlich erscheinende Argumente durchaus auch zum Ausbau und zur Demonstration der Macht dienen können. Mit ihnen Widerstand zu brechen,

Architektur und Macht

kommt weit billiger als alle anderen Mittel. Der Einsatz einer Person, die geschickt, schnell, einfühlsam agiert und intellektuell sehr beweglich ist, kann einfach kalkuliert werden. Durch funktionale Disposition wird Argumentieren zu einem Machtmittel, das sich noch steigern lässt, wenn eine Partei über den Besitz von Printmedien, Funk- und Fernsehanstalten verfügt. Die massenhafte Verbreitung, die geschickte Verpackung und eine a-diskursive Situation, bei der Rezipienten nur konsumieren, nicht aber reagieren können, machen Argumente, Informationen und Wissensbeiträge aller Art hoch effektiv. Ähnliches gilt für die Prominenz dessen, der ein Argument vorbringt. Der Wissenschaftler mit seiner Vorschussautorität, der Politiker als Repräsentant von Macht, der Star, gleichviel aus welchem Gebiet – sie alle haben mehr Gewicht und werden mit unvergleichlich mehr öffentlicher Aufmerksamkeit belohnt, als ein noch so intelligent agierender Anonymus. Wir fragen mit Recht nach der Trennschärfe der zuvor benannten Modelle und danach, welches das überlegene ist und die größere Erklärungskraft aufbietet? Bei epistemologischer Betrachtungsweise, die wir uns im Abschnitt über die Wissenstheorie der Netze zueigen machten, scheint das argumentative Modell der Wissenserzeugung das überzeugendere zu sein. Beziehen wir jedoch die Forderung und Feststellung mit ein, dass Architektur unausweichlich im sozialen Kontext entsteht und ihn auch indiziert, dann erscheint das Machtmodell umfassender. Gleichwohl bleibt ein wesentlicher Mangel an ihm haften. Nur eine Argumentation, die ohne Machtanmaßung auskommt und stets die Unterdrückung und das Leid im Blick hat, das durch die Herrschaft des Menschen über den Menschen produziert wird, kann illegitime und ungerechtfertigte Machtanmaßungen entlarven. In dieser Erkenntnis spiegelt sich eine unerfüllte Menschheitshoffnung, zudem aber auch ein irreversibler, über die Zeiten hinweg aktueller aufklärerischer Appell. Wir können daher sagen: die von uns beschriebenen antagonistischen Handlungsmodelle sind in einer Weise aufeinander bezogen, dass erst durch ihr Zusammenspiel ein umfassendes

147

Bild der Wissenswelt produziert werden kann. Wir stellen daher die These auf, dass erst in der wechselseitigen Bezogenheit von Macht und herrschaftsfreiem Diskurs jene enzyklopädische Vollständigkeit erreicht ist, die sich in der Architektur über die Zeiten hinweg manifestiert. Komplementarität

von

Diskurswissen

und

Macht

als

Charakter des enzyklopädischen Netzes Die beiden Konzepte,

das der Macht und das des Diskurses, sind komplex aufeinander bezogen. In den Ausführungen zur Logik und zu den Kalkülen der Macht wurde ersichtlich, das Argumentation und Diskurs Akten der Machtausübung vorausgehen. Ersichtlich wurde auch, dass diskursive Prozesse Einfluss auf die Verteilung von Vor- und Nachteilen haben, d. h. ihrerseits Macht entwickeln. Macht kann die Ausübung von Argumentation und ihre (aufklärerische) Wirkung verhindern. Aber nur wer argumentiert, kann die Macht – und in ethischer Reflexion – auch ihren Missbrauch kritisch reflektieren. In Abwägung gegen andere Mittel taktisch eingesetzt, ist und bleiben kluge Argumente unschätzbare Machtmittel. Führen sie aber diejenigen, die überzeugt werden sollen, zur Einsicht, kann das übereinstimmende Tun, das daraus resultiert, nicht länger als ein Produkt der Macht angesehen werden. Viel eher hat in diesem Fall die „Macht des besseren Arguments“ einen Zwist beenden helfen und daraufhin ein solidarisches, auf Konsens beruhendes Handeln erwirkt. Ein mit Herz und Vernunft geführter Diskurs ist laut Foucault „die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht“. Demgegenüber ist Macht, die sich nicht legitimieren kann, irrational. Sie ist auf Dauer instabil und provoziert Anstrengungen, sie zu brechen. Rechtfertigung von Macht kann nur durch Argumentation erfolgen. Wir sehen die wechselseitige Bezogenheit der beiden Konzepte. Der Diskurs stellt Machtkonstellationen in Frage, die Macht schränkt den Diskurs ein und so fort. Es ist ein schwebendes Verhältnis, eine hybrides Gemisch. Der Aufklärungsimpetus der Moderne scheint konterkariert und überlagert durch

Architektur und Macht $UJXPHQWDWLYHU 'LVNXUV YHUVFKLHGHQH $UJ$UWHQ VWHOOWLQ)UDJH

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Diskurs und Macht erzeugen komplementäres Wissen.

die Kalküle von Akteuren, die zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt einsetzen, Macht aufbauen, erhalten und vergrößern. In der „abgeklärten Moderne“ geraten so die diskursive und die machtkalkulatorische Ratio in einen unlösbaren, prinzipiellen, indessen nicht nur antagonistischen, sondern dialektischen und daher umfassenden, ja sogar komplementären Bezug zueinander55. Komplementarität charakterisiert zugleich die Enzyklopädie des Netzes, das Architekten erzeugen, in dem sie arbeiten und dessen sie sich bedienen. Wenn das Argumentieren als Machttechnik instrumentalisiert wird, verwandelt es sich selber in ein Machtinstrument gegen argumentativ deklarierte Missbräuche von Macht. Die abgeklärte Moderne ist durch diese dialektisch hybride Konstitution von Komplementarität gekennzeichnet, in der sich die widersprüchlichsten Rationalitätskonzepte in einer Weise mischen, dass auch und gerade die Produzenten von Architektur permanent unterschiedlichsten Wissensformen konfrontiert sind. Daher lautet unser Resümee: Architekten arbeiten mit den Netzen eines Wissens, das einerseits auf Wissenschaft fußt und deren konventionalisierter Geltung unterworfen ist; sie begegnen andererseits einem 55

Wolf Reuter: Zur Komplementarität von Diskurs und Macht in der Planung, in: DISP 141, 2/2000, S. 4 – 16.

149

Wissen und produzieren selbst ein Wissen, das mangels extern gesetzter Orientierung auf die Überzeugungskraft substantieller Argumente vertraut, die nicht zuletzt im Banne ästhetischer Normen und kultureller Kontexte stehen; und Architekten beziehen sich überdies auf ein Wissen, das teils aus der Welt der Technik und Ökonomie, teils aus der Einlagerung ihres Arbeitens in soziale Formationen stammt und daher mit den Netzen der Macht verknüpft ist. Letztere schließen jenes Wissen mit ein, das aus den eigenen Machtkalkülen und den Durchsetzungsstrategien anderer erwächst.

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

151

Die Theorie der enzyklopädischen Wissenschaft und Kunst beschreibt die Architektur als eine vormoderne interdisziplinäre und universelle Disziplin, deren Überleben in der Moderne nur mehr museal möglich ist. Nun haben wir allerdings schon davon berichtet, dass es noch eine andere Form des Überlebens gab, die ganz entschieden davon abhing, ob sich der Enzyklopädismus der traditionellen Architektur in einer Weise reformulieren ließ, dass dabei ihr antiquiertes Wesen – das Alte – buchstäblich von der Bildfläche verschwand und plötzlich als unbekanntes Neues vor aller Augen stand. Auf den Zaubertrick dieser Verwandlung verstanden sich die historischen Avantgarden. Die Theorie des vormodernen Enzyklopädismus ist darum zugleich eine Theorie der Avantgarde, die für die Architektur besagt, dass die radikalsten Vertreter des Neuen Bauens eine Aktualisierung vormoderner Architektur betrieben, die ihr archaisches Wesen (Magie und Monumentalität) als spektakuläre Entdeckung der Moderne ausgaben. Die politische und ästhetische Provokation des Neuen, das zugleich ein Altes war, bestand darin, eine radikale Alternative zur herrschenden Modernisierung der Gesellschaft zu bilden. Die Avantgarden wollten die faktische Moderne mit all ihren sozialen Verwerfungen einer anderen Moderne konfrontierten, die beides war: lauthals propagierte Option auf eine bessere Zukunft und mehr oder weniger verheimlichte Aktualisierung eines Gewesenen bzw. eines „goldenen Zeitalters“. In dieser Polarität gaben sich die Ideen und Produkte der Avantgarden als Ausdruck eines utopischen Denkens zu erkennen, das die

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

progressive Komplexität des Projekts der Moderne verleugnete, um von einer gerechteren Gesellschaft zu träumen, die sich durch jene Einfachheit (simplicity) auszeichnen sollte, die bereits in den Anfängen des modernen Designs (in der Ästhetik der Shaker etc.) ihre konkrete Anschauung gefunden hatte und sich an der Glorifizierung ferner Vergangenheiten berauschte. Letztere hatte Rousseau bis zum „glücklichen Wilden“ zurückdatiert, der seitdem in sämtlichen idealisierten Sozialverbänden (von den Pfahlbauern über die Karibikinsulaner bis hin zu den vergnüglich werkelnden Steinmetzen der gotischen Bauhütten56) herumgeisterte. Am Ende geriet gar das Glöckchen am Hintern des tätowierten „Papua-Negers“, wie Adolf Loos ihn spöttisch nannte, zum Kirchengeläut eines Enzyklopädismus’, der sich in der Moderne noch rasch die Archäologie und Ethnologie einverleibt hatte. Wir haben die Theorie des Enzyklopädismus und der historischen Avantgarden in diesem Buch um eine Theorie der Netze erweitert, welche nun auch um ästhetische Überlegungen ergänzt gehört, die sich um die frei gewordene Position des Avantgardismus bewerben. Indes: ist diese wirklich vakant? Scheuen wir uns doch nicht, avancierte zeitgenössische Positionen in Kunst, Technik und Wissenschaft weiterhin als avantgardistisch zu bezeichnen. Freilich fällt daran zweierlei auf: Zum einen ermangeln sie sämtlicher Provokationen, da selbst die radikalsten politischen und ästhetischen Statements ihre Schockwirkung längst verbraucht haben. Der aufgeklärte Großstädter wird heute nur noch durch Langweile und nicht durch wüste Publikumsbeschimpfungen aus dem Theater vertrieben. Wollte man daher den Begriff der Avantgarde unwiderruflich an die Schocks der Moderne knüpfen – die in der Technik durch die Eisenbahnreise, in der Wissenschaft durch die Relativitätstheorie, in der Literatur durch das Werk von Baudelaire, Kafka,

56

Vgl. hierzu John Ruskins berühmtes Kapitel „Das Wesen der Gotik“ im zweiten Band seines Werks „Steine von Venedig“, Dortmund: Harenberg 1994, S. 174 – 263.

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Proust, Joyce oder Beckett, in der Malerei durch Cezanne, van Gogh, Max Ernst oder Duchamp und in der Musik durch Gustav Mahler, Schoenberg, Stravinsky oder Erik Satie ausgelöst und in Gestalt der radikalisierten Nachkriegs-Avantgarden sogar noch überboten wurden – dann bliebe uns gar nichts andres übrig, als das historische Intermezzo der Avantgarden für beendet anzusehen. Zum andern sind seit geraumer Zeit (seit die Postmoderne ausgerufen wurde) die Positionen der Avantgarden in den Kreislauf des ständigen Wechsels von alt und neu hineingeraten. Sie sind auf diese Weise zur Mode geworden wie die gesamte Kunst und waren das in gewisser Weise von Beginn an, da die Verwerfung des Alten und die Spekulation auf das Neue ihre erfolgreichste Strategie war und zugleich das wichtigste Prinzip der Mode ist. Jedoch im Unterschied zur Mode waren die Erdbeben der Avantgarden Produkte zeitgleicher „Kontinentalverschiebungen“, die gewaltige politische und ökonomische Veränderungen in Gang gesetzt hatten. Inzwischen scheinen sämtliche Kollektive und Individuen, die sich an den Methoden der historischen Avantgarden orientieren, weniger von zeithistorischen Vorgängen als von der Dynamik vorherrschender Moden und Trends mitgerissen zu werden – selbst wenn der Verlust zentraler Orientierung als dem epochalen Erdbeben der Moderne diese Dynamik erst möglich macht. Die unaufhörlichen Transformationen des Bekannten und Unbekannten haben das Gesetz der Wiederkehr des Alten errichtet, das die Mode und die Künste in popkulturelle Recycling-Anlagen verwandelt. Längst sind die Schocks sowie die ästhetischen Verfahren, Formen und Inhalte der Vor- und Nachkriegsavantgarden selbst historisch geworden und werden, wie alles Vergangene, sensationslüstern, unentwegt und in stets kürzeren Abständen aus dem Zylinder gezaubert und aktualisiert. Aus diesem Grund liegt die Behauptung nahe, dass die historischen Avantgarden ihr Greisenalter längst erreicht haben

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

und abgestorben sind, statt von zeitgenössischen Avantgarden abgelöst worden zu sein.57 Vom Altern der enzyklopädischen Ästhetik Die Theorie der

Netze wurde nötig, weil die enzyklopädische Organisation des Wissens an ihre historische Grenze stieß und durch moderne Formen der Wissensvernetzung abgelöst wurde. Zugleich wird eine Theorie der Netzästhetik auszuarbeiten sein, da ihr vormoderner Vorläufer, den wir um einer größeren Plausibilität willen die „Ästhetik des Kreises“ nennen, längst seine Autorität eingebüßt und als kongeniale Anschauungsform des Enzyklopädismus zeitgleich mit diesem seinen Einfluss auf Kunst und Architektur verloren hat.58 Selbst in ihrer avantgardistischen Reformulierung, die in Boullées Newton Kenotaph ihre spektakulärste Gestalt annahm und in Le Corbusiers „reinen Formen unter dem Licht“ ihren größten Erfolg feierte – selbst in den kubischen Körpern des Neuen Bauens erwies sich die platonische Ästhetik der enzyklopädischen Architektur bereits als überwunden, da die vollkommenen Geometrien den Gebäuden oktroyiert scheinen. Sie bleiben ihnen umso äußerlicher, als es schon Boullée unternahm, seinen kalt abstrahierten Klassizismus im erwärmten Klima der modernen Wirkungsästhetik emotional aufzuheizen.

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Sie haben zweifellos Nachfolger gefunden wie beispielsweise die Situationistische Internationale, die selber den Wandel herbeizuführen wünschte, der politisch ausblieb, und dennoch sich nach dem Pariser Maiaufstand in der Popkultur wieder fand und damit in jener Verwertungsmaschine, von der schon die Rede war.

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Das vielleicht früheste überlieferte Beispiel der Verräumlichung bzw. künstlerisch-architektonischen Veranschaulichung enzyklopädischen Wissens gibt uns in der Dichtung Homer, der in der Ilias sehr ausführlich den prächtigen Rundschild des Achill besingt, auf dem eine Gesamtdarstellung des Kosmos zu bewundern war. (Vgl. hierzu Gerd de Bruyn: Die enzyklopädische Architektur. Zur Reformulierung einer Universalwissenschaft, Bielefeld: transcript 2008, S. 28 – 34.)

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Das Emotionale war kein Thema von Architekturen, die in allererster Linie den Makrokosmos des Wissens und der Welt spiegeln wollten. Mit großen Gefühlen aufgeladene Bauwerke gab es natürlich immer schon, doch hatte das kaum Auswirkung auf die Theoriebildung. Hierzu musste die Architektur erst eine mikrokosmische Umkehr vornehmen. In der französischen Revolutionsarchitektur trafen beide Strömungen aufeinander. Man kann sie als ästhetischen Crash der alten makrokosmischen (=antike Harmonielehre) und neuen mikrokosmischen (=moderne Gefühle) Ausrichtung der Architektur ansehen. Die Revolutionsarchitekten schlugen als Vorhut der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts aus der Erfahrung Kapital, dass ein auf die „minimalistische“ Ästhetik des enzyklopädischen Maximalismus reduzierter Bau die ideale Hintergrundfolie für eine Psychologisierung des Bauens bildet, die dem Betrachter den Atem verschlägt. Jedenfalls erwies sich die von den Klassizisten gereinigte, von überflüssigem Zierrat befreite Fassade als neutral genug, um ihr mithilfe der Charakterlehre einen starken, die Menschen übermannenden Ausdruck zuzuschreiben. Tatsächlich ist der moderne Begriff der Architektur ganz wesentlich davon geprägt, dass die alte pythagoreisch bzw. „musikologisch“ begründete, mathematisch-geometrisch angeleitete Regelästhetik, die in der vitruvianischen Baukunst um das decorum ergänzt werden musste, damit sie eine sinnliche Wirkung entfalten konnte, von der Ornamentik als schmückendem Beiwerk befreit wurde. Eine gesteigerte Sinnlichkeit sollte der Architekturästhetik nicht mehr von außen, durch applizierten Zierrat, zukommen, sondern von innen durch eine Steigerung des Ausdrucksgehalts der Bauwerke. Man machte die Entdeckung, dass Ornamentverzicht ihren ästhetischen

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Reiz enorm verstärkte,59 sobald damit der Anspruch einherging, Gebäude in ausdrucksstarke Gesten zu verwandeln. Man kann daher die These aufstellen, dass die enzyklopädische Architektur in der Ambition der Avantgarden fortlebte, der Vollkommenheit nachzueifern, die in der „abstrakten Natur“ konsonanter Tonintervalle und den daraus abgeleiteten Proportionen, als auch in den reinen Geometrien von Kreis, Kugel, Kubus, Zylinder (später auch: Goldener Schnitt) etc., Gestalt annahm und ebenso in der „sinnlichen Natur“ des idealisierten Menschenkörpers und des harmonischen Zusammenklangs von Haus und Garten, Stadt und Landschaft. Nachgeeifert wurde diesen Vollkommenheitsvorstellungen des enzyklopädischen Weltbilds mit Entwürfen, die Stadtgrundrisse zu Bildern und Häuser zu Skulpturen autonomisieren. Zu Skulpturen überdies, die jeden Kontext leugneten. Genuin modern aber erscheint uns demgegenüber die schon erwähnte Ambition, die Frage nach der angemessenen Ausdrucksform der Häuser, die in der Vergangenheit der Ornamentik überlassen war, mit der Ausbildung expressiver Gesten zu beantworten, die zu erfrorenen Gebärden, zu Immobilien erstarren.60 59

Erst in der Funktionalismuskritik der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als die modernen Architekturgesten und Typologien längst zu Stereotypen verkommen waren, trat das ganze Ausmaß der ästhetischen Verarmung zutage, die das moderne Dogma des Ornamentverzichts verschuldet hatte. (Vgl. Michael Müller: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977)

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Von Ludwig Wittgenstein stammt der Satz, Architektur sei eine Geste. Er wusste auch, dass die Methode, eine solche Geste zu entwerfen, in der Aktualisierung des Klassizismus begründet ist. Einerseits durch die Radikalisierung der Loos’schen Ornamentverbots, andererseits durch eine millimetergenaue Präzisierung der klassischen Proportionslehre. Beides wandte er mit äußerstem Ernst und Engagement in seinem Entwurf für das Haus seiner Schwester Margaret Stonborough in Wien an. Um aber eine Geste zu werden, die (mit Boullée gesprochen:) uns den Atem stocken lässt, hätte Wittgenstein seinen Minimalismus mit jener Expressivität anreichern müssen, von der er glaubte, sie halte sich hinter

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Le Corbusiers Proportionssystem repräsentiert den bedeutendsten Versuch eines Avantgardisten, der Architektur eine am Maß des Menschen orientierte mathematische Ordnung zu unterstellen. Es steht daher in der Tradition des Vitruvianismus. (Le Corbusier: Modulor, 1942–1955)

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Sehr verkürzt könnte man behaupten, dass die Architektur erst in der Moderne mit dem Verlust der Einheit von Wissenschaft und Kunst, die sie einst repräsentierte, zu einer wirkungsästhetischen Disziplin werden konnte. Wir sagen nicht, dass die traditionelle Baukunst keine Wirkung auf die Betrachter gezeitigt hätte; das Gegenteil ist ja wahr. Doch wurden die starken Emotionen, die sie auslöste, kaum schon theoretisiert und blieben daher den Menschen als künstlerische Technik und ästhetische Erfahrung unbewusst. Das macht uns auf den desillusionierenden Effekt aufmerksam, dass die Ausdrucksmittel, mit denen Kunstwerke Menschen aufwühlen, durch Bewusstmachung und technische Beherrschung verloren gehen. Man darf mit einiger Berechtigung sagen, dass so gut wie keine

seinen „guten Manieren“ verborgen. Er hat das selber beklagt: „Alle große Kunst hat als ihren Grundbaß die primitiven Triebe des Menschen. Sie sind nicht die Melodie (wie, vielleicht, bei Wagner), aber das, was der Melodie ihre Tiefe und Gewalt gibt. In diesem Sinne kann man Mendelssohn einen reproduktiven Künstler nennen. – Im gleichen Sinn: mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur, etc.). Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit (Kierkegaard).“ (Zitiert nach Paul Wijdefeld: Ludwig Wittgenstein, Architekt, (ohne Ort): Wiese Verlag 1994, S. 192/193.) Hierzu ließe sich viel sagen. Zum Beispiel, dass Adolf Loos, obschon er von Wittgensteins Haus wenig hielt, den Philosophen dennoch gegen seine Zweifel in Schutz genommen hätte. Loos zufolge sollte ja die Architektur keine Kunst sein, sondern im manierlichen Einklang mit der Alltagskultur stehen. Vermutlich hätte er Wittgenstein geraten, seine Homosexualität im Schutze von Häusern auszuleben, die gerade keine Gesten sein wollen, deren Fassaden nichts vom „wilden Leben“ nach draußen dringen lassen und darum auch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So weit so gut, doch wollte ja die moderne Architektur einen offensiven Beitrag zur Gesundung der Menschen leisten. Und genau hierauf, dass damit Leib und Seele gemeint sein müssen, macht Wittgensteins skeptische Bemerkung aufmerksam. Sie taucht den Finger in die Wunde des Neuen Bauens, das glaubte, allein schon mit genügend Licht, Luft und Sonne sei den Menschen alles gegeben, was Architektur zu bieten hat.

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anderen Gebäude und auch nur die wenigsten großmusikalischen Ereignisse jene außerordentliche Wirkung zeitigen, die eine gotische Kathedrale auf uns ausübt. Doch hat dies erst die Nachwelt thematisiert und als rein ästhetischen Effekt zu würdigen vermocht, der es verdient hat, frei von aller religiösen und theologischen Bevormundung beschrieben zu werden. Die These unseres Ästhetikkapitels lautet daher: In dem geringen Maß, in dem sich die vormoderne, vitruvianische Architekturtheorie von der sinnlich ästhetischen Wirkung der Baukunst berührt fühlte, ließ sich die Moderne vom Wissenschaftscharakter der Architektur beeindrucken. Während von nun an die epistemologische Bedeutung der Architektur stets geringer eingeschätzt wurde, gewann ihre Ästhetik enorm an Wert.61 Letzteres ist darauf zurück zu führen, dass mit der bereits im 17. Jahrhundert einsetzenden Querelle des Anciens et des Modernes ein irreversibler Verlust der Autorität traditioneller Regelästhetiken einherging. Mit der Folge, dass den Bauwerken immer mehr wirkungsästhetische Momente abverlangt wurden, die ihnen nicht länger von außen diktiert, sondern aus ihrem je eigenen Entstehungsprozess von Innen zufallen sollten. Wir können auch sagen, dass mit dieser Minderung der Wissensträgerschaft und der Verstärkung der ästhetischen Wirkung eine neue Konfiguration entstand: beide nehmen Raum im Entstehungs- und Wirkungsgefüge von Architektur ein. Mit dieser Verschiebung ist – wie wir zeigen werden – der Boden bereitet für unsere weiterführende These vom netzförmig organisierten Zusammenhang heterogener Prinzipien.

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Auch und gerade im Funktionalismus! Das Loossche Verdikt, die Architektur sei keine Kunst, trug keinen Verzicht auf das Ästhetische in sich. Im Gegenteil: erst als Gebrauchsgegenstand emanzipierte sich das ornamentlose Bauen zur minimalistischen Ästhetik der Moderne. Wohl sollte die Architektur praktisch sein, vor allem aber (in Ermangelung eines empirisch gesicherten Datenmaterials über ihren konkreten Nutzwert) praktisch aussehen! Letzteres machte eine ästhetische Filigranarbeit nötig, die der feinnervigen Ornamentik eines Louis Sullivan in Nichts zurückstand.

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Die Suche nach den immanenten Formgesetzen von Kunstwerken, die seit der Renaissance einer zunehmenden Individualisierung unterworfen waren, entwertete allmählich die externe Kunstregel und ersetzte sie durch Geschmacksnormen, die nicht länger eine Addition, sondern die Identität von Ethik und Ästhetik behaupteten. Entsprechen dürfen wir folgern: Die alten Künstler und Baumeister hatten sich Regeln und Urteile aneignen und diese dann verinnerlichen müssen, die ihre Begründung außerhalb der Kunst fanden (in der Religion oder in der Autorität antiker Schriftsteller etc.) und darum über jeden Zweifel erhaben waren. Demgegenüber machten sich die modernen Künstler und Kunsttheoretiker, Architekten und Architekturtheoretiker auf den Weg, immanent entwickelte Formgesetze zu Prinzipien zu veräußern und diese dann durch Programme und Manifeste propagandistisch zu verbreiten. Sie taten dies, weil ihnen angesichts des Mangels übergeordneter Autoritäten kein anderer Ausweg blieb, um ihren ästhetischen Positionen allgemeine Geltung zu verschaffen. Wir stehen hier vor der interessanten Dialektik, dass Normen oft wie Diktaturen ohne Autorität errichtet werden, während Regeln souverän genug sind, um ihrer Auslegung große Spielräume zu gönnen. Regeln dürfen in alle Richtungen diskutiert und verändert werden, solange niemand, der sich an dieser Debatte beteiligt, an ihre Abschaffung denkt. So war das jedenfalls im Zeitalter des Vitruvianismus, das in den Proportions- und Säulenregeln Naturgesetze sah. Erst in der Moderne wurde die alte Regelästhetik durch neue Normen abgelöst, die wir unsouverän nennen dürfen, da sie entweder strikt befolgt oder verworfen werden können. Dazwischen gibt es nichts. Normen dulden keine Diskussionen – zumindest keine der Auslegung. Sie erzeugen allerdings unweigerlich – und diese Dialektik gehört desgleichen zur Moderne – Diskurse ihrer Geltung, die auf ihre Akzeptanz oder Abschaffung hinauslaufen. Wer Normen anficht, verabschiedet sich aus ihrem Territorium. Zunächst war es die normative Ästhetik des Klassizismus, die sich an die Stelle der antiken Regelwerke setzte, die ebenso

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an Umfang zunahmen wie die Vitruv-Kommentare. Statt vieler Regeln, die allmählich beliebigen Charakter angenommen hatten, sollten fortan nur mehr wenige Grundsätze gelten. Deren Geltungsanspruch wuchs in dem Maß, in dem die Geltungskraft des Autors, der die neue Norm verkündete, anfechtbar wurde. In der Moderne traten ja keine unbezweifelbaren Autoritäten mehr auf den Plan, sondern konkurrierende Thesen, Theorien und Argumente, die von vorlauten Intellektuellen und selbstbewussten Künstlern vorgetragen wurden, die sich oft nicht besser zu helfen wussten, als ausgerechnet an die Mächte (Gott, Natur, Antike) zu appellieren, deren Kräfte verschlissen waren. Das lautstärkste Resultat dieser Entwicklung war das Manifest. Als einer der ersten hatte Laugier mit seinem „Manifest des Klassizismus“ gezeigt, um was es ging: Bauwerke sollten von nun an als sinnliche Sensationen bzw. als Produkte ästhetischer Verfahren beschrieben werden, die mit der gesteigerten Genussfähigkeit des städtischen Publikums fest rechnen und sich nicht länger in der richtigen Anwendung äußerlicher Regelwerke legitimiert wissen. An ihre Stelle trat die Verinnerlichung „fester Prinzipien“ wie des Einfachen und Natürlichen, die sich in jedem Entwurf einen eigenen Ausdruck erwirken sollten.62 Die neuen Werte wurden zur Norm und mit einer Verve vorgetragen, die keinen Widerspruch duldete. Freilich: gerade dieser überspannte Ton, der bis weit ins 20. Jahrhundert schallte, machte ja deutlich, dass die Moderne ihren ästhetischen Diskursen einen Raum mit offenem Ausgang zuwies. In ihm musste besonders laut schreien, wer von vielen gehört werden wollte. Aber Lautstärke schützt bekanntlich nicht vor intelligentem Zweifel, sondern indiziert gerade dadurch die verwundbare Stelle des Schreiers und setzt sie den stechenden Argumenten solcher aus, die es besser oder anders wissen. 62

Apodiktisch lässt Laugier den Leser wissen: „Lassen wir uns nicht vom falschen Glanz blenden, er deckt nur den Mangel an Genie auf. Halten wir uns an das Einfache und Natürliche, es ist der einzige Weg zum Schönen.“ (Marc-Antoine Laugier: Das Manifest des Klassizismus, Zürich: Verlag für Architektur Artemis 1989, S. 44.)

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Die vitruvianischen Regeln waren an einem ruhigeren Ort und sogar in toleranterem Klima zu verhandeln gewesen. Man durfte sie durchaus verändern, indessen: ignorieren durfte man sie nie, und das wäre wohl auch niemandem eingefallen. Ignoranz der durch die klassischen Schriftsteller verbürgten Kunstregeln war in vormoderner Zeit Ausdruck einer offen zutage tretenden Unbildung. Hingegen gilt es seit der Moderne als Zeichen großen Selbstvertrauens und intellektueller Unabhängigkeit, wenn Regeln gebrochen werden und die an ihre Stelle tretenden Prinzipien in einem harten Wettbewerb stehen. Die unerbittliche Konkurrenz der normativen Ästhetiken der Moderne, die sich beispielsweise in der Feindschaft von Gotikern und Klassizisten, Organikern und Rationalisten etc. zum Ausdruck brachte, lieferte letztlich den Beweis, dass es keine den Subjekten übergeordnete ästhetische Autorität mehr gab. Der Bann der Regeln, die das enzyklopädische Wissen aufgestellt hatte, war gebrochen – schrill wurden von den Kanzeln der Avantgarden die konkurrierenden Ästhetik-Angebote der Moderne verkündet. Es kam eben nicht von ungefähr, dass der Verkünder des Klassizismus tatsächlich ein Priester war. Auf dem Weg zu einer netztheoretisch angeleiteten Ästhetik Will man die sukzessive Verwandlung der alten enzy-

klopädischen Architektur in die neue Wissensvernetzung der Architektur (und darüber hinaus in die Architektur der Netze) vollständig beschreiben, so muss die von uns in Angriff genommene Wissens-, Handlungs- und Machttheorie der Architektur noch um eine ästhetische Theorie des Bauens ergänzt werden. So wie die Einheit von Wissenschaft und Kunst die Identität der vormodernen enzyklopädischen Architektur bildete, so kann heutzutage nur mithilfe einer komplementären Betrachtung von Wissenstheorie und ästhetischer Theorie die moderne Integrität der Architektur gesichert werden. Am Beginn steht dann die bereits thematisierte Ablösung des Vitruvianismus durch die normativen Kunsttheorien der Moderne. Sie haben die den Werken oktroyierten externen Regeln (z. B. der antiken Säulen-

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lehre) durch das Primat der externen Faktoren (damit sind die für das Neue Bauen konstitutiven funktionalen und sozialen Ansprüche gemeint) und durch das Primat des immanenten Formgesetzes ersetzt. Wenden wir uns dem Primat der externen Faktoren zu, so lässt sich feststellen, dass der frühe Funktionalismus Produkt eines reinigenden Säurebades war, in das konsequente Theoretiker wie Lodoli den Vitruvianismus tief eingetaucht hatten, um der Architektur die vormodernen Schönheitsregeln für immer auszutreiben. Doch entspann sich parallel zur radikalen Funktionalisierung der Architektur ein zweiter Diskurs um ihre Geltung als Kunst. Und zwar einer Kunst, die fähig sein sollte, sich ebenso wie Poesie, Malerei und Musik ihre Regeln selbst zu geben. Die in der Moderne reifende Erkenntnis, dass Architektur einerseits eine funktionale Disziplin ist, die ständig Gefahr läuft, aus dem Reich der Kunst ausgeschlossen zu werden, dass sie andererseits aber ähnlich wie die „freien Künste“ über einen autonomen Kosmos ästhetischer Entscheidungen gebietet, gibt uns einen Hinweis darauf, dass sich die Architekturtheorie aus der enzyklopädischen Vorstellung eines in sich geschlossenen und kreisförmig organisierten Wissens verabschiedet hat. Statt weiterhin das regelgerechte Wissen um die richtigen Maße und Proportionen ringförmig einzuschließen und mit weiteren „Wissensringen“ zu verbinden, die eine lange Kette bilden, um uns den letzten Wahrheiten nahezubringen,63 kam es allmählich zu einer engmaschigen Vernetzung der ästhetisch

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Eine dieser Ketten erwähnte der Enzyklopädist Richard Buckminster Fuller 1938 im Titel seines Buches „Nine Chains to the Moon“, das zwar nicht unbescheiden fragt: Was ist Architektur?, wohl aber: „what is a house?“ Fuller gehörte zu den ersten, der den alten zyklischen Wissenscharakter der Architektur erkannte und in netzförmigen Strukturen zu reformulieren trachtete. Seine geodätischen Dome bilden ein Paradebeispiel für den Versuch, die Kugelgestalt traditionellen Wissens abzubilden und zugleich in ein räumliches Netz- und Gitterwerk zu überführen.

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autonomen und der funktionalen Aspekte des Bauens. Erweitert wurde sie um semantische Qualitäten, die nicht nur die kulturelle Bedeutung der Funktion signalisieren, sondern, davon losgelöst, auch die Bedeutung eines Bauwerks auf dem Markt weltweiter Aufmerksamkeit (siehe dazu auch unseren „Exkurs über die Vernetzung der Architektur mit der Welt“). Ökonomie ist ja nicht nur direkte Dollareffizienz, sondern aus dem sozialen Status eines Klienten in einer urbanen, regionalen oder globalen Gemeinschaft erzielter Gewinn. Aus dieser Entwicklung lässt sich die These ableiten, dass Netze in dem Moment auf den Plan traten und wirksam wurden, als Wissensbereiche, die man in der Vergangenheit zur Einheit verpflichtet hatte, die dann aber durch Prozesse der Arbeitsteilung, Spezialisierung, Differenzierung und Dichotomisierung voneinander getrennt wurden, wieder miteinander verbunden werden sollten. Die modernen Wissensnetze zeigen sich den enzyklopädischen Wissensbäumen und Wissenskreisen überlegen, weil letztere die Einheit des Homogenen repräsentieren, Netze hingegen den Zusammenhang des Heterogenen organisieren. Im Kleinen zeigte sich dies darin, dass die Architekturästhetik ein möglichst engmaschiges Beziehungsnetz zwischen der Autonomie der architektonischen Charaktere und Gesten einerseits und ihrem Gebrauchswert andererseits zu weben suchte, während sich im Großen die Antipoden Kunst und Wissenschaft in epistemologischer Absicht zu vernetzen begannen. Maßstäbe für Qualitätsurteile über gebaute Architektur So

wie wir die Theorie des Wissens der Architektur an Hand ihrer Produktion und Rezeption historisch und strukturanalytisch entwickelt haben, sind darin nicht nur Fakten und Modelle der Wirklichkeit, welche vorzugsweise der Wissenschaft zugeschlagen werden, als Wissen enthalten. Vielmehr haben wir, einer Theorie des Handlungswissens folgend, die Epistemologie der Architektur um Aussagen erweitert, die Konzepte, Techniken, Materialien, Regeln, Formen etc. zunächst erfinden, dann

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kritisch abwägen um schließlich urteilend zu entscheiden. Es sind die erfindende Setzung und sodann wesentlich die Urteilsfähigkeit, die das von allen anderen kognitiven Tätigkeitstypen unterschiedene Profil der entwerfenden und gestaltenden Berufe ausmachen. Ob Krux oder Lust – Urteilskraft ist das entscheidende Amalgam beim Produzieren und Rezipieren von Architektur. Einem Kunst- oder Architekturobjekt gegenüber sind Urteile Zuweisungen von Werten, die man einer Skala meist nominaler Art entnimmt; jede dieser Zuweisungen ist ein subjektiver Akt, dessen Begründung gewöhnlich von anderen Subjekten eingefordert wird. Man fällt zwar Urteile über einzelne Gebäude oft im Ganzen, expliziert jedoch dieses Gesamturteil durch eine Menge von Teilurteilen, die sich auf unterschiedliche Kriterien beziehen, welche die wirtschaftliche oder ökologische Effizienz eines Bauwerks reflektieren, seine Haltbarkeit, Sicherheit und Funktionalität, und immer auch ästhetische Fragen. Alle diese Kriterien wie auch der zentrale Aspekt der Schönheit werden, da sie pauschal ausgesprochen nur wenig aussagekräftig sind, nun weiter deliberiert, um diejenigen Kriterien zu identifizieren, nach denen wir unser Urteil substantiell ausrichten. Der Suche nach eben diesen Kriterien gilt die folgende Erörterung. Entsprechend wollen wir uns der heiklen und diskussionsträchtigen Frage widmen, welches die ästhetischen Maßstäbe einer qualitativen Bewertung gebauter Architektur im Zeitalter der Netze sind. Tatsache ist ja, dass objektive Werturteile, absolute Wahrheitsansprüche und die Idee des vollkommen Schönen seit dem 18. Jahrhundert einen gewaltigen Bedeutungsverlust erlitten haben. Generell kann man sagen: Der Eintritt in die Moderne war erkauft mit dem Verzicht auf allgemein gültige Urteile über den Wert, die Wahrheit oder Schönheit irgendeiner Sache, einer Person, einer Theorie, eines Kunst- oder Bauwerks. Schuld war daran die gewachsene Bedeutung und Wertschätzung des einzelnen Menschen und seiner immer selbstbewusster auftrumpfenden Individualität, die sich in subjektiven Meinungsäußerungen und Geschmacksurteilen zur Geltung

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brachte. Was einzelne Personen zu sagen hatten, wurde in Folge ihres gesteigerten Selbstwertgefühls immer wichtiger genommen. So angenehm das sein kann, so hatte es gleichzeitig einen gravierenden Autoritätsverlust universeller Wahrheitsansprüche und (Glaubens-)Werte zur Folge, unter dem die Menschen litten und immer noch leiden. Genauer müsste es heißen: Wir erfreuen uns und tragen doch auch schwer daran, dass in der Moderne unterschiedliche Werturteile gleiche Geltung beanspruchen, dass sie schnelllebig geworden sind, dass sie nach dem Vorbild der Mode wechseln und dass die Anlässe und Urteile selbst zu Spekulationsobjekten geraten, die wie Aktien gehandelt werden. Darum darf es nicht wundern, dass eine permanente Nachfrage nach allgemein verbindlichen Wahrheiten und Inhalten besteht. Nur die Moderne konnte diese Nachfrage erzeugen und scheint uns doch ein adäquates Angebot schuldig zu bleiben. Auch die sogenannte moderne Architektur war darin gerade nicht modern, dass sie zwar mit dem kulturkritischen Geist der Zeit, jedoch gegen die Zeitläufte auf eine universelle Wahrheit und objektive Qualitätsbestimmung des Bauens drang, die sich durch präzise Funktionalität, konstruktive Intelligenz, durch den Einsatz „ehrlicher“ Materialien und dergleichen mehr ausweisen sollte. Die „modernen Architekten“ wollten der subjektiven Willkür sowohl beim Entwerfen (der Produktion von Architektur), als auch bei der Beurteilung und Begutachtung eines Bauwerks (der Rezeption von Architektur) einen Riegel vorschieben. Das war die unmodernste und zugleich zeittypischste ihrer Absichten. Ungeschminkt drückte sie sich in der Schlusswendung des berühmten Essays „Architektur“ (1909) von Adolf Loos aus: „Aber jedesmal wenn sich die baukunst immer und immer wieder durch die kleinen, durch die ornamentiker, von ihrem großen vorbilde entfernt, ist der große baukünstler nahe, der sie wieder zur antike zurückführt.“64 64

Adolf Loos: Trotzdem 1900 – 1930, hg. v. Adolf Opel, Innsbruck: Prachner 1981, S. 104.

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Proportion und Dekorum im Spannungsfeld von Kunst und Kultur Warum zur Antike? Weil sich die kompliziert gewordene

Frage nach den Maßstäben der Qualitätsbewertung von Kunst und Architektur in der Perspektive der Antike weit leichter beantworten ließ. In vormoderner Zeit hing die künstlerische und die kulturelle Bedeutung der Architektur einerseits vom regelkundigen und regelgerechten Umgang mit Größen- und Maßverhältnissen ab, die in der Proportionstheorie (dem richtigen Messen) definiert wurden. Andererseits standen sie in direkter Abhängigkeit zum angemessenen Gebrauch der antiken Säulenordnung und des Bauschmucks, der in der Dekorumslehre (dem richtigen Maßhalten) bestimmt wurde. Die Auseinandersetzung über harmonische Proportionen (Maßstäblichkeit) und die Reflexion des schicklichen Dekors (Mäßigkeit) fanden auf unterschiedlichen Terrains statt. Dazu wieder Loos, dessen eben erwähnter Aufsatz bemängelt: „Da es geschmackvolle und geschmacklose gebäude gibt, so nehmen die menschen an, dass die einen von künstlern herrühren, die anderen von nichtkünstlern. Aber geschmackvoll bauen ist noch kein verdienst, wie es kein verdienst ist, das messer nicht in den mund zu stecken oder sich des morgens die zähne zu putzen. Man verwechselt hier kunst und kultur.“65 Loos wollte seinen Lesern begreiflich machen, dass Architektur keine Kunst ist. Auch dann nicht, wenn sie einem verfeinerten Geschmacksurteil standhält, da seiner Meinung nach der Geschmack, und wäre er noch so subtil ausgebildet, niemals von hohem Kunstverstand zeugt, sondern „nur“ von Kultiviertheit. Loos, der ja mit dem „Neutöner“ Arnold Schönberg und dem Expressionisten Oskar Kokoschka befreundet war, hatte die Erfahrung gemacht, dass Kunst, um in der Moderne bestehen zu können, in jeglicher Hinsicht, nämlich formal und inhaltlich, über die Stränge schlagen muss. Und er hatte recht damit: Die Avantgardisten seiner Zeit befleißigten sich darin, in ihren Werken und Aktionen den denkbar krassesten Gegensatz 65

Ebd., S. 102.

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zur Kultiviertheit ihrer Mitwelt auszubilden. Einer Kultiviertheit, die bereits Rousseau, dieser erste europäische Avantgardist (der auf die Frage der Akademie von Dijon, ob der Fortgang von Wissenschaft und Kunst zum moralischen Fortschritt der Menschheit beigetragen habe, mit einem klaren Nein antwortete) als Barbarei entlarvt hatte. Anders im Zeitalter des Vitruvianismus: Damals standen sich Kunst und Kultur nicht als feindliche Brüder, sondern als liebende Geschwister gegenüber. Die ästhetische Qualität der Kunst, die noch keinen provokanten Störfall der Kultur darstellte, verbürgte seit der Antike die Proportionstheorie. Sie entfaltete sich im Rahmen kunstphilosophischer und mehr noch kunsttheoretischer Diskurse und fand ihre Anwendung in sämtlichen Kunstgattungen, wobei freilich die Architektur als Träger kosmisch verankerter Proportionen eine paradigmatische Rolle spielte.66 Die Basis der Proportionstheorie bildeten Mathematik und Musikologie in Gestalt der Intervalllehre des Pythagoras. Die Konsonanzen bzw. harmonischen Maßverhältnisse der Musik wurden als Naturwunder angesehen, als ein Fingerzeig Gottes, der die Menschen mit dem Wohlklang der Töne auf die vollkommene Architektur des Kosmos hinweise. Einer Weltarchitektur zumal, der noch Johannes Kepler 1619 in den Harmonices Mundi unterstellte, sie sei von einer wunderbaren Sphärenharmonie erfüllt, da allen Planeten und Gestirnen Töne zugehörten, die miteinander harmonieren. Fraglos durfte eine Proportionskunde von zunächst göttlichem, dann hohem naturgesetzlichem Rang unbedingten Anspruch auf Gültigkeit erheben. Die ethische Qualität der Kultur, die eine Gesellschaft und Zivilisation im Ganzen spiegelt, vertraten die Bestimmungen des Dekorums. Es repräsentierte die herrschenden moralischen Ideen und Schicklichkeitsvorstellungen der vormodernen

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Die wechselseitige Abbildbarkeit von Architektur und Kosmos haben wir schon im Kapitel „Konzept der enzyklopädischen Architektur“ behandelt.

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Feudal- und Ständegesellschaft. Da die gottgewollte Ordnung der Stände nicht ernsthaft nicht infrage zu stellen war, gaben diese ebenso wie die natürliche Ordnung der Töne eine Struktur vor, die als objektiv gültig angesehen wurde. Auf der Unverrückbarkeit der gegebenen Sozialität baute die ethische Universalität auf, die in die Dekorumslehre eines Alberti einging und gemeinsam mit der Proportions- und Säulentheorie dafür sorgte, dass Bauwerke nach „objektiven“ künstlerisch-ästhetischen und kulturell-ethischen Grundsätzen entworfen und beurteilt werden konnten. Die ästhetische Qualität der Architektur betreffend, kann behauptet werden: Das rechte Maß war der Maßstab. Und zwar, wie inzwischen deutlich geworden sein dürfte: ein universell gültiger Qualitätsmaßstab. Denn immer wenn es den vormodernen Kunstrichtern so dünkte, es spiegele sich in den regelgerecht angewandten Proportionen eines Bauwerks, in der Harmonie seiner Teile zum Ganzen, diejenige Harmonie wider, die der Architektur der Welt im Ganzen unterstellt wurde, war damit sein hoher künstlerischer Wert unter Beweis gestellt – das Bauwerk galt als geglückt und insgesamt gelungen. Die kulturelle Qualität der Architektur betreffend, gilt die These: Maßhalten bildete den Maßstab. Und zwar den wichtigsten Maßstab im Bereich moralischer Kunsturteile. Auf ihrer Ebene spiegelte die Wahl des angemessenen Stils – die regelkonforme Anwendung der den unterschiedlichen Bauaufgaben zugewiesenen Säulenordnung (ionisch, dorisch, korinthisch etc.) sowie die schickliche Ausschmückung und Ornamentierung eines Gebäudes – den höchsten Grad der Kultiviertheit wider, den einzelne Personen und die Gesellschaft, in der sie lebten, errungen zu haben glaubten. Statt von Kultiviertheit könnten wir auch mit Norbert Elias von dem Entwicklungsstand reden, den der Prozess der Zivilisation in der Zeit, in der ein Bauwerk entstand, erreicht hatte. Im Dekorum, das bedeutet jetzt im kulturellen Maßhalten, offenbarte sich also nicht nur die von den damaligen Menschen subjektiv empfundene, sondern ebenso die im Nachhinein objektiv bestimmbare Moralität einer Gesellschaft.

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

Merken wir uns also: In der vormodernen Qualitätsdiskussion bildete die Ästhetik des Maßes (das Maßfinden) die künstlerischen Maßstäbe und die Ethik des Dekorums (das Maßhalten) die kulturellen Maßstäbe der Architektur aus. In ihnen hielten sich die Ansprüche der Gesellschaft an das Bauen und die Ansprüche Einzelner (z. B. des Bauherrn oder des Entwerfers) an die Architektur die Waage. Qualität hieß also, dass ein Gebäude nicht nur harmonische Proportionen und schickliche Ornamente aufwies, sondern im Zusammenklang harmonischer Maße mit dem Maßvollen die unterschiedlichen Ansprüche von Gesellschaft und Individuum zum Ausgleich brachte! In diesem Anspruch auf Ausgleich können wir den größten Unterschied zu einer Moderne erkennen, wie sie Loos beschrieb. In vormoderner Zeit ging es um die Einheit von Kunst und Kultur, die in jedem Gebäude, das Architektur sein wollte, hergestellt und bewahrt sein sollte; in der Moderne schlug hingegen die Differenz von Kunst und Kultur in einen unversöhnlichen Gegensatz um. Diese Entwicklung ist der Höhepunkt jener Subjektivierung ästhetischer und ethischer Urteile, von der schon die Rede war. Sie begann bereits vor dem 18. Jahrhundert. Verantwortlich hierfür war Claude Perrault (1613 – 1688), der die vermeintliche Objektivität der vitruvianischen Ästhetik im Zuge der „Querelle des anciens et des modernes“ wirkungsvoll bezweifelt hatte. Mit der Folge, dass die auf einem breiten Bildungswissen aufbauende antike Regelästhetik allmählich von der auf der sinnlichen Erfahrung basierenden modernen Geschmacks- und Wirkungsästhetik ersetzt

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Die moderne Architektur präsentiert das funktionale Haus als ästhetisch autonome Skulptur. (Adolf Loos: Haus Moller, Wien 1928)

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

wurde67; so verschob sich die Geltungssetzung von der Regel auf diverse Subjekte. Unterschied von Optimierung und Sensibilisierung Längst

wird sich der Leser fragen: Spielten denn in der vormodernen Qualitätsbeurteilung der Bauwerke praktische Fragen nach ihrer Funktion und Konstruktion noch keine Rolle? Selbstverständlich war das der Fall, aber in der wissenstheoretischen Reflexion der Architektur nahmen sie nur eine Nebenrolle ein. Dennoch soll kurz darauf eingegangen werden. Die vormodernen Architekten fühlten sich bekanntlich der vitruvianischen Trias von venustas (Proportionstheorie, Säulenlehre, Dekorum), firmitas und utilitas zutiefst verpflichtet. In den letzten beiden Kategorien versammelte sich das bautechnische Erfahrungswissen und einzelwissenschaftliche Wissen, das für das Bauen relevant war. Urteilt man allein vom Umfang damaliger Architekturhandbücher aus, so wurden firmitas und utilitas in der Regel mehr Platz und Seitenzahlen eingeräumt als der venustas. In den alten Handbüchern wurden die ästhetischen

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In seinem Aufsatz „Ordnung der fünf Säulenarten nach der Methode der Alten“ (1683) heißt es: „Man kann […] nicht behaupten, dass die Proportionen in der Architektur […] ihre Wirkung durch sich selbst ausüben, so wie die Akkorde der Musik auf das Ohr wirken […]. Die Kenntnis, die wir durch das Ohr von dem haben, was aus dem Verhältnis zweier Saiten zueinander resultiert und die Harmonie ausmacht, unterscheidet sich erheblich von der Kenntnis, die wir durch das Auge von der Wirkung der Proportionen der Teile haben, aus denen eine Säule besteht. Denn wenn der Geist durch das Ohr von dem berührt wird, was aus dem Verhältnis der Saiten zueinander entsteht, ohne dass er dieses Verhältnis kennt, dann deshalb, weil das Ohr nicht in der Lage ist, ihm das Wissen um diese Proportionen zu vermitteln. Dagegen ist das Auge zwar fähig, die Proportion, die gefällt, zu erkennen, doch kann es den Geist keinerlei Wirkung dieser Proportion spüren lassen, die über die Kenntnis dieser Proportion hinausgeht. Daraus folgt, dass das, was dem Auge gefällt, nicht in der Proportion begründet ist […].“ (Zitiert nach Fritz Neumeyer (Hg.): Quellentexte zur Architekturtheorie, München: Prestel 2002, S. 136.)

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Reflexionen eindeutig von einem baupraktischen Erfahrungswissen dominiert, dass über die Standfestigkeit und Haltbarkeit, Geräumigkeit und Bequemlichkeit, über die Witterungsbeständigkeit und Wirtschaftlichkeit der Gebäude Auskunft geben und ebenso über Materialien, Werkzeuge, Bautechniken, Ortbeschaffenheiten und klimatische Verhältnisse informieren wollte. Flankiert wurde es von einem naturwissenschaftlichen, ökonomischen, medizinischen und juristischen Wissen. Für die hier geführte Diskussion sollten wir die Sphäre der venustas und den Bereich der firmitas und utilitas voneinander sondern. Die Kategorien der Haltbarkeit und Nützlichkeit beschreiben ausschließlich einzelne, von langem Erfahrungswissen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und (bau-) technischem Know-how angeleitete Optimierungsprozesse in ökonomischer, ökologischer, sozialer, aber auch bauphysikalischer und haustechnischer Absicht. Qualitätsdiskussionen, die auf diesen Wissensfeldern geführt werden, gestalten sich nicht allzu kompliziert und kontrovers, weil hier sicher nicht alle, aber viele Urteile nach rationalen und oft sogar objektiven Gesichtspunkten gefällt werden können. Der Qualitätsdiskurs des optimierbaren Wissens ist wichtig, in vielen Aspekten sogar überlebenswichtig, doch lange nicht so brisant wie der hoch umstrittene Geltungsbereich der venustas. Fragen der Schönheit beziehen sich nicht auf Optimierungs-, sondern rein auf ästhetische Sensibilisierungsprozesse, die auf die sinnliche Wahrnehmung (z. B. von Raumatmosphären, Lichtwirkungen, Gerüchen und haptischen Sensationen etc.), sodann auf das ästhetische Urteil und nicht zuletzt auch auf die Verfeinerung unserer geistigen Bedürfnisse und Ansprüche an die Architektur abzielen. Damit sind wir bei eben jener Subjektivierung von Geschmacksurteilen angelangt, die seit Claude Perrault diskutiert wird. Statt uns wie in vormoderner Zeit Regeln und Urteilen zu beugen, die für alle gleichermaßen gelten, führen unsere persönlichen Meinungen und ästhetischen Qualitätsanforderungen an die Architektur zu heftigen Kontroversen in der Öffentlichkeit und in den Medien.

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

Allenfalls kann die kunterbunte Meinungsvielfalt durch kollektive Abstimmungen, die als diskursive Prozesse über lange Zeiträume in diversen Arenen ablaufen, eingedämmt und in einen gesellschaftlich übergreifenden, mindesten aber für größere Teilgruppen gültigen, Konsens überführt werden. Längst sind die normativen Positionen der Moderne durch Ästhetiken ersetzt worden, die aus einer fundamentalen Desorientierung erwachsen. Nämlich aus der Desorientierung eines Denkens, das seit längerem schon in einer unübersichtlich gewordenen kulturellen Landschaft umherirrt, in der die Autorität externer Faktoren und immanenter Formgesetze keine verbindliche Richtung mehr vorgeben. Das fällt umso schwerer ins Gewicht, als die von uns bereits beschriebene Produktionsstruktur der Mode und das Primat des Neuen nach der Neufassung ästhetischer Normen verlangen, die Kunstkriterien jenseits aller schnellen Schönheitskalküle ermöglichen, die im Trend liegen. Verlangt wird die Aufstellung von Kriterien, die vom Mainstream und schnell wechselnden Richtungen unabhängig sind, dadurch eine gewisse Langlebigkeit und Robustheit aufweisen müssen und sich dennoch zugleich auf modische Produkte anwenden lassen können. Kunstsektor und Kunstmarkt beweisen, dass sich ästhetische Urteile zunehmend an den kapital- und aufmerksamkeitsökonomischen Erfolg von Kunstwerken knüpfen. Ihren Wert bestimmt ein dichtes Geflecht von Akteuren, deren Aussagen Gewicht haben, da sie aufgrund ihres eigenen Erfolgs und wegen ihrer Prominenz als kompetent gelten. Auch betuchte Sammler und berühmte Kuratoren bestimmen maßgeblich mit, welche Kunstwerke für wichtig zu nehmen sind und welche nicht. Selbstverständlich fließen in die Urteile solch erfolgsverwöhnter Experten immer auch kulturtheoretisch und kunstwissenschaftlich fundierte Argumente ein; gleichwohl handelt es sich dabei um Äußerungen, die auf Gewinn in der Konkurrenz um die Führerschaft auf dem Meinungs- und damit auf den Geldmarkt spekulieren und sich in der öffentlichen Arena der Feuilletons und Radiokultursendungen duellieren. Heutzutage

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geht die meinungsbildende Kraft eines Kunsturteils selten von Theorien aus, sondern von der suggestiven Überzeugungskraft, die ein auf öffentliche Wirkung geeichter Handlungsraum von seinen Mitspielern erwartet. Wenn Versatzstücke von Theorien für Kunstwerke benutzt werden, dann häufig instrumentalisiert wie eine Marketing-Maßnahme, die einem Produkt zu geldwertem Erfolg verhelfen soll.68 Originalität und Kontext Im Folgenden greifen wir die seit der Antike gängige Gegenüberstellung von Kunst und Kultur auf, jedoch nicht, um die Architektur wie Adolf Loos aus dem Reich der Kunst zu vertreiben. Wir gehen vielmehr davon aus, dass auch in der Moderne die Qualitätsmaßstäbe für gebaute Architektur weiterhin im Spannungsfeld von Kunst und Kultur lokalisierbar sind. Aus diesem Grund stellen wir die These auf: Da die Architektur ihr enzyklopädisches Wesen rudimentär in die Moderne hinüberzuretten und mithilfe der netzförmigen Organisation ihres Wissens zu modernisieren verstand, spricht viel dafür, dass sie zusammen mit anderen Gestaltungsdisziplinen wie dem Industrial Design zu den wenigen Sphären gehört, die die Einheit von Kunst und Kultur zu leisten vermögen, weil sie durch ihre vernetzte Produktions- und Rezeptionsweise die in der Moderne ausgelösten Dichotomisierungs- und Differenzierungsprozessen überwinden können. Liest man bei Loos zwischen den Zeilen und berücksichtigt zudem sein architektonisches Schaffen mit, dann wird augenfällig, dass natürlich auch einer wie er wusste: Die Architektur ist stets in beiden Sphären Zuhause, in der Kultur und der Kunst. Das Bauen steht genau in der kulturellen Verant-

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Offen bleibt die Frage, ob bei einer Vernetzung des Systems der ästhetischen Urteile mit anderen Teilsystemen wie Kapital- oder Kunstmarkt eine Ästhetik sich diesen Prozessen beugt, die zweite Rolle spielt und zu einem Desiderat degeneriert, oder ob sich gerade hierbei ihre Eigenständigkeit um so deutlicher herausschälen wird, sobald sie sich wesentlich auf das originäre und autonome Potential des künstlerischen Konzepts beruft.

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

wortung, die Loos in seinen Schriften hervorhob, und versucht jenen Vorstellungen der Gesellschaft, die in der Moderne der schleichenden Erosion der Werte Paroli bieten, adäquaten Ausdruck zu verschaffen. Zugleich bietet es den eigenwilligen Ideen hoch talentierter Entwerfer, den ambitionieren Wünschen anspruchsvoller Bauherrn und den ästhetischen Erwartungen eines architekturbegeisterten Publikums reichlich Spielraum. Er ist jedenfalls groß genug, damit sich neben dem, was die Konvention fordert, immer auch ein persönlicher Stil und eine unverwechselbare Handschrift durchsetzen können, auch wenn das offenbar viel zu selten geschieht. Dass wir für die Architektur den Zusammenhang von Kunst und Kultur als konstitutiv erachten, ändert natürlich nichts daran, dass die vitruvianische Proportionstheorie und Dekorumslehre ausgespielt haben. Sie mögen hin und wieder auf die eine oder andere Weise aktualisiert in Mode kommen, doch bleibt ihnen ihr vormals behaupteter Geltungsanspruch für immer verwehrt. Stellen wir also die Frage, welche ästhetische und welche ethische Kategorie, die eine gewisse Universalität in Anspruch nehmen darf, an deren Stelle rücken könnte? Generell scheint es so, dass heutzutage ästhetische und ethische Konsensbildungen immer deutlicher von den normativen Anfängen der modernen Kunsttheorie abrücken und vor allem dann Aussicht auf Verbreitung und Erfolg haben, wenn sie gegen die Anmaßung und Willkür Einzelner Argumente anführen, die nicht autoritär auftreten. Dass ausgerechnet nachgiebige Positionen in der Lage sind, eine Vorbildlichkeit in ästhetischen Fragen aufzurichten, gehört zu den Paradoxien der Moderne, wenn wir zugleich bedenken, dass Moden und Trends sich ohne den Hauch eines Widerspruchs durchzusetzen pflegen. Umso spielerischer, freier und unernster sie sich gerieren, desto erfolgreicher sind sie, obschon eine glückliche Fügung von Bestimmtheit und Beiläufigkeit den Charakter des Modischen offenbar am besten trifft. Die Überzeugungskraft der neuen Kollektion des coolen Modemachers und ebenso die in den Feuilletons gerühmte Inszenierung der umworbenen Thea-

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Heute kippen keine hehren Kunstwerke mehr vom Sockel, stattdessen stürzen Weltstars von den Steilklippen der Prominenz, die sich in der Popkultur rasanter auftürmt als je zuvor.

terregisseurin spiegeln das Interesse des heutigen Publikums an ästhetischen Produktionen, die professionell und dennoch spontan wirken. Für einen Moment erscheinen sie unverwechselbar. In diesem Augenblick des Staunens weht uns eine Ahnung von der ehemals ehernen Gültigkeit der vormodernen Regelästhetik und dem Universalitätsanspruch der normativen Ästhetik an. Unter dem Vorwand des Authentischen und versehen mit dem Schein des Neuen treten ästhetische Produkte in die Welt, die sich nicht unter der Schirmherrschaft anmaßender Kunstdoktrinen ducken, sondern sich lieber auf schwach autorisierte Begriffe zurücklehnen. Probehalber stützen sie Werke der Architektur, Kunst und Mode, die nur eine welthistorische Sekunde lang Anspruch auf die erhöhte Aufmerksamkeit ihres Publikums erheben. Man könnte auch sagen: die Kunst ist längst aus dem Schatten totalitärer Vorstellungen von absoluter Wahrheit und vollkommener Schönheit getreten. Der Nachteil liegt freilich auch auf der Hand: konnte früher der anmaßende Begriff in einer Kunst aufgehen, die selber hypertroph, aber auch großartig, nämlich formvollendet und gehaltvoll war, führt die heute vorherrschende sympathische Blässe „weicher“ Begriffe zu immer weniger anmaßenden und entsprechend weniger überwälti-

Überlegungen zu einer netztheoretischen Architekturästhetik

genden Werken. Die Fallhöhe hat sich verschoben: Es kippen nicht mehr langweilige Kunstwerke vom hohen Sockel „großer Kunst“, sondern es stürzen überschätzte Autoren von den Steilklippen einer Prominenz, die sich in der Popkultur zehnmal schneller einstellt als das, was man früher eine ernstzunehmende künstlerische Entwicklung nannte. Zu den weichen Begriffen, die schon jeder durchgeknetet hat, weshalb sie so abgegriffen scheinen, gehören Authentizität, Identität, Atmosphäre, Aura, Originalität und viele andere mehr. Auch Kontext! Er steht gewissermaßen am Beginn dieser Wortreihe, weil er selbst den „weichen“ Vorgang des Dehnens, Adaptierens und Integrierens beinhaltet. Nicht allein bei komplizierten Planungsprozessen, an denen unterschiedlichste Interessensgruppen beteiligt sind, sondern auch bei seinen physischen, kulturellen, politischen, historischen, sozialen etc. Ausprägungen, wie wir sie im Abschnitt über Kontext als „Handlungswissen“ beschrieben haben, stellt sich unentwegt die Frage nach dem Kontext. Wir stellen daher die These auf, daß die Begriffe Originalität und Kontextualität tragfähig sind, um als Kriterien der Urteilsbildung über Architektur zu dienen. Was sind unsere Argumente? Sie haben sich als brauchbar für Konsensbildung erwiesen. Sie sind sympathisch unbelastet, weil darin kaum altes Pathos nachklingt. Beide Begriffe lassen sich weitgehend nüchtern und analytisch beschreiben. Demgegenüber kann man z. B. die permanente Erwähnung des Authentischen kaum mehr ertragen. Es ist zu einer hoch inflationären und kitschigen Beschwörungsformel verkommen in unserer Welt der Surrogate, in der alles simulierbar und nichts mehr echt zu sein scheint, und in der wir mit dem Paradox zu leben haben, dass das Surrogat zum authentischen Kunstwerk erklärt werden kann. Wir rücken die Ansprüche ambitionierter Architekten und ihres verwöhnten Publikums nach ästhetischer Originalität an die Stelle der Proportionstheorie und ersetzen die alten Dekorumsregeln durch die Forderungen, die aus einem bestimmten Kontext heraus, den die Gesellschaft formuliert, an das Bauen

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gestellt werden. Das Originalitätspostulat zielt in die Sphäre der Kunst, während die Ansprüche, die aus einem Kontext erwachsen, und die Definitionen dessen, was einen Kontext bildet, in der Sphäre der Kultur debattiert werden. Was Kontext ist, haben wir bereits ausführlich im Kapitel „Handlungswissen der Architektur (1)“ behandelt. Hier soll zusätzlich darauf verwiesen werden, dass viel dafür spricht, den Kontext als legitimen Erben der antiken DekorumsDiskussion zu begreifen. Auch er will beschreiben, was sich schickt, wenn wir in eine schützenswerte Landschaft oder in die historische Altstadt hineinplanen, wenn wir Gewerbe und Wohnen miteinander mischen sollen, aber auch alte mit jungen Leuten, Deutsche mit Emigranten etc.. In die Definition eines Kontextes legt eine Gesellschaft das hinein, was ihr über allen Wandel und Werteverfall hinweg dauerhaft am Herzen liegt. Oft soll dabei ein kollektives Gut gegen egoistische Interessen, oder ein Minderheitenvotum gegen die Übergriffe einer Mehrheit geschützt werden. Wir können festhalten, dass sich in den Definitionen eines Kontexts die kulturelle Identität einer Gesellschaft besonders deutlich erkennen lässt. Hier gewinnt diese Kategorie eine ethische Dimension, sobald es gelingt, einen Konsens über den angemessenen oder unangemessenen Umgang mit Kontext zu finden. Die Wertschätzung der Originalität und ihre möglicherweise anspruchvollste Interpretation laufen auf die Identifizierung oder bewusste Verwechslung des Originellen mit dem Neuen hinaus. Das Neue bildet in der Moderne die wohl bedeutendste ästhetische Kategorie. Sie war schon Schinkel vertraut, der darin die wichtigste Forderung sah, die man an die Kunst stellen kann. Einzigartigkeit in Kunst und Architektur wird in der Moderne weniger durch die charakterliche Eigenart und Unverwechselbarkeit einer Person garantiert, als vielmehr durch seine Fähigkeit, etwas Neues entdeckt zu haben. Der Grad des Neuen, der in einem Werk aufscheint, macht zuallererst seine Originalität aus. Informationstheoretisch gesprochen ist das Neue durch einen hohen Grad von

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Unbekanntem definiert, das sich deutlich abhebt von den bereits bekannten bzw. redundanten Anteilen eines Produkts oder Kunstwerks. Der Begriff der Originalität hängt wesentlich davon ab, dass die Innovationen den Bereich des ästhetisch Bekannten überstrahlen. Und noch etwas kommt hinzu: der Begriff der Originalität verbindet mit der Forderung nach dem Neuen und Originellen die Forderung nach dem Original, dem Unverfälschten. Sogleich zeigt sich ein weiterer Vorteil dieses Kriteriums: Originalität kann subjektunabhängig festgestellt werden. Ob etwas originell und original ist, kann bei der heutigen Omnipräsenz der Kunstprodukte über das digitale Mediennetz in jeder kulturellen Großgruppe, wenn nicht gar weltweit, (ähnlich genau wie bei Patenten) überprüft werden. Originalität ist keine genuine Fortschrittskategorie. Fortschritt des ästhetischen Materials kann Originalität verbürgen, stellt aber keine conditio sine qua non dar. Gerade auch der Rückgriff auf Vergangenes, die eigenwillige Kombination eines Alten mit einem Neuen, unbekannte und tabuisierte Sujets, Gegenständlichkeit in Zeiten, in denen man sie nicht erwartet, Abstraktionen, die überfordern, aber auch unerwartete Gefälligkeiten, Kitsch und Idyllen, die Gewohntes auf den Kopf stellen, können dafür sorgen, dass ein Kunst- oder Bauwerk als originell und neu empfunden wird. Rekombination und Assoziation, Zweifel, Negation und Ersatz durch Anderes sind typische Prinzipien von Originalität. Anders steht es mit dem Aspekt des Originalen. Da einzelne Künstler im fortgeschrittenen Zeitalter der Reproduzierbarkeit der Kunst wieder gesteigerten Wert auf Einmaligkeit legen, zumal große Teile des Publikums immer noch oder immer wieder aufs Neue die Aura des Originals wertschätzen, hat die Architektur von ihrem genuin konservativen Habitus stets besonders profitieren können: Keine andere Kunst weiß derart anschaulich ihre Aura mit aufregenden Gebrauchsspuren und dem schaurigen Erlebnis des Alterns, der Verwitterung und des allmählichen Verfalls zu versehen.69 69

John Ruskin war es in erster Linie, der diese romantischen Geheimnisse der Architektur entdeckte und zur Ästhetik eines Bauens

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Es kommt nicht von ungefähr, dass sich in der Architektur im Begriff der Originalität zwei sehr unterschiedliche künstlerische Ambitionen verbinden lassen: auf der einen Seite der avantgardistische Wunsch nach dem Einzigartigen, dem Aufmerksamkeit erheischenden Originellen und provozierend Neuen, und auf der anderen Seite die Befriedigung des eher konservativen Bedürfnisses nach dem originalen, von der Aura des Einmaligen umflorten Artefakts, das der schnelllebigen Moderne, ihren Modediktaten und der Schwemme der vervielfältigten Produkte zu trotzen sucht. Fraglos trachten sich in der Originalitätsforderung eigenwillige Künstler und desgleichen ein nicht weniger eigenwilliges Publikum durchzusetzen, das seine subjektiven Qualitätsurteile am Beispiel hochgradig individualisierter Formsprachen schulen möchte. In der Originalität qua Novität stellt sich ein Qualitätsmerkmal ein, das in der Moderne höchste Autorität behauptet und dabei einen Focus bildet, auf den sich die subjektiven Werturteile moderner Menschen mit größter Bereitwilligkeit einstellen können. Während Loos dachte, der Architektur müsse der moderne Originalitätswahn erspart bleiben, damit sie nur umso besser ihre kulturellen Aufgaben erfüllen und an der Kultivierung der Subjekte mitwirken könne, scheint sich unsere Angst vor den Selbstverwirklichungsträumen der Architekten sehr gelegt zu haben. Wir befürchten kaum mehr, dass eine hoch originelle Architektur zwangsläufig vor den Auflagen einer strengen Kontextbindung kapitulieren muss. Im Gegenteil! Die Architektur ist eine Kunst, die nicht, wie man lange Zeit propagierte, durch den Gebrauch, wohl aber durch den Kontext bestimmt wird. Architektur ist viel weniger eine Zweck- als eine weit vernetzte Kontextkunst. Keiner anderen Disziplin fliegen von erklärte, das viel mit dem Jugendstil gemein hatte, nichts dagegen mit der Ästhetik der modernen Architektur, die auf Hochglanz getrimmt war. Ruskin zog den niemals alternden „weißen mauern Zions“, von denen Loos schwärmte, die Risse und Schründe der Ruinen und bröckelnden Fassaden vor, in deren Anblick er sich traumverloren versenkte.

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außen so viele Bitten, Anregungen und Zwänge zu, und keine andere ist in der Lage, aus diesen Einflüssen so viel künstlerischen Profit zu ziehen. Aus diesem Grund gehen wir davon aus, dass kulturelle Forderungen stets einen kongenialen Kontext für architektonische Originalität ausbilden. Unter der Vorraussetzung, dass Kultur eine Art „Wertedatei“ ist, welche die Gesellschaft der Moderne, die sich in permanenten Umwälzungen, Aufspaltungen und Ausdifferenzierungen realisiert, abzutrotzen sucht, um des grassierenden Werteverfalls Herr zu werden, gilt die These: Gebaute Architektur ist der Versuch, die kulturelle Wertedatei einer Zivilisation durch die Berücksichtigung gesellschaftlich formulierter Kontexte in sich aufzunehmen, um sie den künstlerischen Ambitionen einzelner Entwerfer und Entwerferinnen, die Originales (auratische Bauwerke) und/oder Originelles (ästhetisch innovative Bauwerke) kreieren, zu konfrontieren und einzuschreiben. Die besondere Qualität der Wissensnetze besteht darin, die Komplexität und Verknüpfung unterschiedlichster Kontexte sicherzustellen und in atemberaubenden Querverweisen mit den Absichten künstlerisch kreativer und planerisch tätiger Subjekte zu „verlinken“. Entsprechend bilden sich ästhetische Qualitätsmaßstäbe in der Moderne danach aus, wie ein Gebäude einen gegebenen Kontext zu berücksichtigen weiß und einen neuen Kontext zu bilden vermag, sodann: wie originell und auratisch ein Bauwerk ist, und welche Spannung sich zwischen seiner Kontextualität und der Originalität des Entwurfs aufbaut.

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Abbildungsnachweis S. 21 http://de.wikipedia.org/w/index. php?title=Datei:Ramon_Llull_-_Ars_Magna_Fig_1.png&filetim estamp=20070103121353; S. 25 http://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Claude-Nicolas_Ledoux_Die_Salinenstadt_Chaux.jpg; S. 26 aus: Bruno Taut, Die Auflösung der Städte, Hagen 1920; S. 37 aus: Situationistische Internationale. Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 2008; S. 42 http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Alexandre_humboldt.jpg; S. 53 Wolf Reuter; S. 57 Wolf Reuter; S. 58 Wolf Reuter; S. 60 (oben) http://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_fisherman_ casting_a_net.jpg; S. 62 (unten) Philipp Hienstorfer; S. 80 Wolf Reuter; S. 83 (oben links) Interpane Glas Industrie AG; S. 83 (unten links) http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lacanja_ burn.JPG; S. 83 (unten rechts) http://grenzgaenge.files.wordpress. com/2009/11/cracked-earth-smaller-for-email.jpg; S. 84 Wolf Reuter; S. 87 Wolf Reuter; S. 94 (links) http://de.wikipedia.org/ wiki/Datei:T%C3%BCbingen_Stadt.jpg; S. 94 (rechts) Dietmar Hencke; S. 95 (oben) Florian Holzherr; S. 95 (unten) Roland Halbe; S. 100 Nigel Young; S. 102 http://www.ohiowhitetail1stclassoutfitters.com/images/42nationalroad.jpg; S. 121 aus: Speer, Albert, Architektur, Frankfurt/Berlin, 1995; S. 120 http://farm3. static.flickr.com/2560/3728003380_5fe958709e_o.jpg; S. 149 Wolf Reuter; S. 157 http://alluu.files.wordpress.com/2008/12/ t1_n145_a2_modulor.jpg; S. 171 Joost Maatkamp; S. 177 http:// inyourface.freedomblogging.com/files/2009/08/michael-jackson030601-ap01030603150.jpg

Gerd de Bruyn (Dr. phil., M. A.) ist Professor für Archi-

tekturtheorie und Leiter des Instituts Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (Igma) der Universität Stuttgart. Sein Forschungsinteresse gilt der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Architektur. Wolf Reuter ist Architekt und war bis zu seiner Emeritie-

rung Professor für Theorien und Methoden des Planens an der Universität Stuttgart. Heute lehrt an der Tongji Universität in Shanghai. Seine Forschung gilt der Bedeutung von Diskurs, Macht und Wissen für die Architektur.

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